Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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des positives Re<strong>ch</strong>t sein 19 . Die Gegenthese wurde in ihrer wirkmä<strong>ch</strong>tigsten Form in<br />
Reaktion auf die historis<strong>ch</strong>e Erfahrung des Nationalsozialismus in <strong>der</strong> 'Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>en<br />
Formel' geprägt 20 und erlebte mit den 'Mauers<strong>ch</strong>ützenprozessen' eine unerwartete<br />
Renaissance 21 . Folgt man dieser Formel, dann sind »Geri<strong>ch</strong>te so unabweisbar<br />
mit dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbezug des Re<strong>ch</strong>ts konfrontiert, daß dessen Ausklammerung<br />
glei<strong>ch</strong>bedeutend mit einer Verfehlung ihrer Aufgabe wäre« 22 .<br />
Do<strong>ch</strong> die Annahme eines moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalts des Re<strong>ch</strong>ts ist gar ni<strong>ch</strong>t nötig,<br />
um die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für das Re<strong>ch</strong>t zu belegen. Allzu lei<strong>ch</strong>t wird<br />
übersehen, daß die gegensätzli<strong>ch</strong>en Positionen zum Begriff des Re<strong>ch</strong>ts in ihren praktis<strong>ch</strong>en<br />
Konsequenzen ni<strong>ch</strong>t sehr weit auseinan<strong>der</strong>liegen. Selbst wenn man mit <strong>der</strong><br />
re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en Trennungsthese einen notwendigen moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalt<br />
des Re<strong>ch</strong>ts ablehnt, verbleiben no<strong>ch</strong> Berei<strong>ch</strong>e, in denen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen für<br />
die Re<strong>ch</strong>tspraxis Bedeutung erlangen (normativer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt) 23 . Die Trennungsthese<br />
for<strong>der</strong>t nur eine moralunabhängige Bestimmung des Re<strong>ch</strong>tsbegriffs,<br />
ni<strong>ch</strong>t aber den Verzi<strong>ch</strong>t auf jede Kritik am geltenden Re<strong>ch</strong>t im Namen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
24 . Sie s<strong>ch</strong>ließt au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t aus, daß si<strong>ch</strong> im Re<strong>ch</strong>tssystem moralis<strong>ch</strong>e Vorstellungen<br />
verwirkli<strong>ch</strong>en 25 . Umgekehrt spre<strong>ch</strong>en selbst Naturre<strong>ch</strong>tslehren – abgesehen von<br />
den seltenen Grenzfällen, die in <strong>der</strong> Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>en Formel konkretisiert sind – einer<br />
ungere<strong>ch</strong>ten 'Re<strong>ch</strong>ts'-Norm ni<strong>ch</strong>t automatis<strong>ch</strong> ihre Re<strong>ch</strong>tsqualität und ihren Gel-<br />
19 Vgl. H. Kelsen, Reine Re<strong>ch</strong>tslehre (1960), S. 51: »Eine Re<strong>ch</strong>tsordnung mag vom Standpunkt einer<br />
bestimmten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm aus als ungere<strong>ch</strong>t beurteilt werden. Aber die Tatsa<strong>ch</strong>e, daß <strong>der</strong><br />
Inhalt einer wirksamen Zwangsordnung als ungere<strong>ch</strong>t beurteilt werden kann, ist jedenfalls kein<br />
Grund, diese Zwangsordnung ni<strong>ch</strong>t als Re<strong>ch</strong>tsordnung gelten zu lassen.«<br />
20 G. Radbru<strong>ch</strong>, Gesetzli<strong>ch</strong>es Unre<strong>ch</strong>t und übergesetzli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t (1946), S. 345: »Der Konflikt zwis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive,<br />
dur<strong>ch</strong> Satzung und Ma<strong>ch</strong>t gesi<strong>ch</strong>erte Re<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> dann den Vorrang hat, wenn es inhaltli<strong>ch</strong> ungere<strong>ch</strong>t<br />
und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> des positiven Gesetzes zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ein so unterträgli<strong>ch</strong>es Maß errei<strong>ch</strong>t, daß das Gesetz als 'unri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
zu wei<strong>ch</strong>en hat«. Dem ist die deuts<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>kriegsjudikatur gefolgt, etwa BVerfGE 23, 98<br />
(98): »Nationalsozialistis<strong>ch</strong>en 'Re<strong>ch</strong>ts'vors<strong>ch</strong>riften kann die Geltung als Re<strong>ch</strong>t abgespro<strong>ch</strong>en werden,<br />
wenn sie fundamentalen Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> so evident wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>en, daß <strong>der</strong><br />
Ri<strong>ch</strong>ter, <strong>der</strong> sie anwenden o<strong>der</strong> ihre Re<strong>ch</strong>tsfolgen anerkennen wollte, Unre<strong>ch</strong>t statt Re<strong>ch</strong>t spre<strong>ch</strong>en<br />
würde.«<br />
21 Zu Notwendigkeit und Grenzen <strong>der</strong> Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>en Formel siehe einerseits R. Alexy, Begriff und<br />
Geltung des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 15 ff., 52 ff., 201 (Bedeutung für den Re<strong>ch</strong>tsbegriff); <strong>der</strong>s., Mauers<strong>ch</strong>ützen<br />
(1993), S. 3 ff. und an<strong>der</strong>erseits H. Dreier, Gustav Radbru<strong>ch</strong> und die Mauers<strong>ch</strong>ützen<br />
(1997), 422 ff., 428 ff. (Entbehrli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Formel), beide m.w.N.<br />
22 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 123.<br />
23 Vgl. W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 34, 37: Würde die Trennungsthese besagen,<br />
daß si<strong>ch</strong> in einem Re<strong>ch</strong>tssystem keine moralis<strong>ch</strong>en Vorstellungen auswirken, so wäre sie empiris<strong>ch</strong><br />
fals<strong>ch</strong>. Der Re<strong>ch</strong>tspositivismus stellt si<strong>ch</strong> dem Programm einer staats- und re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en<br />
Legitimationstheorie keinesfalls entgegen. Im Ergebnis ähnli<strong>ch</strong> P. Koller, Zur Verträgli<strong>ch</strong>keit von<br />
Re<strong>ch</strong>tspositivismus und Naturre<strong>ch</strong>t (1983), S. 355 ff. – Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 32 ff.<br />
24 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 165.<br />
25 So ausdrückli<strong>ch</strong> W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 14, <strong>der</strong> deshalb vors<strong>ch</strong>lägt, die<br />
Trennungsthese umzutaufen in die »These von <strong>der</strong> begriffli<strong>ch</strong>en Unabhängigkeit des Re<strong>ch</strong>ts von<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>«.<br />
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