Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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Einleitung:<br />
Aufgabenstellung und Gang <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
Juristinnen und Juristen vermögen eine vernünftige und gere<strong>ch</strong>te Ordnung <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
in dem von ihnen besetzten Teilgebiet ni<strong>ch</strong>t isoliert zu verwirkli<strong>ch</strong>en; sie<br />
können aber zur Realisierung von Vernunft und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beitragen 1 . Do<strong>ch</strong> wie<br />
soll dieser Beitrag aussehen – wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein? Dieser Frage ist die vorliegende<br />
Untersu<strong>ch</strong>ung gewidmet. Ihr Ziel besteht darin, den Beitrag näher zu<br />
bestimmen, den prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong><br />
Frage na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t leisten können.<br />
S<strong>ch</strong>on die Leitfrage 'Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?' wird bei vielen Juristen die Gegenfrage<br />
provozieren, was denn Re<strong>ch</strong>t mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu tun habe 2 . Immerhin besteht<br />
ein kaum zu unters<strong>ch</strong>ätzen<strong>der</strong> Vorteil darin, daß die Normenwelten des Re<strong>ch</strong>ts<br />
und <strong>der</strong> Moral weitgehend unabhängig voneinan<strong>der</strong> existieren, wir also bei aller Unwägbarkeit<br />
des moralis<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tigen Handelns dur<strong>ch</strong>weg si<strong>ch</strong>er sein können, was re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
von uns verlangt wird. Ist also die Frage 'Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?' nur für<br />
diejenigen von Interesse, die einen Mindestgehalt an Moralität bereits im Begriff des<br />
Re<strong>ch</strong>ts verankert sehen? Diese Frage wird im ersten Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung verneint.<br />
Dort wird zu zeigen sein, daß <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t selbst dann Bedeutung<br />
zukommt, wenn <strong>der</strong> Begriff des Re<strong>ch</strong>ts frei von aller Moral bestimmt wird.<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – also vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en sol<strong>ch</strong>e, die<br />
eine Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter Rückgriff auf Verfahrensüberlegungen<br />
betreiben – verspre<strong>ch</strong>en am ehesten, eine befriedigende Antwort auf die Frage na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t zu bieten. Ihr beson<strong>der</strong>er Reiz liegt darin, daß sie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t von vornherein dur<strong>ch</strong> inhaltli<strong>ch</strong>e Annahmen präjudizieren, also ni<strong>ch</strong>t<br />
eine bestimmte Religion, ein Statusbewußtsein gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, eine Tradition,<br />
eine Rollenverteilung <strong>der</strong> Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter, eine kulturelle Identität o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Sozialsubstanzen voraussetzen. Abgesehen von dieser inhaltli<strong>ch</strong>en Unvoreingenommenheit<br />
sind die Begriffsmerkmale, die eine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie prägen,<br />
indes no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>end untersu<strong>ch</strong>t. Zwar ist die Klasse <strong>der</strong> prozeduralen<br />
<strong>Theorien</strong> als sol<strong>ch</strong>e anerkannt 3 , do<strong>ch</strong> ergibt si<strong>ch</strong> aus den bisherigen Arbeiten ni<strong>ch</strong>t,<br />
1 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 359. Zur Zitierweise: Für die bessere<br />
zeitli<strong>ch</strong>e Zuordnung wird bei abgekürzt zitierten Werken in Anlehnung an die internationalen Zitierkonventionen<br />
in den Sozial- und Geisteswissens<strong>ch</strong>aften (Chicago-Style) zusätzli<strong>ch</strong> eine Jahreszahl<br />
angegeben, und zwar regelmäßig diejenige <strong>der</strong> Erstveröffentli<strong>ch</strong>ung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten<br />
Neuauflage, bei öffentli<strong>ch</strong>en Reden die des Vortragsjahres, bei Übersetzungen die des Jahres <strong>der</strong><br />
Originalausgabe, bei Zitaten aus einem Na<strong>ch</strong>trag die des Jahres <strong>der</strong> unverän<strong>der</strong>ten Neuausgabe,<br />
die den Na<strong>ch</strong>trag enthält.<br />
2 Vgl. F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 111 f.: Die Annahme, Re<strong>ch</strong>t<br />
habe mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>ts zu tun, werde bereits Studienanfängern suggeriert und wirke si<strong>ch</strong><br />
langfristig prägend auf das Denken vieler Juristen aus.<br />
3 Zu den Autoren, die ausdrückli<strong>ch</strong> die 'prozeduralen' bzw. 'prozeduralistis<strong>ch</strong>en' <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
erörtern, gehören beispielsweise A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1989), S. 7 ff. – allerdings im Ergebnis (S. 20) die prozeduralen <strong>Theorien</strong> bis auf einen 'heuristis<strong>ch</strong>en<br />
Wert' ablehnend; R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107, 111 ff.; J. Habermas, Fak-<br />
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