Mitteilungen Nr. 52 - Hans Henny Jahnn
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Übertragung der harmonikalen Gesetze<br />
Die Lehre von der Übereinstimmung musikalischer Gesetze mit Naturgesetzen und<br />
einer psychophysischen Gehörsveranlagung des Menschen führte schon in der Frühzeit<br />
des abendländischen Denkens dazu, die harmonikalen Proportionsgesetze auch<br />
auf Gebiete zu übertragen, in denen sie nicht als Grundlage bestehen. Eine solche<br />
Übertragung wird angewandte Harmonik genannt, und der wichtigste Bereich war<br />
schon in der Antike die Architektur. Der römische Architekturschriftsteller VITRUVIUS<br />
POLLIO, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert gelebt hat, legt dies in seinen «Zehn<br />
Büchern über Architektur» (De architectura libri X) ausführlich dar.<br />
HANS KAYSER hat nach seiner Analyse der Tempelruinen zu Paestum die Ansicht vertreten,<br />
dass sich die ins Auge springenden Abmessungen als Intervallproportionen<br />
auffassen und in Noten darstellen lassen. Er versucht in seinem Werk Paestum, Die<br />
Nomoi der drei altgriechischen Tempel zu Paestum (Lambert Schneider Verlag, Heidelberg,<br />
1958) die alten harmonikalen Bauprinzipien an den drei dorischen Tempeln<br />
nachzuweisen. Der Architekturschriftsteller VITRUV, Zeitgenosse des Kaisers Augustus,<br />
schrieb um die Zeitwende, dass der Architekt «musikverständig» sein müsse, und die<br />
Historiker sind sich darüber einig, dass im Altertum bis zur Renaissance nach konkreten<br />
harmonikalen Normen, also nach Tonzahlgesetzmässigkeiten gebaut wurde. Über<br />
das «Wie» dieser harmonikalen Bauweise herrscht jedoch bis heute Unklarheit. HANS<br />
KAYSER führt nun in diesem Werk zum erstenmal den Nachweis, wie die damaligen<br />
Architekten in der Praxis harmonikal arbeiteten.<br />
Die Grundlage ihres Messens, Sehens<br />
und Hörens war das Monochord, der Ein-<br />
Saiter, welchen PYTHAGORAS noch in seiner<br />
Sterbestunde eindringlichst empfahl. Da nun<br />
PYTHAGORAS im 5. Jahrhundert vor Christus in<br />
Süditalien lebte und starb, dort eine grosse<br />
Anzahl von Schülern ausbildete, welche an<br />
leitender Stelle in den Aristokratien der grossgriechischen<br />
Städte sassen, und da die Entstehung<br />
der Paestumer Tempel noch bis in die<br />
Zeiten PYTHAGORAS und seiner Schüler hinaufreicht,<br />
ist anzunehmen, dass die Tonzahlproportionen<br />
– wahrscheinlich die interne Geheimlehre<br />
der pythagoreischen Schule – auch<br />
für die Planideen der damaligen Architekten<br />
mitbestimmend waren. HANS KAYSER führt den<br />
Leser zunächst historisch bis zu dem Punkt,<br />
wo die sachlich-harmonikalen Analysen beginnen<br />
können und er dadurch instand gesetzt wird, durch eigene Forschung ein bisher<br />
fast völlig unbekanntes Gebiet neu und schöpferisch zu bearbeiten. Davon abgesehen,<br />
dürfte der Bilderteil dieses Buches und die einleitenden Textkapitel jeden Freund<br />
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