Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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Erster Teil:<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Moral und Re<strong>ch</strong>t<br />
'Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?' – Die Frage ist ni<strong>ch</strong>t nur für diejenigen von Interesse,<br />
die entgegen <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en Trennungsthese 1 einen Mindestgehalt an Moralität<br />
bereits im Begriff des Re<strong>ch</strong>ts verankert sehen. Vielmehr kommt <strong>der</strong> Frage na<strong>ch</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t selbst dann Bedeutung zu, wenn <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsbegriff frei von<br />
Moral geda<strong>ch</strong>t wird 2 . Um das zu zeigen, ist es sinnvoll, zunä<strong>ch</strong>st die Stellung <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen in <strong>der</strong> Philosophie, insbeson<strong>der</strong>e ihre Beziehung zur Moral und<br />
zu Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft deutli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en (A). Daraus ergibt<br />
si<strong>ch</strong> ein erster Anhaltspunkt, wie die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit dem Begriff des Re<strong>ch</strong>ts zusammenhängen<br />
könnte, nämli<strong>ch</strong> vermittelt dur<strong>ch</strong> die Frage, ob es einen begriffsnotwendigen<br />
moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalt des Re<strong>ch</strong>ts gibt – einen analytis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt<br />
(B). Die These vom normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts hält dem entgegen,<br />
daß es für die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t auf einen analytis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt ni<strong>ch</strong>t ents<strong>ch</strong>eidend ankommt, weil die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unabhängig<br />
von dem verwendeten Re<strong>ch</strong>tsbegriff tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Bedeutung im Re<strong>ch</strong>t erlangt (C).<br />
Diese These wird für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in Re<strong>ch</strong>tsphilosophie und Re<strong>ch</strong>tstheorie einerseits<br />
sowie Re<strong>ch</strong>tsdogmatik an<strong>der</strong>erseits differenziert und abs<strong>ch</strong>ließend dahin erweitert,<br />
daß au<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in den re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> kaum geregelten Sozialberei<strong>ch</strong>en<br />
(Freunds<strong>ch</strong>aft, Familie, Kultur u.v.m.) für das Re<strong>ch</strong>t mittelbar Bedeutung entfaltet<br />
(D).<br />
A. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist Teil <strong>der</strong> Moral 3 , gehört damit zur praktis<strong>ch</strong>en Philosophie und<br />
ist auf eine Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft angewiesen. Was bedeutet das im<br />
einzelnen? Zunä<strong>ch</strong>st ist die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, wie allgemein die Moral, ein Versu<strong>ch</strong>, auf<br />
die Grundfrage <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>er Philosophie 'Was soll i<strong>ch</strong> tun?' 4 zu antworten. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> von <strong>der</strong> Fragestellung <strong>der</strong> theoretis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie ('Was kann i<strong>ch</strong> wissen?'), sind also ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> theoretis<strong>ch</strong>en Erkenntnis<br />
(<strong>der</strong> Wahrheitsfindung über Seinstatsa<strong>ch</strong>en) zugängli<strong>ch</strong>. Sie unters<strong>ch</strong>eiden<br />
si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> vom religiösen Bekenntnis in Glaubensfragen ('Was darf i<strong>ch</strong> hoffen?'). In<br />
dieser Gegensätzli<strong>ch</strong>keit zu theoretis<strong>ch</strong>er Erkenntnis einerseits und religiösem Bekenntnis<br />
an<strong>der</strong>erseits verlangt die Beantwortung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen na<strong>ch</strong> einer<br />
Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft – häufig synonym verwendet mit 'prakti-<br />
1 Dazu unten S. 29 (Trennungsthese, analytis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts).<br />
2 Vgl. D. v.d. Pfordten, Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 202 – die Frage als »Grundfrage <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsethik«.<br />
3 Vgl. unten S. 52 ff. (Sollensbezug <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Skizze zu <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Moral).<br />
4 Die Charakterisierung <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft dur<strong>ch</strong> diese Frage geht auf Kant zurück: I. Kant.,<br />
KrV (1781), A 804 f. / B 832 f.: »Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das<br />
praktis<strong>ch</strong>e) vereinigt si<strong>ch</strong> in folgenden drei Fragen: 1. Was kann i<strong>ch</strong> wissen? 2. Was soll i<strong>ch</strong> tun?<br />
3. Was darf i<strong>ch</strong> hoffen?«.<br />
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