Im Netz des Dr. Regulus

<strong>Im</strong> <strong>Netz</strong> <strong>des</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Regulus</strong><br />

Streitfragen!<br />

Die Energie- und Wasserwirtschaft im Dialog<br />

Das Magazin 02|2013


Liebe Leserin, Lieber Leser,<br />

hinter den zahlreichen Einzelmaßnahmen, Teilprojekten und politischen Initiativen<br />

im Rahmen der Energiewende vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, der unserer<br />

Branche, letztlich aber auch allen Bürgern und Kunden Sorge bereiten muss: das<br />

Prinzip der Liberalisierung. So viel Markt wie möglich und so viel Regulierung wie<br />

nötig – dieses Prinzip wird stückweise aufgegeben. Vor 15 Jahren wurde der deutsche<br />

Energiemarkt für alle geöffnet. Die wettbewerblichen Auswirkungen sind so positiv,<br />

dass die EU-Kommission den deutschen Energiemarkt als Vorbild für ganz Europa<br />

sieht. Doch der Schein trügt. Wachsender Dirigismus und zunehmende Regulierung<br />

sorgen schon jetzt dafür, dass die Erfolge der Marktöffnung zum Teil wieder zunichtegemacht<br />

werden.


Jeder kleinste Schritt, der die Erneuerbaren Energien dazu bringt, Marktrisiken und<br />

Systemverantwortung zu übernehmen, muss gegen Widerstände hart erkämpft<br />

werden. Umgekehrt versucht die Politik auf fatale Weise, Marktlösungen wie zum<br />

Beispiel die vom BDEW vorgeschlagene Strategische Reserve zugunsten von<br />

Zwangsmaßnahmen beiseitezuschieben – Stichwort „Winterverordnung“! Der wachsende<br />

Zuspruch aus verschiedenen Bereichen für die Strategische Reserve zeigt<br />

aber, dass immer mehr Akteure den Wert <strong>des</strong> Marktes neu erkennen.<br />

Das vorliegende Magazin spitzt diesen Konflikt mit Bildern zu, die Ihnen hoffentlich<br />

viel Spaß machen werden, die aber vor allem auch das Grundsätzliche und die Richtungsentscheidung<br />

klarmachen, um die es spätestens nach der Bun<strong>des</strong>tagswahl geht.<br />

Welche Partei wird sich zum „Marketman“, zum Verteidiger der marktwirtschaftlichen<br />

Ordnung und zum Protagonisten eines neuen Markt<strong>des</strong>igns bekennen? Wer<br />

übernimmt die Rolle <strong>des</strong> „<strong>Dr</strong>. <strong>Regulus</strong>“, der sicher das Gute will, aber mit den falschen<br />

Methoden nur Negatives erreicht?<br />

Darüber streiten die Protagonisten in diesem Heft. Nicht nur die Bilder sind stark,<br />

sondern vor allem auch die Argumente. Ich wünsche Ihnen viel Spaß – und einen<br />

hoffentlich neuen und klaren Blick auf die anstehenden Herausforderungen!<br />

Ihre<br />

Hildegard Müller<br />

Streitfragen 02|2013<br />

01


S.30<br />

Wie sparen wir genügend Energie?<br />

Prof. Peter Hennicke vom Wuppertal Institut und dena-Chef Stephan Kohler streiten über die Konsequenzen aus der EU-Energieeffizienzrichtlinie.<br />

S.10<br />

Strategische Reserve: Licht<br />

am Horizont<br />

S.24<br />

Baustelle Struktur-anpassung<br />

S.40<br />

Eine Frage der Zeit und der<br />

Kosten<br />

Peter Altmaier, Bun<strong>des</strong>minister, Hildegard Müller,<br />

BDEW, und Dietmar Schütz, BEE, diskutieren<br />

den effizientesten Weg zum Erhalt einer sicheren<br />

Stromversorgung.<br />

In einigen ostdeutschen Regionen schrumpft und altert<br />

die Bevölkerung besonders schnell. Wie Versorger<br />

gegensteuern können, erklärt Jürgen Schleier, Wasserwerke<br />

Zwickau.<br />

Jörg Müller, Enertrag, plädiert für die Windkraftnutzung<br />

an Land, Andreas Wagner von der Stiftung<br />

Offshore-Windenergie hält dagegen.<br />

02 Streitfragen 02|2013


Energiemarkt der Zukunft<br />

Fokus Energieeffizienz<br />

S.06<br />

S.10<br />

S.16<br />

S.22<br />

Die Märkte brauchen keinen REgulierer<br />

<strong>Dr</strong>. Rolf Martin Schmitz, RWE, und Ewald Woste, Thüga,<br />

über die Anforderungen an den Strommarkt der Zukunft.<br />

Strategische Reserve: Licht am Horizont<br />

Peter Altmaier, Bun<strong>des</strong>minister, Hildegard Müller, BDEW,<br />

und Dietmar Schütz, BEE, diskutieren den effizientesten<br />

Weg zum Erhalt einer sicheren Stromversorgung.<br />

»2050 können wir uns kein<br />

Kohlekraftwerk mehr leisten.«<br />

Grünen-Politikerin Bärbel Höhn plädiert für einen breiten<br />

Mix an Markt- und Regulierungsinstrumenten.<br />

Energieprojekte sind attraktiv<br />

für Versicherer<br />

Die Assekuranzbranche könnte mehr Mittel für<br />

Energieprojekte bereitstellen. <strong>Dr</strong>. Alexander Erdland,<br />

GDV, nennt die Bedingungen.<br />

S.30<br />

S.36<br />

S.40<br />

Wie sparen wir genügend Energie?<br />

Prof. Peter Hennicke vom Wuppertal Institut und<br />

dena-Chef Stephan Kohler streiten über die Konsequenzen<br />

aus der EU-Energieeffizienzrichtlinie.<br />

»Die gegenwärti gen Zertifikatspreise<br />

sind ein Problem, da sie Investitionen<br />

entschleunigen.«<br />

<strong>Dr</strong>. Fatih Birol von der Internationalen Energieagentur<br />

sieht die niedrigen Preise für CO 2 -Zertifikate als Hindernis<br />

für Investitionen in effizientere Technik.<br />

Fokus Erzeugung<br />

Eine Frage der Zeit und der Kosten<br />

Jörg Müller, Enertrag, plädiert für die Windkraftnutzung<br />

an Land, Andreas Wagner von der Stiftung Offshore-<br />

Windenergie hält dagegen.<br />

S.24<br />

Wasserwirtschaft<br />

Baustelle Struktur-anpassung<br />

In einigen ostdeutschen Regionen schrumpft und altert<br />

die Bevölkerung besonders schnell. Wie Versorger reagieren<br />

können, erklärt Jürgen Schleier, Wasserwerke Zwickau.<br />

S.44<br />

S.46<br />

»Grüner Strom muss kontinuierlich<br />

preiswerter werden.«<br />

Die Energiewende schafft für Hersteller von Erzeugungsanlagen<br />

und <strong>Netz</strong>technik Risiken, aber auch Chancen,<br />

meint Alf Henryk Wulf von Alstom.<br />

Erneuerbare Energien<br />

Der BDEW hat eine Stabsstelle Erneuerbare Energien<br />

eingerichtet. <strong>Dr</strong>. Martin Grundmann, ARGE <strong>Netz</strong>,<br />

kommentiert.<br />

S.47<br />

Energie macht Schule<br />

RheinEnergie-Chef <strong>Dr</strong>. Dieter Steinkamp unterstützt<br />

das Informationsprojekt <strong>des</strong> BDEW für Kinder und<br />

Jugendliche.<br />

<strong>Im</strong>pressum<br />

Herausgeber<br />

BDEW Bun<strong>des</strong>verband der<br />

Energie- und Wasserwirtschaft e. V.<br />

Reinhardtstraße 32<br />

10117 Berlin<br />

streitfragen@bdew.de<br />

www.bdew.de<br />

Redaktion<br />

Mathias Bucksteeg<br />

Sven Kulka<br />

Konzept und Realisierung<br />

Kuhn, Kammann & Kuhn GmbH,<br />

unter redaktioneller Mitarbeit von<br />

Wolf Szameit; Ricarda Eberhardt<br />

(BDEW). Kreation/Bildwelt Meltem<br />

Walter (BDEW)<br />

<strong>Dr</strong>uck und Verarbeitung<br />

<strong>Dr</strong>uck Center <strong>Dr</strong>ake + Huber,<br />

Bad Oeynhausen<br />

Bildnachweis<br />

Agustin Graham Nakamura:<br />

Comic-Zeichnungen,<br />

Illustrationen und Foto-Paints;<br />

Roland Horn: S. 06, 09, 17, 22, 26, 32, 42<br />

Redaktionsschluss:<br />

Mai 2013<br />

03


Dunkle Mächte bedrohen das freie Spiel der Kräfte und den Markt.<br />

Doch Marketman kämpft mit aller Energie für die Freiheit und die<br />

wirtschaftliche Vernunft. Sein Ideal ist der faire Ausgleich von<br />

Angebot und Nachfrage. Denn er will die Menschen günstig, verlässlich<br />

und umweltfreundlich mit Strom und Wärme versorgen. Die rasch<br />

wachsenden Kräfte von Wind und Sonne muss Marketman zur Verantwortung<br />

für das System zwingen und in den freien Markt führen —<br />

um das Chaos zu bannen.<br />

Streitfragen 02|2013<br />

05


Ewald Woste<br />

amtiert seit 2010 als Präsident <strong>des</strong> BDEW.<br />

Seit 2007 ist er Vorstandsvorsitzender<br />

der Thüga AG in München.<br />

06<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


»Die Märkte<br />

brauchen keinen<br />

übergeordneten<br />

Regulierer.«<br />

› Die<br />

langfristige Gestaltung <strong>des</strong> Energiesektors ist eine der<br />

spannendsten Fragen im Rahmen der Energiewende.<br />

<strong>Dr</strong>. Rolf Martin Schmitz, RWE, und Ewald Woste, Thüga, im<br />

Gespräch über die Anforderungen an den Strommarkt<br />

der Zukunft.<br />

Die Energiewende in Deutschland braucht einen neuen Rahmen,<br />

damit der Rollentausch zwischen Erneuerbaren und<br />

Konventionellen gelingen kann. Welche Kriterien muss für<br />

Sie ein neues, zukunftsfähiges Markt<strong>des</strong>ign erfüllen?<br />

Rolf Martin Schmitz Wir haben eine funktionierende<br />

Marktordnung. Der europäische Großhandelsmarkt für Strom<br />

gleicht Angebot und Nachfrage zuverlässig und effizient aus. Er<br />

bietet gleiche Wettbewerbschancen für alle Marktteilnehmer.<br />

Deshalb ist es wichtig, die Erneuerbaren Energien zügig in den<br />

Markt zu integrieren. Wer einen Marktanteil von 25 Prozent hat,<br />

kann nicht länger dem Motto „produce and forget“ folgen. Ein Kapazitätsmarkt<br />

könnte in Zukunft „gesicherter Leistung“, die vor<br />

allem von Gas- und Kohlekraftwerken bereitgestellt wird, einen<br />

eigenen Wert geben. Er würde den heutigen Großhandelsmarkt<br />

aber nur ergänzen, sozusagen eine Erweiterung um kapazitive<br />

Elemente, und sollte den gleichen Kriterien genügen: sicher, effizient,<br />

europäisch und ohne Diskriminierung.<br />

Ewald Woste Wir haben in der Thüga-Gruppe bereits im<br />

letzten Jahr einen Lösungsansatz für ein integriertes Markt<strong>des</strong>ign<br />

entwickelt. Dieser beruht unter anderem auf folgenden Kriterien:<br />

Die Ziele der Energiewende müssen in dem Modell darstellbar<br />

sein, es sollte einen langfristigen Rahmen aufzeigen und wettbewerblich<br />

organisiert sein, viele Lösungswege sowie -anbieter ermöglichen<br />

und mit dem Ziel eines EU-Binnenmarktes kompatibel<br />

sein. Diese Kriterien sollten aber nicht nur auf der Angebots-, sondern<br />

auch auf der Nachfrageseite gelten. Dann wird es effizienter.<br />

Die Bun<strong>des</strong>regierung scheint derzeit – Stichwort Reservekraftwerksverordnung<br />

– eher auf Regulierung zu setzen.<br />

Kommen Modelle für die Zukunft überhaupt ohne einen<br />

übergeordneten Regulierer aus, der Quoten festsetzt und<br />

Kapazitäten zentral bestellt?<br />

Energiemarkt der Zukunft Streitfragen 02|2013 07


»Die viel diskutierten<br />

Kapazitätsmärkte sind<br />

keine reREgulierung.«<br />

Schmitz Das hieße „zurück in die Zukunft“, ist aber weder<br />

nötig noch sinnvoll. Es ist heute ohne Weiteres möglich, den Erneuerbaren<br />

Energien eine Rolle mit gleichen Rechten und Pflichten<br />

im freien Energiemarkt zu geben. Auch die viel diskutierten<br />

Kapazitätsmärkte sind keine Reregulierung, im Gegenteil. In<br />

Frankreich ist ein wettbewerblicher, technologieneutraler und dezentraler<br />

Kapazitätsmarkt beschlossen. Für Deutschland hat der<br />

VKU einen ähnlichen Vorschlag gemacht. Beide Modelle können<br />

funktionieren, sie sind marktwirtschaftlich und fair.<br />

Woste Ja, wir sind der Meinung, dass dies funktionieren<br />

kann. Es sind die marktgetragenen Modelle, die schnell und effizient<br />

auf Veränderungen reagieren können und dabei eine hohe Lösungsvielfalt<br />

schaffen. Dies gelingt besonders dann, wenn auch<br />

die Nachfrageseite unmittelbar in das Markt<strong>des</strong>ign integriert ist.<br />

Auch in einigen europäischen Nachbarländern werden Änderungen<br />

im Markt<strong>des</strong>ign angeschoben. Brauchen wir überhaupt<br />

nationale Kapazitätsmechanismen in einem künftigen<br />

europäischen Energiebinnenmarkt?<br />

Schmitz Ein Wildwuchs nationaler Kapazitätsmechanismen<br />

würde den europäischen Energiebinnenmarkt aus den Angeln heben<br />

– was fatal wäre. Deshalb brauchen wir einheitliche europäische<br />

Gestaltungsregeln für Kapazitätsmärkte, die festlegen, was<br />

geht und was nicht.<br />

Woste Fast alle unserer Nachbarn haben dies positiv beantwortet,<br />

denn wir sind nahezu das letzte Land ohne einen Kapazitätsmechanismus.<br />

Die Logik hinter einem Kapazitätsmechanismus<br />

ist doch, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Aus<br />

meiner Sicht spricht auch nichts dagegen, wenn ein ausländischer<br />

Anbieter von gesicherter Leistung zur Versorgungssicherheit von<br />

Kunden in Deutschland beiträgt. Er müsste nur gewährleisten,<br />

dass er in Zeiten der Knappheit seine vertraglich zugesicherte<br />

Leistung dem Kunden in Deutschland zur Verfügung stellt.<br />

Es gibt immer mehr Vorschläge für ein neues Markt<strong>des</strong>ign,<br />

neue Modelle kommen auf den Tisch. Bis wann muss ein<br />

tragfähiges Konzept von der Politik beschlossen werden, damit<br />

Investitionen rechtzeitig realisiert werden können?<br />

Schmitz Es gibt keinen ganz kurzfristigen Bedarf für ein neues<br />

Markt<strong>des</strong>ign. Für die Politik steht jetzt ein Zeitfenster offen,<br />

gründlich nachzudenken, wie die Erneuerbaren Energien in den<br />

Markt integriert werden können und wie ein guter, diskriminierungsfreier<br />

Kapazitätsmarkt aussehen soll. Entscheidungen dürfen<br />

aber nicht auf die lange Bank geschoben werden. <strong>Im</strong>mer mehr<br />

Gas- und Kohlekraftwerke werden unwirtschaftlich, wenn subventionierter<br />

EEG-Strom weiter den Markt flutet. Frankreich wird<br />

seinen Kapazitätsmarkt 2016 umsetzen – das ist für Deutschland<br />

ein „game changer“. Und eine gemeinsame europäische Lösung –<br />

zumin<strong>des</strong>t in Kerneuropa – im Jahr 2016, das wäre ein wirkliches<br />

Zeichen für einen funktionierenden und gewollten europäischen<br />

Energiemarkt.<br />

Woste Ich freue mich über die Diskussion und die Lösungsansätze.<br />

Das ist vor allem aus zwei Gründen wichtig: Wir sollten<br />

uns für die beste Lösung entscheiden, daher ist die Vielzahl zu begrüßen,<br />

und die Gründe der Entscheidung für oder gegen einen<br />

Lösungsansatz sollten transparent sein, denn wir brauchen eine<br />

tragfähige Konsenslösung, die von möglichst vielen Stakeholdern<br />

aus unserer Gesellschaft mitgetragen wird. Die Entscheidung, wie<br />

der Energiemarkt langfristig gestaltet wird, sollte aus unserer<br />

Sicht innerhalb weniger Monate nach der Bun<strong>des</strong>tagswahl getroffen<br />

werden.<br />

08<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


Rolf Martin Schmitz<br />

ist seit Juli 2012 Stellvertretender Vorstandsvorsitzender<br />

der RWE AG. Von 2008 bis<br />

2010 war er Präsident <strong>des</strong> BDEW.<br />

Energiemarkt der Zukunft Streitfragen 02|2013 09


Strategische<br />

Reserve: Licht<br />

am Horizont<br />

› BMU,<br />

BEE und BDEW haben sich für eine Strategische<br />

Reserve ausgesprochen. <strong>Im</strong> Gespräch erläutern Peter<br />

Altmaier, Bun<strong>des</strong>umweltminister, Hildegard Müller vom<br />

BDEW und Dietmar Schütz vom BEE ihre Sichtweise.<br />

Mit dem aktuellen Entwurf zur Reservekraftwerksverordnung<br />

verfolgt die Bun<strong>des</strong>regierung – hinsichtlich der Absicherung<br />

ausreichender konventioneller Kraftwerkskapazitäten<br />

in den kommenden Wintern – einen regulatorischen<br />

Ansatz. BMU, BEE und BDEW sprechen sich dagegen für eine<br />

Strategische Reserve aus, die marktbasiert funktioniert. Welche<br />

Chancen auf Umsetzung hat dieser Vorschlag noch?<br />

Hildegard Müller Wenn die sogenannte Reservekraftwerksverordnung<br />

kommt, ist dadurch nicht automatisch die Strategische<br />

Reserve ad acta gelegt. In der Verordnung ist der Blick<br />

vorrangig auf <strong>Netz</strong>engpässe in Süddeutschland gerichtet. Dies<br />

mag als Ultima Ratio sinnvoll sein, ist perspektivisch aber zu kurz<br />

gedacht. Die Strategische Reserve verzahnt hingegen die Lösung<br />

der Probleme in Süddeutschland mit der Absicherung der Versorgungssicherheit<br />

in ganz Deutschland. Sie ist europakompatibel<br />

und lässt sich in Richtung eines neuen Markt<strong>des</strong>igns weiterentwickeln.<br />

Sie könnte die Reservekraftwerksverordnung ergänzen.<br />

10<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


Energiemarkt der Zukunft Streitfragen 02|2013 11


Wir stehen hierzu weiter für Gespräche bereit. Die Frage ist, ob<br />

sich die Politik dafür einsetzen wird, das Marktprinzip in der konventionellen<br />

Erzeugung zu erhalten oder auch diesen Bereich in<br />

die Regulierung zu führen. Unabhängig davon arbeiten wir im<br />

BDEW auch an einem langfristigen Markt<strong>des</strong>ign, das konventionelle<br />

und Erneuerbare Energien miteinander verbindet.<br />

Peter Altmaier Das Wintergesetz und die dazugehörige<br />

Verordnung sind wichtig als Sofortmaßnahme. Damit können wir<br />

kurzfristig sicherstellen, dass Kraftwerke, die für die <strong>Netz</strong>stabilität<br />

gebraucht werden, nicht stillgelegt werden. Aber ein solcher<br />

regulatorischer Eingriff in den Strommarkt sollte nicht zum Dauerzustand<br />

werden, <strong>des</strong>halb sind die Maßnahmen ja auch bis 2017<br />

befristet. Wir sollten aus meiner Sicht zügig zu einem wettbewerblichen<br />

Verfahren für die Beschaffung von Reservekraftwerken<br />

übergehen.<br />

12<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


Dietmar Schütz Aus Sicht <strong>des</strong> BEE hat die Strategische Reserve<br />

eine Reihe von Vorteilen im Vergleich zu konkurrierenden<br />

Modellen, daher sehen wir gute Umsetzungschancen. <strong>Im</strong>merhin<br />

handelt es sich um den marktkonformsten Vorschlag für einen<br />

Kapazitätsmechanismus. Dem sollte auch das Bun<strong>des</strong>wirtschaftsministerium<br />

offen gegenüberstehen. <strong>Im</strong> Gegensatz zu anderen<br />

Modellen stellt die Strategische Reserve effektiv Versorgungssicherheit<br />

her und bewahrt dabei die Funktionsfähigkeit <strong>des</strong> bestehenden<br />

Strommarktes. Die konkurrierenden Vorschläge zu Kapazitätsmärkten<br />

erscheinen hingegen noch nicht ausgereift und<br />

lassen zudem Marktverzerrungen befürchten. Weitere Pluspunkte<br />

der Strategischen Reserve: Sie begünstigt zwar die vorhandenen<br />

Marktteilnehmer, aber sie ist einfach umzusetzen, kostengünstig<br />

und stellt nur geringe Anforderungen an die Regulierung.<br />

Auch ein regulatorisches Modell kann ja zunächst mehr<br />

Sicherheit schaffen. Was genau wären denn die Vorteile einer<br />

Marktlösung?<br />

Altmaier Die Strategische Reserve, wie wir sie gemeinsam<br />

mit Wissenschaftlern und Verbänden vorgeschlagen haben,<br />

beruht auf der öffentlichen Ausschreibung von Reservekapazitäten.<br />

Das Verfahren ist transparent, gut mit dem europäischen<br />

Strommarkt vereinbar und auch mit anderen Instrumenten kompatibel.<br />

Es schafft Versorgungssicherheit und ist kostengünstig.<br />

Müller Die Strategische Reserve gewährleistet nicht nur eine<br />

sichere Stromversorgung. Sie ist ein transparentes und wettbewerbsnahes<br />

Instrument, das den Markt nicht verzerrt und den Betreibern<br />

von konventionellen Kraftwerken einen wirtschaftlichen<br />

Betrieb ermöglicht. Derzeit sehen wir schon, dass die Reservekraftwerksverordnung<br />

eher mit intransparenten, bilateralen Verhandlungen<br />

einhergeht. Zudem könnten wir mit der Strategischen<br />

Reserve sofort starten. Es ist unverständlich, warum das<br />

Bun<strong>des</strong>wirtschaftsministerium dagegen auf ein bürokratisches<br />

und dirigistisches Verfahren setzt, das einer Zwangsregulierung<br />

gleichkommt. Diese Art staatlich verursachte Wettbewerbsverzerrung<br />

sollte sich in einem liberalisierten Strommarkt von selbst<br />

verbieten.<br />

Schütz In erster Linie bietet eine Marktlösung eine bessere<br />

Kosteneffizienz. Darüber hinaus übt sie keinerlei Zwang aus, die<br />

Betroffenen nehmen freiwillig an den Ausschreibungsverfahren<br />

teil – ebenfalls ein klarer Vorteil.<br />

Energiemarkt der Zukunft Streitfragen 02|2013 13


»Die Strategische<br />

Reserve stellt effektiv<br />

Versorgungssicherheit<br />

her.«<br />

»Die Verordnung<br />

ist perspektivisch zu<br />

kurz gedacht.«<br />

»Ein regulatorischer<br />

Eingriff in den<br />

Strommarkt sollte<br />

nicht zum Dauerzustand<br />

werden.«<br />

Die Strategische Reserve soll eine „Brückenlösung“ sein.<br />

Wenn sie die Brücke bildet – wie sieht dann das andere Ufer<br />

aus? Was sind die wichtigsten Eckpunkte für ein neues<br />

Markt<strong>des</strong>ign?<br />

Müller Gerade weil wir noch nicht genau wissen, wie ein zukunftsfähiges<br />

Markt<strong>des</strong>ign im Detail aussehen könnte, haben wir<br />

als Übergangslösung die Strategische Reserve vorgeschlagen. Bevor<br />

nicht wichtige energiepolitische Grundsatzfragen geklärt<br />

sind, wie zum Beispiel künftig der weitere Ausbau der Erneuerbaren<br />

ausgestaltet wird, kann kein langfristig tragfähiges Konzept<br />

entwickelt werden. <strong>Im</strong> Grunde muss aber ein neues Markt<strong>des</strong>ign<br />

sicherstellen, dass das Zusammenspiel zwischen den fluktuierenden<br />

Erneuerbaren Energien und den notwendigen konventionellen<br />

Back-up-Kapazitäten dauerhaft funktioniert – und zwar technisch<br />

und wirtschaftlich. Dabei müssen auch die Anpassung der<br />

Energienetze, die Verknüpfung mit dem Zertifikatehandel und<br />

die Anforderungen <strong>des</strong> europäischen Energiebinnenmarktes berücksichtigt<br />

werden. Der BDEW arbeitet derzeit an einem umfassenden<br />

Vorschlag.<br />

Schütz Ich kann mir gut vorstellen, dass die Strategische Reserve<br />

auf der Basis von Gasturbinen und Motoren auch längerfristig<br />

eine Rolle spielen wird. Aber: Für alle Akteure ist das „andere<br />

Ufer“ ein bislang unbekanntes Gefilde. Ich wäre daher mit Schnellschüssen<br />

vorsichtig. Klar ist aber, dass die fluktuierenden Erneuerbaren<br />

Energien in Zukunft im Mittelpunkt <strong>des</strong> Strommarktes<br />

stehen werden. Sie bilden das leitende System, an dem sich die<br />

Energieversorgungsstruktur orientieren muss. Das Gebot der<br />

Stunde lautet dabei: Flexibilität. Je flexibler das Back-up-System<br />

sein wird, <strong>des</strong>to besser. Und das bedeutet auch, dass der künftige<br />

Markt diese Flexibilitäten abbilden und anreizen muss. Das künftige<br />

Back-up-System wird ganz anders aussehen als die konventionelle<br />

Kraftwerksstruktur wie wir sie heute kennen.<br />

Altmaier Ich würde lieber von einem „Sicherheitsnetz“ für<br />

die Stromversorgung sprechen. Was das zukünftige Markt<strong>des</strong>ign<br />

angeht, so warne ich vor überzogenen Erwartungen an ein einzelnes<br />

Instrument. Das Markt<strong>des</strong>ign der Zukunft wird sich aus meh­<br />

14<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


Dietmar Schütz<br />

ist seit 2008 Präsident <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verban<strong>des</strong><br />

Erneuerbare Energie (BEE). Insgesamt 25 Verbände<br />

mit insgesamt 30 000 Einzelmitgliedern<br />

sind im BEE organisiert.<br />

Hildegard Müller<br />

vertritt als Hauptgeschäftsführerin<br />

<strong>des</strong> BDEW die Interessen von<br />

über 1 800 Unternehmen.<br />

Peter Altmaier<br />

ist seit vergangenem Jahr Bun<strong>des</strong>umweltminister.<br />

Vor seiner Ernennung war er Erster<br />

Parlamentarischer Geschäftsführer der<br />

CDU/CSU-Bun<strong>des</strong>tagsfraktion.<br />

reren Bausteinen zusammensetzen: Dazu gehört, dass wir die Erneuerbaren<br />

weiter an den Markt heranführen, Preissignale für<br />

Erzeuger und Verbraucher stärken, Hemmnisse für Flexibilität<br />

abbauen, Märkte für Reserveleistung und andere Systemdienstleistungen<br />

weiterentwickeln, das CO 2 -Preissignal verlässlicher<br />

machen und die 27 Strommärkte in Europa enger verbinden.<br />

Parallel müssen die Erneuerbaren Energien auf einen Reformpfad<br />

geführt werden, der sie Richtung Markt führt. Es<br />

wird einen Rollentausch zwischen Erneuerbaren und konventionellen<br />

Energien geben. Was sind auf diesem Weg die<br />

nächsten Schritte?<br />

Müller Das EEG ist an seine Grenzen gekommen. Das ist<br />

mittlerweile allen Akteuren klar. Nach der Bun<strong>des</strong>tagswahl im<br />

Herbst muss daher eine grundlegende Reform <strong>des</strong> EEG erfolgen.<br />

Die Förderung und der Ausbau der Erneuerbaren müssen marktorientiert<br />

weiterentwickelt werden. Die Energiewende kann aus<br />

unserer Sicht nur gelingen, wenn die Erneuerbaren Systemverantwortung<br />

übernehmen und ihren Beitrag zur Versorgungssicherheit<br />

und Systemstabilität leisten. Erst dann können wir sie<br />

ernsthaft als künftiges Leitsystem betrachten. Der BDEW wird<br />

auch hierzu Vorschläge unterbreiten.<br />

Altmaier Das EEG hat hervorragende Arbeit geleistet, um die<br />

erneuerbaren Energien aus einer Nische bis zu dem heutigen<br />

Niveau von rund 23 Prozent zu führen. In der nächsten Legislaturperiode<br />

brauchen wir aber eine grundlegende Reform, ein EEG 2.0,<br />

zur Integration der Erneuerbaren Energien in das Stromversorgungssystem<br />

und in die Strommärkte. Dazu besteht im Grundsatz<br />

breites Einvernehmen. Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund.<br />

Das eine ist eine kosteneffizientere Förderung. Das andere<br />

ist das Zusammenspiel zwischen Erneuerbaren, konventionellen<br />

Kraftwerken, dem <strong>Netz</strong>, Speichern und der Nachfrage. Hier müssen<br />

wir zu einer Optimierung kommen, zu der auch die Erneuerbaren<br />

beitragen müssen.<br />

Schütz Diejenigen, die für die Erneuerbaren gebetsmühlenartig<br />

mehr Markt fordern, übersehen leider häufig, dass es bislang<br />

keinen vollständig funktionierenden Markt gibt. Ein umfassender<br />

Strommarkt würde Preise vollständig abbilden und externe Kosten<br />

internalisieren. Das aber ist bislang nicht der Fall. Der Emissionshandel<br />

liegt am Boden, Kosten für Umwelt- und Gesundheitsschäden<br />

werden erst gar nicht beziffert. Abgesehen davon muss<br />

der Markt an die Spezifika der Erneuerbaren Energien angepasst<br />

werden. Beispielsweise müssen die Handelsfristen verkürzt werden.<br />

Denn je kürzer die Fristen, <strong>des</strong>to zutreffender die Prognosen.<br />

Insgesamt sollten die Erneuerbaren mehr Systemverantwortung<br />

übernehmen. Zwar wurde hier schon einiges erreicht – viele notwendige<br />

Schritte wie der erleichterte Zugang zum Regelenergiemarkt<br />

stehen aber noch aus.<br />

Energiemarkt der Zukunft Streitfragen 02|2013 15


»2050 können wir<br />

› Die<br />

uns kein Kohlekraftwerk<br />

mehr<br />

leisten.«<br />

energiepolitischen Vorstellungen von Bündnis 90/Die<br />

Grünen bieten reichlich Diskussionsstoff: Kohlekraftwerke<br />

lehnt die Partei ab, Kapazitätsmärkte will sie nur regional<br />

zulassen. Bärbel Höhn plädiert für einen breiten Mix von<br />

Markt- und Regulierungsinstrumenten – und für eine<br />

stärkere Einbindung der Kommunen in die Energiewende.<br />

Frau Höhn, zusammen mit zwei Fraktionskollegen und dem<br />

baden-württembergischen Umweltminister haben Sie 2012<br />

das Papier „Die Energiewende braucht Kapazitätsmärkte“<br />

veröffentlicht. Welche Kriterien muss ein neues Markt<strong>des</strong>ign<br />

aus Ihrer Sicht erfüllen?<br />

Bärbel Höhn Wir sehen: Der Energy-only-Markt funktioniert<br />

nicht mehr. Deshalb müssen wir über andere Instrumente<br />

nachdenken. Kapazitätsmärkte gibt es schon in anderen Ländern.<br />

Wir wollen dieses Instrument restriktiv handhaben, damit wir<br />

nicht unnötig Überkapazitäten schaffen. Denn dann wird es sehr<br />

teuer. Wir haben klare Vorgaben gemacht: Die Lösung soll flexibel<br />

sein und klimafreundlich, das heißt, wir wollen auf Kohlekraftwerke<br />

verzichten. Wir wollen eine kostengünstige Regelung und<br />

eine regionale Beschränkung, weil sich das Problem nicht in allen<br />

Bun<strong>des</strong>ländern stellt.<br />

16<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


Bärbel Höhn<br />

ist als stellvertretende Vorsitzende der Bun<strong>des</strong>tagsfraktion<br />

von Bündnis 90/Die Grünen unter anderem für die<br />

Bereiche Umwelt und Energie zuständig. Von 1995 bis<br />

2005 war sie Umweltministerin <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> Nordrhein-<br />

Westfalen.<br />

Wo könnten Sie sich einen Kapazitätsmarkt am ehesten<br />

vorstellen?<br />

Höhn Betroffen ist insbesondere Baden-Württemberg. Dort<br />

sind Atomkraftwerke abgeschaltet worden, aber der Ausbau der<br />

Erneuerbaren Energien kommt erst jetzt in Schwung. In unserem<br />

Parteiprogramm sprechen wir übrigens inzwischen von Kapazitätsmechanismen,<br />

weil der Begriff der Kapazitätsmärkte oft zu<br />

eng im Sinn konventioneller Kraftwerkskapazitäten verstanden<br />

wird. Daneben gibt es aber noch viele andere Instrumente, etwa<br />

Lastmanagement und regelbare Erzeugung aus Erneuerbaren<br />

Energien.<br />

Sie nannten gerade Regionalität als Kriterium für eine vernünftige<br />

Lösung. Wie passt ein regionaler Kapazitätsmarkt<br />

in unser grenzüberschreitend vernetztes Energiesystem?<br />

Wäre es nicht sinnvoller und billiger, durch Leitungsausbau<br />

räumlich begrenzte Insellösungen überflüssig zu machen?<br />

Höhn Das eine schließt das andere doch gar nicht aus. Wir<br />

müssen sehen, welches das günstigste Instrument in der jeweiligen<br />

Situation ist. Das kann ein Leitungsausbau sein, aber auch ein<br />

zusätzliches Gaskraftwerk. Regionale Lösungen wollen wir, damit<br />

daraus kein bun<strong>des</strong>weit nutzbares Subventionsinstrument wird.<br />

Uns ist bewusst, dass gerade unter europapolitischen Gesichtspunkten<br />

noch einiges zu klären ist. Aber ich finde es gut, dass wir<br />

mittlerweile über viele Instrumente diskutieren – die Debatte<br />

wurde ja lange Zeit sehr abstrakt geführt. Jetzt kommen immer<br />

mehr konkrete Vorschläge auf den Tisch.<br />

Gibt es überhaupt die eine Lösung, den großen Wurf?<br />

Höhn Wichtig ist, dass wir einen Instrumentenkasten bekommen,<br />

aus dem wir jeweils den effizientesten Ansatz auswählen<br />

können. Und wir müssen beweglich bleiben. Wir haben in den<br />

vergangenen Jahren viele Entwicklungen gehabt, die wir nicht<br />

vorhersehen konnten. Ich denke beispielsweise an die niedrigen<br />

Kohlepreise und den derzeit niedrigen Börsenpreis für Strom. Da<br />

halte ich es nicht für verantwortbar, wenn wir uns für zehn oder<br />

sogar 20 Jahre festlegen.<br />

Der BDEW hat vorgeschlagen, die Versorgungssicherheit<br />

kurzfristig durch eine Strategische Reserve zu erhalten.<br />

Dabei würden Kraftwerke, die man unter wirtschaftlichen<br />

Gesichtspunkten eigentlich abschalten müsste, als Reserve<br />

zusätzlich zu den Kapazitäten <strong>des</strong> Strommarkts zur Verfügung<br />

stehen. Eingesetzt würden diese Anlagen erst, wenn an<br />

der Strombörse keine Deckung der Nachfrage möglich wäre.<br />

Wie bewerten Sie dieses Konzept?<br />

Höhn Das ist ein interessanter Vorschlag. Wir sind für einen<br />

Instrumentenmix, da könnte das eine wichtige Rolle spielen. Am<br />

Ende ist der Unterschied zwischen einer Strategischen Reserve<br />

und einem restriktiv gehandhabten Kapazitätsmarkt wahrscheinlich<br />

gar nicht so groß. Bei den Kostenschätzungen, mit<br />

denen argumentiert wird, wäre ich aber noch vorsichtig. Bisher<br />

haben sich Kalkulationen für Energiepreise nicht immer als tragfähig<br />

erwiesen.<br />

Sie wollen auf Kohlekraftwerke verzichten. Diese Anlagen<br />

liefern aktuell 46 Prozent unseres Stroms. Sollen wir nach<br />

der Atomenergie auch aus der Kohleverstromung aus steigen?<br />

Höhn Der Punkt ist doch, dass wir auch die Klimaziele erfüllen<br />

müssen. <strong>Im</strong> Moment tun wir das nicht, das liegt unter anderem<br />

am niedrigen Kohlepreis und an den geringen Kosten für<br />

Emissionsrechte. Aus klimapolitischen Gründen müssen wir<br />

nach der Atomkraft als Nächstes die Kohlekraftwerke in den Blick<br />

nehmen.<br />

Wäre es aus Sicht <strong>des</strong> Klimaschutzes vernünftig, alte Kohlekraftwerke<br />

durch neue, effizientere zu ersetzen?<br />

Höhn Man muss vor Augen haben, dass diese Kraftwerke über<br />

Jahrzehnte laufen. Tun sie das nicht, weil sie sich plötzlich nicht<br />

mehr rechnen, dann sind sie eine Fehlinvestition. Bleibt die neue<br />

Anlage aber 40 Jahre in Betrieb, das ist eine normale Lebensdauer,<br />

dann läuft sie noch im Jahr 2050. Zu dem Zeitpunkt müssen wir<br />

unseren CO 2 -Ausstoß um 80 bis 95 Prozent reduziert haben. Da<br />

können wir uns kein einziges Kohlekraftwerk mehr leisten.<br />

18<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


Sie argumentieren, dass die Umstellung auf Erneuerbare<br />

Energien die Schaffung einer „Sekundärstruktur“ erfordert,<br />

um Schwankungen der Einspeisungen aus erneuerbaren<br />

Quellen auszugleichen. Das bedeutet: Wir schaffen Überkapazitäten.<br />

Wie lassen sich diese Investitionen finanzieren?<br />

Höhn Wir haben momentan schon Überkapazitäten – 2012<br />

war das Rekordjahr für unseren Stromexport. Daher sehe ich momentan<br />

keinen großen Bedarf für neue Anlagen – außer beispielsweise<br />

in bestimmten Teilen von Süddeutschland. In einem Kapazitätsmarkt<br />

wird die Finanzierung der Kraftwerke über die<br />

<strong>Netz</strong>entgelte erfolgen. Man muss den Verbrauchern ehrlich sagen:<br />

Versorgungssicherheit hat ihren Preis. Aber Reserve-Kraftwerke<br />

sind nur ein Mittel, um Versorgungssicherheit zu erhalten. Es ist<br />

immer gut, eine Auswahl von Instrumenten zu haben.<br />

Wie hoch darf der Preis der Versorgungssicherheit sein? Der<br />

Strompreis sorgt ja jetzt schon für Diskussionen, eine Umlage<br />

für Kapazitätsmechanismen würde den Preis weiter nach<br />

oben treiben. Wo sehen Sie die Grenze?<br />

Höhn Ich glaube, dass man die Energiekosten eines Haushalts<br />

insgesamt betrachten und im Griff behalten muss, nicht nur den<br />

Strompreis. Momentan gibt der Durchschnittshaushalt mehr für<br />

Heizung aus als für Strom, viele bezahlen auch fürs Autofahren<br />

mehr als für Elektrizität. Wir haben Vorschläge gemacht, um Familien<br />

mit kleinem Einkommen zu entlasten. Und wir wollen eine<br />

fairere Verteilung der Kosten. Energieintensive Betriebe sollten<br />

stärker an der EEG-Umlage beteiligt werden. Wegen der – auch im<br />

internationalen Vergleich – niedrigen Börsenpreise für Strom<br />

können die Unternehmen das verkraften, ohne an Wettbewerbsfähigkeit<br />

zu verlieren.<br />

Die Energiewende ist eines der wichtigsten innenpolitischen<br />

Projekte, für viele sogar das wichtigste. Bisher sind die Zuständigkeiten<br />

aber auf verschiedene Ressorts verteilt. Finden<br />

Sie, dass wir die Zuständigkeiten in einem eigenen Energieministerium<br />

bündeln sollten?<br />

Höhn Ein Energieministerium mit allen nötigen Kompetenzen<br />

müsste einen großen Teil <strong>des</strong> Ministeriums für Verkehr, Bau<br />

und Stadtentwicklung bekommen, außerdem einen großen Teil<br />

<strong>des</strong> Umwelt- und <strong>des</strong> Wirtschaftsministeriums. Dazu kämen noch<br />

Bereiche <strong>des</strong> Forschungs- und <strong>des</strong> Landwirtschaftsressorts. Das<br />

wäre also sehr groß – und damit nicht unbedingt zielführend. Wir<br />

wollen lieber einige Kompetenzen aus dem Wirtschafts- ins Umweltministerium<br />

verlagern. Erneuerbare Energien, Markt <strong>des</strong>ign<br />

und <strong>Netz</strong>e gehören zusammen – es wäre sinnvoll, das zu bündeln.<br />

Entscheidend ist aber, dass sich die Koalitionspartner über die<br />

Ausgestaltung der Energiewende einig sind. Grundsätzlich wollen<br />

wir auch viel stärker in den Kommunen ansetzen, denn dort<br />

findet die Energiewende am Ende statt.<br />

Was kann denn eine Kommune, was der Bund nicht kann?<br />

Höhn Großbritannien und Dänemark machen es uns vor:<br />

Dort müssen die Kommunen Energie einsparen und dürfen dafür<br />

auf einen zentralen Fonds zugreifen. Unsere Städte und Gemeinden<br />

könnten die Mittel nutzen, um durch Maßnahmen zur Wärmedämmung<br />

und zum Stromsparen gezielt Haushalte mit geringem<br />

Einkommen zu unterstützen. Das würde die kommunalen<br />

Haushalte entlasten, denn ihre Ausgaben für die Energierechnungen<br />

von Hilfeempfängern würden sinken. Wir wollen dafür einen<br />

Fonds auflegen und mit drei Milliarden Euro ausstatten.<br />

»Am Ende ist der Unterschied<br />

zwischen einer Strategischen<br />

Reserve und einem restriktiv<br />

gehandhabten Kapazitätsmarkt<br />

gar nicht so groSS.«<br />

Energiemarkt der Zukunft Streitfragen 02|2013 19


Was wäre der Superheld ohne Liberty Girl? Wo er nicht weiter weiß,<br />

hat sie die rettende Idee. In dunklen Stunden erinnert sie ihn an seine<br />

Prinzipien und Überzeugungen. Sie warnt vor Fallstricken und kontert<br />

die Attacken <strong>des</strong> Gegners mit intelligenten Manövern. Liberty<br />

Girl steht für alle, denen bewusst wird, dass es nur gemeinsam geht.<br />

Sie sammelt die Verteidiger <strong>des</strong> Gemeinwohls und kämpft gegen die<br />

Eigennützigen und Separatisten. Liberty Girl denkt voraus — damit<br />

eine neue Marktordnung entstehen kann.<br />

Streitfragen 02|2013 21


› Die<br />

Energieprojekte<br />

sind Attraktiv für<br />

Versicherer<br />

Assekuranzbranche spielt in der Energiewirtschaft<br />

eine Doppelrolle: Ihre Unternehmen versichern Anlagen<br />

und treten als Investoren auf. <strong>Dr</strong>. Alexander Erdland,<br />

Präsident <strong>des</strong> Branchenverbands GDV, nennt die Voraussetzungen<br />

für ein noch stärkeres Engagement.<br />

In welchem Umfang ist die Branche derzeit<br />

in der Energiewirtschaft engagiert,<br />

welche Funktionen übernimmt sie?<br />

<strong>Dr</strong>. Alexander Erdland Versicherer<br />

übernehmen für die Energiewirtschaft<br />

zahlreiche Risiken. Sie versichern den Bau<br />

und Betrieb regenerativer Techniken wie<br />

Wind, Sonne und Biogas sowie konventionelle<br />

Kraftwerke. Vom ersten Spatenstich<br />

bis zum Abriss braucht jede Phase verschiedene<br />

Versicherungen für Personen<br />

und Sachwerte oder auch Betriebsunterbrechungen.<br />

Viele Entwicklungen, wie<br />

etwa der Ausbau der Onshore-Windenergie,<br />

wären ohne das fachliche und versicherungstechnische<br />

Engagement der Versicherer<br />

nicht möglich gewesen. Nun<br />

richtet sich der Blick auf die Offshore-<br />

Energieerzeugung. Die Zahl der Windparks<br />

auf See steigt. Die Parks, deren Konverterplattformen<br />

und Kabeltrassen<br />

benötigen ebenfalls Versicherungsschutz.<br />

Das Risikopotenzial für großflächige Schäden<br />

ist bei Offshore-Anlagen enorm und<br />

übersteigt alle bekannten Szenarien an<br />

Land. Über die Risikoabsicherung hinaus<br />

sind die deutschen Versicherer auch als Kapitalanleger<br />

im Energiesektor aktiv. Langfristiges<br />

Versicherungsgeschäft und Kapitalanlage<br />

in ökonomisch nachhaltige<br />

Energie- und Infrastrukturprojekte passen<br />

vom Grundsatz her gut zusammen. Versicherer<br />

haben aktuell bereits mehrere Milliarden<br />

Euro in Energie- oder Infrastrukturprojekte<br />

investiert – Tendenz steigend.<br />

22<br />

Streitfragen 02|2013 Energiemarkt der Zukunft


<strong>Dr</strong>. Alexander Erdland<br />

ist Präsident <strong>des</strong> Gesamtverban<strong>des</strong> der Deutschen<br />

Versicherungswirtschaft (GDV), der als<br />

Dachverband rund 470 Unternehmen vertritt.<br />

Zugleich ist Erdland Vorstandsvorsitzender der<br />

Wüstenrot & Württembergische AG (W&W).<br />

Wo wäre es für die Assekuranzbranche<br />

interessant, stärker als Investor aufzutreten?<br />

Erdland Versicherer gehen als Anbieter<br />

von Risikoschutz und privater Altersvorsorge<br />

langfristige Verpflichtungen gegenüber<br />

ihren Kunden ein. Deswegen<br />

benötigen sie ein stabiles Investitionsumfeld:<br />

Langfristigkeit, Planbarkeit und Sicherheit<br />

haben hohe Priorität bei der Wahl<br />

ihrer Investments. Nicht alle Investitionen<br />

in Energie und Infrastruktur sind <strong>des</strong>halb<br />

gleichermaßen geeignet.<br />

Interessant sind vor allem einfach<br />

und klar strukturierte Projekte, die sich<br />

weniger durch komplexe Risiken als durch<br />

bewährte Technologien auszeichnen und<br />

damit die Risikobeurteilung erleichtern.<br />

Das trifft beispielsweise auf Investitionen<br />

in Windkraft an Land zu; für Offshore-<br />

Windkraft gibt es dagegen noch kaum Erfahrungswerte.<br />

Vergleichsweise geringe<br />

Risiken, dafür aber sichere Erträge bringen<br />

auch Investitionen in regulierte <strong>Netz</strong>infrastrukturen.<br />

Auch die Struktur der Gläubiger ist<br />

für uns relevant. Eine homogene Investorenbasis<br />

hilft, Interessenkonflikte zwischen<br />

Gläubigern zu vermeiden und eine<br />

stabile Finanzierungsstruktur zu gewährleisten.<br />

Von Vorteil ist es, wenn die Investoren,<br />

die bei einem Projekt über lange Zeit<br />

„in einem Boot“ sitzen, auch ähnliche Vorstellungen<br />

von Art, Dauer und Bedingungen<br />

der Reise haben.<br />

Welche regulatorischen und sonstigen<br />

Hemmnisse bremsen den Ausbau<br />

<strong>des</strong> Engagements? Wer müsste welche<br />

Maßnahmen ergreifen, um die Bremse<br />

zu lösen?<br />

Erdland Versicherer würden gerne<br />

mehr Geld für Energie- und Infrastrukturprojekte<br />

in die Hand nehmen als bisher. <strong>Im</strong><br />

Moment müssen die Unternehmen vor einem<br />

Investment aber noch zu viele Klippen<br />

in Form von nationalen und europäischen<br />

Vorschriften umschiffen. Einige<br />

Klippen liegen im Versicherungsaufsichtsrecht<br />

selbst. So sind vor allem die Grenzen,<br />

wie viel Kapital wir auf welche Art in Energie<br />

und Infrastruktur investieren dürfen,<br />

zu eng gesetzt. Viele dieser Projekte sind<br />

vom Risiko her gut überschaubar; zudem<br />

haben wir unser Risikomanagement in den<br />

letzten Jahren deutlich professionalisiert.<br />

Deshalb könnte der Gesetzgeber unser<br />

zulässiges Anlagespektrum verbreitern,<br />

ohne dass dies zu Lasten der Sicherheit der<br />

Kapitalanlage ginge. Die spezifischen Risiken<br />

sollten sich dann auch in geringeren<br />

Eigenkapitalanforderungen niederschlagen,<br />

die Versicherer künftig nach europäischem<br />

Recht erfüllen müssen.<br />

Manche Hürden sind aber auch<br />

„Kollateralschäden“ anderer Regulierungen.<br />

Ein Beispiel: Aufgrund der geltenden<br />

Entflechtungsvorschriften darf heute<br />

prinzipiell ein Investor, der an einem<br />

portugiesischen Stromnetz beteiligt ist,<br />

in Deutschland keinen Windpark mehr<br />

finanzieren. Dadurch reduzieren sich die<br />

Investitionsmöglichkeiten deutlich. Die an<br />

sich sinnvollen Vorschriften treiben hier<br />

ungewollte Blüten, denn Finanzinvestoren<br />

verfolgen keine strategischen Interessen<br />

im Energiemarkt und standen bei Einführung<br />

der Gesetze auch nicht im Fokus. Der<br />

Gesetzgeber sollte die Vorschriften <strong>des</strong>halb<br />

pragmatischer auslegen, um private Investoren<br />

aus einem unnötigen „Entweder/<br />

oder“-Konflikt zu befreien.<br />

Gibt es aus der Sicht der Versicherungswirtschaft<br />

kreative Lösungen, neue<br />

Partnerschaften o.Ä., die wir im Interesse<br />

einer gelingenden Energiewende<br />

erproben sollten?<br />

Erdland Die Energiewende steht und<br />

fällt mit der Frage, inwieweit es gelingt,<br />

die Risiken für neue Technologien so weit<br />

wie möglich zu reduzieren. Risikominimierung<br />

muss zum Leitbild für Windparks<br />

und deren Infrastruktur werden, um<br />

Milliardenschäden zu verhindern, Versicherungsprämien<br />

zu stabilisieren und Versorgungssicherheit<br />

zu gewährleisten. Versicherer<br />

haben hier großes Know-how:<br />

Konkrete Vorschläge, welche Anforderungen<br />

schon bei der Planung neuer Anlagen<br />

berücksichtigt werden müssen, haben wir<br />

mehrfach in die politische Diskussion eingebracht<br />

und zuletzt nochmals auf der<br />

Hannover Messe bekräftigt. Beispielsweise<br />

sollten <strong>Netz</strong>anschlusskabel künftig in größerer<br />

Tiefe verlegt werden. Auch der Abstand<br />

der Konverterplattformen untereinander<br />

ist zu vergrößern. Politik und<br />

Energiewirtschaft müssen sich mit unseren<br />

Forderungen noch intensiver auseinandersetzen.<br />

Es geht hier nicht um technische<br />

Feinheiten, sondern um die Stabilität<br />

der Energieversorgung für die kommenden<br />

Jahre und Jahrzehnte.<br />

Energiemarkt der Zukunft Streitfragen 02|2013 23


Baustelle<br />

Struktur-<br />

anpassung<br />

Jürgen Schleier<br />

ist Geschäftsführer der Wasserwerke<br />

Zwickau GmbH. Der kommunale Betrieb<br />

ist für die Trinkwasserversorgung und<br />

Abwasser beseitigung von 210 000 Menschen<br />

in der Region zuständig.


› Die<br />

Deutschen werden älter und weniger – so weit, so bekannt.<br />

Doch in den östlichen Bun<strong>des</strong>ländern trifft es einige<br />

Regionen besonders hart. Das stellt die Wasserversorger<br />

vor neue Herausforderungen. Das Beispiel Zwickau zeigt:<br />

Gegensteuern ist möglich.<br />

Herr Schleier, ist der demografische Wandel in Mitteldeutschland<br />

besonders ausgeprägt? Welche Auswirkungen hat das?<br />

Jürgen Schleier Der demografische Wandel betrifft unser<br />

gesamtes Land, wobei regional große Unterschiede zu verzeichnen<br />

sind. Sicherlich sind die neuen Bun<strong>des</strong>länder auch aufgrund<br />

der Abwanderungswellen nach der politischen Wende besonders<br />

betroffen. Dabei sind auch zum Beispiel in Sachsen mit <strong>Dr</strong>esden<br />

und Leipzig Zentren mit wieder zunehmendem Bevölkerungsanteil<br />

zu verzeichnen und andere Regionen haben mit starkem<br />

Rückgang zu kämpfen. Die Auswirkungen betreffen alle Lebensbereiche<br />

– von der öffentlichen Infrastruktur bis zum Fachkräftemangel.<br />

Wie sind die weiteren Prognosen? Nimmt die Bevölkerungszahl<br />

weiter ab?<br />

Schleier Leider zeigen die Prognosen, dass sich der Rückgang<br />

und die Überalterung der Bevölkerung fortsetzen werden.<br />

Durch den Weggang vieler junger Menschen aus Ostdeutschland<br />

in den 90er Jahren fehlen Familien und es werden weniger Kinder<br />

geboren. Daher ist auch mit einer Trendumkehr kaum zu rechnen.<br />

Wie reagiert die Branche?<br />

Schleier Die Ver- und Entsorgungsinfrastruktur muss immer<br />

in der Lage sein, den Anforderungen der Menschen gerecht<br />

zu werden. Da der Rückgang der Bevölkerung jedoch ein Prozess<br />

ist, der sich über einen langen Zeitraum erstreckt, muss die Verund<br />

Entsorgungsbranche langfristig planen und entsprechende<br />

Konzepte erstellen. Hierzu gehört auch die Anpassung der Tarifmodelle,<br />

wie sie der Praxisleitfaden <strong>des</strong> BDEW erörtert. Oberstes<br />

Gebot bleibt bei der Trinkwasserversorgung die qualitativ einwandfreie<br />

Lieferung <strong>des</strong> Lebensmittels Nummer eins. Die Erarbeitung<br />

von Spülzyklen, Strategien zur Nach<strong>des</strong>infektion, aber<br />

auch eine entsprechende Kommunikation in der Öffentlichkeit<br />

sind daher genauso wichtig wie Dimensionsverringerung oder<br />

Herstellung von Ringschlüssen bei Ersatzbaumaßnahmen.<br />

Wie steuern Sie gegen?<br />

Schleier <strong>Im</strong> Versorgungsgebiet der Wasserwerke Zwickau<br />

GmbH stehen wir in engem Kontakt mit den Stadtplanern, um<br />

den Stadtumbau wie zum Beispiel den Rückbau von unattraktiven<br />

Wohnquartieren im Sinne einer sicheren Ver- und Entsorgung<br />

mit zu begleiten. Bei notwendigen Ersatzbaumaßnahmen, egal ob<br />

im Trinkwasserver- oder Abwasserentsorgungssystem, werden<br />

konsequent die Nenndurchmesser angepasst. Durch den stufen­<br />

26 Streitfragen 02|2013 wasserwirtschaft


weisen Ausbau der Zentralen Kläranlage Zwickau konnten wir<br />

auch auf die Entwicklung gut reagieren. Ein weiterer wichtiger<br />

Aspekt war die Änderung unseres Preismodells im Jahr 2005. Dabei<br />

sind wir auf das sogenannte Wohneinheitenmodell umgestiegen<br />

und konnten eine Stärkung <strong>des</strong> Grundpreisanteiles erreichen.<br />

Bei einer Kostenverteilung von 80 Prozent fixen und 20 Prozent<br />

variablen Kosten sowie rückläufigen Absatzmengen ist aus unserer<br />

Sicht ein höherer Grundpreis und eine Verbreiterung der Bezugsbasis<br />

ein geeignetes Instrument für die wirtschaftliche Stabilität<br />

unseres Unternehmens. Informationen über unsere Arbeit,<br />

etwa Tage der offenen Tür oder die Zusammenarbeit mit Schulen,<br />

die wir seit Jahren pflegen, gehören auch dazu.<br />

Sollte die Politik eingreifen?<br />

Schleier Die Politik kann und muss entsprechende Rahmenbedingungen<br />

schaffen. Neben der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

als Grundlage gehören zweifellos auch die „weichen Standortfaktoren“<br />

wie Familienfreundlichkeit, Bildungsmöglichkeiten, Kultur,<br />

Sport, Gesundheit und Freizeit dazu. Denen kommen die politisch<br />

Verantwortlichen sicherlich in den meisten Gebieten unseres<br />

Lan<strong>des</strong> auch nach.<br />

Ein wichtiger Auftrag der „großen Politik“ sollte es sein, die<br />

Ausgewogenheit zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen<br />

Verbraucherschutz und finanzieller Verbraucherbelastung zu<br />

wahren.<br />

»Ein wichtiger Auftrag<br />

der ‚groSSen Politik‘<br />

-<br />

sollte es sein, die Aus<br />

-<br />

gewogenheit zwi<br />

schen Ökologie und<br />

Ökonomie, zwischen<br />

Verbraucherschutz<br />

-<br />

und finanzieller Ver<br />

braucherbelastung<br />

zu wahren.«<br />

wasserwirtschaft Streitfragen 02|2013<br />

27


Vertrauen ist gut? Kommandowirtschaft ist besser! So lautet das<br />

Credo von <strong>Dr</strong>. <strong>Regulus</strong>. Er will das Richtige. Dafür tut er aber zu<br />

oft das Falsche. Der Mensch ist schwach und dumm und braucht<br />

die feste Hand <strong>des</strong> Regulierers — so ist sein Auftrag. Dem Markt<br />

misstraut <strong>Dr</strong>. <strong>Regulus</strong> zutiefst. Der Dirigismus-Champion hat ein<br />

klares Ziel: die Herrschaft über die ganze Energiewelt. Darunter<br />

macht er es nicht. Aber erst, wenn Marketman ihm ins <strong>Netz</strong><br />

gegangen ist, kann er die Macht übernehmen.<br />

Streitfragen 02|2013 29


30<br />

»Die vorhandenen<br />

Instrumente bringen<br />

keine Trendwende.«<br />

»Wir können unsere<br />

Einsparziele erreichen.«


› Energieeffizienz<br />

ist nicht nur<br />

eine tragende Säule der Energiewende<br />

in Deutschland. Auch<br />

die EU hat in einer neuen Richtlinie<br />

verbindliche Ziele formuliert.<br />

Wie kann Deutschland<br />

diese Vorgaben erfüllen? Prof.<br />

Peter Hennicke, ehemaliger<br />

Präsident <strong>des</strong> Wuppertal Institut,<br />

und Stephan Kohler von<br />

der Deutschen Energie-Agentur<br />

vertreten gegensätz liche Auffassungen.<br />

Herr Prof. Hennicke, Herr Kohler, laut EU-Energieeffizienzrichtlinie<br />

müssen alle Mitgliedsstaaten<br />

zwischen 2014 und 2020 den Energieverbrauch<br />

jährlich um 1,5 Prozent senken. Gemessen wird das<br />

am Absatzvolumen der Energiewirtschaft. Kann<br />

Deutschland dieses Ziel erreichen?<br />

Prof. <strong>Dr</strong>. Peter Hennicke Ich finde das Ziel<br />

gar nicht besonders ambitioniert. Wirklich ehrgeizige<br />

Ziele setzt das Energiekonzept der Bun<strong>des</strong>regierung:<br />

Bis 2050 soll der Primärenergieverbrauch um 50 Prozent<br />

sinken. Dazu müssten wir die Energieproduktivität<br />

jährlich um durchschnittlich 2,1 Prozent pro Jahr<br />

steigern. Szenarienstudien sagen: Das ist machbar,<br />

allerdings nur mit zusätzlichen Maßnahmen.<br />

Stephan Kohler Deutschland ist zwar im Weltmaßstab<br />

schon eine der effizientesten Volkswirtschaften,<br />

aber wir halten das Einsparziel von 1,5 Prozent für<br />

machbar. Wir müssen es sogar schaffen, denn nur mit<br />

höherer Energieeffizienz kann die Energiewende<br />

gelingen.<br />

Herr Prof. Hennicke, Deutschland hat bisher vorrangig<br />

auf marktwirtschaftliche Instrumente gesetzt,<br />

um die Energieeffizienz zu erhöhen. Sie dagegen<br />

treten für eine stärkere Reglementierung<br />

ein: Sie wollen die Energieversorger verpflichten,<br />

bei den Kunden für Einsparungen zu sorgen.<br />

Warum?<br />

Hennicke Die Debatte „Markt oder Regulierung?“<br />

halte ich für eine Gespensterdebatte. Es geht um die<br />

Frage, wie wir die ambitionierten Ziele der Energiewende<br />

am schnellsten und kosteneffektivsten erreichen.<br />

Markt und Regulierung sind lediglich Mittel, sie<br />

sind nicht das Ziel. Wir haben schon viele sinnvolle<br />

Regulierungen, etwa die Energieeinsparverordnung<br />

und die Subventionsprogramme der KfW. Wir sollten<br />

nicht den Gegensatz zwischen Markt und Regulierung<br />

aufbauen, denn erst durch Regulierung im Sinne von<br />

verbindlichen Rahmenbedingungen wird der Markt<br />

für Energiedienstleistungen funktionsfähig.<br />

Aber wieso sollen ausgerechnet die Energieversorger<br />

verpflichtet werden, ihre Kunden zum Sparen<br />

zu ermuntern?<br />

Hennicke Die Energieeffizienz-Richtlinie schreibt<br />

vor, dass die EU-Staaten Verpflichtungssysteme für<br />

jährliche Reduktionsziele einrichten müssen – Verpflichtete<br />

können auch die Energieanbieter sein. Die<br />

Frage ist: Wie setzen wir es um? Ich möchte den natürlichen<br />

Gegensatz auflösen zwischen den Unternehmen,<br />

die Strom und Wärme verkaufen wollen, und<br />

ihren Kunden, für die sich das Sparen lohnen würde.<br />

Wenn wir nichts tun, arbeiten die Versorger still­<br />

32<br />

Streitfragen 02|2013 Fokus Energieeffizienz


»Um die Effizienzziele<br />

zu erreichen,<br />

benötigen wir<br />

einen nationalen<br />

Kümmerer und<br />

verbindliche Einsparziele.«<br />

»Wir brauchen<br />

keinen Systemwechsel<br />

– wir<br />

müssen die vorhandenen<br />

Instrumente<br />

besser nutzen.«<br />

schweigend weiter auf Absatzmaximierung hin. Ein<br />

klug gestaltetes Verpflichtungs- und Anreizsystem<br />

bindet sie als Marktöffner für Energiedienstleistungen<br />

ein, ohne dass sie gegen ihre wirtschaftlichen Interessen<br />

handeln müssen.<br />

Kohler Eine Verpflichtung der Energieversorger<br />

lehne ich strikt ab. Denn das würde den Markt verzerren.<br />

Teil <strong>des</strong> Vorschlags ist ja, dass die Versorger die<br />

Kosten ihrer Effizienzprogramme über die <strong>Netz</strong>entgelte<br />

refinanzieren. Wir wollen aber, dass alle, die Leistungen<br />

zur Steigerung von Energieeffizienz anbieten,<br />

dieselben Chancen haben. Ich habe überhaupt nichts<br />

dagegen, wenn ein Versorger solche Angebote freiwillig<br />

und auf eigene Kosten macht. Aber wenn er seine<br />

Kosten per Umlage decken kann, sind alle anderen Anbieter<br />

im Nachteil, die das nicht können. Handwerker,<br />

Ingenieurbüros und Contracting-Anbieter haben keine<br />

Chance mehr. Die Effizienzmärkte müssen so gestaltet<br />

werden, dass die vielfältig kreativen und innovativen<br />

Projekte sich optimal entfalten können.<br />

Spar-Verpflichtungen für Energieversorger gelten<br />

schon in Großbritannien, Frankreich, Dänemark<br />

und in mehr als 20 Bun<strong>des</strong>staaten der USA. Können<br />

wir von diesen Beispielen gar nichts lernen?<br />

Kohler Die Effektivität und die Umsetzungseffizienz<br />

sprechen ebenfalls dagegen. Wir haben das untersucht:<br />

Die Verpflichtungssysteme in anderen europäischen<br />

Ländern sind nicht effizienter als unser<br />

markwirtschaftlicher Ansatz in Deutschland. Natürlich<br />

wissen wir, dass unser Markt für Leistungen zur<br />

Steigerung der Energieeffizienz nicht vollkommen ist.<br />

Deshalb wollen wir mehr Eigenverantwortlichkeit,<br />

viel Markttransparenz, ein gutes Beratungsangebot<br />

und ein einheitliches Förderregime. Dann bekommen<br />

wir einen Markt, der sich selbst organisiert.<br />

Herr Prof. Hennicke, Sie fordern zusätzliche Anstrengungen<br />

zur Steigerung der Energieeffizienz.<br />

Beispielsweise soll ein neuer Fonds gebildet werden,<br />

der durch einen Aufschlag auf den Energiepreis<br />

gespeist wird. Welche Funktion soll dieser<br />

Fonds übernehmen?<br />

Fokus Energieeffizienz Streitfragen 02|2013 33


Hennicke Ich bestreite, dass ein Umlagesystem<br />

den Markt verzerrt oder sich in anderen europäischen<br />

Ländern und in den USA nicht bewährt hat. Der Aufschlag<br />

sollte 0,2 Cent pro Kilowattstunde Gas und<br />

Strom betragen. Das wäre marginal, etwa im Vergleich<br />

zur EEG-Umlage von mehr als 5 Cent. Der Fonds erhielte<br />

dadurch rund 1,5 Milliarden Euro jährlich, um<br />

Programme für effizientere Haushaltsgeräte, Wärmepumpen<br />

und die energetische Sanierung von Gebäuden<br />

auszuschreiben und mit Anreizen die Umsetzung<br />

zu beschleunigen. <strong>Im</strong> Wesentlichen dienen Umlage<br />

und Fonds also zur Vorfinanzierung und zum Abbau<br />

von Hemmnissen für die Steigerung von Energieeffizienz.<br />

Kohler Ein Fonds zur Vorfinanzierung? So etwas<br />

haben wir doch längst: das Gebäu<strong>des</strong>anierungsprogramm<br />

der KfW, das hervorragend läuft. Es muss nur<br />

noch besser finanziell ausgestattet werden.<br />

Herr Prof. Hennicke, Sie haben auch vorgeschlagen,<br />

eine neue Instanz zu schaffen: eine Energieeffizienz-Agentur.<br />

Welche Aufgaben würden Sie<br />

dieser Einrichtung übertragen?<br />

34<br />

Streitfragen 02|2013 Fokus Energieeffizienz


Stephan Kohler (links)<br />

ist Vorsitzender der Geschäftsführung der<br />

Deutschen Energie-Agentur (dena). Die dena<br />

versteht sich als Kompetenzzentrum für<br />

Energieeffizienz, erneuerbare Energien und<br />

intelligente Energiesysteme.<br />

Prof. <strong>Dr</strong>. Peter Hennicke<br />

leitete bis 2008 das Wuppertal Institut für<br />

Klima, Umwelt, Energie. Heute ist er der<br />

Einrichtung als Berater und Principal Advisor<br />

für eine weltweite Gebäudeeffizienzplattform<br />

verbunden.<br />

Hennicke Wir brauchen einen gesamtwirtschaftlich<br />

verantwortlichen Intermediär, der den Effizienzmarkt<br />

organisiert. Auf diesem Markt sind Hemmnisse<br />

heute nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wir haben<br />

weder Transparenz noch jemanden, der die gesamtwirtschaftliche<br />

Prozessverantwortung für die Erreichung<br />

der Energiesparziele trägt, noch haben wir<br />

Möglichkeiten, Energiesparprogramme für Tausende<br />

Anbieter und Millionen Nachfrager zu organisieren.<br />

Einer Energieeffizienz-Agentur könnten wir die Gesamtverantwortung<br />

für die Konzipierung und Ausschreibung<br />

solcher Programme übertragen.<br />

Kohler Also, wer soll denn jetzt verantwortlich<br />

sein fürs Erreichen der Einsparziele? Die neue Agentur<br />

oder die Energieversorger?<br />

Hennicke Wir brauchen zunächst einen nationalen<br />

Prozessverantwortlichen, das sollte die Agentur<br />

sein. Was die Verpflichtung der Versorger angeht, da<br />

lässt uns die EU-Energieeffizienzrichtlinie die Wahl,<br />

ob sie mitverantwortlich für die Umsetzung sein<br />

sollen. Ich meine: ja!<br />

Es gibt eine Reihe von Organisationen, die sich den<br />

sparsameren Umgang mit Energie auf die Fahne<br />

geschrieben haben. Die Deutsche Energie-Agentur<br />

gehört dazu, ebenso die Bun<strong>des</strong>stelle für Energieeffizienz.<br />

Wie sollte die Aufgabenteilung mit der<br />

neuen Instanz aussehen?<br />

Hennicke Ich vermute, dass bei Stephan Kohler<br />

die Urangst vorherrscht, dass eine Effizienz-Agentur<br />

irgendwie der dena ans Leder will …<br />

Kohler Ich bin da ganz gelassen, vielleicht werde<br />

ich ja Präsident der neuen Agentur … (lacht)<br />

Hennicke Eine „dena++“ und die Bun<strong>des</strong>stelle für<br />

Energieeffizienz könnten gebündelt den Nukleus einer<br />

Effizienz-Agentur bilden, allerdings mit verändertem<br />

Mandat und verantwortlich für die Umsetzung<br />

der verbindlichen Ziele aus der EU-Energieeffizienzrichtlinie.<br />

Kohler Die dena braucht keinen neuen Arbeitsauftrag,<br />

und der Effizienzmarkt braucht keine zentrale<br />

Stelle, sondern viele innovative Energiedienstleister.<br />

Wie gesagt haben wir schon das Gebäu<strong>des</strong>anierungsprogramm<br />

der KfW – das ist ein Effizienzfonds. Jeder,<br />

der Geld haben will von der KfW, braucht den bedarfsorientierten<br />

Energieausweis, den die dena entwickelt<br />

hat. Und er braucht einen qualifizierten Energieexperten.<br />

Diese Fachleute findet man in unserer Datenbank.<br />

Also: Wir haben vieles schon. Dass wir Nachbesserungsbedarf<br />

haben, gebe ich zu. Aber wir brauchen<br />

keinen Systemwechsel, wir brauchen eine Verbesserung<br />

der vorhandenen Instrumente.<br />

Herr Prof. Hennicke, Herr Kohler, in einem sind<br />

Sie sich offenbar einig: Die Bun<strong>des</strong>republik muss<br />

mehr tun, um Energie immer effizienter zu nutzen.<br />

Was erwarten Sie konkret von der Politik?<br />

Hennicke Als Erstes müsste die Politik klären:<br />

Welche Vor- und Nachteile haben Verpflichtungssysteme?<br />

Zweitens sollten wir überlegen, wer der zu Verpflichtende<br />

sein soll und welche Rolle die Energieanbieter<br />

dabei spielen sollen. Meine Position lautet: Man<br />

benötigt einen Kümmerer. Der braucht ein Mandat<br />

und Finanzen. Das vorhandene Instrumentarium<br />

muss ausgebaut und gebündelt werden – aber es reicht<br />

nicht, um die Trendwende beim Energiesparen herbeizuführen<br />

und um Energieanbieter dabei wettbewerbsneutral<br />

und verbindlich einzubinden.<br />

Kohler Die Politik muss endlich die Bedeutung<br />

der Energieeffizienz erkennen. Die Politik setzt immer<br />

noch sehr stark auf Erneuerbare Energien, da muss<br />

eine Umorientierung her. Dann brauchen wir eine einheitliche,<br />

verlässliche Energieeffizienz-Politik. Das bedeutet<br />

etwa ein KfW-Programm für die nächsten zehn<br />

Jahre, das jährlich 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung<br />

stellt. In derselben Größenordnung brauchen wir die<br />

steuerliche Abschreibung für Effizienzmaßnahmen.<br />

Wenn wir die Mittel aufstocken und die vorhandenen<br />

Instrumente besser nutzen, erreichen wir die Einsparziele<br />

der Bun<strong>des</strong>regierung.<br />

Fokus Energieeffizienz Streitfragen 02|2013 35


»Die gegenwärti gen<br />

Zertifikatspreise<br />

sind ein Problem,<br />

da sie Investitionen<br />

entschleunigen.«<br />

› Ob<br />

Kohlekraftwerke, Emissionshandel oder Subventionen für<br />

Erneuerbare Energien: <strong>Dr</strong>. Fatih Birol von der Internationalen<br />

Energieagentur betrachtet die Effekte über Ländergrenzen<br />

hinweg. Er warnt: Die niedrigen Preise für CO 2 -Zertifikate<br />

bremsen die nötigen Investitionen. Die Klimaschutzziele<br />

können nur erreicht werden, wenn im Jahr 2020 energieeffizientere<br />

Technologien oder Erneuerbare Energien umfänglich<br />

verfügbar sind.<br />

36<br />

Streitfragen 02|2013 Fokus Energieeffizienz


<strong>Dr</strong>. Fatih Birol<br />

ist Chefökonom der Internationalen Energieagentur<br />

(IEA). Hinter der IEA stehen<br />

28 Mitgliedsstaaten. Unter ihnen sind viele<br />

der führenden Industrienationen.<br />

Während der Ausbau der Erneuerbaren in<br />

Deutschland voranschreitet, steigt gleichzeitig die<br />

Kohleverstromung an. Ist die Energiewende am<br />

Ende schädlich für das Klima?<br />

<strong>Dr</strong>. Fatih Birol Es ist durchaus möglich, dass<br />

der Ausstieg aus der Kernenergie zu einer verstärkten<br />

Nutzung der Kohle zur Stromerzeugung führt. Nach<br />

vorläufigen Berechnungen ist das letztes Jahr in<br />

Deutschland teilweise auch so gewesen, obwohl auch<br />

die Nutzung der Erneuerbaren Energien anstieg. Aber<br />

das muss so nicht bleiben: ein verstärkter Ausbau von<br />

Erneuerbaren Energien oder mehr Energieeffizienz im<br />

Gebäu<strong>des</strong>ektor und in der Industrie sind sicherlich<br />

langfristig der klimaverträglichere Weg, um den Ausstieg<br />

aus der Kernenergie zu kompensieren. Aber das<br />

geht nicht von heute auf morgen und braucht Zeit, die<br />

wir vielleicht nicht haben, wenn wir unsere Klimaziele<br />

erreichen wollen. Wir haben gerade einen neuen Report<br />

„Redrawing the energy-climate map” im Rahmen<br />

unseres World Energy Outlooks veröffentlicht, in dem<br />

wir Vorschläge machen, wie die Tür zum Zwei-Grad-<br />

Ziel etwas länger offen gehalten werden kann. Energieeffizienz<br />

gehört dazu, aber Kohlekraftwerke nicht,<br />

zumin<strong>des</strong>t dann nicht, wenn sie ineffizient sind.<br />

Für den Klimaschutz gibt es ein System in Europa,<br />

das den Kohlendioxidausstoß deckelt. Ist der momentan<br />

sehr niedrige Preis für die Emissionszertifikate<br />

ein Problem?<br />

Birol Die Frage der CO 2 -Preise in Europa ist kompliziert,<br />

da die wirtschaftliche Lage hier eine gewichtige<br />

Rolle spielt. Wenn aufgrund der wirtschaftlichen<br />

Situation in Europa weniger CO 2 ausgestoßen wird,<br />

dann drückt das natürlich den Bedarf an Zertifikaten<br />

und den Preis. Für die Erreichung von Klimaschutzzielen<br />

im Jahr 2020 ist das erst mal nicht unbedingt<br />

ein Problem, da die wirtschaftliche Situation vermutlich<br />

zu geringer als erwarteten Emissionen führt und<br />

die Emissionsziele damit erreicht werden sollten.<br />

Aber im Jahr 2020 müssen energieeffizientere Technologien<br />

oder Erneuerbare Energien in großem Umfang<br />

verfügbar sein, wenn die Klimaschutzziele erreicht<br />

werden sollen. Insofern sind die gegenwärtigen Zertifikatspreise<br />

ein Problem, da sie nötige Investitionen<br />

für die im Jahr 2020 benötigten Technologien entschleunigen.<br />

Gleichzeitig stellen sich aber auch weitergehende<br />

Fragen im Umgang mit Zertifikatspreisen,<br />

zum Beispiel die Frage der Wettbewerbsfähigkeit der<br />

europäischen Industrie im globalen Kontext. Bei hohen<br />

Energiepreisen und einer möglichen Erhöhung<br />

der Zertifikatspreise stellt sich schnell die Frage nach<br />

einer reinen Verlagerung von Emissionen, Stichwort<br />

„Carbon Leakage“. Hier muss man Antworten finden.<br />

Grundsätzlich wird die Frage der Wettbewerbsfähigkeit<br />

vor dem Hintergrund der derzeitigen Entwicklung<br />

von Energiepreisen, unabhängig von den CO 2 -<br />

Preisen, ohnehin immer wichtiger. Wir befassen uns<br />

derzeit mit solchen Fragestellungen für den World<br />

Energy Outlook 2013, der im November erscheint.<br />

Sehen Sie eine Lösung, um die enormen Subventionen<br />

für die Erneuerbaren Energien in den Griff<br />

bekommen?<br />

Birol Subventionen in neue Technologien müssen<br />

zeitlich begrenzt sein und die Entwicklung am<br />

Markt muss genau beobachtet werden, um zu starke<br />

Subventionierung zu vermeiden. Das gilt natürlich<br />

auch für Erneuerbare Energien. Aber man darf auch<br />

nicht vergessen, dass Erneuerbare Energien eine gewisse<br />

Anschubhilfe benötigen, um ihren Weg in den<br />

Technologie-Mainstream zu finden. Und man darf<br />

auch nicht vergessen, dass die fossile Energienutzung<br />

heute noch sechsmal so viele Subventionen weltweit<br />

erhält wie Erneuerbare Energien: im Jahr 2011 waren<br />

das 523 Milliarden Dollar, verglichen mit 88 Milliarden<br />

für Erneuerbare Energien.<br />

Fokus Energieeffizienz Streitfragen 02|2013 37


<strong>Im</strong> Windpark ist die Hölle los: <strong>Dr</strong>. <strong>Regulus</strong><br />

wirft sein engmaschiges <strong>Netz</strong> und will Marketman<br />

und Liberty Girl zum Rückzug zwingen.<br />

Er sieht das üppige Wachstum seiner<br />

Schützlinge von den Zumutungen <strong>des</strong> Marktes<br />

bedroht. <strong>Dr</strong>. <strong>Regulus</strong> versteht nicht, dass<br />

Marketman ebenso für die neuen Energien<br />

kämpft — aber in einer neuen, freiheitlichen<br />

Ordnung! Noch behält er die Kontrolle. Mit<br />

der unerschöpflichen Energie <strong>des</strong> Win<strong>des</strong> im<br />

Rücken kann er sich durchsetzen — jedenfalls<br />

bis zur nächsten Flaute.


Andreas Wagner (links)<br />

führt die Geschäfte der Stiftung Offshore-<br />

Windenergie. Ihr Ziel lautet, den Aufbau der<br />

Stromerzeugung auf See voranzutreiben.<br />

Jörg Müller<br />

ist Vorstandsvorsitzender der Enertrag AG.<br />

Das Unternehmen produziert Strom<br />

ausschließlich aus erneuerbaren Quellen.


Eine Frage der Zeit<br />

und der Kosten<br />

› Beim Bau von Windparks auf dem Meer sind viele Hürden<br />

zu überwinden: Die Maschinerie muss Salzwasser, Wellen<br />

und Stürmen trotzen, eine <strong>Netz</strong>anbindung erst geschaffen<br />

werden. Naturschützer melden Bedenken an, Investoren<br />

halten sich zurück. Sollen wir trotzdem weiter auf Windstrom<br />

aus der Nord- und Ostsee setzen? Ein Streitgespräch.<br />

Herr Wagner, die Bun<strong>des</strong>kanzlerin hat kürzlich<br />

den küstennahen Wind als die effizienteste Art der<br />

Gewinnung von Windenergie bezeichnet. Sehen<br />

Sie darin ein klares Signal der Bun<strong>des</strong>regierung<br />

für den Ausbau der Offshore-Windenergie?<br />

Andreas Wagner Ich hätte mir ein noch deutlicheres<br />

Signal gewünscht, vor allem nach der Diskussion<br />

um die Strompreisbremse. Wir erwarten von der<br />

Bun<strong>des</strong>regierung eine Klarstellung, wie sie mit den Verzögerungen<br />

umgehen will. Die sind zum einen beim<br />

<strong>Netz</strong>anschluss entstanden, zum anderen durch die Verunsicherung<br />

der Investoren. Man muss als Investor<br />

mehr als eine Milliarde Euro in die Hand nehmen, um<br />

einen Offshore-Windpark mit 300–400 Megawatt Leistung<br />

zu bauen. Da braucht es Planbarkeit, verlässliche<br />

politische Rahmenbedingungen und eine langfristige<br />

Perspektive.<br />

Herr Müller, Ihr Unternehmen produziert Strom<br />

in knapp 40 Windparks. Die liegen in Deutschland,<br />

Frankreich und Großbritannien – und an<br />

Land. Warum geht Enertrag nicht aufs Wasser?<br />

Jörg Müller Mein Geschäft ist preiswerte und<br />

langfristig sichere Energie. Als Anlagenbauer und<br />

Physiker halte ich Onshore-Windenergie für die vernünftigere<br />

Lösung, übrigens völlig unabhängig von<br />

politischen Rahmenbedingungen. Ich weiß natürlich,<br />

dass man auf hoher See Windräder bauen kann. Aber<br />

ich weiß auch, dass es an Land nur die Hälfte kostet,<br />

und ich bin mir ziemlich sicher, dass das dauerhaft so<br />

bleiben wird. Für mich bleibt da nur die Frage: Wann<br />

wollen wir uns Offshore leisten und warum?<br />

Fokus Erzeugung Streitfragen 02|2013 41


Herr Wagner, ist der Windstrom aus dem Meer<br />

wirklich doppelt so teuer wie der an Land erzeugte?<br />

Wagner Diese Rechnung stimmt allenfalls, wenn<br />

man die besten Landstandorte betrachtet, also die<br />

Windräder direkt hinter dem Deich. Aber in Bayern<br />

oder Baden-Württemberg sind die Produktionskosten<br />

für Windstrom in etwa dieselben wie auf dem Meer.<br />

Zwar sind die Installationskosten pro Megawatt auf See<br />

tatsächlich etwa doppelt so hoch wie an Land – aber ich<br />

habe auf dem Meer auch min<strong>des</strong>tens doppelt so hohe<br />

Stromerträge wie im Binnenland.<br />

Müller Offshore-Windkraft wird immer teurer<br />

bleiben als an Land erzeugter Windstrom. Darum frage<br />

ich: Warum wollen wir jetzt schon mit der Stromproduktion<br />

auf See anfangen? Wir sind mit dem Ausbau<br />

der Windkraft an Land noch nicht mal in der Mitte<br />

angekommen. Warum warten wir mit dem Ausbau in<br />

der Nord- und Ostsee nicht, bis wir das Potenzial an<br />

Land ausgeschöpft haben?<br />

Wagner Für mich sind auch die Technologieentwicklung<br />

und die industriepolitische Bedeutung der<br />

Offshore-Windkraft entscheidende Argumente. Wenn<br />

wir jetzt aussteigen würden, gingen die Jobs, das<br />

Know-how und die technologischen Entwicklungspotenziale<br />

verloren. Der Aufbau und die Wartung der<br />

Windparks in Nord- und Ostsee schafft Arbeit in<br />

strukturschwachen Küstenregionen. Und die Fertigung<br />

der Komponenten hat große Bedeutung für den<br />

deutschen Maschinen- und Anlagenbau. Es gibt europaweit<br />

Pläne für 40 000 Megawatt Offshore-Windenergie,<br />

da sollte die deutsche Industrie dabei sein!<br />

Bisher gestaltet es sich schwierig, den Strom vom<br />

Meer zu den Verbrauchern zu transportieren. Das<br />

Verlegen der Seekabel ist aufwändig und geht<br />

langsamer als geplant voran. An Land tun wir<br />

uns schwer mit dem Bau neuer Leitungen, die den<br />

Süden der Republik mit Windstrom von der Küste<br />

versorgen sollen. Sollten wir den Ausbau der<br />

Windkraft auf See überdenken?<br />

Müller Wir verbauen unendlich viel Geld im Meer,<br />

um die Windparks anzuschließen. Aber diese Leitungen<br />

braucht keiner außer den Erzeugern. An Land<br />

sieht das ganz anders aus. Ich frage mich schon lange:<br />

Warum denken wir so viel über <strong>Netz</strong>anbindungen in<br />

der Nord- und Ostsee nach, wenn wir dieselbe Energiemenge<br />

ein bisschen weiter östlich an Land zum halben<br />

Preis herstellen könnten? Ich sehe noch großes Potenzial<br />

in Ländern wie Polen, Rumänien und Bulgarien.<br />

Dort gibt es die nötigen Flächen. Dort leben Millionen<br />

von Menschen – die wären uns für eine Verstärkung<br />

und Verbesserung ihrer elektrischen <strong>Netz</strong>e sehr dankbar.<br />

Wagner Aber diese Länder haben auch einen eigenen<br />

Bedarf, weil sie ihre konventionellen und atomaren<br />

Kapazitäten irgendwann ablösen wollen. Polen<br />

verfolgt eigene Ziele für den Ausbau von Erneuerbaren<br />

Energien. Den dort erzeugten Strom werden Sie<br />

wird nicht ohne Weiteres für Deutschland nutzen können.<br />

Unsere Windparks in Nord- und Ostsee stehen<br />

sozusagen vor der eigenen Haustür, nicht Tausende<br />

Kilometer entfernt.<br />

Müller Von München nach Polen ist es nicht weiter<br />

als zur Nordseeküste. Wir als Unternehmen arbeiten<br />

jedenfalls daran, in Polen Windräder zu errichten.<br />

Herr Müller, gegen neue Windkraftwerke an Land<br />

regt sich häufig Widerstand. Wäre das nicht ein<br />

guter Grund, die Anlagen aufs Meer und hinter den<br />

Horizont zu verbannen?<br />

Müller Aus meiner Sicht haben wir da gar nicht<br />

das große Problem. 85 Prozent der Deutschen leben in<br />

mehr oder weniger großen Städten und Gemeinden.<br />

Die sehen die Windenergie-Anlagen so gut wie nie. In<br />

den wirklich ländlichen Gebieten leben die allerwenigsten.<br />

Aber die profitieren ungeheuer von der Windkraft<br />

– sie finden dadurch Arbeit. Übrigens finde nicht<br />

mal ich alle Windparks schön. Aber der Ausweg aus<br />

42<br />

Streitfragen 02|2013 Fokus Erzeugung


dieser „Verspargelung“ ist die große Maschine. Eine<br />

Maschine mit 240 Metern Gesamthöhe ersetzt Dutzende<br />

kleine Windräder. In Zukunft werden wir viel mehr<br />

solche großen Einzelanlagen haben und insgesamt<br />

viel weniger Maschinen als heute.<br />

Wagner Ich glaube nicht, dass die Bürger so viele<br />

große Onshore-Anlagen akzeptieren, dass man auf<br />

Offshore-Windparks verzichten kann.<br />

Müller Dann sollte man ihnen ehrlich sagen:<br />

Wenn ihr an Land eine Anlage weniger wollt und dafür<br />

eine mehr auf See, dann müsst ihr eben mehr bezahlen.<br />

Herr Wagner, Deutschland hat die Markteinführung<br />

der Photovoltaik und der Onshore-Windkraft<br />

über das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das<br />

EEG, mit Milliardenbeträgen gefördert. Warum<br />

soll der Stromkunde jetzt auch noch der Windkraft<br />

auf See beim Start helfen?<br />

Wagner Wenn wir über Solarenergie und Windräder<br />

an Land so diskutiert hätten wie heute über Offshore-Windkraft,<br />

hätten wir damit nie angefangen.<br />

Die Förderung der Stromerzeugung auf See wird außerdem<br />

wesentlich weniger kosten als die Unterstützung<br />

der Photovoltaik. Für Solarstrom gab es anfangs<br />

laut EEG 50 Cent Vergütung pro Kilowattstunde, Offshore-Windstrom<br />

erzeugen wir heute schon für maximal<br />

13 Cent – und wir sehen hier noch ein Kostensenkungspotenzial<br />

von min<strong>des</strong>tens 30 Prozent. Wir<br />

verlangen lediglich, dass man auch der Offshore-<br />

Windkraft die Zeit gibt, sich ökonomisch und technisch<br />

zu entwickeln.<br />

Letzte Frage: Bis 2020 sollen nach dem Willen der<br />

Bun<strong>des</strong>regierung in der Nord- und Ostsee Anlagen<br />

mit insgesamt 10 Gigawatt Leistung installiert<br />

sein. Bisher sind es rund 280 Megawatt. Andererseits<br />

liefert der erste deutsche Ostseewindpark<br />

mehr Strom als erwartet. Wie viel Offshore-Kapazität<br />

brauchen wir wirklich?<br />

Müller Wie gesagt bin ich sicher, dass wir den<br />

Strom an Land billiger produzieren können. Die Frage<br />

ist lediglich, wie viele Anlagen wir an Land sehen wollen<br />

und wie viel es uns wert ist, ein paar Anlagen aufs<br />

Meer zu stellen. Offshore-Windkraft wird immer nur<br />

einen Bruchteil der Energiemenge liefern können, die<br />

wir an Land erzeugen. Maximal werden es in Deutschland<br />

zehn oder 20 Prozent sein. Der Schlüssel zum<br />

Gelingen der Energiewende liegt bei der Onshore-<br />

Windkraft!<br />

Wagner Derzeit sind Offshore-Anlagen mit etwa<br />

drei Gigawatt Leistung in Bau, das ist mehr als das<br />

Zehnfache der vorhandenen Kapazität. Aber von der<br />

Vorstellung, man könne zehn Gigawatt bis 2020 installieren,<br />

haben sich meines Wissens inzwischen fast alle<br />

Beteiligten verabschiedet. Ich rechne nur noch mit<br />

sechs bis acht Gigawatt – und wenn die Politik nicht<br />

schnell für Klarheit sorgt, könnte es noch weniger werden.<br />

Am Ziel der Bun<strong>des</strong>regierung, 25 Gigawatt in den<br />

nächsten 20 Jahren zu installieren, sollten wir dagegen<br />

festhalten. Denn für mich ist Offshore-Windkraft die<br />

Basis für den ausgewogenen und nachhaltigen Energiemix,<br />

den der Industriestandort Deutschland benötigt.<br />

»Offshore-<br />

Windkraft<br />

bringt<br />

technologischen<br />

Vorsprung.«<br />

»Die erzeugung<br />

an Land wird<br />

immer billiger<br />

sein als auf<br />

See.«<br />

Fokus Erzeugung Streitfragen 02|2013 43


»Grüner Strom<br />

muss kontinuierlich<br />

preiswerter<br />

werden.«<br />

› Für<br />

einen Hersteller von Erzeugungsanlagen und <strong>Netz</strong>technik<br />

bringt die Energiewende neue Chancen. So kann<br />

sich Alf Henryk Wulf von Alstom für Deutschland ein<br />

weltweit einzigartiges <strong>Netz</strong> neuer Stromautobahnen vorstellen.<br />

Unterscheiden Sie aufgrund der Energiewende in Deutschland<br />

zunehmend den deutschen vom internationalen Markt?<br />

Gehen Sie hier anders vor als in anderen Ländern?<br />

Alf Henryk Wulf Alstom Deutschland als Teil <strong>des</strong> globalen<br />

Alstom-Konzerns entwickelt und fertigt Anlagen, die überall auf<br />

der Welt zum Einsatz kommen können, und oft sind Vorteile für<br />

einen Markt auch in anderen Märkten nützlich. Nehmen wir die<br />

Windkraft: Eine Anlage, die an einem deutschen Standort eine<br />

gute Stromausbeute liefert, wird dies auch in anderen Regionen<br />

mit vergleichbaren Winddaten tun. Aus Vertriebssicht ist der<br />

deutsche Markt jedoch ein besonderer. Für viele langfristige Investments<br />

fehlt derzeit ein verlässlicher Rahmen, daher sind zum<br />

Beispiel große Kraftwerksneubauten hierzulande selten, obwohl<br />

sie dringend erforderlich wären. Dafür werden derzeit mehr Anlagen<br />

ertüchtigt, weswegen sich unser Servicegeschäft in Deutschland<br />

zufriedenstellend entwickelt.<br />

Wie lassen sich konventionelle Kraftwerke heute rentabel<br />

betreiben? Reicht ein hoher Wirkungsgrad aus?<br />

Wulf Ein hoher Wirkungsgrad ist erstrebenswert, sichert<br />

aber nicht die Wirtschaftlichkeit. Thermische Großkraftwerke, die<br />

vor Jahren als Grundlastanlagen mit hoher Auslastung rund um<br />

die Uhr gearbeitet haben, müssen ihre Leistungsabgabe heute<br />

mehrmals täglich ändern. Diese Flexibilität stresst die thermisch<br />

belasteten Komponenten <strong>des</strong> Kraftwerks stärker, so dass sie ent­<br />

44<br />

Streitfragen 02|2013 Fokus Erzeugung


Alf Henryk Wulf<br />

ist Vorsitzender <strong>des</strong> Vorstands der Alstom<br />

Deutschland AG. Alstom ist weltweit in den<br />

Bereichen thermische Kraftwerke, Erneuerbare<br />

Energien, Stromtransport und Schienenverkehrstechnik<br />

aktiv.<br />

sprechend optimiert sein müssen. Gefragt ist auch eine größere<br />

Regelungsbandbreite, damit die Kraftwerke bei einer niedrigen<br />

Stromproduktion sicher und wirtschaftlich laufen. Die Rentabilität<br />

hängt auch stark von den Preisen der Strombörse ab, die wiederum<br />

durch das wetterbedingte Angebot an Wind- und Photovoltaikstrom<br />

geprägt werden. Bei den geringen Preisen der<br />

jüngsten Vergangenheit und der hohen Volatilität <strong>des</strong> Marktes ist<br />

der Einsatz eines Kraftwerks umso rentabler, je flexibler es in diesem<br />

Markt eingesetzt werden kann.<br />

Für viele Anlagen aus dem Bereich Erneuerbare Energien sind<br />

die Preise stark gesunken. Wie steht es um die Rendite?<br />

Wulf Wenn Sie auf die Rendite der Anlagenhersteller anspielen<br />

– diesbezüglich sind wir bei Alstom zufrieden, auch wenn es<br />

noch Entwicklungspotenzial gibt. Zum Beispiel konnten wir unsere<br />

Windkraftanlagen technisch optimieren und dabei die Standardisierung<br />

vorantreiben. Der damit verbundene Preisrückgang<br />

stärkt die Nachfrage, was sich wiederum kostendämpfend auf die<br />

Serienfertigung auswirkt. Die kontinuierliche Produktverbesserung<br />

ist ein fortlaufender Trend. Ich denke, dieser Trend gilt auch<br />

für viele andere Anbieter. Grüner Strom und das Investment in die<br />

erforderliche Technologien müssen und werden kontinuierlich<br />

preiswerter werden.<br />

Welche Innovationen brauchen wir in den Bereichen Erzeugung<br />

und <strong>Netz</strong>e? Welche neuen Lösungen sind aussichtsreich,<br />

wo muss noch weiter geforscht werden?<br />

Wulf <strong>Im</strong> Bereich Stromerzeugung stehen uns heute bereits<br />

viele Möglichkeiten offen. Sicherlich gibt es noch viel Neues zu<br />

entdecken, aber die Entwicklungen werden oft evolutionär sein.<br />

Größere Herausforderungen sehe ich in der <strong>Netz</strong>technik: Zum<br />

Beispiel entstehen Wind- und Sonnenstrom typischerweise nicht<br />

nahe den Ballungsgebieten, so dass Strom über längere Strecken<br />

zu den Endkunden transportiert werden muss. In Folge steigt die<br />

Blindleistung im Hochspannungsnetz, wodurch eine höhere<br />

Blindleistungskompensation erforderlich wird. Diese senkt den<br />

Blindleistungsanteil, um mehr Transportkapazität für den Wirkanteil<br />

<strong>des</strong> Stroms zu schaffen.<br />

Außerdem gewinnt die verlustärmere Hochspannungs-<br />

Gleichstrom-Übertragung, kurz HGÜ, mit steigender Transportentfernung<br />

an Bedeutung. Hier werden in Zukunft Gleichstromleistungsschalter<br />

HGÜ-Leitungen vernetzen und bei eventuellen<br />

Störungen <strong>Netz</strong>teile trennen. Vielleicht wird es dank dieser Innovation<br />

schon in wenigen Jahren ein deutsches Gleichstromnetz<br />

geben, möglicherweise das erste weltweit.<br />

Essenziell für die Energiewende ist außerdem das Smart<br />

Grid. Durch den Austausch von Informationen zwischen Erzeuger-,<br />

<strong>Netz</strong>betreiber- und Verbraucherseite können Erzeugung<br />

und Verbrauch besser koordiniert und die Energieversorgung<br />

kostenoptimiert werden. Zudem dient das Smart Grid der Versorgungssicherheit.<br />

Blicken wir auf die Unternehmen der Energiewirtschaft: Welches<br />

Markt<strong>des</strong>ign für Anlagen im Bereich der Erneuerbaren<br />

Energien könnte aus Ihrer Sicht zukünftig funktionieren?<br />

Wulf Die Marktmechanismen müssen einfacher und die Bedingungen<br />

für Investoren verlässlicher sein. Und sie müssen eine<br />

europäische Perspektive haben, denn mit fortschreitender Energiewende<br />

sind wir immer stärker auf den Stromaustausch mit den<br />

Nachbarländern angewiesen. Zum einen wünsche ich mir, dass<br />

der Aufbau von Erzeugungskapazitäten unabhängig von der<br />

Technologie erfolgen kann. Dazu benötigen wir eine Neufassung<br />

<strong>des</strong> EEG, die den Wettbewerbscharakter stärkt und dafür sorgt,<br />

daß in die Kraftwerkskapazitäten investiert werden kann, die wir<br />

zur Stabilität unserer Stromversorgung benötigen. In einem neu<br />

gefassten EEG reicht es nicht mehr aus, nur den tatsächlich produzierten<br />

Strom zu bepreisen, sondern auch einen Markt für die<br />

Bereitstellung von Leistung zu erzeugen. Dazu ist es erforderlich,<br />

dass Strom zu Zeiten, in denen keine regenerative Energie zur Verfügung<br />

steht, deutlich teurer werden darf !<br />

Um die Dekarbonisierung der Stromerzeugung voranzutreiben,<br />

haben wir mit dem europäischen Emissionshandel bereits<br />

ein sinnvolles Instrument. Es hat jedoch durch Preise von<br />

wenigen Euro pro Tonne CO 2 an Wirkung eingebüßt. Daher müssen<br />

überschüssige Emissionserlaubnisse vom Markt verschwinden.<br />

Und es ist an der Zeit, den von der Europäischen Kommission<br />

vorgeschlagenen geänderten Zeitplan für die Versteigerung<br />

von Zertifikaten umzusetzen. Das würde der Energiewende in<br />

Deutschland und Europa neue <strong>Im</strong>pulse geben.<br />

Fokus Erzeugung Streitfragen 02|2013 45


› „Der<br />

Erneuerbare Energien<br />

BDEW und die Erneuerbaren. Diese Beziehung<br />

ist nicht konfliktfrei. Deshalb ist es gut, dass der BDEW<br />

eigens eine Stabsstelle für Erneuerbare Energien<br />

eingerichtet hat.<br />

Die Erneuerbaren Energien haben einen Anteil am deutschen<br />

Strommix erreicht, der es notwendig macht, den Ausbau noch<br />

zielgerichteter voranzutreiben, atomare und CO 2 -emittierende<br />

Kraftwerke wirkungsvoll zurückzudrängen und den Umbau zu einer<br />

erneuerbaren und dezentralen Energieversorgung wirkungsvoll<br />

umzusetzen.<br />

Aufgrund der hohen Geschwindigkeit der Veränderungen<br />

ist Besonnenheit aber mehr gefragt als ein vermeintlicher Befreiungsschlag.<br />

Der Königsweg liegt darin, schrittweise voranzugehen<br />

und alle Systembestandteile sukzessiv anzupassen, die vielen<br />

guten Ideen aus den Unternehmen zu einem System zusammenzufügen.<br />

Das gilt für rechtliche Bedingungen ebenso wie für technologische<br />

und kaufmännische Fragen.<br />

Die wichtige Aufgabe <strong>des</strong> BDEW mit seiner neuen Stabsstelle<br />

ist es, diesen Umbau mit den Unternehmen aus dem Bereich der<br />

Erneuerbaren Energien gemeinsam konzeptionell und politisch<br />

zu befördern. Dabei kann auf starke und innovative mittelständische<br />

Privatunternehmen aus der Erneuerbaren-Branche gezählt<br />

werden. Das Wichtigste ist aber, dass diese Unternehmen sich im<br />

BDEW gut aufgehoben fühlen. Um sie mitzunehmen, sollte der<br />

Verband sich stärker den Interessen und Erfahrungen der Unternehmen<br />

öffnen. Die im Bereich der Erneuerbaren Energien tätigen<br />

Unternehmen können zum einen von der Professionalität und<br />

dem Know-how <strong>des</strong> BDEW profitieren, sie können sich aber zum<br />

anderen noch beherzter im BDEW engagieren, um den Verband<br />

aktiv mitzugestalten.<br />

Die Energiewende ist nur gemeinsam zu schaffen – gehen<br />

wir also mutig voran.“<br />

dr. martin grundmann<br />

ist Geschäftsführer der ARGE <strong>Netz</strong> GmbH & Co. KG, in<br />

der sich die schleswig-holsteinischen Erzeuger von<br />

Erneuerbaren Energien zusammengeschlossen haben.<br />

BDEW-<br />

STABSSTELLE FÜR<br />

ERNEUERBARE<br />

ENERGIEN<br />

Mit seinem Beschluss zur Gründung der neuen Stabsstelle hat der BDEW-Vorstand einen entscheidenden Schritt unternommen,<br />

den Verband zu einer Plattform auch für Unternehmen aus dem Bereich Erneuerbare Energien weiterzuentwickeln.<br />

46<br />

Streitfragen 02|2013 Fokus Erzeugung


<strong>Dr</strong>. Dieter Steinkamp<br />

ist seit 2009 Vorstandsvorsitzender der<br />

RheinEnergie AG. Das Unternehmen versorgt<br />

rund 2,5 Millionen Menschen mit Energie<br />

und Trinkwasser.<br />

Energie macht Schule<br />

› Ziel<br />

der neuen Internetseite www.energie-macht-schule.de<br />

ist, die Diskussionen zur Energiewende und zum Energiemix<br />

der Zukunft anzuregen und das Urteilsvermögen der<br />

Schülerinnen und Schüler in diesen Themenfeldern zu<br />

stärken. <strong>Dr</strong>. Steinkamp unterstützt das Projekt <strong>des</strong> BDEW.<br />

Die Schülerinnen und Schüler von<br />

heute werden die Energiewende umsetzen<br />

und vollenden müssen. Wie können<br />

wir sie heute darauf vorbereiten?<br />

<strong>Dr</strong>. Dieter Steinkamp Energie ist<br />

schwierig zu „be-greifen“, schon für Erwachsene<br />

und damit erst recht für Kinder<br />

und Jugendliche. Daher suchen wir bei der<br />

RheinEnergie mit unserem Service Schule<br />

& Bildung ständig neue Wege, um den jungen<br />

Menschen einen praktischen Zugang<br />

zur Energie zu verschaffen. Dabei arbeiten<br />

wir eng mit den Schulen zusammen. Wir<br />

versuchen, für den effizienten Umgang mit<br />

Energie zu sensibilisieren, für Erneuerbare<br />

Energie zu begeistern und zu ermuntern,<br />

unsere Ideen und Pläne von heute für morgen<br />

weiterzuentwickeln. So bieten wir in<br />

Grund- und weiterführenden Schulen<br />

Energieunterricht an, unterstützen über<br />

den von uns initiierten Kölner Klimakreis<br />

sogenannte „Klimabausteine“ für Bildungsprojekte<br />

oder betreiben im Kölner<br />

Zoo einen spannenden Energie- und Wasserlehrpfad<br />

zum Mitmachen.<br />

Findet die RheinEnergie aktuell ausreichend<br />

qualifizierten Nachwuchs für die<br />

anstehenden Aufgaben?<br />

Steinkamp Das Interesse, in unserem<br />

RheinEnergie-Team mitzuarbeiten, ist<br />

glücklicherweise nach wie vor hoch. Wir<br />

haben viele gute, interessierte und wirklich<br />

clevere junge Leute in der Ausbildung<br />

und auch in den Fachbereichen. Wir statten<br />

sie mit dem Rüstzeug aus, das sie für<br />

ihre anspruchsvolle Aufgabe benötigen.<br />

Ich bin überzeugt davon, dass alle Unternehmen<br />

der Energieversorgungsbranche<br />

im engen Schulterschluss mit Schulen und<br />

Hochschulen zukünftig noch viel mehr erreichen<br />

können und müssen, um Jugendlichen<br />

konkretes Fachwissen rund um die<br />

Energie und die Energiewende zu vermitteln.<br />

Apropos konkret: Vor allem in der<br />

Phase der Berufsorientierung ist es wichtig<br />

aufzuzeigen, welche vielfältigen interessanten<br />

Aufgabenfelder, Berufe und Perspektiven<br />

die Energiewirtschaft bietet.<br />

Warum beteiligt sich die RheinEnergie<br />

an www.energie-macht-schule.de?<br />

Steinkamp Das Internet bietet auch<br />

bei Energiethemen hervorragende Möglichkeiten,<br />

den „Digital Natives“ komplexe<br />

Zusammenhänge zu veranschaulichen.<br />

Wichtig ist es dabei, die immense Flut an<br />

Informationen zu filtern und eine Auswahl<br />

an sinnvollen Materialien zu treffen. Die<br />

Plattform www.energie-macht-schule.de<br />

bietet eine solche Auswahl und bündelt<br />

Nachschlagewerke, Experimente, Veranstaltungstipps,<br />

Filme und Wissensspiele<br />

für den Einsatz in Unterricht und Freizeit.<br />

Wir sind überzeugt von dieser gut strukturierten<br />

Plattform und hoffen, dass sie dazu<br />

ermuntert, einen spannenden Energieunterricht<br />

zu gestalten.<br />

Fokus Erzeugung Streitfragen 02|2013 47


Da hat <strong>Dr</strong>. <strong>Regulus</strong> seine Gegner wohl zu früh abgeschrieben.<br />

Marketman und Liberty Girl haben sich von allen<br />

Rückschlägen erholt. Die Einsicht in die Notwendigkeit<br />

einer neuen Marktordnung hat gesiegt! Alle übernehmen<br />

jetzt Verantwortung für das System, die Preise bilden sich<br />

transparent in Markt und Wettbewerb, und die Versorgung<br />

ist gesichert. Für heute hat das Gute die Oberhand<br />

behalten — Fortsetzung folgt.


Herausgeber<br />

BDEW<br />

Bun<strong>des</strong>verband der<br />

Energie- und<br />

Wasserwirtschaft e.V.

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