Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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em aus vorpositiven Leitbil<strong>der</strong>n, wie sie dur<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bes<strong>ch</strong>rieben<br />
und begründet werden. Wenn dieser Rückgriff auf konkret begründete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzepte<br />
statt auf diffuse 'Mens<strong>ch</strong>enbil<strong>der</strong>' geri<strong>ch</strong>tet ist, leistet die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
mittelbar einen Beitrag zu Re<strong>ch</strong>tsklarheit, Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit und damit<br />
letztli<strong>ch</strong> zur Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung 39 .<br />
III. Konkretisierende Re<strong>ch</strong>tsanwendung (Umsetzungsbedarf)<br />
Ein Umsetzungsbedarf besteht, wo immer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verbindli<strong>ch</strong><br />
gema<strong>ch</strong>t, das heißt als »geronnene Moral« 40 vom Normgeber in abstrakt-generelle<br />
Re<strong>ch</strong>tssätze gegossen wurden 41 . Insbeson<strong>der</strong>e die abwägende und ausglei<strong>ch</strong>ende<br />
Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit, die Billigkeit 42 , »ist na<strong>ch</strong> mo<strong>der</strong>nen Re<strong>ch</strong>tsordnungen<br />
für den Ri<strong>ch</strong>ter in vielen Fällen Ri<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>nur und Leitbild.« 43 Moralgehalte im positiven<br />
Re<strong>ch</strong>t sind dabei keinesfalls immer unproblematis<strong>ch</strong>, lassen si<strong>ch</strong> erstens nur in<br />
Grenzen überhaupt kodifizieren 44 und bergen zweitens Gefahren, wie ein moralisierendes<br />
Strafre<strong>ch</strong>t bis in die jüngste Vergangenheit in vielen Staaten hinlängli<strong>ch</strong> gezeigt<br />
hat 45 . Do<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Gefahren können ni<strong>ch</strong>t dazu führen, das positive Re<strong>ch</strong>t seines<br />
gesetzgeberis<strong>ch</strong> gewollten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skontextes gänzli<strong>ch</strong> zu berauben 46 . Juristen<br />
müssen die im Re<strong>ch</strong>t kodifizierten, materialen und prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen<br />
dur<strong>ch</strong> Interpretation herausarbeiten und diejenigen Verfahrensbedingungen<br />
formulieren, <strong>der</strong>en Einhaltung erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> ist, um re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
festgelegte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen in <strong>der</strong> normkonkretisierenden Re<strong>ch</strong>tsanwendung<br />
effektiv zu verwirkli<strong>ch</strong>en. Materielle Gehalte kodifizierter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> finden<br />
55, 274 [329 f.]) von einer ni<strong>ch</strong>t mehr gruppennützigen Verwendung ausgingen und die Gesetzgebungskompetenz<br />
aus allgemeinen Kompetenznormen verneinten.<br />
39 Vgl. beispielsweise die Kritik an unspezifis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>enbildformeln in <strong>der</strong> Judikatur des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts<br />
bei H. Dreier, Artikel 1 I GG (1996), Rn. 99 m.w.N.<br />
40 H. Dreier, Ethik des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 28 f.; <strong>der</strong>s., Gesells<strong>ch</strong>aft, Re<strong>ch</strong>t, Moral (1993), S. 249 f.<br />
41 R. Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 185: »The [U.S.-]Constitution fuses legal and moral<br />
issues, by making the validity of a law depend on the answer to complex moral problems, like the<br />
problem of whether a particular statute respects the inherent equality of all men.«; D. v.d. Pfordten,<br />
Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 211 – »intentional-inkorporierende Beziehung zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t und Moral«<br />
(Hervorhebung bei v.d. Pfordten). Vgl. N. Luhmann, Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft (1993), S. 216 f.: »Wir<br />
hatten dur<strong>ch</strong>aus anerkannt, daß im Re<strong>ch</strong>tssystem Moralnormen zitiert und damit juridifiziert<br />
werden; ... das Re<strong>ch</strong>tssystem [muß] ni<strong>ch</strong>t auf die Idee <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verzi<strong>ch</strong>ten.«<br />
42 Dazu unten S. 63 (engere <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe).<br />
43 G. Wesner, Aequitas naturalis, 'natürli<strong>ch</strong>e Billigkeit', in <strong>der</strong> privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dogmen- und Kodifikationsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
(1996), S. 105; kritis<strong>ch</strong> gegenüber sol<strong>ch</strong>em »Einzelfall-Re<strong>ch</strong>t« W. Leisner, Der Abwägungsstaat<br />
(1997), S. 230 ff.<br />
44 Vgl. dazu K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 75: »Eine Moralisierung des Verfassungsre<strong>ch</strong>ts<br />
müßte sehr s<strong>ch</strong>nell an die Grenze <strong>der</strong> Konsensfähigkeit und Institutionalisierbarkeit<br />
von Werten stoßen.«<br />
45 Vgl. dazu T. Geiger, Über Moral und Re<strong>ch</strong>t (1979), S. 189 ff. – Plädoyer gegen ein Strafre<strong>ch</strong>t, das<br />
'moralis<strong>ch</strong> infiziert' ist.<br />
46 A.A. offenbar T. Geiger, Über Moral und Re<strong>ch</strong>t (1979), S. 182 ff.: »Das Re<strong>ch</strong>t hat ni<strong>ch</strong>ts mit Moral<br />
zu tun« – mit den dort angeführten Beispielen läßt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> gesetzgeberis<strong>ch</strong> gewollte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skontext<br />
indes ni<strong>ch</strong>t wi<strong>der</strong>legen.<br />
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