Mitteilungen Nr. 52 - Hans Henny Jahnn
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exakten mathematischen Proportionsnormen: Jedem Intervall kommt eine (jeweils verschieden<br />
grosse) «Elastizität» zu als eine Bandbreite, in dem dieses Intervall aufgrund<br />
der psychischen Veranlagung zurechtgehört wird. Dies erklärt, weshalb Abweichungen<br />
von den mathematisch exakten Proportionen möglich sind, ohne dass die Intervallerkennung<br />
als solche beeinträchtigt wird. Die zahlreichen Temperierungssysteme<br />
wären ohne diese Eigenschaft des Gehörs undenkbar.<br />
Physischer und psychischer Aspekt der Intervallwahrnehmung zusammengenommen:<br />
Im Gehör und in der Art und Weise des Hörens haben sowohl die exakten mathematischen<br />
Zahlenverhältnisse, als anzustrebende Norm, wie auch die Abweichungsmöglichkeiten<br />
dieser Norm ihre Verankerung. Nicht nur aus diesem Grund hat Harmonik<br />
ihr Augenmerk stets auf beides zu lenken: auf die Norm und gleichermassen auf die<br />
Norm-Abweichungen.<br />
Somit zeigt sich, dass wesentliche Grundlagen der abendländischen Musik durch das<br />
Gehör begünstigt sind, sodass sich die Musik nicht zufällig in der uns bekannten<br />
Weise entwickelt hat. Die Komponisten folgten eher einem instinctus naturalis als blosser<br />
Konvention. Aber nicht nur die abendländische Musik hat Grundlagen, die mit der<br />
Gehörsveranlagung übereinstimmen. Denn zu unserer Dur-Tonleiter, welche die vier<br />
grundlegenden Sonanzen (Quinte, Quarte, grosse Terz, grosse Sexte) auf einen<br />
gemeinsamen Grundton bezieht (c-d-e-f-g-a-h-c‘), gibt es vergleichbare Skalen in<br />
anderen Musikkulturen: Die Haupttonleiter der indischen Musik der sa-grama hat dieselbe<br />
Intervallfolge wie Dur, und gespiegelt von oben nach unten verlaufend, ist sie<br />
identisch mit der altgriechischen Zentraltonleiter, dem Dorischen, die ihren Ursprung in<br />
der Skala isartu des altbabylonischen Tonsystems hat. Auch die türkische Tonleiter<br />
maqam-rast gehört zu diesem Thema und eine weitere Parallele liegt im e-modus vor,<br />
der in der naturvolkhaften Musik als erste Stufe der Diatonik auftritt. Die Gehördisposition<br />
hat also die musikalischen Grundlagen verschiedener Kulturen massgeblich<br />
beeinflusst, denn anders kann eine derart auffällige Übereinstimmung nicht verstanden<br />
werden. Um es aber nochmals zu betonen: Vom<br />
Sinnesreiz bis zum reflektiven, ordnenden, wertenden<br />
Bewusstsein führt ein langer Weg, und<br />
die physiologische und psychische Stufe sind<br />
bloss Teile in diesem Prozess.<br />
Welche Musik aus diesen Grundlagen entstand<br />
oder mit ihnen komponiert worden ist, stellt<br />
allerdings eine zweite, von der Frage einer Veranlagung<br />
völlig unabhängige Frage dar. Auch<br />
die Grundlagen der Malerei, die Formen und<br />
Farben, waren zu allen Zeiten dieselben; was<br />
damit gemalt wird, erweist sich als überaus vielfältig.<br />
Harmonikale Gesetze und freier künstlerischer<br />
Wille sind verschiedene Aspekte, die nicht<br />
als unversöhnbarer Widerspruch aufgefasst und<br />
Johannes Kepler<br />
gegeneinander ausgespielt werden dürfen.<br />
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