Mitteilungen Nr. 52 - Hans Henny Jahnn

KREIS DER FREUNDE UM H A N S K AY S E R BERN
MITTEILUNGEN Nr. 52 Auflage 800 Ex. Mai 2004, 30. Jg.
Walter Ammann Biderstrasse 31 CH-3006 BERN Telefon 031 931 12 78 PC Bern 30-12710-8
Postgiroamt Frankfurt/M. 300 453 605, Bankleitzahl 50’010’060 • Postkonto International 91-13879-4
Zum 40. Todestag Hans Kaysers am 14. April 1964
Die Grabschrift auf dem Kirchhof Bolligen mit dem Redaktor der MITTEILUNGEN
Walter Ammann
s. Leserzuschrift auf S. 3f. Foto Ernst Christen, Bolligen

Inhalt
Seite
Leserzuschrift 3+4
Prof. Ludwig Holtmeier: Hans Kayser und die Harmonik 5–7
Paul Marti: Erinnerungen an Hans Kayser 7–13
Prof. Dr. Rudolf Haase, Prof. Dr. Werner Schulze: Die Harmonik der Welt 14–24
Prof. Dr. Rudolf Haase: Die Harmonik in Wien heute 24+25
Ernst Waldemar Weber: Symposion am 8. November 2003 25–27
Inserat: Erstausgaben der Werke Hans Kaysers 27
Bestellung 28
Die Verantwortung für die einzelnen Beiträge tragen jeweils die Verfasser
Liebe Freunde der Harmonik
Entsprechend der Auswahl der Themen und Redner, die Sie beim letztjährigen Symposion
getroffen haben, werden am Samstag, dem 6. November 2004, die folgenden Referenten zu uns
sprechen:
KLAUS AMMANN, Prof. Dr., Bern, Direktor des Botanischen Gartens:
Harmonia Plantarum: neue Erkenntnisse
MAXIMILIAN GLAS, Mineraloge und Publizist, München:
Kristalle – Urformen musikalischer Harmonie
HEINZ BÜRGIN, Obertoninstrumentenbauer, Lichtensteig:
Klingende Formen – farbige Töne (Der Akkord eines Ahornblattes oder die Farbe
des Schellendreiklanges)
ALEXANDER LAUTERWASSER, Forscher und Philosoph, Heiligenberg D:
Chladnische Klangfiguren, Wasser – Klang – Bilder
Dia- und Firmvortrag
Wir hoffen, auch dieses Jahr wieder eine grosse Zahl von Ihnen begrüssen zu dürfen.
Mit freundlichen Grüssen
Die MITTEILUNGEN erscheinen jährlich zweimal.
Richtpreis im Jahr Fr. 15.– / Euro 10.–. Bitte möglichst mit Giro überweisen.
Freunde in Deutschland zahlen auf Postbank NL Frankfurt, 300’453’605, Bankleitzahl
50’010’060, in andern Ländern auf das Gelbe Konto international Nr. 91-13879-4 KREIS
DER FREUNDE UM HANS KAYSER BERN.
Der Einfachheit halber legen wir a l l e n MITTEILUNGEN einen Einzahlungsschein bei. Wir
danken all denen, die zweimal bezahlt haben.
Wenn Sie die MITTEILUNGEN nicht mehr zu erhalten wünschen, möchten Sie diese bitte im
gleichen Umschlag, damit der Absender ersichtlich ist, frankiert an uns zurückgehen lassen,
wofür wir Ihnen bestens danken.
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LESERZUSCHRIFT
(gemäss ausdrücklichem Wunsch des Autors unverändert)
Dank. Danke!
Danke sagen ist eine Qualität, die der heutigen Zeit weitgehend abhanden gekommen
zu sein scheint.
Uns älteren Menschen tönt aus unserer Jugendzeit noch der damals von der noch
älteren Generation oft geäusserte Dank: «Vergält’s Gott z’hundertuusig Mal» in den
Ohren. «Leicht» übertrieben empfanden wir es damals. Heute wird eher untertrieben
mit dem Danke sagen. Darum möchte ich es jetzt etwas bescheidener, aber dafür im
mehrfachen Sinne tun.
Dank gehört dem epochalen Harmonik-Förderer Dr. Hans Kayser, der die Entdeckung
des Pythagoras, dass zwischen Musik und Mathematik ein direkter und auch beweisbarer
Zusammenhang besteht, neu aufgenommen, erweitert, verfeinert und der heutigen
Menschheit wieder zugänglich gemacht hat. Dank gebührt allen Menschen, die
den damals mit seiner jüdischen Frau vor der Hitler-Ära Flüchtenden aufgenommen
und unterstützt haben.
Dank gehört dem damaligen Pfarrer Paul Marti, der mit Hans Kayser befreundet war,
wohl dafür gesorgt hat, dass die Hans Kayser Grabstätte im kleinen und deshalb
exquisiten Kirchhof Bolligen einen ausgesuchten Ehrenplatz erhielt in der Fortsetzung
der West-Ost-Achse der Kirche.
Ein weiterer Dank geht an die Kirchgemeinde Bolligen, die das Grab des 1964 Verstorbenen
nicht nach üblichem Termin von 25 Jahren räumen liess und es auch weiterhin
bestehen lassen wird. Hoffen dürfen wir auf die Einsicht und den guten Willen zukünftiger
Generationen von Bolliger Bürgern.
Ein ganz grosser Dank geht an Walter Ammann, der mit Hans Kayser befreundet war
und von seinen Ideen begeistert ist.
Er hat eine grosse Schar von Freunden der Kayserschen Ideen um sich gesammelt
und verschickt an sie seit 30 Jahren ein interessantes Mitteilungsblatt.
Alle Jahre wird darin zu einem Symposion im geographischen Institut der Universität
Bern an der Hallerstrasse 12 eingeladen. Referenten aus ganz Europa sprechen dort
über harmonikale Themen im weitesten Sinn.
Der 90 jährige Walter Ammann besorgte bis heute mit ungebrochener Schaffenskraft
und grösster Akribie die Redaktion und den Versand dieser Hefte. Er ist verantwortlich
für die Suche und Einladungen der Referenten und des Publikums und auch besorgt
für den Druck und Verkauf der Schriften über Harmonik.
Jedermann ist es überlassen, wie viele Tausendmal er Herrn Ammann dafür Dank
sagen möchte.
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Der letztjährige Redner Prof. Dr. Werner Schulze aus Wien dankte, indem er sagte,
dank Kayser und Ammann in Bern müsste man ein geographisch-kulturelles Koordinatensystem
Europas erfinden und den Null-Punkt in Bern setzen. Also etwa: Paris
600 km westlich von Bern, Wien 800 km östlich von Bern usw.
Wenn es auch spassig ausgesprochen wurde, in Bezug auf die Harmonik hatten seine
Worte Bedeutung und Berechtigung.
Es sei mir zum Schluss ein Persönliches gestattet: Dank der Existenz der MITTEILUN-
GEN fand ich beim Durchstöbern einiger Hefte zu folgender Erkenntnis:
Der Musiksaal des Konservatoriums an der Kramgasse hat die Ausmasse: Höhe 7,37
m; Breite 10,85 m; Länge 22,13 m (MITTEILUNGEN Nr. 49, Nov. 2002).
Der international bekannte Orgel- und Glockenexperte und Akustik-Lehrer Ernst
Schiess war befreundet mit Hans Kayser und von seinen Ideen durchdrungen. Er soll
probiert haben, den Musiksaal auf ein harmonikales Mass zu bringen.
Wegen bestehender unumstösslicher Fakten gelang ihm dies nur annähernd. Das
heisst, wenn der Saal 20,5 cm breiter und 2 cm kürzer wäre, hätte er die harmonikalen
Proportionen von 2:3:6 (2:3 = Quinte, 3:6 = Oktave) (gefunden in den MITTEILUNGEN
Nr. 49 vom Nov. 2002).
So weit so gut. Der Saal weist eine hervorragende Akustik auf. Wenn er leer ist, so
meinen einige, dann knallt er. Aber, wer baut denn schon einen Saal für ein abwesendes
Publikum? Bei einer normalen Besetzung weist er eine Akustik auf, die weitherum
ihresgleichen sucht.
Meine Entdeckung in den MITTEILUNGEN Nr. 46 vom Mai 2001 war, dass die Hagia
Sophia (der Heiligen Weisheit geweihte Kirche) in Konstantinopel (erbaut 532–537),
den Tempel Salomons in Jerusalem nachahme mit seinen (laut 1. Könige 6,2, s. auch
MITTEILUNGEN Nr. 20, Mai 1988) Massen von 20:30:60 Ellen.
Das heisst also: Der Tempel Salomons, die Hagia Sophia in Konstantinopel und der
Saal des Konservatoriums an der Kramgasse in Bern haben die gleichen Proportionen.
Wem da nicht alle Glocken läuten, tut mir leid. Und das gefunden in drei MITTEILUN-
GEN, herausgegeben von Walter Ammann. Diese weltumspannende kulturvereinigende
Tatsache, entdeckt in drei Heften ist mir alleine die Existenz dieser Hefte wert.
Danke Walter Ammann!
Freue dich o Bern, du darfst stolz sein auf diesen Saal und behüte ihn für alle Zukunft!
Mögen auch dank ihm die epochalen Gedanken Hans Kaysers sich tönend weiterverbreiten.
Ernst Christen,
Musikdirektor SBDV (Schweiz. Berufsdirigenten-Verband, Bolligen)
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Hans Kayser und die Harmonik
Von Prof. Ludwig Holtmeier, aus MGG, MusikGeschichte von den Anfängen
bis zur Gegenwart
Kayser, Hans, geb. 1. April 1891 in Buchau (Württemberg), gest. 14. April 1964 in Bolligen
bei Bern. Der Sohn eines wohlhabenden Apothekers verbrachte die Schulzeit in
Sigmaringen, erhielt dort auch ersten Musikunterricht. 1911 ging Kayser nach Berlin.
Dort studierte er Musik, u.a. Komposition bei Humperdinck und Musikwissenschaft
bei Kretzschmar. Nachdem er sich mit Humperdinck überworfen hatte, studierte er
wenige Monate bei Joseph Haas in Stuttgart, brach aber dieses Studium ab und kehrte
nach Berlin zurück. Im April 1913 wurde er Schüler Arnold Schönbergs. Auch dieses
Unterrichtsverhältnis hatte nur kurze Zeit bestand. Er promovierte schliesslich
1916 in Kunstgeschichte. Kayser wechselte in dieser Zeit den Beruf (Kinomusiker,
Kritiker, Töpfer, Weber, Setzer und Druckereibesitzer) so häufig wie den Wohnort. Ab
1918 war er Herausgeber der im Insel-Verlag erscheinenden Reihe Der Dom. Bücher
deutscher Mystik (13 Bde.). Über die Beschäftigung mit der Mystik gelangte er zur
«Harmonik». Seit 1920 arbeitete er systematisch und beharrlich an der Reformulierung
des pythagoreischen Denkens. 1924 entstand sein erstes harmonikales Werk (Orpheus.
Vom Klang der Welt). Von einem Schweizer Mäzen gefördert, ging Kayser
1933 in die Schweiz und lebte bis zu seinem Tod als Privatgelehrter in Bolligen bei
Bern.
Kayser versuchte die alte pythagoreische Tradition der Weltenharmonie, die in Johannes
Kepler einen Gipfel- und Endpunkt erreicht hatte und von Albert von Thimus im
19. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurde, auf Grundlage neuzeitlicher naturwissenschaftlicher
Methoden als «Harmonik» (Kepler, Harmonice mundi) bzw. «Akróasis»
(Anhörung, als Gegensatz zur «Aisthesis» = Anschauung) wiederzubeleben. Kayser
erweiterte Thimus‘ Harmonik um den Begriff der «Tonzahl». Für ihn beschränkte sich
die pythagoreische Tradition nicht darauf, Qualitatives von Quantitativem (den «erlebten»
Ton von schwingenden Zahlenverhältnissen) abzuleiten, sondern der eigentliche,
esoterische, als «Geheimlehre» weitergegebene Pythagoreismus überführte Quantitatives
in Qualitatives, d.h. das gesamte in «Zahlenverhältnissen» strukturierte Universum
kann in der «Tonzahl» gefühlt oder genauer: in seiner «seelischen Struktur» (Akróasis)
unbewusst «gehört» werden. Die «seelische Struktur» versucht Kayser in aufwendigen
Grafiken (vor allem in seinem Lehrbuch der Harmonik), denen er den schönen Namen
«audition visuelle» gab, zu verdeutlichen. Diesem Grundgedanken schuldet die
Harmonik die Bezeichnung der Lehre vom «Klang der Welt».
Eines der Hauptanliegen der Kayserschen Harmonik (wie der Harmonik überhaupt –>
Harmonie) ist es, an immer neuen Beispielen Proportionen als kosmische Normen
nachzuweisen. Kayser sah sich dabei selbst als «exakter» Wissenschaftler. Die Harmonik
beinhaltet eine spekulative «universalistische» Metaphysik, die vermeint, über
historische und kulturelle Grenzen hinweig unterschiedlichste philosophische und
theologische Lehren und Richtungen synthetisieren zu können. Kayser wollte mit Hilfe
der Proportionenlehre den Zusammenhang zwischen verschiedenen Seins- und
Denkformen zeigen und normative Gemeinsamkeiten aufweisen, die mit Verhältnissen
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der Musik (Intervalle, Tonleitern, Harmonielehre, Kontrapunktik etc.) identisch seien.
Die «quantifizierende» Naturwissenschaft, die Kayser nicht ablehnte, wollte er um die
«psychophysische» Qualität des harmonikalen Weltzusammenhangs ergänzen. Im
Mittelpunkt dieses Weltbildes stehen akustische Gesetzmässigkeiten, die sich vom
Monochord ausgehend erklären und erfahren lassen.
Kaysers Schriften sind in ihrer Grundtendenz modernitätskritisch. Die Kälte der technizistischen
Wissenschaft war für Kayser Ausdruck dafür, dass sich der Mensch von
der «universellen» Ordnung der Zahlen entfremdet hatte. Den zweiten Weltkrieg deutete
er als Folge dieser «kosmischen» Orientierungslosigkeit. Kayser fühlte sich zwar
der Musik Hindemiths, vor allem seit Mathis, näher als beispielsweise der seines
Lehrers Schönberg, aber Kritik oder Polemik gegenüber der radikalen künstlerischen
Moderne übte er nicht. Vor dem Hintergrund seines harmonikalen Weltbildes
schrumpften die ästhetischen Konflikte der neuen Musik auf die Grösse rein stilistischer
Unterschiede: «Es handelt sich nämlich bei den umstürzlerischen Bewegungen
der neuen Musik um nichts anderes als um den Verstoss in eine neue musikalische
Dimension, und zwar um den Übergang aus dem ebenen Teiltonkoordinatenbereich in
den räumlichen» (Der hörende Mensch 331). Die wahre neue Musik war für Kayser ein
«Kunstwerk der Zukunft» – und natürlich harmonikaler Natur.
Kayser betont oft, dass «der Terminus ‘Harmonik‘ […] nicht mit dem gleichlautenden
aus der Musiktheorie ‘Harmonie‘ verwechselt werden [sollte]» (Akróasis 7). Tatsächlich
haben seine Gedanken kaum Eingang in den akademischen musiktheoretischen
Fachdiskurs gefunden. Dennoch berührt die universalistische Theorie auch die Fachgeschichte.
Kayser ist Riemannianer. Der damals bereits obsolete Riemannsche Dualismus
von Ober- und Untertonreihe wird aus harmonikaler Perspektive neu begründet.
Er lässt sich bruchlos in Kaysers von Thimus‘ «Lambdoma» (–> Harmonie) abgeleitetes
«Teiltonkoordinatensystem» integrieren. Diese Art von harmonikalem, mitunter
zahlenmystischem Fortleben des Riemannschen Dualismus lässt sich verschiedentlich
beobachten (Josef Matthias Hauer, Othmar Steinbauer, Ansätze auch bei Sigfrid Karg-
Elert bis hin zu Martin Vogel). Auch zur Energetik von Ernst Kurth, dem Kayser freundschaftlich
verbunden war, ergeben sich zumindest oberflächliche Beziehungen, da
sich für Kayser aus dem harmonikalen Verfahren ergibt, dass nicht im Melos, sondern
«im Akkord die eigentliche Dynamik und innere Bewegung verborgen steckt» (Der
hörende Mensch 316): Im Denken der beiden Berner Theoretiker nimmt die Schopenhauersche
Willenslehre einen bedeutenden Platz ein. Auch zur ethnologisch orientierten
Musiktheorie des Jahrhundertbeginns (Capellen, Polak, Riemann) bestehen inhaltliche
Beziehungen. Als direkte harmonikale Vorläufer Kaysers sind vor allem Walter
Harburger (Metalogik, München 1919), Viktor Goldschmidt (Materialien zur Musiklehre,
Heidelberg 1923/24) und Hans Schümann (Monozentrik, Stuttgart 1924) zu nennen.
Die Wirkung Kaysers auf die Musiktheorie blieb begrenzt. Auf seinen Einfluss geht
wohl Hindemiths «Wendung zu harmonikalem Denken» während der Arbeit an der
Unterweisung im Tonsatz zurück (Giselher Schubert), während Hauer und Steinbauer
anscheinend direkt auf die Arbeiten Thimus‘ zurückgegriffen haben. Walter Müller von
Kulm gründet seine praktische funktionstheoretische Harmonielehre auf Kayser. Her-
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mann Bahr und Hans Henny Jahnn setzten sich mit Kayser auseinander, Hermann
Hesse entnahm die harmonikalen Gedanken in seinem Glasperlenspiel wohl direkt von
Kepler.
Die Harmonik Kaysers wurde vor allem von Rudolf Haase gewürdigt und weitergeführt.
In der neueren harmonikalen Forschung nimmt der Gründervater Hans Kayser
keine zentrale Stellung mehr ein. Dass sich Popularesoteriker wie Ernst Joachim
Behrendt auf Kayser berufen, bildet die Ausnahme. Auch in der modernen, vor allem
amerikanischen Musikethnologie und -psychologie, in denen einige der Kayserschen
Grundansätze weiterverfolgt werden, spielt sein Werk nur eine untergeordnete Rolle.
Erinnerungen an Hans Kayser
Vom Nachbarn vorgestellt
von Paul Marti, Pfarrer in Bolligen
Am 14. April jährt sich zum vierzigsten Mal der Todestag von Dr. Hans Kayser, dem
Erforscher und Erneuerer der Pythagoäischen Harmonik, der, ausgehend von Tonreihen
und Intervallen, von einfachen Grundverhältnissen auf der Suche nach der
Harmonie der Welt war, die er im Kleinen in der Natur, im menschlichen Werk der
Architektur und Musik und im planetaren Raum fand: ein facettenreicher Forscher und
Philosoph. Statt einer streng fachlichen Würdigung soll hier mit persönlichen Erinnerungen
des Gelehrten gedacht werden, mit Aufzeichnungen von Pfarrer Paul Marti,
dem Nachbarn von Hans Kayser in Bolligen. Sie zeigen nicht den Olympiker, sondern
den Menschen in seinem alltäglichen Bereich gewissermassen den Philosophen in
seinen Hausschuhen, und haben ihren Reiz im Zusammentreffen zweier stark verschiedener
Menschen, die, obwohl im Geistigen sich letztlich fremd, dennoch zu
treuer Freundschaft fanden:
«Müsste man glühender ‘Harmoniker’ sein, um Erinnerungen an Dr. Hans Kayser aufzuzeichnen,
dürfte ich es eigentlich nicht. Doch mich berechtigt vielleicht eine sich
durch Jahre hinziehende persönliche Vertrautheit, die zur Freundschaft gedieh, dazu.
Ich las seine Aufsätze und Schriften, die er mir meistens schenkte, mit kritischem Interesse.
Aber bald einmal spürte ich, dass der gelehrte Freund Widerspruch nur schwer
ertrug, und er war mir zu lieb, als dass ich ihn hätte verletzen und als Gastfreund verlieren
wollen. Ähnlich mag er mir gegenüber empfunden haben. Er, der sich gelegentlich
mit liebenswürdiger Selbstironie einen ‘rechten schwäbischen Spinner’ nannte,
der über Plato und Pythagoras auf der Suche nach dem geheimen Wissen um die
Harmonie der Welt war, der tiefsinnig und spekulativ seinen Forschungen nachging,
und ich, der ich als Schüler des in Bern lehrenden Hermann Lünemann, der auf dem
nüchternen Kant und auf Schleiermacher fusste, als Freund Martin Werners, des
Systematikers der Gedanken und Werke von Albert Schweitzer, als liberaler Theologe,
in dessen Bibel das Wort ‘harmonia’ fehlt, ja dem das Buch Hiob alle harmonisierenden
Welterklärungen zu verunmöglichen scheint, er und ich, wir waren in verschiede-
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nen Bezirken heimisch. Aber es gab in den Jahren unserer freundschaftlichen Beziehungen
genug Gesprächsstoffe, bei denen wir uns finden und von einander dankbar
lernen konnten.
Freundlicher gelehrter Mann
Zwei Postkarten mögen zeigen, wie freundlich der gelehrte Mann mit seinem Dorfpfarrer
verkehrte. Die eine schrieb er in der Zeit, da er sich um das Bürgerrecht von
Bolligen bewarb:
‘Biogno-Beride, 19. Juni 47.
Lieber Herr Pfr. Marti! Vielen herzl. Dank für Ihren Brief und die Mühe, die Sie sich um
meine Sache gaben. Die Zusicherung Herrn v. St’s, den Fall zu prüfen, ist ja auch
schon viel wert. Entschuldigen Sie die Kürze dieser Karte – wir sind mitten im Packen
und Putzen u. fahren Montag nach Hause. – Webers kommen mit Kind u. Kegel, u. da
wird’s zu eng, besondern wenn’s wie in den letzten 10 Tagen im 1. Stock kein Wasser
gibt. Erholen Sie sich (in Pontresina) recht gut, und seien Sie mit den Ihrigen vielmals
herzlich gegrüsst von Ihrem
Hans Kayser.’
Die andere Karte schrieb er aus Capri nach seinen Studien über die Tempelruinen in
Paestum.
‘Capri, 25.IV.1957.
Lieber Herr Pfarrer Marti!
Nach einer strapaziösen Paestum-Woche sind wir hier auf dieser Insel der Sirenen
gelandet, hausen ganz allein im Palazzo einer argentinischen Freundin und hoffen,
dass wir uns nächste Woche aus dieser paradiesischen Landschaft losreissen können
– was wir zwar nicht wollen, aber meiner Arbeit wegen müssen.
Mit herzlichen Grüssen auch von meiner Frau an Sie und Ihre Gattin!
Ihr Hans Kayser’
Nach Jahr und Tag verblassen die Einzelheiten, in denen nach einem alten Wort das
Göttliche steckt. Denke ich an die Gespräche mit Hans Kayser zurück, so führten sie
doch immer oder doch in der Regel ‘empor’, in die Höhe zu den Schönheiten der Welt
und des Himmels, zu jenem Staunen und diesem Sich-Wundern. So hat es sein
Bedenkliches, einige Erinnerungen aufzuzeichnen. Wie war es eigentlich? Lohnt es
sich, dies oder das zu erzählen? Mir ist manche Kleinigkeit wertvoll. Aber verschwindet
nicht hinter den Alltäglichkeiten der mir unvergessliche Mensch?
Bei erlesener Hausmusik
Ich traf mit Hans Kayser und seiner Gattin zum ersten Mal ungefähr im Jahre 1940 im
Hause des musikalischen Ehepaares Dr. Arnold Weber in der Waldau zusammen.
Meine Frau und ich waren zu erlesener Hausmusik eingeladen worden. Man übte und
spielte unter anderem Schuberts Forellenquintett. Ich meine, den begabten vier
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andern nicht Unrecht zu tun, wenn ich bekenne, dass ich mit besonderem Genuss auf
Hans Kaysers Cello hörte. Einmal erhob die Geigerin Einspruch, wohl mit einigem
Recht: ‘Ich komme mit meinen schönen Ornamenten zur Melodie des Cellos nicht auf.
Sollten Sie nicht ein wenig mit dem Forte zurückhalten?’ Dr. Kayser antwortete, er
führe hier mit dem Thema, alles andere ranke sich darum und habe eben lediglich zu
dienen. Aber im Ganzen fügte man sich willig seiner Auffassung und Interpretation.
Hier wie auch bei Beethoven-Sätzen gewann ich den Eindruck, dass der Cellist voller
Liebe zur klassischen Musik war, die sich mehr und mehr verbindet mit dem Geiste
der Romantik. Der stattliche Mann mit dem vornehmen Gesicht, umrahmt von grauen
Locken, mutete mich an wie ein später Vertreter des begeisterungsfähigen Geschlechtes,
das einen Schubert und Hölderlin hervorbrachte. Wenig später folgte ich seiner
Einladung, ihn in seinem Hause am Pappelweg – am Rande von Ostermundigen
gegen das damals noch freie, offene Feld hin – zu besuchen. Er war zur Predigt
gekommen, die ich ausnahmsweise in Ostermundigen gehalten hatte. Er wartete auf
mich, da wir denselben Weg zu gehen hatten. Er äusserte sich über die gehörte
Predigt. Aber auch später sass er nicht selten in der Kirche, wenn ich den Dienst
verrichtete; vor allem, als er durch den Umzug nach Bolligen, wo er ein Haus nach
seinen Bedürfnissen hatte bauen lassen, mein Nachbar geworden war. Wenige haben
mir wie Hans Kayser durch Fragen und spürbare Anteilnahme bei meiner Arbeit geholfen
und mir Mut gemacht, mir selber immer neu das Letzte abzufordern. Solange er
in Ostermundigen wohnte, wurde es mir beinahe zur Gewohnheit, auf dem Heimweg
bei ihm anzuklopfen, wenn ich dort einen Dienst verrichtet hatte. Das fiel einem alten
Fabrikarbeiter auf, der Kaysers Nachbar war. Als ich wieder einmal dem Hause von
Dr. Kayser zusteuerte, sprach der Mann mich an: ‘Ich sage immer zu meiner Frau:
Respekt vor dem Bolligenpfarrer, dass er zum Dr. Kayser geht. Der ist nämlich ein
freundlicher Herr und dazu noch ein Gelehrter. Aber er grüsst mich immer freundlich,
und darum muss ich euch sagen, dass eure Besuche bei ihm mich freuen.’
Eisenbahn vor Philosophie
Nun ging es bei meinen vorerst flüchtigen Besuchen nicht so zu, wie der treuherzige
alte Mann es sich wohl vorstellte. Denn Hans Kayser empfing mich auch deshalb gern,
weil ich mich für sein Eisenbahnmodell interessierte, das er in seinem grossen, etwas
verwilderten Garten aufmontiert hatte. Die Schienen mit Doppelgeleisen und Ausweichstellen
liefen über selbstgegossene Betonpfähle. Leider befand sich die kleine
Gotthard-Lokomotive ständig in Reparatur. Sie soll mit den angehängten Güter- und
Personenwagen früher lustig auf den Schienen und Nebengeleisen herumgedampft
sein. Doch das zu sehen war mir nicht vergönnt, auch nicht im kleinern Gärtlein in Bolligen,
wo die Schienen mit Kurven die Steigungen des Geländes überwanden. Doch
ich traf ihn auch in Bolligen in seiner Werkstätte an beim Löten des Kessels, beim
Schweissen, Feilen, immer in Gedanken an Enkelkinder, die er mit seinem Werk erfreuen
wollte. Diese Liebhaberei führte Hans Kayser in den Kreis von Herstellern ähnlicher
Eisenbahnmodelle; fröhlich erzählte er, wie er mit dem von ihm mitbegründeten
‘Schweizerischen Modell-Eisenbahn-Club’ beim Jubiläum der Spanisch-Brötlibahn die
lustige Eröffnungsfahrt im Aargau mitgemacht habe. Nicht die Musik, sondern diese
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liebenswürdige Spielerei leitete seinen Verkehr mit dem Komponisten Paul Hindemith
ein, der – von gleicher Schwäche befallen – auf Dr. Kayser als Fachmann im Eisenbahnbau
hingewiesen worden war und sich, in solcher Sache Rat suchend, an ihn
gewendet hatte. Irgendwie kommen eben Menschen, die einander aus tiefern Gründen
finden müssen, zusammen.
Auf Stumpenlänge
Meine Beziehungen mit Hans Kayser vertieften sich, als er 1953 nach Bolligen umzog.
Sein Haus steht nahe bei der Kirche, so dass wir einander leicht und nach Lust und
Laune besuchen konnten. Er stand vor unserer Türe: ‘Ich wollte mal grüssen und fragen,
ob Sie einen Augenblick für mich Zeit haben.’ Oder ich wurde von der Frau Doktor
in sein Studierzimmer gewiesen – aber da stand er schon oben auf der Treppe zum
obern Stock. In seinem mit Büchern angefüllten Zimmer sassen wir an seinem grossen
Doppelpult einander gegenüber, ‘auf eines Stumpens Länge’. War diese Zeit vorüber,
konnte er wohl fragen: ‘Wollen wir unsere Sitzung nicht um einen Stumpen verlängern?’
Beharrlich bot er mir seine schwarzen Toscani an, und ebenso beharrlich
blieb ich bei meinen ‘Wuhrmann’, von denen mir ein Theologe gestanden hat, sie
seien das Einzige, was er von den liberalen Theologen übernommen habe. So wurde
es für uns beide ein Bedürfnis, einander in Abständen von zwei, drei Wochen zu
sehen, nicht selten häufiger. Wie oft vermisse ich seither den ernsten Mann, in dem
auch das Kind und der Jüngling nicht zugeschüttet waren. Mein ‘kayserlicher’ Freund
sprach oft vom heimatlichen Sigmaringen, wo er in der Apotheke seines Vaters aufgewachsen
war. Mit Stolz erzählte er, er sei der zweite seines Geschlechts, der die Emigration
gewählt habe. Denn einer seiner Ahnen gehörte zu den glaubensstarken Salzburger-Emigranten
aus der Zeit von 1731. 1891 geboren, war er der Älteste von vier
Kindern des die Musik und alles Schöne liebenden Apothekers August Kayser und
dessen Gattin Maria geborene Göbel. Dankbar erinnerte er daran, dass ihn der Vater
gemäss seinen Neigungen nach dem Abiturium in Sigmaringen Kunstgeschichte,
Musik und Philosophie in Berlin und Erlangen studieren liess. Bei Professor Preuss
schloss er früh ab mit einer Dissertation über Fra Angelico und den heiligen Antonius.
Aber nach einigem Schwanken zwischen Malerei und Musik bildete er sich als Cellist
und Klavierspieler bei Engelbert Humperdinck und Max von Schilling aus. Schon vor
dem Ausbruch des ersten Weltkrieges fand er in der Sängerin Clara Ruda seine Ehegefährtin,
die Mutter des früh verstorbenen Söhnleins und ihrer beiden Töchter.
Lastende Kriegsjahre
Der 1914 zum Frontdienst Eingezogene musste wegen einer Herzerweiterung entlassen
werden. Die stets schwerer lastenden Kriegsjahre führten den jungen Gelehrten
immer tiefer zur Einsicht, dass sein Vaterland einer innern Erneuerung bedürfe. Im
Herbst 1918, im darniederliegenden Verlagswesen tätig, begrüsste er den Sturz der
Monarchie und den Umschlag zur Weimarer Republik. Er erzählte mir, wie er in den
kritischen Tagen mitbeteiligt war bei der Abfassung und beim Druck eines revolutionären
Flugblattes, dessen Verbreitung allerdings wegen der sich überstürzenden
Ereignisse dann unterblieb. Doch sah er deutlich seine Lebensaufgabe vor sich in der
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Wiedererweckung von Werten, von denen er hoffte, sie würden Deutschland neu zu
Ehren bringen. Er ging namentlich jenen Quellen nach, die einst in der deutschen
Mystik geflossen waren. Der hier führende Inselverlag gab ihm Gelegenheit, die Reihe
der grossen Bände ‘Bücher des Deutschen Domes’ herauszugeben, und er besorgte
selbst die Auswahl aus den Schriften von Paracelsus und Jacob Böhme. In den
schlimmsten Zeiten der Inflation lebte auch er mit seiner Familie von der Hand in den
Mund; zuweilen machte er in Gaststätten mit seinem Cello Musik. Später schien für
den Mitarbeiter eines grossen Verlages endlich die Existenz gesichert zu sein. Diese
Sicherung indessen gab er auf, was wohl bezeichnend für ihn ist, und er eröffnete eine
eigene Druckerei zur Herausgabe schöner Bücher. Im eigenen Verlag erschien sein
erstes programmatisches Werk ‘Orpheus’, mit dem er die ‘Harmonikale Symbolik des
Altertums’ von Albert von Thimus (Köln 1868 bis 1876) in selbständiger Weise weiterführte.
Die braune Flut
Doch nun brach die braune Flut über ein Saatfeld hinweg. Hans Kayser sah rechtzeitig,
dass seine Familie bedroht war. Um Frau und Kinder zu retten, entschloss er
sich schon 1933 zur Emigration: Er wählte die Schweiz. Das war eine Fahrt ins Ungewisse.
Eigentlich blieb sein Weg bis zuletzt von Sorgen umstellt. Doch fand er stets
Freunde, die ihm halfen, das zu schaffen, wozu er sich berufen fühlte. Er hatte sich zu
einer Zeit zur Auswanderung entschlossen, da es ihm noch gestattet war, seine wertvolle
Bibliothek, sein Cello, seinen Flügel, seine Handschriften und auch sein Monochord
mizunehmen. So lebte der seltsame Mann seinem in unsern Zeiten abenteuerlichen
Beruf eines Privatgelehrten nach. Doch ich deutete bereits an, dass Dr. Kayser
sich bemühte, bei uns mit dem einfachsten Menschen in Beziehung zu treten. Freilich
verzichtete er darauf, unsere Umgangssprache zu lernen; aber er las Gotthelf. Zwar
hatte er einige Mühe, sich überall in unsere Verhältnisse zu schicken. So wunderte er
sich über den langwierigen Instanzenweg, als er sich um das schweizerische Bürgerrecht
bewarb. Damals, wie auch nachher vor Abstimmungen begehrte er von mir
immer wieder verfassungskundlichen Unterricht. Es lag aber gewiss nicht an mir, dass
er lebenslang die Dinge durcheinanderwarf, Bundesrat, Regierungsrat, Bundesversammlung
und Grossen Rat, Referendum und Initiative. ‘Ach, so ist es’, konnte er ausrufen;
jedoch schon das nächste Mal oder am Schluss der Lektion, wenn etwa von
den richterlichen Instanzen die Rede war, wirbelte unser lieber Harmoniker wieder alles
chaotisch durcheinander. Mit der Leidenschaft des Herzens, zugleich aber mit scharfem
Blick und mit bestimmten Urteilen verfolgte er die grossen Vorgänge in der Welt.
Ergreifend war es, wie er im stillen Zimmer, wo wir allein einander gegenübersassen,
in echtem, schönem Pathos von ewigen, unveräusserlichen Werten und heiligen Normen
sprach. Mit erhobener Stimme konnte er dann von der ‘satanischen Hybris’ der
Atomspaltung und ihrem ‘Missbrauch zum Massenmord’ reden. Sehr oft stellte er mir
Fragen biblisch-exegetischer Natur, oder er kam auf das weite Feld der allgemeinen
Religionsgeschichte zu sprechen. Dabei stand er auf dem Boden der Romantik, und
er schätzte besonders Creuzers ‘Symbolik und Mythologie der alten Völker’ (1807 bis
1812), aber er hörte willig zu, wenn ich meine Thesen vertrat. Immer hatte er die
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schöne dreibändige Übersetzung von Platons sämtlichen Werken in greifbarer Nähe.
Seine Witwe schenkte sie mir als wertvolles Andenken an den Gatten. Die Bücher sind
mir auch darum lieb, weil Bleistiftstriche an den Rändern zeigen, was ihn besonders
bei der Lektüre beschäftigte und anregte. Oft sagte Kayser, dass Plato, aber besonders
Pythagoras über ein nur im engsten Kreise geäussertes Wissen verfügten, das
uns rohen Haptikern und blossen Augenmenschen verloren gegangen sei. Darunter
verstand er das geheime Wissen um die ‘Harmonie der Welt’, das sich besonders in
der Musik und in den Worten grosser Denker und Dichter aller Zeiten offenbare. Immer
neu kam er zurück auf seine Überzeugung, dass wir hier Qualitäten erfassen, dass in
Klang und Ton mit dem Ohr das Äusserliche, das bloss messbare Quantitative der
Erscheinungswelt durchbrochen werde und wir das Wesenhafte unmittelbar erfahren.
Wenn ich selbstverständlich zugab, dass in alten Philosophenkreisen esoterisches
Wissen gepflegt und nur mündlich überliefert wurde, so blieb es mir gerade bei den
Fragmenten des Pythagoras immer problematisch, dieses geheime Wissen zu entdecken,
wie mir auch der Überschlag von quantitativem Erkennen durch das Tasten
und Sehen zu Qualitäten im Hören nicht durchaus einleuchtete. Doch weil ich spürte,
dass mein Freund daran sozusagen mit religiöser Inbrunst hing, habe ich ihn nicht mit
dauerndem Widerspruch verletzen und damit verlieren wollen. Den diesen für ihn
gewissen Geheimnissen ging er nach, und es gab kaum ein Gebiet, in dem er nicht
nach einer Bestätigung seiner Vision geforscht hätte. Mathematik, Mineralogie,
Botanik (‘Harmonia plantarum’), der Aufbau von Atom und Molekül, der Makrokosmos,
die Abstände der Planeten und die sieben Töne der Oktave, Architektur (die
Tempel von Paestum), Dichtung: überall ging er den Spuren der harmonia aphanees
nach. Wie weitgespannt seine Belesenheit war, zeigt auch seine Anthologie «Bevor die
Engel sangen». Er überreichte mir das von den Upanishaden bis auf Musil reichende
Büchlein mit der Widmung von Gottfried Keller: ‘Also streicht die alte Geige Pan der
Alte laut und leise.’
Teilnehmender Beurteiler
Erst in den letzten Jahren beschäftigte er sich eingehender mit Geschichte; mit steigendem
Interesse las er namentlich den grossen Historiker Leopold von Ranke.
Nochmals muss ich gestehen, dass ich mich mehr und mehr hütete, mit ihm über
seine Harmonik zu sprechen. Ich las auch sein Buch ‘Vom Klang der Welt’ nicht zu
Ende, geschweige denn, dass ich mich in sein «Lehrbuch der Harmonik» vertiefte.
Vielleicht bin ich ausserstande, seinem spekulativen Tiefsinn zu folgen. Hans Kayser
nahm stets freundlich Anteil an dem, was mir in meinem engern Kreis widerfuhr, und
er war ein teilnehmender Beurteiler meiner kleinen Bemühungen. So liess er mich
immer auch Anteil nehmen an dem, was er in seinem grössern Raume erfuhr und
erstrebte. Da war die Freude über den Ruf zu Vorträgen, etwa bei Architekten, das
Echo, das er aus Amerika für seine Arbeit vernahm, die Genugtuung, dass er in seine
schwäbische Heimat gerufen wurde, um einen Kunstpreis entgegenzunehmen, der
Besuch von Verehrern. Eines Abends wies ich sogar einem Enkel des italienischen
Königs den Weg zu Dr. Kayser, erst andern Tages erfahrend, wer der Herr im Lodenmantel
und mit Tirolerhütchen gewesen war. Als Hans Kayser angefragt wurde, ob er
12

an der grossen Musikakademie in Wien als Lehrer wirken möchte, begleitete seine
Freude darüber eine bittere Resignation: ‘Es ist zu spät, ich bin zu alt dafür – sie hätten
früher kommen sollen.’ Doch er freute sich, für diese Arbeit Rudolf Haase empfehlen
zu können, der nun als Professor in Wien in seinem Sinne wirkt und dem wir eine
bei Benno Schwabe (Basel-Stuttgart 1968) herausgegebene Biographie Kaysers verdanken.
Einmal klagte Kayser, unwillig auf einen eben erhaltenen Brief hinweisend: ‘Da
schreibt wieder einer, der Antwort haben will auf Dinge, die ich längst beantwortet
habe. Ich müsste solchen Leuten jeweils ganze Bücher schreiben. Sie sollen doch
lesen, was seit Jahren vorliegt. Ich bin froh, dass es mir vergönnt war, auch meine
‘Harmonikale Symbolik‘ fertig zu stellen. Nun soll man mich in Ruhe lassen und von
dem Kenntnis nehmen, was ich geben konnte.’
Nach später Heimkehr erreichte mich am Abend des 13. April 1964 der Anruf von Frau
Dr. Kayser, ihr Mann liege krank im Tiefenauspital und würde sich über meinen Besuch
freuen. Ich versprach das für den Abend des folgenden Tages, da meine Zeit bis dahin
belegt sei. Doch von trüber Ahnung erfüllt, beschloss ich, statt von Bern über Mittag
heimzufahren, in der Stadt zu essen und ihn dann zu besuchen. Als ich kurz nach ein
Uhr in der Tiefenau ankam, vernahm ich, dass mein Freund wenig vorher gestorben
war. Ich ging in sein Sterbezimmer, wo die Leiche auf weissen Linnen lag. Die Schwester
hatte Frühlingsblumen auf sein Kissen gelegt. Selten habe ich ein schöneres und
friedvolleres Antlitz eines Toten gesehen. In der kurzen Zeit, da ich allein bei ihm weilte,
ging mir ein von ihm häufig zitiertes Wort aus der Spätzeit Hölderlins durch den
Sinn:
«Als wie ein Ruhetag, so ist des Jahres Ende,
wie einer Frage Ton, ob dieser sich vollende.»
Aber auch das andere Wort des von ihm tief verehrten Dichters, das seinem Streben
nach Harmonie Richtung und Ausdruck gab:
«Und die Vollkommenheit ist ohne Klang.»
In meiner Abdankungsrede für Dr. Hans Kayser erinnerte ich an jenen Kaufmann im
Evangelium (Matthäus 13,45.46), der alles, was er besass, einsetzte für die eine köstliche
Perle.»
HANS KAYSER – Aus meinem Leben
Schriften über Harmonik Nr. 26
200 S., 28 Abb., br., Bern 2000, Fr. 24.–
Die rückhaltlose Offenheit in den beiden autobiographischen Fragmenten, die Ergänzungen
durch seine Frau und verschiedene Briefwechsel mit Mäzenen und Freunden machen
das Buch zu einer Fundgrube über den Menschen Hans Kayser. Im Gesuch an den Nationalfonds
und auch andernorts wird sodann seine Harmonik auf engstem Raum zusammengefasst.
Gottfried Bergmann
13

Die Harmonik der Welt
Eine Einführung (aus Tattva Viveka Nr. 20)
von Prof. Dr. Rudolf Haase und Prof. Dr. Werner Schulze
Dieser Grundsatzartikel von Rudolf Haase, aktualisiert und überarbeitet von seinem
Nachfolger Werner Schulze (am Internationalen Harmonikzentrum an der Universität
für Musik und darstellende Kunst Wien) gibt einen Überblick über die Entstehung der
Harmonik bei PYTHAGORAS, ihre Weiterentwicklung durch JOHANNES KEPLER, ALBERT VON
THIMUS, HANS KAYSER u.a. sowie die inhaltlichen Facetten der harmonikalen Naturgesetze,
insbesondere Gehör, Musik und Architektur bis hin zur Bedeutung des
harmonikalen Denkens, das eine neue Sinnebene in die entseelten Wissenschaften
der Neuzeit einzubringen vermag.
Die Geschichte des harmonikalen Denkens
In zahlreichen alten Hochkulturen war die Vorstellung verbreitet, dass die Welt aus
Klängen entstanden ist oder aus solchen besteht; in Mythen und mit Symbolen wurde
dies dargestellt. Als sich in der griechischen Antike die Wandlung «von der Mythologie
zur Philosophie», «vom Mythos zum Logos» vollzog, wurde auch der Gedanke eines
harmonikalen Schöpfungsmythos nicht vergessen und fand in den Lehrmeinungen
des Pythagoreismus seinen Niederschlag. Man dachte in Zahlen, Proportionen, Harmonien
und Analogien (harmonia = Fügung). Die Vorstellung eines aus Klängen bestehenden
Kosmos könnte damals etwa so gedacht worden sein: Es gibt analoge
Gesetze in der Natur, im Menschen und in der Musik. (Diesen zentralen Gedanken
könnte man das «Goldene Dreieck» der Harmonik nennen.) Zahlen und Proportionen
liegen den Rhythmen und Intervallen der Musik zugrunde, und diese Gesetzmässigkeiten
haben ihre Entsprechung in Naturgesetzen und in einer seelischen Veranlagung
des Menschen.
Ob das harmonikale Denken der griechischen Antike von Anfang an als abgerundete
philosophische Lehre auftrat, ist zu bezweifeln, da die von PYTHAGORAS im 6. vorchristlichen
Jahrhundert gegründete Schule offenbar nur wenig Schriftliches hinterlassen
hat. Etwa hundert Jahre später gibt es bruchstückhaft erhaltene Quellen, aber grössere
Zusammenhänge werden erst bei PLATON deutlich, vor allem in seinen Dialogen
Timaios und Politeia. Über ein halbes Jahrtausend danach, in den ersten nachchristlichen
Jahrhunderten, tauchen erneut pythagoreische Schriften auf, die mit Sicherheit
auf Quellen hohen Alters aufbauen, da eine kontinuierliche Tradierung über die Jahrhunderte
hinweig angenommen werden kann. NIKOMACHOS aus Gerasa, IAMBLICHOS
aus Chahlis und THEON aus Smyrna sind die herausragenden Persönlichkeiten dieses
Neupythagoreismus, und von ihnen gelangten einzelne Gedanken ins Mittelalter.
Abgesehen von der mathematischen Musiktheorie kann aber im Mittelalter von keiner
lückenlosen Tradierung pythagoreischen Denkens die Rede sein. Erst in der Renaissancezeit
kommt es durch die Humanisten zu einer umfassenden Neubelebung harmonikalen
Denkens. Den Gelehrten war bis in die Barockzeit hinein der Gedanke einer
14

Weltharmonie auf der Basis musikalischer Gesetze vertraut, und man schrieb über
dieses Thema mit einer gewissen «Gläubigkeit», die keiner rechtfertigenden Reflexion
bedurfte; als Autoritäten, auf die man sich hierbei berufen konnte, galten vor allem
PYTHAGORAS und PLATON, aber auch lateinische Autoren wie CICERO oder CHALCIDIUS.
Ein grosser Denker der Barockzeit machte sich zur Lebensaufgabe, die alte Lehre von
der Weltharmonie ins Zentrum seines wissenschaftlichen Bemühens zu rücken und sie
mit den ihm vorliegenden Beobachtungsdaten der Planetenbewegungen zu verknüpfen:
JOHANNES KEPLER, der berühmte Mathematiker und Astronom, der in seinen Fünf
Büchern von der Weltharmonik (Harmonices mundi libri V) davon sprach, dass in den
Planetenbahnen harmonikal deutbare Proportionen angenähert werden. Zu KEPLERS
Lebzeit wurden seine Bemühungen freilich missdeutet, später sogar verlacht. Am
Ende der Barockzeit, mit dem beginnenden Triumphzug der Naturwissenschaften,
geriet die Lehre von der pythagoreischen Weltharmonie wieder in Vergessenheit.
Dieser Sachverhalt änderte sich erst vor etwa hundert Jahren, nachdem der Privatgelehrte
ALBERT VON THIMUS die alten Ideen wieder aufgegriffen und sich insbesondere
der verschütteten antiken Quellen angenommen hatte. Er verfasste ein zweibändiges
Werk mit dem Titel Die harmonikale Symbolik des Altertums, in dem er allerdings
zutreffende Deutungen mit ausufernden Spekulationen vermischte, zu denen er durch
die Symbolik der alten Hochkulturen inspiriert worden war. Seinem Lebenswerk wäre
kaum ein nennenswerter Erfolg beschieden gewesen, hätte nicht der deutsch-schweizerische
Privatgelehrte HANS KAYSER (1891–1964) THIMUS‘ harmonikalen Denkansatz
aufgegriffen und mit neuen Erkenntnissen verbunden. Diese sogenannte «Kaysersche
Harmonik» war eine Synthese der pythagoreischen Tradition, eingekleidet in eine
eigenwillige, mystisch gefärbte Metaphysik. Die moderne Harmonik ging aus ihr hervor,
freilich unter Ausklammerung des spekulativen Moments bei gleichzeitiger Akzentuierung
einer induktiven Methodik.
Harmonikale Naturgesetze
Die harmonikale Tradition überliefert aus der Antike, dass die Zahlengrundlagen der
Musik, die Proportionen der Rhythmen und Intervalle, auch als Naturgesetze zutage
treten und im Menschen verankert und als psychische Qualitäten erlebt werden. Welcher
Art sind diese Gesetze, die auf diese Weise Quantitäten und Qualitäten verbinden?
Die Intervalle der Musik sind untrennbar mit niedrigzahligen Proportionen verbunden:
Die Oktave hat die Proportion 2:1, die Quinte 3:2, die Quarte 4:3, die grosse
Terz 5:4, die kleine Terz 6:5, und so weiter. Diese Verknüpfung von Intervall-Qualitäten,
die – als Wahrnehmungsinhalte – psychisch erlebbar sind, mit Proportions-Qualitäten,
die – als mathematische Entitäten – rational verstehbar sind, kann am Monochord auf
einfache Weise hör- und sichtbar gemacht werden.
Die mathematischen Gesetze der musikalischen Grundlagen sind zugleich allgemeine
Naturgesetze – so dachte man bereits in der Antike, und die moderne harmonikale
Forschung verfolgt denselben Weg. Jene naturwissenschaftliche Disziplin, in der uns
die harmonikalen Gesetze unmittelbar begegnen, ist die Akustik; Obertöne erklingen
15

ei jeder Tonerzeugung, und die geschlossene Obertonreihe hat die Proportionenfolge
1:2:3:4:5 usw. mit den Intervallen Oktave-Quinte-Quarte-grosse Terz- usw.
Am Beginn unseres Jahrhunderts gesellte sich die Kristallografie zur Harmonik: Der
Heidelberger Kristallograph VICTOR GOLDSCHMIDT entdeckte im Aufbau der Kristalle, in
den signifikanten Hauptmassen, eine harmonikale Struktur. Aber auch in Physik und
Chemie gibt es wichtige Proportionsgesetze, die harmonikal interpretierbar sind. MAX
PLANCK war sich der Tatsache bewusst, dass die von ihm begründete Quantenphysik
eine Entsprechung zur Obertonreihe darstellt, da ganzzahlige Vielfache des Wirkungsquantums
vorkommen – in Analogie zu den ganzzahligen Vielfachen der Grundtonfrequenz
bei Obertönen. Die gleiche Gesetzlichkeit liegt auch dem Periodischen
System der chemischen Elemente zugrunde (Kernladungszahl = Elektronenanzahl =
Ordnungszahl des Elements im System), wo sich eine weitere Entsprechung zur
Mathematik – der Reihe der Naturzahlen – und zur Musik – der Reihe der Naturtöne –
ergibt.
Auch in der Botanik und in der Zoologie gibt es harmonikale Gesetze. Es ist zum
Beispiel keinesfalls selbstverständlich, dass der Gesang der Vögel dieselben Grundlagen
hat wie die menschliche Musik; denn der Vogelsang ist, wie nachgewiesen
wurde, nicht bloss eine Nachahmung menschlichen Musizierens, sondern wird in den
Links: Der harmonikale Teilungskanon (aus: Hans Kayser: Ein harmonikaler Teilungskanon.
Occident-Verlag, Zürich 1946. Mitte: Der Teilungskanon als Muster für den Menschen. Rechts:
Jonisches Portal. Rechts unten: Der harmonikale Teilungskanon nach Vitruv.
16

meisten Fällen selbständig entwickelt. Zahlreiche harmonikale Gesetze gibt es auch in
der Anthropologie. Schon in seinen äusseren Abmessungen ist der Körper des Menschen
überwiegend nach harmonikalen Proportionen aufgebaut, eine Behauptung, die
sowohl seit der Antike in der Kunsttheorie wie auch heute von der modernen Anthropometrie
aufgestellt wird. Darüber hinaus beruhen auch die inneren Masse des Menschen,
die physiologischen Rhythmen, auf Proportionen, die vornehmlich aus den
Zahlen 1 bis 4 bestehen, zum Beispiel verhalten sich Atmung und Herzschlag zueinander
wie 1:4. Viele chronobiologischen Proportionsnormen, die auch unmittelbar mit
Gesundheit und Krankheit zu tun haben, wurden durch den Mediziner GUNTHER HILDE-
BRANDT und die Mitarbeiter seines Instituts in Marburg/Lahn nachgewiesen. Diese
Körperrhythmen sind miteinander koordiniert, vor allem im Schlaf zur Zeit der biologischen
Mitternacht. (Eine Analogie dazu: Die Zahlen 1 bis 4 bestimmen in der dichterischen
Hochsprache die Proportionen der Metrik, und in der Musik definieren sie die
grundlegenden rhythmischen Verhältnisse, die Proportionen der symphonen Intervalle
Oktave, Quinte, Quarte, Duodezime und Doppeloktav sowie die Tempogestalt in den
Werken der Klassik.) Fasst man diese Erkenntnisse zusammen, sieht man, dass ähnliche
Proportionsgesetze in all den genannten Wissenschaften vorkommen, und
zwar keineswegs nur an beiläufiger Stelle. Die harmonikale Forschung versucht, Ana-
Harmonikales Diagramm (Harmonikaler Teilungskanon) über dem Wandgemälde von Raffael
Santi (1483–1520) Die Schule von Athen (aus: Schriften über Harmonik Nr. 18, Vernimm das
Lied des Alls in dir!, André M. Studer, Bern 1990).
17

logien zwischen verschiedenen Gebieten aufzuzeigen, Querverbindungen zu schaffen,
die von den einzelnen Spezialwissenschaften nicht bemerkt werden können, die aber
in der Natur offenbar eine erhebliche Rolle spielen. Ausserdem sind die Gesetzmässigkeiten
auch im menschlichen Gehör veranlagt, worüber nun zu sprechen ist.
Gehördisposition und Intervallwahrnehmung
Schon in der griechischen Antike wurde behauptet, dass eine Harmonie von Leib und
Seele besteht, und dass diese Harmonie auf die harmoniai der Musik, auf die
«Fügung» der Töne in den Skalen abgestimmt ist. KEPLER, der grosse Platoniker der
Barockzeit, vertrat eine ähnliche Ansicht: In der Seele befinden sich die Urbilder
solcher Harmonien.
Für die harmonikale Forschung war es eine wichtige Aufgabe, der Frage nach einer
solchen «Abgestimmtheit» nachzugehen und dabei aktuelle Forschungsergebnisse
einzubeziehen. Dabei konnte an empirische Untersuchungen des Gehörs durch HEIN-
RICH HUSMANN angeknüpft werden. HUSMANN hat festgestellt, dass die Anatomie des
Ohres (Nichtlinearität) den am Trommelfell ankommenden Tönen weitere, im Ohr entstehende
Klänge hinzufügt, und zwar von jedem Einzelton wiederum dessen Oberton-
«Säule» (Ohr- oder subjektive Obertöne); bei zwei Tönen treten ausserdem, eine
Mindestlautstärke der Primärtöne vorausgesetzt, Kombinationstöne auf (Summationstöne,
Differenztöne). Durch diese komplexen Ober- und Kombinationstonmuster
ergeben sich für jedes Intervall typische Charakteristika, insbesondere eindeutig abgestufte
Sonanzgrade. (In Wahrheit ist der Weg vom physikalischen Reiz über die physiologische
Sinneserregung bis zur psychischen Hörleistung und zur bewusstseinsmässigen
Klassifizierung und Sinn-Gebung weitaus komplexer und nur zum allergeringsten
Teil mathematisch fassbar.) Es zeigt sich: Die auf ganzzahligen Proportionen
beruhenden Intervalle werden vom Ohr bevorzugt.
Sie werden wie in einem Glissando, bei
Liegenlassen des ersten Intervalltons und bei
kontinuierlichem Anstieg des zweiten, vom Hörbewusstsein
wie «herausleuchtende Punkte»
wahrgenommen. Dass die Intervallproportionen
seit Antike verwendet werden, hat folglich nicht
nur einen mathematischen Grund. Auch Phänomene
wie die Diatonik, die Chromatik oder
die Dur-Skala erhalten also bereits durch den
Bau des Ohres und den Übertragungsweg vom
(physischen) Reiz über die (physiologische) Erregung
und (psychische) Wahrnehnung bis hin
zur (bewusstseinsmässigen) Klassifizierung ihre
Prägung.
Die psychische Gehörsdisposition liegt vor allem
Pythagoras
in der Ermöglichung der Abweichung von den
18

exakten mathematischen Proportionsnormen: Jedem Intervall kommt eine (jeweils verschieden
grosse) «Elastizität» zu als eine Bandbreite, in dem dieses Intervall aufgrund
der psychischen Veranlagung zurechtgehört wird. Dies erklärt, weshalb Abweichungen
von den mathematisch exakten Proportionen möglich sind, ohne dass die Intervallerkennung
als solche beeinträchtigt wird. Die zahlreichen Temperierungssysteme
wären ohne diese Eigenschaft des Gehörs undenkbar.
Physischer und psychischer Aspekt der Intervallwahrnehmung zusammengenommen:
Im Gehör und in der Art und Weise des Hörens haben sowohl die exakten mathematischen
Zahlenverhältnisse, als anzustrebende Norm, wie auch die Abweichungsmöglichkeiten
dieser Norm ihre Verankerung. Nicht nur aus diesem Grund hat Harmonik
ihr Augenmerk stets auf beides zu lenken: auf die Norm und gleichermassen auf die
Norm-Abweichungen.
Somit zeigt sich, dass wesentliche Grundlagen der abendländischen Musik durch das
Gehör begünstigt sind, sodass sich die Musik nicht zufällig in der uns bekannten
Weise entwickelt hat. Die Komponisten folgten eher einem instinctus naturalis als blosser
Konvention. Aber nicht nur die abendländische Musik hat Grundlagen, die mit der
Gehörsveranlagung übereinstimmen. Denn zu unserer Dur-Tonleiter, welche die vier
grundlegenden Sonanzen (Quinte, Quarte, grosse Terz, grosse Sexte) auf einen
gemeinsamen Grundton bezieht (c-d-e-f-g-a-h-c‘), gibt es vergleichbare Skalen in
anderen Musikkulturen: Die Haupttonleiter der indischen Musik der sa-grama hat dieselbe
Intervallfolge wie Dur, und gespiegelt von oben nach unten verlaufend, ist sie
identisch mit der altgriechischen Zentraltonleiter, dem Dorischen, die ihren Ursprung in
der Skala isartu des altbabylonischen Tonsystems hat. Auch die türkische Tonleiter
maqam-rast gehört zu diesem Thema und eine weitere Parallele liegt im e-modus vor,
der in der naturvolkhaften Musik als erste Stufe der Diatonik auftritt. Die Gehördisposition
hat also die musikalischen Grundlagen verschiedener Kulturen massgeblich
beeinflusst, denn anders kann eine derart auffällige Übereinstimmung nicht verstanden
werden. Um es aber nochmals zu betonen: Vom
Sinnesreiz bis zum reflektiven, ordnenden, wertenden
Bewusstsein führt ein langer Weg, und
die physiologische und psychische Stufe sind
bloss Teile in diesem Prozess.
Welche Musik aus diesen Grundlagen entstand
oder mit ihnen komponiert worden ist, stellt
allerdings eine zweite, von der Frage einer Veranlagung
völlig unabhängige Frage dar. Auch
die Grundlagen der Malerei, die Formen und
Farben, waren zu allen Zeiten dieselben; was
damit gemalt wird, erweist sich als überaus vielfältig.
Harmonikale Gesetze und freier künstlerischer
Wille sind verschiedene Aspekte, die nicht
als unversöhnbarer Widerspruch aufgefasst und
Johannes Kepler
gegeneinander ausgespielt werden dürfen.
19

Übertragung der harmonikalen Gesetze
Die Lehre von der Übereinstimmung musikalischer Gesetze mit Naturgesetzen und
einer psychophysischen Gehörsveranlagung des Menschen führte schon in der Frühzeit
des abendländischen Denkens dazu, die harmonikalen Proportionsgesetze auch
auf Gebiete zu übertragen, in denen sie nicht als Grundlage bestehen. Eine solche
Übertragung wird angewandte Harmonik genannt, und der wichtigste Bereich war
schon in der Antike die Architektur. Der römische Architekturschriftsteller VITRUVIUS
POLLIO, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert gelebt hat, legt dies in seinen «Zehn
Büchern über Architektur» (De architectura libri X) ausführlich dar.
HANS KAYSER hat nach seiner Analyse der Tempelruinen zu Paestum die Ansicht vertreten,
dass sich die ins Auge springenden Abmessungen als Intervallproportionen
auffassen und in Noten darstellen lassen. Er versucht in seinem Werk Paestum, Die
Nomoi der drei altgriechischen Tempel zu Paestum (Lambert Schneider Verlag, Heidelberg,
1958) die alten harmonikalen Bauprinzipien an den drei dorischen Tempeln
nachzuweisen. Der Architekturschriftsteller VITRUV, Zeitgenosse des Kaisers Augustus,
schrieb um die Zeitwende, dass der Architekt «musikverständig» sein müsse, und die
Historiker sind sich darüber einig, dass im Altertum bis zur Renaissance nach konkreten
harmonikalen Normen, also nach Tonzahlgesetzmässigkeiten gebaut wurde. Über
das «Wie» dieser harmonikalen Bauweise herrscht jedoch bis heute Unklarheit. HANS
KAYSER führt nun in diesem Werk zum erstenmal den Nachweis, wie die damaligen
Architekten in der Praxis harmonikal arbeiteten.
Die Grundlage ihres Messens, Sehens
und Hörens war das Monochord, der Ein-
Saiter, welchen PYTHAGORAS noch in seiner
Sterbestunde eindringlichst empfahl. Da nun
PYTHAGORAS im 5. Jahrhundert vor Christus in
Süditalien lebte und starb, dort eine grosse
Anzahl von Schülern ausbildete, welche an
leitender Stelle in den Aristokratien der grossgriechischen
Städte sassen, und da die Entstehung
der Paestumer Tempel noch bis in die
Zeiten PYTHAGORAS und seiner Schüler hinaufreicht,
ist anzunehmen, dass die Tonzahlproportionen
– wahrscheinlich die interne Geheimlehre
der pythagoreischen Schule – auch
für die Planideen der damaligen Architekten
mitbestimmend waren. HANS KAYSER führt den
Leser zunächst historisch bis zu dem Punkt,
wo die sachlich-harmonikalen Analysen beginnen
können und er dadurch instand gesetzt wird, durch eigene Forschung ein bisher
fast völlig unbekanntes Gebiet neu und schöpferisch zu bearbeiten. Davon abgesehen,
dürfte der Bilderteil dieses Buches und die einleitenden Textkapitel jeden Freund
20

der Paestumer Heiligtümer anregen, sich an diese Wunderwerke wieder zu erinnern
und in ihre starke geistige Ausstrahlung von neuem zu versenken.
Dass man in anderen alten Kulturen ebenfalls nach Musikgesetzen baute, zum Beispiel
in China, sei nur nebenbei erwähnt. In Europa wird wieder in der Gotik auf die
harmonikalen Proportionen zurückgegriffen, und eine Neubelebung dieser antiken
Tradition findet in der Renaissancezeit statt. Aber nicht nur VITRUVS Ausführungen fanden
damals Beachtung – was sich in zahlreichen Übersetzungen und Kommentaren
seines Lehrwerks niederschlug –, sondern schon vor dem Einsetzen dieser VITRUV-
Renaissance lenkte LEON BATTISTA ALBERTI, der berühmte Kunsttheoretiker und Architekt,
die Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit der musikalischen Proportionen. In der
gesamten Renaissancezeit, bis hin zu PALLADIO, einem der letzten grossen Baukünstler
dieser Epoche, kennt man daher ein Bauen nach harmonikalen Massen. Auch in
unserer Zeit bauen einige Architekten, die diese alten Lehren aufgegriffen haben, nach
harmonikalen Prinzipien.
Abgesehen von der Architektur kann eine Übertragung harmonikalen Denkens in der
Literatur stattfinden. Vor allem zur Zeit der Romantik hat sich diese formal und inhaltlich
mit der Gedankenwelt der Harmonik auseinandergesetzt. Auch in HERMANN HES-
SES Roman Das Glasperlenspiel bekunden sich wesentliche harmonikale Einflüsse.
Auf dem Gebiet der Wissenschaften hat die Harmonik besonders die Medizin
befruchtet. Die Forschungen auf dem Gebiet der Chronobiologie wurden durch die
Kaysersche Harmonik angeregt. Der deutsche Arzt HANS WEIERS experimentierte
erfolgreich auf dem Gebiet der Hochfrequenzbestrahlung und konstruierte einen sogenannten
Bioszillator, der mit zwei Frequenzen, in der Proportion 2:3, Bestrahlungen
durchführt. WEIERS‘ therapeutischer Ansatz wurde auf die Hydrotherapie ausgeweitet
– der Hydrofibrator funktioniert mit einem in der Frequenzproportion 2:3 geteilten
Wasserstrahl –, und harmonikale Prinzipien werden auch in der Veterinärmedizin angewandt.
Von besonderer Wichtigkeit sind die harmonikalen Grundlagen aber vor allem für die
Musiktherapie, deren Erfolge mehr und mehr bekannt und anerkannt sind. Die Tatsache,
dass der Raum-Zeitorganismus des Menschen, dass Physis und Psyche
umfassend harmonikal gestaltet sind, geben einen wichtigen Hinweis zur Erklärung
des heilenden Wirkens von Musik. Nicht zufällig wird in der Antike, zumal in der pythagoreischen
Tradition, von er grossen Bedeutung der Musik zur Harmonisierung und
Heilung des Menschen berichtet. Seitens der Harmonik kann hier auf einen harmonikalen
Resonalismus hingewiesen werden, also auf die Tatsache, dass Schwingungen
entweder zerstören oder ins Gleichgewicht versetzen können, und dass dies nur
möglich ist, wenn eine durch Schwingungen aktivierbare Re-Sonanz zwischen dem
akustischen und dem leib-seelischen Organismus besteht.
NOVALIS vertrat die Ansicht, Krankheit sei ein musikalisches Problem. Die Harmonik
bekräftigt und erweitert diesen Satz: Der Mensch selbst ist ein musikalisches Problem.
Wenn aber der Mensch, als leib-seelische Ganzheit, einen harmonikalen Organismus
darstellt, wäre dieser im Krankheitsfall heilbar entweder durch Musik (Musiktherapie)
oder durch deren harmonikale Grundlagen (Harmonikale Therapie).
21

Paestum, Poseidontempel Ostfront (aus: Hans Kayser: Paestum. Die Nomoi der drei altgriechischen
Tempel zu Paestum, Lambert + Schneider Verlag, Herrliberg, 1958.
Paestum, Poseidontempel: Rekonstruierter harmonikaler Teilungskanon, unter Berücksichtigung
perspektivischer Verkürzungen (aus: Studer, André M., Vernimm das Lied des Alls in Dir,
Schriften über Harmonik Nr. 18, Bern 1990, Verlag Kreis der Freunde um Hans Kayser Bern)
22

Zur Bedeutung des harmonikalen Denkens
Die harmonikale Forschung knüpft an die antik-pythagoreische Lehre von der umfangreichen
Geltung musikalischer Gesetze im Kosmos an. Sie zeichnet dadurch ein Weltbild,
das nicht nur dem Verstand zugänglich, sondern auch über das Gehör psychisch
erfahrbar ist, und das die Künste, in erster Hinsicht die Musik, einbezieht. Besonders
wichtig ist, dass dieses harmonikale Weltbild nicht Mensch und Natur einander
gegenüberstellt, wie das häufig in der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise
geschieht, sondern dass der Mensch in dieses Weltbild integriert ist. Die Einbeziehung
der Sinnesqualität des Hörens als Erkenntniskategorie führt also auch die Naturforschung
einen Schritt weiter.
Durch die Kategorie des Hörens werden die Entsprechungen zwischen den Wissenschaften,
die Analogien zwischen Natur, Mensch und Musik, sichtbar – besser gesagt
«hörbar» –, und es entstehen Verbindungen, die von der einzelnen Wissenschaftsdisziplin
nicht in den Blick kämen. Vergleicht man die Natur mit einem Teppichgewebe,
dann bilden die einzelnen Naturwissenschaften Längsfäden, an denen entlang jedes
Gebiet Wenn/Dann-Forschung betreibt, die Harmonik aber entspricht den Querfäden,
indem sie Analogien aufzeigt, welche die einzelnen Bereiche verknüpfen. Führen die
Naturwissenschaften zu einem Teilweltbild, stellt die harmonikale Perspektive eine
komplementäre, ergänzende Seite dar.
Weil das Weltbild der Naturwissenschaften einseitig ist – was in zunehmendem Mass
von führenden Naturforschern anerkannt wird –, sind auch die philosophischen
Folgerungen aus diesem Teilweltbild einseitig. Die Harmonik führt zu anderen Ergebnissen;
sie lässt erkennen, dass offensichtlich ein Plan hinter der entdeckten Naturgesetzlichkeit
liegt, der alle Gebiete miteinander verbindet. In diesen Plan ist der Mensch nicht
nur durch das rationale Denken einbezogen, sondern auch mit seinen Sinneseindrücken
und den daraus erwachsenden psychischen Qualitäten, seiner Befähigung zu seelischem
Mitschwingen und mit den Grundlagen der von ihm geschaffenen Kunstwerke.
Viele führende Denker, darunter JOHANNES KEPLER und GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ,
glaubten an einen Plan in der Schöpfung und an einen Schöpfer, der ihn «entworfen»
hat. Heute scheint es angebracht, ihrem Beispiel zu folgen. Seitens der Harmonik wird
das von einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen reichhaltig dargebotene Material der
harmonikalen Betrachtung unterworfen, um damit auch einen Wegweiser zu einem
harmonisierenden und sinnerfüllten Weltbild erhalten.
Institut für Harmonik / Internationales Harmonik-Zentrum
Seit 35 Jahren besteht an der Universität Wien (ehemals: Hochschule für Musik und
darstellende Kunst Wien) die Fachrichtung Harmonikale Grundlagenforschung. 1992
wandelte und erweiterte sich dieses Fach zu einem Institut für Musiktheorie und
harmonikale Forschung, in das sowohl die harmonikale Forschung wie auch der
sechssemestrige Vorlesungszyklus integriert sind. 2002 erfolgte die Umbenennung in
Internationales Harmonik-Zentrum. Publikationen harmonikalen Inhalts liegen in
mehreren Sprachen vor und haben weltweit Resonanz gefunden.
23

Die Harmonik in Wien heute
em. Prof. Dr. Rudolf Haase
Wien, 18.11.03
Lieber Walter
Da ich mich in diesen Tagen besser konzentrieren kann, habe ich mich entschlossen,
Deiner Anregung zu folgen und habe also ein paar Zeilen über die Harmonik in Wien
aufgeschrieben, die hoffentlich Deiner Vorstellung entsprechen. Ich habe mich auf das
Wesentliche beschränkt, das für Deinen Zweck sicherlich genügen wird.
Herzliche Grüsse
Dein Rudolf
Aus Anlass des 40. Todestages von Hans Kayser wurde ich gebeten, eine Darstellung
der Weiterentwicklung der Harmonik aus meiner Sicht vorzunehmen. Ich folge dieser
Anregung gern, muss jedoch einschränkend bemerken, dass die von mir weiterentwickelte
Harmonik keineswegs mit Kaysers Harmonik identisch ist. Das hat vor allen
Dingen zwei Gründe. Erstens den, dass ich bereits vor meiner Tätigkeit in Wien (1965)
vorwiegend in Deutschland über 100 Vorträge über Harmonik gehalten, sowie zahlreiche
Publikationen mit harmonikalem Inhalt verfasst habe. Der zweite Grund war eine
Folge meiner Berufung an die damalige Akademie für Musik und darstellende Kunst in
Wien mit dem Auftrag, die Harmonik als wissenschaftliches Fach zu etablieren. Dies
war notwendig, weil vom Gesetz in Österreich wissenschaftliche Forschung an Hochschulen
vorgeschrieben ist. Der Versuch ist gelungen; denn heute gibt es eine Musikuniversität
anstelle der früheren Akademie als Folge der von mir und einigen anderen
Kollegen eingeführten Neuerungen.
Die erwähnten harmonikalen Arbeiten hatten mir reiche Erfahrung in der Darstellung der
Harmonik gebracht, jedoch mich auf dringend notwendige Veränderungen
aufmerksam gemacht. Es zeigte sich nämlich, dass die von Kayser angestrebte Verschmelzung
der Harmonik mit der Mystik nicht sehr publikumswirksam war. Ich entschloss
mich daher, die Harmonik anders darzustellen, nämlich mit einer empirischen
Grundlage. Diese Erfahrungen führten schliesslich in Wien dazu, das dort neue Unterrichtsfach
nicht mehr als «Kaysersche Harmonik» anzubieten, sondern als «Harmonikale
Grundlagenforschung». Das wichtigste meiner seither erschienenen Bücher hat
daher den Titel «Der messbare Einklang. Grundzüge einer empirischen Weltharmonik»
(bei Klett-Cotta in Stuttgart 1976). Es kam ferner dazu, dass in diesem Fach auch
Diplom-Arbeiten geschrieben werden konnten, von denen bisher 20 anerkannt wurden.
Die Verbreitung der Harmonik in Wort und Schrift wurde selbstverständlich fortgesetzt,
wobei eine beträchtliche Vergrösserung der Reichweite zu verzeichnen ist. Letztere
betraf sehr wesentlich auch meinen damaligen Assistenten und jetzigen Nachfolger
Prof. Dr. Werner Schulze, der sogar in Indien und Indonesien Vorträge hielt und der
sich darum bemüht, die Harmonik im spanischen Sprachgebiet publik zu machen.
Damit ist der charakteristische Unterschied in der Entwicklung der Harmonik gekennzeichnet;
doch wurde selbstverständlich auch Kaysers Harmonik von mir unterrichtet,
nämlich im 7. und 8. Semester. Es besteht daher nach wie vor die Möglichkeit, sich
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mit Kaysers Werken gewinnbringend zu beschäftigen, wobei die Grundlagenforschung
als empirisch gesicherte Basis dient.
Neben meiner 25jährigen Lehrtätigkeit in Wien und vorher zehn Jahre in Deutschland
habe ich in 14 Ländern 316 Vorträge gehalten und 352 Publikationen veröffentlicht.
Symposion der Freunde um Hans Kayser
am 8. November 2003 in Bern
Ernst Waldemar Weber: Musik und Intelligenz
Ich gestatte mir, meinen Vortrag wie folgt selber zusammenzufassen:
Der gängige Intelligenz-Begriff hängt eng zusammen mit dem Intelligenz-Quotienten,
wie er um 1900 von Binet und Simon geschaffen wurde, um Kinder im Blick auf den
Besuch bestimmter Schulen zu sortieren. Er gilt nach wie vor als Prognose-Instrument
für schulischen Erfolg, nach der Auffassung des Intelligenzforschers Gardner aber nur
sehr beschränkt für den Lebenserfolg. Nach dessen Theorie müsste der IQ, der heute
nur die mathematisch-logischen, die sprachlich-linguistischen und die räumlichen
Kompetenzen umfasst, erweitert werden um die intrapersonale, die interpersonale, die
körperlich-kinästhetische und die musikalische Intelligenz. Nach Gardner sind diese
sieben Kompetenzen selbständige, unabhängige Intelligenzen, im Gegensatz zur IQ-
Intelligenz, wo die drei genannten Kompetenzen lediglich Komponenten sind.
Jede der sieben «multiplen» Intelligenzen nach Gardner habe ich skizziert; hier will ich
nur auf die vier «neuen» etwas eingehen. Der Kern der intrapersonalen Intelligenz ist
der Zugang zum eigenen Gefühlsleben, die Fähigkeit, die eigenen Affekte und Emotionen
zu kennen und damit umzugehen. Die interpersonale Intelligenz befähigt, bei
anderen Menschen Stimmungen, Motive und Absichten wahrzunehmen und sich entsprechend
zu verhalten. Die körperlich-kinästhetische Intelligenz ist die Bewegungs-
Intelligenz, die bei Tänzern, Akrobaten und Instrumentalvirtuosen zur höchsten Entfaltung
kommt.
Die musikalische Intelligenz schliesslich scheint von so zentraler Bedeutung zu sein,
dass ich sie in die Mitte eines regelmässigen Sechsecks zeichne. Keine andere Intelligenz
hat derart viele Beziehungen zu andern Intelligenzen, keine andere manifestiert
sich so früh in der menschlichen Entwicklung. Der Säugling kann seine Mutter auf
Grund der musikalischen Komponenten der Sprache «verstehen», lange bevor er sie
sprachlich begreifen kann. Der Spracherwerb verläuft deshalb so spielend, weil die
Sprache rhythmisch und melodisch gegliedert ist.
Jede der sieben Intelligenzen oder «Kompetenzen» reicht von einfachsten, banalen
Fähigkeiten bis zu höchst anspruchsvollen, verfeinerten Formen: die Intelligenzen
gipfeln in den Künsten.
Zur musikalischen Intelligenz gibt es viele interessante neuere Forschungsergebnisse.
So ist die nervliche Verbindung zwischen den Hirn-Hemisphären, das corpus callosum
bei professionellen Violinisten umso stärker ausgebildet, je früher sie begonnen hatten,
Geige zu spielen, High-School-Studenten lösten raum-zeitliche Tests signifikant bes-
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ser, wenn sie vorher eine Mozart-Sonate gehört hatten, und bei kleinen Kindern ergaben
sich bei entsprechenden Tests sogar bleibende neuronale Veränderungen.
Der Wiener Neurologe Petsche konnte schon in den frühen Siebzigerjahren mit EEG-
Untersuchungen zeigen, dass Musik im Gehirn nicht in einem «Musikzentrum» verarbeitet
wird, sondern je nach Aufgabe über das ganze Gehirn und über die Hemisphären
hinweg vernetzt. Heute nimmt das Thema Musik und Gehirn in der neurologischen
Forschung einen breiten Raum ein, nicht zuletzt deshalb, weil Musik nach
dem Neurologen Altenmüller «der stärkste Reiz für neurologische Umstrukturierung ist,
den wir kennen». Musikausübung aktiviert auch das Selbstbelohnungssystem im
Zwischenhirn zur Ausschüttung von körpereigenen «Drogen». Ferner konnte gezeigt
werden, dass auch das Gehirn von musikalisch ungeschulten Menschen deutlich auf
unerwartete musikalische Wendungen reagiert.
Der Vortrag Wasser – Klang – Bilder von Alexander Lauterwasser musste zum
grossen Bedauern wegen Erkrankung des Referenten ausfallen. Zum Glück war Herr
Professor Schulze bereit, den ganzen Nachmittag zu übernehmen.
Prof. Dr. Werner Schulze: Tag- und Nachtträume der Harmonik
Der Referent leitet – als Nachfolger von Rudolf Haase – das Institut für harmonikale
Grundlagenforschung an der Hochschule für Musik und Theater in Wien, das
ursprünglich auch den Namen Hans Kayser trug. Diese Forschungsstätte war 1967
möglich geworden, als die «Akademie für Musik und Gestaltung» zur Hochschule
wurde. Das Institut hat gegenwärtig 10 bis 12 Studenten; die Themenbereiche umfassen
Harmonik, Musik-Theorie und Kosmos-Theorie. Der Referent empfindet als
gute Voraussetzung für seine Arbeit, dass er selber Komponist ist (wir konnten von ihm
ein Werk hören) und eine mitteltönige Orgel aus dem 17. Jahrhundert (mit 14 Tönen
pro Oktave!) besitzt. Als Tagtraum nennt er Harmonik, Rhythmik und Therapie.
Behrendt hat eine Art harmonikaler Erweckung ausgelöst – mit manchmal skurrilen
Folgen, etwa die «kosmische Oktave» – aber nach Ansicht des Referenten ist die Zeit
des «harmonikalen Vermessungsingenieurs» vorbei, und mit Analogien sollte sorgsam
umgegangen werden. Schon Kepler habe geschummelt: In einer dem Publikum abgegebenen
Tabelle weist Schulze nach, dass die gemessenen Werte für Aphel und
Periphel der Planeten nur grob annähernd, aber in keinem Fall exakt den Intervall-Proportionen
entsprechen. Es gibt auch akustisch hervorragende Räume, die harmonikal
schlechte Masse aufweisen, z.B. den Saal des Musikvereins in Wien.
Schulze sieht den Harmoniker als «homo movens», als Bewegten und Bewegenden,
geprägt durch eine besondere Wert- und Geisteshaltung; Kayser habe den Logos des
Heraklit bewahrt, die verborgene Harmonie sei stärker als die offenbare, Unschönes
und Disharmonisches dürfe nicht ausgeschlossen werden.
Die Aufgaben des Instituts für harmonikale Grundlagenforschung bestehen neben der
Forschung (z.B. Transposition der Gesänge von Buckelwalen oder Vögeln in den
menschlichen Hörbereich, aussereuropäische Musik) in Dienstleistungen, etwa für
Architektur, Gestaltung von Parklandschaften, Design, Management, Therapie und
Technik, sowie in Vernetzungen mit den Naturwissenschaften, der Mathematik und
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der Medizin. Gegenwärtig ist eine Dissertation über die Chaostheorie in Arbeit, im
indischen Kerala gibt es eine «School for Harmony».
Es soll nicht verschwiegen werden, dass der Vortrag von vielen Zuhörerinnen und
Zuhörern eher als Plauderei und als wenig substanziell empfunden wurde. Ich bekam
auch den Eindruck, der wissenschaftliche Impetus der harmonikalen Grundlagenforschung
sei leicht abgeflacht. Und das bringt mich auf den Gedanken, ob es nicht
an der Zeit wäre, in Bern ein Hans-Kayser-Institut zu gründen. 300 Bücher aus dem
Kayser-Nachlass sind bereits «heimgekehrt», nämlich ins Schweizerische Literaturarchiv,
und die Kayser-Büste kann möglicherweise bald entweder im Konservatorium
(dessen grosser Saal in harmonikalen Massen gebaut ist) oder in der Musikhochschule
aufgestellt werden. Zudem gibt es hier eine ganz ähnliche Situation wie vor 35 Jahren
in Wien: Die Musikhochschule hat – als Fachhochschule – den gesetzlichen Auftrag
zur Forschung. Das ist neu in der Berufsausbildung der Musiker, und es eröffnet
die Chance für einen Neuanfang, besonders, wenn es gelänge, diesem Institut von
Anfang an einen interdisziplinären Auftrag zu geben.
Ernst W. Weber
Peter Bichsel • Buch-Antiquariat
Rüdigergasse 12, Postfach • CH-8027 Zürich • Tel. 0043 222 4 888
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Max Niehans, 1938.
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& Co., (1973).
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BESTELLUNG
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Anhang: Von der Idee zur Gestalt, 64 S., 44 Abb., br., 1984 118.– 11.80
… Nr. 11: RUDOLF HAASE: Zur Gesch. der Harmonik (Platon, Bahr, Hauer, Hesse), 76 S., br., 1984 16.– 10.40
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… Nr. 17: RUDOLF HAASE: 20 Jahre H. Kayser-Inst. für harm. Grundlagenforschung, 68 S., br., 1988 113.– 8.50
… Nr. 18: ANDRE M. STUDER: Vernimm das Lied des Alls in Dir! Einführung in die Harmonik, 144 S.,
147 Abb., br., 1990 133.– 21.60
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