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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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was praktis<strong>ch</strong>e Vernunft ist und wie wir sie auf praktis<strong>ch</strong>e Fragen anwenden können<br />

12 .<br />

Es gibt ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Konzeptionen praktis<strong>ch</strong>er Vernunft. Das läßt si<strong>ch</strong><br />

an <strong>der</strong> einfa<strong>ch</strong>en Frage zeigen, ob man dem Bettler Geld geben sollte. Wer praktis<strong>ch</strong>e<br />

Vernunft für unmögli<strong>ch</strong> hält, wird si<strong>ch</strong> die Frage gar ni<strong>ch</strong>t erst stellen: Für den Skeptiker<br />

genügt es, wenn er aus <strong>der</strong> Laune des Augenblicks handelt. Der Handlungsutilitarist<br />

müßte si<strong>ch</strong> fragen, ob das Gemeinwohl insgesamt dur<strong>ch</strong> die Hingabe des<br />

Geldes gesteigert werden kann, ob also <strong>der</strong> Gewinn aus Si<strong>ch</strong>t des Bettlers größeres<br />

Glück bedeutet als <strong>der</strong> eigene Verlust Leid bringt (act utilitarianism). Der Regelutilitarist<br />

handelt dana<strong>ch</strong>, ob die moralis<strong>ch</strong>e 'Bettlerregel' des Inhalts 'Gib Bettlern gelegentli<strong>ch</strong><br />

Geld!' auf lange Si<strong>ch</strong>t für alle vorteilhaft ist (rule utilitarianism). Ein Kantianer<br />

müßte fragen, ob die Bettlerregel als allgemeines Gesetz aus autonomen Gründen<br />

gewollt sein kann. Der Diskurstheoretiker prüft, ob über eine sol<strong>ch</strong>e Norm in einem<br />

allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurs Konsens hergestellt werden könnte. Ein Kommunitarist<br />

handelt dana<strong>ch</strong>, ob es <strong>der</strong> Tradition in <strong>der</strong> jeweiligen Gemeins<strong>ch</strong>aft entspri<strong>ch</strong>t,<br />

Bettler in dieser Weise zu unterstützen. Und wer die praktis<strong>ch</strong>e Vernunft aus Si<strong>ch</strong>t<br />

eines unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters bestimmen will, müßte fragen, wel<strong>ch</strong>es Handeln<br />

bei einer unvoreingenommenen Außenperspektive wohl ri<strong>ch</strong>tig wäre. Jede dieser<br />

Explikationen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft führt zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Moraltheorien<br />

und damit au<strong>ch</strong> zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Sol<strong>ch</strong>e Explikationsunters<strong>ch</strong>iede<br />

sind selbst dann wi<strong>ch</strong>tig, wenn die <strong>Theorien</strong> in Einzelfragen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />

im Ergebnis übereinstimmen sollten, also beispielsweise Utilitaristen, Kantianer,<br />

Diskurstheoretiker und Kommunitaristen je aus ihrer Perspektive zu dem Ents<strong>ch</strong>luß<br />

gelangen, dem Bettler gelegentli<strong>ch</strong> Geld geben zu müssen. Denn die Konzeption<br />

praktis<strong>ch</strong>er Vernunft enthält die Gründe des Handelns und damit die Grundsätze<br />

zur Lösung aller neu auftretenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen.<br />

<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist Teil <strong>der</strong> Moral, do<strong>ch</strong> sie ist ni<strong>ch</strong>t identis<strong>ch</strong> mit Moral. Das wird<br />

im einzelnen bei <strong>der</strong> Analyse des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs deutli<strong>ch</strong> werden 13 . Zur einfa<strong>ch</strong>en<br />

Unters<strong>ch</strong>eidung sei hier nur soviel vorweggenommen: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> muß<br />

immer einen Sozialbezug haben. Wer si<strong>ch</strong> als Eremit in <strong>der</strong> Wüste o<strong>der</strong> als S<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>iger<br />

auf einer Insel die Frage na<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tigem Handeln stellt, mag zwar auf <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e<br />

na<strong>ch</strong> Moral sein – <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen stellen si<strong>ch</strong> indes ni<strong>ch</strong>t.<br />

B. Gibt es einen analytis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts?<br />

Die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für das Re<strong>ch</strong>t wäre evident, wenn es einen begriffli<strong>ch</strong><br />

notwendigen moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalt des Re<strong>ch</strong>ts gäbe, also einen analytis<strong>ch</strong>en<br />

<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt in dem Sinne, daß bestimmte Inhalte gefor<strong>der</strong>t sind, bevor über-<br />

12 Vgl. R. Alexy, Idee und Struktur eines vernünftigen Re<strong>ch</strong>tssystems (1991), S. 30; <strong>der</strong>s., Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />

Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1993), S. 114 ff. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong><br />

<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 9 ff. bezei<strong>ch</strong>net das Unterfangen, inhaltli<strong>ch</strong>e moralis<strong>ch</strong>e Aussagen<br />

aus einem gedankli<strong>ch</strong>en Verfahren abzuleiten, d.h. Inhalt aus Form zu gewinnen, als das<br />

Charakteristikum prozeduraler <strong>Theorien</strong>.<br />

13 Dazu unten S. 45 ff. (Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />

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