Mitteilungen Nr. 52 - Hans Henny Jahnn

Mitteilungen Nr. 52 - Hans Henny Jahnn Mitteilungen Nr. 52 - Hans Henny Jahnn

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22.04.2014 Aufrufe

der Musik (Intervalle, Tonleitern, Harmonielehre, Kontrapunktik etc.) identisch seien. Die «quantifizierende» Naturwissenschaft, die Kayser nicht ablehnte, wollte er um die «psychophysische» Qualität des harmonikalen Weltzusammenhangs ergänzen. Im Mittelpunkt dieses Weltbildes stehen akustische Gesetzmässigkeiten, die sich vom Monochord ausgehend erklären und erfahren lassen. Kaysers Schriften sind in ihrer Grundtendenz modernitätskritisch. Die Kälte der technizistischen Wissenschaft war für Kayser Ausdruck dafür, dass sich der Mensch von der «universellen» Ordnung der Zahlen entfremdet hatte. Den zweiten Weltkrieg deutete er als Folge dieser «kosmischen» Orientierungslosigkeit. Kayser fühlte sich zwar der Musik Hindemiths, vor allem seit Mathis, näher als beispielsweise der seines Lehrers Schönberg, aber Kritik oder Polemik gegenüber der radikalen künstlerischen Moderne übte er nicht. Vor dem Hintergrund seines harmonikalen Weltbildes schrumpften die ästhetischen Konflikte der neuen Musik auf die Grösse rein stilistischer Unterschiede: «Es handelt sich nämlich bei den umstürzlerischen Bewegungen der neuen Musik um nichts anderes als um den Verstoss in eine neue musikalische Dimension, und zwar um den Übergang aus dem ebenen Teiltonkoordinatenbereich in den räumlichen» (Der hörende Mensch 331). Die wahre neue Musik war für Kayser ein «Kunstwerk der Zukunft» – und natürlich harmonikaler Natur. Kayser betont oft, dass «der Terminus ‘Harmonik‘ […] nicht mit dem gleichlautenden aus der Musiktheorie ‘Harmonie‘ verwechselt werden [sollte]» (Akróasis 7). Tatsächlich haben seine Gedanken kaum Eingang in den akademischen musiktheoretischen Fachdiskurs gefunden. Dennoch berührt die universalistische Theorie auch die Fachgeschichte. Kayser ist Riemannianer. Der damals bereits obsolete Riemannsche Dualismus von Ober- und Untertonreihe wird aus harmonikaler Perspektive neu begründet. Er lässt sich bruchlos in Kaysers von Thimus‘ «Lambdoma» (–> Harmonie) abgeleitetes «Teiltonkoordinatensystem» integrieren. Diese Art von harmonikalem, mitunter zahlenmystischem Fortleben des Riemannschen Dualismus lässt sich verschiedentlich beobachten (Josef Matthias Hauer, Othmar Steinbauer, Ansätze auch bei Sigfrid Karg- Elert bis hin zu Martin Vogel). Auch zur Energetik von Ernst Kurth, dem Kayser freundschaftlich verbunden war, ergeben sich zumindest oberflächliche Beziehungen, da sich für Kayser aus dem harmonikalen Verfahren ergibt, dass nicht im Melos, sondern «im Akkord die eigentliche Dynamik und innere Bewegung verborgen steckt» (Der hörende Mensch 316): Im Denken der beiden Berner Theoretiker nimmt die Schopenhauersche Willenslehre einen bedeutenden Platz ein. Auch zur ethnologisch orientierten Musiktheorie des Jahrhundertbeginns (Capellen, Polak, Riemann) bestehen inhaltliche Beziehungen. Als direkte harmonikale Vorläufer Kaysers sind vor allem Walter Harburger (Metalogik, München 1919), Viktor Goldschmidt (Materialien zur Musiklehre, Heidelberg 1923/24) und Hans Schümann (Monozentrik, Stuttgart 1924) zu nennen. Die Wirkung Kaysers auf die Musiktheorie blieb begrenzt. Auf seinen Einfluss geht wohl Hindemiths «Wendung zu harmonikalem Denken» während der Arbeit an der Unterweisung im Tonsatz zurück (Giselher Schubert), während Hauer und Steinbauer anscheinend direkt auf die Arbeiten Thimus‘ zurückgegriffen haben. Walter Müller von Kulm gründet seine praktische funktionstheoretische Harmonielehre auf Kayser. Her- 6

mann Bahr und Hans Henny Jahnn setzten sich mit Kayser auseinander, Hermann Hesse entnahm die harmonikalen Gedanken in seinem Glasperlenspiel wohl direkt von Kepler. Die Harmonik Kaysers wurde vor allem von Rudolf Haase gewürdigt und weitergeführt. In der neueren harmonikalen Forschung nimmt der Gründervater Hans Kayser keine zentrale Stellung mehr ein. Dass sich Popularesoteriker wie Ernst Joachim Behrendt auf Kayser berufen, bildet die Ausnahme. Auch in der modernen, vor allem amerikanischen Musikethnologie und -psychologie, in denen einige der Kayserschen Grundansätze weiterverfolgt werden, spielt sein Werk nur eine untergeordnete Rolle. Erinnerungen an Hans Kayser Vom Nachbarn vorgestellt von Paul Marti, Pfarrer in Bolligen Am 14. April jährt sich zum vierzigsten Mal der Todestag von Dr. Hans Kayser, dem Erforscher und Erneuerer der Pythagoäischen Harmonik, der, ausgehend von Tonreihen und Intervallen, von einfachen Grundverhältnissen auf der Suche nach der Harmonie der Welt war, die er im Kleinen in der Natur, im menschlichen Werk der Architektur und Musik und im planetaren Raum fand: ein facettenreicher Forscher und Philosoph. Statt einer streng fachlichen Würdigung soll hier mit persönlichen Erinnerungen des Gelehrten gedacht werden, mit Aufzeichnungen von Pfarrer Paul Marti, dem Nachbarn von Hans Kayser in Bolligen. Sie zeigen nicht den Olympiker, sondern den Menschen in seinem alltäglichen Bereich gewissermassen den Philosophen in seinen Hausschuhen, und haben ihren Reiz im Zusammentreffen zweier stark verschiedener Menschen, die, obwohl im Geistigen sich letztlich fremd, dennoch zu treuer Freundschaft fanden: «Müsste man glühender ‘Harmoniker’ sein, um Erinnerungen an Dr. Hans Kayser aufzuzeichnen, dürfte ich es eigentlich nicht. Doch mich berechtigt vielleicht eine sich durch Jahre hinziehende persönliche Vertrautheit, die zur Freundschaft gedieh, dazu. Ich las seine Aufsätze und Schriften, die er mir meistens schenkte, mit kritischem Interesse. Aber bald einmal spürte ich, dass der gelehrte Freund Widerspruch nur schwer ertrug, und er war mir zu lieb, als dass ich ihn hätte verletzen und als Gastfreund verlieren wollen. Ähnlich mag er mir gegenüber empfunden haben. Er, der sich gelegentlich mit liebenswürdiger Selbstironie einen ‘rechten schwäbischen Spinner’ nannte, der über Plato und Pythagoras auf der Suche nach dem geheimen Wissen um die Harmonie der Welt war, der tiefsinnig und spekulativ seinen Forschungen nachging, und ich, der ich als Schüler des in Bern lehrenden Hermann Lünemann, der auf dem nüchternen Kant und auf Schleiermacher fusste, als Freund Martin Werners, des Systematikers der Gedanken und Werke von Albert Schweitzer, als liberaler Theologe, in dessen Bibel das Wort ‘harmonia’ fehlt, ja dem das Buch Hiob alle harmonisierenden Welterklärungen zu verunmöglichen scheint, er und ich, wir waren in verschiede- 7

der Musik (Intervalle, Tonleitern, Harmonielehre, Kontrapunktik etc.) identisch seien.<br />

Die «quantifizierende» Naturwissenschaft, die Kayser nicht ablehnte, wollte er um die<br />

«psychophysische» Qualität des harmonikalen Weltzusammenhangs ergänzen. Im<br />

Mittelpunkt dieses Weltbildes stehen akustische Gesetzmässigkeiten, die sich vom<br />

Monochord ausgehend erklären und erfahren lassen.<br />

Kaysers Schriften sind in ihrer Grundtendenz modernitätskritisch. Die Kälte der technizistischen<br />

Wissenschaft war für Kayser Ausdruck dafür, dass sich der Mensch von<br />

der «universellen» Ordnung der Zahlen entfremdet hatte. Den zweiten Weltkrieg deutete<br />

er als Folge dieser «kosmischen» Orientierungslosigkeit. Kayser fühlte sich zwar<br />

der Musik Hindemiths, vor allem seit Mathis, näher als beispielsweise der seines<br />

Lehrers Schönberg, aber Kritik oder Polemik gegenüber der radikalen künstlerischen<br />

Moderne übte er nicht. Vor dem Hintergrund seines harmonikalen Weltbildes<br />

schrumpften die ästhetischen Konflikte der neuen Musik auf die Grösse rein stilistischer<br />

Unterschiede: «Es handelt sich nämlich bei den umstürzlerischen Bewegungen<br />

der neuen Musik um nichts anderes als um den Verstoss in eine neue musikalische<br />

Dimension, und zwar um den Übergang aus dem ebenen Teiltonkoordinatenbereich in<br />

den räumlichen» (Der hörende Mensch 331). Die wahre neue Musik war für Kayser ein<br />

«Kunstwerk der Zukunft» – und natürlich harmonikaler Natur.<br />

Kayser betont oft, dass «der Terminus ‘Harmonik‘ […] nicht mit dem gleichlautenden<br />

aus der Musiktheorie ‘Harmonie‘ verwechselt werden [sollte]» (Akróasis 7). Tatsächlich<br />

haben seine Gedanken kaum Eingang in den akademischen musiktheoretischen<br />

Fachdiskurs gefunden. Dennoch berührt die universalistische Theorie auch die Fachgeschichte.<br />

Kayser ist Riemannianer. Der damals bereits obsolete Riemannsche Dualismus<br />

von Ober- und Untertonreihe wird aus harmonikaler Perspektive neu begründet.<br />

Er lässt sich bruchlos in Kaysers von Thimus‘ «Lambdoma» (–> Harmonie) abgeleitetes<br />

«Teiltonkoordinatensystem» integrieren. Diese Art von harmonikalem, mitunter<br />

zahlenmystischem Fortleben des Riemannschen Dualismus lässt sich verschiedentlich<br />

beobachten (Josef Matthias Hauer, Othmar Steinbauer, Ansätze auch bei Sigfrid Karg-<br />

Elert bis hin zu Martin Vogel). Auch zur Energetik von Ernst Kurth, dem Kayser freundschaftlich<br />

verbunden war, ergeben sich zumindest oberflächliche Beziehungen, da<br />

sich für Kayser aus dem harmonikalen Verfahren ergibt, dass nicht im Melos, sondern<br />

«im Akkord die eigentliche Dynamik und innere Bewegung verborgen steckt» (Der<br />

hörende Mensch 316): Im Denken der beiden Berner Theoretiker nimmt die Schopenhauersche<br />

Willenslehre einen bedeutenden Platz ein. Auch zur ethnologisch orientierten<br />

Musiktheorie des Jahrhundertbeginns (Capellen, Polak, Riemann) bestehen inhaltliche<br />

Beziehungen. Als direkte harmonikale Vorläufer Kaysers sind vor allem Walter<br />

Harburger (Metalogik, München 1919), Viktor Goldschmidt (Materialien zur Musiklehre,<br />

Heidelberg 1923/24) und <strong>Hans</strong> Schümann (Monozentrik, Stuttgart 1924) zu nennen.<br />

Die Wirkung Kaysers auf die Musiktheorie blieb begrenzt. Auf seinen Einfluss geht<br />

wohl Hindemiths «Wendung zu harmonikalem Denken» während der Arbeit an der<br />

Unterweisung im Tonsatz zurück (Giselher Schubert), während Hauer und Steinbauer<br />

anscheinend direkt auf die Arbeiten Thimus‘ zurückgegriffen haben. Walter Müller von<br />

Kulm gründet seine praktische funktionstheoretische Harmonielehre auf Kayser. Her-<br />

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