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Die apathische Revolution - Dr. Kai Schmidt-Soltau

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<strong>Die</strong> <strong>apathische</strong> <strong>Revolution</strong><br />

Grundlegung einer Praktischen Philosophie nach Marx<br />

von<br />

<strong>Kai</strong> <strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong><br />

Lit Verlag (Münster, Hamburg, London) 1998


Zum Geleit<br />

"‘Was ist aus den Regierungen geworden?'<br />

‘Der Überlieferung zufolge kamen sie immer mehr außer Gebrauch. Sie riefen zu Wahlen auf,<br />

erklärten Kriege, kassierten Steuern, beschlagnahmten Vermögen, befahlen Verhaftungen und<br />

bemühten sich, die Zensur durchzusetzen, doch niemand auf der Welt leistete ihnen Folge. <strong>Die</strong><br />

Presse hörte auf, ihre Beiträge und Bilder zu veröffentlichen. <strong>Die</strong> Politiker mußten sich nach<br />

ehrlichen Berufen umsehen; einige wurden gute Komiker oder gar Wunderheiler.‘"<br />

Jorge Luis Borges 1<br />

"Während das Scheitern eines Versuches der Vollendung zwangsweise negativ ist, ist das<br />

Scheitern eines Versuchs der Vernichtung zwangsweise lebenswichtig und positiv. So muß das<br />

Denken, das weiß, das es in jedem Fall scheitern wird, kriminelle Ziele anstreben. Ein<br />

Unternehmen, das positive Ziele anstrebt, kann sich ein Scheitern nicht erlauben. Eines, das<br />

kriminelle Ziele anstrebt, muß scheitern. <strong>Die</strong>s ist die wohltemperierte Praxis des Prinzips des<br />

Bösen. Wenn das System darin scheitert, nichts zu sein, dann wird etwas von ihm bleiben."<br />

Jean Baudrillard 2<br />

1 Borges, Jorge Luis; Utopie eines müden Mannes; in: ders.; Werke; Frankfurt/Main 1987ff.; Bd.13,<br />

S.163.<br />

2 Baudrillard, Jean; Das perfekte Verbrechen; München 1996; S.228.<br />

3


Inhaltsverzeichnis<br />

1. Einleitung<br />

2. Wegweiser auf der Suche nach einer praktischen<br />

Philosophie<br />

2.1. <strong>Die</strong> Zielkategorie einer Emanzipation: Wald, Bäume und das<br />

de facto<br />

2.2. Autoritäre versus "freiheitliche" Bewegung<br />

2.3. Aktionismus und <strong>Revolution</strong> versus Apathie und Zerfall<br />

2.4. Gibt es eine Alternative zum Bewußtsein des de facto? –<br />

Spekulationen und Erkenntnisse<br />

3. Eckpunkte der Emanzipation: Freiheit, Gleichheit,<br />

Solidarität<br />

3.1. Jenseits des Sachzwangs: Freiheit - Entfremdung und<br />

Selbstbefreiung des Individuums<br />

3.1.1. Natur und Mensch - Genese seines Wesens<br />

3.1.2. <strong>Die</strong> Freiheit in den Ketten der Entfremdung<br />

3.1.3. Teilung der Arbeit als Teilung der Freiheit<br />

3.1.4. Selbstbefreiung der Individuen als Selbstbefreiung der Gattung<br />

Mensch<br />

3.2. Gleichheit zwischen Mythos und Wirklichkeit<br />

3.2.1. Gleichheit und Gerechtigkeit - Zur Genese eines Ideals<br />

menschlicher Gemeinwesen<br />

3.2.2. Gleichheit und Natur<br />

3.2.3. Ausgangspunkt und Gegenstand des Gleichheitsideals<br />

3.2.4. Subjekte der Gleichheit<br />

3.2.5. Gleichheit im Reich der Freiheit<br />

3.2.6. Zu den Möglichkeiten der Gleichheit im Reich der Unfreiheit resp.<br />

des real-existierenden Kapitalismus<br />

3.3. Solidarität zwischen leerem Versprechen und ideologischer<br />

Vereinnahmung<br />

3.3.1. Solidarität: Eine Interaktionsform jenseits aller Freundschaft<br />

3.3.2. Solidarität und Brüderlichkeit: Besser solidarisch handeln als<br />

brüderlich teilen<br />

3.3.3. Solidarität als wechselseitige Beziehung der nach Emanzipation<br />

strebenden Menschen<br />

4. Praktische Philosophie nach Marx und das neue<br />

Jahrtausend<br />

5. Literaturverzeichnis<br />

S. 7<br />

S. 27<br />

S. 43<br />

S. 61<br />

S. 71<br />

S. 87<br />

S. 99<br />

S.103<br />

S.111<br />

S.128<br />

S.147<br />

S.180<br />

S.197<br />

S.201<br />

S.217<br />

S.229<br />

S.247<br />

S.263<br />

S.273<br />

S.285<br />

S.287<br />

S.293<br />

S.297<br />

S.317<br />

S.321<br />

5


"Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit<br />

oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell<br />

verstanden werden." Karl Marx 3<br />

1. Einleitung<br />

Zukunftsvisionen jenseits der marktvermittelten Ordnung und ihrer Sachzwänge sind aus der<br />

Mode gekommen. <strong>Die</strong> emanzipatorische Linke, die für über ein Jahrhundert Motor und<br />

Ausgangspunkt von alternativen Gesellschaftskonzepten war, scheint durch die eigene<br />

Niederlage entweder in den Hafen der aktiven - realpolitischen - Partizipation an den<br />

gegenwärtigen Seinsstrukturen oder zum konservativen Rekurs auf die tradierten Antworten<br />

einer untergegangenen Weltsicht – Anarchismus, Marxismus, etc. – getrieben worden zu sein:<br />

zwei politische Spielarten, die sich im Hinblick auf ihre emanzipatorische Potenz gleichen wie<br />

ein Ei dem anderen. Obwohl Visionen nicht en vogue sind, zeigt sich gleichzeitig, daß eine<br />

Weltgesellschaft, deren treibendes Moment das Primat der Ökonomie bleibt, die<br />

transformatorischen Möglichkeiten der technischen <strong>Revolution</strong> nicht in der Weise kontrollieren<br />

kann, daß die Überwindung der unmittelbaren materiellen Produktion als Zukunftschance für<br />

breite Teile der globalen Bevölkerung erfahrbar wird. Da die befreiende Potenz der<br />

Produktivitätssteigerung 4 erst dann zur Entfaltung gebracht werden kann, wenn<br />

gesellschaftliche Zeitersparung nicht länger gesellschaftliche Ausgrenzung ihrer unproduktiven<br />

Teile bedeutet, sondern positiv als Chance eines individuellen und gesellschaftlichen Genusses<br />

jedweder Interessen jenseits der deformierten Welt des Warenfetischismus verstanden wird,<br />

gilt es gerade, sich jener universellen Ideale "Freiheit, Gleichheit, Solidarität" zu erinnern, deren<br />

umfassende und ursprüngliche Bedeutung als ganzheitliche Konzepte eines erfüllten Lebens<br />

unter dem Primat der Ökonomie zu nebelhaften Sternen einer in Dunkelheit versinkenden Welt<br />

wurden. Ihre Integration in das Netz der Legitimationsideologien der wertvermittelten<br />

Ordnung, sowie ihre gebrochene Konservierung in anarchistischen und marxistischen Theorien<br />

verdeutlicht die Notwendigkeit einer Neufassung von praktischer Philosophie am Ausgang des<br />

20.Jahrhunderts, in deren Mittelpunkt nun endlich das ursächliche Subjekt der menschlichen<br />

Geschichte stehen soll: Der Mensch in seiner oft erschreckenden Ganzheit als<br />

vergesellschaftetes Individuum und als Individuum, das Gesellschaften schafft.<br />

Als erste Annäherung an das Projekt einer Neu-Konstruktion praktischer Philosophie im<br />

Sinne einer Verbindung von allgemein-menschlicher Emanzipation und individueller<br />

Bedürfnisbefriedigung werden im zweiten Kapitel dieser Studie jene Orte eines gebrochenen<br />

und verdrängten Bewußtseins des Menschen aufgesucht, die zumindest zu früheren Zeiten<br />

Kristallisationspunkte der an Veränderung Interessierten waren. <strong>Dr</strong>ei Problemkomplexe, die<br />

Anarchismus und marxsche Theorie voneinander trennen, werden dabei näher zu beleuchten<br />

und in Beziehung zum hier entwickelten Emanzipationskonzept zu setzen sein, da nach<br />

3 MEW 3,6.<br />

4 "Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produciren, desto mehr Zeit<br />

gewinnt sie zu andrer Production, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum<br />

hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Thätigkeit von Zeitersparung ab.<br />

Oekonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Oekonomie auf." (MEGA II 1.1,103/104)<br />

7


Auffassung des Autors gerade der Streit und der kontroverse Diskurs jene Knotenpunkte von<br />

Theorie und Praxis kennzeichnen, deren Lokalisierung praktische Philosophie zwar nicht<br />

unmittelbar davor bewahren kann, individuelle Bedürfnisse anderer Menschen zu<br />

instrumentalisieren, aber als kognitive Wegmarken paralleler Gedankengänge zumindest<br />

Interessen von Anderen erahnbar macht.<br />

1. Der institutionelle Rahmen, in dem sich gesellschaftliche Emanzipation entfalten<br />

kann. Hier sind vor allem die Komplexe Staat und Ökonomie vor dem Hintergrund der<br />

aktuellen Entwicklungen zu diskutieren, ohne jedoch die Fragen der Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität, die im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen werden, aus den Augen zu verlieren,<br />

oder anders ausgedrückt: Welche Formen von Staatlichkeit und außerindividueller<br />

Verknüpfung sind durch ökonomische Konditionalitäten mit dem Konzept einer möglichst<br />

selbstbestimmten Entäußerung des Menschen zu verbinden oder gar zu verschmelzen?<br />

2. <strong>Die</strong> Frage der Organisation einer möglichen Bewegung im Hinblick auf die<br />

Strukturen der intersubjektiven Vermittlung in der gegenwärtigen und in der<br />

potentiell zukünftigen Gesellschaft. Hier bietet es sich an, den Begriff der "Autorität" und<br />

den aus der Aufklärung ererbten Inhalt einer Unterordnung des "Unmündigen und<br />

Unwissenden" unter die Macht des wissenden Subjektes selbstkritisch zu hinterfragen, da die<br />

Diskussionen zwischen Anarchismus und Kommunismus oft als Gegensatz von antiautoritärer<br />

und autoritärer Emanzipation gewertet werden.<br />

3. <strong>Die</strong> Frage einer möglichen Strategie zur Durchsetzung des Entwurfes<br />

gesellschaftlicher Emanzipation, wobei die Praktikabilität dieser Überlegungen vor dem<br />

aktuellen Hintergrund diskutiert wird, soll Aufschluß über das "ob" und das "wie" einer<br />

Transformation geben, sowie über mögliche Formen des konkreten Eingreifens des Einzelnen<br />

und der Gruppe der Veränderungswilligen.<br />

Der Verweis auf die Wirkungslosigkeit der beiden zu untersuchenden Sichtweisen im Hinblick<br />

auf die dort zum Ziel erhobenen kollektiven und individuellen Bedürfnisbefriedigungen macht<br />

einen Rekurs auf erkenntnistheoretische Ansätze notwendig, da es sowohl möglich scheint,<br />

daß das Interesse an Veränderung auch weiterhin der Wahnsinn einer Minorität bleibt, als<br />

auch daß die Grenzen des eigenen Ichs den Erkenntnishorizont des Seins markieren und so<br />

jede intersubjektive Vermittlung von Anbeginn an das <strong>Kai</strong>nsmal des Scheiterns in sich trägt.<br />

Obwohl die Frage nach dem Ursprung einer radikalen Souveränität der Subjekte und dem<br />

konkreten Inhalt ihrer Bedürfnisse und Interessen offen bleibt – ja offen bleiben muß – legt die<br />

gewählte Form der Annäherung nahe, daß Freiheit, Gleichheit und Solidarität sowohl als<br />

Zielkategorien des menschlichen Handelns jenseits der bedrängenden Alltäglichkeit des<br />

wertvermittelten Grauens, als auch als abstrakte Ausdrücke der individuellen Bedürfnisse<br />

angesehen werden können.<br />

Anschließend wird in drei parallel angelegten Grabungen jene umfassende Bedeutung von<br />

Freiheit, Gleichheit und Solidarität dem Schatten des Vergessens entrissen, den die monströse<br />

Monumentalität der Zweckrationalität einer warenproduzierenden Gesellschaft seit jeher auf<br />

jedes Bewußtsein wirft, das nicht wertschaffend instrumentalisiert werden kann. Während<br />

Freiheit im Kontext einer an Marx orientierten Selbstentäußerung diskutiert und entwickelt<br />

wird, bevor eine erste Annäherung an die <strong>apathische</strong> <strong>Revolution</strong>, die eben jene<br />

8


selbstbestimmte Praxis des Individuums im Kampf mit dem scheinbar übermächtigen Sein<br />

umreißt, versucht wird, kommt im Rahmen der Konstruktion einer konkrete Gleichheit<br />

schaffenden Interaktion (Gleichheit und Solidarität) der umfassenden Auseinandersetzung –<br />

oder darf man schon hier sagen Verwerfung – einer als praktische Philosophie mißgedeuteten<br />

Ethik der befohlenen Gleichheit, Freundschaft und Brüderlichkeit zentrale Bedeutung zu. Das<br />

unmittelbare Zusammenfallen von individuellem Bedürfnis und abstrakter Bestimmung durch<br />

den emanzipatorischen Diskurs, durch die Freiheit und Gleichheit charakterisiert werden, wird<br />

dabei durch eine Untersuchung jener Form der Interaktion flankiert, die als zweckrationale<br />

Solidarität verstanden werden kann. Selbstkritisch muß eingestanden werden, daß es bei<br />

dieser Rekonstruktion emanzipatorischer Grundbegriffe durch den im Spannungsfeld der<br />

Moderne verhafteten Analysegegenstand zu einer Vernachlässigung außereuropäischer<br />

Umgehensweisen mit dem Welträtsel kommt, was um so bedauerlicher ist als dort Apathie<br />

schon lange als revolutionäre Praxis gelebt wird. 5<br />

Da die auf Karl Marx zurückgehende Theorie zu einem gewichtigen Teil Methode und<br />

Gegenstand jener Erörterungen sein wird, in deren Rahmen die aufgeworfenen Fragen<br />

diskutiert werden sollen, wird mit einer Begründung dieser Herangehensweise begonnen.<br />

Warum also Marx? Jacques Derrida meint, daß "es immer ein Fehler sein (wird), Marx nicht<br />

zu lesen, ihn nicht wiederzulesen und über ihn nicht zu diskutieren. (...) Es wird mehr und mehr<br />

ein Fehler sein, ein Verfehlen der theoretischen, philosophischen, politischen Verantwortung.<br />

Seit die Dogmenmaschinerie und die ideologischen Apparate des Marxismus (...) im<br />

Verschwinden begriffen sind, haben wir keine Entschuldigung mehr, nur noch Alibis, um uns<br />

von dieser Verantwortung abzuwenden. Ohne das wird es keine Zukunft geben. Nicht ohne<br />

Marx, keine Zukunft ohne Marx." 6 Auch wenn Derrida nicht der schlechte Ruf eines<br />

kommunistischen Hofphilosophen anhaftet, sondern er sich als postmoderner Querdenker<br />

einer umfassenden Wertschätzung erfreut, ist es in Deutschland mehr noch als in anderen<br />

sprachlich begrenzten Diskurssystemen notwendig, den Bezug auf Marx umfassend zu<br />

rechtfertigen, denn der vermittelte Zwang zur Rechenschaftslegung ist ein Kennzeichen jener<br />

totalen Gesellschaft, die zwar perspektivisch überwunden werden soll, aber gleichzeitig als<br />

Summe derjenigen Subjekte verstanden werden muß, die allein Veränderungen durchsetzen<br />

können. Wenn Jürgen Habermas einerseits feststellt, daß "in Zusammenhängen<br />

kommunikativen Handelns als zurechnungsfähig nur gelten (darf), wer als Angehöriger einer<br />

Kommunikationsgemeinschaft sein Handeln an intersubjektiv anerkannten Geltungsansprüchen<br />

orientieren kann" 7 , aber andererseits einschränkt, daß sich "die ‚Stärke‘ eines Arguments, in<br />

5 Vgl. dazu meine exemplarische Feldstudie: Der Tschad: Ende der Staaten - Anfang der Freiheit?; in:<br />

Lettre international Nr.32/1996; S.62-63.<br />

6 Derrida, Jacques; Marx' Gespenster - Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue<br />

Internationale; Frankfurt/Main 1995; S.31/32.<br />

7 Habermas, Jürgen; Theorie des kommunikativen Handelns; Frankfurt/Main 1988; Bd.1, S.14. Michel<br />

Foucault teilt diese Überlegung und kommt zu dem Schluß, daß "es immer möglich (ist), daß man im<br />

Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln<br />

einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktiviert." (Foucault,<br />

Michel; <strong>Die</strong> Ordnung des Diskurses; Frankfurt/Main 1991; S.25)<br />

9


einem gegebenen Kontext, an der Triftigkeit der Gründe (bemißt)" 8 , dann setzt dies zum einen<br />

voraus, daß jede Meinung und Auffassung Gehör finden kann, und zum anderen, daß die<br />

Rahmenbedingungen von Diskursen veränderbar sind. Da es offensichtlich ist, daß einer der<br />

Geltungsansprüche im Deutschland der 90er lautet, daß Marx als toter Hund zu behandeln ist,<br />

wäre es ratsam für eine praktische Philosophie, selbst wenn sie sich auf Marx beziehen will,<br />

diese Traditionslinie zu verschweigen. Da es aber weder mein Bestreben ist, als<br />

zurechnungsfähig anerkannt zu werden – treibt doch gerade die Normalität des in<br />

Gegenwärtigkeit verfangenen Seins das Individuum zur <strong>apathische</strong>n <strong>Revolution</strong> – noch<br />

Angehöriger jener offiziell-wissenschaftlichen Kommunikationsgemeinschaft werden möchte,<br />

die Lösungen präsentiert, ohne Fragen zu stellen, sei hier auf ein Sprichwort rekurriert: Tod<br />

gesagte leben länger. Wenn eine der Hypothesen, die in dieser Studie entwickelt werden, darin<br />

besteht, daß ein an Stirner und Marx anknüpfender, radikaler Individualismus eine der<br />

effektivsten Waffen gegen die wertvermittelte Ordnung und ihre Strukturen darstellt, dann kann<br />

nicht der leere Appell an ethisch-logische Prinzipien den Einstieg in die Diskurse eben dieses<br />

Seins ebnen, sondern nur die Hoffnung, daß der Blick des einen oder anderen Subjektes<br />

durch "jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche die Würfelbecher des Zufalls<br />

schütteln" 9 , bei seiner Suche nach Bedürfnisbefriedigung auf die vorliegende Studie geworfen<br />

wird. In diesem Sinne bleibt scheinbar nur ein Weg zum Einstieg in den Diskurs um die<br />

Gewinnung der Zukunft, nämlich der, die Leser, die sich mittels des vorliegenden Buches die<br />

Möglichkeit erworben haben, einen diskursiven Kontext zu generieren, aufzufordern, die<br />

dargelegte Argumentation auf ihre Triftigkeit zu untersuchen und dabei ihren Spaß zu haben,<br />

auch wenn Michel Foucault glaubt, daß "in unserer Gesellschaft (...) eine tiefe Logophobie<br />

(herrscht), eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen,<br />

vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches,<br />

Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und<br />

ordnungslosen Rauschen des Diskurses." 10<br />

Während in meinem Buch "Der Marxismus des 20.Jahrhunderts" 11 die Frage im Mittelpunkt<br />

stand, welche Aspekte des Marxismus nach dem realpolitischen Ende einer<br />

Auslegungsvariante des marxschen Werkes beibehalten, welche erneuert und welche komplett<br />

neu erarbeitet werden müssen, soll hier nur die Methodik rekapituliert werden, bevor zum<br />

Entwurf der <strong>apathische</strong>n <strong>Revolution</strong> selbst übergegangen wird. <strong>Die</strong> Frage der Methodologie<br />

erlangt für ein so umfangreiches Projekt wie das vorliegende zentrale Bedeutung, da diese die<br />

Rahmenbedingungen einer theoretischen Konstruktion in der Weise bestimmt, wie innere<br />

Gesetzmäßigkeiten – in positivistischen Weltbildern auch als Naturgesetze bezeichnet - hinter<br />

jedem architektonischen Entwurf stehen, ohne selbst im Bauplan Erwähnung zu finden. Wie<br />

das Bauwerk die Probe auf den Bauplan, so ist die Praxis die Erprobung einer Theorie und<br />

8 Habermas 1988; 1,38.<br />

9 Nietzsche, Friedrich; Morgenröthe; in: ders.; Kritische Studienausgabe; München 1988; Bd.3,<br />

S.122.<br />

10 Foucault 1991,25.<br />

11 <strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong>, <strong>Kai</strong>; Der Marxismus des 20.Jahrhunderts – Bilanz und Perspektive – Prolegomenon<br />

einer praktischen Philosophie; Münster 1997.<br />

10


der ihr inhärenten Methodologie, 12 wobei die relative Statik der Rahmenbedingungen<br />

materialer Entwürfe in keinster Weise eine Entsprechung in der gesellschaftlichen Welt des<br />

Geistes besitzt. Obwohl es gewisse Nachteile mit sich bringt, einleitend die innere Struktur<br />

eines Gedankengebäudes zu enthüllen, soll hier doch die Quintessenz meiner Marxismusstudie<br />

rekapituliert werden, weil dort ausführlich nachgewiesen wurde, daß die einmalige Chance des<br />

Scheiterns einer komplexen, praktischen Philosophie nur dann produktiv gewendet werden<br />

kann, wenn, vor dem Hintergrund des Scheiterns, an Marx anknüpfende Theorien auf<br />

Elemente und Kriterien untersucht werden, welche eine Neuinterpretation von Marx und eine<br />

Neukonstruktion von praktischer Philosophie in der Form qualifizieren und konkretisieren, daß<br />

theoretische Versäumnisse der anderen nicht perpetuiert werden. Somit soll hier wiederholt<br />

werden, daß sich eine Neufassung praktischer Philosophie in der Tradition von Karl Marx<br />

dialektisch verhalten muß gegenüber 1. dem marxschen Werk, 2. der konkreten<br />

Realität, 3. sich selbst und 4. gegenüber den Möglichkeiten einer grundlegenden<br />

Emanzipation des Menschen, wenn sie selbst emanzipatorisch wirksam werden will.<br />

Bevor auf die einzelnen Kriterien selbst eingegangen werden kann, ist kurz der Begriff jener<br />

Dialektik zu umreißen, die "in ihrer mystifizierten Form deutsche Mode (ward), weil sie das<br />

Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen<br />

doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des<br />

Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs<br />

einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen<br />

Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär<br />

ist." 13 Wenn Marx in dieser prägnanten Fassung der Dialektik diese als "gewordne Form im<br />

Flusse der Bewegung" faßt, stellt er sich damit bewußt in die Tradition der hegelschen<br />

Darlegungen 14 , ohne daß die von Hegel entwickelte Darstellungsweise für den marxschen<br />

Begriff der Dialektik in toto repräsentativ wäre. <strong>Die</strong>ser oberflächliche Eindruck kann leicht<br />

entstehen, da Marx trotz einiger Ankündigungen 15 keinen eigenen Definitionsversuch vorgelegt<br />

hat. Während Hegel aus der Kritik der kantschen Entgegensetzung von "Ding an sich" und<br />

12 "The proof of the pudding is the eating." (MEW 19,530)<br />

13 Nachwort von Marx zur zweiten Auflage des Kapital 1 (1872) (MEGA II 6,709; MEW 23,27/28).<br />

14 "Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen als das sinnliche Dasein.<br />

(...) <strong>Die</strong> Gedanken werden flüssig, indem das reine Denken, diese innere Unmittelbarkeit, sich als<br />

Moment erkennt oder indem die reine Gewißheit seiner selbst von sich abstrahiert; - nicht sich<br />

wegläßt, auf die Seite setzt, sondern das Fixe ihres Sichselbstsetzens aufgibt, sowohl das Fixe des<br />

reinen Konkreten, welches Ich selbst im Gegensatze gegen unterschiedenen Inhalt ist, - als das Fixe<br />

von Unterschiedenen, die im Elemente des reinen Denkens gesetzt an jener Unbedingtheit des Ich<br />

Anteil haben. Durch diese Bewegung werden die reinen Gedanken Begriffe, und sind erst, was sie<br />

in Wahrheit sind, Selbstbewegungen, Kreise, das, was ihre Substanz ist, geistige Wesenheiten."<br />

(Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Phänomenologie des Geistes; Hamburg 1988; S.27)<br />

15 So schrieb Marx 1858, nach einer zufälligen Neulektüre der hegelschen Logik, an Engels: "Wenn je<br />

wieder Zeit für solche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in 2 oder 3 <strong>Dr</strong>uckbogen das Rationelle<br />

an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen<br />

Menschenverstand zugänglich zu machen." (MEW 29,260) Zehn Jahre später schien die Zeit immer<br />

noch nicht reif zu sein und so schrieb er an Joseph <strong>Die</strong>tzgen: "Wenn ich die ökonomische Last<br />

abgeschüttelt, werde ich eine 'Dialektik' schreiben. <strong>Die</strong> rechten Gesetze der Dialektik sind schon im<br />

Hegel enthalten; allerdings in mystischer Form. Es gilt diese Form abzustreifen." (MEW 32,547)<br />

11


"Erscheinung" die Dialektik als immanenten Prozeß totaler Konstitution des Systems logischer<br />

Bestimmungen faßt und der Dialektik durch ihre Fassung als Logik eine "relative Festigkeit"<br />

zuschreibt 16 , kritisiert Marx dieses Verfahren, ohne eine reale Alternative zu hinterlassen.<br />

Vielleicht liegt dies in dem Umstand begründet, daß es grundsätzlich unmöglich erscheint, der<br />

Dialektik durch eine schriftliche Fassung eine greifbare Form zu geben, ohne undialektisch zu<br />

werden, da diese schriftliche Fassung dem Betrachter nicht als "gewordne Form im Flusse der<br />

Bewegung" entgegentritt, sondern als starres Ding – ein Problem, dem Marx auch durch die<br />

Differenzierung in Darstellungsweise und Forschungsweise nicht habhaft werden kann.<br />

"Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden.<br />

<strong>Die</strong> Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen<br />

zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht,<br />

kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich<br />

nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer<br />

Konstruktion a priori zu tun." 17 <strong>Die</strong> marxsche "Forschungsweise" erscheint so als "operative<br />

Dialektik" 18 , auch wenn es über sie, ihrer inneren Struktur zufolge, keine einheitliche<br />

Darstellung gibt und geben kann, oder - um an die schöne Metapher von Benjamin 19<br />

anzuknüpfen - daß man die Dialektik nicht als Wissenschaft aus Büchern lernen kann, sondern<br />

als Kunst begreifen muß, die auf learning by doing basiert.<br />

Ausgehend von dieser Prämisse muß es aber Kriterien geben, um sowohl den Prozeß einer<br />

dialektischen "Forschungsweise" einer Theorie von einer undialektischen zu trennen, als auch<br />

"Darstellungsweisen" auf ihren dialektischen respektive nichtdialektischen Ursprung abklopfen<br />

zu können. Marx entwickelte aus der Kritik des Dialektikverständnisses von Friedrich Lang,<br />

der die hegelsche Methode um die scheinbare Einsicht in den "Kampf ums Dasein" erweitert,<br />

die Einschätzung, daß Lang, da er die hegelschen Darlegungen über die Logik für bare Münze<br />

nimmt, "erstens von Hegels Methode (rien versteht) und darum zweitens noch viel weniger von<br />

meiner kritischen Weise, sie anzuwenden. (...) Lang ist so naiv zu sagen, daß ich mich in dem<br />

empirischen Stoff 'mit seltenster Freiheit bewege'. Er hat keine Ahnung davon, daß diese 'freie<br />

Bewegung im Stoff' durchaus nichts andres als Paraphrase ist für die Methode, den Stoff zu<br />

behandeln - nämlich die dialektische Methode." 20 Demnach bestünde die Differenz zwischen<br />

16 Vgl.: Hegel, G.W.F.; Wissenschaft der Logik – Erster Teil: <strong>Die</strong> Lehre vom Sein; Hamburg 1990; S.17;<br />

ders.; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften; Hamburg 1991; S.102/103.<br />

17 MEGA II 6,709; MEW 23,27. Vgl. auch: MEW 26.2,162; MEGA II 3.3,816/817: "<strong>Die</strong>se beiden<br />

Auffassungsweisen, wovon die eine in den innren Zusammenhang, so zu sagen in die Physiologie<br />

des bürgerlichen Systems eindringt, die andre nur beschreibt, catalogisirt, erzählt und unter<br />

schematisirenden Begriffsbestimmungen bringt, was sich in dem Lebensproceß äusserlich zeigt, so<br />

wie es sich zeigt und erscheint."<br />

18 HKWM 2,665. Ähnlich sieht dies Otto Kallscheuer (Marxismus und Erkenntnistheorie in<br />

Westeuropa; Frankfurt/Main 1986; S.268): "Marx benutzt Hegelsche Kategorien als operative<br />

Begriffe, ohne sich um ihren (onto-)logischen Status - der bei Hegel ja die Voraussetzung ihres<br />

methodologischen Gebrauchs darstellt! - zu bekümmern."<br />

19 "Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. <strong>Die</strong> Segel sind die Begriffe.<br />

Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. <strong>Die</strong> Kunst, sie setzen zu können, ist das<br />

Entscheidende." (Benjamin, Walter; Das Passagen-Werk; in: ders.; Gesammelte Schriften;<br />

Frankfurt/Main 1991; Bd.5, S.592)<br />

20 MEW 32,686.<br />

12


der hegelschen geronnenen, logischen Dialektik und der "operativen Dialektik" von Marx<br />

lediglich in dem Umstand, daß Hegel die Strukturen des de facto mittels seiner Methode<br />

rechtfertigt, während Marx durch die "kritische Weise" ihrer Anwendung zur Kritik des<br />

gesellschaftlichen Seins vorstößt. Trotz dieser Einschränkung bleiben drei Fragen offen, zu<br />

deren Beantwortung nur das wissenschaftliche Hauptwerk von Marx und seine Vorarbeiten<br />

herangezogen werden können, da sich dort, anders als in propagandistischen, schematischen<br />

Darlegungen zur Dialektik, operative Dialektik in Aktion zeigt.<br />

a) Warum bedarf Marx einer spezifisch dialektischen "Forschungsweise", wenn die<br />

Darstellungsweise apriorisch erscheint und die hegelsche Logik nur kritisch über das<br />

de facto hinausführt?<br />

Als Ziel der Dialektik gilt schon seit der Antike die Verknüpfung scheinbar unverknüpfbarer<br />

Seinszustände mittels der ideellen Methoden des dialektischen Dialoges. 21 Vor diesem<br />

Hintergrund greift auch Marx auf diese Methode zurück, um "die verzauberte, verkehrte und<br />

auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale<br />

Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben" 22 , zu dechiffrieren.<br />

"<strong>Die</strong> klassische Ökonomie widerspricht sich gelegentlich in dieser Analyse; sie versucht oft<br />

unmittelbar, ohne die Mittelglieder, die Reduktion zu unternehmen und die Identität der Quelle<br />

der verschiedenen Formen nachzuweisen. <strong>Die</strong>s geht aber aus ihrer analytischen Methode,<br />

womit die Kritik und das Begreifen anfangen muß, notwendig hervor. Sie hat nicht das<br />

Interesse, die verschiednen Formen genetisch zu entwickeln, sondern sie durch Analyse auf<br />

ihre Einheit zurückzuführen, weil sie von ihnen als gegebnen Voraussetzungen ausgeht." 23 <strong>Die</strong><br />

marxsche Dialektik reduziert gerade nicht analytisch die in der Welt vorgefundenen<br />

Phänomene auf eine "dialektische Weltformel“, wie dies der Marxismus unternommen hatte,<br />

sondern beinhaltet neben dem operativen Moment 24 eine "genetische Analyseform", die<br />

ausgehend von der These, daß jede Form des Seins einer Historizität unterworfen ist,<br />

Objektivität, Geschichtlichkeit und Relativität in einer revolutionären Weise überwindet. Marx<br />

zertrümmert die scheinbare Selbstverständlichkeit des de facto, um hinter den "objektiven"<br />

21 Feuerbach erweiterte in seiner Schrift "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" die klassische<br />

Methode des dialektischen Diskurses von Heraklit, Platon, Aristoteles, Kant und Hegel insoweit,<br />

als ihm bewußt wurde, daß "die wahre Dialektik kein Monolog des einsamen Denkers mit sich<br />

selbst (ist), sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du." (Feuerbach, Ludwig; Anthropologischer<br />

Materialismus - Ausgewählte Schriften; Frankfurt/Main 1967; Bd.1, S.156)<br />

22 MEW 25,838; MEGA II 4.2,852. <strong>Die</strong> Dialektik dient damit der Entschlüsselung des Seins, dessen<br />

"innere(r) Zusammenhang endgültig zerrissen und (dessen) Quellen vollständig verschüttet<br />

(erscheinen), eben durch die Verselbständigung der an die verschiednen stofflichen Elemente des<br />

Produktionsprozesses gebundnen, Produktionsverhältnisse gegeneinander." (MEW 25,838; MEGA<br />

II 4.2,852)<br />

23 Marx fährt fort: "<strong>Die</strong> Analyse aber die notwendige Voraussetzung der genetischen Darstellung, des<br />

Begreifens des wirklichen Gestaltungsprozesses in seinen verschiednen Phasen. <strong>Die</strong> klassische<br />

Ökonomie fehlt endlich, ist mangelhaft, indem sie die Grundform des Kapitals, die auf Aneignung<br />

fremder Arbeit gerichtete Produktion nicht als geschichtliche Form, sondern Naturform der<br />

gesellschaftlichen Produktion auffaßt, eine Auffassung, zu deren Beseitigung sie jedoch durch ihre<br />

Analyse selbst den Weg bahnt." (MEW 26.3,491)<br />

24 "Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum<br />

Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem<br />

Begreifen dieser Praxis." (MEW 3,7)<br />

13


Strukturen des Seins selbst dieses bislang unbekannte Sein aufzuspüren und zu dechiffrieren,<br />

auch wenn sich in der Darstellung der Ergebnisse dieser Forschungsweise das Problem ergibt,<br />

daß die Darstellungsweise als Legitimationsideologie eines zur Zeit der Niederlegung noch<br />

nicht seienden Seins umgewertet werden kann, da "der Standpunkt des neuen (Materialismus)<br />

die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit" 25 ist und somit in dieser<br />

aus der Struktur des Seins selbst entspringenden Unbestimmtheit auf die Zukunft offen ist für<br />

eine Vielzahl von Interpretationen, die real oder pro forma eine Praxiswerdung der<br />

"menschlichen Gesellschaft oder der gesellschaftlichen Menschheit" intendieren.<br />

b) Worin besteht der Vorteil der marxschen Herangehensweise im Unterschied zur<br />

hegelschen Methode?<br />

<strong>Die</strong> Entzauberung des Seins und die damit einhergehende revolutionäre Haltung gegenüber<br />

dem de facto unterstreichen, daß die marxsche Dialektik keine spekulative, "enzyklopädische"<br />

Dialektik des Denkens, der Natur und des Geistes ist wie die Dialektik Hegels, sondern die<br />

Dialektik der Geschichte in ihrem konkreten Moment der Transformation des de facto zu<br />

einem Kommunismus, der für Marx und Engels in der "Deutschen Ideologie" "nicht ein<br />

Zustand (ist), der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten<br />

haben wird", sondern sie "nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den<br />

jetzigen Zustand aufhebt." 26 Wenn Marx selbst in den geschichtlichen Prozeß der Praxis auf<br />

der Seite derjenigen eingreift, die er, ausgehend von seinen Analysen und Hypothesen, für<br />

fähig hält, das de facto aus den Angeln zu heben, wird seine Dialektik selbst zum Moment des<br />

Widerspruchs und der Aufhebung im Sinne einer bewußten Negation und steht damit nicht nur<br />

im Widerspruch zur als antagonistisch gesetzten Gesellschaftsgruppe, sondern auch zu den<br />

anderen Akteuren seiner Gruppe. Durch diese mehrfache Konfrontation eröffnet Marx einer<br />

praktischen Philosophie, die sich dialektisch zu ihren eigenen Resultaten verhält, die<br />

Möglichkeit, über den einmaligen revolutionären Akt gegen das de facto zu einem zentralen<br />

Element der Emanzipation selbst zu werden.<br />

c) Wie kann die dialektische Forschungsweise erkannt werden und wie äußert sie<br />

sich in Bezug auf die Darstellungsweise?<br />

Als zentrale Elemente der marxschen dialektischen Darstellungsform können die drei Ebenen<br />

Aufbau der Darstellung, Abfolge der Kategorien und Übergang von der einen zur anderen<br />

nachgewiesen werden, aber auch hier ist noch kein Unterschied zur hegelschen<br />

Darstellungsform ersichtlich. Neben der schon mehrfach angesprochenen ordnenden Funktion<br />

der Dialektik in der Darstellung von Forschungsergebnissen, die auf anderen Wegen<br />

gewonnen wurden, spricht Engels der Dialektik, ohne dies explizit zu thematisieren, eine<br />

heuristische Funktion zu, die stark an die aristotelische und platonsche Dialektikdefinition als<br />

"Findkunst" 27 erinnert und schon in dieser allgemeinen Form mit der weltanschauungsbildenden<br />

25 "Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft, der Standpunkt des<br />

neuen die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit." (MEW 3,7)<br />

26 MEW 3,35.<br />

27 In seiner Metaphysik billigt Aristoteles Platon zu, "daß er nun das Eine und die Zahlen neben die<br />

Dinge setzte (als von diesen getrennt), und nicht wie die Pythagoreer, und die Einführung der Ideen<br />

war begründet in dem fragenden Denken in Begriffen; denn die Früheren hatten noch keinen Anteil<br />

an der Dialektik." (Aristoteles' Metaphysik 987b; Hamburg 1989; Bd.1, S.40/41)<br />

14


Funktion der „Dialektik, die zudem, weil sie den engen Horizont der formellen Logik<br />

durchbricht, den Keim einer umfassenderen Weltanschauung enthält" 28 , kollidiert. Da weder<br />

Marx noch Engels zu Lebzeiten von Marx das Verhältnis dieser drei Funktionen der Dialektik<br />

in ihrem Wechselwirkungsgeflecht näher beleuchtet, sondern lediglich durch ihre theoretische<br />

Praxis die immense Bedeutung der heuristischen Funktion unterstrichen haben, fiel es dem sich<br />

nach dem Tode von Marx 1885 herausbildenden Marxismus leicht, durch die Betonung der<br />

anderen beiden Funktionen den spezifisch marxschen Charakter dieser Dialektikauffassung<br />

nach und nach durch einen an Hegel geschulten, schematischen Dialektikinhalt zu ersetzen und<br />

so der Dialektik den Charakter eines allgemeinen Seinsgesetzes zu geben, das mehr an eine<br />

allgemeine Kosmologie erinnert als an das marxsche Projekt einer kritischen Durchdringung<br />

der Strukturen des de facto.<br />

Nachdem nun kurz das dieser Arbeit zugrundeliegende Dialektikverständnis entwickelt wurde,<br />

kann zu einer Untersuchung der Kriterien einer revolutionären, emanzipativen und praktischen<br />

Philosophie in der Tradition von Karl Marx übergegangen werden, die sich dialektisch<br />

verhalten muß gegenüber 1. dem marxschen Werk, 2. der konkreten Realität, 3. sich<br />

selbst und 4. gegenüber den Möglichkeiten einer grundlegenden Emanzipation des<br />

Menschen, um selbst emanzipatorisch wirksam werden zu können.<br />

ad 1.: Was ist das marxsche Werk und wie können sich praktische Philosophien dialektisch<br />

zu diesem marxschen Werk verhalten?<br />

In der philosophischen Begrifflichkeit stellt sich die Frage der Kontinuität respektive<br />

Diskontinuität von Marxinterpretationen, wobei zu berücksichtigen ist, daß es im Gegensatz<br />

zum Alltagsverstand in den logischen Systemen der Philosophie keinen antagonistischen<br />

Gegensatz von Kontinuität und Diskontinuität gibt, da eine Kontinuität ohne Diskontinuität<br />

jener absolute Stillstand wäre, den es nach allen Erkenntnissen der modernen<br />

Naturwissenschaften in diesem Raum-Zeitgefüge nicht geben kann. Der scheinbare Sprung<br />

von Kontinuität zur Diskontinuität ist vor diesem Hintergrund als ein Problem der menschlichen<br />

Erkenntnisfähigkeit zu werten, denn ohne Wissen des Prozesses erscheint z.B. das<br />

kontinuierliche Wachsen des Menschen aus der ersten Zellteilung zu dem vorübergehenden<br />

Resultat des Prozesses - dem ausgewachsenen Menschen - als diskontinuierlich. 29 Deswegen<br />

wendet sich diese Studie auch gegen ein einfaches "Zurück zu Marx", denn wenn man von<br />

einer grundlegenden Dominanz des historischen Prozesses ausgeht, kann nichts und niemand in<br />

den Stand der Unschuld zurückversetzt werden, und so gilt es bei einer Neubegründung von<br />

praktischer Philosophie in der Tradition von Karl Marx nicht eine unmögliche, absolute<br />

Kontinuität herzustellen, sondern eine begründete und für den Leser nachvollziehbare<br />

kontinuierliche Diskontinuität anzustreben. In diesem Sinne ist der Bruch mit einigen<br />

unzeitgemäßen Thesen von Marx die Voraussetzung für eine praktische Philosophie in der<br />

Tradition von Karl Marx.<br />

28 MEW 20,125.<br />

29 Vgl. z.B.: Rossanda, Rossana; Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch; Frankfurt/Main 1975.<br />

15


Inwieweit der dialektisch-diskontinuierliche Prozeß einer Interpretation des marxschen<br />

Ausgangsstoffes 30 Aussagen hervorbringen kann, die für das 21.Jahrhundert von Bedeutung<br />

sind, muß natürlich bis auf weiteres offen bleiben, denn auch wenn der Autor Grund zu der<br />

Annahme hat, daß die marxsche Praxistheorie vor dem Hintergrund seiner bis heute kaum<br />

übertroffenen Analysen der historischen Grund- und Ausgangsformen stichhaltige Ansätze für<br />

eine Neukonstruktion praktischer Philosophie beinhalten, kann dies erst der Fortgang der<br />

Untersuchung zeigen. Im Gegensatz zu einer schematischen, auf logischen Gesetzen<br />

basierenden Dialektik in der Tradition von Hegel, in der die Bewegungsgesetze aller<br />

Aussagesphären gleich strukturiert sind, variieren bei Marx die immanenten Strukturen von<br />

Aussagesphäre zu Aussagesphäre. <strong>Die</strong> Sphäre der wissenschaftlich fundierten Aussagen<br />

zerfällt nicht nur wie angesprochen in Forschungsweise und Darstellungsweise, sondern auch in<br />

Analysen und Hypothesen, wobei einerseits Hypothesen auf Analysen aufbauen, aber<br />

andererseits alle marxschen Analysen, selbst die "Kritik der politischen Ökonomie", im<br />

Kontext der hypothetischen Verbindung von der Welt, wie sie zu Marxens Zeit war, und der<br />

Welt, wie sie nach Marxens Wünschen sein sollte, zu sehen sind. <strong>Die</strong> bekannteste<br />

Feuerbachthese, nach der "die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert (haben), es<br />

(aber - KSS) darauf an(kömmt), sie zu verändern" 31 , gehört zu den Kernhypothesen von<br />

Marx, und so ist jede unvermittelte Trennung von Analyse bzw. Interpretation und Hypothese<br />

bzw. Praxiswerdung von Theorie unvereinbar mit der marxschen Dialektik.<br />

Durch die Auswertung der in der Praxis erfolgten Reflexionen der marxschen Thesen wird eine<br />

Neuinterpretation der marxschen Theorie - so zumindest nach Meinung des Autors - einen<br />

Zugewinn an theoretischer Vehemenz verzeichnen, die ihre Relevanz in dem pluralen<br />

Meinungsstreit der praktischen Philosophien entscheidend unterstreichen wird, so dieser<br />

reflexive Prozeß keine einmalige Erscheinung bleibt. <strong>Die</strong>se Neufassung einer praktischen<br />

Philosophie in der Tradition von Karl Marx wird zeigen, ob sie auf den Niederlagen der<br />

Vergangenheit, um ihre Fehler wissend und diese im Voranschreiten korrigierend, eine reale<br />

Alternative zur bestehenden Ordnung der Unfreiheit, Ungleichheit und Menschenverachtung<br />

anstreben und erreichen kann.<br />

ad 2.: Was ist die konkrete Realität und wie kann man sich dialektisch zu dieser<br />

verhalten? 32<br />

Meiner Ansicht nach muß jede Theorie, also auch die Analysen und Hypothesen von Marx<br />

ständig zu ihrer konkreten Realität in Beziehung gesetzt werden, um nicht nur die<br />

30 Marx selbst begriff sein Werk als ein einheitliches und dialektisches Streben nach temporärer<br />

Wahrheit, wobei den von ihm selbst herausgegebenen Werken naturgemäß ein größeres Gewicht<br />

zukommt als posthum veröffentlichten. So schrieb er 1865 in einem Brief an Engels: "Ich kann mich<br />

aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Whatever<br />

shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes<br />

sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir<br />

liegen." (MEW 31,132)<br />

31 MEW 3,7.<br />

32 <strong>Die</strong> hier dargelegten Ausführung sind nur als erste Annäherung an das für eine praktische<br />

Philosophie nicht unwichtige Thema einer Erkenntnistheorie anzusehen. Sie werden im Kap.2.4<br />

dieser Studie vertieft.<br />

16


allgemeingültigen und überzeitlichen Aussagen selbstgefällig zu wiederholen, sondern um durch<br />

den Bezug auf das eindeutig Überholte die Möglichkeiten einer neuen Schleife der Suche nach<br />

Wahrheit über diese Realität zu eröffnen, an deren Ende zwar nicht die Wahrheit über die Welt<br />

selbst steht, aber eine größere Welt gewußter Wahrheit. Marx macht es sich in den<br />

Feuerbachthesen etwas leicht, wenn er die erkenntnistheoretischen Probleme von Wahrheit<br />

und Realität mit einem einfachen Verweis auf die menschliche Praxis ad acta legt: "<strong>Die</strong> Frage,<br />

ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der<br />

Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e.<br />

Wirklichkeit und Macht, <strong>Die</strong>sseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die<br />

Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein<br />

scholastische Frage." 33 Aber trotz dieser scheinbaren Leichtfertigkeit der Vermittlung von<br />

Subjekt und Objekt kann aus dieser zentralen These über die Wahrheit die genaue Bedeutung<br />

des Begriffes in seiner marxschen Verwendung herausgearbeitet werden und eröffnet damit<br />

einen Zugang zur Frage der Wahrhaftigkeit unterschiedlicher theoretischer Erfassungen von<br />

konkreter Realität. Marx glaubt, die Verbindung zwischen der Frage der Objektivität des<br />

Denkens und der Problematik einer als "Praxis" begriffenen Objektivierung des Menschen<br />

durch die Negation des theoretischen Charakters der Wahrheitsfrage lösen zu können, jedoch<br />

hätte er dazu sagen müssen, daß diese Ebene der Objektivität immer die Ebene einer von<br />

Menschen gewußten Ebene des Wissens um die Realität bleibt, die sich zwar durch eine<br />

Ausdehnung des menschlichen Wissens immer mehr an eine absoluten Ebene der Realität<br />

annähern kann, aber da diese sich sowohl durch den historischen Prozeß als auch durch den<br />

Moment ihrer Betrachtung selbst ausdehnt, darf bezweifelt werden, daß sie jemals in ihrer<br />

absoluten Totalität erfahrbar sein wird. Für das Kriterium eines dialektischen Bezuges zur<br />

konkreten Realität stellt sich das Problem, daß, wenn davon ausgegangen wird, daß es kein<br />

objektives Wissen, sondern nur einen subjektiven Zugang zur Realität gibt, auch kein<br />

objektiver Vergleich unterschiedlicher Theorien in Bezug auf ihre dialektische Interaktion mit<br />

der Realität vorausgesetzt werden kann. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund bestreitet Marx<br />

die herausragende Stellung der Wahrheitsfrage als einer Vernunfttatsache in der idealistischen<br />

Philosophie und reduziert sie auf den Status einer sich in der Praxis manifestierenden<br />

Überprüfungsmethode für praktische Theorien, womit jedoch einer Instrumentalisierung des de<br />

facto als Wahrheitstest das Wort geredet wird, die leicht in eine reine Legitimationsideologie<br />

des Seienden münden kann und die schon Hegel das Genick gebrochen hatte. Im Gegensatz<br />

zu Hegel und auch Feuerbach faßt Marx das Streben nach einer wahrhaftigen Durchdringung<br />

der Realität als doppelten Imperativ der praktischen Theorie in ihrem Prozeß der<br />

Objektivierung in der und durch die Praxis, indem er den Begriff der Wahrheit aus der Sphäre<br />

der Erkenntnis in die Sphäre der historischen Praxis der Subjekte transformiert.<br />

Marx geht in den Feuerbachthesen einen anderen Weg und versucht, durch die Einführung des<br />

Rekurses auf eine materielle Objektivität das seiner Meinung nach der idealistischen<br />

Philosophie entstammende Gegensatzpaar gänzlich überflüssig zu machen, da Marx sich nicht<br />

nur in Widerspruch zu einem idealistischen Subjektivismus sieht, sondern auch den "vulgären"<br />

33 MEW 3,5.<br />

17


Objektivismus von Feuerbach ablehnt, der den Kriterien von Engels und Lenin entsprach.<br />

Marx vertritt im Gegensatz zu seinen Epigonen die Vorstellung, daß "der Hauptmangel alles<br />

bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) (darin besteht - KSS), daß<br />

der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der<br />

Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht<br />

subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem<br />

Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt -<br />

entwickelt." 34 Marx reklamiert also unter der Fahne eines subjektivistischen Standpunktes für<br />

seine Position den Standpunkt der Praxis in Gegnerschaft zu einem abstrakten Objektivismus,<br />

selbst wenn dieser sich materialistisch gibt, da die subjektivistische Seite die "tätige Seite" ist.<br />

Daraus folgt für Marx natürlich nicht, daß schematisch ein idealistischer Subjektivismus mit<br />

einem materialistischen Objektivismus verknüpft werden muß, sondern daß die Praxis als<br />

Objektivität sui generis zu denken ist, nicht im Sinne einer Ausweitung und Umwertung des<br />

Begriffs der Objektivität, sondern indem man im Gegensatz zu Feuerbach "die menschliche<br />

Tätigkeit selbst (...) als gegenständliche Tätigkeit (faßt)." 35 Wenn man abschließend auf den<br />

Ausgangspunkt dieses Exkurses zurückkommt, zeigt sich, daß es kein absolutes Kriterium<br />

einer dialektischen Beziehung zur konkreten Realität an sich gibt, sondern daß eine<br />

Marxinterpretation, die produktiv als Neufassung von praktischer Philosophie verstanden<br />

werden will, zumindest dem Leser den individuellen und subjektiven Zugang seiner Sicht der<br />

konkreten Realität nachvollziehbar darlegen muß, so daß der Leser vor dem Hintergrund<br />

seiner eigenen Weltanschauung urteilen kann, ob er sich der konkreten Sichtweise des Autors<br />

anschließen will oder nicht.<br />

ad 3.: Inwieweit kann das autoreflexive Moment der Dialektik als Kriterium zur Beurteilung<br />

von praktischer Philosophie herangezogen werden und wie kann dies umgesetzt werden?<br />

Ein Hauptproblem der Darstellungsweise von dialektischen Prozessen ist, daß sie durch die<br />

schriftliche Niederlegung dem Betrachter nicht mehr als "gewordne Form im Flusse der<br />

Bewegung" 36 erscheinen, sondern als monolithisches Fundament der individuellen<br />

Weltanschauung des jeweiligen Autors. <strong>Die</strong> selbstkritische Reflexion der eigenen theoretischen<br />

und praktischen Entäußerung kann dabei natürlich nicht als äußerer Zwang gesetzt werden, da<br />

so erst recht der spontane, progressive Akt der individuellen Selbstkritik unterbunden wird,<br />

ohne den eine dialektische Entwicklung des eigenen Denkens und damit auch Handelns kaum<br />

möglich ist. Dialektische Reflexion gegenüber sich selbst und dem eigenen Werk bzw.<br />

selbstkritische Hinterfragung der eigenen Prämissen kann eigentlich nur als Kriterium für den<br />

Zusammenhang von einzelnen Werken eines Autors herangezogen werden, da der Moment<br />

der Publikation dem eigenen Denken im "Flusse der Bewegung" eine "gewordne Form" gibt,<br />

die erst durch die Summe der Veröffentlichungen im positiven Fall die Bewegung selbst<br />

deutlich macht.<br />

34 MEW 3,5.<br />

35 MEW 3,5.<br />

36 MEGA II 6,709; MEW 23,28.<br />

18


ad 4.: Was ist unter dem Begriff einer grundlegenden Emanzipation des Menschen zu<br />

verstehen und in welcher Form kann die theoretische Fassung einer praktischen Philosophie<br />

produktiv in diesen Prozeß eingreifen?<br />

<strong>Die</strong> Emanzipation, zu der praktische Philosophie nach meinem Dafürhalten beitragen muß,<br />

wenn sie ihrem Namen gerecht werden will, zerfällt in die beiden elementaren Momente der<br />

partiellen Emanzipation (z.B. der sozialen Emanzipation der Frauen, der politischen<br />

Emanzipation der Juden und der ökonomischen Emanzipation der Arbeiter) und der allgemeinmenschlichen<br />

Emanzipation. Während Marx in der "Kritik des Hegelschen Staatsrechts" 37<br />

noch die allgemeine Emanzipation als identisch mit der politischen Emanzipation setzte, wenn<br />

sie am Ende einer doppelten Kritik (der politischen Philosophie Hegels und der<br />

konstitutionellen Monarchie) steht, gelang es ihm, aus der Kritik der Ausführungen von Bruno<br />

Bauer zur Judenfrage, in der Bauer genau wie der ganz frühe Marx die beiden Elemente der<br />

Emanzipation unkritisch vermengt, diese Dualität begrifflich zu erfassen 38 und ihre spezifische<br />

Verbindung unter der Maxime einer Dominanz der menschlichen Emanzipation zu bestimmen:<br />

"Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den<br />

Menschen selbst. <strong>Die</strong> politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf<br />

das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum,<br />

andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche<br />

individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller<br />

Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen<br />

Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine 'forces propres' als<br />

gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht<br />

mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche<br />

Emanzipation vollbracht." 39 Es ist offensichtlich, daß Marx in dieser Phase die grundlegende,<br />

allgemein-menschliche Emanzipation gleichbedeutend mit <strong>Revolution</strong>, Kommunismus und<br />

Aufhebung der Entfremdung als den unmittelbar nächsten Schritt der menschlichen<br />

Entwicklung setzt. 40 In der Einleitung "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" formiert<br />

sich in der marxschen Vorstellungswelt erstmals jener große Gedanke einer Verbindung von<br />

37 "Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie<br />

geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen. Wie die Religion<br />

nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung<br />

das Volk, sondern das Volk die Verfassung. (...) So ist die Demokratie das Wesen aller<br />

Staatsverfassung, der sozialisierte Mensch, als eine besondre Staatsverfassung; sie verhält sich zu<br />

den übrigen Verfassungen, wie die Gattung sich zu ihren Arten verhält, nur daß hier die Gattung<br />

selbst als Existenz, darum gegenüber den dem Wesen nicht entsprechenden Existenzen selbst als<br />

eine besondre Art erscheint. (...) Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des<br />

Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das<br />

gesetzliche Dasein ist." (MEW 1,231)<br />

38 "<strong>Die</strong> politische Emanzipation von der Religion ist nicht die durchgeführte, die widerspruchslose<br />

Emanzipation von der Religion, weil die politische Emanzipation nicht die durchgeführte, die<br />

widerspruchslose Weise der menschlichen Emanzipation ist." (MEW 1,353)<br />

39 MEW 1,370.<br />

40 "Nicht die radikale <strong>Revolution</strong> ist utopischer Traum für Deutschland, nicht die allgemein<br />

menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische <strong>Revolution</strong>, die<br />

<strong>Revolution</strong>, welche die Pfeiler des Hauses stehenläßt." (MEW 1,388)<br />

19


partieller Emanzipation und allgemein-menschlicher Emanzipation, die als Prämisse sein<br />

weiteres theoretisches und praktisches Schaffen dominieren wird, die aber heute trotz dieser<br />

zentralen Stellung einer grundlegenden kritischen Hinterfragung unterzogen werden muß. "Nur<br />

im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die<br />

allgemeine Herrschaft vindizieren. Zur Erstürmung dieser emanzipatorischen Stellung und damit<br />

zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft im Interesse der eignen Sphäre<br />

reichen revolutionäre Energie und geistiges Selbstgefühl allein nicht aus. Damit die <strong>Revolution</strong><br />

eines Volkes und die Emanzipation einer besondern Klasse der bürgerlichen Gesellschaft<br />

zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen<br />

umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muß ein<br />

bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen<br />

Schranke sein, dazu muß eine besondre soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der<br />

ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine<br />

Selbstbefreiung erscheint. Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muß<br />

umgekehrt ein andrer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein." 41 Gleichgültig,<br />

welche konkreten Elemente die jeweiligen Marxinterpreten in diese allgemeine Formel<br />

einsetzten (Arbeiter versus Kapitalisten, <strong>Dr</strong>itte Welt versus imperialistisches Zentrum oder<br />

Frauen versus Männer), eint der Bezug auf die marxsche, politische Grundhypothese der<br />

Verbindung von partieller Emanzipation und allgemein-menschlicher Emanzipation all diese<br />

konkreten Ausformungen. Marx sprach Zeit seines Lebens, ausgehend von immer neuen<br />

Analysen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dieser "gewordnen Form im Flusse der<br />

Bewegung" den Status einer temporären Wahrheit zu, deren bewußte Kognition praktische<br />

Philosophie in die Lage versetzt, durch die praktische Uminterpretation der Welt im Bündnis<br />

mit dem revolutionären Subjekt sich selbst zu verwirklichen, die Unterdrückung aufzuheben<br />

und die allgemein-menschliche Emanzipation zu vollenden. 42 Vor dem Hintergrund einer<br />

fortdauernden Dominanz dieser Prämisse, die ausgehend von den empirischen Phänomenen<br />

seiner Zeit durchaus einleuchtend erscheint, wendet sich Marx in seinen politischen Schriften<br />

immer stärker der Durchsetzung der partiellen Emanzipation der Arbeiter zu 43 und entfernte<br />

41 MEW 1,388.<br />

42 "Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie<br />

seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven<br />

Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.<br />

(...) <strong>Die</strong> einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt<br />

der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. (...) <strong>Die</strong><br />

Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist<br />

die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. <strong>Die</strong> Philosophie kann sich nicht verwirklichen, ohne die<br />

Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der<br />

Philosophie." (MEW 1,391)<br />

43 In den Statuten der ersten Internationale von 1864 entwickelt Marx diese dialektische Verknüpfung<br />

dezidiert: "In Erwägung, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst<br />

erobert werden muß; daß der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für<br />

Klassenvorrechte und Monopole ist, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die<br />

Vernichtung aller Klassenherrschaft, daß die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den<br />

Aneigner der Arbeitsmittel, d.h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen<br />

zugrunde liegt - allem gesellschaftlichen Elend, aller geistigen Verkümmerung und politischen<br />

20


sich damit mehr und mehr vom Begriff der Emanzipation, um diese konkrete ökonomische<br />

Emanzipation der Arbeiterklasse von anderen, partiellen Emanzipationen, die für ihn nicht der<br />

allgemein-menschlichen Emanzipation dienlich scheinen, begrifflich zu trennen. In seinem<br />

Spätwerk wird diese Verbindung von Ziel und Prozeß der Bewegung fast durchgängig mit den<br />

Begriffen Kommunismus und <strong>Revolution</strong> umschrieben, die Marx als gleichbedeutend mit<br />

allgemein-menschlicher Emanzipation faßt und deren konkrete Ausfüllung ihm schon als<br />

emanzipativer Akt erscheint, solange er nicht in einer Sphäre der reinen Begrifflichkeit<br />

verbleibt.<br />

Wenn in dieser Studie ein dialektischer Bezug auf die Möglichkeiten einer grundlegenden<br />

Emanzipation eingefordert wird, so gilt dies auch als Kriterium für die marxsche Theorie selbst.<br />

Sie steht vor dem elementaren Problem, daß ihre Fundamente, durch die nagende Kraft des<br />

historischen Prozesses unterspült, das Gedankengebäude selbst kaum mehr tragen können und<br />

sich damit ihre Funktion im Prozeß der Emanzipation dergestalt ändert, daß sie nicht länger als<br />

Ausgangsbasis dienen kann, sondern ihrerseits als Steinbruch für Neukonstruktionen von<br />

praktischer Philosophie instrumentalisiert werden wird.<br />

Alternative Ansätze, die in den Prozeß der Emanzipation integriert werden sollen und eine<br />

eigenständige Verbindung zwischen allgemein-menschlicher und partieller Emanzipation<br />

begründet darlegen, werden sich die Frage gefallen lassen müssen, inwieweit es ihnen gelingt,<br />

dem Leser dieses Projekt begründet schmackhaft zu machen. Sichtweisen, die ihr<br />

Hauptaugenmerk der Ausformulierung der allgemein-menschlichen Emanzipation zuwenden,<br />

ohne auf die Möglichkeiten einer Umsetzung zu rekurrieren, werden dahingehend untersucht<br />

werden müssen, welcher Sinn einer exakten begrifflichen Fassung der Zielperspektive<br />

zukommt, wenn sie sich dem Leser als unerreichbare Utopie weit jenseits seines<br />

Möglichkeitshorizontes offenbart. Aus der Kritik konträrer Positionen entwickelte sich in<br />

meinem Marxismusbuch das Kriterium, daß nur die Philosophie, die einen Brückenschlag<br />

zwischen der Welt des de facto und der Zielperspektive der Emanzipation durch Hypothesen<br />

aus Analysen theoretisch vorbereitet, selbst zum Element der Emanzipation und damit zu einer<br />

praktischen Philosophie wird, wobei angemerkt werden muß, daß die Konstruktion einer<br />

praktischen Philosophie kein einmaliger Akt sein kann, sondern erst durch die Permanenz der<br />

Konstruktion und De-Konstruktion von "gewordnen Formen im Flusse der Bewegung"<br />

Philosophie selbst als Gegenstand der Emanzipation in den dialektischen Prozeß der<br />

Veränderung integriert werden kann, auch wenn dem Betrachter diese Studie durch ihre<br />

Darstellungsform als starres Ding erscheint.<br />

Als Lehre des Oktobers - der sich in diesen Tagen zum achtzigsten Male jährt - und seines<br />

Scheiterns gilt es meiner Ansicht nach zu resümieren, daß es zwar möglich ist, einen partiell<br />

besseren Mythos zu installieren, wenn man die Menschen ohne ihr Wissen weiter treibt als<br />

diese es wollen, daß aber eine wirkliche Veränderung der Lebensweise der Menschen ohne<br />

Abhängigkeit; daß die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der große Endzweck ist,<br />

dem jede politische Bewegung, als Mittel, unterzuordnen ist" (MEW 16,14), soll sich die<br />

Internationale Arbeiter-Assoziation formieren.<br />

21


den bewußten Willen der Individuen unmöglich ist. 44 Wenn aber autoritären Formen<br />

abgeschworen wird und das Individuum selbst zum Ursprung, Gegenstand und Maß seiner<br />

Veränderung wird, stellt sich die Frage, welche Bedeutung dann theoretischen Konzepten<br />

zukommt, die, wie die vorliegende Studie, jenseits einer individualistischen Aufzählung der<br />

eigenen Handlungsansätze den Diskurs über mögliche Formen der Veränderung schüren will.<br />

Eine humanistische Gesellschaft kann in diesem Sinne nur das Resultat eines revolutionären<br />

Humanismus sein. Jedoch kann dies nicht bedeuten, daß jeder Umgehensweise mit dem<br />

Welträtsel in liberalistischer Manier der gleiche Status in Bezug auf die Möglichkeiten zur<br />

Emanzipation zukommt. Denn unabhängig davon, ob das individuelle Wirken private<br />

Bedürfnisse oder abstrakte Interessen an weltfremden Zielen befriedigen soll, zeigt sich dem<br />

interessierten Betrachter, daß auch der entschlossenste Verfechter von Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität diese nur in Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Gesellschaft erringen<br />

kann. So wird sich im Laufe dieser Untersuchung zeigen, daß erst durch die Konfrontation der<br />

unterschiedlichen individuellen Weltanschauungen das Subjekt der Emanzipation jener<br />

Selbstreflexion teilhaftig werden kann, die notwendig ist, um jene gesellschaftliche Totalität zu<br />

durchbrechen, in der "die einzige Freiheit (...) die Freiheit (ist), entweder seine Ellenbogen zu<br />

gebrauchen wie der Trunkene in der Kneipe oder in die Kategorie des bloßen Arbeitssklaven<br />

hinabgestoßen zu werden, der selbst dann, wenn er etwas mehr Nahrung zugeteilt bekommt,<br />

nur noch die 'Freiheit' besitzt, zwischen den entmenschlichten Zuständen in der Arbeitszeit und<br />

jenen in der Freizeit hin und her zu pendeln." 45 Es muß jedoch auch gesagt werden, daß<br />

sowohl die Möglichkeit besteht, daß dieser Zustand für andere Menschen den<br />

Erfüllungshorizont ihrer Interessen bildet, als auch daß die diffamierende Kritik des<br />

wertvermitteltem Seins diesem allein theoretisch jenen Schleier der Unabänderlichkeit entreißt,<br />

ohne jemals real wirksam werden zu können. Ein Weg, dieser Probleme habhaft zu werden,<br />

scheint meines Erachtens darin zu liegen, ausgehend von einem möglichst umfangreichen<br />

Rekurs auf historische und gegenwärtige Diskurse eine theoretische Konstruktion jener Praxis<br />

zu entwerfen, die sich hinter dem Begriff der "<strong>apathische</strong>n <strong>Revolution</strong>" verbirgt.<br />

Da, wie gezeigt, davon ausgegangen wird, daß alltägliche ökonomische Auseinandersetzung<br />

und Gewinnung einer freien, gleichen und solidarischen Zukunft in der modernen Gesellschaft<br />

nicht länger zusammenfallen, kann auf Lukács rekurriert werden: "Je mehr die kapitalistische<br />

Ausbeutung, wenigstens auf hochentwickelter Stufe, die ursprüngliche direkte Form der<br />

Ausbeutung (Verlängerung der Arbeitszeit, Sinken des Lohnes) hinter sich läßt, aus einer<br />

formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital eine reale macht, desto stärker schwindet<br />

aus der Praxis der Arbeiterbewegung das unmittelbare Zusammenfallen von Kampf gegen die<br />

Ausbeutung selbst und gegen die den Menschen entfremdenden Folgerungen. Der<br />

44 Ich denke, daß dieser Prozeß vergleichbar ist mit dem der französischen <strong>Revolution</strong>, wo "besonders<br />

in Situationen, in denen die vom Führer verfolgten bürgerlichen Ziele über das angesichts der<br />

gesellschaftlichen Kräfte im Augenblick Erreichbare entschieden hinausgingen, es ein leichtes<br />

(war), die nicht durch Erkenntnis, sondern weitgehend nur gefühlsmäßig an den Führer<br />

gebundenen Massen von ihm zu trennen." (Horkheimer, Max; Egoismus und Freiheitsbewegung;<br />

in: ders.; Gesammelte Schriften; Frankfurt/Main 1985ff; Bd.4, S.30) Als Indiz für diese These kann<br />

der, nach dem Ausbleiben der Weltrevolution installierte Leninkult gewertet werden.<br />

45 Kofler, Leo; Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft; Berlin 1992; Bd.2, S.314.<br />

22


Kategorienwechsel in der Ausbeutung trennt beide Momente scharf voneinander. Der<br />

selbstredend noch immer notwendige Kampf gegen die Entfremdung erhält infolge der<br />

ökonomischen Wandlung einen vorwiegend ideologischen Charakter." 46 <strong>Die</strong>ser Einschätzung<br />

stimme ich, aus den oben angesprochenen Gründen, zu und werde mich deswegen vor allem<br />

der ideologischen Auseinandersetzung um die Bekämpfung und Überwindung der Entfremdung<br />

und anderer ideologischer Auswirkungen der wertvermittelten Ordnung auf das Individuum<br />

widmen, ohne die Hinterfragung des Begriffes der Entfremdung selbst auszuklammern. <strong>Die</strong><br />

Debatten um Lohnfindung, Verteilung des internationalen Reichtums und ökonomische<br />

Möglichkeiten einer alternativen Wirtschaftspolitik können hier nicht behandelt werden, da es<br />

in dieser Untersuchung um die Überwindung des Kapitalismus geht und nicht um die<br />

Bewegung seiner Elemente, wobei natürlich eine umfassende Kenntnis der sozialen und<br />

ökonomischen Bedingungen des bestehenden Gesellschaftssystems, auch wenn diese hier nicht<br />

rekapituliert werden können, Grundvoraussetzung zur Überwindung der herrschenden<br />

Ordnung sind. Der in der Rezeption meines Marxismusbuches erhobene Vorwurf, daß meine<br />

philosophischen Studien die reale Basis - die Produktion - vernachlässigen, scheint mir<br />

insofern zu oberflächlich. Der Mythos, daß einzelne gesellschaftliche Gruppen oder Klassen<br />

quasi das Monopol auf die Befreiung der Menschen inne haben, wird genauso verneint wie die<br />

weit verbreitete Loslösung des Individuums aus der es umgebenden Gesellschaft und der damit<br />

einhergehenden Postulierung eines abstrakten, positiven menschlichen Wesens, das nur die<br />

äußere Hülle des Kapitalismus abstreifen muß, um frei zu sein. Ich werde versuchen,<br />

ausgehend von der primären Vergesellschaftung des Menschen - seiner Genese - die zentralen<br />

Begriffe "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" 47 progressiver Bewegungen der letzten<br />

zweihundert Jahre mit neuem, zeitgemäßen Inhalt zu füllen.<br />

Im Mittelpunkt dieses Unterfangens wird die Frage des Verhältnisses des "Menschen als<br />

Ursache" zum "Menschen als Folge" und vice versa stehen müssen und die sich aus diesem<br />

Verhältnis ergebenden Probleme der Subjekt-Objekt-Vermittlung im Bezug auf die "Dialektik"<br />

des "Menschen als Individuum" zum "Menschen als Gattungswesen". Ein anderer<br />

Schwerpunkt, der von dem ersten nicht zu trennen ist, wird die Frage des Theorie-Praxis-<br />

Paradigmas sein. <strong>Die</strong>se Verhältnisse sollen im Bezug auf ihre historische Genese, aber auch auf<br />

die Möglichkeit einer Transformation hin untersucht werden, als deren hypothetisches Ziel eine<br />

Gesellschaft stehen könnte, die den Idealen der revolutionären Bewegung gerecht wird. Da<br />

der Autor davon ausgeht, daß die Zielkategorien einer möglichen Lösung der oben<br />

angesprochenen Paradigmen für den historischen Prozeß von größerer Wichtigkeit sind als die<br />

oft diskutierte Frage des Weges (Reform oder <strong>Revolution</strong>), ist eine ausführliche Erarbeitung<br />

dieser Zentralbegriffe der praktischen Philosophie unumgänglich. Es geht letztlich darum, jene<br />

gesellschaftliche Ordnung zu überwinden, in der "jeder Mensch darauf (spekuliert), dem<br />

andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in<br />

eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit<br />

46 Lukács, Georg; Ontologie des gesellschaftlichen Seins; Darmstadt/ Neuwied 1984-1986; Bd.1, S.255.<br />

47 Um konkreten Gleichheitsforderungen Rechnung zu tragen, wird hier der geschlechtsneutrale<br />

Begriff der Solidarität verwendet - ohnehin erscheint der Begriff der Brüderlichkeit (fraternité), als in<br />

der christlichen Tradition stehend, für eine rationelle Weltbetrachtung fraglich.<br />

23


des ökonomischen Ruins zu verleiten. Jeder sucht eine fremde Wesenskraft über den andern<br />

zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigennützigen Bedürfnisses zu finden." 48 <strong>Die</strong>ses<br />

Interaktionsmodell, das zwangsläufig Unfreiheit, Ungleichheit und soziale Kälte erzeugt, kann<br />

nur dann dem Vergessen anheim fallen, wenn es dem Individuum gelingt, Bedürfnisse zu<br />

entwickeln, die diesen circulus vitiosus durchbrechen. Das Bedürfnis, in Freiheit, Gleichheit<br />

und Solidarität die individuelle Lebensreise umfassend zu genießen, ist ein Ansatzpunkt zur<br />

Lösung der Probleme, auch wenn es noch lange nicht deren Lösung selbst ist.<br />

Thesen<br />

1) Eine der Lehren, die es aus dem Scheitern des Marxismus als Theorie und Praxis zu<br />

ziehen gilt, ist die, daß das von ihm vertretene Primat der Ökonomie keine umfassende<br />

Emanzipation der Menschen ermöglicht - dieser sogar entgegenwirkt. Nicht zuletzt vor<br />

dem Hintergrund der gesellschaftlichen Tendenzen einer zunehmenden Individualisierung<br />

ist der Begriff der Freiheit neben dem eher ökonomischen Begriff der Gleichheit in den<br />

Mittelpunkt der praktischen Philosophie zu stellen. Freiheit ist dabei nicht als "Einsicht in<br />

die Notwendigkeit", sondern als die selbstbewußte Entäußerung des Menschen in die<br />

ihn umgebende Gesellschaft, aber auch in die Natur zu verstehen.<br />

2) Der Begriff der Freiheit läßt sich nicht als Natur des Menschen fassen, sondern ist ein<br />

Produkt seiner geschichtlichen Entwicklung und hängt aufs Engste mit dem Begriff der<br />

Arbeit zusammen. Grundursache des unfreien Charakters der gegenwärtigen Form der<br />

Arbeit ist ihre Teilung in geistige und körperliche Arbeit und damit die Ursache für das<br />

Phänomen der Entfremdung des Menschen von sich selbst, die ihm die Einsicht in das<br />

reale Verständnis der Freiheit im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verstellt.<br />

<strong>Die</strong>se Form der Arbeit kann nicht durch ethische und moralische Appelle oder<br />

Verordnungen überwunden werden, sondern nur durch das Interesse des Individuums,<br />

in Freiheit zu leben und selbbestimmt zu arbeiten.<br />

3) <strong>Die</strong>ses individuelle Streben nach Freiheit ist unmöglich in einer Gesellschaft, in der ich<br />

nur das Brot essen kann, was der andere nicht ißt, also in der der materielle Egoismus<br />

im Mittelpunkt steht. Individuelle Freiheit des Einzelnen ist nur in einer Gesellschaft<br />

möglich, die die technischen Potentiale des sich vollziehenden Wandels des<br />

Produktionsparadigmas dazu nutzt, die Sphäre der ökonomisch begrenzten<br />

Bedürfnisbefriedigung umfassend zu erweitern, so daß sich Freiheit und Gleichheit, nicht<br />

länger widersprechen, wie es von der Abstraktionsebene der Staatlichkeit her erscheint,<br />

sondern einander bedingen.<br />

4) Im Rahmen dieser neuen Vergesellschaftung des Menschen unter den Maximen von<br />

Freiheit und Gleichheit besteht die Möglichkeit, den negativen Egoismus, der des<br />

anderen Freiheit beschneiden will, um die eigene Freiheit zu mehren, zu überwinden, um<br />

48 MEW 40,546/547.<br />

24


einer solidarischen Interaktion der Menschen an den Grenzen der individuellen Sphäre<br />

zu weichen, da nur so die für beide unfreie Dialektik von Herr und Knecht zu beenden<br />

ist. <strong>Die</strong>ser Wandel der menschlichen Lebensweise kann nicht durch moralische oder<br />

rationale Appelle herbeigeführt werden, sondern nur der Rekurs auf den unmittelbaren<br />

Egoismus der Herren und Knechte - in Freiheit und konkreter Gleichheit zu leben - kann<br />

temporär Solidarität schaffen. Wie Gleichheit sich nur einstellen kann, wenn die<br />

Subjekte eines begrenzten Beziehungsgeflechtes ihre oft gegenläufigen Bedürfnisse in der<br />

Konfrontation zu verwirklichen trachten, so formiert sich Solidarität nur dort, wo der<br />

Einzelne der Anderen bedarf, um seine Gleichheitsforderungen durchzusetzen.<br />

5) <strong>Die</strong> Zielvorstellung Freiheit, Gleichheit und Solidarität hat dabei neben ihrem normativen<br />

Charakter als Beurteilungsrahmen für die Praxis auch selbst eine emanzipatorische<br />

Potenz, da sie sich im Rahmen einer Annäherung an das erstrebte Ziel selbst in Frage zu<br />

stellen und neu zu begründen hat, ohne jedoch ihren Kern zu ändern. <strong>Die</strong> Wahrheit der<br />

Freiheit ist erst post festum erkennbar und so muß der Weg zur Freiheit auch als Ziel<br />

verstanden werden, vor allem vor dem Hintergrund der Sterblichkeit der Individuen.<br />

Der grundlegend individuelle Akt des Strebens nach Freiheit bringt zwangsweise<br />

individuelle Zugänge zum Weg der Revolte mit sich, und so kann und darf praktische<br />

Philosophie kaum mehr sein als Beschreibung des allgemeinen Ziels und<br />

Bewertungsrahmen für die individuelle Ebene der konkreten Praxis. Wenn hier<br />

Konzepte der Transformation beschrieben und entwickelt werden, so ist dies nicht als<br />

Limitierung der Zugangsmöglichkeiten zu verstehen, sondern eher als Versuch, abstrakte<br />

Ideale derart in einer scheinbar intersubjektiven Wirklichkeit zu implementieren, daß<br />

eine Homogenität von Vision und praktischem Handeln zumindest denkbar wird.<br />

25


"<strong>Die</strong> neuen Männer des Imperiums sind diejenigen, die an Neuanfänge glauben, an<br />

neue Kapitel, an neue Seiten; ich kämpfe weiter mit der alten Geschichte, in der<br />

Hoffnung, daß sie mir, bevor sie zu Ende geht, enthüllt, was ich daran für der Mühe<br />

wert gehalten habe." J.M. Coetzee 49<br />

2. Wegweiser auf der Suche nach einer praktischen<br />

Philosophie<br />

Es stellt sich die Frage, ob Menschen, die unter der Alplast der gesellschaftlichen Realitäten<br />

des Spätkapitalismus mit all seinen Verästelungen leben, wirklich absolut Neues schaffen<br />

müssen, um der Freiheit, Gleichheit und Solidarität teilhaftig zu werden, und ob sie dies<br />

überhaupt können, wo doch nach Michel Foucault "der Menschen, von dem man uns spricht<br />

und zu dessen Befreiung man uns einlädt, bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung (ist),<br />

die viel tiefer ist als er." 50 In welchem Verhältnis stehen neue Formen der intersubjektiven<br />

Vermittlung zu ihren Ausgangsformen? <strong>Die</strong> bisherige Entwicklung der Menschheit kann keinen<br />

Aufschluß über dieses Problem geben, da sich die bisherige Geschichte der Menschen als<br />

Geschichte der Unfreiheit erwiesen hat. Eine Anknüpfung an das hegelsche <strong>Revolution</strong>smodell,<br />

das ein vom Menschen unbewußtes Hervorbringen einer neuen Realität postuliert, ist von der<br />

in dieser Studie entwickelten These einer notwendigen begrifflichen Verbindung von "Freiheit<br />

von" und der "Freiheit wofür" abzulehnen, da der alleinige Akt der Hervorbringung von etwas<br />

Neuem keine Garantie bietet, daß dieses Neue sich in der Folge auch als neu erweist und nicht<br />

nur als Neufassung des Alten. Zwar wird in Kapitel 3.1.1. mit einem Rekurs auf die Genese<br />

des Menschen verdeutlicht, daß ein naturalistisches Freiheitsideal, wie es etwa von<br />

liberalistischen und anarchistischen Theorien vertreten wird, abzulehnen ist, folgt daraus aber,<br />

daß der Mensch jenseits jeder moralischen Implikation als Knecht der Natur zutiefst unfrei<br />

bleibt und bleiben muß und daß die einzige Freiheit in der Freiheit des Todes besteht?<br />

Ist es das Schicksal der Menschen, daß sie zwar einen Traum von Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität haben können, daß aber ihre gesamte Einbindung in Natur und Gesellschaft ihnen<br />

den Weg verstellt, diese auch nur adäquat begrifflich, geschweige denn als reales Ziel ihrer<br />

Handlungen zu fassen? Seneca läßt seine kollektive Göttlichkeit ausrufen: "Verachtet das<br />

Schicksal: ich habe ihm keine Waffe gegeben, mit der es euern Geist treffen könnte. Und was<br />

noch mehr besagen will als all dies: ich habe Sorge getragen, daß nichts euch (vom Tode)<br />

zurückhalte wider eueren Willen. Der Ausweg steht euch offen; wollt ihr nicht kämpfen, so<br />

steht es euch frei, zu fliehen." 51 Ist es nicht sinnvoller, vor einem Kampf für eine positive<br />

49 Coetzee, John Michael; Waiting for the Barbarians; zitiert nach: Said, Edward W.; Kultur und<br />

Imperialismus - Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht; Frankfurt/Main 1994; S.375.<br />

50 Foucault, Michel; Überwachen und Strafen; Frankfurt/Main 1976; S.42.<br />

51 Lucius Annaeus Seneca; Von der göttlichen Vorsehung; zitiert nach: Philosophische Schriften;<br />

Hamburg 1993; Bd.1, S.26. Weiter heißt es dort: "Jede Zeit, jeder Ort kann euch zeigen, wie leicht es<br />

sei, der Natur den <strong>Die</strong>nst zu kündigen und, was sie uns geschenkt, ihr wieder anheimzustellen. Ja,<br />

auch an den Altären und bei Vollzug der feierlichen Opfergebräuche, inmitten der Gebete und<br />

Wünsche, die dem Leben gelten, lernet zugleich den Tod. (...) Das was man 'Sterben' nennt, diese<br />

Trennung der Seele vom Körper, vollzieht sich mit einer Schnelligkeit, die überhaupt nicht<br />

wahrnehmbar ist. Mag nun eine Schlinge den Schlund zuschnüren oder Wasser den Atem<br />

absperren, oder mag einer durch Sturz mit dem Kopf auf harten Boden zerschmettert worden sein,<br />

oder mag der Andrang der lodernden Flammen einem den Atemzug abgeschnitten haben, was es<br />

26


Setzung der Freiheit, der allem Anschein nach nicht gewonnen werden kann, weil die Feinde<br />

übermächtig dem einzelnen entgegentreten und sogar in seinem eigenen Lager - in ihm selbst -<br />

im Verborgenen wirken, in den Tod zu fliehen?<br />

Auf der anderen Seite ist es gerade vor diesem Hintergrund möglich, den Kampf aufzunehmen,<br />

da dieser prinzipielle Ausweg niemals und von niemandem verstellt werden kann. Wenn man<br />

sich vergegenwärtigt, daß der Mensch davon ausgehen muß, daß er nur dies eine Leben zu<br />

leben hat, ist es da nicht fahrlässig und feige, vor dem Kampf zu fliehen? Kann das Individuum<br />

nicht, gerade weil es nichts zu verlieren hat als sein Leben, das in der gegenwärtigen Form von<br />

der Ebene einer rationalen Betrachtung als unfrei und damit wertlos erscheint, alles wagen?<br />

Vielleicht liegt in der Aufnahme dieses Kampfes für Freiheit, Gleichheit und Solidarität die<br />

Möglichkeit verborgen, seinem Leben einen Sinn zu geben.<br />

Bevor dieses Projekt einer Neubegründung der praktischen Philosophie in der Tradition von<br />

Karl Marx in Angriff genommen wird, bietet es sich an, andere, in eine ähnliche Richtung<br />

gehende Ansätze zu einer Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu hinterfragen<br />

und auf ihre Bedeutung für das hier unternommene Projekt abzuklopfen und nutzbar zu<br />

machen. Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, daß eine Marxinterpretation, die mit<br />

dem vom Marxismus instrumentalisierten Primat der Arbeiterbewegung als<br />

Haupttransformationskraft der Gesellschaft bricht, die Mauer niederreißt, die der Marxismus<br />

zwischen Anarchismus und Marxismus errichtet hat. Da diese Studie den Schluß nahelegt, daß<br />

der Marxismus eine aus heutiger Sicht unzureichende Interpretation des marxschen Werkes<br />

darstellt, muß vor einer kritischen Würdigung anarchistischer Theorien auf die gemeinsamen<br />

historischen Wurzeln der beiden später so zerstrittenen Ansätze einer Emanzipation des<br />

Menschen rekurriert werden, um zu klären, wo die Ursachen für die bislang unüberwindliche<br />

Scheidung dieser beiden Methoden zur Veränderung liegen. 52<br />

Marx und Engels entwickelten in der "Deutschen Ideologie" aus der Kritik des Hauptwerkes<br />

von Max Stirner "Der Einzige und sein Eigentum" 53 und des dort vertretenen radikalen<br />

Individualismus Begrifflichkeiten, die nicht nur für den Prozeß der Selbstverständigung,<br />

auch sei, es folgt ein schleuniges Ende. Schämt ihr euch nicht? Was sich so schnell vollzieht,<br />

fürchtet ihr wer weiß wie lange." (Seneca 1993; 1,26/27)<br />

52 <strong>Die</strong>ser Ansatz versucht, über die anarchistischen Tendenzen der "Neuen Linken" Anfang der 70er<br />

Jahre hinauszugehen, da diese den Anarchismus lediglich als "Ideologie von <strong>Revolution</strong>ären in<br />

nichtrevolutionären Situationen" instrumentalisierte. Vgl.: Hobsbawn, Eric; Was kann man noch<br />

vom Anarchismus lernen?; in: Kursbuch; Nr.19/1969; S.47-57. Hobsbawn knüpft damit indirekt an<br />

die Argumentation von Bert Brecht an: "Der revolutionäre Intellekt unterscheidet sich vom<br />

reaktionären Intellekt dadurch, daß er ein dynamischer, politisch gesprochen, ein liquidierender<br />

Intellekt ist. In einer nicht revolutionären Situation tritt er als Radikalismus auf. Jeder Partei<br />

gegenüber, auch einer radikalen, wirkt er, wenigstens solang es ihm nicht gelingt, eine eigene Partei<br />

zu gründen, oder solange er gezwungen ist, seine Partei zu liquidieren, anarchistisch." (Brecht,<br />

Bertolt; Werke – Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe; Berlin und Frankfurt/Main<br />

1988ff.; Bd.21, S.340)<br />

53 Stirner, der mit bürgerlichem Namen Johann Caspar <strong>Schmidt</strong> hieß und von 1806 bis 1856 lebte,<br />

publizierte sein Hauptwerk 1844. Ich beziehe mich auf die Ausgabe: Stirner, Max; Der Einzige und<br />

sein Eigentum; Weltgeist-Bücher; Berlin (1927). Vgl. auch: ders.; Parerga, Kritiken, Repliken;<br />

Nürnberg 1986.<br />

27


sondern auch für die Gesamtkonstruktion ihrer Theorie konstitutiv werden sollten. 54 Alle drei<br />

haben ihre Wurzeln in der junghegelianischen Bewegung in Berlin, in der sich Engels und<br />

Stirner auch persönlich kennenlernten, 55 während Marx schon vor Stirners Erscheinen in der<br />

Gruppe der "Freien" Ende 1841 nach Köln übergesiedelt war. 56 Insgesamt kann man Hans-<br />

Martin Saß zustimmen, wenn er über die Bedeutung des junghegelianischen Diskussionskreises<br />

provokativ urteilt: "Alle Spielarten überhaupt möglicher kritischer Theorie, alle Spielarten von<br />

Anarchismus und Existentialismus sind ja doch einfach in Berlin durchgespielt worden, und<br />

alles, was später kam, - um jetzt meinerseits eine These zu überspitzen - sind Neuauflagen:<br />

Adorno, Marcuse, Habermas und Heidegger; sie sind nicht nur historisch später, sie sind auch<br />

weniger originell, zugegeben in manchem gründlicher, im Grundsätzlichen schon durchgespielt<br />

in jenen Jahren in den zwei, drei Stammlokalen, die man in Berlin hatte." 57 Eine Trennungslinie<br />

in diesem wild zusammengewürfelten Haufen von kritischen Denkern kann gezogen werden in<br />

Bezug auf ihre Stellung zum vorerst hypothetischen Streben der Menschen nach praktischer<br />

Emanzipation und in Bezug auf den dogmatischen Materialismus feuerbachscher Prägung.<br />

Während die Gruppe um die Gebrüder Bauer die Prinzipien einer rein theoretischen Kritik der<br />

"Substanz" als Möglichkeit einer Veränderung faßte und jegliche praktischen Bestrebungen der<br />

"Masse" als "unrein" und "unsinnig" kritisierte, standen Marx 58 , Engels und auch Stirner 59 auf<br />

54 MEW 3,101-438.<br />

55 Engels in einem Brief an Max Hildebrand 1889: "Ich kannte Stirner gut, wir waren Duzbrüder, er war<br />

eine gute Haut, lange nicht so schlimm wie er sich in seinem 'Einzigen' macht, mit einem aus der<br />

Lehrerzeit ihm anhaftenden leisen Anflug von Pedanterie. Wir diskutierten viel über Hegelsche<br />

Philosophie, er hatte damals die Entdeckung gemacht, daß Hegels Logik mit einem Fehler anfängt:<br />

Das Sein, welches sich als das Nichts erweist und so in Gegensatz mit sich selbst tritt, kann nicht<br />

der Anfang sein; der Anfang muß gemacht werden mit etwas, das selbst schon die unmittelbare,<br />

naturwüchsige gegebne Einheit von Sein und Nichts ist und aus dem erst dieser Gegensatz sich<br />

entwickelt. Und dies war nach Stirner - das 'Es' (es schneit, es regnet), etwas das ist und zugleich<br />

auch Nichts ist. - Nachher scheint er dann dahintergekommen zu sein, daß es mit dem Es , nicht<br />

minder als mit dem Sein und Nichts, doch nichts ist." (MEW 37,292/293) In seiner 1842<br />

erschienenen Broschüre "Der Triumph des Glaubens" dichtete Engels: "Seht Stirner, seht ihn, den<br />

bedächt'gen Schrankenhasser,/ Für jetzt noch trinkt er Bier, bald trinkt er Blut wie Wasser./ So wie<br />

die andern schrein ihr wild: à bas les rois!/ Ergänzet Stirner gleich: à bas aussi les lois!" (MEW<br />

41,301)<br />

56 Mackay, John Henry; Max Stirner - Sein Leben und Werk; Freiburg/Br. 1977; S.90.<br />

57 Lübbe, Hermann/ Saß, Hans-Martin (Hrg.); Atheismus in der Diskussion - Kontroversen um<br />

Ludwig Feuerbach - Gesellschaft und Theologie; München 1975; S.146. Zur Geschichte der<br />

Junghegelianer vgl.: Eßbach, Wolfgang; <strong>Die</strong> Bedeutung Max Stirners für die Genese des<br />

historischen Materialismus - Zur Rekonstruktion der Kontroverse zwischen Karl Marx, Friedrich<br />

Engels und Max Stirner; Göttingen 1978; Kast, Bernd; <strong>Die</strong> Thematik des Eigners in der Philosophie<br />

Max Stirners – Sein Beitrag zur Radikalisierung der anthropologischen Fragestellung; Bonn 1979;<br />

Koigen, David; Zur Vorgeschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland -<br />

Zur Geschichte der Philosophie und Socialphilosophie des Junghegelianismus; Bern 1900; Mader,<br />

Johann; Zwischen Hegel und Marx – Zur Verwirklichung der Philosophie; Wien 1975; McLellan,<br />

David; <strong>Die</strong> Junghegelianer und Karl Marx; München 1974.<br />

58 Vgl.: MEW 2,98. Marx versichert Feuerbach in einem Brief vom August 1844 seiner<br />

"ausgezeichnete(n) Hochachtung und - erlauben Sie mir das Wort - Liebe, die ich für Sie besitze.<br />

Ihre 'Philosophie der Zukunft' wie das 'Wesen des Glaubens' sind jedenfalls trotz ihres<br />

beschränkten Umfangs von mehr Gewicht, als die ganze jetzige deutsche Literatur<br />

zusammengeworfen." (MEW 27,425)<br />

28


der Seite von Feuerbach, dessen Methoden sie auf unterschiedliche Weise radikalisieren<br />

wollten. Wenn Zelený bemerkt, daß "Stirner Feuerbach nicht von außen kritisiert, sondern<br />

Feuerbachs kritische Methode auf Feuerbach selbst anwendet" 60 , so gilt dies vor allem für die<br />

feuerbachsche These einer religion- und ideenstiftenden Anthropologie des Menschen als<br />

deren Ziel der "wirkliche Mensch" steht. Aber während bei Feuerbach dieser "wirkliche<br />

Mensch" in einem wortreichen, mythischen Nebel als die Inkarnation Gottes erscheint, treibt<br />

Stirner diese These aus der schwer faßbaren Sphäre der materialistischen Spekulation, indem<br />

er erklärt, daß "das Ideal 'der Mensch' realisiert (ist), wenn die christliche Anschauung<br />

umschlägt in den Satz: 'Ich, dieser einzige, bin der Mensch'." 61 Damit löst Stirner die<br />

Philosophie nach zwei Seiten hin auf: Auf der einen wird Philosophie zur Selbstreflexion und<br />

auf der anderen transformiert er die logischen Strukturen des philosophischen Beweises zum<br />

lyrischen Monolog, der jeden Versuch einer Systematisierung erstickt. 62 Vor diesem<br />

Hintergrund formiert sich auch Stirners Kritik des an Feuerbach orientierten<br />

Emanzipationsbegriffes, der durch die Einsicht der Herrschenden in das ethische<br />

Sendungsbewußtsein der neuen Ordnung die alte verschwinden läßt und Stirner als<br />

"Freisprechung und Freilassung" in Opposition zu seinem Konzept einer "Selbstbefreiung"<br />

erscheint 63 : "Wenn sie euch dennoch Freiheit geben, so sind sie eben Schelme, die mehr<br />

geben, als sie haben. Sie geben euch dann nämlich nichts von ihrem Eigenen, sondern<br />

gestohlene Ware, geben euch eure eigene Freiheit, die Freiheit, welche ihr euch selbst nehmen<br />

müßtet; und sie geben sie euch nur, damit ihr sie nicht nehmet, und die <strong>Die</strong>be und Betrüger<br />

obenein zur Verantwortung zieht. In ihrer Schlauheit wissen sie es wohl, daß die gegebene<br />

(oktroyierte) Freiheit doch keine Freiheit ist, da nur die Freiheit, die man sich nimmt, also die<br />

Freiheit des Egoisten, mit vollen Segeln schifft. Geschenkte Freiheit streicht sogleich die Segel,<br />

sobald Sturm oder - Windstille eintritt; sie muß immer - gelinde und mittelmäßig angeblasen<br />

werden." 64 Mit dieser antiidealistischen Kritik an Feuerbachs Konzept einer dialektischen<br />

Beziehung von Entfremdung und Emanzipation mittels eines ethisch motivierten Imperatives<br />

eröffnet Stirner, noch vor dem Angriff von Marx und Engels, die Zertrümmerung des<br />

Theoriegebäudes der Junghegelianer 65 , die Engels in einer ersten brieflichen Stellungnahme an<br />

59 Eßbach entwickelt aus einer vergleichenden Analyse der Rezensionen von Marx und Stirner über<br />

das Buch von Sues "<strong>Die</strong> Geheimnisse von Paris", daß "Stirner 1844 keineswegs im Lager der<br />

Anhänger Bauers, sondern wie Marx und Engels im Feuerbachlager anzuschiedeln" (Eßbach<br />

1978,42-48; hier S.42) sei und widerspricht damit der marxistischen, auf Lukács zurückgehenden<br />

Einordnung Stirners als extremistischen Anhänger Bauers (Lukács, Georg; <strong>Die</strong> Zerstörung einer<br />

Vernunft; Berlin/DDR 1954; S.208).<br />

60 Zelený, Jindrich; <strong>Die</strong> Wissenschaftslogik und 'Das Kapital'; Frankfurt/Main 1968; S.227.<br />

61 Stirner 1927,358.<br />

62 Vgl.: Sveistrup, Hans; Stirners drei Egoismen - Wider Karl Marx, Othmar Spann und die<br />

Physiokraten; Nürnberg 1932; Beck, Gerhard; <strong>Die</strong> Stellung des Menschen zu Staat und Recht bei<br />

Stirner; Köln 1965.<br />

63 Stirner 1927,163. "Egoistisch ist es, keiner Sache einen eigenen oder 'absoluten' Wert beizulegen,<br />

sondern ihren Wert in mir zu suchen." (Stirner 1927,164)<br />

64 Stirner 1927,162/163.<br />

65 "<strong>Die</strong> direkte Kritik, die im Stirnerschen Buche an Bauer und Feuerbach steckt, haben gerade Engels<br />

und Marx klar herausgespürt; es entging ihnen auch nicht ihre eigene Verwandtschaft."<br />

(Wildermuth, Armin; Marx und die Verwirklichung der Philosophie; Den Haag 1970; S.497)<br />

29


Marx begeistert ausrufen läßt: "<strong>Die</strong>ser Egoismus ist nur das zum Bewußtsein gebrachte Wesen<br />

der jetzigen Gesellschaft und des jetzigen Menschen, das letzte, was die jetzige Gesellschaft<br />

gegen uns sagen kann, die Spitze aller Theorie innerhalb der bestehenden Dummheit. (...) Wir<br />

müssen es nicht beiseit werfen, sondern eben als vollkommenen Ausdruck der bestehenden<br />

Tollheit ausbeuten und, indem wir es umkehren, darauf fortbauen. <strong>Die</strong>ser Egoismus ist so auf<br />

die Spitze getrieben, so toll und zugleich so selbstbewußt, daß er in seiner Einseitigkeit sich<br />

nicht einen Augenblick halten kann, sondern gleich in Kommunismus umschlagen muß. Erstens<br />

ist es Kleinigkeit, dem Stirner zu beweisen, daß seine egoistischen Menschen notwendig aus<br />

lauter Egoismus Kommunisten werden müssen. Das muß dem Kerl erwidert werden. Zweitens<br />

muß ihm gesagt werden, daß das menschliche Herz schon von vornherein, unmittelbar, in<br />

seinem Egoismus uneigennützig und aufopfernd ist, und er also doch wieder auf das<br />

hinauskommt, wogegen er ankämpft. Mit diesen paar Trivialitäten kann man die Einseitigkeit<br />

zurückweisen. Aber was an dem Prinzip wahr ist, müssen wir auch aufnehmen. Und wahr ist<br />

daran allerdings das, daß wir erst eine Sache zu unsrer eignen, egoistischen Sache machen<br />

müssen, ehe wir etwas dafür tun können - daß wir also in diesem Sinne, auch abgesehen von<br />

etwaigen materiellen Hoffnungen, auch aus Egoismus Kommunisten sind, aus Egoismus<br />

Menschen sein wollen, nicht bloße Individuen. (...) Wir müssen vom Ich, vom empirischen,<br />

leibhaftigen Individuum ausgehen, um nicht, wie Stirner, darin steckenzubleiben, sondern uns<br />

von da aus zu 'dem Menschen' zu erheben. 'Der Mensch' ist immer noch eine Spukgestalt,<br />

solange er nicht an dem empirischen Menschen seine Basis hat. Kurz, wir müssen vom<br />

Empirismus und Materialismus ausgehen, wenn unsre Gedanken und namentlich unser<br />

'Mensch' etwas Wahres sein sollen; wir müssen das Allgemeine vom Einzelnen ableiten, nicht<br />

aus sich selbst oder aus der Luft à la Hegel." 66 Trotz oder gerade wegen des in diesem Brief<br />

deutlich werdenden Versuches von Engels, die auf Feuerbach zurückgehende Abstraktion<br />

eines "positiven Menschen", die Marx und Engels in jener Phase als Ziel der Emanzipation<br />

erschien, mittels der Methode von Stirner aus den luftigen Höhen der Abstraktion mit dem<br />

empirischen de facto zu verbinden, 67 kann dieser Brief als Ausgangspunkt der "Deutschen<br />

Ideologie" gewertet werden und damit als ein Grundstein des gesamten Theoriegebäudes von<br />

Marx und Engels. <strong>Die</strong> Länge des Zitates erscheint gerechtfertigt, wenn man bedenkt, daß<br />

Stirners "Einziger" und die "Deutsche Ideologie" von Marx und Engels die konträren Elemente<br />

66 MEW 27,11/12; MEGA III 1,252. Vgl. auch: Mayer, Gustav; Friedrich Engels – Eine Biographie;<br />

Frankfurt/Main 1975; Bd.1, S.198-201.<br />

67 <strong>Die</strong>s wird umso deutlicher, als Engels schreibt: "Wenn aber das leibhaftige Individuum die wahre<br />

Basis, der wahre Ausgangspunkt ist für unsren 'Menschen', so ist auch selbstredend der Egoismus<br />

- natürlich nicht der Stirnersche Verstandesegoismus allein, sondern auch der Egoismus des<br />

Herzens - Ausgangspunkt für unsre Menschenliebe, sonst schwebt sie in der Luft." (MEW 27,12;<br />

MEGA III 1,255) Auch Marx scheint in dieser Zeit an einer umfassenden Kritik Stirners gearbeitet zu<br />

haben, vertröstet er doch Ende Dezember 1844 den Verleger der letztlich nicht erschienenen<br />

Zeitschrift "Vorwärts!", daß es ihm unmöglich sei, "vor der nächsten Woche die Kritik Stirners zu<br />

liefern." (MEW 27,432; MEGA III 1,257. Vgl. auch MEGA III 1,697/8) <strong>Die</strong>ser erste marxsche Versuch<br />

ist jedoch nicht erhalten.<br />

30


des Bruches mit der junghegelianischen Ideologie und damit des langen Schattens Hegels<br />

darstellen. 68<br />

Ein Moment dieses Bruches war - wie schon angesprochen - der Versuch einer Überwindung<br />

des spekulativen Charakters der klassischen deutschen Philosophie und vor allem der<br />

Philosophien Feuerbachs und Hegels. Während Marx und Engels in der Einleitung zur<br />

"Deutschen Ideologie" der Spekulation einen auf die Praxis des Menschen bezogenen<br />

Interpretationsansatz des Seins entgegenstellten, 69 entwickelte Stirner aus der Kritik der<br />

Prämissen, auf denen das spekulative Denken beruht, die These, daß "meine Sache weder das<br />

Göttliche noch das Menschliche, nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw. (ist), sondern<br />

allein das meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie ich einzig bin. Mir geht<br />

nichts über mich!" 70 Marx und Engels erscheint dies nun wiederum als "Fieberphantasie", denn<br />

68 Wenn Louis Althusser zu der These gelangt, daß "die 'deutsche Ideologie' uns schlechthin ein<br />

Denken im Zustand des Bruchs mit seiner Vergangenheit (bietet), indem sie alle seine alten<br />

theoretischen Voraussetzungen dem unerbittlichen Spiel eines kritischen Massakers unterwirft"<br />

(Althusser, Louis; Für Marx; Frankfurt/Main 1968; S.37), so gilt dies uneingeschränkt auch für das<br />

Hauptwerk von Stirner. Marxistische Analysen der Beziehungen von Stirner und Marx weisen<br />

jegliche Parallele mit Vehemenz zurück, da ihnen Stirner als Produkt einer "kleinbürgerlichmittelständischen<br />

Position" (Herzberg, Guntolf; <strong>Die</strong> Bedeutung der Kritik von Marx und Engels an<br />

Max Stirner; in: DZfPh Nr.12/1968; S.1454-1471; hier S.1463) erscheint, obendrein rechtfertige "die<br />

Lehre vom 'Einzigen' den Kapitalismus und das administrativ geordnete Chaos, sie rechtfertigt<br />

Unwahrheit und Unrecht, Haben und Nichthaben, ihr Ideal ist die unsoziale und anonyme Existenz,<br />

sie rechtfertigt sogar den Mord" (Helms, Hans; <strong>Die</strong> Ideologie der anonymen Gesellschaft - Max<br />

Stirners 'Einziger' und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz bis zur<br />

Bundesrepublik; Köln 1966; Klappentext) und wird somit für Helms zur Keimzelle der faschistischen<br />

Ideologie. Helms‘ Behauptung, daß "es keine Schwierigkeiten (bereitet), einen Katalog der<br />

Parallelstellen im ‚Einzigen‘ und ‚Mein Kampf‘ herzustellen" (Helms 1966,5 vgl. auch: S.202), ist<br />

nicht nur deswegen unhaltbar, weil in dem umfangreichen Werk keine Belege geliefert werden,<br />

sondern vor allem, weil gewisse sprachliche Parallelen nicht ausreichen, um die These zu<br />

untermauern, "daß Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben<br />

faschistischen Ungeistes sind." (Helms 1966,5) Inhaltlich widerlegen diese Argumentation Fromm<br />

(Fromm, Erich; <strong>Die</strong> Furcht vor der Freiheit; Frankfurt/Main 1987; S.185-205) und Harich (Harich,<br />

Wolfgang; Zur Kritik der revolutionären Ungeduld – Eine Abrechnung mit dem alten und dem<br />

neuen Anarchismus; Basel 1971; S.104), die beide dem Marxismus zur Zeit der Abfassung ihrer<br />

Bücher nicht fernstanden. Vgl. zur marxistischen Stirneranalyse und zu ihren ungewollten Folgen:<br />

Laska, Bernd; Ein heimlicher Hit - 150 Jahre Stirners 'Einziger' - Eine kurze Editionsgeschichte;<br />

Nürnberg 1995; S.28-38.<br />

69 "Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom<br />

Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopfe, etwa<br />

indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über<br />

alle Wassergefahren erhaben. Sein Leben lang bekämpfte er die Illusion der Schwere, von deren<br />

schädlichen Folgen jede Statistik ihm neue und zahlreiche Beweise lieferte. Der wackre Mann war<br />

der Typus der neuen deutschen revolutionären Philosophen." (MEW 3,13/14)<br />

70 Stirner 1927,7. Stirner ist sich bewußt, daß dieser Paradigmenwechsel gegenüber der klassischen<br />

Philosophie nicht auf den epistemologischen Bereich beschränkt bleibt, denn "die Gedanken waren<br />

für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, <strong>Kai</strong>ser, Papst, Vaterland usw.<br />

Zerstöre ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme ich sie in die meinige zurück und sage, Ich allein bin<br />

leibhaftig. Und nun nehme ich die Welt als das, was sie mir ist, als die meinige, als mein Eigentum:<br />

ich beziehe alles auf mich. Stieß ich als Geist die Welt zurück in tiefster Weltverachtung, so stoße<br />

ich als Eigner die Geister oder Ideen zurück in ihre 'Eitelkeit'. Sie haben keine Macht mehr über mich,<br />

wie über den Geist keine 'Gewalt der Erde' eine Macht hat." (Stirner 1927,16)<br />

31


wenn Stirner "ganz konsequent von den historischen Epochen, von der Nationalität, Klasse<br />

etc. (abstrahiert), oder was dasselbe ist, das herrschende Bewußtsein der ihm am nächsten<br />

stehenden Klasse seiner unmittelbaren Umgebung zum Normalen Bewußtsein 'Eines<br />

Menschenlebens' auf(bläht)" 71 , wird für Marx und Engels trotz aller gegenteiligen<br />

Bekundungen bei Stirner "die spekulative Idee, die abstrakte Vorstellung zur treibenden Kraft<br />

der Geschichte und dadurch die Geschichte zur bloßen Geschichte der Philosophie<br />

gemacht." 72 <strong>Die</strong>se Kritik verfehlt ihr Ziel zum Teil, da Stirner seinen Thesen gar nicht den<br />

Status einer Wahrheit geben möchte, sondern sie als rein individuelle Meinungsbekundungen<br />

jeder Widerlegung zu entziehen versucht, wenn er erklärt, daß nicht nur 'das Sein', sondern<br />

"selbst 'das Ich' Abstraktion ist. Nur ich bin nicht Abstraktion allein, ich bin alles in allem,<br />

folglich selbst Abstraktion oder nichts, ich bin alles und nichts; ich bin kein bloßer Gedanke,<br />

aber ich bin zugleich voller Gedanken, eine Gedankenwelt. Hegel verurteilt das Eigene, das<br />

Meinige, die 'Meinung'. Das 'absolute Denken' ist dasjenige Denken, welches vergißt, daß es<br />

mein Denken ist, daß ich denke und daß es nur durch mich ist. Als Ich aber schlinge ich das<br />

Meinige wieder, bin Herr desselben, es ist nur meine Meinung, die ich in jedem Augenblicke<br />

ändern, d.h. vernichten, in mich zurücknehmen und aufzehren kann." 73 Das Grundproblem<br />

dieser in den geistigen Sphären des Ich beheimateten, schöpferischen Selbstreflexion bleibt<br />

jedoch, 74 daß durch die absolute Relativierung jede Meinung Meinung bleibt und damit einem<br />

unendlichen Regreß das Wort geredet wird, der die Kritik von Marx und Engels herausfordert<br />

und bei ihnen einen zentralen Paradigmenwechsel einleitet. Vertrat Marx in den "Deutsch-<br />

Französischen Jahrbüchern" noch die Vorstellung, daß "unser Wahlspruch also sein (muß):<br />

Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen<br />

sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf", 75 so glaubt er in der<br />

"Deutschen Ideologie" belegen zu können, daß jede "Forderung, das Bewußtsein zu<br />

verändern, auf die Forderung hinaus(läuft), das Bestehende anders zu interpretieren, d.h.<br />

vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen." 76 Marx und Engels teilen die von Stirner<br />

initiierte Kritik der Aufklärungsvernunft, treiben diese weiter, da ihnen die von Stirner<br />

vertretene Trennung des individuellen und abstrakten Denkens 77 zu abstrakt erscheint 78 , da er<br />

71 MEW 3,112.<br />

72 MEW 3,113.<br />

73 Stirner 1927,333.<br />

74 "<strong>Die</strong> Hierarchie wird dauern, solange man an Prinzipien glaubt, denkt, oder auch sie kritisiert: denn<br />

selbst die unerbittlichste Kritik, die alle geltenden Prinzipien untergräbt, glaubt schließlich doch an<br />

das Prinzip. (...) Das Geheimnis der Kritik ist irgendeine 'Wahrheit', diese bleibt ihr energierendes<br />

Mysterium." (Stirner 1927,342/343) Jedoch übersieht Stirner, daß dies auch für die Kritik der<br />

Vernunft gilt.<br />

75 Brief von Marx an Ruge vom September 1843; MEGA III 1,57; MEW 1,346. Weiter heißt es dort: "Es<br />

wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das<br />

Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um<br />

einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die<br />

Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit<br />

keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zu Stande bringt."<br />

76 MEW 3,20.<br />

77 "Nach der Vernünftigkeit streben kann ich wohl, ich kann sie lieben, wie eben Gott und jede andere<br />

Idee auch. Ich kann Philosoph sein, ein Liebhaber der Weisheit, wie ich Gott lieb habe. Aber was<br />

32


trotz der Vernunftkritik noch "vernünftig" argumentiert. 79 Letztlich stehen sie jedoch, nachdem<br />

sie jedes Denken einem umfassenden Ideologieverdacht ausgesetzt haben, vor dem Problem,<br />

daß alle Brücken zwischen der alten Philosophie und der neuen Sichtweise der Dinge<br />

zerbrochen scheinen und doch bei Licht betrachtet dies neue Denken auch nur Denken ist.<br />

Stirner, Marx und Engels versuchen, trotz anders lautender Bekundungen, Feuerbachs Suche<br />

nach dem 'wirklichen Menschen' zu beenden, indem sie nach Wegen aus der Sphäre der<br />

abstrakten Philosophie suchen, wobei sich Stirner dem konkreten Einzelnen, Marx und Engels<br />

hingegen der "Realabstraktion" Gattung in ihrer konkreten Erscheinunsgform der Praxis<br />

zuwenden. Beide Ansätze suchen also jenseits der Sphäre der Spekulation Ansatzpunkte für<br />

ihre Neuinterpretation der Welt zu finden, auch wenn beide diese Charakterisierung energisch<br />

zurückgewiesen hätten. Wolfgang Eßbach wendet sich faktenreich gegen das Etikett des<br />

"subjektivistischen Idealismus", welches in fast jeder Stirner-Kritik fällt, wenn es um den<br />

Ausgangspunkt dieser Spekulationskritik geht, und plädiert für eine Charakterisierung als<br />

"Materialismus des Selbst", da "1. sein Nominalismus, 2. sein Insistieren auf der Sterblichkeit<br />

des Selbst, und 3. seine Konzeption der Selbstkohärenz" 80 antiidealistische Momente seien.<br />

Eßbach stellt sich damit in die Tradition des angesprochenen Briefes von Engels und<br />

unterstreicht so sie These, daß ein radikaler Egoismus zwangsläufig in Kommunismus<br />

respektive Materialismus umschlagen müsse, da bei der Entschlüsselung der geistigen<br />

Bestandteile des eigenen Ichs und in noch stärkerem Maße in Bezug auf die eigene Genese<br />

jedem unbefangenen Betrachter die Rolle der Gesellschaft für die Konstruktion des Egos ins<br />

Auge fallen muß. <strong>Die</strong>ser Argumentationsstrang erlangt ein noch größeres Gewicht, wenn man<br />

berücksichtigt, daß für das Individuum nur das eigene Ich ohne jede Einschränkung<br />

materialistisch erfahrbar ist, während allen anderen Phänomenen stets der Verdacht anhaftet,<br />

Hirngespinste zu sein. Marx und Engels distanzieren sich in der "Deutschen Ideologie" vom<br />

stirnerschen Konzept der Selbstkohärenz, das sie als "lumpige Distinktion" 81 denunzieren, nicht<br />

ich liebe, wonach ich strebe, das ist nur in meiner Idee, meiner Vorstellung, meinen Gedanken: es ist<br />

in meinem Herzen, meinem Kopfe, es ist in mir wie das Herz, aber es ist nicht ich, ich bin es nicht."<br />

(Stirner 1927,80) "Anders verhält es sich, wenn das deinige nicht zu einem Fürsichseienden<br />

gemacht, nicht personifiziert, nicht als ein eigener 'Geist' verselbständigt wird. Dein Denken hat<br />

nicht 'das Denken' zur Vorraussetzung, sondern dich." (Stirner 1927,344) In diesem Sinne mißt<br />

Stirner der Aufklärung und ihrem Vernunftideal einen anderen Stellenwert zu: "Ist es der <strong>Dr</strong>ang<br />

unserer Zeit, nachdem die Denkfreiheit errungen, diese bis zu jener Vollendung zu verfolgen, durch<br />

welche sie in die Willensfreiheit umschlägt, um die letztere als das Prinzip einer neuen Epoche zu<br />

verwirklichen, so kann auch das letzte Ziel der Erziehung nicht mehr das Wissen sein, sondern nur<br />

das aus dem Wissen geborene Wollen, und der sprechende Ausdruck dessen, was sie zu erstreben<br />

hat, ist: der persönliche oder freie Mensch. <strong>Die</strong> Wahrheit selbst besteht in nichts anderem als in<br />

dem Offenbaren seiner selbst, und dazu gehört das Auffinden seiner selbst, die Befreiung von allem<br />

Fremden, die äußerste Abstraktion oder Entledigung von aller Autorität, die wiedergewonnene<br />

Naivität." (Stirner 1986,88)<br />

78 "Wir werden sehen, daß er sich zur Gattung geradeso stellt wie zum Heiligen; je mehr er gegen sie<br />

poltert, desto mehr glaubt er an sie." (MEW 3,410)<br />

79 "Der Glaube, daß das Bewußtsein an Allem schuld ist, ist seine Satzung, die ihn zum Empörer und<br />

den Pöbel zum Sünder macht." (MEW 3,366)<br />

80 Eßbach 1978,113.<br />

81 "Solche lumpige Distinktionen sind z.B.: wie die Menschen sich gegenseitig exploitieren, aber<br />

doch Keiner dies auf Kosten des Andern tut; inwiefern Etwas mir eigen oder eingegeben ist; die<br />

33


weil sie das Projekt der Entfesselung des Ichs aus den Ketten der Entfremdung ablehnen,<br />

sondern weil ihnen dieses Unterfangen vor dem Hintergrund der von Marx entmystifizierten<br />

Subjekt-Objekt-Relation in Bezug auf einen gesellschaftlichen Menschen und einen Menschen<br />

in Gesellschaft 82 zu kurz gegriffen anmutet.<br />

Letztlich offenbart sich die Auseinandersetzung zwischen Marx, Engels und Stirner als großes<br />

Mißverständnis, das keine fundamentale Gegnerschaft zur Folge haben sollte, wie dies von den<br />

Epigonen beider Seiten 83 propagiert wird, sondern die als partiell schlüssige Interpretationen<br />

des de facto im Sinne der Möglichkeit einer Emanzipation nutzbar gemacht werden sollten.<br />

Während Stirner das Verdienst zukommt, ausgehend vom Materialismus des Egos immanente<br />

Ansätze der Transformation des Seins im Sinne einer Überwindung des de facto vorerst<br />

theoretisch aufgezeigt und mittels seiner Selbstreflexion die individuellen Ansätze und Ziele<br />

einer Bewegung der realen Freiheit konkreter gefaßt zu haben, obliegt es festzuhalten, daß die<br />

Überlegungen von Marx und Engels, mittels des Bezuges auf den Materialismus der<br />

Verhältnisse, das gesellschaftliche Moment der Beziehung des "Menschen als Ursache" zum<br />

"Menschen als Folge" zumindest theoretisch durchdrungen haben. Wie die einzelnen Thesen<br />

auf unterschiedlichen Ebenen kompatibel sind, so kommt es auch bei der zusammenfassenden<br />

Polemik von Marx und Engels, die in Stirner "zu gleicher Zeit die 'Phrase' und de(n)<br />

'Phraseneigner', zu gleicher Zeit Sancho Panza und Don Quijote" 84 zu erkennen glauben, auf<br />

den Blickwinkel an, denn es ist Peter Heintz zuzustimmen, wenn er ausführt, daß "der<br />

anarchistische <strong>Revolution</strong>är als das neuzeitliche Ebenbild des Don Quijote verstanden werden<br />

(kann). <strong>Die</strong> von Cervantes geschaffene Gestalt eines 'Anarchisten' aus dem 16.Jahrhundert<br />

stellt in ihren sinnlosen und absurden Situationen zugunsten der Schwachen und Unterdrückten<br />

sowie gegen die Staatsmacht einen solchen 'Verrückten' dar, der auf seinen schlauen und<br />

realistischen Knappen Sancho Panza allein durch seine menschliche Integrität, durch seine<br />

Konstruktion einer menschlichen und einer einzigen Arbeit, die nebeneinander existieren; das für<br />

das menschliche Leben Unentbehrliche und das dem einzigen Leben Unentbehrliche; was der<br />

reinen Persönlichkeit angehört und was sachlich zufällig ist, wo Sankt Max, von seinem<br />

Standpunkte aus, gar kein Kriterium hat; was zu den Lumpen und was zur Haut des Individuums<br />

gehört; was er durch die Verneinung total los wird oder sich aneignet, inwiefern er bloß seine<br />

Freiheit oder bloß seine Eigenheit aufopfert, wo er auch opfert, aber nur insofern er eigentlich nicht<br />

opfert, was mich als Band und was mich als persönliche Beziehung zu den Anderen in Verhältnis<br />

bringt." (MEW 3,254)<br />

82 Vgl. Kapitel 3 dieser Studie.<br />

83 Zum einen sind hier anarchistische Interpretationen zu nennen (Laska, Bernd; Ein dauerhafter<br />

Dissident - 150 Jahre Stirners ‚Einziger‘ - Eine kurze Wirkungsgeschichte; Nürnberg 1996;<br />

Knoblauch, Jochen/ Peterson, Peter (Hrg.); Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt - Texte zur<br />

Aktualität von Max Stirner; Berlin 1996; Bartsch, Günter; Stirners Anti-Philosophie & <strong>Die</strong><br />

revolutionären Fisiokraten – Zwei Essays; Berlin 1992; Senft, Gerhard; Der Schatten des Einzigen –<br />

<strong>Die</strong> Geschichte des Stirnerschen Individual-Anarchismus; Wien 1988; Kast 1979) und zum anderen<br />

sei Hans G. Helms erwähnt, der in "<strong>Die</strong> Ideologie der anonymen Gesellschaft" (Helms 1966) als<br />

lupenreiner Marxist-Leninist argumentiert. Da die marxistische Stirner-Rezeption hier scharf kritisiert<br />

wurde, soll auch erwähnt werden, daß anarchistische Autoren nicht vor Übertreibungen gefeit<br />

waren, urteilt doch Mackay über Stirners ‚Einzigen‘, daß "alle Bände aller Bibliotheken der Welt es<br />

nicht ersetzen (könnten), wäre es verloren gegangen. Alles vor und nach ihm Ge sagte erscheint ihm<br />

gegenüber so ziemlich überflüssig." (Mackay, John Henry; Abrechnung – Randbemerkungen zu<br />

Leben und Arbeit; Freiburg/Breisgau 1976; S.85)<br />

84 MEW 3,79.<br />

34


unerschütterliche Haltung, nicht aber durch seine lächerliche Ideologie von einem<br />

verschwundenen Rittertum immer wieder überzeugend wirkt. (...) Sancho Panza, der treue<br />

Knappe des 'Ritters von der traurigen Gestalt', stellt dagegen im anarchistischen Sinne die<br />

grosse Masse der Bevölkerung, das Volk dar, von dem Proudhon sagt: 'Es sucht nicht wie die<br />

alten Philosophen 'das höchste Glück' oder wie die modernen Sozialisten 'das Glück', es hat<br />

keinen Glauben an das Absolute und stößt jedes aprioristische und endgültige System als<br />

tödliches Gift zurück. Sein tiefes Verständnis sagt ihm, daß weder das Absolute noch der<br />

Status quo den menschlichen Einrichtungen adäquat sind." 85 Ist es nicht das Bewußtsein der<br />

Zerrissenheit des Ichs zwischen Don Quijote und Sancho Panza, das den progressiven<br />

Menschen nach dem Ende der Allmachtsphantasien des Marxismus zwischen Wunsch und<br />

Realität versteinern läßt?<br />

Ausführlich setzten sich Marx und Engels auch mit Proudhon 86 und Bakunin 87 auseinander,<br />

wobei ihre Hauptkritik an der anarchistischen Bewegung in deren fehlender klassenspezifischer<br />

Bindung zu den Arbeitern und der Arbeiterklasse begründet zu liegen scheint. So schreibt<br />

Engels 1877: "Während bei den arbeitenden Massen ein leidenschaftlicher, aber höchst<br />

unklarer Klassenhaß gegen ihre Ausbeuter vorherrschte, bemächtigte sich eine Schar junger<br />

Advokaten, Doktoren, Literaten, Kommis usw., unter Bakunins persönlichem Kommando,<br />

der Leitung an allen Orten, wo ein revolutionäres Arbeiterelement hervortrat. Sie alle waren<br />

Mitglieder, in verschiedenen Graden der Weihe, der geheimen bakunistischen 'Allianz', die den<br />

Zweck hatte, die gesamte europäische Arbeiterbewegung ihrer Führung zu unterwerfen und<br />

der bakunistischen Sekte somit in der kommenden sozialen <strong>Revolution</strong> die Herrschaft zu<br />

85 Heintz, Peter; Anarchismus und Gegenwart; Westberlin 1973; S.60.<br />

86 Vgl.: Gurvitch, Georges; Proudhon et Marx - Une confrontation; Paris 1964; Jackson, John H.; Marx,<br />

Proudhon, and European Socialism; London 1957; Thier, Erich; Marx und Proudhon; in:<br />

Marxstudien; Tübingen 1957; S.120-150. Auf die Offerte von Marx an Proudhon, sich am<br />

"Kommunistischen Korrespondenz Komitee" zu beteiligen (MEW 27,442-444; MEGA III 2,7/8),<br />

antwortete Proudhon 1946: "Cherchons ensemble, si vous voulez, les lois de la société; le monde<br />

dont ces lois se réalisent, le progrés suivant lequel nous parvenons à les découvrir: mais, pour<br />

<strong>Die</strong>u! après avoir démoli tout les dogmatismes àpriori, ne songeons point à endoctriner le peuple;<br />

ne tombons pas dans la contradiction de votre compatriote Martin Luther, qui, après avoir renversé<br />

la théologie catholique, se mit aussiôt, à grands renfort d'excummunications et d'anathèmes, à<br />

fonder une théologie protestante. (...) J'applaudis de tout mon coeur à votre pensée de produire au<br />

jour toutes les opinions; faisons nous une bonne et loyale polémique; donnons au monde l'exemple<br />

d'une tolèrance savante et prévoyante; mais, parce que nous sommes à la tête du mouvement, ne<br />

nous faisons pas les chefs d'une nouvelle intolérance, ne nous posons pas en apôtres d'une<br />

nouvelle religion, cette religion fût-elle la religion de la logique, la religion de las raison.<br />

Accueillons, encourageons toutes les protestations; flétrissons toutes les exclusions, tous les<br />

mysticismes; ne regardons jamais une question comme épuisée; at quand nous aurons usé jusqu'à<br />

notre dernier argument, recommencons, s'il faut, avec l'éloquence et l'ironie. A cette condition,<br />

j'entrerai avec plaisir dans votre association, sinon, non!" (MEGA III 2,205) Proudhon wurde<br />

niemals Mitglied einer kommunistischen Organisation.<br />

87 Vgl.: Blos, Wilhelm (Hrg.); Karl Marx oder Bakunin? Demokratie oder Diktatur? Neuausgabe der<br />

Berichte an die Sozialistische Internationale über Michael Bakunin; Stuttgart 1920; Brupbacher,<br />

Fritz; Marx und Bakunin - Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation; Berlin<br />

1922; Scheibert, Peter; Marx, Bakunin und die Erste Internationale; in: Österreichische Osthefte<br />

Nr.6/1965; S.441-456. Lesenswert ist auch der für eine Radiosendung der BBC auf Grundlage der<br />

überlieferten Aufzeichnungen von Marx und Bakunin verfaßte "Dialog über Sozialismus und<br />

Anarchismus" (Cranston, Maurice; Westberlin 1979).<br />

35


erschwindeln. (...) Solange die Bewegung unter den Arbeitern selbst noch im Entstehen war,<br />

ging dies vortrefflich." 88 <strong>Die</strong> These, daß der Anarchismus eine "Kinderkrankheit" der<br />

revolutionären Arbeiterbewegung war, vertritt Engels auch in einer seiner letzten Schriften im<br />

Jahr 1894, denn "Massenbewegungen sind im Anfang notwendig konfus; konfus, weil alles<br />

Massendenken sich zuerst in Widersprüchen, Unklarheiten, Zusammenhanglosigkeiten bewegt,<br />

konfus aber auch eben wegen der Rolle, die die Propheten anfangs noch darin spielen. <strong>Die</strong><br />

Konfusion zeigt sich in der Bildung zahlreicher Sekten, die sich untereinander mit mindestens<br />

ebenderselben Heftigkeit bekämpfen wie den gemeinsamen Feind von draußen." 89 <strong>Die</strong>se<br />

These schien lange Jahre durch die historische Entwicklung bestätigt zu werden, verlor doch<br />

der Anarchismus nach seiner Blütezeit 1870-1914 vor allem nach dem Sieg der russischen<br />

<strong>Revolution</strong> zunehmend an Einfluß, wenn man von den Entwicklungen in China bis 1928 und<br />

Spanien bis 1939 einmal absieht. Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Praxiswerdung der<br />

Lehre der marxistischen Propheten ist jedoch zu fragen, ob diese Trennung auch für zukünftige<br />

Entwicklungsvarianten der Menschheit aufrecht zu halten ist und ob nicht in einer Phase, in der<br />

die marxistische Massenbewegung wie ein tönerner Riese durch die Brandungswellen der<br />

gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung in ihr indifferentes Ursprungsmaterial<br />

zurücktransformiert wird, auch die auf Engels zurückgehende Überlegenheitsphantasie des<br />

Marxismus zwischen den Sandkörnern des Seins ihr Ende fand.<br />

In der Zielvorstellung der beiden gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen, die heute kaum<br />

als Landmarken auf der Suche nach einer alternativen Gesellschaft kenntlich sind, kann die<br />

bisherige Trennung nicht begründet liegen, denn wenn sich "die anarchistische Lehre in einem<br />

einzigen Wort (resümieren läßt): Freiheit" 90 , gleicht sie damit auffällig der marxschen Position,<br />

wie sie in der berühmten Passage im Kapital entwickelt wird. 91 Eine erste Differenz zwischen<br />

den beiden Ansätzen kann in Bezug auf das Ziel der Abschaffung des Staates kenntlich<br />

gemacht werden, das bei den Anarchisten als Vorbedingung jeder weiteren Entwicklung<br />

formiert, während für Marx und Engels eine solche Maßnahme "nur einen Sinn bei den<br />

Kommunisten als notwendiges Resultat der Abschaffung der Klassen (hat), mit denen von<br />

selbst das Bedürfnis der organisierten Macht einer Klasse zur Niederhaltung der andern<br />

wegfällt." 92 <strong>Die</strong> Anarchisten würden nach Engels hingegen "die Sache auf den Kopf (stellen).<br />

Sie erklären, die proletarische <strong>Revolution</strong> müsse damit anfangen, daß sie die politische<br />

Organisation des Staates abschafft. Aber die einzige Organisation, die das Proletariat nach<br />

seinem Sieg fertig vorfindet, ist eben der Staat. <strong>Die</strong>ser Staat mag sehr bedeutender<br />

Änderungen bedürfen, ehe er seine neuen Funktionen erfüllen kann. Aber ihn in einem solchen<br />

88 MEW 19,91. Zur sozialen Herkunft der Anarchisten vgl. die Umfrage, die Hamon (Hamon, Augustin<br />

Frédéric; Psychologie de l'anarchiste-socialiste; Paris 1895) 1894 unter 170 führenden Anarchisten<br />

aus 15 Ländern durchführte und die zumindest teilweise als Beleg für die These dienen kann, daß<br />

die Anarchisten zumeist aus den "führenden Schichten" der Gesellschaft kamen. Vgl. auch: ders.;<br />

Les hommes et les théories de l'anarchie; Paris 1893.<br />

89 MEW 22,460. Vo n vielen unbemerkt legt Engels in dieser Schrift "Zur Geschichte des<br />

Urchristentums" den Grundstein für die oft rezipierte These eines Vergleiches des Christentums mit<br />

der sozialistischen Bewegung.<br />

90 EE 1,115.<br />

91 MEW 25,828.<br />

92 MEW 7,288.<br />

36


Augenblick zerstören, das hieße, den einzigen Organismus zerstören, vermittelst dessen das<br />

siegreiche Proletariat seine eben eroberte Macht geltend machen, seine kapitalistischen Gegner<br />

niederhalten und diejenige ökonomische <strong>Revolution</strong> der Gesellschaft durchsetzen kann, ohne<br />

die der ganze Sieg enden müßte in einer neuen Niederlage und in einer Massenabschlachtung<br />

der Arbeiter, ähnlich derjenigen nach der Pariser Kommune." 93 Wenn Engels als Lehre aus<br />

der Niederlage die Aufrechterhaltung des Staates auch nach der erfolgreichen <strong>Revolution</strong> zieht,<br />

so ist aus heutiger Sicht zu fragen, welche Lehre aus der Massenabschlachtung der<br />

<strong>Revolution</strong>äre durch den revolutionären Staat selbst zu ziehen ist und ob nicht vielleicht<br />

resümiert werden muß, daß sowohl das eine Extrem wie das andere seine Funktion nicht erfüllt<br />

hat, gleichgültig, ob dies aus diesem Verhältnis selbst entspringt oder nur gänzlich andere<br />

Ursachen hat.<br />

In eine ähnliche Richtung geht auch das zweite, zentrale Unterscheidungsmerkmal, das in der<br />

Beteiligung respektive Nichtbeteiligung der <strong>Revolution</strong>äre am politischen Prozeß der<br />

bürgerlich-kapitalistischen Ordnung zu liegen scheint, denn während die anarchistischen<br />

Theoretiker für einen prinzipiellen Verzicht auf Partizipation an diesen Prozessen plädierten,<br />

waren Marx und Engels zumindest der Meinung, daß sich die <strong>Revolution</strong>äre bemühen sollten,<br />

auch legale Standbeine in der existierenden Interaktionsform zu kreieren, ohne gänzlich einem<br />

Parlamentarismus verfallen zu sein wie ihre ungewollten marxistischen Schüler. "<strong>Die</strong> Praxis des<br />

wirklichen Lebens, die politische Bedrückung, der die bestehenden Regierungen die Arbeiter<br />

aussetzen - sei es zu politischen, sei es zu sozialen Zwecken -, zwingt die Arbeiter in die<br />

Politik, ob sie wollen oder nicht. Ihnen Abstention von der Politik zu predigen, hieße, sie der<br />

Bourgeoisiepolitik in die Arme zu treiben. Namentlich nach der Kommune von Paris, die die<br />

politische Aktion des Proletariats auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist politische Abstention<br />

ganz und gar unmöglich." 94 Vor dem Hintergrund, daß selbst die utopischsten Voluntaristen<br />

heute anerkennen, daß keine "politische Aktion" der Arbeiterklasse oder einer anderen<br />

revolutionären Gesellschaftsgruppe vor der Tür steht, kann der Unterschied zwischen<br />

Anarchismus und marxscher Theorie als marginal bezeichnet werden, auch wenn dies eine<br />

prinzipielle Klärung der wie auch immer gearteten Beteiligung an den Bewegungen des de<br />

facto nicht überflüssig macht, sondern nur vertagt.<br />

Der dritte, als wesentlich verstandene Unterschied liegt in der Form der politischen<br />

Assoziation der <strong>Revolution</strong>äre begründet. Während der Großteil der anarchistischen Theorien<br />

von einer freiwilligen Assoziation ausgeht, in der jegliche Form des Zwanges als<br />

kontraproduktiv gesetzt wird, polemisiert Engels nach der Niederlage der Pariser Kommune<br />

gegen die These, daß "gerade jetzt, wo wir uns mit Hand und Fuß unsrer Haut wehren<br />

müssen, das Proletariat sich nicht nach den Bedürfnissen des Kampfes organisieren (soll), den<br />

man ihm täglich und stündlich aufzwingt, sondern nach den Vorstellungen, die sich einige<br />

Phantasten von einer unbestimmten zukünftigen Gesellschaft machen! (...) Von<br />

Zusammenfassen der Kräfte, von gemeinsamer Aktion ist keine Rede mehr. Wenn in jeder<br />

einzelnen Sektion die Minderzahl sich nach der Mehrzahl fügt, so begeht sie ein Verbrechen<br />

gegen die Prinzipien der Freiheit und erkennt ein Prinzip an, das zur Autorität und zur Diktatur<br />

93 MEW 19,344/345.<br />

94 MEW 17,416.<br />

37


strebt!" 95 Wenn man sich die weitere Entwicklung der marxistischen Arbeiterbewegung<br />

vergegenwärtigt, muß man eingestehen, daß diese Polemik von Engels durch die Realität sogar<br />

noch übertroffen und Engels Einwände damit eindeutig widerlegt wurden. Zwar ist seine<br />

Position vor dem Hintergrund der konkreten Niederlage in Paris verständlich, aber genauso<br />

verständlich ist, daß diese Lehre sich alsbald als Irrlehre erwies. Man muß sich jedoch bei<br />

diesem Problem - genau wie bei allen anderen Problemen - davor hüten, der gleichen Tendenz<br />

zum Schematismus zu erliegen wie Engels und als Lehre aus einem Fehler die<br />

Diametralposition zu präsentieren, auch wenn dies am einfachsten und einleuchtendsten<br />

erscheint. 96<br />

Der Marxismus 97 wiederholte mit dem Verweis auf die eigene Überlegenheit - schließlich blieb<br />

den Anarchisten eine Oktoberrevolution versagt - die angesprochenen, aus der konkreten<br />

Situation gewonnenen Urteile von Marx und Engels gebetsmühlenartig und versuchte, vor<br />

allem mit einem Verweis auf die nichtproletarische Mehrheit der anarchistischen Theoretiker,<br />

diese zu diskreditieren, ohne selbst zu bemerken, wie lächerlich dies war und ist, denn Engels<br />

Sippe verfügte über ähnliche Reichtümer wie die Familien von Bakunin oder Fürst Kropotkin,<br />

ohne daß Engels deswegen gleich zum bürgerlichen Agenten innerhalb der Arbeiterbewegung<br />

mutiert wäre. Einzig Nicolai Bucharin eröffnete mit seiner Broschüre "Anarchismus und<br />

wissenschaftlicher Kommunismus" zwei neue Geschichtspunkte eines Vergleiches der beiden<br />

Positionen. Auf der einen Seite gibt es eine Differenz bezüglich der wirtschaftlichen<br />

Organisation der zukünftigen Gesellschaft, denn das Ideal der Marxisten ist "die zentralisierte<br />

und planmäßig organisierte Produktion in Großbetrieben, letzten Endes die organisierte<br />

Produktion der gesamten Weltwirtschaft. <strong>Die</strong> Anarchisten hingegen geben einem ganz anderen<br />

Typus der Produktionsverhältnisse den Vorzug: ihr Ideal sind kleine Kommunen, die nach ihrer<br />

Struktur keine Großwirtschaft betreiben können, die 'Vereinbarungen' miteinander treffen und<br />

durch ein Netz von freiwilligen Verträgen miteinander in Verbindung stehen." 98 Auf der<br />

anderen Seite variiert Bucharin das marxistische Verdammungsurteil insoweit, als er der<br />

95 MEW 17,478.<br />

96 In einem Brief an Carlo Terzaghi wettert Engels 1872: "Mir scheint, daß man mit den Phrasen der<br />

'Autorität' und der Zentralisation großen Mißbrauch treibt. Ich kenne nichts Autoritäreres als eine<br />

<strong>Revolution</strong>, und wenn man seinem Willen den anderen mit Bomben und mit Gewehrkugeln<br />

aufzwingt, wie in jeder <strong>Revolution</strong>, dann scheint mir, daß man Autorität ausübt. Es war der Mangel<br />

an Zentralisation und Autorität, der die Pariser Kommune das Leben gekostet hat. Machen Sie mit<br />

der Autorität usw. nach dem Siege, was sie wollen, doch für den Kampf müssen wir alle unsere<br />

Kräfte zusammenballen und sie auf denselben Angriffspunkt konzentrieren. Und wenn man mir von<br />

Autorität und von Zentralisation wie von zwei unter allen möglichen Umständen<br />

verdammenswerten Dingen spricht, dann scheint mir, daß diejenigen, die so sprechen, entweder<br />

nicht wissen, was eine <strong>Revolution</strong> ist, oder daß sie <strong>Revolution</strong>äre nur mit Phrasen sind." (MEW<br />

33,374/375; vgl. auch: MEW 17,305-308) Trotz der Gefahr, dem engelsschen Verdammungsurteil<br />

auch 100 Jahre nach dessen Tod zu verfallen, muß doch zugestanden werden, daß Autorität und<br />

Zentralisation in allen, sich real vollziehenden Prozessen nach dem Sieg der <strong>Revolution</strong> zu Mächten<br />

wurden, gegen die die ursächlichen <strong>Revolution</strong>äre zu Zauberlehrlingen degradiert wurden, denen<br />

nicht nur das Laboratorium vernichtet wurde, sondern oft die eigene physische wie psychische<br />

Existenz.<br />

97 Hier sind vor allem zu nennen: Plechanow, Georgi; Anarchismus und Sozialismus; Berlin 1894; und<br />

Lenins ‚Was tun?‘ (LW 5,357-551).<br />

98 Bucharin, Nicolai; Anarchismus und wissenschaftlicher Kommunismus; Hamburg 1918; S.5/6.<br />

38


anarchistischen Bewegung in der vorrevolutionären Zeit durchaus eine positive Rolle zugesteht,<br />

die sich erst im Prozeß der <strong>Revolution</strong> selbst als kontraproduktiv enttarnen wird. 99<br />

Wenn in dieser Studie im weiteren versucht wird, Gedanken der anarchistischen Bewegung für<br />

eine Neufassung der marxschen Theorie nutzbar zu machen, so sind zuvor die drei<br />

Problemkomplexe, die Anarchismus und marxsche Theorie voneinander trennen, näher zu<br />

beleuchten:<br />

1. <strong>Die</strong> Zielkategorie der gesellschaftlichen Emanzipation. Hier sind vor allem die<br />

Komplexe Staat und Ökonomie vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen zu<br />

diskutieren, ohne jedoch die Frage der Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die im Mittelpunkt<br />

des dritten Kapitels steht, aus den Augen zu verlieren, oder anders ausgedrückt: Welche<br />

Formen von Staatlichkeit und außerindividueller Verknüpfung sind durch ökonomische<br />

Konditionalitäten mit dem Konzept einer möglichst selbstbestimmten Entäußerung des<br />

Menschen zu verbinden oder gar zu verschmelzen?<br />

2. <strong>Die</strong> Frage der Organisation einer möglichen Bewegung im Hinblick auf die<br />

Strukturen der intersubjektiven Vermittlung der gegenwärtigen und der potentiell<br />

zukünftigen Gesellschaft. Hier bietet es sich an, den Begriff der "Autorität" und den aus der<br />

Aufklärung ererbten Inhalt einer Unterordnung des "Unmündigen und Unwissenden" unter die<br />

Macht des wissenden Subjektes kritisch zu hinterfragen, da die Diskussionen zwischen<br />

Anarchismus und Sozialismus oft als Gegensatz von autoritärer und antiautoritärer<br />

Emanzipation gewertet werden.<br />

3. <strong>Die</strong> Frage einer möglichen Strategie zur Durchsetzung dieser Maxime, wobei die<br />

Praktikabilität dieser Überlegungen vor dem aktuellen Hintergrund diskutiert werden soll, kann<br />

Aufschlüsse über das "ob" und das "wie" einer Transformation geben, sowie über mögliche<br />

Formen des konkreten Eingreifens des Einzelnen und der Gruppe der Veränderungswilligen.<br />

4. Das Problem der Übertragbarkeit menschlicher Erfahrung. <strong>Die</strong> Suche nach<br />

Wegweisern menschlicher Emanzipation hat jedoch nur dann einen Sinn jenseits meines<br />

eigenen Möglichkeitshorizontes, wenn Erfahrungen bzw. auf diesen Erfahrungen basierendes<br />

Bewußtsein kein individuelles Vergnügen bleibt, dessen Ausprägung und Darstellungsform sich<br />

von Mensch zu Mensch fundamental unterscheidet. Es gilt somit zu prüfen, wie und wo<br />

99 "<strong>Die</strong> Arbeiterrevolution weist zwei Seiten auf: die zerstörende und die schöpferisch-aufbauende.<br />

<strong>Die</strong> zerstörende Seite kommt in erster Linie im Sturz des bürgerlichen Staates zum Ausdruck. Wohl<br />

behaupten die sozialdemokratischen Opportunisten, die Eroberung der Macht durch das Proletariat<br />

bedeute bei weitem noch nicht die Zerstörung des kapitalistischen Staates. Eine solche 'Eroberung'<br />

existiert jedoch nur in den Köpfen der Einzelpersonen. In Wirklichkeit geht die Eroberung der<br />

Macht durch die Arbeiter über die Zerstörung der Macht der Bourgeoisie. In diesem<br />

Zerstörungswerk gegen den bürgerlichen Staat können die Anarchisten eine positive Rolle spielen.<br />

Doch sind sie organisch unfähig, eine 'neue Welt' zu schaffen. Und nach der Eroberung der Macht<br />

durch das Proletariat, wenn das Schwergewicht auf den Aufbau des Sozialismus verlegt wird,<br />

spielen die Anarchisten eine fast ausschließlich negative Rolle, indem sie diesen Aufbau durch ihre<br />

wilden desorganisatorischen Aktionen stören." (Bucharin 1918,13)<br />

Sowohl Max Adler (<strong>Die</strong> Staatsauffassung des Marxismus; in: Marx-Studien, Bd.4 Teil 2; Wien 1922;<br />

vor allem S.217-312) als auch Jewgenij A. Preobraschenskij (<strong>Die</strong> sozialistische Alternative - Marx,<br />

Lenin und die Anarchisten über die Abschaffung des Kapitalismus; Westberlin 1974) entwickeln<br />

differierende und durchaus lesenswerte Analysen des Verhältnisses von Marximus und<br />

Anarchismus, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden kann.<br />

39


Bewußtsein konkret entsteht, wobei nicht der später unternommenen historischen<br />

Rekonstruktion vorgegriffen werden soll, sondern in Anlehnung an die drei angesprochenen<br />

Problemfelder die Reflexion der aktuellen Diskussionen in der Weise genutzt wird, daß sie<br />

erkenntnistheoretische Hindernisse einer Grundlegung praktischer Philosophie in der Tradition<br />

von Karl Marx sichtbar macht.<br />

40


"Dem Geometer, der sich ganz vertieft<br />

den Kreis zu messen und, wie sehr er sinne,<br />

den Grundsatz, dessen er bedarf, nicht findet,<br />

war ich vergleichbar bei dem Anblick:<br />

Wie mit dem Kreise jenes Bild sich einigt,<br />

und wo sein Platz drin ist, wollt ich erkennen,<br />

doch nicht vermochten das die eignen Flügel;<br />

da wurde plötzlich wie von einem Blitze<br />

mein Geist durchzuckt, und das Ersehnte kam.<br />

Hier schwand die Kraft der hohen Phantasie;<br />

doch schon bewegte Willen und Verlangen<br />

mir, wie ein gleichbewegtes Rad, die Liebe,<br />

die kreisen macht die Sonne wie die Sterne."<br />

Alighieri Dante 100<br />

2.1. <strong>Die</strong> Zielkategorie einer Emanzipation: Wald, Bäume und das<br />

de facto<br />

Untrennbar mit dem Versuch einer Formulierung der möglichen Zielkategorie der<br />

gesellschaftlichen Bewegung im Sinne einer Manifestation von Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität ist die Kritik verwoben, daß es sich bei diesem Unterfangen um eine utopische<br />

Verirrung handelt, die den Handelnden die "reale" Einsicht in das praktisch Realisierbare<br />

verstellt und so durch ein überhöhtes Ideal der Emanzipation diese behindert. In der bisherigen<br />

Geschichte der Menschheit war die Popularität utopischer Gesellschaftsentwürfe immer<br />

zyklischen Schwankungen unterworfen, ohne daß ihre prinzipielle Bedeutung für den<br />

geschichtlichen Prozeß der Emanzipation geleugnet werden könnte. 101 Bruno Frei versucht,<br />

Fortschritt und Utopie als Verhältnis zu verstehen, das gleichermaßen aus Hoffnung und<br />

Notwendigkeit gespeist zu individuellen und kollektiven Zielsetzungen kommt, die zwar durch<br />

ihre Zeit geprägt sind, aber auch über diese hinausreichen, und gelangt zu der These: "Je mehr<br />

gesellschaftlicher Fortschritt, um so weniger utopisches Denken." 102 Damit folgt er in gewisser<br />

Weise Marx und Engels, die sich in ihrem Versuch, die Notwendigkeit des Sozialismus<br />

wissenschaftlich herzuleiten, im Laufe ihres Lebens immer stärker gegen die Form der Utopien<br />

wendeten, 103 auch wenn sie natürlich niemals leugnen konnten, daß sie ausgehend von einer<br />

utopischen Hoffnung an eine Welt, wie sie sein könnte, zu ihrem Projekt einer rationalen<br />

Verbindung von Utopie und Wirklichkeit aufgebrochen waren. <strong>Die</strong>ser Linie folgte der<br />

Marxismus in seinem Glauben, daß seine Utopie eine wissenschaftliche Fundierung besäße,<br />

und sprach damit leichtfertig das Urteil über jegliche Form utopischer Zielprojektion der<br />

politischen Praxis: "Das Wesen des heutigen Utopismus ist (in Westeuropa) also in all seinen<br />

100 Dante, Alighieri; <strong>Die</strong> Göttliche Komödie; Leipzig 1990; S.407.<br />

101 Vgl.: Berneri, Marie Louise; Reise durch Utopia: mit Plato, Plutarch, Aristophanes, Morus,<br />

Campanella, Andrea, Bacon, Rabelais, de Foibny, Cabet, Bellamy; Westberlin 1982; Bloch, Ernst;<br />

Das Prinzip Hoffnung; Frankfurt/Main 1959; Chesneux, Jean; Das utopische Denken bis zur<br />

industriellen <strong>Revolution</strong>; Frankfurt/Main 1974; Schwendter, Rolf; Zur Geschichte der Zukunft -<br />

Zukunftsforschung und Sozialismus; Frankfurt/Main 1984; ders.; Utopie - Überlegungen zu einem<br />

zeitlosen Begriff; Berlin 1994.<br />

102 Frei, Bruno; Krise der Utopie und des Fortschritts; in: Condrau, Gion (Hrg.); Psychologie der Kultur<br />

- Kindler's Psychologie des 20. Jahrhunderts; Zürich 1979; Bd.15, S.759.<br />

103 Vgl.: z.B. Engels Schrift "<strong>Die</strong> Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"<br />

(MEW 19,189-228; vor allem S.189-201).<br />

42


Variationen die Annullierung der Aufhebung der klassischen, positiven Utopie im<br />

wissenschaftlichen Sozialismus, die Frontstellung gegen Theorie und Realität des Sozialismus<br />

und der Arbeiterbewegung." 104 Im Gegensatz zu dieser realpolitischen Leugnung der<br />

Notwendigkeit einer Utopie als Korrektiv zur konkreten Praxis ist es innerhalb des modernen<br />

Marxismus vor allem Thomas Metscher 105 gewesen, der die von Bloch vorgenommene,<br />

positive Neubewertung des utopischen Momentes im Marxismus über das realpolitische Ende<br />

des Marxismus hinaus rettete, auch wenn es dem marxistischen Ansatz bisher nicht gelang, die<br />

Notwendigkeit der Utopie zu. 106<br />

Marx und Engels wendeten sich zu ihren Lebzeiten, in denen die soziale Realität Utopien wie<br />

Pilze aus dem Boden sprießen ließ, vor allem gegen die transzendentale Funktion der Utopien<br />

als Ersatzreligion der unterdrückten Menschen, die unabhängig von der Notwendigkeit und<br />

Möglichkeit einer grundlegenden Transformation der gesellschaftlichen Totalität ihren<br />

Ausdruck in "Musterexperimenten" nach dem Beispiel von Owens und Fourier fanden, da<br />

"diese neuen sozialen Systeme von vornherein zur Utopie verdammt (waren); je weiter sie in<br />

ihren Einzelnheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei<br />

verlaufen." 107 Sie wendeten sich also gerade nicht gegen jegliche Form einer Zielperspektive<br />

der gesellschaftlichen Entwicklung jenseits der Sphäre der Analyse der Realität, sondern gegen<br />

die historisch-spezifische Tendenz jener Jahre, ohne grundlegende Kritik des de facto zur<br />

Durchsetzung dieser Zielkategorie zu schreiten. Ihrer Meinung nach war es gerade die<br />

dialektische Verbindung von Utopie und Analyse, die die Manifestation dieser Utopie erst<br />

ermöglichte, "weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das<br />

Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, (da) jede gewordne<br />

Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite aufgefaßt, sich durch<br />

nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist." 108 Während der<br />

Marxismus dieses dialektische Verhältnis nach der einen, scheinbar wissenschaftlichanalytischen<br />

Seite des konkret Machbaren auflöste, betonte die anarchistische Bewegung den<br />

utopischen Charakter des Zieles, und so ist es im Rahmen einer Neubegründung notwendig,<br />

diese beiden Elemente zu vereinen, nicht ohne den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung<br />

zu tragen, denn es verhält sich nach meinem Dafürhalten mit den Utopien wie mit der Form der<br />

104 Steigerwald, Robert; Besetzung des Utopie-Begriffs in der Nachkriegszeit bis heute; in:<br />

Marxistische Blätter Nr.1/1985; S.94. Dort kommt der Chefideologe der DKP, der sich heute als<br />

kritischer Marxist outen läßt, zu der These: Allen Utopien "gemeinsam ist die Wiederherstellung<br />

des Utopischen als Philosophie in der offenen oder verdeckten Ablehnung des Sozialismus als<br />

Wissenschaft und/oder als Realität." (Steigerwald 1985,92). Vgl. auch den Artikel "Utopie" im<br />

"Philosophischen Wörterbuch" (Klaus, Georg/ Buhr, Manfred (Hrg.); Philosophisches<br />

Wörterbuch; Westberlin 1987; S.1249-1254).<br />

105 Metscher, Thomas; Zukunft in der Vergangenheit - <strong>Die</strong> geistige Krise der Gegenwart und das<br />

Problem utopischen Bewußtseins; in: Kultur und Gesellschaft Nr.4/1987; ders.; Zukunft in der<br />

Vergangenheit - Zur Utopie der Liebe bei Shakespeare und in Goethes Faust II.; in: Shakespeare-<br />

Jahrbuch Nr.124/1988.<br />

106 Leider verfällt auch Granowski (Granowski, Alfred; Marxismus und Vision; Bonn 1997) dem<br />

marxistischen Wahn, Utopien als Visionen realpolitisch zu vereinnahmen anstatt sie als dauerhaften<br />

Motor von Veränderungen zu begreifen.<br />

107 MEW 19,194.<br />

108 MEW 23,28.<br />

43


Produktion, über die Marx in Kritik der Auffassung von Proudhon schrieb: "Dank der<br />

einfachen Tatsache, daß jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen<br />

Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein<br />

Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die<br />

um so mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und<br />

infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen." 109<br />

<strong>Die</strong> Zielperspektive der gesellschaftlichen Entwicklung, oder anders gesagt die Utopie, die<br />

Marx und Engels verwirklichen wollten bzw. in deren Richtung sie Anstöße zu geben<br />

versuchten, faßten sie gemeinhin unter dem Begriff des Kommunismus, wobei sie erst nach<br />

1850 begannen, diesen Begriff in das bekannte Zwei-Phasenmodell von Sozialismus und<br />

Kommunismus aufzugliedern. Kennzeichnend für den marxschen Ansatz war, daß dieser<br />

Begriff nicht definitorisch gesetzt, sondern aus der Diskussion mit anderen<br />

Sozialismuskonzepten entwickelt wurde. So hüteten sich Marx und Engels davor, aus ihrer<br />

Utopie ein abgeschlossenes, monolithisches Kennwort einer Sekte zu machen, wie dies später<br />

im Marxismus der Fall war, denn für sie war es zwingend notwendig, die Perspektiven einer<br />

gesellschaftlichen Bewegung in einer Sphäre zu entwickeln, die durch wissenschaftliche<br />

Offenheit und eine diskursive Pluralität gekennzeichnet ist. Neben der sehr allgemeinen Form<br />

des Manifestes 110 plädierte Marx 1850 dafür, sich unter den verschiedenen<br />

Sozialismusmodellen "um den revolutionären Sozialismus, um den Kommunismus (zu<br />

gruppieren), für den die Bourgeoisie selbst den Namen Blanqui erfunden hat. <strong>Die</strong>ser<br />

Sozialismus ist die Permanenzerklärung der <strong>Revolution</strong>, die Klassendiktatur des Proletariats als<br />

notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur<br />

Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung<br />

sämtlicher gesellschaftlichen Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen,<br />

zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen<br />

hervorgehen." 111 <strong>Die</strong>se Passage offenbart nicht nur eine Utopie, die jeder Anarchist<br />

unterschreiben könnte, sondern auch die Begründung dafür, warum es Marx nicht um die<br />

abstrakte Setzung einer Zielkategorie ging, sondern um einen permanenten, diskursiven Prozeß<br />

ihrer Überarbeitung im Prozeß der Praxiswerdung, da diese Kategorie selbst nicht mehr sein<br />

kann als eine bewußte Negativprojektion der kritisierten, gesellschaftlichen Realität und so,<br />

wenn auch nur vermittelt, deren Makel und Fehler teilt. Eine exaktere Beschreibung des<br />

Kommunismus und damit auch des Selbstverständnisses von Marx und Engels als<br />

Kommunisten erfolgte so nicht a priori, sondern entwickelte sich aus der Kritik anderer<br />

Definitionsversuche dieser Utopien, z.B. ab 1848 in Abgrenzung gegen "Leute, die sich<br />

Sozialdemokraten nannten, (und) die keineswegs die Übernahme sämtlicher Produktionsmittel<br />

auf ihre Fahne geschrieben hatten." 112<br />

109 MEW 4,548.<br />

110 "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt<br />

eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung<br />

aller ist." (MEW 4,482)<br />

111 MEW 7,90.<br />

112 MEW 22,417.<br />

44


Wenn man sich die erste Annäherung von Marx an den Kommunismus vergegenwärtigt,<br />

verwundert es, daß er sich überhaupt für diesen begeistern konnte, denn der Kommunismus<br />

erschien ihm als Inbegriff des Dogmatismus. 113 In den "ökonomisch-philosophischen<br />

Manuskripten" entwickelte Marx aus der Kritik des damals vorherrschenden<br />

Kommunismusverständnisses eine erste, allgemeine Einschätzung seiner Utopie: "Der<br />

Kommunismus endlich ist der positive Ausdruck des aufgehobnen Privateigentums, zunächst<br />

das allgemeine Privateigentum. Indem er dies Verhältnis in seiner Allgemeinheit faßt ist er 1. in<br />

seiner ersten Gestalt nur eine Verallgemeinerung und Vollendung desselben (...) die<br />

Bestimmung des Arbeiters wird nicht aufgehoben, sondern auf alle Menschen ausgedehnt; (...)<br />

<strong>Die</strong>ser Kommunismus - indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert - ist eben<br />

nur der konsequenteste Ausdruck des Privateigentums, welches diese Negation ist. (...) Der<br />

rohe Kommunismus ist nur die Vollendung dieses Neides und dieser Nivellierung von dem<br />

vorgestellten Minimum aus. Er hat ein bestimmtes begrenztes Maß. Wie wenig diese<br />

Aufhebung des Privateigentums eine wirkliche Aneignung ist, beweist eben die abstrakte<br />

Negation der ganzen Welt der Bildung und der anderen Zivilisation, die Rückkehr zur<br />

unnatürlichen Einfachheit des armen und bedürfnislosen Menschen, der nicht über das<br />

Privateigentum hinaus, sondern noch nicht einmal bei demselben angelangt ist. (...) 2. Der<br />

Kommunismus α) nach politischer Natur demokratisch oder despotisch; β) mit Aufhebung<br />

des Staats, aber zugleich noch unvollendetem und immer noch mit dem Privateigentum, d.h.<br />

der Entfremdung des Menschen, affiziertem Wesen. (...) Er hat zwar seinen Begriff erfaßt,<br />

aber noch nicht sein Wesen. 3. Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums<br />

als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen<br />

Wesens durch und für den Menschen; (...) <strong>Die</strong>ser Kommunismus ist als vollendeter<br />

Naturalismus = Humanismus, als ein vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die<br />

wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem<br />

Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen<br />

Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen<br />

Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese<br />

Lösung." 114 In keiner seiner späteren Schriften sollte sich Marx so weit auf eine Beschreibung<br />

seiner Zielperspektive einlassen, da ihm in der Auseinandersetzung mit dem<br />

Kommunismusmodell von Stirner klar geworden war, daß der Kommunismus neben seinem<br />

utopischen, deskriptiven Element vor allem "eine höchst praktische Bewegung ist, die<br />

113 "Ich bin daher nicht dafür, daß wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil. Wir müssen<br />

den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, daß sie ihre Sätze sich klarmachen. So ist namentlich der<br />

Kommunismus eine dogmatische Abstraktion, wobei ich aber nicht irgendeinen eingebildeten und<br />

möglichen, sondern den wirklich existierenden Kommunismus, wie ihn Cabet, Dézamy, Weitling etc.<br />

lehren, im Sinn habe. <strong>Die</strong>ser Kommunismus ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem<br />

Privatwesen, infizierte Erscheinung des humanistischen Prinzips. Aufhebung des Privateigentums<br />

und Kommunismus sind daher keineswegs identisch, und der Kommunismus hat andre<br />

sozialistische Lehren, wie von Fourier, Proudhon etc., nicht zufällig, sondern notwendig sich<br />

gegenüber entstehn sehn, weil er selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des<br />

sozialistischen Prinzips ist." (MEW 1,344)<br />

114 MEW 40,534-536.<br />

45


praktische Zwecke mit praktischen Mitteln verfolgt." 115 Wenn der Beschreibung dieser<br />

ursprünglichen Utopie hier ein so umfangreicher Raum gewidmet wurde, so ist dies auf den<br />

Umstand zurückzuführen, daß Marx nach meiner Auffassung an diesem allgemeinen Ziel trotz<br />

vielfältiger Modifikationen aufgrund der veränderten, gesellschaftlichen Ausgangslage sein<br />

ganzes Leben festhielt, 116 obzwar er von einer Postulierung seiner Utopie mehr und mehr<br />

Abstand nahm, um sein analytisches Werk der wissenschaftlichen Durchdringung der<br />

kapitalistischen Totalität nicht dem Vorwurf auszusetzen, es wäre nur eine Ableitung seiner<br />

Utopie.<br />

Da die Erörterung der marxschen Zielperspektive keinerlei Aufschlüsse darüber liefert, wie es<br />

zu der Gegnerschaft von "libertärem Sozialismus" und "autoritärem Sozialismus" kommen<br />

konnte, die am Ausgang dieser Untersuchung stand, weil Marx sich weder für die Fortexistenz<br />

eines Staates im Kommunismus noch für eine Seite des scheinbaren Gegensatzpaares der<br />

kollektiven oder individuellen Produktion begeistern konnte, die die Hauptkritik der<br />

anarchistischen Bewegung an der marxistischen "Utopie" bezeichnet, soll, bevor zur<br />

Hinterfragung des nächsten Problemfeldes übergegangen wird, kurz auf die<br />

Instrumentalisierung der marxschen Vorstellungen durch den marxistischen Realisationsversuch<br />

eingegangen werden, der offensichtlich gar keine Beziehung zu der ursächlichen Utopie von<br />

Marx hatte. Der Marxismus berief sich in seinem Versuch, eine Legitimation für sein Tun zu<br />

finden, auf die Darlegungen von Marx und Engels über die "Diktatur des Proletariats", ohne zu<br />

hinterfragen, in welchem Verhältnis diese Konzeption einer Zwischenebene auf dem Weg zum<br />

Kommunismus zu der angesprochenen Zielperspektive im marxschen Denken stand. In einem<br />

Brief von 1852 beschrieb Marx dieses Problem, Bezug nehmend auf sein Buch "<strong>Die</strong><br />

Klassenkämpfe in Frankreich": "Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der<br />

Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2.<br />

daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur<br />

selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft<br />

bildet." 117 Eine erste Manifestation dieser Übergangsgesellschaft vermutete Engels 1891 in der<br />

Pariser Kommune, 118 als deren wesentliche Merkmale er die Beseitigung der alten<br />

Staatsmacht, Abschaffung des stehenden Heeres, Bewaffnung des Volkes, Zusammenfassung<br />

von Legislative und Exekutive, Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit aller Verwalter, Richter<br />

115 MEW 3,196.<br />

116 Ein Indiz für diese These, die ich hier leider nicht weiter entwickeln kann, ist z.B. die bekannteste<br />

marxsche Kommunismusbeschreibung aus der "Kritik des Gothaer Programms" von 1875: "In einer<br />

höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der<br />

Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit<br />

verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste<br />

Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre<br />

Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller<br />

fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die<br />

Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen<br />

Bedürfnissen!" (MEW 19,21).<br />

117 MEW 28,508.<br />

118 "Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort:<br />

Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht<br />

euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats." (MEW 17,625)<br />

46


und Lehrer, Bezahlung aller öffentlichen Bediensteten nach dem Arbeiterlohn und die<br />

Durchsetzung eines gebundenen Mandates aller, in Vertreterkörperschaften gewählter<br />

Delegierten der "Regierung der Arbeiterklasse" verstand. 119 Engels beschließt diese<br />

Ausführungen mit der These, daß "in Wirklichkeit aber der Staat nichts als eine Maschinerie<br />

zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre (ist), und zwar in der demokratischen<br />

Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem in Kampf<br />

um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmste Seiten es<br />

ebensowenig wie die Kommune umhin kommen wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein<br />

in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den<br />

ganzen Staatsplunder von sich abzutun." 120<br />

Lenin widmete sich in seinem Buch "Staat und <strong>Revolution</strong>" genau diesem Übergangsmoment<br />

und untersuchte dabei, wie der Prozeß des Sturzes der alten Ordnung mit der<br />

Gesamtperspektive des Kommunismus zu harmonisieren sei: "Demokratie für die riesige<br />

Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des<br />

Volkes, d.h. ihr Ausschluß von der Demokratie - diese Modifikation erfährt die Demokratie<br />

beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus." 121 Es ist schon hier zu hinterfragen,<br />

inwieweit Lenins schematische Klassenauffassung die reale Entfaltung seiner Konzeption von<br />

Demokratie verhinderte, verkannte er doch, daß durch die <strong>Revolution</strong> auch die "Ausbeuter"<br />

befreit werden, auch wenn diese in der Mehrzahl an diesem Prozeß nicht unbedingt aktiv<br />

partizipieren - die aktive Teilnahme eines jeden an der <strong>Revolution</strong> ist aber nach der<br />

Avantgardetheorie, auf die sich Lenin immer berufen hat, keine zwingende Voraussetzung für<br />

den Erfolg des Unterfangens - und so stellt sich der Verdacht ein, daß die leninsche<br />

Konzeption, unabhängig von den konkreten Motiven, die Transformation von Macht aus den<br />

Händen eines Teiles der Gesellschaft in die eines anderen Teiles beschreibt. 122 Rosa<br />

119 Vgl. MEW 17,613-625 und 313-364.<br />

120 MEW 17,625. Vgl. auch Engels Darlegungen zu diesem Thema im Anti-Dühring (MEW 20,248-265).<br />

121 LW 25,476.<br />

122 "Beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus ist die Unterdrückung noch notwendig,<br />

aber es ist das bereits eine Unterdrückung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der<br />

Ausgebeuteten. Ein besonderer Apparat, eine besondere Maschine zur Unterdrückung, ein 'Staat'<br />

ist noch notwendig, aber es ist das bereits ein Übergangsstaat, kein Staat im eigentlichen Sinn<br />

mehr, denn die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Lohnsklaven<br />

von gestern ist eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache, daß sie viel weniger<br />

Blut kosten wird als die Unterdrückung von Aufständen der Sklaven, Leibeigenen und<br />

Lohnarbeiter, daß sie der Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird." (LW 25,477) Das Prinzip<br />

einer Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit dem Prozeß einer Rationalisierung<br />

des Blutes der Aufständischen zu vergleichen, wendet sich zwar gegen die konkreten Symptome<br />

der Herrschaft, ohne jedoch ihre Ursache selbst zu bekämpfen und besiegelt so mit dem Blut der<br />

Aufständischen die Notwendigkeit einer Permanenz des Aufstandes auch gegen diese neue,<br />

rationalere Form der Herrschaft. Lenin fährt fort: "Und (diese neue Form der Herrschaft - KSS) ist<br />

vereinbar mit der Ausdehnung der Demokratie auf eine so überwältigende Mehrheit der<br />

Bevölkerung, daß die Notwendigkeit einer besonderen Maschine zur Unterdrückung zu schwinden<br />

beginnt. <strong>Die</strong> Ausbeuter sind natürlich nicht imstande, das Volk niederzuhalten ohne eine sehr<br />

komplizierte Maschine zur Erfüllung dieser Aufgabe, das Volk aber vermag die Ausbeuter mit einer<br />

sehr einfachen 'Maschine' niederzuhalten, durch die einfache Organisation der bewaffneten<br />

Massen (in der Art der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sei vorgreifend bemerkt)."<br />

(LW 25,477) Demnach würde die BRD, in der kaum das Blut von Aufständischen die Straßen rot<br />

47


Luxemburg kommt das Verdienst zu, als erste auf diese Probleme hingewiesen zu haben, die<br />

aus solch schematischen Auffassungen entspringen, wenn sie in ihren Notizen "Zur russischen<br />

<strong>Revolution</strong>" ausruft: "Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer<br />

Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des<br />

Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das<br />

Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und<br />

seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird." 123 <strong>Die</strong>ses Postulat hat bis<br />

heute nichts von seiner Brisanz verloren, nicht nur bei der Bewertung "sozialistischer"<br />

Gesellschaften, sondern auch der formalen Demokratie der kapitalistischen Länder, in der die<br />

Partizipation am gesellschaftlichen Leben den Anhängern der kapitalistischen Form der<br />

Demokratie vorbehalten bleibt. Wie in so vielen anderen Bereichen hinderte ihre Ermordung<br />

Rosa Luxemburg daran, zu zeigen, ob sie in der Lage gewesen wäre, eine Alternative zu<br />

diesen beiden Spielarten der Herrschaft zu entwickeln, und so kann man heute lediglich an ihre<br />

Kritik anknüpfen. 124<br />

In eine ähnliche Richtung geht auch die Position, die Karl Kautsky in seiner<br />

Auseinandersetzung mit der russischen <strong>Revolution</strong> und den Theorien von Lenin und Trotzki<br />

entwickelt hat. 125 Vor dem Hintergrund, daß es ihm wie Luxemburg nicht gelang, aus dieser<br />

Kritik eine konkrete Alternative zu erarbeiten, flüchtete er sich in einen mythischen Glauben an<br />

die "historische Mission" der Arbeiterklasse und blieb bei seiner Akzeptanz der bürgerlichen<br />

Totalität, zu der er sich schon 1912 bekannt hatte: "Das Ziel unseres politischen Kampfes<br />

bleibt das gleiche, das es bisher gewesen ist: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung<br />

der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung. Nicht<br />

aber Zerstörung der Staatsgewalt." 126 Auf einem ganz anderen Weg kommen die<br />

holländischen Rätekommunisten um Anton Pannekoek zu einer ähnlichen Bewertung der<br />

färbt, schon eine Vorform des Übergangsstaates leninscher Anschauung darstellen? Es zeigt sich,<br />

daß Lenins Aussagen, wenn man sie von der konkreten Situation in Rußland 1917 loslöst, ihre<br />

Aussagekraft verlieren, und so sind sie als konkret-politische Aussagen zu werten, die keine direkte<br />

Übertragung zulassen.<br />

123 RLW 4,359.<br />

124 "Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, daß sie die Diktatur, genau wie<br />

Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. 'Diktatur oder Demokratie' heißt die Fragestellung<br />

sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. <strong>Die</strong>ser entscheidet sich natürlich für die Demokratie,<br />

und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen<br />

Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur<br />

Demokratie und somit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für bürgerliche Diktatur."<br />

(RLW 4,362)<br />

125 So meint er, daß der "in Theorie und Praxis ausgesprochene reaktionäre Charakter, der nicht in der<br />

Richtung zum Sozialismus, sondern von ihm weg führt (...) neben seiner Brutalität und seiner<br />

Herrschsucht immer weitere Kreise des Proletariats vom Bolschewismus abstößt." (Kautsky, Karl;<br />

Von der Demokratie zur Staatssklaverei (1921); in: Mende, Hans-Jürgen (Hrg.); Demokratie oder<br />

Diktatur Bd.2: Leo Trotzki 'Terrorismus und Kommunismus' (1920) - Karl Kautsky 'Von der<br />

Demokratie zur Staatssklaverei' (1921); Berlin 1990; S.282.<br />

126 Kautsky, Karl; <strong>Die</strong> neue Taktik; in: <strong>Die</strong> Neue Zeit; 30.Jg (1911-1912) Bd.2; S.654-664, S.688-698,<br />

S.723-733; hier S.732.<br />

48


marxistischen Interpretation des Kommunismus 127 , jedoch legten sie mit der 1930 erstmals<br />

erschienenen Broschüre "Grundprinzipien Kommunistischer Produktion und Verteilung" eine<br />

Alternative vor, die leider sowohl in der marxistischen als auch in der anarchistischen<br />

Bewegung kaum Resonanz fand und aus der ich im weiteren einige längere Passagen zitieren<br />

werde, weil sie - für den engagierten Leser kaum greifbar - einige interessante Perspektiven<br />

eröffnet. Für die "Gruppe Internationale Kommunisten Hollands" "ist es an der Zeit, daß das<br />

revolutionäre Proletariat sich bestimmte Vorstellungen macht von der Gesellschaftsordnung,<br />

die es an die Stelle des Kapitalismus setzen will." 128 Dabei plädieren die Rätekommunisten für<br />

eine konsequente Umsetzung der von Marx in der "Kritik des Gothaer Programms"<br />

entwickelten Vorstellungen und stellen gegen die Kritik, daß dies alles Utopismus sei, die<br />

Forderung, "daß die proletarische <strong>Revolution</strong> die Kraft finden muß, das Prinzip der<br />

gesellschaftlichen durchschnittlichen Reproduktionszeit durchzuführen; kann sie das nicht, dann<br />

ist der Gang zum Staatskommunismus unvermeidlich." 129 "Grundlage dieser Untersuchungen<br />

ist die Annahme, daß bei Übernahme der Macht die Produktionsmittel in den Händen der<br />

Betriebsorganisationen sind. <strong>Die</strong> Stärke der kommunistischen Gesinnung, welche wieder mit<br />

der klaren Einsicht, was mit den Produktionsmitteln anzufangen ist, zusammenhängt, wird<br />

bestimmen, ob sie sie auch behalten werden. Setzen sie sich nicht durch, dann kommt es zum<br />

Staatskommunismus, welcher seine hoffnungslosen Versuche zur planmäßigen Produktion nur<br />

auf dem Rücken der Arbeiter ausprobieren kann. Eine zweite <strong>Revolution</strong>, welche die<br />

Produktionsmittel tatsächlich in die Hände der Produzenten bringt, ist dann notwendig.<br />

127 "66. Der Bolschewismus ist in Prinzip, Taktik und Organisation eine Bewegung und Methode der<br />

bürgerlichen <strong>Revolution</strong> in einem vorwiegenden Bauernlande, der zur Zerschlagung des<br />

feudalistisch-kapitalistischen Absolutismus das sozialistisch orientierte Proletariat und das<br />

privateigentumsgebundene kapitalistisch orientierte Bauerntum unter der diktatorischen Führung<br />

der jakobinischen Intelligenz zur revolutionären Erhebung gegen absoluten Staat, Feudalität und<br />

Bourgeoisie brachte und in einer großen Ausnutzungsstrategie die entgegengesetzten<br />

proletarischen und bäuerlichen Klasseninteressen mit Hilfe klassenmäßiger Einsicht in die<br />

Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung verschmolz. 67. Der Bolschewismus ist<br />

darum als Orientierung der revolutionären Politik des internationalen Proletariats nicht nur<br />

untauglich, sondern er ist eines ihrer schwersten und gefährlichsten Hemmnisse. Der Kampf gegen<br />

die bolschewistische Ideologie, gegen die bolschewistischen Praktiken und demnach gegen alle<br />

politischen Gruppen, die ihn erneut im Proletariat verankern wollen, ist eine der ersten Aufgaben im<br />

Kampf um die revolutionäre Neuorientierung der Arbeiterklasse. Proletarische Politik kann nur vom<br />

Boden der proletarischen Klasse aus und mit den ihr gemäßen Methoden und Organisationsformen<br />

entwickelt werden." (Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands; Thesen über den<br />

Bolschewismus (1934); in: Pannekoek, Anton/ Mattick, Paul u.a.; Marxistischer Antileninismus;<br />

Freiburg 1991; S.43; Vgl auch: Pannekoek, Anton; <strong>Die</strong> taktischen Differenzen in der<br />

Arbeiterbewegung; Hamburg 1909) <strong>Die</strong>sem Aspekt soll im nächsten Abschnitt nachgegangen<br />

werden.<br />

128 Gruppe Internationale Kommunisten Hollands (im folgenden abgekürzt als "Gruppe IKH");<br />

Grundprinzipien Kommunistischer Produktion und Verteilung - Intelligenz und Klassenkampf und<br />

andere Schriften; Reinbek 1971; S.104.<br />

129 Gruppe IKH 1971,109. In den Mittelpunkt dieser Überlegungen tritt die Vorstellung, daß "die<br />

Abschaffung des Geldes und seine Ersetzung durch die gesellschaftlich durchschnittliche<br />

Arbeitszeit (Arbeitsgeld) eine revolutionäre Handlung (ist) und sich bei genügender Macht der<br />

Arbeiterklasse schon nach wenigen Monaten proletarischer Gewalt vollziehen (kann). Es ist eine<br />

Frage der Macht, welche nur durch das ganze Proletariat beantwortet werden kann." (Gruppe IKH<br />

1971,107)<br />

49


Behaupten sich aber die Betriebsorganisationen, dann können sie die Wirtschaft nicht anders<br />

ordnen als auf der Grundlage der gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit - unter<br />

Abschaffung des Geldes. (...) Der Schwerpunkt der proletarischen <strong>Revolution</strong> liegt darin, ein<br />

exaktes Verhältnis des Produzenten zum Produkt herzustellen, und das ist nur bei allseitiger<br />

Durchführung der Arbeitszeitrechnung möglich. Es ist die höchste Forderung, welche das<br />

Proletariat stellen kann - aber zugleich auch die niedrigste und zweifellos eine Machtfrage. (...)<br />

<strong>Die</strong> Betriebsorganisationen behaupten sich also nur bei völlig selbständiger Verwaltung und<br />

Leitung, weil das die einzige Grundlage ist, auf der sich die Arbeitszeitrechnung durchführen<br />

läßt." 130 Nun könnte man meinen, daß die "Gruppe Internationale Kommunisten Hollands" nur<br />

für die reale Verwirklichung des marxistischen Konzeptes eines geplanten Kapitalismus<br />

plädieren und der Parteidiktatur des "Staatskommunismus" die Ausübung der Diktatur des<br />

Proletariates durch die Gesamtheit dieser ökonomischen Klasse entgegenstellen wollen. Weit<br />

gefehlt, denn sie erkennen, daß selbst wenn "in diesem System die Demokratie ihre Rolle<br />

spielen (muß und) allein gewählte Körperschaften und Räte verbürgen, daß die Interessen der<br />

Massen respektiert werden, diese Demokratie aber Stück für Stück durchbrochen werden<br />

(wird), weil in Wirklichkeit eine zentrale Leitung so nicht möglich ist. <strong>Die</strong>se löst sich in die<br />

Herrschaft vieler einzelner Diktatoren auf, der Gang des ökonomischen Lebens wird durch die<br />

persönliche Herrschaft in der Demokratie bestimmt. Auch hier wird die Demokratie zum<br />

Deckmantel der tatsächlichen Beherrschung der Millionen, ebenso wie im Kapitalismus. (...)<br />

<strong>Die</strong> Zurückweisung zentraler Produktionsverwaltung und -führung besagt auch noch nicht, daß<br />

wir damit auf ausschließlich föderalistischem Boden stehen. Wo Leitung und Verwaltung der<br />

Wirtschaft bei den Massen selbst liegt, bei den Betriebsorganisationen und Genossenschaften,<br />

sind ohne Zweifel syndikalistische Tendenzen vorhanden. Aber in der allgemeinen<br />

gesellschaftlichen Buchhaltung ist das ökonomische Leben ein undurchbrochenes Ganzes. Hier<br />

haben wir einen Mittelpunkt, von dem aus die Wirtschaft zwar nicht verwaltet und geleitet,<br />

aber sicher wohl übersehen werden kann. <strong>Die</strong> Tatsache, daß alle Umformungen der<br />

menschlichen Energien im Wirtschaftsprozeß als einem Organismus zur Registrierung kommen,<br />

ist die beste Zusammenfassung des ökonomischen Lebens." 131 Das Hauptproblem dieses<br />

Ansatzes einer kommunistischen Gesellschaftskonzeption liegt nach meinem Dafürhalten in der<br />

Ermittlung der "gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit", die als allgemeines Äquivalent<br />

die ökonomischen Interaktionen der Menschen bestimmen soll. <strong>Die</strong>se von Marx als<br />

Abstraktion entwickelte Kategorie der warenproduzierenden Gemeinschaft bezeichnet er<br />

zwar, wenn sie den Mittelpunkt der Gesellschaft bilden würde, in seiner Utopie des "Vereins<br />

freier Bürger" als "durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als auch in der<br />

Distribution". 132 Jedoch entwickelt er dies Modell "nur zur Parallele mit der<br />

Warenproduktion" 133 und nicht als konkrete Fassung seiner Utopie, da für Marx die<br />

"gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit", die in einer entwickelten Gesellschaft die Form einer<br />

"gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit" annimmt, untrennbar mit der Warenform der<br />

130 Gruppe IKH 1971,111.<br />

131 Gruppe IKH 1971,112/113.<br />

132 MEW 23,93.<br />

133 MEW 23,93.<br />

50


Produkte gekoppelt ist, da "es also nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder<br />

die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit (ist), welche<br />

seine Wertgröße bestimmt. (...) Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder anderen<br />

Ware wie die zur Produktion der einen notwendigen Arbeitszeit zu der für die Produktion der<br />

andren notwendigen Arbeitszeit. Alle Werte sind als Waren nur bestimmte Maße<br />

festgeronnener Arbeitszeit." 134 <strong>Die</strong> Utopie, die der "Gruppe Internationale Kommunisten<br />

Hollands" vorschwebt, ist also eine demokratische, basisnahe, warenproduzierende<br />

Gesellschaftsform mit Arbeitsteilung und Entfremdung und kann so nur als Illustration der<br />

ersten Stufe des Kommunismus verstanden werden, die "immer ein Reich der Notwendigkeit<br />

(bleibt). Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich selbst als<br />

Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der<br />

Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann." 135 Wenn aber die Zielperspektive der<br />

Bewegung nicht das Reich der Freiheit ist, sondern die konsequenteste Form des Reiches der<br />

Notwendigkeit, kann auch der Ansatz des Rätekommunismus keine Lösung der eingangs<br />

aufgeworfenen Frage, welche Formen von Staatlichkeit und außerindividueller Verknüpfung<br />

durch ökonomische Konditionalitäten mit dem Konzept einer möglichst selbstbestimmten<br />

Entäußerung des Menschen zu verbinden oder gar zu verschmelzen seien, bieten.<br />

Einige anarchistische Theoretiker gehen in der Frage der "Zentralisation-Dezentralisation" noch<br />

ein Stück weiter als die Rätekommunisten und lehnen jede Form der Zusammenarbeit von<br />

Menschen ab. Bevor detaillierter auf die mir besonders aufschlußreich erscheinende Gruppe<br />

der Individualanarchisten eingegangen wird, soll abrißartig auf die Grundlage der klassischen<br />

anarchistischen Theorien in der Tradition von William Godwin (1756-1836) 136 , Pierre-Joseph<br />

Proudhon (1809-1865) 137 , Max Stirner, Michail Bakunin (1814-1876) 138 , Pjotr Kropotkin<br />

(1842-1921) 139 , Leo Tolstoi (1828-1910) 140 und Benjamin Tucker (1854-1939) 141<br />

rekurriert werden.<br />

134 MEW 23,54.<br />

135 MEW 25,828.<br />

136 Das Hauptwerk Godwins "An Enquiry Concerning the Principles of Political Justice, and its<br />

Influence on General Virtue and Happiness" (Oxford 1973) von 1793 liegt bis heute nicht in<br />

deutscher Sprache vor. Vgl. die Auszüge in: Eltzbach, Paul; Der Anarchismus - Eine<br />

ideengeschichtliche Darstellung seiner klassischen Strömungen; Berlin 1900; S.35-56; und in:<br />

Vester, Michael (Hrg.); <strong>Die</strong> Frühsozialisten 1789-1848; Reinbek 1970; Bd.1, S.10-25; Nettlau, Max;<br />

Geschichte der Anarchie Bd.1: Der Vorfrühling der Anarchie; Berlin 1925; S.67-73. Vgl. als<br />

Sekundärliteratur: Ramus, Pierre; William Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />

Anarchismus - Eine biographische Studie mit Auszügen aus seinen Schriften und einer Skizze über<br />

die sozial-politische Literatur des Anarcho-Sozialismus; Leipzig 1907.<br />

137 Vgl.: Proudhon, Joseph; OEuvres Anciennes Complètes de P.-J. Proudhon (21 vol.); Paris 1868ff.;<br />

Ansart, Pierre; <strong>Die</strong> Soziologie Pierre-Joseph Proudhons; Frankfurt/Main 1994; ders.; Marx et<br />

l'anarchisme: Essais sur les sociologies de Saint-Simon, Proudhon et Marx; Paris 1969; Hilmer,<br />

Johannes/ Roemheld, Lutz; Proudhon-Bibliographie; Frankfurt/Main 1989.<br />

138 Bakunin, Michail; Ausgewählte Schriften; Westberlin 1989ff.; Carr, Edward H.; Michail Bakunin;<br />

London 1937.<br />

139 Kropotkin, Pjotr; Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt; Frankfurt/Main 1975; ders.;<br />

Ethik - Ursprung und Entwicklung der Sitten; Westberlin 1976; ders.; <strong>Die</strong> französische <strong>Revolution</strong>;<br />

Leipzig 1982; ders.; Der Staat; Frankfurt/Main o.J.; Hug, Heinz; Kropotkin zur Einführung; Hamburg<br />

1989.<br />

51


Grundsätzlich zerfallen diese Theorien in verschiedene Gruppen, die in der Regel als<br />

individualistischer, kollektivistischer und kommunistischer Anarchismus bezeichnet werden.<br />

Neben diesen drei Gruppen existiert noch ein weniger klar umrissener Anarchismus innerhalb<br />

radikaler Gewerkschaftsbewegungen, der sich auf die CNT-FAI des spanischen<br />

Bürgerkrieges bezieht. 142 Alle mir bekannten anarchistischen Theoretiker stimmen in Bezug auf<br />

die Eingangsfrage darin überein, daß die Existenz eines Staates mit der Manifestation ihrer<br />

Utopie unvereinbar sei, wobei die Begründungen für diese Ablehnungen differieren. So sieht<br />

Godwin durch die Existenz des Staates das Glück der Gesamtheit gefährdet, während die<br />

individualistischen Anarchisten Stirner und Tucker die Gefahr für das Glück des Einzelnen in<br />

den Mittelpunkt ihrer Staatskritik stellen. Während Proudhon sich gegen den Staat wendet, da<br />

dieser mit dem Prinzip der Gerechtigkeit, das im Mittelpunkt seiner Utopie steht, unvereinbar<br />

erscheint, kritisiert Tolstoi den Staat als Hindernis auf dem Weg zur praktizierten Liebe aller<br />

Menschen. <strong>Die</strong> Theorie von Bakunin und Kropotkin, die das "Naturgesetz" einer<br />

determinierten Durchsetzung eines möglichst vollkommenen Daseins des Menschen, respektive<br />

einer Maximierung der Glückseligkeit, zum höchsten Gesetz der menschlichen Entwicklung<br />

ernennen, wird der Staat durch diese Bewegung ersetzt, ohne daß der Mensch in diesen<br />

Prozeß eingreifen müßte. Im Gegensatz zum Marxismus finden sich bei den anarchistischen<br />

Denkern relativ ausformulierte Utopie-Konzepte, die sich in zwei Hauptgruppen aufteilen<br />

lassen, von denen die eine, die Proudhon, Bakunin, Kropotkin und Tucker repräsentieren, als<br />

föderalistisch bezeichnet wird und die Überführung der Rechtsnormen von der abstrakten<br />

Ebene des Staates auf die Ebene eines freiwilligen Rechtsverhältnisses auf der Basis von<br />

intersubjektiven Verträgen in der Tradition von Rousseau postuliert. <strong>Die</strong> Utopie von Godwin,<br />

Stirner und Tolstoi wird als spontanistisch charakterisiert, da sie jede Form von<br />

Rechtsverhältnis ablehnen, wobei die altruistische Vorstellung Godwins vermuten läßt, daß das<br />

Glück der Gemeinschaft dem Einzelnen als Gesetz erscheint, während in der idealistischen<br />

Welt Tolstois diese Funktion von der Liebe übernommen wird und schließlich bei Stirner als<br />

oberste Instanz des Einzelnen der Rekurs auf das eigene Glück formiert. Wenn man die<br />

angesprochenen Theorien auf ihre Vorstellung bezüglich der Produktionsform der Zukunft<br />

untersucht, sind die als föderalistisch charakterisierten Utopien durchaus mit hochtechnisierten,<br />

arbeitsintensiven Produktionsformen wie der Fabrik der Jahrhundertwende kompatibel, und<br />

auch die spontanistischen Überlegungen von Godwin und Tolstoi können mit diesem<br />

140 Tolstoi, Leo; Gesammelte Werke in zwanzig Bänden; Berlin/DDR 1964ff.; Oberländer, Erwin; Tolstoi<br />

und die revolutionäre Bewegung; München 1965.<br />

141 Tucker, Benjamin; Staatssozialismus und Anarchismus; Treptow 1922; ders.; Der Staat in seiner<br />

Beziehung zum Individuum; o.O. 1899; Mackay, John Henry; <strong>Die</strong> gedachte Welt; Frankfurt/Main<br />

1989.<br />

142 Ich beziehe mich in diesem Abschnitt auf die angesprochenen Autoren und auf folgende<br />

Sekundärtexte bzw. Quelleneditionen: Carter, April; <strong>Die</strong> politische Theorie des Anarchismus;<br />

Westberlin 1988; Degen, Hans-Jörg (Hrg.); Anarchismus heute - Positionen; Bösdorf 1991; ders.;<br />

Lexikon der Anarchie; Bösdorf 1993ff.; <strong>Dr</strong>eßen, Wolfgang; Antiautoritäres Lager und<br />

Anarchismus; Westberlin 1968; Eltzbach 1900; Nettlau 1925; Oberländer, Erwin (Hrg.); Der<br />

Anarchismus; Olten 1972; Rammstedt, Otthein; Anarchismus - Grundtexte zur Theorie und Praxis<br />

der Gewalt; Köln 1969; Wittkopp, Justus; Unter der schwarzen Fahne - Gestalten und Aktionen des<br />

Anarchismus; Frankfurt/Main 1989.<br />

52


arbeitsorganisatorischen Zusammenhang der Menschen harmonisiert werden, wenn sie unter<br />

der Prämisse der Maximierung von Glück und Liebe stehen, während eine solche<br />

Interaktionsform auf der Basis der Theorie von Stirner kaum möglich erscheint. <strong>Die</strong>se<br />

Ausblendung der ökonomischen Realität seiner Zeit läßt aber gerade den individualistischen<br />

Anarchismus in einer Zeit der Ablösung der großtechnischen, arbeitsintensiven<br />

Produktionsweise durch eine individualistische Arbeitsform zu Beginn des 21.Jahrhunderts<br />

aktueller erscheinen als Theorien, die sich auf eine Demokratisierung der Fabrikarbeit und der<br />

durch diese Arbeit etablierten Interaktionsformen beziehen.<br />

Bevor zu einer detaillierteren Untersuchung der Utopie des individualistischen Anarchismus<br />

und ihrer Kompatibilität mit den auf der marxschen Analyseform basierenden Darlegungen zur<br />

Frage der Freiheit, Gleichheit und Solidarität übergegangen wird, sollen noch kurz die Formen<br />

des Eigentums in den angesprochenen Utopien reflektiert werden. Tucker, Bakunin und<br />

Kropotkin glauben, daß auch in einer utopischen Gesellschaftsform die Rechtsform des<br />

Eigentums existiert, wobei Tucker von einem harmonischen Nebeneinander individuellen und<br />

kollektiven Eigentums an allen Dingen ausgeht, während Bakunin individuelles Eigentum nur an<br />

Konsumtionsmitteln vorschwebt und die Produktionsmittel in gesellschaftlichen Besitz überführt<br />

sehen möchte. Nach Kropotkin werden zukünftig sogar alle Dinge ohne Unterschied der<br />

Gemeinschaft gehören und vor diesem Hintergrund erscheint seine Theorie als repräsentativ für<br />

den kommunistischen Anarchismus, während Bakunins differenzierte Fassung der<br />

Eigentumsordnung für den kollektivistischen Anarchismus prägend wurde. Godwin, Stirner,<br />

Proudhon und Tolstoi erscheint die Weiterexistenz von Eigentum mit ihrer Utopie unvereinbar,<br />

weil jegliche Form des Eigentumes das Glück der Gemeinschaft oder des Individuums, die<br />

Gerechtigkeit oder die Liebe untergräbt. Entsprechend ihrer jeweiligen Hauptprämissen will<br />

Godwin an die Stelle des Eigentumes eine Güterverteilung stellen, die nach den Prinzipien einer<br />

Glückmaximierung der Gesellschaft strukturiert ist, während Stirner das Glück des Einzelnen in<br />

den Mittelpunkt stellt und Tolstoi die Liebe. <strong>Die</strong>se generelle Reglementierung der<br />

Güterverteilung darf aber nach der Auffassung der Autoren niemals statisch werden, sondern<br />

muß immer konkret erfolgen, während Proudhon das Eigentum durch eine Güterverteilung<br />

ersetzen will, die sich nach den freiwilligen, aber bindenden Rechtsverhältnissen der neuen<br />

Gesellschaft formiert, wobei zu fragen ist, ob nicht durch dieses Verfahren alle Güter in den<br />

Besitz der Gemeinschaft überführt werden. Insgesamt muß gesagt werden, daß es den<br />

untersuchten Theoretikern nicht gelungen ist, eine adäquatere Alternative der Wirtschafts- und<br />

Sozialordnung der utopischen Gesellschaft zu entwerfen als Marx, verbleibt doch der<br />

konkreteste der hier analysierten Entwürfe - der von Proudhon - auf der Ebene eines<br />

rationalisierten Kapitalismus, der auffällig an die Praxiswerdung des Marxismus erinnert, ohne<br />

daß diese Parallele hier diskutiert werden könnte.<br />

Von den angesprochenen Utopie-Modellen scheint mir der individualistische Anarchismus am<br />

ehesten in der Lage, einer Konkretisierung des aufgeworfenen Problemes der Freiheit in Bezug<br />

auf das dialektische Verhältnis von "Mensch als Folge" und "Mensch als Ursache" dienlich zu<br />

sein, obwohl er in der Regel als Extremform des bürgerlichen Liberalismus bezeichnet wird<br />

und damit als Antonym von Gleichheit und Solidarität, den beiden anderen Kriterien einer<br />

neuen, praktischen Philosophie. Benjamin Tucker, der als repräsentativer Vertreter der<br />

53


angelsächsischen Richtung des individualistischen Anarchismus gehandelt wird, unterstrich<br />

dessen liberalistische Auffassung und sah sich als radikalen Vollender des Demokratiemodelles<br />

von Thomas Jefferson und Henry David Thoreau, wenn er deren Bonmot "<strong>Die</strong> beste<br />

Regierung ist die, die am wenigsten regiert" 143 zu der Forderung erweiterte, daß "eigentlich<br />

doch keine Regierung die beste Lösung sei." <strong>Die</strong> Anhänger dieser anarchistischen Richtung<br />

sehen das Haupthindernis für eine Welt der maximalen Freiheit des Individuums in der<br />

Institution des Staates, selbst wenn dieser noch so demokratisch ist, da das Monopolrecht des<br />

Staates auf die Prägung von Geld, auf die Verfügung über Grund und Boden, auf Zoll, Steuer<br />

und Patentrecht die freie Entfaltung des Einzelnen mehr behindert als es der Gemeinschaft der<br />

Individuen nutzt. <strong>Die</strong> Beseitigung des Staates und die Ersetzung seiner Monopole durch eine<br />

Maximierung der individuellen Freiheit kann in diesem Ansatz nicht durch revolutionäre Gewalt<br />

erreicht werden, sondern durch einen evolutionären Prozeß der "Abstention", also der<br />

Gleichgültigkeit für das politische und soziale Treiben - ein Transformationsmodell, auf das<br />

später ausführlicher eingegangen werden wird.<br />

<strong>Die</strong> Theorien von Max Stirner beeinflußten den angelsächsischen, individualistischen<br />

Anarchismus um Tucker weit weniger als die Vorstellungen von Proudhon, John Stuart Mill,<br />

Herbert Spencer und selbst Bakunin, bis James Walker 144 1887 mit Hilfe der Theorien von<br />

Stirner die naturalistische Basis von Tucker erfolgreich kritisierte. Es vergingen jedoch weitere<br />

zwanzig Jahre bis Stirners Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum", interessanterweise von<br />

Benjamin Tucker selbst, ins Englische übertragen wurde, aber als dieses wohl bedeutendste<br />

Werk des individualistischen Anarchismus 1907 erschien, war der Höhepunkt dieser Richtung<br />

in den USA bereits weit überschritten, die Zeitung "Liberty" eingestellt und Tucker nach<br />

Frankreich übergesiedelt. In Deutschland wurde der individualistische Anarchismus erst durch<br />

John Henry Mackay gegen Ende des letzten Jahrhunderts wieder populär, 145 nachdem das<br />

Interesse an Stirner schon 1848 abgerissen war, da die "<strong>Revolution</strong>" seine Theorie widerlegt<br />

zu haben schien. Nach dem ersten Weltkrieg verlor diese Theorie, vor dem Hintergrund der<br />

scheinbaren Erfolge der russischen <strong>Revolution</strong>, immer mehr an Boden, bis sie schließlich in<br />

einem hemmungslosen Wirtschaftsliberalismus um Ludwig von Mises und Friedrich August<br />

Hayek ihr vorläufiges Ende fand. In der BRD kam es in der Folge der antiautoritären<br />

Bewegung zu einer erneuten Rezeption des individualistischen Anarchismus, der in der<br />

Gründung einer "Mackay-Gesellschaft" um Kurt Helmut Zube (1905-1991) seine<br />

143 Thoreau, Henry David; Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (1849); Zürich 1969.<br />

Thoreau, der noch heute als Idol der US-amerikanischen Liberalen herhalten muß, zog sich in die<br />

damals noch scheinbar unendlichen Wälder des Westens zurück, um jenseits jeglicher staatlicher<br />

Herrschaft von eigener Hände Arbeit zu leben, während der Sklavenbesitzer Jefferson den<br />

Wohlstand seiner Zeit nicht missen wollte. Damit charakterisieren die beiden mit ihren Modellen<br />

"Weltflucht" respektive "Wirtschaftsegoismus" die Extremformen des Liberalismus, der als Modell<br />

für eine Utopie so nicht in Frage kommt, da eine Weltflucht schon damals kaum möglich war und<br />

ein Wirtschaftsegoismus mit der in 3.2. angesprochenen Kategorie der Gleichheit unvereinbar<br />

erscheint.<br />

144 In seinem Hauptwerk "The Philosophy of Egoism" (Denver 1905) gibt sich James Walker als<br />

fundamentalistischer Anhänger Stirners zu erkennen.<br />

145 Prominentestes Mitglied dieses Kreises um Mackay war Rudolf Steiner. Vgl.: Becker, Kurt E.;<br />

Anthroposophie - <strong>Revolution</strong> von innen - Leitlinien im Denken Rudolf Steiners; Franfurt/Main<br />

1984; S.66.<br />

54


organisatorische Form fand 146 , aber spätestens seit Zubes Tod kann von individualistischem<br />

Anarchismus als theoretischer und praktischer Bewegung keine Rede mehr sein, so wendeten<br />

sich seine letzten bedeutenden Vertreter der "heimlichen Gedankenwelt des katholischen<br />

Anarchismus" in der Tradition eines als subversive gesetzten Thomas von Aquin 147 , einer<br />

normativen, ethischen Setzung von äußerer Freiheit 148 und einem "bewußten Egoismus" 149 zu.<br />

Abschließend muß gesagt werden, daß die Utopien, wie sie vom modernen, individualistischen<br />

Anarchismus entwickelt wurden, kaum geeignet erscheinen, als Ergänzung oder Korrektiv des<br />

marxschen Werkes eine Neufassung praktischer Philosophie positiv zu beeinflussen, da sie -<br />

aus welchem Grund auch immer - die Ebene der Beschreibung einer individualistischen Utopie<br />

der Freiheit verlassen haben, um sich ganz der Maximierung der individuellen Freiheit in der<br />

kapitalistischen Gesellschaft zu verschreiben, die einer grundlegenden Emanzipation, wie sie<br />

hier intendiert ist, diametral entgegensteht.<br />

Völlig anders verhält es sich mit den Utopien, die am Beginn des individualistischen<br />

Anarchismus standen und die von einer Neufassung praktischer Politik nicht vernachlässigt<br />

werden dürfen, wie schon an der Analyse Stirners deutlich wurde. Neben Stirner erscheint mir<br />

Anselme Bellegarrigues Werk von Interesse, obwohl selbst Nettlau gestehen mußte, daß<br />

"Bellegarrigue aus dem Unbekannten (kam und) ins Unbekannte ging." 150 In einer seiner<br />

beiden überlieferten Broschüren 151 kritisiert er jegliche sozialistische Perspektive, die die<br />

Fortexistenz eines Staates zuläßt, und kommt zu der These, daß "mit unbedingter<br />

Notwendigkeit entweder die Regierung das Land verschlingen oder das Land die Regierung<br />

absorbieren (muß)." 152 In seinem programmatischen Text "Anarchie ist Ordnung" von 1850<br />

entwickelt er die Vorstellung, daß "die Anarchie die Verneinung der Regierung ist" 153 und da<br />

"Regierung Bürgerkrieg ist, ist Anarchie Ordnung." 154 Dabei vertritt er einen klassisch zu<br />

146 Sie stand unter dem Motto: "<strong>Die</strong> Mackay-Gesellschaft, undogmatisch, anti-ideologisch, möchte<br />

Basis einer Diskussion über alle Probleme der Gesellschaftsordnung sein. Sie ist bemüht, ihre<br />

Argumentation nur auf beweisbare Tatsachen zu stützen. An solchen wird sie einige, nebst allen<br />

Konsequenzen daraus, vorstellen, die zu einer ganz neuen Denkungsart führen, wie bereits Albert<br />

Einstein sie als unumgänglich notwendig erklärt hatte." (Solneman, K.H.Z. (d.i. Kurt Helmut Zube);<br />

Das Manifest der Freiheit und des Friedens - Der Gegenpol zum kommunistischen Manifest;<br />

Freiburg/Br.1977; S.4).<br />

147 Blankertz, Stefan; Vernunft und Widerstand; Köln 1993; S.8.<br />

148 Rothbard, Murray; The Ethics of Liberty; Atlantic Highlands 1982. Vgl. auch: Murray, Nigel;<br />

Rothbard - A Scholar in Defence of Freedom; Washington 1986.<br />

149 Parker, Sidney; My Position; in: Ego (London) Nr.15/1993, p.7.<br />

150 Nettlau 1925,184-198; hier S.198.<br />

151 Bellgarrigue, Anselme; Au fait! Au fait! Interprétation de l'idée démocratique; Paris 1848.<br />

152 Zitiert in: Nettlau 1925,191. "Soweit es möglich ist, von all seinen Vorschlägen etwas zu verstehen,<br />

will der Sozialismus aus der Gesellschaft einen ungeheuren Bienenkorb machen, in dessen Waben<br />

Bürger sitzen, die still sein und geduldig warten müssen, bis ihnen ihr eigenes Geld als Almosen<br />

gereicht wird. <strong>Die</strong> großen Verteiler dieser Almosen, oberste Steuereinnehmer des allgemeinen<br />

Einkommens, werden einen Generalstab mit passablem Einkommen bilden, der morgens aufstehen<br />

und den allgemeinen Appetit stillen wird, und wenn er sich verschläft, wird er 36 Millionen<br />

Menschen ohne Frühstück lassen." (Nettlau 1925,189)<br />

153 in: Oberländer 1972,75.<br />

154 in: Oberländer 1972,76.<br />

55


nennenden Abstentismus, ohne daß hier schon darauf eingegangen werden könnte 155 , und<br />

definiert Anarchismus mit den Worten: "Ich bin Anarchist, das heißt ein Mann des freien<br />

Prüfens, ein politischer und sozialer Hugenotte; ich verneine alles, ich bejahe nur mich selbst;<br />

denn die einzige Wahrheit, die mir materiell und moralisch, durch fühlbare, wahrnehmbare und<br />

denkbare Beweise dargetan ist, die einzige wirklich schlagende, nicht willkürliche und nicht der<br />

Auslegung unterworfene Wahrheit bin ich selbst." 156 Ausgehend von dieser Prämisse entwirft<br />

er die Utopie einer auf maximaler Individualität fußenden Gesellschaft 157 , die Formen wie der<br />

eines Gesellschaftsvertrages nicht bedarf, da dort nur der kleinste gemeinsame Nenner der<br />

differierenden Interessen der Individuen gesucht wird - ein Verfahren, das Bellegarrigue als<br />

eine "Ungeheuerlichkeit" 158 erscheint, da es die Freiheit von beiden einschränkt. Seine<br />

Alternative kommt jedoch metaphysisch daher 159 , und so bleibt es fraglich, ob dieser Ansatz<br />

als reale Möglichkeit einer grundlegenden Emanzipation des Menschen gewertet werden kann.<br />

Seine prinzipielle Herrschafts- und Machtkritik 160 bereits weit im Vorfeld einer realen<br />

Machtergreifung 161 kann jedoch produktiv in den Prozeß einer Neufassung praktischer<br />

155 "Aber aufhören, die Regierung anzugreifen oder zu verteidigen, um den Bürgerkrieg unmöglich zu<br />

machen, ist nichts Geringeres, als sich nicht mehr um sie zu kümmern, sich über sie hinwegsetzen,<br />

sie zu unterdrücken, um die soziale Ordnung herzustellen." (in: Oberländer 1972,77) "Ihr habt bis auf<br />

diesen Tag geglaubt, es gäbe Tyrannen! Vernehmt denn, daß ihr euch getäuscht habt, es gibt nur<br />

Sklaven: Keiner befiehlt, wo niemand gehorcht." (in: Oberländer 1972,83)<br />

156 in: Oberländer 1972,78. "Für mich beginnt die Schöpfung der Welt mit dem Tage meiner Geburt; für<br />

mich ist das Ende der Welt an dem Tage erreicht, wo ich den Organismus und den Atem, die meine<br />

Individualität bilden, den Elementen zurückgebe. Ich bin der erste Mensch und der letzte." (in:<br />

Oberländer 1972,81) "Ich beschränke mich auf den Kreis meines eigenen Daseins, und das einzige<br />

Problem, das ich zu lösen habe, ist das meines eigenen Wohlbefindens. Ich habe nur einen<br />

Lehrsatz, dieser Lehrsatz hat nur eine Formel, diese Formel hat nur ein Wort: GENIESSEN. - Ehrlich,<br />

wer es gesteht, ein Betrüger, wer es leugnet." (in: Oberländer 1972,82)<br />

157 "<strong>Die</strong> Gesellschaft is t die unvermeidliche und notwendige Folge des Zusammenlebens der<br />

Individuen; das Interesse der Gesamtheit ist aus demselben Grund eine notwendige,<br />

vorausbestimmte Folge des Zusammentreffens der Einzelinteressen. Das Interesse der Gesamtheit<br />

kann nur dann echt sein, wenn das Einzelinteresse unangetastet bleibt; denn da man unter<br />

Interesse der Gesamtheit nur das Interesse aller verstehen kann, genügt es, wenn in der<br />

Gesellschaft das Interesse auch nur eines einzigen Individuums verletzt wird, und sofort ist das<br />

Interesse der Gesamtheit nicht mehr das Interesse aller, und folglich existiert es nicht mehr." (in:<br />

Oberländer 1972,79)<br />

158 in: Oberländer 1972,84.<br />

159 "Was ich empfinde, muß jedermann empfinden, was ich denke, muß jedermann denken, denn ich<br />

bin nicht mehr und nicht weniger als ein anderer Mensch; meine Verhältnisse sind ebenso schlicht<br />

und mühselig wie die des erstbesten Arbeiters." (in: Oberländer 1972,85)<br />

160 "<strong>Die</strong> Macht muß mit Notwendigkeit zugunsten derer verwendet werden, die sie haben, und zum<br />

Nachteil derer, die sie nicht haben; es ist nicht möglich, sie anzuwenden, ohne einem Teil zu<br />

schaden und einen anderen zu begünstigen. (...) Was die Regierung und die Opposition angeht, so<br />

ist diese letztere eine Tyrannei zweiter Garnitur, die nach der ersten drankommt, die gerade<br />

verwendet wird. Und wie käme ich dazu, den einen Kämpen weniger zu verachten als den andern,<br />

da doch alle beide nur darauf sinnen, ihre Lust und ihr Gedeihen auf dem Grund meiner Schmerzen<br />

und meiner Vernichtung aufzubauen?" (in: Oberländer 1972,87)<br />

161 "All diese Parteien, die auf der Oberfläche des Landes durcheinanderwimmeln, wie der Schaum auf<br />

einer kochenden Masse schwimmt, haben sie nicht auf Grund ihrer abweichenden Lehrmeinungen<br />

und Ansichten den Krieg erklärt, sondern auf Grund ihres gemeinsamen Strebens nach der<br />

Macht..." (in: Oberländer 1972,90).<br />

56


Philosophie integriert werden, und auch wenn sowohl sein Appell an das Volk 162 als auch<br />

seine persönlichen Konsequenzen 163 nicht als Manifestation einer realen Alternative<br />

verstanden werden können, ist seine Haupthese von fulminanter Brillanz: "Alle haben sie in<br />

<strong>Revolution</strong> gemacht, solange sie nicht in Regierung machten, aber ebenso haben sie, sowie sie<br />

an der Regierung waren, die <strong>Revolution</strong> unterdrückt." 164<br />

Der individualistische Anarchismus, obwohl nie gesellschaftlich relevant, scheint den gleichen<br />

Hang zum pragmatischen Einrichten im de facto gehabt zu haben wie der Marxismus und wie<br />

bei diesem ist die weitere Entwicklung der ursächlichen Interpretation nur als Korrektiv für<br />

eine Neuinterpretation dienlich, kann man doch aus den Irrungen und Wirrungen des<br />

individualistischen Anarchismus die Lehre ziehen, daß eine noch so exakte Beschreibung der<br />

äußeren Freiheit des weiterhin "innerlich unfreien" Individuums in der Gesellschaft eine Chimäre<br />

bleibt, wenn nicht diese innerliche Unfreiheit thematisiert und überwunden wird.<br />

162 "Es ist erforderlich, daß das Volk klar zwei Sachen einsieht. Erstens darf es nicht seine eigenen<br />

Angelegenheiten vernachlässigen und sein Elend dadurch verlängern, daß es sich auf den Streit<br />

der Regierungen und Parteien einläßt, indem es seine Tätigkeit auf die Politik zuwendet, anstatt sie<br />

für seine materiellen Interessen anzuwenden. Zweitens muß es einsehen, daß es von keiner<br />

Regierung und von keiner Partei etwas zu erwarten hat." (in: Oberländer 1972,90/91) "Ich sehe in<br />

einem Wort nicht ein, wie es kommt, daß eine Regierung, die ich nicht gemacht habe, die ich nicht<br />

habe machen wollen, mit deren Herstellung ich niemals einverstanden sein werde, von mir<br />

Gehorsam und Geld verlangt, unter dem Vorwand sie sei von ihren Herrstellern dazu ermächtigt<br />

worden." (in: Oberländer 1972,96)<br />

163 Nettlau führt aus: "Früher oder später wanderte Bellegarrigue nach Zentralamerika aus; nach U. Pic<br />

(1865) war er Schulleher in Honduras und sollte damals, sagt man, Minister in San Salvador sein.<br />

Ich habe in den Temps Nouveaux 17.Februar 1906, nach dem Schicksal Bellegarrigues mit Angabe<br />

der obigen Daten gefragt, worauf Andé Rault, der drei Jahre in San Salvador gelebt hatte, mitteilte -<br />

durch A. Dunois -, daß er dessen Sohn, Don Amselmo Bellegarrigue, etwa vierzigjährig, kannte, der<br />

in El Pimental bei La Libertad ziemlich im Naturzustand, wie die Indianer, als Fischer lebte." (Nettlau<br />

1925,197/198)<br />

164 in: Oberländer 1972,98.<br />

57


Stalin: "Wer bin ich. Tot ist tot. Ich mein Gefängnis<br />

In dem ich eingesperrt bin lebenslang<br />

Und wer kann Stalin töten ausser Stalin.<br />

Sie hassen mich, warten auf meinen Tod<br />

Und keiner wagt ein Wort, feig sind sie alle.<br />

Wenn ich mein Todesurteil unterschreibe<br />

Stalin ist ein Ve rräter tötet Stalin<br />

Stalin befiehlt es, werden sie gehorchen<br />

Weil keiner mir zu widersprechen wagt.<br />

Oder auch nicht, aus Angst vor einer Falle."<br />

Heiner Müller 165<br />

2.2. Autoritäre versus "freiheitliche" Bewegung<br />

Das Problemfeld der "Autorität", die auch als Gegenbegriff zur Freiheit verstanden werden<br />

kann, trat in seiner doppelten Bedeutung, einerseits Unterordnung des Einzelnen unter einen<br />

fremden Willen zu beschreiben und andererseits die verselbständigten Strukturen einer<br />

Unterordnung einer komplexen Gruppe von Individuen unter eine zentrale Leitung zu<br />

bezeichnen, zwar immer wieder in den Gesichtskreis von Marx und Engels, jedoch ohne daß<br />

sie eine systematische Erörterung dieses Problemes hinterlassen hätten. Nicht zuletzt aufgrund<br />

dieses Mangels einer tiefgreifenden Hinterfragung des Begriffes der Autorität blieben Marx und<br />

viel mehr noch Engels in einer der Aufklärung verpflichteten Haltung gefangen, und selbst wenn<br />

sie das formale Konzept der intellektuellen Autorität 166 , das ein Kernstück der Aufklärung<br />

bezeichnet, auf ihre Zeit transformierten, schürten sie so doch einen Glauben an die Autorität<br />

ihrer Wissenschaft, der sich nicht grundlegend von dem αυτοσ επηα 167 der Pythagoreer<br />

unterschied. Thesen, die nur Ableitungen der Thesen der Vordenker waren, erhielten so -<br />

selbst ohne eigenständige Begründung - die Weihen einer theoretischen Fundierung. Marx<br />

selbst beschäftigte sich erstmals in seiner Studie "Zur Kritik der Hegelschen<br />

Rechtsphilosophie" von 1843 mit der Autorität, die ihm in dieser Phase als Zentrum der alles<br />

lähmenden Bürokratie erschien: "<strong>Die</strong> Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reellen<br />

Staat, der Spiritualismus des Staats. Jedes Ding hat daher eine doppelte Bedeutung, eine reelle<br />

und eine bürokratische, wie das Wissen ein doppeltes ist, ein reelles und ein bürokratisches<br />

(so auch der Wille). Das reelle Wesen wird aber behandelt nach seinem bürokratischen<br />

Wesen, nach seinem jenseitigen, spirituellen Wesen. <strong>Die</strong> Bürokratie hat das Staatswesen, das<br />

spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitz, es ist ihr Privateigentum. Der allgemeine<br />

Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch die<br />

Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation bewahrt. Der offenbare Staatsgeist,<br />

165 Müller, Heiner; Germania 3 - Gespenster am toten Mann; Köln 1996; S.11.<br />

166 So waren die Hauptmerkmale der Methode der Aufklärung, die den Benutzer in die Lage versetzten,<br />

auch anderen diese Lehre zu vermitteln, der adäquate Gebrauch der formalen Methode (rationale<br />

Klarheit ohne metaphysische Tiefe, kritische Schärfe ohne Ehrfurcht vor den Mächten, empirische<br />

Breite ohne umfassende Prinzipien des Wissens) und inhaltlichen Methoden (der Verweis auf die<br />

Lehre der Vernunft, der Glaube an die positive Natur des Menschen und an den Fortschritt, die<br />

Praktizierung der Toleranz) mit dem Ziel, den autoritären Aberglauben des mystischen Mittelalters<br />

zugunsten eines Vernunftglaubens zu überwinden, der in der Zeit der Auseinandersetzung zwar<br />

auch als Autorität erscheint, aber da diese Autorität nach dem Glauben der Aufklärer der<br />

Durchsetzung der Freiheit dient, ist diese - und nur diese - Autorität gerechtfertigt.<br />

167 Er selbst hat es gesagt.<br />

59


auch die Staatsgesinnung, erscheint daher der Bürokratie als ein Verrat an ihrem Mysterium.<br />

<strong>Die</strong> Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre<br />

Gesinnung." 168 In Gegnerschaft zu dieser Autorität pocht Marx in dieser Phase auf die<br />

Autonomie des selbstdenkenden, kritischen Subjektes als dem potentiellen Ausgangspunkt<br />

einer Strategie der Aufklärung und Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft gegen die<br />

überkommenen, autoritären Strukturen der Bürokratie, auch wenn später der Marxismus die<br />

Autorität zur conditio sine qua non jeglicher Form der Gesellschaft ernennen sollte. 169 Ohne an<br />

dieser prinzipiellen Ablehnung der Autorität Abstriche vorzunehmen, kritisiert Marx Proudhons<br />

Vorstellung, nach der "die Fabrik und die Maschine (...) das Autoritätsprinzip später als die<br />

Arbeitsteilung in die Gesellschaft eingeführt hat" 170 - eine Annahme, auf der Proudhon seine<br />

Theorie eines nichtkapitalistischen Marktes 171 aufbaut - und stellt im Gegenzug die<br />

"allgemeine Regel auf: Je weniger die Autorität der Teilung der Arbeit innerhalb der<br />

Gesellschaft vorsteht, desto mehr entwickelt sich die Arbeitsteilung im Innern der Werkstatt<br />

und um so mehr ist sie der Autorität eines einzelnen unterworfen. Danach steht die Autorität in<br />

der Werkstatt und die in der Gesellschaft, in bezug auf die Arbeitsteilung, im umgekehrten<br />

Verhältnis zueinander." 172 In die gleiche Richtung geht auch die marxsche Untersuchung der<br />

"Autorität des Kapitalisten", die dem Arbeiter als "Macht eines fremden Willens, die ihr Tun<br />

seinem Zweck unterwirft" 173 , entgegentritt. "<strong>Die</strong> Leitung des Kapitalisten ist nicht nur eine aus<br />

der Natur des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses entspringende und ihm angehörige besondre<br />

Funktion, sie ist zugleich Funktion der Ausbeutung eines gesellschaftlichen Arbeitsprozesses<br />

und daher bedingt durch den unvermeidlichen Antagonismus zwischen dem Ausbeuter und<br />

dem Rohmaterial seiner Ausbeutung." 174 <strong>Die</strong>se Analyse des wechselseitigen Zusammenhanges<br />

von Kooperation und Direktion im Kapitalismus und vor allem die These, daß jede Form der<br />

Kooperation immer auch einer Leitung bedarf, blieb sowohl in der marxschen Theorie, als<br />

auch in den strategischen Überlegungen der marxistischen Bewegung bis zur staatlichen<br />

Manifestation dieser Auslegungsvariante folgenlos, obwohl diese These in einem deutlichen<br />

Spannungsverhältnis zu der angesprochenen, prinzipiellen Ablehnung jeder Form der Autorität<br />

durch Marx steht.<br />

168 MEW 1,249.<br />

169 Das marxistische "Kleine Politische Wörterbuch" erläutert "Autorität" als "allgemein anerkannten<br />

Einfluß einer Organisation, einer Gruppe oder einer Person auf bestimmten Gebieten des<br />

gesellschaftlichen Lebens, der dazu führt, daß sich andere Personen in ihrer Tätigkeit und ihren<br />

Anschauungen dieser A. unterordnen bzw. sich an ihr orientieren. In diesem Sinne ist A. ein<br />

gesellschaftliches Verhältnis, welches die Einordnung der Tätigkeit der Menschen in<br />

gesellschaftliche Zielsetzungen und Normen gewährleistet und in allen Gesellschaftsformationen<br />

wirkt. <strong>Die</strong> Vorstellungen der 'Antiautoritären', daß es im Sozialismus und Kommunismus keine A.<br />

und Unterordnung mehr geben dürfte, sind eine anarchistische Leugnung notwendiger<br />

gesellschaftlicher Beziehungen, ohne die keine Gesellschaft funktionsfähig wäre." (Klaus, Georg/<br />

Buhr, Manfred (Hrg.); Kleines Politisches Wörterbuch; Berlin/DDR 1988; S.115)<br />

170 MEW 4,150.<br />

171 <strong>Die</strong>se These hat heute Hochkonjunktur, ohne daß ihr geistiger Vater genannt würde.<br />

172 MEW 4,151.<br />

173 MEW 23,351.<br />

174 MEW 23,350.<br />

60


In den Auseinandersetzungen innerhalb der ersten Internationale und vor allem mit Bakunin<br />

und seinen Anhängern verwenden Marx und Engels, unabhängig von den prinzipiellen<br />

Problemen, den Begriff der Autorität als "Überordnung eines fremden Willen über den<br />

eigenen" 175 als positiv gewendeten, politischen Kampfbegriff in der Auseinandersetzung mit<br />

der kapitalistischen Ordnung. Außerhalb dieses Kampffeldes geben sie sich kompromißbereit:<br />

"Es ist folglich absurd, vom Prinzip der Autorität als von einem absolut schlechten und vom<br />

Prinzip der Autonomie als einem absolut guten Prinzip zu reden. Autorität und Autonomie sind<br />

relative Dinge, deren Anwendungsbereiche in den verschiedenen Phasen der sozialen<br />

Entwicklung variieren. Wenn die Autonomisten sich damit begnügten, zu sagen, daß die soziale<br />

Organisation der Zukunft die Autorität einzig und allein auf jene Grenzen beschränken wird, in<br />

denen die Produktionsbedingungen sie unvermeidlich machen, so könnte man sich<br />

verständigen." 176 Im Gegensatz zu dieser flexiblen Einschätzung pochten Marx und Engels in<br />

der Frage der Organisation der ersten Internationale auf die Autorität des Zentralrates, und<br />

dies um so mehr, nachdem die Kommune von Paris ihren Feinden aufgrund der mangelnden<br />

Autorität dieses "ersten sozialistischen Halbstaates" unterlegen war. 177 Bakunin wendete sich<br />

vor dem Hintergrund der französischen <strong>Revolution</strong> von 1789 gegen die autoritären<br />

Organisationsformen der Jakobiner und Blanquisten, weil sie "so an die Ordnung gewöhnt<br />

sind, die von irgendeiner Autorität von oben herab ersonnen worden ist, und die so große<br />

Furcht vor allem haben, was den Anschein von Unordnung hat und doch nichts anderes ist als<br />

der freie und natürliche Ausdruck der Lebenskraft des Volkes." 178 Während Bakunin auf der<br />

einen Seite Autorität außerhalb seiner Organisation ablehnt und auf die "Lebenskraft des<br />

Volkes" setzt - was immer das auch sein mag -, fordert er auf der anderen Seite etwa zur<br />

gleichen Zeit Offiziere der russischen Armee, die sich seiner Truppe anschließen wollen, dazu<br />

auf, sich der Organisation "ganz und gar auszuliefern", wie die Jesuiten "auf seinen eigenen<br />

Willen (zu) verzichten" 179 , "mit allem, was er besitzt an Kräften, Fähigkeiten, Wissen und mit<br />

seinem Leben, und das unwiderruflich" 180 sich der Autorität eines geheimen, diktatorischen<br />

Leitungsorgan zu unterwerfen und plädiert somit für eine "strenge und bedingungslose<br />

Disziplin" 181 in den eigenen Reihen. <strong>Die</strong>se Widersprüchlichkeit machen sich Marx und Engels<br />

in ihrer Polemik gegen Bakunin zu Nutze: "<strong>Die</strong>selben Männer, die den Generalrat des<br />

Autoritarismus beschuldigen, ohne jemals imstande gewesen zu sein, auch nur eine einzige<br />

autoritäre Handlung von seiner Seite aufzuzeigen, die bei jeder Gelegenheit von der Autonomie<br />

der Sektionen, von der freien Föderation der Gruppen reden, die den Generalrat der Absicht<br />

175 MEW 17,305.<br />

176 MEW 17,308.<br />

177 Vgl.: Avineri, Shlomo; The social and political thought of Karl Marx; Cambridge 1971; p.240-270.<br />

178 Bakunin, Michail; Sozial-politischer Briefwechsel mit Alexander Herzen und Ogarinow; Stuttgart<br />

1895 - Nachdruck Westberlin 1987; S.464.<br />

179 Bakunin 1987,471.<br />

180 Bakunin 1987,472.<br />

181 Bakunin 1987,473. Vgl. auch: Bakunin, Michail; Prinzipien und Organisation einer internationalen<br />

revolutionär-sozialistischen Gemeinschaft; in: ders.; Staatlichkeit und Anarchie; Frankfurt/Main<br />

1972; S.3-94; und ders.; Gewalt für den Körper - Verrat für die Seele? - Ein Brief von Michael<br />

Bakunin an Sergej Necaev - Eine Debatte über Ethik und Moral der <strong>Revolution</strong>äre und den<br />

'<strong>Revolution</strong>ären Katechismus'; Westberlin 1980.<br />

61


ezichtigen, der Internationale seine offizielle und orthodoxe Doktrin aufzuzwingen und unsere<br />

Assoziation in eine hierarchisch konstituierte Organisation zu verwandeln - dieselben Männer<br />

konstituieren sich in der Praxis als eine Geheimgesellschaft mit einer hierarchischen<br />

Organisation und unter einem nicht nur autoritären, sondern absolut diktatorischen Regime; sie<br />

treten jede Spur von Autonomie der Sektionen und Föderationen mit Füßen; sie streben<br />

danach, der Internationale vermittels dieser geheimen Organisation die persönlichen und<br />

orthodoxen Doktrinen M. Bakunins aufzuzwingen." 182 Es muß also konstatiert werden, daß<br />

weder Marx und Engels noch Bakunin und seine Anhänger das Verhältnis von Ablehnung der<br />

Autorität als eines konstituierenden Elementes der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und<br />

scheinbarer Notwendigkeit einer Autorität im Innern der revolutionären Organisation<br />

hinreichend gelöst haben, sondern bei beiden Strömungen innerhalb einer prinzipiell antiautoritären<br />

Ausrichtung autoritäre Elemente zu finden sind, die sich ihre Anhänger im Sinne<br />

einer Formierung autoritärer Strukturen nutzbar zu machen wußten.<br />

Da der Begriff der Autorität als Gegenbegriff zur Freiheit steht, bietet es sich an, auch über die<br />

Diskussionsebene zwischen der marxschen Theorie und anarchistischen Klassikern hinaus<br />

dieses Problem in der weiteren Debatte zu beleuchten, ohne auf die oben aufgestellte These,<br />

daß die Schaltstelle zwischen Freiheit und Autorität in der individuellen, menschlichen<br />

Entäußerung und vor allem dem Verhältnis von geistiger und körperlicher Arbeit vermutet<br />

werden kann, zu vernachlässigen. Schon vor dem Tod von Engels legte Kautsky mit seinem,<br />

auch als "Katechismus der Sozialdemokratie" 183 bezeichneten Buch "Das Erfurter Programm<br />

der SPD" 1892 eine Interpretation des Autoritätsbegriffes von Marx und Engels vor, die bis<br />

heute von beiden Richtungen der marxistischen Bewegung als authentisch vermutet wird 184 ,<br />

obwohl sie die einseitige Darstellung, die Engels in der Aueinandersetzung mit Bakunin<br />

dargelegt hatte, noch weiter in Richtung einer Positivierung der Autorität zuspitzte und zu der<br />

These gelangte: "Von den heute bestehenden gesellschaftlichen Organisationen giebt es nur<br />

eine, die den nöthigen Umfang besitzt, daß man sie als Rahmen benützen könnte, um innerhalb<br />

desselben die sozialistische Genossenschaft zu entwickeln, das ist der moderne Staat." 185 <strong>Die</strong><br />

Existenz einer staatlichen Autorität selbst im Sozialismus und Kommunismus wird von ihm mit<br />

einem Rekurs auf die zu seiner Zeit modernste Form der Arbeitsorganisation in der Großfabrik<br />

begründet, ein Komplex, auf den schon eingegangen wurde, aber als ursächliche Begründung<br />

auch in die Form der Organisation hineinwirkt, denn "es ist richtig, wenn gesagt wird, die<br />

sozialistische Produktion sei unvereinbar mit der vollen Freiheit der Arbeit, daß heißt, der<br />

Freiheit des Arbeiters zu arbeiten, wann, wo und wie er wolle. Aber diese Freiheit ist<br />

unvereinbar mit jedem planmäßigen Zusammenarbeiten Mehrerer, in welcher Form immer<br />

182 MEW 18,117. Vgl. auch einen Brief von Marx an Engels: "In der 'Égalité' deutet Herr Bakunin an,<br />

daß die deutschen und englischen Arbeiter kein Bedürfnis der Individualität haben, daher unsren<br />

communisme autoritaire akzeptieren. Dagegen vertritt Bakunin le collectivisme anarchique. <strong>Die</strong><br />

Anarchie allerdings in seinem Kopf, worin nur die eine klare Idee Platz hat, daß Bakunin die erste<br />

Geige spielen muß." (MEW 32,380)<br />

183 Kautsky, Karl; Das Erfurter Programm; Stuttgart 1912; S.IV.<br />

184 Vgl. z.B.: Mende, Hans-Jürgen; Karl Kautsky - Vom Marxisten zum Opportunisten; Berlin/DDR<br />

1985; S.47-49.<br />

185 Kautsky 1912,119.<br />

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dasselbe stattfinde, ob auf kapitalistischer oder genossenschaftlicher Grundlage. <strong>Die</strong> Freiheit<br />

der Arbeit ist bloß möglich für den Kleinbetrieb, und auch für diesen nur bis zu einem gewissen<br />

Grad." 186 Wenn dieses Argument oben als für die moderne Form der Produktion zu Beginn<br />

des 21.Jahrhunderts als veraltet analysiert wurde, fällt zwangsläufig auch die auf dieser<br />

Argumentation fußende Rechtfertigung für autoritäre Strukturen in der organisierten,<br />

revolutionären Bewegung zusammen wie ein Kartenhaus.<br />

Lenin idealisierte dieses Modell in seiner Schrift "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück"<br />

von 1904 und rief pathetisch aus: "Gerade die Fabrik, die so manchem nur als<br />

Schreckgespenst erscheint, ist die höchste Form der kapitalistischen Kooperation, die das<br />

Proletariat vereinigte und disziplinierte, die es lehrte, sich zu organisieren, und es an die Spitze<br />

aller übrigen Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung stellte. Gerade der<br />

Marxismus als Ideologie des durch den Kapitalismus geschulten Proletariats belehrte und<br />

belehrt die wankelmütigen Intellektuellen über den Unterschied zwischen der ausbeuterischen<br />

Seite der Fabrik (...) und ihrer organisierenden Seite (...). Disziplin und Organisation, die der<br />

bürgerliche Intellektuelle so schwer begreift, eignet sich das Proletariat dank der 'Schule', die<br />

es in der Fabrik durchmacht, besonders leicht an." 187 Während Marx die Autorität, die durch<br />

den Arbeitsalltag den Menschen aufoktroyiert wird, entschieden ablehnt, tritt dem Betrachter<br />

kaum zehn Jahre nach Engels Tod diese autoritäre Form der Interaktion als "Schule" des<br />

<strong>Revolution</strong>ärs entgegen, in der er die für den Klassenkampf richtige Disziplin erlernt. Einzig<br />

Rosa Luxemburg stellte sich in ihrer Schrift "Organisationsfragen der russischen<br />

Sozialdemokratie" 188 gegen eine solche Ontologisierung der Autorität, ohne jedoch ein<br />

Gegenkonzept zu hinterlassen. Erst in der chinesischen Kulturrevolution kam es zu einer<br />

erneuten Debatte um die Rolle der Autorität in der revolutionären Bewegung. So wendete sich<br />

Mao schon 1957 gegen die Vorstellung, "daß alle gleich nach ihrem Beitritt zur<br />

kommunistischen Partei zu Heiligen ohne Differenzen oder Mißverständnissen werden und daß<br />

die Partei kein Objekt der Analyse, also monolithisch und uniform ist, woraus folgt, daß<br />

Gespräche unnötig sind" 189 und empfahl "im Umgang mit einem Genossen, der Fehler gemacht<br />

hat, beide Hände zu gebrauchen: Mit der einen bekämpfen wir ihn, die andere reichen wir ihm<br />

zum Bund", wobei dies nicht auf den kleinen Zirkel der Partei beschränkt bleiben soll, denn<br />

186 Kautsky 1912,167.<br />

187 LW 7,395.<br />

188 RLW 1.2,430/431: "<strong>Die</strong> 'Disziplin', die Lenin meint, wird dem Proletariat keineswegs bloß durch die<br />

Fabrik, sondern auch durch die Kaserne, auch durch den modernen Bürokratismus, kurz, durch den<br />

Gesamtmechanismus des zentralisierten bürgerlichen Staates eingeprägt. Doch ist es nichts als eine<br />

mißbräuchliche Anwendung des Schlagwortes, wenn man gleichmäßig als 'Disziplin' zwei so<br />

entgegengesetzte Begriffe bezeichnet, wie die Willen- und Gedankenlosigkeit einer vielbeinigen<br />

und vielarmigen Fleischmasse, die nach dem Taktstock mechanische Handlungen einer<br />

gesellschaftlichen Schicht; wie den Kadavergehorsam einer beherrschten Klasse und die<br />

organisierte Rebellion einer um die Befreiung ringenden Klasse. Nicht durch die Anknüpfung an die<br />

ihm durch den kapitalistischen Staat eingeprägte Disziplin - mit der bloßen Übertragung des<br />

Taktstocks aus der Hand der Bourgeoisie in die eines sozialdemokratischen Zentralkomitees -,<br />

sondern durch die Durchbrechung, Entwurzelung, dieses sklavischen Disziplingeistes kann der<br />

Proletarier erst für die neue Disziplin - die freiwillige Selbstdisziplin der Sozialdemokratie - erzogen<br />

werden."<br />

189 Mao AW 5,584.<br />

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"meiner Meinung nach sollte die Dialektik aus dem kleinen Kreis der Philosophen heraustreten<br />

und unter die Massen gehen." 190 Jedoch muß eingestanden werden, daß dieser Ansatz einer<br />

auf Diskurs basierenden Autorität die Frage unbeantwortet läßt, wer nun darüber zu befinden<br />

hat, welche Ansicht falsch und welche richtig ist, und so nur eine Strategie der<br />

Demokratisierung von Autorität sein kann, auch wenn die weitere Entwicklung in China nicht<br />

unbedingt als positive Illustration dieser Herangehensweise erscheint. Auch andere<br />

marxistische Ansätze, der Auswüchse der Autorität in Form der Bürokratie habhaft zu<br />

werden, versandeten, denn sowohl Trotzki 191 als auch Che Guevara 192 , die als die<br />

weitreichendsten Kritiker angesehen werden können, kamen nicht über die zweifelhafte<br />

Erkenntnis hinaus, daß die falschen Leute an der Spitze der Partei waren, die nur durch die<br />

richtigen zu ersetzen seien, um das Projekt einer an der Aufklärung orientierten<br />

Avantgardetheorie wieder flott zu machen und in den Hafen der Freiheit zu steuern. Andere<br />

Ansätze blieben selbst hinter dieser partiellen Analyse der Ursachen einer durch und durch<br />

autoritären Organisationsstruktur der marxistischen Organisationen und Staaten zurück und<br />

verloren sich in Appellen an die Prinzipien eines abstrakten Humanismus 193 , der<br />

Rekonstruktion einer wahren, konkreten Dialektik 194 , einem Glauben an die freiheitsstiftende<br />

Kraft der Produktivkraftentwicklung 195 und einer Beschwörung der Selbstheilungskräfte der<br />

Massen 196 .<br />

Otto Bauer plädierte 1937 im Rahmen einer Debatte um die Perspektiven einer einheitlichen<br />

Arbeiterbewegung in Abwehr gegen den Faschismus für einen "freiheitlichen, libertären<br />

Sozialismus" 197 , der sich auf die antiautoritären Perspektiven des marxschen Werks stützt und<br />

aus der Kritik des "autoritären Bolschewismus" 198 entwickelt wird. Dezidiert wendet er sich<br />

einerseits gegen die Tendenz, "der autoritären Diktatur, die der Faschismus (...) aufrichtet, die<br />

autoritäre Diktatur des Proletariats als Kampfziel" 199 entgegenzustellen, auch wenn er<br />

andererseits der marxistischen These zustimmt, daß das revolutionäre Proletariat "zeitweilig<br />

seine Organe mit außerordentlichen, mit schrankenlosen Vollmachten, die die Freiheit des<br />

einzelnen und der engeren Kreise der Gesellschaft vorübergehend empfindlich einschränken,<br />

ausstatten muß." 200 Bauer erkannte jedoch vor dem Hintergrund der russischen Entwicklung<br />

die Gefahr, "daß die Diktatur des Proletariats, durch eine mit unbeschränkter Macht<br />

190 Mao AW 5,585.<br />

191 Trotzki, Leo; <strong>Die</strong> verratene <strong>Revolution</strong> (1936); in: ders.; Schriften; Hamburg 1988ff.; Bd.1.2, S.687-<br />

1011.<br />

192 Guevara, Ernesto Che; Gegen den Bürokratismus (1963); in: ders.; Aufsätze zur Wirtschaftspolitik;<br />

Bonn 1990; S.29-37.<br />

193 Schaff, Adam; Marxismus und das menschliche Individuum; Wien 1965.<br />

194 Kosík, Karel; Dialektik des Konkreten; Frankfurt/Main 1967.<br />

195 Richta, Radovan und Kollektiv; Technischer Fortschritt und industrielle Gesellschaft;<br />

Frankfurt/Main 1972.<br />

196 Lukács, Georg; Sozialismus und Demokratisierung; Frankfurt/Main 1987; Bahro, Rudolf; <strong>Die</strong><br />

Alternative - Zur Kritik des real existierenden Sozialismus; Berlin 1990.<br />

197 Bauer Otto; Diktatur und Freiheit in der Ideologie der Illegalen; in: ders.; Werke; Wien 1975-1980;<br />

Bd.9, S.810.<br />

198 Bauer 1975f.; 9,810.<br />

199 Bauer 1975f.; 9,814.<br />

200 Bauer 1975f.; 9,821.<br />

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ausgerüstete Bürokratie ausgeübt, zur Diktatur der Bürokratie über das Proletariat und über<br />

die ganze Gesellschaft zu werden droht" 201 , auch wenn sein Gegenmittel kaum praktikabel<br />

erscheint, denn dieses besteht lediglich in der Bitte an die Führer der Bewegung, dafür Sorge<br />

zu tragen, daß "die Arbeiterklasse selbst und vor allem die diese Klasse führende Partei<br />

beherrscht ist vom starken Willen zur Freiheit." 202<br />

Produktiver scheint da die Analyse der Frankfurter Schule zu sein, denn durch einen Rückgriff<br />

auf Kant gelingt es Marcuse, "die Autoritätsbeziehung, als einen in sich widersprüchlichen<br />

Zusammenhang von Freiheit und Unfreiheit, von Autonomie und Heteronomie" 203 zu<br />

analysieren, die sich in der Person des "Autoritätsobjekts" manifestiert, und unterstreicht somit<br />

eine, meiner Meinung nach produktive Form einer Annäherung an das Problem der Autorität<br />

mittels des gesellschaftlichen und historischen Kontextes der "bürgerlichen Familie". Durch<br />

diese Konkretisierung sahen sie sich selbst in der Lage, die Möglichkeiten einer praktischen<br />

Freiheit des Individuums in Bezug auf seine materiellen Bedingungen zu hinterfragen und den<br />

Blick zu schärfen, um auch in der Totalität der sich hinter dem Rücken der Menschen<br />

vollziehenden Autoritätsbeziehungen Ansätze für eine freiheitliche Perspektive der Menschheit<br />

zu erkennen. Während Marcuse bis zu seinem Tod trotz aller Probleme dieses Ansatzes an<br />

einer prinzipiellen Hoffnung auf Freiheit festhielt 204 , erschien Horkheimer dieser Optimismus<br />

unbegründet, denn "die Richtung auf den autoritären Staat war den radikalen Parteien in der<br />

bürgerlichen Ära seit jeher vorgezeichnet. In der französischen <strong>Revolution</strong> erscheint die spätere<br />

Geschichte zusammengedrängt. (...) <strong>Die</strong> französische <strong>Revolution</strong> war der Tendenz nach<br />

totalitär." 205 Auch in der zu seiner Zeit scheinbar einzig möglichen Alternative konnte<br />

Horkheimer zu Recht, wie oben gezeigt wurde, keine Manifestation einer Alternative zur<br />

Autorität erkennen 206 - und so ist es angesichts der Tatsache, daß "selbst die Feinde des<br />

201 Bauer 1975f.; 9,821.<br />

202 Bauer 1975f.; 9,821.<br />

203 Marcuse, Herbert; Studie über Autorität und Familie (1936); in: ders.; Schriften; Frankfurt/Main<br />

1978ff.; Bd.3, S.185.<br />

204 <strong>Die</strong>s wird auch in der Schlußpassage seines Hauptwerkes deutlich: "<strong>Die</strong> sich leicht anbietende<br />

geschichtliche Parallele zu den Barbaren, die das Imperium der Zivilisation bedrohen, präjudiziert<br />

den Tatbestand; die zweite Periode der Barbarei kann durchaus das fortbestehende Imperium der<br />

Zivilisation selbst sein. Aber es besteht die Chance, daß die geschichtlichen Extreme in dieser<br />

Periode wieder zusammentreffen: das fortgeschrittenste Bewußtsein der Menschheit und ihre<br />

ausgebeutetste Kraft. Aber das ist nicht mehr als eine Chance. <strong>Die</strong> kritische Theorie der<br />

Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft<br />

überbrücken könnte; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit<br />

will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben<br />

haben und hingeben. Zu Beginn der faschistischen Ära schrieb Walter Benjamin: Nur um der<br />

Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben." (Marcuse, Herbert; Der eindimensionale<br />

Mensch; Frankfurt/Main 1970; S.268) Vgl. auch: Árnason, Jóhann Páll; Von Marcuse zu Marx;<br />

Neuwied und Berlin 1971; Breuer, Stefan; <strong>Die</strong> Krise der <strong>Revolution</strong>stheorie - Negative<br />

Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse; Frankfurt/Main 1977; Habermas,<br />

Jürgen (Hrg.); Antworten auf Herbert Marcuse; Frankfurt/Main 1986; Roth, Roland; Rebellische<br />

Subjektivität - Herbert Marcuse und die neuen Protestbewegungen; Frankfurt/Main 1985.<br />

205 Horkheimer, Max; Autoritärer Staat; in: Horkheimer 1985ff.; 5,299.<br />

206 "<strong>Die</strong> konsequenteste Art des autoritären Staats, die aus jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital<br />

sich befreit hat, ist der integrale Etatismus oder Staatssozialismus." (Horkheimer 1985ff.; 5,300)<br />

65


autoritären Staats Freiheit nicht mehr denken können" 207 , nicht verwunderlich, daß er sich in<br />

einen mystischen Glauben an eine positive, menschliche Natur flüchtet. Jedoch ist nicht zuletzt<br />

diese Studie ein Versuch, zu hinterfragen, ob zu Beginn des 21.Jahrhunderts Freiheit wieder<br />

gedacht werden kann, und auch wenn dies noch kein Beleg dafür ist, daß Freiheit möglich ist,<br />

so zeigt es doch, daß zumindest gedanklich eine Alternative zur autoritären Realität ersonnen<br />

werden kann.<br />

<strong>Die</strong>ser Gedanke bildete auch das theoretische Fundament der antiautoritären Bewegung,<br />

deren Vordenker Hans-Jürgen Krahl die Kontroversen zwischen Anarchismus und Marx und<br />

Engels unter dem Gesichtspunkt von Voluntarismus und objektiver Möglichkeit neu aufrollt.<br />

„Daß das Proletariat frei sein muß zu seiner Befreiung ist eine conditio sine qua non der<br />

Einsicht in die <strong>Revolution</strong>. Doch das an seinen naturgeschichtlichen Endpunkt regulativ fixierte<br />

Kapital scheint das Verhältnis von Marxismus und Anarchismus auf dem Boden des<br />

Historischen Materialismus selbst zu ändern." 208 Deswegen lehnen seiner Meinung nach "die<br />

studentische Emanzipationsbewegung und die von ihr repräsentierten Teile der Schüler und<br />

Jungarbeiter heute zwar nicht die Legalität, wohl aber jede Mitarbeit in den traditionellen<br />

Institutionalisierungen des Politischen ab, weil diese eine alle emanzipatorische Selbsttätigkeit<br />

bürokratisch und administrativ erstickende Funktion haben, wo es doch primär um die<br />

Herausbildung einer emanzipatorischen Selbsttätigkeit anti-autoritärer Sensibilität geht." 209<br />

Nicht zuletzt ein Blick auf die Auswirkungen dieses langen Marsches durch die Institutionen<br />

belegt, vielleicht auf drastischere Weise als jede detaillierte, immanente Kritik, daß unter dem<br />

Mäntelchen einer antiautoritären Aufbruchstimmung nur das Menschenmaterial produziert<br />

wurde, das der wisschenschaftlich-technischen <strong>Revolution</strong> und der Durchsetzung einer neuen<br />

Form der Arbeit zuträglich war - nicht um den Kapitalismus zu stürzen, sondern um ihn zu<br />

verbessern, im Sinne einer Steigerung der Gewinnmaximierung. Rudi Dutschke erkannte schon<br />

recht früh diese Disharmonie zwischen der Möglichkeit einer radikalen Autoritätskritik und den<br />

autoritären Zwängen der alltäglichen, politischen Praxis, die auch Krahl nur andeuten konnte,<br />

ohne sie real zu lösen. "Bei Marx findet sich die Stelle: Das Aufhören von Reflexion im<br />

Augenblick der <strong>Revolution</strong> ist die größte Gefahr für die Sache der Emanzipation. Nun bin ich<br />

der letzte, der um der 'Reinheit der Theorie' willen auf <strong>Revolution</strong> verzichtet; wir müssen uns<br />

aber höchstwahrscheinlich zu einer mehrschichtigen Arbeitsweise durchringen - das 'Wie' ist<br />

mir noch nicht klar." 210 Auch wenn eingestanden werden muß, daß die antiautoritäre<br />

Bewegung keine Lösung für das angesprochene Paradigma von Freiheitswillen und Zwang zur<br />

Zentralisation in Vorbereitung der Durchsetzung dieses Ideals bieten konnte, muß ihr jedoch<br />

zugestanden werden, daß sie anders als die marxistische Bewegung diesen Umstand zumindest<br />

kenntlich gemacht hat.<br />

207 Horkheimer 1985ff.; 5,318.<br />

208 Krahl, Hans-Jürgen; Konstitution und Klassenkampf; Frankfurt/Main 1985; S.220.<br />

209 Krahl 1985,193.<br />

210 Dutschke, Rudi; Mein langer Marsch; Reinbek 1980; S.23. Ähnlich nebulös bleibt das Buch der<br />

Gebrüder Cohn-Bendit (Cohn-Bendit, Daniel/ Cohn-Bendit, Gabriel; Linksradikalismus - Gewaltkur<br />

gegen die Alterserscheinungen des Kommunismus; Reinbek 1968), das trotz aller Versprechungen<br />

die Marx-Bakunin-Debatte nicht wieder aufnimmt.<br />

66


Als gegen Ende der 70er Jahre deutlich wurde, daß auch dieser Ansatz einer freiheitlichen<br />

Bewegung gescheitert war, kam es in breiten Teilen der emanzipatorischen Bewegung zu<br />

einem Utopieverlust, der in misanthropischen Spekulationen über die Tendenzen zu einem<br />

"autoritären Etatismus" 211 und Thesen, nach denen die Grundstruktur des Menschen in einer<br />

durch Selbstunterwerfung konstituierten Struktur begründet liegt 212 , mündeten. Da die<br />

marxistische Bewegung seit je her aus dem Scheitern alternativer Ansätze zur Gewinnung der<br />

Freiheit ihre eigenen Überlegenheitsphantasien ableitet, verwundert es nicht, daß das<br />

Verhältnis von autoritären Strukturen und freiheitlicher Bewegung bis zum realpolitischen Ende<br />

dieser Auslegungsvariante der marxschen Theorie nicht hinterfragt wurde und die letzten<br />

verbliebenen Marxisten einer revolutionär aufklärerischen Autorität huldigen, von der vor dem<br />

Hintergrund der hier analysierten Gedanken und Fakten gesagt werden kann, daß sie zwar<br />

erfolgreich sein kann, aber nicht im Sinne einer Praxiswerdung von Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität, sondern nur im Sinne der Durchsetzung einer partiell anderen Form der Autorität,<br />

die die moderne Gesellschaft kennzeichnet und alle Lebensbereiche des Menschen bestimmt.<br />

211 Poulantzas, Nicos; Staatstheorie - Politischer Überbau - Ideologie - Sozialistische Demokratie;<br />

Hamburg 1978.<br />

212 Althusser, Louis; Freud und Lacan; Westberlin 1970.<br />

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"Er herrschte über ein Land, in dem nur die grausamsten Methoden des Kampfes um<br />

die Macht (oder um deren Erhaltung) bekannt waren, in dem Dolch und Gift freie<br />

Wahlen ersetzten, Kugeln und Strick freie Diskussionen. Er war ein Produkt dieser<br />

Tradition und griff selbst darauf zurück. Gleichzeitig aber verstand er, daß das<br />

irgendwie unmöglich war, unvereinbar mit der neuen Welt. Aber er konnte das<br />

System nicht ändern, das ihn selbst an der Macht hielt, denn die Macht war für ihn<br />

alles. Daher seine Flucht in Demagogie, Zeremonien, Thronreden über Fortschritt und<br />

Entwicklung (...). Er war eine ungemein sympathische Figur, ein scharfsinniger<br />

Politiker, tragischer Vater, krankhafter Geizhals, er verurteilte Unschuldige zum Tode,<br />

begnadigte Schuldige, einfach so; eine Laune der Macht, Labyrinthe der<br />

Palastpolitik, Zweideutigkeit, Finsternis, die niemand durchdringt."<br />

Ryszard Kapuscinski 213<br />

2.3. Aktionismus und <strong>Revolution</strong> versus Apathie und Zerfall<br />

Wenn in wissenschaftlichen oder alltäglichen Diskussionen die Möglichkeiten und Methoden<br />

von Transformation zur Sprache kommen, offenbart sich dem Betrachter eine große Palette<br />

von Transformationsmodellen, als deren Diametralpunkte sich der Bezug auf die französische<br />

<strong>Revolution</strong> von 1789, als Sinnbild jeder revolutionären Veränderung, und der Bezug auf die<br />

englische oder amerikanische <strong>Revolution</strong>, als Vorbild für reformorientierte<br />

Transformationsmodelle, etabliert haben. Während Jürgen Kuczynski das Verdienst zukommt,<br />

ausgehend von einer geschichtswissenschaftlichen Analyse von "Gesellschaften im<br />

Untergang" 214 auf das alternative Modell des Endes des römischen Weltreiches zu sprechen<br />

gekommen zu sein, hätte man das angesprochene Verhältnis von Reform und <strong>Revolution</strong> auch<br />

mittels philosophischer Analysen in Frage stellen können, denn beide als diametral gesetzten<br />

Transformationsmodelle beruhen auf der Prämisse, daß eine Totalität nur durch die Aktivität<br />

eines Elementes dieser Totalität transformiert werden kann. Als einer der ersten hat Max<br />

Stirner in seinem Buch "Der Einzige und sein Eigentum" diese aktivistische Gemeinsamkeit von<br />

Reform und <strong>Revolution</strong> hervorgehoben und kritisiert: "<strong>Die</strong> <strong>Revolution</strong> war nicht gegen das<br />

Bestehende gerichtet, sondern gegen dieses Bestehende, gegen einen bestimmten Bestand. Sie<br />

schaffte diesen Herrscher ab, nicht den Herrscher, im Gegenteil, wurden die Franzosen aufs<br />

unerbittlichste beherrscht (...). Bis auf den heutigen Tag ist das <strong>Revolution</strong>sprinzip dabei<br />

geblieben, nur gegen dieses und jenes Bestehende anzukämpfen, d.h. reformatorisch zu sein.<br />

So viel auch verbessert, so stark auch der 'besonnene Fortschritt' eingehalten werden mag:<br />

immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der Umsturz ist ein -<br />

Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem alten Philister. Spießbürgerlich<br />

begann die <strong>Revolution</strong> mit der Erhebung des dritten Standes, des Mittelstandes,<br />

spießbürgerlich versiegte sie." 215 Stirner blieb mit diesem Credo nicht alleine, folgte doch z.B.<br />

Max Horkheimer in seinem schon angesprochenen Artikel "Autoritärer Staat" dieser<br />

Argumentation. 216 Wenn sich hier für einen Moment dieser Sichtweise angeschlossen wird, so<br />

213 Kapuszcinski, Ryszard; König der Könige; Frankfurt/Main 1995; S.146/147.<br />

214 Kuczynski, Jürgen; Gesellschaften im Untergang - Vergleichende Niedergangsgeschichte vom<br />

Römischen Reich bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika; Köln 1984. Vgl. auch: Gibbon,<br />

Edward; The Decline and Fall of the Roman Empire; New York 1993; Goldstone, Jack A.; <strong>Revolution</strong><br />

and Rebellion in the Early Modern World; Berkeley 1991.<br />

215 Stirner 1927,108.<br />

216 "Solange die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung<br />

nicht." (Horkheimer 1985ff.; 5,319)<br />

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ist dies nicht als theoretisches Requiem für jede Form von Aktion zu sehen, sondern als<br />

spekulatives Zurückgehen hinter die Strukturen des Seins und der inhärent gesetzten<br />

Möglichkeiten einer Transformation durch Aktion. Es gilt zu untersuchen, welche Alternativen<br />

es zum politischen Aktivismus gibt und ob in der menschlichen Geschichte Modelle auffindbar<br />

sind, an die in dieser oder jener Form angeknüpft werden kann, um das in 2.1. angesprochene<br />

Ziel zu erreichen.<br />

Während in der philosophischen Begrifflichkeit das "Leiden" als Gegenbegriff zur "Aktion",<br />

bzw. "Passivismus" als Gegenteil von "Aktivismus" fungieren 217 , soll hier auf alle denkbaren<br />

Möglichkeiten der Reaktion angesichts der als Absurdität verstandenen Perspektivenlosigkeit<br />

der politischen und gesellschaftlichen Aktion eingegangen werden. Neben Nietzsche 218 , der<br />

wie kaum ein anderer die beklemmende Enge des Seins im Schatten des Absurden<br />

durchdrungen hat, kann hier auf die analytische Annäherung an die Hoffnungslosigkeit der<br />

Handlung durch Albert Camus rekurriert werden: „Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro<br />

oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, <strong>Die</strong>nstag,<br />

Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus - das ist sehr lange ein<br />

bequemer Weg. Eines Tages aber steht das 'Warum' da, und mit diesem Überdruß, in den sich<br />

Erstaunen mischt, fängt alles an. 'Fängt an' - das ist wichtig. Der Überdruß ist das Ende eines<br />

mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewußtseinsregung. Er weckt<br />

das Bewußtsein und bereitet den nächsten Schritt vor. Der nächste Schritt ist die unbewußte<br />

Umkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen. Schließlich führt dieses Erwachen mit der<br />

Zeit folgerichtig zu der Lösung: Selbstmord oder Wiederherstellung." 219 Wenn dies die<br />

einzigen Möglichkeiten der Handlung wären, dann gäb es keine, denn die Wiederherstellung<br />

der unbewußten Absurdität muß als intellektueller Selbstmord gewertet werden, der angesichts<br />

der Gewißheit des Todes dem Waldgott Siles in der Überlieferung von Nietzsche das Wort<br />

redet: "Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein,<br />

nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich - bald zu sterben." 220 In seinem Roman "<strong>Die</strong><br />

Pest" eröffnet Camus seinen Protagonisten eine andere Reaktionsmöglichkeit: "Ein paar<br />

Minuten lang glitten sie so vorwärts, im gleichen Zug und mit der gleichen Kraft, allein, fern der<br />

Welt, endlich frei von der Stadt und der Pest. Rieux hielt zuerst inne, und nun kehrten sie<br />

langsamer zurück, außer einmal, als sie in eine eiskalte Strömung gerieten. Da beschleunigten<br />

sie wortlos ohne Bewegungen, von dieser Überraschung des Meeres gepeitscht. Sie kleideten<br />

sich wieder an und gingen fort, ohne ein Wort zu sprechen. Aber sie hatten das gleiche Herz,<br />

und die Erinnerung an diese Nacht war für beide tröstlich. Als sie von ferne die Wache der<br />

Pest erblickten, wußte Rieux, daß auch Tarrou sich sagte, daß die Krankheit sie einen<br />

Augenblick vergessen hatte, daß es so gut war und daß es jetzt galt, wieder anzufangen." 221<br />

Anders als der angesprochene Individualanarchist Bellegarrigue, der sich der Absurdität der<br />

politischen Praxis durch Flucht in die Natur entzog, geht Camus in der Pest davon aus, daß<br />

217 Hoffmeister, Johannes; Wörterbuch der philosophischen Begriffe; Hamburg 1955; S.22.<br />

218 Vgl.: <strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong>; <strong>Die</strong> ewige Wiederkehr des Gleichen – Nietzsche und das Ende der<br />

Aufklärung; in: <strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong> 1997,114-129.<br />

219 Camus, Albert; Der Mythos von Sisyphos - Versuch über das Absurde; Reinbek 1995; S.16.<br />

220 Nietzsche 1988; 1,35.<br />

221 Camus, Albert; <strong>Die</strong> Pest; Reinbek 1991; S.168/9.<br />

70


eine Flucht, wenn sie nicht im Sinne von Seneca den Selbstmord umschreibt, keine Lösung<br />

bietet. <strong>Die</strong>s erscheint zutreffend, wenn man resümiert, daß nicht die Abstraktionsform der<br />

"Gesellschaft" Träger des Absurden ist, sondern das menschliche Individuum selbst. Vor<br />

diesem Hintergrund offenbart sich, daß die Flucht keine wirkliche Befreiung von der Alplast<br />

sein kann, sondern nur ein Vergessenmachen ihrer fortwährenden Existenz durch den<br />

bewußtseinsbetäubenden Akt der menschlichen Praxis.<br />

In "Der Mensch in der Revolte" eröffnet Camus eine weitere Form der Reaktion, wobei<br />

berücksichtigt werden muß, daß der französische Begriff "révolté" nicht den aktivistischen<br />

Inhalt des deutschen Begriffes "Revolte" teilt, sondern eher durch den passiveren Begriff der<br />

"Empörung" übersetzt werden muß. "In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell.<br />

Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird ihm bewußt, kollektiver Natur zu sein; es ist<br />

das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist<br />

demnach, zu erkennen, daß er diese Befremdung mit allen Menschen teilt und daß die<br />

menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. (...)<br />

Ich empöre mich, also sind wir." 222 Jedoch bleibt diese "Empörung" in soweit folgenlos, als es<br />

"das 'gelobte Land', das wir suchen, nicht gibt. Es ist unmöglich für das Morgen zu leben<br />

anstatt dem Heute. <strong>Die</strong> Welt an sich hat keinen Sinn, erst der handelnde Mensch verleiht ihn<br />

ihr, indem er für die Geknechteten und Entrechteten eintritt. Kunst und Revolte sind ewig.<br />

Unrecht, Leiden und Tod sind nicht aus der Welt zu schaffen. Es gilt die Erde zu lieben, kühn<br />

und intelligent zu denken, klar zu handeln und zu wirken." 223 <strong>Die</strong>ses Moment der Empörung,<br />

das bei Camus zu einer fast ontologischen Kategorie gerinnt, kann als die zentrale, antiaktivistische<br />

Methode des Umganges mit der bewußten Absurdität des Seins gewertet<br />

werden, wobei dem an Nietzsche anknüpfenden Memento, die absurde Welt zu lieben, kein<br />

222 Camus, Albert; Der Mensch in der Revolte; Reinbek 1994; S.21. Annemarie Pieper faßt die<br />

Grundmaximen treffend zusammen: "Was kann ich wissen? - daß das Absurde ist. Was soll ich tun?<br />

- protestieren. Was darf ich hoffen? - möglichst lange zu leben." (Pieper, Annemarie; Absurde<br />

Logik - Albert Camus' Grundlegung einer Philosophie des Lebens; in: Zeitschrift für philosophische<br />

Forschung Nr.28/1974; S.433)<br />

Camus aktualisiert damit einen Gedanken Stirners: "<strong>Revolution</strong> und Empörung dürfen nicht für<br />

gleichbedeutend angesehen werden. Jene besteht in einer Umwälzung der Zustände, des<br />

bestehenden Zustandes oder Status, des Staats oder der Gesellschaft, ist mithin eine politische Tat;<br />

diese hat zwar eine Umwandlung der Zustände zur unvermeidlichen Folge, geht aber nicht von ihr,<br />

sondern von der Unzufriedenheit der Menschen mit sich aus, ist nicht eine Schilderhebung,<br />

sondern eine Erhebung der einzelnen, ein Emporkommen ohne Rücksicht auf die Einrichtungen,<br />

welche daraus ersprießen. <strong>Die</strong> <strong>Revolution</strong> zieht auf neue Einrichtungen, die Empörung führt dahin,<br />

uns nicht mehr einrichten zu lassen, sondern uns selbst einzurichten, und setzt auf 'Institutionen'<br />

keine glänzende Hoffnung. Sie ist ein Kampf gegen das Bestehende, da, wenn sie gedeiht, das<br />

Bestehende von selbst zusammenstürzt, sie ist nur ein Herausarbeiten meiner aus dem<br />

Bestehenden. Verlasse ich das Bestehende, so ist es tot und geht in Fäulnis über. Da nun nicht der<br />

Umsturz eines Bestehenden mein Zweck ist, sondern meine Erhebung darüber, so ist meine Absicht<br />

und Tat keine politische oder soziale, sondern, als allein auf mich und meine Eigenheit gerichtet,<br />

eine egoistische." (Stirner 1927,309) Der Unterschied zwischen beiden Denkern besteht demnach<br />

lediglich darin, daß Stirner eine erfolgreiche Empörung für möglich hält, während Camus dies<br />

zumindest in seinen bekannten Schriften verneint, auch wenn er nach der Selbstanwendung des<br />

allgemeinen Absurditätspostulates eine Überwindung der Sphäre der Absurdität zumindest<br />

theoretisch wieder für möglich halten muß.<br />

223 Camus 1994, Klappentext.<br />

71


zwangsläufiger Status zukommt, sondern eher als individuelle Umgangsform mit der Tragik des<br />

Seins gewertet werden kann. Aus der Sichtweise der in Aktion begriffenen Mehrheit der<br />

Menschen erscheint diese individuelle und gesellschaftsschöpfende Empörung als Apathie,<br />

deren konkrete Wirkung in der Geschichte es nun zu untersuchen gilt. Um nicht selbst gänzlich<br />

in Apathie zu verfallen, was für den Fortgang dieser Untersuchung hinderlich wäre, bietet es<br />

sich an, der Prämisse einer absoluten Absurdität allen Seins, die am Beginn dieses Absatzes<br />

stand, die Gefolgschaft zu kündigen.<br />

Vor dem Hintergrund, daß sich die inerten Auflösungsprozesse der römischen Gesellschaft im<br />

historischen Nebel verlieren und die Quellenlage alles andere als befriedigend ist, wird hier die<br />

gesellschaftstransformierende Rolle der Apathie in den Ländern des "realen Sozialismus"<br />

untersucht, ohne daß damit das Ergebnis dieser Veränderung die Weihen einer "besseren"<br />

Form von Gesellschaft erhält. Leonid Batkin 224 kam schon 1988 anläßlich einer Untersuchung<br />

der Sozialstruktur und individuellen Motivation der Sowjetbürger zu der These: "Bedeutend<br />

stärker als die Angst aber ist die Apathie. Wir haben eine Zeit hinter uns, da die Geschichte<br />

stehengeblieben zu sein schien. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines unintelligenten,<br />

alten und sehr kranken Mannes, der stockend vom Blatt ablas. (...) <strong>Die</strong> sich mehrenden<br />

Anzeichen der Hinfälligkeit waren denn auch die einzigen deutlichen Anzeichen dafür, daß der<br />

historische Prozeß in dem großen Lande weiterging. Sonst passierte nichts. <strong>Die</strong> Politik war auf<br />

ein medizinisches Problem reduziert. (...) Es verschwand die Politik als spezifische moderne<br />

Sphäre der menschlichen Tätigkeit, in der verschiedene Interessen von Klassen und Gruppen<br />

aufkommen und aufeinanderprallen, wo die Positionen öffentlich und direkt konfrontiert<br />

werden und nach Verfahren gesucht wird, einen gewissen dynamischen Kompromiß zu<br />

erreichen." 225 Gorbatschow erklärte die Bekämpfung dieses "Sandes im Getriebe" 226 zur<br />

Hauptaufgabe seiner Perestroika, an deren Ende eine aktivistische, hierarchische<br />

Arbeitsgemeinschaft stehen sollte, denn "die Perestroika erfordert einen höheren Grad an<br />

sozialer Organisation und bewußte Disziplin der Bürger." 227 Man könnte hinzufügen, jede<br />

Herrschaft braucht Gefolge, denn schon Max Stirner erkannte, daß "der Staat nicht denkbar<br />

(ist) ohne Herrschaft und Knechtschaft (...). Wer, um zu bestehen, auf die Willenlosigkeit<br />

anderer rechnen muß, der ist ein Machwerk dieser anderen, wie der Herr ein Machwerk des<br />

<strong>Die</strong>ners ist. Hörte die Unterwürfigkeit auf, so wär's um die Herrschaft geschehen." 228<br />

Während Stirner von einem bewußten Akt der Verweigerung mit dem Ziel der Zerstörung des<br />

de facto ausging, sprechen alle Untersuchungen dafür, daß der Prozeß der immanenten<br />

Auflösung des Realsozialismus das Produkt einer umfassenden Apathie weiter Teile der<br />

224 <strong>Die</strong> Auflösungsprozesse des selbsternannten Sozialismus sind insoweit weniger geeignet, einen<br />

gesellschaftlichen Paradigmenwechsel durch Apathie und Zerfall zu beschreiben, als ihr<br />

Endprodukt nicht als prinzipiell neues, wenn auch weiterhin auf Ausbeutung basierendes<br />

Gesellschaftsmodell angesehen werden muß, sondern nur als Restrukturierung der 1917<br />

überwundenen Ordnung erscheint.<br />

225 Batkin, Leonid; Erneuerung der Geschichte; in: Afanassjew, Juri; Es gibt keine Alternative zur<br />

Perestroika: Glasnost - Demokratie - Sozialismus; Nördlingen 1988; S.207.<br />

226 Gorbatschow, Michail; Perestroika - <strong>Die</strong> zweite russische <strong>Revolution</strong> - Eine neue Politik für Europa<br />

und die Welt; München 1987; S.141.<br />

227 Gorbatschow 1987,135.<br />

228 Stirner 1927,189.<br />

72


Bevölkerung war, 229 die, da ihnen der eigene Wille zur Veränderung fehlte, nicht in Freiheit<br />

umschlug, sondern nur in eine neue Form der Herrschaft.<br />

Während der Marxismus die Tendenz des sozioökonomischen Apparates, "alle subjektive<br />

Initiative abzutöten oder zu privatisieren" 230 als kontraproduktiv für eine umfassende<br />

Emanzipation setzt, erkannte eine kleine Gruppe von Kritikern, daß das, "was Gorbatschow<br />

als Gleichmacherei, Faulheit, Ineffektivität, Schlamperei denunziert, ja auch eine<br />

Errungenschaft des Proletariats (ist): nicht so ausgebeutet zu werden wie bei General Motors<br />

oder bei Krupp", 231 auch wenn ihnen trotz oder gerade wegen ihrer positiven Bewertung der<br />

sozio-ökonomischen Prozesse in den Ländern des selbsternannten Sozialismus die tiefe<br />

Dynamik und die Möglichkeiten dieser Entwicklung verschlossen blieben. In gewisser Weise<br />

ähneln viele Phänomene der modernen Gesellschaft, auf deren Hervorbringung der<br />

"Realsozialismus" keinerlei Monopol hatte, auch wenn sie in den kapitalistischen Staaten noch<br />

nicht diese zerstörende Gewalt entfesseln konnten, antiken Vorbildern, wie sie z.B. Friedrich<br />

Engels in seiner Schrift "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" eher<br />

zufällig beschreibt: "<strong>Die</strong> ungeheure Menschenmasse des ungeheuren Gebiets hatte nur ein<br />

Band, das sie zusammenhielt: den römischen Staat, und dieser war mit der Zeit ihr schlimmster<br />

Feind und Unterdrücker geworden. <strong>Die</strong> Provinzen hatten Rom vernichtet; Rom selbst war eine<br />

Provinzstadt geworden wie die anderen - bevorrechtet, aber nicht länger herrschend, nicht<br />

länger Mittelpunkt des Weltreichs, nicht einmal mehr Sitz der <strong>Kai</strong>ser und Unterkaiser, die in<br />

Konstantinopel, Trier, Mailand, wohnten. Der römische Staat war eine riesige, komplizierte<br />

Maschine geworden, ausschließlich zur Aussaugung der Untertanen. (...) Dahin hatte es der<br />

römische Staat mit seiner Weltherrschaft gebracht: Er gründete sein Existenzrecht auf die<br />

Erhaltung der Ordnung nach innen und den Schutz gegen die Barbaren nach außen. Aber seine<br />

Ordnung war schlimmer als die ärgste Unordnung, und die Barbaren, gegen die er die Bürger<br />

zu schützen vorgab, wurden von diesen als Retter angesehen. Der Gesellschaftszustand war<br />

nicht weniger verzweifelt." 232 Ein Grundproblem von Modellen, die auf eine, wie auch immer<br />

geartete, Parallelisierung der Probleme der Moderne und der der untergehenden Antike<br />

orientieren, ist die Frage, wie die Möglichkeit einer Transformation der gegenwärtigen<br />

Strukturen des de facto mittels Apathie und immanentem Zerfall in dem Sinne zu nutzen sind,<br />

daß eine Durchsetzung der in 2.1. entwickelten Utopieansätze zumindest denkbar wird.<br />

Anders ausgedrückt: Es stellt sich die Frage, ob es eine Alternative zu einer autoritären<br />

Restrukturierung gibt, die vor dem Hintergrund der historischen Parallelisierung als zwanghafte<br />

229 Vgl.: Haug, Wolfgang Fritz; Apathie im befehlsadministrativen Sozialismus; in: HKWM 1,384-389;<br />

ders.; Administrierte Apathie und kriminelle Initiative; in: ders.; Gorbatschow - Versuch über den<br />

Zusammenhang seiner Gedanken; Hamburg 1989; S.156-181.<br />

230 Bahro 1990,12. Vgl. auch die Kritik des Vordenkers der "Partei des demokratischen Sozialismus"<br />

André Brie, der am Realsozialismus dessen Tendenz kritisiert, zu einer "Produktion um der<br />

Produktion willen im Zeichen der Bruttokennziffer, zu Gleichgültigkeit, Schlamperei,<br />

Verschleuderung des Volksvermögens, zu <strong>Die</strong>bstahl und Korruption" geführt zu haben. (Brie,<br />

André; Wer ist Eigentümer im Sozialismus? Rechtsphilosophische Überlegungen; Berlin/DDR 1990;<br />

S.41)<br />

231 Gremliza, Hermann L.; Redebeitrag in der Diskussion 'Neues Denken' - Was will der Generalsekretär<br />

der KPdSU?; in: konkret Nr.7/1988; S.37.<br />

232 MEW 21,143.<br />

73


Konsequenz eines Zerfalles durch Apathie erscheint. Umberto Eco, einer der profiliertesten<br />

Anhänger der These eines "neuen Mittelalters", sieht den Konsequenzen einer solchen<br />

Entwicklung gelassen entgegen, wenn er die Hypothese formuliert: "Unser Neues Mittelalter<br />

wird eine Epoche der 'permanenten Transition' sein, die neue Adaptionsmethoden verlangt.<br />

Das Problem wird nicht so sehr darin liegen, die Vergangenheit wissenschaftlich zu<br />

konservieren, sondern Hypothesen über die Nutzung des Chaos aufzustellen, indem man sich<br />

auf die Logik der Konfliktualität einläßt. Es wird, wie in Ansätzen schon zu sehen ist, eine<br />

Kultur der laufenden Neuanpassung entstehen, die sich an Utopien nährt. So und nicht anders<br />

hatte der mittelalterliche Mensch die Universität erfunden, mit der gleichen Vorurteilslosigkeit,<br />

mit der die fahrenden Kleriker unserer Tage sie nun zerstören (und vielleicht transformieren).<br />

Das Mittelalter hat die Erbschaft der Vergangenheit auf seine Weise gehütet: nicht indem es sie<br />

wie einen Schatz vergrub, sondern indem es sie laufend neuübersetzte, benutzte und<br />

adaptierte, in einer immensen Bastelarbeit auf der Klippe zwischen Hoffnung, Nostalgie und<br />

Verzweiflung." 233 Wenn Stirner hinter Hobbes zurückgeht und an Stelle dessen Forderung,<br />

dem Prinzip des naturalistisch gesetzten homo homini lupus ein auf Gesellschaftsverträgen<br />

basierendes Gemeinwesen entgegenzustellen, den bellum omnium contra omnes ausruft 234 ,<br />

bleibt zu fragen, ob die Hoffnung von Eco nicht bald durch Verzweiflung im Angesicht dieses<br />

Krieges zu einer Renaissance der untergegangenen Epoche der Unfreiheit, Ungleichheit und<br />

gesellschaftlichen Kälte umschlägt, die alle positiven Ansätze zur gesellschaftlichen<br />

Transformation im Keim erstickt.<br />

Im Gegensatz zu Ansätzen, die jegliches Gemeinwesen ablehnen und im Sinne von Pascal den<br />

Menschen aufrufen, Tier zu werden, entwickelt Stirner aus der zerstörerischen Potenz des<br />

Egoismus eine neue Form von Gesellschaft, die, da sie auf Freiheit basiert, der Zerstörung<br />

einen schöpferischen Charakter verleiht. "Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser<br />

'menschlichen Gesellschaft' nicht am Herzen, ich opfere ihr nichts, ich benutze sie nur; um sie<br />

aber vollständig benutzen zu können, verwandle ich sie vielmehr in mein Eigentum und mein<br />

Geschöpf, d.h. ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten." 235 Wenn<br />

man einmal von den Problemen abstrahiert, die aus der schon kritisierten Prämisse der<br />

Selbstkonstruktion des Individuums bei Stirner folgen, 236 dann stellt sich die Frage, wie ein<br />

233 Eco, Umberto; Auf dem Wege zu einem Neuen Mittelalter; in: ders.; Über Gott und die Welt -<br />

Essays und Glossen; München 1987; S.33. Vgl. auch: Minc, Alain; Das neue Mittelalter; Hamburg<br />

1994.<br />

234 "Der Egoismus schlägt (im Gegensatz zum Humanismus - KSS) einen anderen Weg ein, um den<br />

besitzlosen Pöbel auszurotten. Er sagt nicht: Warte ab, was dir die Billigkeitsbehörde im Namen der<br />

Gesamtheit - schenken wird (...) sondern: Greife zu und nimm, was du brauchst! Damit ist der Krieg<br />

aller gegen alle erklärt. Ich allein bestimme darüber, was ich haben will." (Stirner 1927,250)<br />

235 Stirner 1927,173. "Und doch können nur einzelne miteinander in Verein treten, und alle<br />

Völkerallianzen und Bünde sind und bleiben mechanische Zusammensetzungen, weil die<br />

Zusammentretenden, soweit wenigstens die 'Völker' als die Zusammengetretenen angesehen<br />

werden, willenlos sind. Erst mit der letzten Separation endigt die Separation selbst und schlägt in<br />

Vereinigung um." (Stirner 1927,223)<br />

236 So erscheint es fraglich, ob in einer komplexen Gesellschaft das Individuum wirklich frei über seine<br />

Belange entscheiden kann, wie dies Stirner voraussetzt, wenn er erklärt: "Haben chinesische<br />

Untertanen ein Recht auf Freiheit? Schenkt sie ihnen doch, und seht dann zu, wie sehr ihr euch<br />

darin vergriffen habt: weil sie die Freiheit nicht zu nutzen wissen, darum haben sie kein Recht drauf,<br />

74


Verein von Egoisten beschaffen sein muß, in dem alle Miglieder postulieren, daß es "außer mir<br />

kein Recht gibt. Ist es mir recht, so ist es recht." 237 Stirner erkennt an, daß "auch durch den<br />

Verein eine Gesellschaft (entsteht), aber nur wie durch einen Gedanken eine fixe Idee entsteht,<br />

dadurch nämlich, daß aus dem Gedanken die Energie des Gedankens, das Denken selbst,<br />

diese rastlose Zurücknahme aller sich verfestigenden Gedanken, verschwindet. Hat sich ein<br />

Verein zur Gesellschaft kristallisiert, so hat er aufgehört, eine Vereinigung zu sein; denn<br />

Vereinigung ist ein unaufhörliches Sichvereinigen; er ist zu einem Vereinigtsein geworden, zum<br />

Stillstand gekommen, zur Fixheit ausgeartet, er ist - tot als Verein, ist der Leichnam des<br />

Vereins oder der Vereinigung, d.h. er ist - Gesellschaft, Gemeinschaft. Ein sprechendes<br />

Exempel dieser Art liefert die Partei" 238 , die Stirner "als ein Staat im Staate" 239 erscheint.<br />

Nach dieser Negativdefinition wird aber auch eine positive Form der Herleitung geboten: "Es<br />

ist keiner für mich eine Respektperson, auch der Mitmensch nicht, sondern lediglich wie<br />

andere Wesen ein Gegenstand, für den ich Teilnahme habe oder auch nicht, ein interessanter<br />

oder uninteressanter Gegenstand, ein brauchbares oder ein unbrauchbares Subjekt. Und wenn<br />

ich ihn gebrauchen kann, so verständige ich mich wohl und einige mich mit ihm, um durch die<br />

Übereinkunft meine Macht zu verstärken und durch gemeinsame Gewalt mehr zu leisten, als<br />

die einzelne bewirken könnte. In dieser Gemeinsamkeit sehe ich durchaus nichts anderes als<br />

eine Multiplikation meiner Kraft, und nur solange sie meine vervielfachte Kraft ist, behalte ich<br />

sie bei. So aber ist sie ein - Verein." 240 Das "Vergesellschaftungsmodell" Verein offenbart sich<br />

so als temporärer Zusammenschluß von selbstbewußten, freiheitsstrebenden Individualisten zur<br />

Durchsetzung ihnen gemeinsamer, aber für den einzelnen unerreichbarer Ziele. Während<br />

Stirner in seiner Kritik des Humanismus und Kommunismus die Vernunft als muffiges Relikt<br />

religiöser Eiferer zu demaskieren trachtet, bedarf er bei der Konstruktion seiner Utopie einer<br />

ausgeprägt individuellen Vernunft, die ausgehend von dem individuellen Bestreben einer<br />

oder deutlicher, weil sie die Freiheit nicht haben, haben sie eben das Recht dazu nicht. (...) <strong>Die</strong>s<br />

heißt nichts anderes, als: was du zu sein die Macht hast, dazu hast du das Recht. Ich leite alles<br />

Recht und alle Berechtigung aus mir her; ich bin zu allem berechtigt, dessen ich mächtig bin."<br />

(Stirner 1927,183) Um Stirner nicht dem Verdacht auszusetzen, er hätte in imperialistischer Manier<br />

über reale Chinesen geurteilt, sei angemerkt, daß von ihm China als Pseudonym für Preußen gesetzt<br />

wurde, um der Zensur zu entgehen. Nicht erst die "Kritik der politischen Ökonomie" von Marx hat<br />

verdeutlicht, daß die Thesen von Stirner ("<strong>Die</strong> Armen sind dran schuld, daß es Reiche gibt." Stirner<br />

1927,308) etwas zu kurz gegriffen sind, auch wenn der marxistische Umkehrschluß, daß es allein die<br />

Reichen sind, die die Armut verschulden, genauso kurzsichtig ist.<br />

237 Stirner 1927,183.<br />

238 Stirner 1927,299.<br />

239 "Der einzelne aber ist einzig, kein Glied der Partei. Er vereinigt sich frei und trennt sich wieder frei.<br />

<strong>Die</strong> Partei ist nicht als ein Staat im Staate, und in diesem kleineren Bienenstaate soll dann ebenso<br />

wieder 'Friede' herrschen, wie im größeren. Gerade diejenigen, welche am lautesten rufen, daß im<br />

Staat eine Opposition sein müsse, eifern gegen jede Uneinigkeit der Partei. Ein Beweis, wie auch sie<br />

nur den Staat wollen. Nicht am Staate, sondern am Einzigen zerscheitern alle Parteien. (...) Kurz, die<br />

Partei verträgt nicht die Unparteilichkeit, und in dieser eben erscheint der Egoismus. Was schiert<br />

mich die Partei. Ich werde doch genug finden, die sich mit mir vereinigen, ohne zu meiner Fahne zu<br />

schwören." (Stirner 1927,229)<br />

240 Stirner 1927,305.<br />

75


Maximierung des Selbstgenusses 241 Wege und Möglichkeiten aufzeigt, um dieser teilhaftig zu<br />

werden.<br />

Als Manifestation des Vergesellschaftungsmodelles "Verein" kann die anarchistische<br />

Siedlungsbewegung verstanden werden, die durch die Etablierung genossenschaftlicher<br />

Ökokommunen den Austritt aus der negativ verstandenen Realität probte. Im Anschluß an die<br />

englische Settlementbewegung und Vorbilder in der mittelalterlichen Lebens- und Arbeitsweise<br />

versuchten Theoretiker dieses Ansatzes wie etwa Gustav Landauer ihr Projekt einer<br />

antiurbanen, industriefeindlichen, auf Rätestrukturen basierenden Gemeinschaft sozialistischer<br />

Kommunen und autonomer Republiken, deren Gesamtstruktur auf den beiden Grundideen<br />

Dezentralisation und Föderation basieren sollte, vorerst theoretisch zu fundieren: "Raffen wir<br />

uns zur Aktivität auf; treten wir durch Vereinigung unseres Konsums aus dem Kapitalismus<br />

aus; schaffen wir das Volk, das heute nicht da ist; bilden wir die ersten Anfänge der neuen<br />

Gemeinden, der neuen Gesellschaft, der neuen Arbeit, des neuen Marktes. Das Stück Natur,<br />

das allen gehört, den Boden, können wir nur wiedererlangen, wenn unsre eigene<br />

Menschennatur sich gewandelt hat: wenn der Geist der Verwirklichung und des Ausgleichs,<br />

der Erneuerung aller Lebensbedingungen über uns kommt und wir endlich wieder wissen: nur<br />

die Gegenwart ist wirklich, und was die Menschen nicht jetzt tun, nicht sofort zu tun beginnen,<br />

das tun sie in alle Ewigkeit nicht." 242 <strong>Die</strong>ser esoterisch anmutende Glaube, im Bündnis mit<br />

Gleichgesinnten die Verwirklichung einer Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Solidarität in<br />

einer weltabgeschiedenen und der Natur verbundenen Umgebung zu praktizieren, ist<br />

vermutlich so alt wie der Wunsch nach Verwirklichung der Utopie selbst. 243 Ziel dieser<br />

Bewegung war es, "durch eine geistige Bewegung zunächst einzelner (...) die ökonomische und<br />

soziale Basis so zu verändern, daß sich für jeden arbeitenden Menschen ein geistvolles,<br />

kulturerfülltes Leben führen läßt" 244 , wobei dieser individuelle Austritt aus dem Kapitalismus<br />

ein Gegenmodell zu <strong>Revolution</strong> und Aufstand darstellt. Wenn Martin Buber, der die Ideen<br />

Landauers nach dessen Ermordung 1919 in die Kibbuzim-Bewegung einbrachte, erklärt, daß<br />

der "Staat ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen den Menschen, eine Art (ist), wie die<br />

Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen<br />

eingeht, indem man sich anders zueinander verhält", 245 so kann dies als Illustration der<br />

241 "Somit ist denn mein Verhältnis zur Welt dieses: Ich tue für sie nichts mehr 'um Gottes willen', ich<br />

tue nichts 'um des Menschen willen', sondern, was ich tue, daß tue ich 'um meinetwillen'. (...) Mein<br />

Verkehr mit der Welt besteht darin, daß ich sie genieße und so sie zu meinem Selbstgenuß<br />

verbrauche. Der Verkehr ist Weltgenuß und gehört zu meinem - Selbstgenuß." (Stirner 1927,312)<br />

242 Landauer, Gustav; <strong>Die</strong> Siedlung (1910); in: ders.; Auch die Vergangenheit ist Zukunft;<br />

Frankfurt/Main 1989; S.119.<br />

243 Nicht nur der "erste" bekannt gewordene <strong>Revolution</strong>är Spartakus appellierte vor den Mauern Roms<br />

an seine Anhänger, statt der Entscheidungsschlacht gegen die römische Militärmacht in der<br />

sizilianischen "Heimat" des Sklavenaufstandes eine "utopische" Gesellschaft zu etablieren,<br />

sondern auch die Diggerbewegung im England des Oliver Cromwell wendete sich von den<br />

politischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Fraktionen ab, um in ihren<br />

landwirtschaftlichen Kommunen zu leben und zu arbeiten (vgl.: Winstanley, Gerrard; Gleichheit im<br />

Reich der Freiheit; Leipzig 1983).<br />

244 Kalz, Wolf; Gustav Landauer - Kultursozialist und Anarchist; Meisenheim am Glan 1967; S.102.<br />

245 Buber, Martin; Pfade nach Utopia; Heidelberg 1950; S.81.<br />

76


Grundidee der Siedlungsbewegung verstanden werden, 246 die ideengeschichtlich auch in der<br />

"großen Verweigerung" von Marcuse 247 oder Lyotard 248 weiterwirkt. Während die<br />

Vordenker dieses Alternativmodelles aus verständlichen Gründen einer exakten Bestimmung<br />

der konkreten Strukturen ihrer neuen Gesellschaft als dem Wege gingen und das Beginnen in<br />

den Mittelpunkt ihres Schaffens stellten, 249 beleuchtet der anarchistische Anthropologe Harold<br />

Barclay die Resultate dieser Siedlungen im angelsächsischen Raum, wobei er davon ausgeht,<br />

daß "jedes dieser anarchistischen Siedlungsprojekte von Anfang an den Keim des Scheiterns<br />

in sich (trägt), weil die Dinge, die von außerhalb kommen, sich gegen sie richten." 250 Mittels<br />

der Aufdeckung ihrer inneren Strukturen entwickelt Barclay vor dem Hintergrund von<br />

Vergleichen zu "religiös-inspirierten" und "einfach-strukturierten" Gesellschaften Kriterien, die<br />

zu gewährleisten scheinen, daß es einzelnen Kommunen trotz schlechter Startbedingungen<br />

gelang, über Jahre und sogar Jahrzehnte zu bestehen, auch wenn sie selten mehr als 100<br />

Personen umfaßten. 251 Wenn Barclay 1. die "Reduzierung der negativen Werbung und der<br />

äußeren Beeinträchtigung auf ein Minimum" 252 einfordert, da sonst der äußere <strong>Dr</strong>uck die neue<br />

Gemeinschaft von innen und außen unterminiert, so steckt dies für den utopischen Charakter<br />

des Siedlungsprojektes enge Grenzen, denn die Grundmotivation für die Etablierung einer<br />

Gegentotalität liegt kaum in der Unzufriedenheit der Mitglieder an peripheren Phänomenen der<br />

Gesellschaft. Wenn Barclay 2. als Beispiel für "Auswahlkriterien für neue Mitglieder (...) die<br />

erfolgreichste Gemeinschaftsbewegung von allen in diesem Zusammenhang behandelten<br />

Gruppen, die Hutterer, (anführt, die) gleichzeitig auch die strengsten Aufnahmevorschriften<br />

(haben), so daß praktisch niemand von außerhalb Mitglied bei ihnen werden kann" 253 , so wirft<br />

dies kein gutes Licht auf die von Landauer intendierte Ausdehnungsbewegung des<br />

Experimentes, denn in letzter Instanz wird das Modell nicht nur um seiner selbst willen<br />

installiert, sondern soll als Modell gerade für die Ausbreitung werben. Wenn Barclay<br />

246 Leineweber, Bernd; Pflugschrift - Über Politik und Alltag in Landkommunen und anderen<br />

Alternativen; Frankfurt/Main 1981.<br />

247 Marcuse, Herbert; Versuch über die Befreiung; Frankfurt/Main 1969.<br />

248 Lyotard, Jean-Francois; Apathie in der Theorie; Westberlin 1979.<br />

249 "Der Proletarier, der die Wahrheit des Anarchismus erkannt hat, wird allerdings nicht einzig und<br />

allein in Konventikeln und Diskutierklubs darüber streiten, wie in Zukunft das Geschirr zu spülen<br />

und die Stiefel zu reinigen sind, sondern er wird, soweit es ihm persönlicher Mut und seine<br />

Lebenslage erlauben, ohne Zweifel mit zäher Energie Schritt für Schritt mit allen Mitteln, die ihm<br />

seine Weltanschauung gestattet, für die Verbesserung seiner Lebenslage eintreten. Und seine<br />

Erkenntnis sagt ihm vor allem, daß er, wie die Dinge heute liegen, nur innig verbündet mit dem<br />

gesamten Proletariat der Welt durch starke Massenaktionen eine Verbesserung seiner<br />

wirtschaftlichen Lage erreichen kann." (Landauer, Gustav; Der Anarchismus in Deutschland (1895);<br />

in: Landauer 1989,52) "<strong>Die</strong> Anarchie ist kein fertiges und totes Gedankensystem; die Anarchie ist<br />

das Leben der Menschen, die dem Joche entronnen sind." (Landauer, Gustav; Anarchismus -<br />

Sozialismus (1895); in: Landauer 1989,61)<br />

250 Barclay, Harold; Völker ohne Regierung - Eine Anthropologie der Anarchie; Westberlin 1985; S.211.<br />

251 Vgl. auch: Hardy, Dennis; Alternative Communities in Nineteenth Century England; London 1979;<br />

Hobsbawn, Eric; Sozialrebellen - Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert; Gießen<br />

1979.<br />

252 Barclay 1985,218. Dort heißt es weiter: "<strong>Die</strong> Gemeinschaft, die am wenigsten durch abweichendes<br />

Verhalten auffällt, hat die besten Chancen, sich gegenüber der Außenwelt zu behaupten."<br />

253 Barclay 1985,219.<br />

77


schlußfolgert, daß 3. vor allem Menschen, "deren kulturelle Umgebung die des englischen<br />

Protestantismus (ist), die anscheinend charakteristisch diesen vom 'Innern geführten'<br />

Menschentyp" repräsentieren, das Kriterium der "Individuellen Verantwortung" am besten<br />

erfüllen, so muß man fragen, wie diese "Selbstdiziplin" von einem spießigen Puritanismus zu<br />

trennen ist, der das Leben in den meisten mir bekannten Kommunen prägt. Während<br />

"Technische Fähigkeiten" zur Sicherstellung der grundlegenden Basisfunktionen des<br />

menschlichen Lebens, die Barclay als 4. Kriterium einführt, 254 kaum problematisch erscheinen,<br />

bereitet das 5. Kriterium der "Kommunalität" dem Betrachter mehr Kopfzerbrechen, denn<br />

erneut führt Barclay die Hutterer als Beispiel für eine erfolgreiche Gemeinschaft an: "<strong>Die</strong><br />

Hutterer waren in dem gewagten Unternehmen der Einrichtung einer solchen Gemeinschaft<br />

ziemlich erfolgreich und zwar größtenteils weil sie darauf achteten, daß alle Mitglieder einen<br />

möglichst gleichen kulturellen Hintergrund hatten. Sie überwachten genauestens die<br />

Indoktrinierung der Mitglieder von der Wiege bis zum Grab." 255 Wenn man berücksichtigt,<br />

daß es die Alplast der totalen Kontrolle des Individuums durch die Gesellschaft war, die am<br />

Beginn der Suche nach Alternativen stand, so muß man wohl konstatieren, daß der<br />

gemeinschaftliche Austritt aus dem Kapitalismus den Protagonisten einer solchen Entwicklung<br />

nur als Übergang vom Regen in die Traufe erscheinen muß. <strong>Die</strong>s verwundert nicht, ist doch ein<br />

Ergebnis der in Kapitel 3.1. unternommenen Suche nach Freiheit die These, daß das<br />

Individuum - ob im honduranischen Dschungel oder im Kuhstall der "Brotherhood<br />

Workshops" - Träger und Element seiner eigenen Ohnmacht ist, die nicht einfach durch die<br />

Einsicht in diesen Umstand ad acta gelegt werden kann.<br />

Vor diesem Hintergrund erscheint die von Stirner postulierte, freiheitliche Alternative zur<br />

Gesellschaft der Unfreiheit als Wunschtraum zu zerplatzen, wenn man sich vergegenwärtigt,<br />

daß nicht die von Stirner geforderte Maximierung des Selbstgenusses das Primat eines solchen<br />

Vereins sein kann - so er überleben will -, sondern die Internalisierung von ethischen Normen.<br />

Jedoch offenbart sich von einem anderen Blickpunkt aus die Siedlungsbewegung nicht als<br />

Illustration der von Stirner oder Camus Intendierten Solidarität der nach Freiheit strebenden<br />

Menschen im Kampf gegen die Totalität, sondern als Flucht vor diesem Kampf und damit als<br />

gelungene Unterfütterung der angesprochenen These von Stirner, daß auf Aktion basierende<br />

Transformationen das de facto nur unter neuem Namen restrukturieren. In diesem Sinne wäre<br />

die Kritik einer antiaktionistischen Revolte am Projekt der Siedlungsbewegung nicht deren<br />

mangelnde Einbindung in die gesellschaftlichen Kämpfe ihrer Zeit - wie dies von Seiten der<br />

Marxisten erfolgte -, sondern deren fehlende Einsicht in den dialektischen Charakter ihres<br />

Unternehmens, das sich gerade nicht als "gewordene Form im Flusse der Bewegung" versteht,<br />

sondern ähnlich der marxistischen Gegentotalitätsphantasie als gewußte und den Menschen<br />

gegenwärtige Verwirklichung einer positiven Utopie, selbst wenn man berücksichtigt, daß die<br />

Kommune für den Einzelnen nur Mittel zum Zweck eines scheinbar sinnvollen und alternativen<br />

Lebens sein kann. Wenn man sich dieser Argumentationsweise anschließt, erscheint die<br />

254 "Der Mißerfolg ist unvermeidbar, wenn die Mitglieder nicht nur von einem solchen Leben (auf dem<br />

Land - KSS) keine Ahnung haben, sondern auch noch eine naive romantische Vorstellung davon<br />

beibehalten." (Barclay 1985,221)<br />

255 Barclay 1985,221.<br />

78


Konstruktion des "Vereins" im Denken von Max Stirner neben der angeprochenen<br />

Verabsolutierung der individuellen Vernunft durch den Umstand beschränkt - aber damit auch<br />

bestimmt bzw. bestimmbar -, daß jede Manifestation eines Vergesellschaftungsmodelles, und<br />

sei dies noch so dezentral und föderalistisch angelegt, die Schrecknisse der real-existierenden<br />

Gesellschaftsform reproduziert wenn nicht sogar potenziert, sobald es über die Ebene einer<br />

partiellen Ergänzung individueller Selbstgenüsse hinausgeht. Eine mögliche Schlußfolgerung<br />

dieser Überlegung könnte in die These münden, daß die Praxiswerdung einer konkreten<br />

Alternative außerhalb der geistigen Sphären der praktisch-philosophischen Spekulation<br />

unmöglich bleibt, solange die bisherigen Strukturen des Seins ihre Wirksamkeit auf das<br />

Individuum behalten. In diesem Sinne könnte allgemein-menschliche Emanzipation als Resultat<br />

einer "großen Verweigerung" in der Praxis und einer ständigen Suche nach möglichen<br />

theoretischen und praktischen Alternativen verstanden werden.<br />

Während die Praktikabilität einer Verweigerung gegen die Sachzwänge des Alltags sogar von<br />

marxistischen Aktivisten wie Hans Heinz Holz eingestanden wird, 256 bleibt ihre Sinnhaftigkeit<br />

umstritten. 257 Herbert Marcuse ist sich der scheinbaren Konsequenzenlosigkeit der<br />

Verweigerung für Betrachter von einer marxistischen Warte aus bewußt, wenn er erklärt, daß<br />

"auf ihrer fortgeschrittensten Stufe Herrschaft als Verwaltung (fungiert), und in den<br />

überentwickelten Bereichen des Massenkonsums das verwaltete Leben das gute Leben des<br />

Ganzen (wird), zu dessen Verteidigung die Gegensätze vereinigt werden. Das ist die reine<br />

Form der Herrschaft. Umgekehrt erscheint ihre Negation als die reine Form der Negation.<br />

Aller Inhalt scheint auf die eine abstrakte Forderung nach dem Ende der Herrschaft reduziert -<br />

das einzige wahrhaft revolutionäre Erfordernis und das Ereignis, das die Errungenschaften der<br />

industriellen Zivilisation bestätigen würde. Angesichts ihrer wirksamen abschlägigen<br />

Beantwortung durch das bestehende System erscheint diese Negation in der politisch<br />

ohnmächtigen Form der 'absoluten Verweigerung' - eine Weigerung, die um so unvernünftiger<br />

erscheint, je mehr das bestehende System seine Produktivität entwickelt und die Last des<br />

Lebens erleichtert." 258 Vor diesem Hintergrund ist Marcuses Ablehnung des ökonomisch<br />

fixierten Klassenkampfparadigmas folgerichtig, jedoch gelingt es ihm nicht, die schematische<br />

Denkform, die dieser Sichtweise der Welt zugrunde liegt, gänzlich zu überwinden, denn schon<br />

im Moment der Dekonstruktion des einen Schemas präsentiert er mit der Instrumentalisierung<br />

der "Geächteten und Außenseiter" als revolutionärem Subjekt a priori und außerhalb der<br />

256 "Einem totalitären System läßt sich durchaus ein totales Nein, ein Nein zum System in toto,<br />

entgegenstellen." (Holz, Hans Heinz; Utopie und Anarchismus - Zur Kritik der kritischen Theorie<br />

Herbert Marcuses; Köln 1968; S.66)<br />

257 "Ist aber nicht gerade der offenkundig anarchistische Zug, der diesen Rebellionen anhaftet, höchst<br />

bedenklich, weil das private Nein, die individuelle Absage an die auferlegte Ordnung diese nicht<br />

auflöst, sondern den Nein-Sager nur als Außenseiter an der Peripherie der Ordnung stellt? <strong>Die</strong> im<br />

Zentrum unangetastete Macht kann aber in die Peripherie exzentrische Negationen und<br />

Abweichungen nicht nur dulden, sondern sogar zur Stütze ihrer selbst verwenden; auf zweifache<br />

Art, indem sie nämlich einmal jede entstehende ernsthafte Bedrohung ihrer Position von vornherein<br />

auf die wirkungslose individuelle Protesthaltung ablenkt, und zum anderen kraft eines argumentum<br />

ex negativo den anarchischen Bürgerschreck dazu benutzt, den 'guten Sinn' der bestehenden<br />

Ordnung allen Zweifelnden darzutun." (Holz 1968,115/116)<br />

258 Marcuse 1970,266.<br />

79


kapitalistischen Totalität eine neue Scheidung von Gut und Böse. 259 In seiner Kritik an Stirner<br />

wendete sich Marx gegen die Theorie eines "Heraustretens aus dem Bestehenden", die auch<br />

von Holz zu Recht gegen Marcuse ins Feld geführt wird, 260 ohne daß Holz erkennt, daß die<br />

von ihm geteilte marxistische Konstruktion des Proletariates zum Subjekt der Befreiung exakt<br />

der von Marx kritisierten Theorie entspricht. 261 Marx' Kritik verfehlt jedoch das hier in der<br />

Tradition von Stirner und Camus entwickelte Projekt einer "großen Verweigerung", weil sich<br />

die Protagonisten einer solchen Praxis durchaus ihrer Einbindung in die Totalität des Seienden<br />

bewußt sind. Gerade weil sie wissen, daß keine unmittelbare Flucht aus den Schrecknissen<br />

des Seins möglich ist, verweigern sie sich.<br />

In gewissem Maße nimmt Marcuse in seinem Vortrag "Das Ende der Utopie" Elemente dieser<br />

Kritik vorweg, wenn er fordert, daß "der Marxismus riskieren (muß), die Freiheit so zu<br />

definieren, daß sie als ein nirgends schon Bestehendes bewußt und erkannt wird. Und gerade<br />

weil die sogenannten utopischen Möglichkeiten gar nicht utopisch sind, sondern die bestimmte<br />

geschichtlich-gesellschaftliche Negation des Bestehenden darstellen, verlangt die<br />

Bewußtmachung dieser Möglichkeiten und die Bewußtmachung der sie verhindernden und der<br />

sie verleugnenden Kräfte von uns eine sehr realistische, eine sehr pragmatische Opposition.<br />

Eine Opposition, die frei ist von allen Illusionen, aber auch frei von allem Defätismus, der<br />

schon durch seine bloße Existenz die Möglichkeit der Freiheit an das Bestehende verrät." 262<br />

259 "Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und<br />

Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die<br />

Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr<br />

Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und<br />

Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. Ihre<br />

Opposition trifft das System abgelenkt; sie ist eine elementare Kraft, die die Regeln des Spiels<br />

verletzt und es damit als ein aufgetakeltes Spiel enthüllt. Wenn sie sich zusammenrotten und auf die<br />

Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie,<br />

daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod<br />

gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz<br />

und Ordnung. <strong>Die</strong> Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die<br />

Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert." (Marcuse 1970,267)<br />

260 Holz 1968,72/73.<br />

261 "Was das 'Heraustreten aus dem Bestehenden' für einen Sinn hat, wissen wir schon. Es ist die alte<br />

Einbildung, daß der Staat von selbst zusammenfällt, sobald alle Mitglieder aus ihm heraustreten,<br />

und daß das Geld seine Geltung verliert, wenn sämtliche Arbeiter es anzunehmen verweigern.<br />

Schon in der hypothetischen Form dieses Satzes spricht sich die Phantasterie und Ohnmacht des<br />

frommen Wunsches aus. Es ist die alte Illusion, daß es nur vom guten Willen der Leute abhängt,<br />

die bestehenden Verhältnisse zu ändern und daß die bestehenden Verhältnisse Ideen sind. <strong>Die</strong><br />

Veränderung des Bewußtseins, abgetrennt von den Verhältnissen, wie sie von den Philosophen als<br />

Beruf, d.h. aus Geschäft betrieben wird, ist selbst ein Produkt der bestehenden Verhältnisse und<br />

gehört mit zu ihnen. <strong>Die</strong>se ideelle Erhebung über die Welt ist der ideologische Ausdruck der<br />

Ohnmacht der Philosophen gegenüber der Welt. Ihre ideologischen Prahlereien werden jeden Tag<br />

durch die Praxis Lügen gestraft." (MEW 3,362/363)<br />

262 Marcuse, Herbert; Das Ende der Utopie - Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967; Frankfurt/Main<br />

1980; S.18. Trotz dieser Postulierung eines individuellen Zuganges zur emanzipatorischen<br />

Opposition bleibt Marcuse im schematischen Netz des Marxismus gefangen: "Eine der Aufgaben<br />

ist es, den Menschentypus freizulegen und zu befreien, der die <strong>Revolution</strong> will, der die <strong>Revolution</strong><br />

haben muß, weil er sonst zusammenbricht: das ist der subjektive Faktor, der heute mehr als ein<br />

subjektiver Faktor ist. Andererseits ist natürlich der objektive Faktor - und das ist das einzige, wo<br />

ich eine Korrektur anbringen würde - die Organisation. Was ich die totale Mobilmachung der<br />

80


Auch wenn Marcuse zwei Elemente der theoretischen Revolte - Dekonstruktion des de facto<br />

und Utopiefähigkeit - in den Mittelpunkt seiner Neufassung der Aufklärung stellt, verdeutlicht<br />

ein einziger Blick auf die Geschichte seiner Rezeption und Instrumentalisierung durch die APO,<br />

daß die eingeforderte Fähigkeit, Aufklärung zu leben, die Möglichkeiten seiner Protagonisten<br />

überstieg. Daß die Konzeption einer "realistischen und pragmatischen Opposition" unmittelbar<br />

in "praktische Opposition" transformiert wurde und die "Aktivisten" statt sich in der Praxis zu<br />

verweigern selbst Praxis wurden, kann in idealistischer Manier als Fehler der Menschen gefaßt<br />

werden, und einer Suche nach "neuem Menschenmaterial", deren individuelle Einbindung in die<br />

Totalität weniger im Sinne der Verwertungslogik einer warenproduzierenden Gesellschaft liegt,<br />

das Wort reden - aber wäre dies emanzipatorisch im Sinne einer Neufassung praktischer<br />

Philosophie?<br />

Nein, denn wenn man sich dem Kriterium der dialektischen Selbstreflexion stellt, kann das<br />

Scheitern des von Marcuse und anderen entwickelten Konzeptes einer<br />

"Fundamentalopposition" nur in einem einzigen Sinne genutzt werden: als Material einer De-<br />

Konstruktion dieses Ansatzes vor dem Hintergrund seines Scheiterns und damit als Kriterium<br />

einer Konkretisierung der hier verfolgten Analyse der Möglichkeiten einer Verbindung von<br />

Apathie in der Praxis und ständiger Konstruktion und De-Konstruktion theoretischer<br />

Definitionsversuche einer Alternative. In Bezug auf das Konzept einer Apathie in der Praxis<br />

kann das Scheitern der APO zur Untermauerung der These dienen, daß die aktive<br />

Partizipation an den praktischen Prozessen des de facto oberhalb eines absoluten<br />

Mindestmaßes, das es im weiteren zu bestimmen gilt, selbst wenn sie Emanzipation intendiert<br />

und sich kritisch gegenüber ihren "Erfolgen" verhält, in partielle Apologie umschlägt, da der<br />

konkret-historische Mensch allem Anschein nach eine Begründung für sein Tun braucht, um<br />

nicht angesichts des Grauens seiner Existenz in Depressionen zu verfallen. Nachdem die<br />

Aufklärung den Ort der Begründung der offensichtlich sinnlosen Existenz aus den luftigen<br />

Höhen des religiösen Mythos vertrieben hat, obliegt es dem Individuum selbst, mittels der<br />

Technik des "positive thinking" eine Begründung aus sich selbst zu konstruieren, die im<br />

Zeitalter eines Abschiedes von den kleinen Mythen der Existenz schwerer und schwerer wird.<br />

Während für philosophisch-idealistisch geprägte Menschen Sinnhaftigkeit nicht unterhalb der<br />

Rettung der Spezies Mensch angesiedelt sein durfte, reichte in der Aufstiegsphase des<br />

Kapitalismus für borniert-materialistische Menschen die Schaffung eines Lebens ohne<br />

materielle Not für seine direkten Nachkommen gerade noch, um nicht am Rande des Grabes<br />

als Versager zu erscheinen. Im entwickelten Kapitalismus zu Beginn des 21.Jahrhunderts<br />

prognostiziert sich jedes Individuum vor dem Hintergrund der Statik des de facto ein Scheitern<br />

solcher "absoluten" Ziele und treibt sich selbst mittels der Sphäre der Gesellschaftlichkeit dazu,<br />

in bescheideneren Projekten die verlorene Sinnhaftigkeit des Seins zu suchen. <strong>Die</strong> Reinheit des<br />

bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigenen Möglichkeiten nannte, ist ja heute so stark und so<br />

effektiv wie nie zuvor. Es besteht auf der einen Seite die absolute Notwendigkeit, erst einmal das<br />

Bewußtsein freizulegen, auf der anderen Seite sieht man sich einer Machtkonzentration gegenüber,<br />

gegenüber der selbst das freieste Bewußtsein als lächerlich und ohnmächtig erscheint. Der<br />

Zweifrontenkrieg ist heuter akuter, als er je war." (Marcuse 1980,27) Vgl. auch: ders.; Bemerkungen<br />

zum Verhältnis von Theorie und Praxis (1974); in: Redaktion diskus (Hrg.); Küss den Boden der<br />

Freiheit; Berlin 1992; S.171-178.<br />

81


deutschen Blutes, das Überleben des weißen Nashorns, die soziale Gleichstellung der Frau,<br />

der marktwirtschaftlich-gerechte Handel von Kaffee und Bananen oder der neue Daimler der<br />

S-Reihe, die Finka auf Ibiza, die repräsentative Bibliothek, kosmetisch geschaffene Schönheit.<br />

Anhängern dieser oder jener Form der Selbstschöpfung wird diese Parallelisierung als<br />

Beleidigung erscheinen, denn zum Mythos des Sinns des Lebens gehört zwangsläufig die<br />

Verachtung des Anderen, wenn er über andere Ziele sich selbst definiert, da jede<br />

Konfrontation mit dem anderen das eigene Ich in Frage stellt, denn die Einsicht, daß allen<br />

individuellen Lebensbegründungen derselbe Status an Wahrhaftigkeit und Vernünftigkeit<br />

zukommt, nimmt dem Einzelnen die Besonderheit, die ihn zum Individuum zu machen scheint.<br />

Erst die Einnahme eines abstrakteren Blickwinkels macht deutlich, daß dem individuellen<br />

Werk keinerlei "Wert" außerhalb des eigenen Horizontes zukommt - und doch ist dieses Werk<br />

die einzige Spur, die das Individuum bei den anderen hinterläßt. Der Aufruf zur Apathie in der<br />

Praxis erscheint dem aktionistisch-gesellschaftlichen Wesen Mensch als Forderung zur<br />

Negierung seiner Selbst, denn die Verweigerung der Partizipation an der Bewegung der<br />

totalen Strukturen des Seins kann sprichwörtlich von der Ebene dieses Seins gefaßt werden<br />

als das verhallende Echo von bellenden Hunden, deren Existenz die große Karawane nur<br />

peripher tangiert. Gleichzeitig kann der Einzelne, der sich den Sachzwängen des Alltags<br />

entzieht, nur auf eine metaphysische Solidarität mit anderen Menschen hoffen, denn sobald sich<br />

diese Form der Interaktion in der praktischen Realität manifestiert, wird sie zum aktiven<br />

Element derselben und wendet sich ungewollt gegen die ihr zugrundeliegenden Intentionen.<br />

<strong>Die</strong>se metaphysische Solidarität ist sowohl spekulativ als auch induktiv erfahrbar, da jeder<br />

Einzelne die unbestreitbare Gleichheit der menschlichen Ausgangslage in Bezug auf seine<br />

Möglichkeiten zu Freiheit, Gleichheit und Solidarität erahnt und doch nicht wissen kann,<br />

welche der zahllosen Möglichkeiten der andere ergreift, um seiner Lebensreise den Schein von<br />

Sinnhaftigkeit zu verleihen. Auf der anderen Seite erzeugt die Verweigerung des Einen eine<br />

erkennbare Lücke in den Strukturen des Seins, die als Indiz für die Existenz von anderen<br />

Trägern der Apathie herhalten können und die um so augenfälliger werden, je mehr Menschen<br />

sich verweigern, denn trotz aller Nichtigkeit des eigenen Seins bedarf das de facto, da es - wie<br />

Marx bewiesen hat - bei Strafe seines Unterganges dynamisch sein muß, aktiver Impulse, die<br />

über den "<strong>Die</strong>nst nach Vorschrift" hinausgehen. Wenn die oben vorgenommene Analyse des<br />

Zerfallsprozesses des selbsternannten Sozialismus, nach der eine Gesellschaft, in der breite<br />

Teile nur das taten, was ihnen von den Funktionsträgern und den direkt aufgezwungenen<br />

Sachentscheidungen vorgeschrieben wurde, dem Untergang geweiht ist, auch auf andere<br />

Vergesellschaftungsformen zutrifft, dann könnte der einzelne zumindest das Fehlen der anderen<br />

im aktiven Prozeß der Partizipation erkennen und die Zunahme von Apathikern, vermittelt über<br />

eine zunehmende Instabilität des gesellschaftlichen Seins, könnte ihm Genugtuung verschaffen.<br />

Ein anderes Indiz für die Existenz von Menschen mit ähnlichen Ansichten besteht in den<br />

erkennbaren geistigen Produkten der Suche nach einer Alternative, die in letzter Instanz in eine<br />

vorerst hypothetische Ausfüllung und Verbindung der Begriffe Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität mündet, auch wenn dies nicht allen Protagonisten einer anderen Ordnung bewußt ist<br />

- was letztlich auch gleichgültig ist, da die exakte Eingrenzung der Diskussionsfelder ein Relikt<br />

der praktischen Philosophie des de facto ist, das durch den Prozeß der Transformation selbst<br />

82


verschwindet. <strong>Die</strong>ser theoretische Ausdruck der Revolte bringt für den Einzelnen den Vorteil<br />

mit sich, daß der Diskurs der Revolte nicht auf der Ebene einer Postulierung einer Freiheit von<br />

den Sachzwängen des de facto etc. stehen bleiben kann, sondern als Versuch der Definition<br />

einer Alternative zum Element der Konstruktion einer Freiheit, Gleichheit und Solidarität wird,<br />

solange er nicht dem Mythos der Unveränderbarkeit der Welt das Wort reden will.<br />

Salman Rushdie umschrieb in einem anderen Zusammenhang jenes Dilemma des Menschen,<br />

der an die alte Welt nicht mehr glauben kann ohne jedoch die neue zu kennen: "Wir sehen, daß<br />

es ebenso falsch sein kann, einen politikfreien fiktionalen Raum, wie einen anderen zu schaffen,<br />

in dem niemand zu arbeiten oder zu essen, zu hassen oder zu lieben oder zu schlafen braucht.<br />

Außerhalb des Wales wird es nötig - und ist es sogar anregend -, sich mit den durch die<br />

Einverleibung politischen Materials geschaffenen Spezialproblemen auseinanderzusetzen, weil<br />

Politik abwechselnd Farce und Tragödie ist und manchmal (...) beides gleichzeitig. Außerhalb<br />

des Wals ist der Schriftsteller hinzunehmen gezwungen, daß er (oder sie) ein Teil der Menge<br />

ist, ein Teil des Ozeans, ein Teil des Sturms, so daß Objektivität ein großer Traum wird - wie<br />

Vollkommenheit - und ein unerreichbares Ziel, um das man trotz der Unmöglichkeit von Erfolg<br />

kämpfen muß. Außerhalb des Wals liegt die Welt von Samuel Becketts berühmter Formel: Ich<br />

kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen." 263 In diesem Sinne gleicht das<br />

Individuum außerhalb des Kontinuums der analytischen Denkweise der Moderne auf seiner<br />

Suche nach Partnern für eine adäquate Neu-Konstruktion der Begriffe Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität - vorerst in der rein geistigen Welt der Diskurse - jenen Wanderern, die ins<br />

Unbekannte streben mit der unsteten Hoffnung, einmal ein Ziel zu finden, wo man ausruhen<br />

kann. 264<br />

263 Rushdie, Salman; Outside the Whals; in: ders.; Imaginary Homelands: Essays and Criticism 1981-<br />

1991; London 1991; p.100/101.<br />

264 „So ist unser Streben eine Wanderung ins Unbekannte mit der unsteten Hoffnung, einmal ein Ziel<br />

zu finden, wo man ausruhen kann.“ (Nietzsche, Friedrich; Historisch-Kritische Gesamtausgabe;<br />

München 1934-40; Bd.3, S.336: Vgl. auch: Janz, Curt Paul; Friedrich Nietzsche: Biographie;<br />

München 1981; Bd.1, S.232)<br />

83


"Ich bin der, den ich begehre, und der, den ich begehre, ist ich. Wir sind zwei Geister,<br />

die in einem Körper wohnen. Sieht man mich, sieht man ihn. Sieht man ihn, sieht man<br />

mich." al-Halladj 265<br />

2.4. Gibt es eine Alternative zum Bewußtsein des de facto? - Spekulationen und<br />

Erkenntnisse<br />

Wenn rekapituliert wird, daß am Ende der De-Konstruktion des Marxismus der Abschied von<br />

einer schematischen Ableitung der Bewußtseinsformen aus den Strukturen des Seins 266 stand,<br />

dann gilt es im weiteren zu untersuchen, in welcher Form sich Bewußtsein in der modernen<br />

Gesellschaft konstituiert, bevor auf moderne Theorien der Verbindung von Sein und<br />

Bewußtsein eingegangen werden kann. <strong>Die</strong>se Reihenfolge des Vorgehens ist in soweit nicht<br />

willkürlich, als die Diskursanalyse den Prozeß der Theoriebildung selbst hinterfragt und so als<br />

Prolegomenon für praktisch-philosophische Schlußfolgerungen naturwissenschaftlicher<br />

Theorien verstanden werden kann.<br />

Jean-Francois Lyotard vertritt die These einer "Apathie in der Theorie", "um den Terror der<br />

Theorie zu unterbrechen" 267 , die ihm als eine zentrale Bewegungsform des Seins erscheint, und<br />

setzt sich immanent dem Verdacht aus, daß diese These nichts anderes ist als eine neue<br />

Theorie, auch wenn er erklärt, daß "die Dekonstruktion der Theorie nur am Leitfaden einer<br />

solchen Parodie erfolgen (kann); sie besteht keineswegs in einer Kritik der Theorie, da die<br />

Kritik selbst ein theoretisches Moment ist, von dem man nicht die Destruktion der Theorie<br />

erwarten kann. <strong>Die</strong> Theorie destruieren heißt, eine oder mehrere Pseudo-Theorien zu machen.<br />

Das theoretische Verbrechen liegt in der Erstellung von Theorie-Fiktionen." 268 Ziel dieses<br />

Unternehmens von Lyotard ist es, daß das "theoretische Genre wieder zu einer Gattung unter<br />

anderen und damit von seiner Meister- oder Herrschaftsposition enthoben wird, die es<br />

zumindest seit Platon innehat; daß das Wahre zu einer Frage des Stils wird" 269 , womit sich<br />

Lyotard letztlich selbst widerspricht, denn wenn man die Kategorie des "Stils" im Sinne einer<br />

Ästhetisierung der menschlichen Praxis zum Kriterium der Wahrheit macht, destruiert man die<br />

"Herrschaft der Theorie" nicht, sondern verlagert nur mittels der Verklärung des Gewöhlichen<br />

265 al-Halladj; Buch at-Tawasin; zitiert nach: Moritz, Ralf/ Rüstau, Hiltrud/ Hoffmann, Gerd-Rüdiger;<br />

Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?; Berlin/DDR 1988;<br />

S.186.<br />

266 "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches<br />

Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." (MEW 13,9)<br />

267 Lyotard 1979,73.<br />

268 Lyotard 1979,92/93. Dort heißt es weiter: "Ein letztes Wort: wenn man sich aus der Gesellschaft der<br />

Weisen zurückzieht, hat man dann darauf zu verzichten, in ihr zu intervenieren, zu kritisieren, zu<br />

diskutieren? Keineswegs. <strong>Die</strong> theoretische Apathie ist kein depressiver Zustand, sie verbündet<br />

sich im Hinblick auf Diskurse, die sich unter das Gesetz des Wahren und Falschen stellen, mit der<br />

größten Unbeugsamkeit. Es ist eine Frage der Toleranz gegenüber ungenügenden<br />

Definitionsanforderungen. Freud sieht das sehr wohl. Hofft also nicht, daß die Künstler der<br />

Theorie-Fiktion der Theorie-Wahrheit das Feld kampflos überlassen; im Gegenteil, sie werden in<br />

diesem alten Kampf anwesend sein, und zwar um zu argumentieren. Auf diese Weise ist die<br />

Dissimulation vollständig, die Parodie läßt sich von ihrem angeblichen 'Modell' (in Termen von<br />

wahr und falsch) nicht mehr trennen. Nur diejenigen, die vom Pathos der Theorie geheilt sind,<br />

werden dabei ihren Kopf und ihr Herz nicht verlieren: die Apathiker." (Lyotard 1979,94/95).<br />

269 Lyotard 1979,73.<br />

84


ihren Schwerpunkt. Hauptmangel aller Diskurstheorie, 270 deren Intention durchaus geteilt<br />

werden kann, liegt darin begründet, daß durch die Erhebung der menschlichen Interaktion in<br />

den Stand einer "herrschaftsfreien Sphäre" der reinen Intellektualität bzw. ihrer Erhebung zum<br />

zentralen Element einer sich dem Menschen entziehenden Herrschaftsform, die Diskursanalyse<br />

selbst, wenn sie nicht durch neues Herrschaftswissen im Sinne einer "Theorie des Stils"<br />

strukturiert wird, im Nichts verschwindet "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand" 271 , da<br />

jeder Diskurs über den Diskurs durch die unterschiedlichen Prämissen unmöglich wird, denn<br />

der Diskurs kann wohl kaum zugleich herrschaftsfrei (im Sinne von Habermas) und<br />

Zentralkategorie von Herrschaft (im Sinne von Foucault) 272 sein. Ausgehend von diesen<br />

beiden Extrempositionen erlangt der Prozeß der Diskursanalyse im Denken von Ernesto<br />

Laclau den Stellenwert einer politischen Praxis mit dem Ziel der Durchsetzung einer "radikalen<br />

Demokratie", 273 während Jacques Derrida in der Praxiswerdung des<br />

Dekonstruktionsgedankens totalitäre Tendenzen vermutet. Sein Gegenkonzept, neben der<br />

Abstinenz von der praktischen Politik marginale, dekonstruktive Praxen in der Sphäre des<br />

"theoretischen Denkens" zu etablieren, weil "die Idee, ein dekonstruktiver Diskurs könnte über<br />

andere Praxen, ob diskursiv oder nicht, verfügen oder an ihre Stelle treten, eine Art von<br />

Verrücktheit oder Posse (ist)", 274 erweckt jedoch leicht den Anschein, daß die Diskursanalyse<br />

bzw. der Diskurs selbst schon das de facto transformiert und damit der gleichen idealistischen<br />

Illusion erliegt wie Laclau 275 und Habermas. Michel Foucault wendet sich gegen diese<br />

Tendenz, die Dinge selbst als Produkt des Diskurses zu fassen, auch wenn bei ihm die<br />

Beschreibung des Verhältnisses der "diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken" sehr nebulös<br />

bleibt. 276 Vor dem Hintergrund seiner Ablehnung der Dominanz des Ökonomischen bzw. des<br />

Dogmas der Wahrheit beschränkt sich Foucault auf die Beschreibung der spontanen Genesen<br />

270 Vgl.: Dijk, Teun A. van (Hrg.); Handbook of Discourse Analysis; London 1985ff.; Link, Jürgen/<br />

Link-Heer, Ursula; Literatursoziologisches Propädeutikum; München 1980.<br />

271 Foucault, Michel; <strong>Die</strong> Ordnung der Dinge; Frankfurt/Main 1974; S.462. Vgl. auch: ders.;<br />

Archäologie des Wissens; Frankfurt/Main 1981; Foucault 1991. Eine gute Gesamtdarstellung des<br />

Denkens von Foucault findet sich in: Schäfer, Thomas; Reflektierte Vernunft - Michel Foucaults<br />

philosophisches Projekt einer antiautoritären Macht- und Wahrheitskritik; Frankfurt/Main 1995.<br />

272 Foucault 1981,264.<br />

273 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal; Hegemonie und radikale Demokratie - Zur Dekonstruktion des<br />

Marxismus; Wien 1991.<br />

274 Derrida, Jacques; Politik und Freundschaft - Ein Gespräch mit Michael Sprinker; in: Böke, Henning/<br />

Müller, Jens Christian/ Reinfeldt, Sebastian (Hrg.); Denkprozesse nach Althusser; Hamburg 1994;<br />

S.158.<br />

275 "Der Marxismus kann sich nicht darauf beschränken, die Realität zu interpretieren, er muß sie auch<br />

konstituieren; der Marxismus wird ein Teil dieser Realtität (...). <strong>Die</strong> Geltung des Marxismus wird<br />

folglich von seiner Fähigkeit abhängen, andere Diskurse zu unterbrechen, neue Objekte zu<br />

konstituieren und ein neues Feld von Wirkungen zu erzeugen. <strong>Die</strong> anderen Diskurse: der Diskurs<br />

der Demokratie, der Diskurs der Sexualität, sind keine Überbauten, d.h. ideologische Reflexe einer<br />

außer-diskursiven Bewegung der Dinge. Es sind materielle Kräfte, die Subjekte konstituieren, die<br />

Wirkungen produzieren und gegenüber denen der Marxismus seine Validität durch die Wirkung<br />

beweisen muß, die er produziert, und nicht dank irgendeines ontologischen Prinzips a priori."<br />

(Laclau, Ernesto; La politique comme construction de l'impensable; in: Conein, Bernard (Hrg.);<br />

Matérialités discursives; Lille 1981; S.67; zitiert nach: HKWM 2,741. Vgl auch: Laclau, Ernesto;<br />

Politik und Ideologie im Marxismus - Kapitalismus - Faschismus - Populismus; Westberlin 1981)<br />

276 Foucault 1981,224-231 und 260-264.<br />

85


und Kombinationen von diskursiven und nicht-diskursiven Ereignissen und enthüllt so das, was<br />

Marx als "die Akkumulation des Wissens und des Geschicks, der allgemeinen Produktivität<br />

des gesellschaftlichen Hirns" 277 faßt, ohne den Prozeß der Genese und des Zerfalls von<br />

Theorie-Praxis-Komplexen erklären zu können. Ausgehend von seinem Postulat, daß es<br />

"zwischen den Zeichen und den Wörtern den Unterschied der Beobachtung und der<br />

akzeptierten Autorität oder des Verifizierbaren und der Tradition nicht (gibt)", sondern "es<br />

überall nur ein und dasselbe Spiel (gibt), das des Zeichens und des Ähnlichen, und deshalb<br />

können die Natur und das Verb sich unendlich kreuzen und für jemanden, der lesen kann,<br />

gewissermaßen einen großen und einzigen Text bilden" 278 , käme der naturwissenschaftlichen<br />

Betrachtung der Entstehungsprozesse von Bewußtsein im menschlichen Gehirn die zentrale<br />

Bedeutung einer Erklärung der Verbindung von Sein und Bewußtsein zu, wenn nicht auf der<br />

anderen Seite klar wäre, daß diese Suche selbst nur eine Form von Interpretation sein<br />

kann. 279<br />

<strong>Die</strong> Strukturanalysen der Diskurse in der Moderne eröffnen jedoch neben Zirkelschlüssen und<br />

Sackgassen 280 auch einen Fernblick auf die Möglichkeiten der Artikulation von praktischer<br />

Philosophie der Revolte, die von nach einer Alternative strebenden Individuen nicht<br />

vernachlässigt werden dürfen und die als indirekte Fortsetzung der Hegemonieanalyse<br />

Gramscis gewertet werden können, vorausgesetzt, man begreift den Diskurs nicht nur als<br />

Instrument zur Verifizierung von nach Wahrheit suchenden Theorien, sondern als integralen<br />

Bestandteil einer in Machtkämpfen begriffenen Gesellschaft. Von diesem abstrakteren<br />

Gesichtspunkt aus kann Diskurstheorie auch verstanden werden als Möglichkeit zur<br />

Modifizierung des Ideologiebegriffes von Marx in dem Sinne, daß die dualistische<br />

Gegenüberstellung von der positiven, nach Wahrheit strebenden Wissenschaft und der<br />

Ideologie, als idealistische und klassenmäßig begrenzte Form des gesellschaftlichen<br />

Bewußtseins 281 , einer differenzierten Analyse der Konstitution der gesellschaftlichen Aspekte<br />

von Bewußtsein weichen muß, da ein Ergebnis der De-Konstruktion des Marxismus der<br />

Abschied von der dualistischen Welt des Gut versus Böse war. Während einerseits die<br />

marxistische Scheidung der Welt in proletarisches und kapitalistisches Lager als nicht haltbare<br />

Simplifikation verstanden werden muß, offenbart sich andererseits, daß die Spezialisierungsund<br />

Isolierungstendenz der Diskurse nicht zu einer völligen Atomisierung der Subjekte des<br />

Diskurses geführt hat, sondern daß ohne eine Rekombination der Zerstückelung von Wissen<br />

weder eine wissenschaftliche Socii noch eine Assoziation im Sinne einer existierenden<br />

Gesellschaft denkbar sind. <strong>Die</strong> Diskurstheorie führt dies auf drei interdiskursive Phänomene<br />

277 MEW 42,594.<br />

278 Foucault 1974,66.<br />

279 "<strong>Die</strong> Welt ist von Zeichen bedeckt, die man entziffern muß, und diese Zeichen, die Ähnlichkeiten<br />

und Affinitäten enthüllen, sind selbst nur Formen der Ähnlichkeit. Erkennen heißt also<br />

interpretieren: vom sichtbaren Zeichen zu dem dadurch Ausgedrückten gehen, das ohne das<br />

Zeichen stummes Wort, in den Dingen schlafend bliebe." (Foucault 1974,63)<br />

280 Ganz deutlich wird die Ausweglosigkeit einer übertriebenen Schuldzuweisung der Schrecknisse des<br />

Alltages an die Adresse der Sprache, wenn Roland Barthes in seiner Antrittsvorlesung am Collège<br />

de France verkündet, daß "die Sprache ganz einfach faschistisch" sei. (Barthes, Roland; Lektion -<br />

Antrittsvorlesung am Collège de France - 7.1.1977; Frankfurt/Main 1980; S.19)<br />

281 Vgl. z.B.: MEW 3,26/27.<br />

86


zurück 282 : 1. <strong>Die</strong> Analogie von Methoden erlaubt es, diskursive Formationen zu<br />

interdiskursiven Konstellationen zu bündeln, in denen der Methode ein besonderes, da<br />

kombinierendes Gewicht zukommt, das so auch gesamtgesellschaftlich relevant werden kann.<br />

2. Der Versuch verschiedener Diskurse zur Erklärung gesamtgesellschaftlicher Phänomene<br />

(Ethik, "Wahnsinn" 283 , Sexualität 284 ) legt die Kombination der Lösungsansätze und damit der<br />

Diskurse nahe. 3. Der allgemeine historische, interdiskursive Rahmen eines Diskurssystemes<br />

manifestiert sich durch die "zwangsläufige" Übernahme einzelner Elemente (Modelle,<br />

Metaphern, Symbole, Sprache) in eben dieses System, über das es im Kommunistischen<br />

Manifest heißt, daß "die herrschenden Ideen einer Zeit stets nur die Ideen der herrschenden<br />

Klasse (waren)." 285 Foucault war sich der Tatsache bewußt, daß diese Analyse, die als<br />

Gesamtbild seiner Forschungen bzw. des durch ihn angeregten Diskurses verstanden werden<br />

kann, auf den Betrachter den Eindruck einer absoluten Statik der Bewegung machen<br />

mußte 286 , und so wendet er sich in dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von "<strong>Die</strong> Ordnung<br />

der Dinge" dem Problem der Veränderung zu, wobei er zu der These gelangt, "daß diese<br />

Veränderungen nicht auf derselben Ebene behandelt oder als in einem einzigen Punkt gipfelnd<br />

dargestellt werden dürfen, so wie es manchmal gemacht wird, noch dem Genie eines<br />

Individuums, einem neuen Kollektivgeist oder etwa der Fruchtbarkeit einer einzigen<br />

Entdeckung zugeschrieben werden dürfen; daß es besser wäre, derartige Unterschiede zu<br />

respektieren und sogar zu versuchen, sie in ihrer Spezifität zu erfassen." 287 Wenn man<br />

berücksichtigt, daß selbst in der marxistischen Denkweise jede Transformation der<br />

Gesellschaft erst an ihrem Nachhall in den Eigentumsverhältnissen erkennbar wird, kommt der<br />

Aufforderung Foucaults, sich nicht auf einzelne Episteme zu beschränken, sondern die sich<br />

ständig in der Sphäre der Gesellschaft vollziehenden Veränderungen als Ensemble von<br />

Bewegungen zu begreifen, besonderes Gewicht zu, stellt sie doch eine einleuchtende<br />

Alternative zur Spekulation über die emanzipatorischen Potenzen der "Masse" respektive der<br />

aktionistischen Begeisterung für spontane Erschütterungen der Ordnung dar.<br />

Aufgabe einer praktischen Philosophie in der Tradition von Karl Marx wäre es demnach,<br />

neben der Eröffnung konkreter Möglichkeiten einer <strong>apathische</strong>n Rebellion gegen die<br />

Strukturen des Seins, die Aufdeckung der emanzipatorischen Elemente in den Diskursen der<br />

Moderne - so es sie gibt - zu leisten, bzw. Arbeitsfelder zu konstruieren, um die sich<br />

282 Vgl.: HKWM 2,746.<br />

283 Vgl. z.B.: Foucault, Michel; Wahnsinn und Gesellschaft - Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter<br />

der Vernunft; Frankfurt/Main 1969.<br />

284 Vgl. z.B.: Foucault, Michel; Sexualität und Wahrheit; Frankfurt/Main 1977-1986.<br />

285 MEW 4,480.<br />

286 "Man hat gesagt, dieses Buch leugne die Möglichkeit der Veränderung selbst. Und doch richtete<br />

sich mein hauptsächliches Interesse auf die Veränderung." (Foucault 1974,12)<br />

287 Foucault 1974,13. Er wird diesem eigenen Anspruch jedoch, wie schon angesprochen, nicht<br />

gerecht, faßt er doch abschließend Veränderung "nicht (als) die Befreiung von einer alten Unruhe,<br />

der Übergang einer Jahrtausende alten Sorge zu einem lichtvollen Bewußtsein, das Erreichen der<br />

Objektivität durch das, was lange Zeit in Glaubensvorstellungen und in Philosophie gefangen war:<br />

es war die Wirkung einer Veränderung in den fundamentalen Dispositionen des Wissen. Der<br />

Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt.<br />

Vielleicht auch das baldige Ende." (Foucault 1974,462)<br />

87


emanzipatorische Philosophie gruppieren muß, wenn sie die Potenz einer Praxiswerdung<br />

zumindest denkbar machen will.<br />

Ein Rekurs auf den aktuellen Diskurs der Bewußtseinsphilosophie und der Erkenntnistheorie<br />

erscheint angesichts der aufgeworfenen Fragen unumgänglich, da die in der Gesellschaft zu<br />

beobachtenden Phänomene der Revolte einzelner Apathiker der Praxis und Denker der<br />

Alternative zwar nicht geleugnet werden können, ihre Bedeutung für das Projekt einer<br />

allgemein-menschlichen Emanzipation jedoch umstritten bleibt. Wenn gezeigt wurde, daß alle<br />

Transformationssysteme, die ihre Legitimation nicht im Individuum, sondern in abstrakten<br />

Konstruktionen gesucht und gefunden haben, dialektisch folgerichtig gescheitert sind, dann<br />

muß zwangsläufig vor der Erörterung der Praxiswerdung einer praktischen Philosophie in der<br />

Tradition von Karl Marx untersucht werden, welche Stellung die gedachte Alternative<br />

respektive das Denken selbst in der Welt der Dinge einnimmt und ob und inwieweit der<br />

Mensch über diesen Komplex reflektieren kann.<br />

Eines dieser elementaren Diskursfelder des gewordenen Bewußtseins, dessen Quellen<br />

weiterhin unbekannt bleiben, ist jener Bereich des hier mittels der Diskurstheorie<br />

konkretisierten Ideologiebegriffes von Marx, der nicht zuletzt auch erkenntnistheoretische<br />

Konsequenzen impliziert und der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Verhältnisses von<br />

Sein und Bewußtsein enge Grenzen jenseits aller "Wahrheitseuphorie" der Forscher setzt. Der<br />

Glaube, alle Probleme des Denkens und Handelns mittels einer Instrumentalisierung der<br />

selbsternannten exakten Wissenschaften aus der Welt zu schaffen, wurde von fast allen der<br />

Aufklärung verpflichteten Denkern - auch von Marx und Engels - mehr oder weniger geteilt,<br />

obschon einer der ersten Protagonisten jener Bewegung, die Gott durch Rationalität zu<br />

ersetzen trachtet, erklärte, daß "der Mensch, <strong>Die</strong>ner und Erklärer der Natur, nur so viel<br />

(schafft und begreift), als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder den Geist<br />

beobachten kann; mehr weiß oder vermag er nicht." 288 Demnach erscheinen<br />

Bewußtseinsforschung und forschendes Bewußtsein ein dialektisches Paradoxon zu bilden, das<br />

durch self-fulfilling prophecies einerseits und Realitätserfahrung andererseits strukturiert wird,<br />

solange die solipsistische These, "daß alles, was ich sehe, falsch ist, (daß) ich glaube, daß<br />

nichts jemals existiert hat, was das trügerische Gedächtnis mir darstellt: ich überhaupt keine<br />

Sinne (habe); Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort nichts als Chimären<br />

(sind)" 289 , verworfen wird.<br />

288 Bacon 1645; Buch 1, § 1, S.30. Übersetzung nach: ders.; Das neue Organon; Berlin/DDR 1982; S.41.<br />

Elegant kommentieren Marx und Engels in der heiligen Familie dieses Projekt von Bacon: "Der<br />

wahre Stammvater des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden<br />

Wissenschaft ist Baco. <strong>Die</strong> Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre Wissenschaft und die<br />

sinnliche Physik als der vornehmste Teil der Naturwissenschaft. (...) Nach seiner Lehre sind die<br />

Sinne untrüglich und die Quelle aller Kenntnis. <strong>Die</strong> Wissenschaft ist eine Erfahrungswissenschaft<br />

und besteht darin, eine rationelle Methode auf das sinnliche Gegebene anzuwenden. Induktion,<br />

Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer<br />

rationellen Methode. (...) In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf eine<br />

naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. <strong>Die</strong> Materie lacht in poetischsinnlichem<br />

Glanz den ganzen Menschen an." (MEW 2,135)<br />

289 Descartes, René; Meditationes de prima philosophia in quibus dei existentia et animae humanae a<br />

corpore Distinctio (1641); Text und Übersetzung nach: ders.; Philosophische Schriften; Hamburg<br />

1996; Teil 3; S.42 resp. 43.<br />

88


Descartes, der als Urheber des Aspektes der Begründung in der Philosophie der Aufklärung<br />

gewertet werden kann, die von Bacon den Aspekt der Forschung übernahm, verwirft das<br />

zitierte solipsistische Postulat auch sofort wieder, denn "was aber den Körper angeht, so<br />

zweifelte ich daran nicht im mindesten sondern meinte, seine Natur deutlich zu erkennen" 290 ,<br />

nicht zuletzt da "die Erfahrung bestätigt, daß alle uns von der Natur verliehenen Empfindungen<br />

diese Beschaffenheit (der Erhaltung des gesunden Körpers dienlich zu sein - KSS) haben und<br />

also in ihnen durchaus nichts ist, was nicht die Macht und Güte Gottes bewiese." 291 <strong>Die</strong><br />

Existenz der Natur beruht demnach auf den zwei Prämissen, daß es Gott gibt, aber Descartes<br />

nicht Gott ist. Während die zweite Prämisse geteilt werden kann, bleibt die erste umstritten,<br />

auch weil es angesichts des Kriteriums der inneren Kohärenz fraglich ist, ob das Produkt (der<br />

Menschen) Aussagen über seinen Schöpfer machen kann, so es ihn überhaupt gibt. Ohne ein<br />

Anhänger des Pragmatismus zu sein, möchte ich doch einen pragmatischen Grund anführen,<br />

warum der These, daß das ganze Universum nur eine Projektion meines Hirnes ist, hier nicht<br />

weiter nachgegangen wird, denn wenn dem so wäre, bräuchte ich diese Gedanken ja nicht<br />

niederzuschreiben, sondern könnte sie durch die einfache Kraft meiner Gedanken an jedem<br />

Ort des Kosmos verwirklichen - welche Perspektive!<br />

Marx und Engels teilten die Begeisterung für Naturwissenschaft und Technik, die ihre Zeit<br />

prägte, und diese Begeisterung hinterließ auch Spuren in ihrem Versuch der Analyse des<br />

Verhältnisses von Sein und Bewußtsein 292 , wenn sie z.B. postulierten, daß "die<br />

Naturwissenschaft später eben sowohl die Wissenschaft von dem Menschen, wie die<br />

Wissenschaft vom Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren (wird)." 293 Im<br />

Gegensatz zum Marxismus "findet Marx in den Naturwissenschaften methodologische<br />

Anweisungen oder Analogien für das Verfahren seiner historisch-ökonomischen<br />

Konstruktion" 294 und nicht Dialektik in Aktion im Sinne einer allgemeinen Kosmologie, denn<br />

Marx verwirft letztendlich den unkritischen Positivismus, da für ihn auch die Wissenschaft<br />

Element der kapitalistischen Produktion und Reproduktion bleibt, auch wenn andererseits die<br />

Erkennbarkeit der Welt zur Prämisse seines Entwurfes einer Transformation gerinnt. Bevor auf<br />

die aktuellen Diskurse der Bewußtseinsphilosophie eingegangen wird, soll diese Verquickung<br />

von Erkenntnismethode und Erkenntnisobjekt - respektive Wissenschaft und de facto - mit<br />

einem längeren Zitat von Marx erneut problematisiert werden, da für eine intensivere<br />

Durchdringung erkenntnistheoretischer Modelle hier nicht der Raum ist. 295 "<strong>Die</strong> Anwendung<br />

290 Descartes 1996; Teil 3, S.44 resp. 45.<br />

291 Descartes 1996; Teil 3, S.156 resp. 157.<br />

292 Da auf die historische Entwicklung der Erkenntnistheorie und der Bewußtseinsphilosophie<br />

zwischen den Anfängen der Aufklärung einerseits und Marx und Engels andererseits nicht<br />

eingegangen werden kann, vgl.: Sandkühler, Hans Jörg; <strong>Die</strong> Wirklichkeit des Wissens;<br />

Frankfurt/Main 1991; S.44-194.<br />

293 MEGA I 2,396.<br />

294 Vidoni, Ferdinando; Das Laboratorium von Marx: <strong>Die</strong> Bedeutung der Naturwissenschaften für das<br />

Marxsche Werk; in: Internationale Marx Forschung - Marxistische Studien, Jahrbuch des IMFS<br />

Nr.12; Frankfurt/Main 1987; S.111-122; hier S.111.<br />

295 Als Materialien zur Vertiefung dieses Gedankenstranges vgl.: Bachelard, Gaston; Epis temologie;<br />

Frankfurt/Main 1974; ders.; <strong>Die</strong> Bildung des wissenschaftlichen Geistes - Beitrag zu einer<br />

Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis; Frankfurt/Main 1984; Bayertz, Kurt; Wissenschaft als<br />

historischer Prozeß - <strong>Die</strong> antipositivistische Wende in der Wissenschaftstheorie; München 1980;<br />

89


der natural agents - gewissermassen ihre Einverleibung in das Capital - fällt zusammen mit<br />

der Entwicklung der Wissenschaft als eines selbstständigen Factors des<br />

Productionsprocesses. Wie der Productionsproceß zur Anwendung der Wissenschaft, wird<br />

umgekehrt die Wissenschaft zu einem Factor, so zu sagen zu einer Function des<br />

Productionsprocesses. Jede Entdeckung wird Basis neuer Erfindung oder neuer verbesserter<br />

Methoden der Production. Erst die capitalistische Productionsweise macht die<br />

Naturwissenschaften dem unmittelbaren Productionsproceß dienstbar, während umgekehrt die<br />

Entwicklung der Produktion die Mittel zur theoretischen Unterwerfung der Natur liefert. <strong>Die</strong><br />

Wissenschaft erhält den Beruf Productionsmittel des Reichthums zu sein; Mittel der<br />

Bereicherung. (...) Exploitation der Wissenschaft, des theoretischen Fortschritt der<br />

Menschheit. Das Capital schafft die Wissenschaft nicht, aber es exploitirt sie, eignet sie dem<br />

Productionsprozeß an. (...) <strong>Die</strong> Wissenschaft erscheint als der Arbeit fremde, feindliche und<br />

sie beherrschende Potenz gegenüber und ihre Anwendung (...) beruht ganz so auf der<br />

Trennung der geistigen Potenzen des Processes von dem Wissen, Kenntniß und Geschick des<br />

einzelnen Arbeiters (...). Es wird allerdings eine kleine Klasse höhrer Arbeiter gebildet, dieß<br />

jedoch in keinem Verhältniß zu den Massen der 'entkenntnißten' Arbeiter. Andrerseits ist<br />

ebenso klar zweierlei: <strong>Die</strong> Entwicklung der Naturwissenschaften selbst (und sie bilden die<br />

Basis allen Wissens) wie alles auf den Productionsproceß bezüglichen Wissens, entwickelt sich<br />

selbst wieder auf Grundlage der capitalistischen Production, die ihr zum grossen Theil erst die<br />

materiellen Mittel der Forschung, Beobachtung, Experimentirung schafft. <strong>Die</strong> men of science,<br />

sofern diese Wissenschaft als Mittel der Bereicherung von dem Capital gebraucht werden,<br />

concurriren untereinander praktische Anwendungen dieser Wissenschaft zu finden.<br />

Andrerseits wir die Erfindung zu einem eignen métier." 296<br />

Der Schwerpunkt der modernen Gehirnforschung und Bewußtseinsphilosophie liegt in den<br />

angelsächsischen Ländern und in einem geistigen Klima, das durch die analytische<br />

Philosophie 297 , die sich der Objektivierung von Philosophie verschrieben hat, geprägt wurde.<br />

Der Ausgangspunkt des auch Scientific Materialism 298 genannten Ansatzes liegt in der<br />

Bieri, Peter (Hrg.); Analytische Philosophie der Erkenntnis; Königstein 1987; Daniels, Roland;<br />

Mikrokosmos - Entwurf einer physiologischen Anthropologie; Frankfurt/Main 1988; Habermas,<br />

Jürgen; Erkenntnis und Interesse; Frankfurt/Main 1968a; Hahn, Erich; Ideologie - Zur<br />

Auseinandersetzung zwischen marxistischer und bürgerlicher Erkenntnistheorie; Berlin/DDR 1969;<br />

Putnam, Hilary; Vernunft, Wahrheit und Geschichte; Frankfurt/Main 1990; Rorty, Richard; Der<br />

Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie; Frankfurt/Main 1985; Sandkühler 1991; Schaff,<br />

Adam; Einführung in die Erkenntnistheorie; Wien 1984; Watzlawick, Paul (Hrg.); <strong>Die</strong> erfundene<br />

Wirklichkeit - Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus;<br />

München 1981.<br />

296 MEGA II 3.6,2060-2062.<br />

297 Vgl.: Dummetts, Michael A.; Urspünge der analytischen Philosophie; Frankfurt/Main 1988; Abel,<br />

Günter; Realismus, Pragmatismus und Interpretationismus - Zu neueren Entwicklungen in der<br />

Analytischen Philosophie; in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie Nr.3/1988; S.180-198; Bieri,<br />

Peter (Hrg.); Analytische Philosophie des Geistes; Königstein 1981.<br />

298 Vgl.: Yun, Hyong-Sik; Scientific Materialism (1990); in: EE 1,886-893. Dort entwickelt Yun die<br />

Untergruppen "Eliminativer Materialismus" (Rorty u.a.), "Adverbialer Materialismus" (Cornman<br />

u.a.), "Funktionaler Materialismus" (Putnam, Fodor u.a.) und Emergentistischer Materialismus"<br />

(Bunge u.a.).<br />

90


Erkenntnis begründet, daß "das Leib-Seele-Problem, das für den ontologischen Dualismus<br />

entsteht, nicht gelöst werden (kann); es muß aufgelöst werden. Es aufzulösen heißt, die<br />

Annahme aufzugeben, daß mentale Phänomene in einem universellen, exklusiven Kontrast zu<br />

physischen Phänomenen stehen und daß die Eigenschaften 'mental' und physisch' inkompatible<br />

Eigenschaften von Phänomenen sind. Das Leib-Seele-Problem des ontologischen Dualismus<br />

verschwindet, wenn es uns gelingt, mentale Phänomene als eine bestimmte Art von physischen<br />

Phänomenen zu verstehen. Das ist das Programm einer materialistischen Theorie des<br />

Geistes." 299 Während fast alle Forscher des Scientific Materialism diese Grundprämisse<br />

teilen, kann anhand der spezifischen Herangehensweise an das Phänomen der Empfindungen<br />

eine Trennung verzeichnet werden, denn während Thomas Nagel Empfindungen nicht mit<br />

Gehirnprozessen identifizieren will 300 und sie stattdessen mittels unendlicher<br />

Perspektivenwechsel zu objektivieren versucht 301 , vertritt Rorty die These, daß<br />

"Empfindungen für den zukünftigen Fortschritt der Psychophysiologie dieselbe Rolle spielen<br />

(können) wie Dämonen für die moderne Wissenschaft. Gerade so, wie wir jetzt die Existenz<br />

von Dämonen leugnen wollen, könnte die zukünftige Wissenschaft die Existenz von<br />

Empfindungen leugnen wollen." 302 Eine vermittelnde Position beziehen Putnam 303 und Bunge,<br />

wenn sie von der Annahme ausgehen, "daß mentale Zustände und Prozesse, obwohl sie<br />

Gehirnaktivitäten sind, weder einfach physisch noch chemisch, noch gar zellular, sondern<br />

spezifische Aktivitäten komplexer Neuronenzusammenschlüsse sind." 304 <strong>Die</strong>se letzte Äußerung<br />

zeigt, daß selbst Anhänger einer Naturalisierung der Philosophie sich letztlich von den<br />

einfachen, angestrebten Antworten entfernen, da der Komplex des Denkens, selbst wenn er in<br />

absehbarer Zeit in seiner Funktionsweise verstehbar wird, noch weiter im Dunkeln bleibt.<br />

Wenn Thomas Metzinger versucht, in seiner an Nagel orientierten Einleitung zu dem durchaus<br />

299 Bieri 1981,31. <strong>Die</strong> analytische Philosophie wird so zu "einer Art Metatheorie der empirischen<br />

Wissenschaften vom Mentalen, ein fortlaufender kritischer Kommentar zu den begrifflichen<br />

Problemen empirischer Theorien. Durch den wissenschaftlichen Realismus wird die Philosophie des<br />

Geistes zur Philosophie der empirischen Psychologie." (Bieri 1981,25)<br />

300 "Der Sachverhalt, daß eine Person eine Empfindung hat, ist mit dem Sachverhalt zu identifizieren,<br />

daß ihr Körper in einem physikalischen Zustand ist oder einem physikalischen Prozeß unterliegt.<br />

Dabei ist zu beachten, daß beide Seiten dieser Identität von demselben logischen Typ sind, nämlich<br />

(um es neutral auszudrücken), daß ein Subjekt ein bestimmtes Attribut besitzt. <strong>Die</strong> Subjekte sind<br />

Person und ihr Körper (nicht ihr Gehirn), und die Attribute sind psychologische sowie<br />

physikalische Zustände, Ereignisse usw." (Nagel, Thomas; Physikalismus; in: Bieri 1981,56-72, hier:<br />

58; vgl. auch: Nagel, Thomas; Über das Leben, die Seele und den Tod; Königstein 1984)<br />

301 Nagel, Thomas; Der Blick von Nirgendwo; Frankfurt/Main 1992.<br />

302 Rorty, Richard; Leib-Seele-Identität, Privatheit und Kategorie; in: Bieri 1981,93-120, hier: 98.<br />

303 "Das Ergebnis unserer Diskussion über die Philosophie des Geistes ist, daß propositionale<br />

Einstellungen, wie sie die Philosophen nennen - d.h. solche Dinge wie glauben, daß Schnee weiß ist<br />

und gewiß wahrnehmen, daß die Katze auf der Matte ist -, nicht 'Zustände' des menschlichen<br />

Gehirns sind, die isoliert von den sozialen und non-humanen Umständen betrachtet wurden. A<br />

fortiori sind sie nicht 'funktionale Zustände' - d.h. Zustände, die durch die in die 'software'-<br />

Beschreibung des Organismus eingehenden Parameter definierbar sind. Funktionalismus, der als<br />

die These, daß propositionale Einstellungen gerade 'computational' Zustände des Gehirns sind,<br />

konstruiert ist, kann nicht richtig sein." (Putnam, Hilary; Representation and Reality; Cambridge<br />

1988; p.73; zitiert nach: Yun 1990,893; vgl. auch: Putnam 1990)<br />

304 Bunge, Mario; Scientific Materialism; in: Edwards, Paul (Ed.); The Encyclopedia of Philosophy;<br />

London 1981; Vol.5 p.68; zitiert nach: Sandkühler 1991,331/332.<br />

91


aufschlußreichen Sammelband "Bewußtsein - Beiträge zur Gegenwartsphilosophie" der<br />

Probleme, die sich aus der nagelschen Konstruktion einer Verbindung von Innen- und<br />

Außenwelt ergeben, Herr zu werden und sich auf die These versteift, daß "jede der potentiell<br />

an dem Projekt einer vereinheitlichten Wissenschaft des Bewußtseins beteiligten Disziplinen<br />

deshalb zuallererst einen systematischen Katalog ihrer eigenen Fragestellungen entwickeln<br />

(muß)" 305 , so muß dies als Versuch verstanden werden, interdiskursive Konstellationen zu<br />

schaffen, um auf ihrer Basis eine Ideologie zu formieren. Von diesem Gesichtspunkt aus<br />

erscheinen die großen Versprechungen Metzingers 306 , aber auch der anderen Anhänger des<br />

Scientific Materialism als Versuche, die Unübersichtlichkeit und Komplexität der<br />

unterschiedlichen Interpretationsansätze des Seins durch einen naturalistischen Monismus zu<br />

ersetzen, der seine eigene Wahrhaftigkeit durch die Ausdehnung der analytischen Methode auf<br />

alle Sphären des Seins zu beweisen trachtet, ähnlich dem Postulat von Thomas von Aquin:<br />

"intellectus speculativus extensione fit practicus". 307<br />

Es wäre jedoch völlig falsch, wenn man sich ausgehend von den angesprochenen<br />

Versäumnissen und Denkfehlern der aktuellen Bewußtseinsphilosophie gegen jegliche<br />

naturwissenschaftliche Durchdringung der Funktionsweise stellen würde, da nicht das Projekt<br />

an sich fehlerhaft ist, sondern nur die in es gesetzten Erwartungen, denn wenn der<br />

Naturwissenschaftler den Philosophen ersetzt, wie dies Rorty vorschwebt, dann bleibt die<br />

geistige Durchdringung der Prämissen der Ausdehnungsbewegung der naturwissenschaftlichen<br />

Methoden auf die Prozesse in unserem Hirn auf der Strecke bzw. enziehen sich der Kritik. <strong>Die</strong><br />

Vorteile eines solchen normierten wissenschaftlichen Diskurskomplexes liegen auf der Hand,<br />

jedoch erscheinen sie bei Licht betrachtet als Remythologisierung des Denkens und<br />

verkörpern damit jene "dunklen Teile" des dialektischen Prozesses der Aufklärung, die immer<br />

Gefahr liefen, den christlichen Mythos in einen Glauben an eine substanzlose Vernunft zu<br />

transformieren.<br />

In das Projekt einer Neufassung praktischer Philosophie in der Tradition von Karl Marx zu<br />

Beginn des 21.Jahrhunderts kann von den bisher vorliegenden Erkenntnissen der<br />

Bewußtseinsforschung lediglich die Bestimmung der äußeren Grenzen des menschlichen<br />

Denkens 308 übernommen werden. Der ganze Bereich der physischen und chemischen Analyse<br />

der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung 309 bedürfte vor einer Einbeziehung in<br />

305 Metzinger, Thomas; Das Problem des Bewußtseins; in: ders. (Hrg.); Bewußtsein - Beiträge aus der<br />

Gegenwartsphilosophie; Paderborn 1995; S.36.<br />

306 "Es ist deutlich geworden, daß wir uns bereits seit einiger Zeit auf dem Weg zu seiner neuen<br />

Theorie des Geistes befinden. <strong>Die</strong>se neue Theorie des Geistes wird unter anderem auch eine<br />

Theorie darüber sein, was bewußtes Erleben ist. Sie wird außerdem die erste Theorie dieser Art in<br />

der Geschichte der Menschheit sein, die ein solides empirisches Fundament besitzt. Am Ende<br />

dieses Jahrtausends scheint deshalb eine theoretische <strong>Revolution</strong> in der Luft zu liegen, die uns in<br />

unserem Selbstverständnis auf eine bisher unbekannte Weise berühren könnte." (Metzinger<br />

1995,16)<br />

307 Der spekulative Verstand wird durch Ausdehnung praktisch.<br />

308 Vgl. z.B. die Artikel von Colin McGinn "Bewußtsein und Raum", Eva Ruhnau "Zeit - Gestalt und<br />

Beobachter - Betrachtungen zum territum datur des Bewußtseins", Rick Grush und Patricia Smith<br />

Churchland "Lücken im Penrose-Parkett" in: Metzinger 1995,183-249.<br />

309 Vgl. z.B. die Artikel von Robert Kirk "Wie ist Bewußtsein möglich?" und Ansgar Beckermann<br />

"Visuelle Informationsverarbeitung und phänomenales Bewußtsein" in: Metzinger 1995,641-679.<br />

92


den Entwurf einer alternativen Praxis einer grundsätzlichen dialektischen Konfrontation mit den<br />

verschiedensten erkenntnistheoretischen Modellen, denn bevor die analytische Philosophie<br />

keine einleuchtende, nachvollziehbare und kohärente Begründung ihrer Methoden geben kann,<br />

die über den Schematismus einer Formellehre ähnlich der Mathematik hinausgeht, spricht<br />

wenig dafür, daß der Diskurskomplex, der durch die analytische Methode strukturiert wird,<br />

Ort von Diskursen sein kann, die über die Möglichkeiten einer Alternative zu einer Welt<br />

beraten wollen, in der abstrakter Schematismus einer an der Maschine geschulten Gesellschaft<br />

mehr gilt als das Streben nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität.<br />

Wenn eine kritische Hinterfragung der Perspektiven des bewußtseinsphilosophischen<br />

Diskurses den Schluß nahe legt, daß für eine Neukonstruktion praktischer Philosophie die<br />

Ausdehnung der Denkstrukturen des de facto auf alle Bereiche des menschlichen<br />

Erfahrungshorizontes nicht direkt nutzbar gemacht werden kann, bzw. Bewußtseinsphilosophie<br />

selbst nicht schon praktische Philosophie ist, so heißt dies nicht, daß die Dekonstruktion dieser<br />

apriorischen Denkstrukturen im Sinne einer erweiterten Diskursanalyse und Ideologiekritik die<br />

einzigen Diskursfelder sind, in denen das an einer allgemein-menschlichen Emanzipation<br />

interessierte Individuum nach Gleichgesinnten suchen darf, sondern daß ohne kritische<br />

Durchdringung im Sinne einer dialektischen Selbstreflexion jede konkrete Diskurssphäre<br />

Element des de facto bleibt. Vor diesem Hintergrund erscheint das Resümee von Sandkühler,<br />

nach dem "die Würde des Menschen angetastet ist, solange er nicht weiß, was er als<br />

Konstrukteur von Wirklichkeit ist und daß er als Schöpfer menschlicher Wirklichkeit auf<br />

jenes Recht auf die Freiheit der Erkenntnis und die Demokratie des Wissens seinen Anspruch<br />

geltend machen muß, das zu den Rechten der Menschen gehört" 310 , als Wunschtraum, denn<br />

das Wissen um die eigene Rolle im Prozeß der Konstruktion von Wirklichkeit erhebt das<br />

Individuum nicht automatisch in den Stand eines postkapitalistischen Wesens, das mittels einer<br />

modifizierten Vertragstheorie seinen intersubjektiven Austausch mit anderen auf eine rationale<br />

Grundlage stellt, sondern es eröffnet dem Einzelnen lediglich einen neuen Möglichkeitshorizont,<br />

der emanzipatorisch sein kann oder eben auch nicht.<br />

310 Sandkühler 1991,391.<br />

93


"Man muß sich vergegenwärtigen, daß das Künftige weder ganz in unserer Gewalt<br />

ist, noch unserer Gewalt ganz entzogen." Epikur 311<br />

3. Eckpunkte der Emanzipation: Freiheit, Gleichheit,<br />

Solidarität<br />

Während in meinem de-konstruktivistischen Buch "Marxismus des 20.Jahrhunderts" von der<br />

marxschen und marxistischen Unterfütterung der großen Hypothese von Marx - der<br />

Verbindung von partieller und allgemein-menschlicher Emanzipation - unter dem Hammer einer<br />

analytischen Ratio kaum mehr geblieben war als ein Steinhaufen und eine verschwommene,<br />

imaginäre Idee einer Neukonstruktion, die den Erfordernissen des 21.Jahrhunderts gerecht<br />

werden könnte oder auch nicht, sei zu Beginn dieses Versuches einer Re-Konstruktion<br />

emanzipativer Philosophie einerseits an Francis Bacons These erinnert, nach der "Recte enim<br />

Veritas, Temporis filia dicitur, non Authoritatis" 312 , und andererseits dem Credo von Bakunin<br />

Rechnung getragen, nach dem Zerstörung ein schöpferischer Prozeß sei 313 , solange - so muß<br />

ergänzt werden - sie die Möglichkeit schafft, auf den Trümmern der alten Welt Neues<br />

entstehen zu lassen. Wenn, wie in der Einleitung postuliert, "the proof of the pudding the<br />

eating" 314 ist, so bedarf der Leser trotz umgebundener Serviette noch etwas Langmut, bevor<br />

ihm die Ganzheit der Neufassung dargelegt werden kann, denn während im dem<br />

angesprochenen Buch lediglich der Marxismus dekonstruiert wurde, stehen nun die drei<br />

begrifflichen Säulen von emanzipativer Philosophie selbst auf dem Prüfstand des dialektischen<br />

Geistes.<br />

Das vorliegende Wagnis einer Re-Konstruktion der zentralen Begriffe der Emanzipation<br />

unterscheidet sich grundlegend von den sozialdemokratischen und liberalistischen<br />

Interpretationsversuchen, denn während diese Ansätze hervorheben, daß dem von ihnen<br />

postulierten "Grundwert 'Freiheit' weder eine Geschichtsphilosophie noch eine umfassende<br />

Gesellschaftsanalyse zugrunde (liegt)" 315 , erscheint vor dem Hintergrund der De-Konstruktion<br />

des Marxismus eine umfassende, praktisch-philosophische Begriffsbestimmung als conditio<br />

sine qua non jeder praktischen Philosophie, die die Sphäre der reinen Legitimation des<br />

Seienden überwinden will. Wenn dies nicht zumindest in Ansätzen versucht, sondern einem<br />

311 Epikur; Brief an Menoikeus; in: Griechische Atomisten - Texte und Kommentare zum<br />

materialistischen Denken in der Antike; Leipzig 1988; S.237.<br />

312 Bacon 1645; Buch I, §84,93.<br />

313 "Pour vaincre les Ennemis du prolétariat il nous faut détruire, encore détruire et toujours détruire.<br />

Car! l'esprit destructeur est en même temps l'esprit constructeur." (Bakunin, Michail; Flugblatt;<br />

Reproduktion in: Wittkopp, Justus Franz; Bakunin; Reinbek 1987; S.83) Vgl. auch: Bakunin,<br />

Michael; Briefe aus dem Gefängnis - <strong>Die</strong> 'Beichte'; Westberlin 1988; S.48: "Wir sind berufen, zu<br />

zerstören und nicht aufzubauen; aufbauen werden andere, die besser, klüger und frischer sind<br />

als wir." Es sei hier auch an das Motto von Baudrillard, welches am Beginn dieses Buches stand,<br />

erinnert.<br />

314 MEW 19,530.<br />

315 Schlei, Maria/ Wagner, Joachim; Freiheit - Gerechtigkeit - Solidarität: Grundwerte und praktische<br />

Politik; Bonn 1976; S.28. Vgl. auch: Miller, Susanne; Das Problem der Freiheit im Sozialismus;<br />

Westberlin 1977; S.291ff.<br />

95


pluralistischen Freiheits-, Gleichheits- und Solidaritätsbegriff das Wort geredet wird, gleicht<br />

diese konkrete Form der Emanzipation einem Placebo, das angesichts der offensichtlichen<br />

Probleme des Menschen ähnlich effektiv bleibt wie Kartenlegen und Geisterbeschwörung.<br />

Bevor den einzelnen Elementen der durch die französische <strong>Revolution</strong> berühmt gewordenen<br />

Formel nachgegangen wird, soll kurz die Genese der Trias selbst angesprochen werden, was<br />

trotz der Vielzahl von Publikationen anläßlich der zweihundertsten Wiederkehr des Sturms auf<br />

die Bastille am 14.Juli 1789 problematisch erscheint, da "die Herkunftsgeschichte der<br />

republikanischen Triasformel ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (...) bis zum heutigen Tage als<br />

noch weitgehend ungeschrieben gelten (muß)." 316 Interessanterweise scheint die gesamte<br />

Formel nicht auf jenen Fahnen gestanden zu haben, die die monarchistische Zwangsherrschaft<br />

in Frankreich beendet haben, sondern wurde erstmals auf einem Föderationsfest anläßlich des<br />

ersten Jahrestages des Bastillesturmes der Öffentlichkeit präsentiert. 317 <strong>Die</strong> Trias ersetzte<br />

damit den wenig differenzierten, aber dafür martialischen Schlachtruf der Jakobiner "Vivre<br />

libre, ou mourir", der schon im Unabhängigkeitskrieg der USA erhoben worden war (Give me<br />

liberty, or give me death!) und vermutlich auf eine Gedichtzeile von Joseph Addison aus dem<br />

Jahre 1713 zurückgeht: "It is not time to take of aught/ But chains, or conquest, liberty, or<br />

death." 318 In englischsprachigen, revolutionären Diskursen findet man im Anschluß an die<br />

französische <strong>Revolution</strong> nicht nur die Übersetzung der französischen Trias, sondern auch die<br />

1795 von James Gillray geprägte Formel "No Law, No King, No God", in der alle Aspekte<br />

des frühen Anarchismus kulminieren, auch wenn Gillray mit dieser Formel eigentlich die<br />

revolutionären Bestrebungen seiner Landsleute nur karikieren wollte. 319 <strong>Die</strong> in der Folge zum<br />

Kampfbegriff gewordene Formel markiert die radikalste Auslegung der französischen Trias,<br />

wenn indirekt jede Form der Herrschaft, der staatlich vermittelten und garantierten formalen<br />

Ausprägung der Gleichheit und einer Gott gegebenen Brüderlichkeit verworfen werden.<br />

Huxleys Transkription in "Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit" 320 kann<br />

hingegen als reaktionäre Maximalinterpretation verstanden werden, von der jedoch die<br />

sozialdemokratische Forderung "Freiheit - Gerechtigkeit – Solidarität" 321 und die Trias der<br />

316 Meller, Horst; Liberté, Egalité, Fraternité: <strong>Revolution</strong>äre und Konterrevolutionäre <strong>Dr</strong>eifaltigkeiten;<br />

in: Harth, <strong>Die</strong>trich/ Assmann, Jan (Hrg.); <strong>Revolution</strong> und Mythos; Frankfurt/Main 1992; S.104-127,<br />

hier S.104. Vgl. auch: Greive, Artur; <strong>Die</strong> Entstehung der französischen <strong>Revolution</strong>sparole Liberté,<br />

Egalité, Fraternité; in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und<br />

Geistesgeschichte; Jg.1969, S.726-751; Amadou, Robert; Liberté, egalité, fraternité: la devise<br />

républicaine et la franc-maconnerie; in: Renaissance traditionelle; Jg.1974; S.2-25,119-143; Jg.1975;<br />

S.23-37; Reichardt, Rolf/ Schmitt, Eberhard (Hrg.); Handbuch der politisch-sozialen Grundbegriffe in<br />

Frankreich 1680-1820; München 1985ff.<br />

317 Greive 1969,726.<br />

318 Zitiert in: Epstein, James; Understanding the Cape of Liberty: Symbolic Practice and Social Conflict<br />

in Early Nineteenth-Century England; in: Past and Present; Nr.122/1980; S.75-118, hier S.98.<br />

319 Vgl.: Meller, Horst; Revisionist Intimations and the Imagery of <strong>Revolution</strong> – Strategies for and in<br />

Blake’s London; in: Horstmann, Ulrich/ Zach, Wolfgang (Hrg.); Kunstbegriffe: Auskünfte zur<br />

Reichweite von Literaturtheorie und Literaturkritik; Frankfurt/Main 1989; S.218-230; Meller<br />

1992,116-119.<br />

320 Huxley, Aldous; Schöne neue Welt - Ein Roman der Zukunft; Frankfurt/Main 1981; S.19. Im Orginal<br />

lautet die Losung "Community, Identity, Stability" (ders.; Brave New World; Harmondsworth 1967;<br />

p.15) und ist damit um einiges pointierter als die deutsche Übertragung.<br />

321 Schlei/ Wagner 1976.<br />

96


ersten kohlschen Regierungserklärung "Freiheit, Mitmenschlichkeit, Verantwortung" 322 weit<br />

weniger entfernt sind als von einer authentischen Ausfüllung der ursprünglichen "Liberté,<br />

Egalité, Fraternité". Gerade diese Versuche der an der Aufrechterhaltung des Bestehenden<br />

interessierten Kräfte nach Besetzung emanzipativer Begriffe kann als Beleg dafür dienen, daß<br />

trotz der Verwirrungen und Verirrungen, die die Begriffe in ihrer Geschichte durchlebt haben,<br />

ihnen bis heute eine unterirdische Dynamik innewohnt, die diese Kräfte schon in ihrer<br />

begrifflichen Fassung unterminieren wollen. Wenn Barbara Tuchman in ihrem Rückblick auf<br />

antifeudale Reformbewegungen des 14.Jahrhunderts zu der These gelangt, daß diese Ideale<br />

sich letztlich 1789 durchsetzen konnten, weil "auf der Waage der Geschichte Beharrung<br />

schwerer wiegt als Veränderung" 323 , dann ist dies gerade nicht als konservative Rechtfertigung<br />

der warenverfaßten Gewordenheit des Seins zu verstehen, sondern als Aufmunterung zum<br />

beharrlichen Streben nach Verwirklichung jener ‚guten alten Sache des Kommunismus‘, deren<br />

Ansehen zur Zeit auf ewig diskreditiert scheint, auch wenn die historische Parallelisierung<br />

weder zukünftige Erfolge versprechen kann noch die reflexive Wirkung von Niederlagen<br />

verdrängen soll.<br />

Da eine historische Annäherung an die einzelnen Begriffe gewählt wird, liegt es nahe, ebenfalls<br />

diese Historizität zu Rate zu ziehen, wenn es um die Abfolge der Ideale untereinander geht. So<br />

wird, obgleich sich die drei Begriffe wechselseitig bedingen, mit der Freiheit begonnen, da<br />

diese schon lange vor den anderen Begriffen der Trias zum Ideal menschlicher<br />

Emanzipationsbewegungen wurde. <strong>Die</strong>se Reihenfolge entspricht nicht nur der historischen<br />

Abfolge, sondern auch der logischen Struktur dieser Studie, die Freiheit als Ziel der<br />

Emanzipation des Menschen in einem Prozeß der teleologischen Setzung versteht, welche<br />

durch Gleichheit und Solidarität flankiert und bestimmt wird. Wenn die Annäherung an das<br />

Problemfeld der Freiheit eher autoreflexiven Charakter trägt, so geht dies auf die These<br />

zurück, daß dem Individuum als Schnittstelle zwischen Altem und Neuem nur jene<br />

Instrumentarien zur Verfügung stehen, die es selbst ersinnen kann. Während der Versuch einer<br />

Definition von Gleichheit und Solidarität an vergangene und gegenwärtige Konzeptionen ohne<br />

größere Probleme anknüpfen kann, darf dies der Versuch einer Neukonstruktion der Freiheit<br />

erst dann, wenn ihre ideale Existenz aus ihr selbst entwickelt wurde. Daß Gleichheit in der<br />

Erörterung der Behandlung der Solidarität vorangestellt wird, liegt einerseits in der begrifflichen<br />

Abfolge der Trias begründet und andererseits in dem Umstand, daß Gleichheit in der<br />

Diskussion mehr ideelle Faktizität zukommt als den Debatten um solidarische<br />

Interaktionsformen der Menschen, die, da sie die Relation des individuellen Strebens zum<br />

abstrakten Prozeß der Entwicklung als solches referieren, nebulös bleiben, ja bleiben müssen,<br />

weil sie eine zutiefst individuelle Umgehensweise charakterisieren. Es wird dabei vom<br />

Individuum ausgegangen, denn "radikal sein ist die Sache an der Wurzel zu fassen. <strong>Die</strong> Wurzel<br />

für den Menschen ist aber der Mensch selbst." 324<br />

322 Frankfurter Allgemeine Zeitung; 5.Mai 1983; S.6.<br />

323 Tuchman, Barbara; Der ferne Spiegel – Das dramatische 14.Jahrhundert; München 1996; S.354.<br />

324 MEW 1,385.<br />

97


"<strong>Die</strong> erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken."<br />

Heiner Müller 325<br />

3.1. Jenseits des Sachzwanges: Entfremdung und Selbstbefreiung<br />

des Menschen<br />

Es war einmal ein Mann - so heißt es in einem arabischen Märchen - der bestellte als freier<br />

Bauer sein eigenes Land. Eines Tages, als er sich zur Mittagsruhe neben dem Feld niedergelegt<br />

hatte, kroch eine Schlange in seinen Mund und gelangte von dort in seinen Magen, wo sie sich<br />

häuslich einrichtete. Als der Mann erwachte, wurde ihm schnell bewußt, daß es mit seinem<br />

bisherigen freien Leben aus und vorbei war. Von nun an hing sein Sein ganz und gar von der<br />

Willkür der Schlange ab, die ihn als böswilliges und despotisches Wesen von Tag zu Tag mehr<br />

unter ihre Kontrolle brachte, bis sich schließlich sein Leben so verändert hatte, daß er nur noch<br />

für die Schlange lebte und arbeitete. Sein freier Wille war durch die despotischen Befehle<br />

seiner Herrin ersetzt worden und sein freies Leben war einer totalen, absoluten Knechtschaft<br />

gewichen, wie man sie sich schlimmer kaum vorstellen kann.<br />

<strong>Die</strong> Zeit verging und der Mann gewöhnte sich an die neue Situation und führte immer öfter die<br />

Befehle der Schlange aus, bevor diese ihm mitgeteilt worden waren, um so den Schmerzen zu<br />

entgehen, bis er nach einigen Jahren wie eine Schlange dachte und sich selbst quasi als<br />

Schlange die Befehle gab. Eines Tages vergaß er durch einen Zufall, seiner Pflicht als<br />

Schlangen-Mensch nachzukommen und war unter einer großen Pinie eingeschlafen anstatt<br />

Mäuse zu fangen. Als er erwachte, stellte er mit Verwunderung fest, daß er nicht bestraft<br />

worden war, und in seiner Verwirrung über das Erlebte vergaß er nun auch noch, Wasser für<br />

die Schlange zu holen und blieb auch dafür ohne Strafe. In den nächsten Tagen vernachlässigte<br />

der Mann immer mehr seine Pflichten, aber es erfolgte keine Züchtigung wie er erwartet hatte<br />

und so kam ihm langsam die Erkenntnis, daß die Schlange ihn verlassen hatte. Er war wieder<br />

frei! Nun konnte er wieder alles tun, was er wollte. Zuerst ergriff den Mann große Freude, die<br />

Freude der wiedererlangten Freiheit. Sehr bald wurde ihm jedoch klar, daß er nicht wußte,<br />

was er mit dieser Freiheit tun sollte, und er versuchte sich zu erinnern, wie sein Leben vor der<br />

Begegnung mit der Schlange verlaufen war. Ohne Erfolg, denn in der langen Zeit der absoluten<br />

Herrschaft der Schlange hatte er sich so daran gewöhnt, seinen Willen dem ihrigen, seine<br />

Wünsche ihren Wünschen und sein Denken ihrem Denken unterzuordnen, daß er die Fähigkeit<br />

zu wünschen, zu denken und selbständig zu handeln verloren hatte. Zusammen mit der<br />

Schlange war das neue, in der Unfreiheit angenommene "Wesen" aus ihm entwichen. Er war<br />

ausgehöhlt und an die Stelle der Freiheit war die Leere getreten .... 326<br />

325 Müller, Heiner; Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen - Zu einer Diskussion über<br />

Postmodernismus in New York (1979); in: ders.; Material - Text und Kommentar; Leipzig 1989; S.24.<br />

326 Ähnliches findet man auch in einer Episode des bekannten Märchenerzählers Karl Marx: "Im<br />

Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung,<br />

Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche<br />

Naturgesetze anerkennt. <strong>Die</strong> Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses<br />

bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Überbevölkerung hält das<br />

Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den<br />

Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der<br />

ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über die Arbeiter.<br />

Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur<br />

98


Offensichtlich mußte der Held des Märchens, um wirklich wieder frei zu sein, sein Leben mit<br />

seinen früheren, menschlichen Inhalten neu begründen. Er muß das Verlangen wiedergewinnen,<br />

nach diesen menschlichen Inhalten zu leben. Er muß von neuem lernen, zu wollen wie ein<br />

Mensch, zu denken wie ein Mensch und zu handeln wie ein Mensch. Das Menschsein muß<br />

ihm zur Notwendigkeit und zum dringenden Bedürfnis werden. Andernfalls ist seine Freiheit<br />

nur eine potentielle Freiheit, aber keine wirkliche Freiheit, eine abstrakte Freiheit, aber keine<br />

reale, konkrete Freiheit.<br />

<strong>Die</strong>ses Beispiel zeigt anschaulich die Widersprüchlichkeit der herkömmlichen Auffassung von<br />

Freiheit, denn in den meisten Definitionen wird diese mit dem Fehlen äußerer Beschränkungen<br />

begründet und der Begriff der "Freiheit von ...." ist die gängige Definition in der Alltagssprache.<br />

Allein das Märchen legt den Gedanken nahe, daß sich die Befreiung von äußeren<br />

Beschränkungen (und seien diese auch nur im Magen angesiedelt) keineswegs als großartige<br />

Freiheitsrealität erweisen muß. Bei der Befreiung des Märchenhelden fehlt das zentrale<br />

Moment, ohne das eine "Befreiung von etwas" keine wahre Freiheit bringen kann, und so fehlt<br />

das, was diese Befreiung letzten Endes mit Inhalt füllen kann, ihr Sinn, Bedeutung und Wert<br />

verleiht. Verlorengegangen war das unbedingte Verlangen, sein Menschsein durch Taten zu<br />

begründen. <strong>Die</strong> leicht erworbene Freiheit, die ohne eigene Tat erreicht wurde, erweist sich, da<br />

ihr eben diese sich in Praxis manifestierende, schöpferische Äußerung des Menschseins fehlt,<br />

als inhaltslos, nichtig und illusorisch. Als Voraussetzung des negativen Aktes der "Befreiung<br />

von etwas" - und das nicht nur im Märchen - ist eine konkret positive Setzung einer "Freiheit<br />

wozu" notwendig, also das Streben, auf "menschliche Weise" zu leben, da nur das<br />

Vorhandensein dieses positiven Inhaltes den formellen Akt einer "Befreiung von etwas" mit<br />

Sinn füllen und es zu einem vollwertigen Freiheitsstreben machen kann.<br />

Jedoch könnten die Beispiele dazu verleiten, in der archaischen Gesellschaft der Ur- und<br />

Frühgeschichte einen Hort der Freiheit zu suchen, gab es doch in der Geschichte immer wieder<br />

Epochen, in denen die Menschen sich nach dem "einfachen" Leben, sei es in fernen Ländern<br />

oder nur fern der Städte, sehnten, um in dieser Abgeschiedenheit von der gesellschaftlichen<br />

Welt ein Leben im Einklang mit der Natur zu führen. Gegen eine solche Auffassung von<br />

Freiheit spricht nicht nur, daß sie lediglich für einen kleinen Teil der Menschen realisierbar ist,<br />

sondern auch die Tatsache, daß in der Urgeschichte keine Freiheit herrschte, auch wenn dies<br />

aus heutiger Sicht so erscheinen mag, da diese "Freiheit" eine unbewußte Freiheit war, eine<br />

Freiheit aber, die nicht reflektiert und erkannt wird, ist keine Freiheit, da sie keinen Inhalt hat.<br />

Erst der Schritt des Menschen aus der Natur, der in der Formierung von Gesellschaft seinen<br />

deutlichsten Ausdruck findet, macht Freiheit, gerade wegen der Aufhebung natürlicher<br />

"Freiheit", möglich. 327<br />

Schon bei einer oberflächlichen Analyse wird die außerordentliche Abstraktheit und<br />

Unbestimmtheit der Alltags-Definition von Freiheit enthüllt, aber es ist gerade diese äußerste<br />

ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den 'Naturgesetzen der<br />

Produktion' überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst<br />

entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital." (MEW 23,765).<br />

327 Eine differierende, aber gleichwohl differenzierte Ansicht vertritt Christian Sigrist in seiner Studie<br />

"Regulierte Anarchie - Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in<br />

segmentären Gesellschaften Afrikas" (Hamburg 1994).<br />

99


Abstraktion, die dafür sorgt, daß Begriffe sich gesellschaftlich durchsetzen, da sie jedem die<br />

Möglichkeit geben, seine individuelle Auslegung zu erarbeiten. Sobald man jedoch die<br />

abstrakte Ebene verläßt, in der jeder Freiheit als ein erstrebenswertes Ziel anerkennt, stellt<br />

man fest, daß sich hinter jeder "negativen" Form ein "positiver" Inhalt verbirgt, und so stößt<br />

man, wenn von der Befreiung eines Menschen die Rede ist, auf zwei grundlegende Momente:<br />

erstens auf eben diesen Menschen und zweitens auf die äußeren Beschränkungen, von denen<br />

er sich befreien kann oder könnte. Je konkreter das Problem der Freiheit von Menschen<br />

untersucht werden soll, um so wichtiger ist es, das Individuum analytisch von der es<br />

umgebenden gesellschaftlichen Totalität zu trennen, da sonst der Mensch und die auf ihn<br />

einwirkenden und ihn verändernden Kräfte, mit denen er interagiert, zu einem Ganzen<br />

verschwimmen. Freiheit könnte dann allenfalls in der "Einsicht in die Notwendigkeit" des<br />

Ganzen bestehen - eine Perspektive, die aufgrund ihres sie strukturierenden Fatalismus wohl<br />

fast zwangsläufig im geistigen oder körperlichen Suizid enden muß.<br />

Bei der Suche nach dem menschlichen Kern der Gesellschaft stellt sich heraus, daß nur das die<br />

Menschwerdung des Menschen behindern kann, was direkt oder indirekt mit ihm verbunden<br />

ist und interagiert, auch wenn es in der das Individuum umgebenden Welt unendliche<br />

Ereignisse gibt, die nicht mit dem konkreten Menschen verbunden sind, die, da sie ihm absolut<br />

äußerlich sind und sich ihm gegenüber indifferent verhalten, seine Freiheit aber nicht behindern.<br />

Um eine Behinderung der menschlichen Freiheit zu sein, um seine äußeren Grenzen zu<br />

bestimmen und einzuengen, müssen diese Ereignisse oder Erscheinungen in konkreter<br />

Beziehung zum Individuum stehen - es müssen also Erscheinungen sein, ohne deren bewußte<br />

oder unbewußte Einflußnahme der Mensch außerstande ist, tätig seine Welt zu erfahren und zu<br />

verändern. Je mehr der Mensch mit dieser oder jener Erscheinung der ihn umgebenden<br />

Wirklichkeit verbunden ist, je mehr sie in die Sphäre seiner menschlichen Tätigkeit einbezogen<br />

sind und die Bedingungen für ihre Verwirklichung bilden, desto mehr hängt er von ihnen ab, in<br />

desto höherem Maße werden sie zu Schranken seiner Freiheit. Daraus folgt aber, daß die<br />

Schranken der menschlichen Freiheit keineswegs seinem "Wesen" äußerlich, sondern Teil<br />

seiner selbst sind, und dies gilt ebenso für die Schranken der Freiheit, die die Natur dem<br />

Menschen durch Krankheit und Tod setzt.<br />

Damit hat sich aber das abstrakte Problem der "Freiheit von ..." in die konkrete Frage<br />

"Freiheit wozu" verwandelt, eine Freiheit der aktiven Entfaltung des menschlichen "Wesens".<br />

Was ist aber dieses menschliche Wesen, dessen Entfaltung durch diese oder jene Umstände<br />

behindert wird, ja gibt es einen solchen Kern des Menschen überhaupt? Es wären also vor<br />

einer Analyse der Beziehungen des Menschen zu der ihn umgebenden Welt seine Beziehung zu<br />

sich selbst und seine schöpferische Entfaltung in die ihn umgebende Wirklichkeit zu<br />

untersuchen. Erst wenn diese Frage - wie das Wesen des Menschen beschaffen ist -<br />

hinreichend beantwortet werden kann, ist eine Untersuchung der Schranken menschlicher<br />

Freiheit möglich und sinnvoll. Als Maß der Freiheit kann dann der Grad der Übereinstimmung<br />

der Praxis des Menschen mit seinem ursächlichen "Wesen" selbst angesehen werden und<br />

insofern ist das Maß der Freiheit des Menschen gebunden an die Notwendigkeiten seines<br />

Wesens.<br />

100


Randbemerkung: Der letzte Absatz offenbart ein zentrales Problem jeder<br />

Anthropologie: Durch die zentrale Stellung der Begriffe Wesen und Gattungswesen in<br />

der idealistischen bzw. materialistischen Philosophie und der damit einhergehenden<br />

Koppelung dieser Begriffe mit der hinter ihnen stehenden philosophischen Schule scheint<br />

die Etablierung neuer Begriffe, wenn nicht sogar einer neuen Sprache, erste Pflicht<br />

jeder Philosophie zu sein, die sich nicht in der Restauration des Alten verlieren will. Ich<br />

sehe dies anders, da Philosophie der Praxis nicht eine neue Theorie neben anderen sein<br />

will, die alle ihren Anspruch auf Wahrheit haben, sondern die durch die Verbindung und<br />

den Bezug auf das Alte Neues schaffen will.<br />

Was kann also die Entfaltung des menschlichen Wesens nach außen verhindern? Doch wohl<br />

nur die menschliche Praxis, mit der sich der Mensch in der ihn umgebenden Totalität<br />

manifestiert. <strong>Die</strong>se Totalität ist ebensosehr seine private Lebenssphäre wie die "feindliche"<br />

Sphäre seines gesellschaftlichen Seins, sie ist nicht allein die Existenzsphäre für das konkrete<br />

Individuum, sondern für alle menschlichen Wesen, ja für alle Lebewesen einschließlich jedes<br />

Mikroorganismus. Daraus folgt dann aber, daß die schöpferische Entfaltung der Praxis des<br />

Individuums unweigerlich mit diesen anderen Elementen der Umwelt interagiert und durch sie<br />

"deformiert" wird. Hierbei kann es zu einer Übereinstimmung der Praxis eines Menschen mit<br />

seinem Wesen nur kommen, wenn er Herrschaft über die natürlichen wie sozialen Bedingungen<br />

seiner Existenz ausübt, denn auch die Form, in der sich die Praxis eines Menschen<br />

manifestieren kann, ist unmittelbar davon abhängig, inwieweit er Herr dieser Bedingungen<br />

ist. 328 Was ist also das Wesen des Menschen? An dieser Frage scheiden sich die Geister.<br />

Grob gesprochen kann man die Antworten zu zwei Gruppen zusammenfassen, zu einer<br />

idealistischen und einer materialistischen Richtung.<br />

<strong>Die</strong> erste nimmt an, daß das Wesen des Menschen in seiner Fähigkeit zum logischen Denken<br />

besteht (cogito ergo sum) und sich somit auch das Problem der Freiheit auf die Freiheit des<br />

Denkens reduzieren ließe, so daß hinsichtlich der Frage der Befreiung dann lediglich zu klären<br />

wäre, wie Bedingungen und Voraussetzungen geschaffen werden können, unter denen der<br />

Mensch diese Freiheit des Denkens wahrzunehmen in der Lage ist. Andere sehen die<br />

menschliche Natur in ihrem ethischen Bewußtsein und somit die Freiheit in der Freiheit des<br />

ethischen Entschlusses und als Freiheit der Wahl in einer Situation des Entweder-Oder.<br />

Befreiung wäre dann die Schaffung solcher Bedingungen, unter denen der Vollzug einer<br />

absolut freien Wahl möglich wäre. Wieder andere glauben, das Wesen des Menschen in<br />

seinem ästhetischen Schaffen entdeckt zu haben und definieren somit Freiheit als<br />

Verwirklichung seiner produktiven, künstlerischen Phantasie.<br />

Meiner Ansicht nach kann nur die Verknüpfung aller bisher gedachten und denkbaren Ansätze<br />

eine vorläufige Lösung des Problemes des Wesens bieten, da sowohl die idealistische als auch<br />

328 Im marxschen Hauptwerk findet sich eine ähnliche Auffassung dieses Problemes: "<strong>Die</strong> Freiheit in<br />

diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten<br />

Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche<br />

Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem<br />

geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten<br />

Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit." (MEW 25,828;<br />

MEGA II 4.2,838)<br />

101


die materialistische Schule jeweils nur einen Aspekt des Menschen herausgreift und analysiert,<br />

der Mensch aber über all diese Teilbereiche und Inhalte zugleich verfügt. Richtig ist die<br />

Auffassung, daß der Mensch als Element der Natur den gleichen Bedingungen unterworfen<br />

war wie alle Lebewesen und deshalb mit ihnen vergleichbar war, jedoch gilt dies meiner<br />

Ansicht nach nur für die Frühgeschichte des Menschen, also jene Zeit, die der<br />

Gesellschaftsbildung vorausging. Im Prozeß dieser ersten archaischen Vergesellschaftung, die<br />

durch die Herausbildung eines Bewußtseins, das die Summe der oben beschriebenen<br />

Fähigkeiten ist, erst möglich wurde, kam es zu einer ersten dialektischen Aufhebung dieses<br />

naturwüchsigen Wesens des Menschen, ohne es jedoch gänzlich zu vernichten. Eine Analyse<br />

dieses Prozesses werde ich im Abschnitt "Natur und Mensch" versuchen, um mich so<br />

historisch dem Wesen des Menschen und damit seiner Möglichkeit zur Freiheit zu nähern.<br />

Ein anderer zentraler Punkt auf der Suche nach einem adäquaten Freiheitsbegriff ist der Zwang<br />

zur Historizität, denn je nach der gesellschaftlichen Situation und der Geistesverfassung seiner<br />

Protagonisten wandelt sich die Vorstellung vom Wesen des Menschen und somit auch die<br />

Definition von Freiheit. An die Stelle des logischen Denkvermögens kann der Wille, für das<br />

ethische Bewußtsein das religiöse, anstelle des ästhetischen Schaffens der Lebensdrang gesetzt<br />

werden, doch all diese Vorstellungen beruhen trotz ihrer Differenziertheit auf einem<br />

Grundgedanken, da sie von der Vielzahl der menschlichen Fähigkeiten eine einzige<br />

herausgreifen und von allen übrigen isolieren. <strong>Die</strong>se ausgewählte Fähigkeit wird dann per<br />

definitionem zur wesentlichen menschlichen Eigenschaft erkoren, zur Quelle des Menschseins,<br />

und erscheint je nach der allgemeinphilosophischen Einstellung ihres Vertreters als spezifische<br />

Eigenschaft des Individuums, als Fähigkeit, die durch die Gesellschaft als Ganzes erarbeitet<br />

wurde oder als göttliche Gabe. In all diesen Fällen stößt man jedoch auf ein gleiches<br />

Grundverständnis des Wesens des Menschen, das von den Philosophen, die gemeinhin als<br />

Idealisten bezeichnet werden, mit dem Verweis auf die "Natur" des Menschen an sich<br />

begründet wird, und somit erscheint bei jenen Denkern die Entwicklung dieser Natur als die<br />

Freiheit des Menschen.<br />

Wichtig erscheint mir, diese Konzepte, trotz ihres einseitig idealistischen Charakters des<br />

Freiheitsbegriffes, nicht einfach wegen dieser Prämisse zu verdammen, da dies ein<br />

metaphysisches Überlegenheitsdenken voraussetzen würde, welches wiederum idealistisch<br />

wäre, da es die eigene Geisteskraft höher ansiedeln würde als die anderer Menschen. Jede der<br />

angerissenen Konzeptionen basiert lediglich auf der Abstrahierung und Überhöhung einer<br />

dieser Fähigkeiten, die meiner Ansicht nach nur als Ensemble den Menschen ausmachen, aber<br />

jede Konzeption der Freiheit schöpft ihre Berechtigung aus der ihr zugrundeliegenden Frage,<br />

wenn sie diese für ihre Protagonisten hinreichend beantwortet. Sie verfehlen jedoch den Kern<br />

des Freiheitsproblemes, da sie nicht den ganzen Menschen zum Ausgangspunkt ihrer<br />

Überlegungen machen, sondern nur eine seiner spezifischen Fähigkeiten, die ihn von anderen<br />

Lebewesen dieses Planeten unterscheidet.<br />

Friedrich Engels analysierte als eine Ursache für die weite Verbreitung eines idealistischen<br />

Weltbildes den Umstand, daß "es nun einmal nicht zu vermeiden (ist), daß alles, was einen<br />

Mensch bewegt, den Durchgang durch seinen Kopf machen muß (...). <strong>Die</strong> Einwirkungen der<br />

Außenwelt auf den Menschen drücken sich in seinem Kopf aus, spiegeln sich darin ab als<br />

102


Gefühle, Gedanken, Triebe, Willensbestimmungen, kurz als 'ideale Strömungen', und werden<br />

in dieser Gestalt zu 'idealen Mächten'." 329 Wenn man sich dieser Auffassung anschließt, wird<br />

verständlich, daß die verschiedenen Formen der Erkenntnis, seien sie philosophischtheoretischer,<br />

ethischer, ästhetischer oder religiöser Natur, im Kopf eines jeden spezifischen<br />

Individuums gespiegelt und modifiziert werden und daß dies in enger Kopplung zum<br />

gesellschaftlichen Umfeld des Menschen geschieht, denn auf die Möglichkeit zur Erkenntnis<br />

des Individuums wirkt nicht nur die Klassenzugehörigkeit ein, wie es die Vulgärmarxisten<br />

behaupten, sondern auch die historische Situation und die individual-psychologische<br />

Besonderheit des Individuums, sowie die Interaktion mit seiner Umwelt. Alles, was einen<br />

Menschen bewegt, tritt unmittelbar in sein Bewußtsein ein und manifestiert sich dort als<br />

Streben ethischer, ästhetischer, religiöser oder sonstiger ideeller Art.<br />

<strong>Die</strong> Sachlage, die das Bewußtsein des Menschen zu diesem Reflex veranlaßte, wird in dem<br />

Prozeß ihrer Verarbeitung durch die "Spiegelung" auf den Kopf gestellt, ähnlich einem Bild in<br />

einer camera obscura. <strong>Die</strong> ideelle Motivierung produziert sich dabei als Ursprüngliches,<br />

Natürliches, als das, was die menschliche Tätigkeit bestimmt, da in dem Prozeß der<br />

Verarbeitung des Reflexes das ursprünglich reale Motiv aufgehoben wurde und damit für den<br />

Menschen ausgelöscht erscheint. Ein Zugriff auf die Erinnerung der Realität wäre dann nur<br />

über den Umweg einer Kombination der theoretischen, ethischen, ästhetischen oder anderen<br />

ideellen Verarbeitungen dieser spezifischen Realität zu einem neuen alten Bild möglich,<br />

während die Philosophen des Idealismus - mit Ausnahme der theologisch-mystischen Denker -<br />

einen anderen Weg gehen, auf dem sie den Menschen als Ursache aller Prozesse sehen.<br />

<strong>Die</strong> Beschränkung auf den ideellen Menschen und die damit einhergehende Negierung der<br />

realen Voraussetzungen des Denkens durch den schöpferisch seine Welt erfahrenden<br />

Menschen, sowie des Prozesses der Bewußtwerdung des Menschen, engt die Grenzen des<br />

Problemes der Freiheit willkürlich ein. Tatsächlich sieht man, solange man das sich selbst<br />

bewußte Subjekt ausschließlich als Ursache gesellschaftlicher Handlungen betrachtet, von dem<br />

realen Umstand ab, daß es gleichzeitig auch Resultat ist. Nichtsdestotrotz ist die<br />

Bewußtwerdung des Menschen als gestaltendes Wesen und die Überwindung des<br />

deterministischen, theologischen Weltbildes ein enormer Fortschritt in der Geschichte der<br />

Philosophie.<br />

Wenn die oben getroffene Prämisse, daß eine Suche nach Freiheit eine Suche nach dem<br />

Wesen des Menschen sein muß, geteilt wird, setzt dies eine Analyse des gesellschaftlichen<br />

Umfeldes des Menschen voraus, da der vergesellschaftete Mensch keinen Inhalt hat außer<br />

dem gesellschaftlichen. Hier liegt die Ursache der Ursachen, der wirkliche Ursprung des<br />

menschlichen Handelns und damit auch der Freiheit. Anders als der Marxismus gehe ich<br />

jedoch davon aus, daß der Prozeß der Vergesellschaftung des Menschen seine Natur nur<br />

aufhebt und überdeckt, ohne sie absolut zu negieren, daß also eine Analyse des Menschen und<br />

der Gesellschaft nicht ohne Betrachtung dieses Prozesses der ersten Vergesellschaftung<br />

auskommen kann. Eine der Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer solchen Sicht der Welt ist<br />

die Tatsache, daß im Fortgang der historischen Entwicklung sowie in jedem Erkenntnisprozeß<br />

329 MEW 21,282.<br />

103


Ursache und Wirkung, Grund und Folge ständig die Plätze tauschen und sich mit ihnen eine<br />

dialektische, wechselseitige Umwandlung vollzieht. <strong>Die</strong>ser Umstand verleiht dem Streit<br />

zwischen den Philosophen, die ein Konzept eines gestaltenden Menschen als Ursache<br />

vertreten, und denen, die den Menschen als Folge äußerer Einflüsse verstehen, den Anschein<br />

zweier extremer Gegensätze - mit einem Wort der ewige Kampf zwischen Voluntaristen und<br />

Fatalisten. Beide Positionen führen Phänomene der Alltagserfahrung des gesellschaftlichen<br />

Menschen an, um ihre Thesen zu untermauern, und beide haben recht, gab es doch, wenn man<br />

die geschichtliche Entwicklung untersucht, Perioden, in denen die geistige Entwicklung den<br />

gesellschaftlichen Realitäten weit voraus war und die Veränderung des Selbstbewußtseins der<br />

Menschen im Laufe der Zeit zu einer Veränderung der menschlichen Gesellschaft geführt hatte.<br />

So wurde die große französische Enzyclopädie von Diderot u.a. nicht während oder nach der<br />

französischen <strong>Revolution</strong> verfaßt, sondern fünfzig Jahre vor diesem Ereignis. Es finden sich<br />

aber auch Perioden, in denen sich die Menschen ohne Widerstand einer fremden Macht<br />

unterworfen haben bis sie von außen "befreit" wurden und sich dann diesen "Befreiern"<br />

willenlos unterwarfen - die neuere deutsche Geschichte belegt dies auf tragische Weise.<br />

Das Freiheitsproblem bedeutet für Menschen, die für ein Mehr an Freiheit eintreten - und nur<br />

für solche ist eine Untersuchung über die Möglichkeiten zur Freiheit von Interesse -, in<br />

Gesellschaften die Fähigkeit zu entwickeln, diese Ideale unter Bedingungen zu verteidigen, in<br />

denen jeder Gedanke, jede Äußerung ihres eigenen Lebens im krassen Widerspruch zur<br />

Wirklichkeit steht und diese dem Anschein nach keinerlei Anlaß bietet, auf eine bessere<br />

Zukunft und damit auf eine Durchsetzung ihrer Ideale zu hoffen. <strong>Die</strong>se Menschen befinden sich<br />

in dem hoffnungslosen Zwiespalt zwischen dem, was sie sein wollen, und dem, was sie sein<br />

können.<br />

In der Vergangenheit dauerten solche Perioden nicht ewig, auch wenn es dem durch seine<br />

begrenzte Lebensspanne eingeschränkten Menschen so vorkommen mußte. Der "tragische"<br />

Charakter solcher Übergangsepochen offenbart jedoch bei Betrachtung der Gesamtheit der<br />

menschlichen Geschichte, daß sie Anzeichen für die Vergänglichkeit der alten und für die<br />

Notwendigkeit einer neuen Ordnung sind, ob aber diese neue Ordnung die Wünsche und<br />

Hoffnungen, die ihr vorangingen, erfüllen kann, steht dabei auf einem anderen Blatt. <strong>Die</strong> Tragik<br />

des Daseins der freiheitlichen Menschen in diesen Perioden belegt, daß ein solcher Übergang<br />

bereits begonnen hat, auch wenn er dem konkreten Individuum verschlossen bleibt. Der<br />

Widerspruch zwischen den Idealen der Menschen und ihrem realen "feindlichen" Sein ist die<br />

Widerspiegelung "objektiver" Widersprüche der Entwicklung des materiellen gesellschaftlichen<br />

Seins auf die menschliche Ebene des Individuums. In Wirklichkeit ist die ideelle Freiheit nichts<br />

anderes als die abstrakte Negierung der Notwendigkeiten des menschlichen Seins und steht in<br />

direkter Abhängigkeit zu der Versklavung des Menschen durch die materiellen Bedingungen.<br />

Marx und Engels entwickelten bei ihren Überlegungen zum Problem der Freiheit, wie im<br />

weiteren gezeigt wird, die These, daß der Mensch nicht nur gestaltende Ursache seiner<br />

Umwelt ist, als die er nach Ansicht der - vermeintlich idealistischen - klassischen deutschen<br />

Philosophie erscheint, sondern auch als Gestalteter die Folge der Handlungen anderer ist. Da<br />

beide während der Hochphase des Idealismus lebten, sahen sie sich in ihren Schriften vor<br />

allem genötigt, die zweite - vermeintlich materialistische - Seite dieses dialektischen<br />

104


Verhältnisses besonders zu betonen und herauszuarbeiten. Der Marxismus begann schon zu<br />

Lebzeiten von Marx, die Dialektik dieses Verhältnisses zu verdrängen und den dialektischen<br />

Ansatz zur Lösung des Freiheitsproblemes durch einen formal-logischen Determinismus zu<br />

ersetzen, so daß der Marxismus die ihm gegenübertretende Antinomie zwischen dem "freien"<br />

und dem "bedingten" Menschen, dem "gestaltenden Menschen" und dem "Menschen, der<br />

gestaltet wird" nur auf eine einzige Weise lösen konnte, indem er den Schwerpunkt auf die<br />

Begründung der "Bedingtheit" des gesellschaftlichen Menschen, seine "Abhängigkeit" von der<br />

Totaltät verlegte. <strong>Die</strong> Betonung der These (z.B. von Stalin und seinen Epigonen), daß der<br />

Mensch unter anderem auch gestaltet, schafft usw., wurde so zur leeren Phrase und die Frage<br />

der menschlichen Freiheit fallengelassen, so daß sich die positive Begründung der Freiheit von<br />

einem notwendigen, objektiven Moment der Befreiung zu einem als kleinbürgerlich ernannten,<br />

"psychologischen", subjektiven Freiheitsgefühl verwandelte.<br />

Das Freiheitsproblem wurde auf diese Weise zu einem fiktiven, illusorischen Problem und die<br />

"positiv" gewendete Notwendigkeit einer nun inhaltsleeren Befreiung erwies sich schließlich als<br />

einzige materielle Realität - eine Befreiung ohne positive Begründung der Freiheit ist aber nicht<br />

nur eine normale Despotie, sondern da sie bei breiten Teilen der zuvor Aktiven ihr Streben<br />

nach Freiheit zerstört, wird sie zu einem größeren Hindernis auf dem Weg zu positiver Freiheit<br />

als die düsterste Diktatur. Als Legitimation für diese Befreiung ohne Freiheit mußte Karl Marx<br />

herhalten, aus dessen Werk völlig isoliert ein Element entnommen wurde, um darauf eine<br />

eigene Theorie aufzubauen, die durch ihre Isoliertheit in Widerspruch zu ihrem Ursprung trat,<br />

ja treten mußte. Nach dieser Auffassung wird der Mensch, lange bevor er als selbstbewußtes<br />

Subjekt schöpferisch seiner Welt gegenübertritt, durch die Totalität des Seins zu einer<br />

Objektrolle verdammt, in der jegliches Selbstbewußtsein nur eine Methode sein kann, sich<br />

über seine eigene Situation in dieser sozio-ökonomischen Wirklichkeit Gewißheit zu<br />

verschaffen. <strong>Die</strong>se Schlußfolgerung ist an für sich richtig, doch wird sie durch ihre Isoliertheit<br />

falsch und problematisch, denn wenn Freiheit lediglich als subjektives Empfinden, als<br />

Einbildung und Widerspiegelung der herrschenden bürgerlichen Ideologie der Freiheit<br />

verstanden wird, warum sollten dann Menschen eine <strong>Revolution</strong> versuchen, um diese zu<br />

erlangen? Genügt es nicht zur Etablierung einer solchen "scheinbaren" Freiheit eine Ideologie zu<br />

instrumentalisieren, die jedem Individuum das subjektive Empfinden einer - wenn auch<br />

illusorischen - Freiheit gäbe?<br />

Der selbsternannte dialektisch-materialistische Ansatz verfehlt also genau wie der sogenannte<br />

idealistische Ansatz durch seine Beschränkung auf eine Seite des Widerspruchspaares<br />

"Mensch als Ursache - Mensch als Folge" den Kern der Freiheitsproblematik. Aber wo liegt<br />

die Lösung dieses Widerspruches? Gelangt man nicht zwangsläufig zu einem unendlichen<br />

Regreß, wie z.B. dem ewigen Wechsel von Ursache und Wirkung in der menschlichen<br />

Geschichte, ohne je den Grund für diese endlose Wechselwirkung erkennen zu können?<br />

Aber wie die menschliche Geschichte einen Anfang hat und von dort aus Ursache und<br />

Wirkung untersucht werden können, muß auch jeder ernsthafte Erklärungsversuch des<br />

Widerspruchspaares "Mensch als Ursache - Mensch als Folge" dort beginnen, wo der<br />

Mensch in seine menschliche - d.h. gesellschaftliche - Geschichte eintrat, denn nur dort ist, im<br />

Gegensatz zur Natur, Freiheit möglich und nötig.<br />

105


3.1.1. Natur und Mensch - Genese eines Wesens<br />

<strong>Die</strong> Geschichte des Werdens des Menschen muß zeigen, was er ursprünglich ist, "Mensch als<br />

Ursache" oder "Mensch als Folge", und so muß die Geschichte der Entwicklung der<br />

Menschheit von diesem Beginn bis in unsere Zeit enthüllen, auf welche Weise sich einerseits<br />

die Wechselwirkung zwischen dem gestaltenden und dem gestaltet werdenden Menschen und<br />

andererseits das Verhältnis von Ursache und Wirkung formiert hat, und somit verwandelt sich<br />

das Problem der Freiheit in eine Analyse der Genese des Menschen, seines Schrittes aus der<br />

Natur, mit dem er Mensch und die Natur Natur geworden ist. <strong>Die</strong> Vorstellung einer Natur<br />

ohne Mensch ist eine Tautologie, da erst die Existenz des Menschen die Betrachtung von und<br />

das Denken über Natur möglich macht. Reine Naturphilosophie ohne Einbeziehung des<br />

Menschen ist nicht möglich, da der Mensch als Subjekt der Untersuchung immer seine eigenen<br />

Wertmaßstäbe anlegt und so, da er die Welt mit seinen Augen und seinen Sinnen sieht, fühlt,<br />

hört, schmeckt und ertasten kann, auch nur wahrnehmen kann, was seine Sinne wahrzunehmen<br />

bereit sind. Somit ist die Diskussion, die durch die Verbindung von Kant und Marx entstanden<br />

ist und in der es um die Frage einer "Welt im Spiegel" und einer "Welt nach Menschmaß" geht,<br />

müßig, da letzte Erkenntnisse über die reale Struktur der Natur nach meiner Auffasssung nur<br />

post festum möglich sind. Da aber der Mensch als Teil der Natur nie in den "Genuß" kommen<br />

wird, sich selbst und seine Umwelt post festum betrachten zu können, wird sich nie mit letzter<br />

Gewißheit klären lassen, ob die Welt so ist, wie wir sie sehen oder nicht.<br />

Wie äußerte sich die Herausbildung des Menschen? Gab es irgendwann einen qualitativen<br />

Sprung und woran läßt sich dieser deutlich machen? Nach Engels ist die Arbeit "die erste<br />

Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in<br />

gewissem Sinne sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen." 330 "Arbeit zuerst,<br />

nach und dann mit ihr die Sprache - das sind die beiden wesentlichen Antriebe, unter deren<br />

Einfluß das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommnere<br />

eines Menschen allmählich übergegangen ist." 331 <strong>Die</strong>se oft zitierten Passagen belegen deutlich<br />

das Problem, das Engels mit der Philosophie hatte: <strong>Die</strong> Arbeit erschafft den Menschen – wer<br />

aber schuf die Arbeit? In dem Definitionsversuch von Engels findet man nichts, was einem<br />

nicht auch im heutigen Menschen begegnet, der auch weiterhin das Produkt der Arbeit,<br />

ebenso wie die Arbeit das Leben des Menschen ist. "Mensch als Ursache" und "Mensch als<br />

Folge" treten erneut als untrennbare Einheit in das Licht der Betrachtung. Obwohl Engels die<br />

"Menschwerdung des Affen", also das Werden des Menschen, untersuchen wollte, tritt dem<br />

Leser das Tier "Mensch" bereits als gewordener Mensch entgegen, denn die Fähigkeit der<br />

Arbeit setzt, wenn man den auf Aristoteles zurückgehenden Arbeitsbegriff von Marx<br />

verwendet, bereits die Fähigkeit des logischen Denkens und des Selbstbewußtseins voraus.<br />

Ohne die Fähigkeit der teleologischen Setzung der Zielkategorie des Arbeitsprozesses<br />

unterscheidet sich der Baumeister ja gerade nicht von der Biene des marxschen Beispieles 332<br />

und wäre somit weder Mensch noch im Prozeß der Arbeit begriffen, so daß eine Annäherung<br />

330 MEW 20,444.<br />

331 MEW 20,447.<br />

332 MEW 23,193.<br />

106


an das Werden des Menschen mittels der Kategorie der Arbeit nicht möglich scheint, da diese<br />

bereits den voll entwickelten Menschen voraussetzt.<br />

Vor einer, zugegebenermaßen sehr populärwissenschaftlichen Annäherung an das Werden des<br />

Menschen bietet es sich an, kurz die anthropologischen Grundgedanken der beiden oben<br />

diskutierten philosophischen Schulen, die verkürzt als Idealismus und Materialismus bezeichnet<br />

werden, anzusprechen.<br />

Immanuel Kant will in seiner Studie "Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" 333 von<br />

1786, parallel zur Schöpfungsgeschichte des 1.Buch Moses, nachweisen, daß sich aus der<br />

"Darstellung der ersten Menschheitsgeschichte ergibt: daß der Ausgang des Menschen aus<br />

dem, ihm durch die Vernunft, als erster Aufenthalt seiner Gattung vorgestellten, Paradiese nicht<br />

anders, als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die<br />

Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Wort:<br />

aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei." 334 Charakteristisch<br />

für diese Form der Philosophie ist, daß Kant, bevor er "die Entwicklung des Sittlichen in<br />

seinem Tun und Lassen" 335 thematisiert, über die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit des<br />

Menschen reflektiert. Für ihn ist es zutiefst problematisch über den Anfang des Menschen zu<br />

philosophieren, da der Mensch in dieser Phase instinkt- und somit fremdbestimmt war. <strong>Die</strong><br />

Ausdehnung der Vernunft auf Objekte außerhalb der Vernunft widerspricht aber der<br />

Grundthese Kants, nach der es unmöglich ist, hinter den Stand der konkreten, historischgewordenen<br />

Vernunft zurückzutreten 336 und somit kann der Naturzustand des Menschen nur<br />

als Idee gedacht werden und die Betrachtung des Werdens des Menschen erst dort einsetzen,<br />

wo "der erste Mensch" "stehen", "gehen", "sprechen", "reden" und "mithin denken" konnte. 337<br />

Der Mensch verfügte nach Kant also schon im Naturzustand über potentielle Vernunft und<br />

"allein die Vernunft fing bald an sich zu regen." 338 Das Grundproblem dieser Sichtweise geht<br />

auf Kants Versuch einer Rationalisierung des Schöpfungsmythos der Bibel zurück, der sich<br />

wie ein roter Faden durch seine "Mutmaßungen" zieht - so ist der Sündenfall des Menschen<br />

nicht einfach auf die Boshaftigkeit der Schlage, die Eva zum Pflücken des Apfels vom Baum<br />

der Erkenntnis überredete, zurückzuführen, sondern "es ist eine Eigenschaft der Vernunft, daß<br />

die Begierden mit Beihülfe der Einbildungskraft, nicht allein ohne einen darauf gerichteten<br />

Naturtrieb, sondern sogar wider denselben erkünsteln kann, welche im Anfange den Namen<br />

der Lüsternheit bekommen" 339 wird. Mit dem potentiellen Vermögen der Vernunft ist somit<br />

der erste Schritt für die Überschreitung des durch die Naturschranken aufgezeigten Paradieses<br />

333 Ich zitiere nach: Immanuel Kant; Werkausgabe; Frankfurt/Main 1978; Bd.11, S.85-102. Vgl. auch:<br />

Gniffke, Franz; <strong>Die</strong> Gegenwärtigkeit des Mythos in Kants Mutmaßungen über den Anfang der<br />

Menschheitsgeschichte; in: Zeitschrift für philosophische Forschung 38/1984; sowie: Lutz-<br />

Bachmann, Matthias; Geschichte und Subjekt - Studie zur Bedeutung und Problematik der<br />

Geschichtsphilosophie im Werk von Immanuel Kant und Karl Marx - Phil.Diss.; Frankfurt/Main<br />

1981.<br />

334 Kant 1978; 11,92.<br />

335 Kant 1978; 11,87.<br />

336 Vgl.: Kant 1978; 11,89.<br />

337 Kant 1978; 11,86/87.<br />

338 Kant 1978; 11,87.<br />

339 Kant 1978; 11,88.<br />

107


gegeben und damit auch die Auflösung der dort herrschenden Dominanz des Instinktes durch<br />

das Streben nach individueller Herrschaft der Vernunft. "Er entdeckt in sich ein Vermögen,<br />

sich selbst eine Lebensreise auszuwählen, und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige<br />

gebunden zu sein." 340 Auch die von Kant gesetzte "natürliche" Paarbeziehung des Menschen<br />

wandelte sich durch die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen "Lebensreisen", denn<br />

die "Weigerung war das Kunststück, um von bloß empfundenen zu idealischen Reizen, von der<br />

bloß tierischen Begierde allmählich zur Liebe" 341 zu gelangen, und hier sieht Kant die<br />

Grundlage des Menschen als "sittliches Wesen" auf seinem Weg zu einer "wahren<br />

Geselligkeit" 342 angelegt. <strong>Die</strong> Wahlmöglichkeit der Existenz des Einzelwesens, wie die des<br />

Paares, verlangen geradezu nach einer Rationalisierung und damit nach einer "überlegten<br />

Erwartung des Künftigen" 343 . Aufgrund all dieser für Kant zwangsläufigen Schritte war der<br />

"vierte und letzte Schritt, den die Menschen über die Gesellschaft mit Tieren gänzlich<br />

erhebende, Vernunft tat, daß er (wiewohl nur dunkel) begriff, er sei eigentlich der Zweck der<br />

Natur" 344 , nur logisch. <strong>Die</strong>se deterministische Entwicklung des Menschen "aus der<br />

Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit" 345 läßt für das vernünftige Individuum nur<br />

eine Möglichkeit offen: "mit der Vorsehung zufrieden zu sein" 346 .<br />

Kants Rolle als bedeutende Gestalt der Philosophiegeschichte kann für den Gegenstand der<br />

hier unternommenen Betrachtung nicht verdecken, daß er über eine mechanistische Reduktion<br />

der Genese des Menschen aus seinem Projekt der Aufklärung nicht hinauskommt. Der<br />

Mensch wird als vernünftiges Wesen in Paarbeziehung a priori gesetzt und, da es nach der<br />

kantschen Übertragung der newtonschen Mechanik auf die Geschichtsphilosophie keine<br />

Rückentwicklung geben darf, drängt die im Beginn nur potentielle Vernunft nach<br />

Verwirklichung. Der Mensch hat sich diesem Telos, das nun Vernunft heißt, genauso zu<br />

unterwerfen wie der Christ der göttlichen Fügung, nur daß der Aufklärer um die Geheimnisse<br />

seines Mythos wissen darf. Das Zentralproblem der Aufklärung - das fehlende Subjekt - muß<br />

naturgemäß bei der Genese des Menschen besonders deutlich werden und Kants Verweis auf<br />

die göttliche Hand als deus ex machina kann heute im Gegensatz zu 1786 als hinreichende<br />

Begründung wenig überzeugen. Auch eine Aktualisierung der kantschen Philosophie scheint<br />

mir, zumindest im Bereich der Geschichtsphilosophie, nicht möglich, denn Aussagen wie: "<strong>Die</strong><br />

Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte<br />

der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk" 347 sind derart absolut, daß sie nur<br />

entweder falsch oder richtig sein können, wobei ich aus vielerlei Gründen für ersteres plädieren<br />

würde. Abschließend muß also gesagt werden, daß der Rückbezug auf Kant nur verdeutlicht,<br />

daß die Frage der Genese eine zutreffende Scheidemarke zwischen idealistischer und<br />

praktischer Philosophie zu sein scheint, da die eine einen idealisierten, leblosen Menschen, die<br />

340 Kant 1978; 11,88.<br />

341 Kant 1978; 11,89.<br />

342 Kant 1978; 11,90.<br />

343 Kant 1978; 11,90.<br />

344 Kant 1978; 11,90/91.<br />

345 Kant 1978; 11,92.<br />

346 Kant 1978; 11,99.<br />

347 Kant 1978; 11,93.<br />

108


andere aber den realen Menschen mit all seinen Problemen, Nöten und Wünschen zum Inhalt<br />

und vor allem zum Ziel hat.<br />

Als bedeutenden Vertreter der materialistisch genannten Schule soll Ludwig Feuerbachs<br />

anthropologische Position beleuchtet und auf ihre Bedeutung für das hier unternommene<br />

Projekt abgeklopft werden. In seinem Hauptwerk "Das Wesen des Christentums" 348<br />

überrascht der als Atheist gefürchtete Feuerbach den Leser mit dem Bekenntnis: "Ich habe<br />

also die ruchlose Frechheit gehabt, das von den modernen Scheinchristen vertuschte und<br />

verleugnete wahre Christentum aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Licht wieder<br />

hervorzuziehen." 349 Er greift damit das von Kant begonnene Projekt der Aufklärung auf,<br />

jedoch nicht ohne der geistigen Entwicklung, die in den 50 Jahren seit der Abfassung des<br />

obigen Textes vergangen waren, Rechnung zu tragen. Feuerbach beläßt es nicht bei dem<br />

Versuch einer Rationalisierung des biblischen Schöpfungsmythos, sondern er vollzieht die<br />

geistige Kehre und konfrontiert die Religion mit der Vernunft, womit er die Aufklärung<br />

vollendet, die sich als Entwicklung vom Glauben zum Wissen manifestiert. "Wir haben<br />

bewiesen, daß der Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher ist, und zwar<br />

menschlicher in dem doppelten Sinne dieses Wortes, in welchem es ebensowohl etwas<br />

Positives als Negatives bedeutet, daß die Religion nicht nur die Mächte des menschlichen<br />

Wesens, sondern selbst auch die Schwachheiten, die subjektiven Wünsche des menschlichen<br />

Herzens, wie z.B. in den Wundern, unbedingt bejaht - bewiesen, daß auch die göttliche<br />

Weisheit menschliche Weisheit, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie, des<br />

absoluten Geistes der sogenannte endliche subjektive Geist ist." 350 Wenn also die Theologie,<br />

soweit sie ehrlich ist, keinen anderen Inhalt haben kann als die Philosophie, warum sollte man<br />

dann noch Theologie betreiben 351 , oder für das hier behandelte Projekt noch nach Gottes<br />

Einfluß fragen, wenn die Anthropologie der Schlüssel für das Wesen des Menschen ist? Der<br />

Grundgedanke des gesamten Werkes ist "ungefähr dieser: Das selbst objektive Wesen der<br />

Religion, insbesondere der christlichen, ist nichts anderes als das Wesen des menschlichen,<br />

insbesondere christlichen Gemüts, das Geheimnis der Theologie daher die Anthropologie." 352<br />

<strong>Die</strong>se, sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch ziehende These entwickelte<br />

Feuerbach in zwei großen Abschnitten, zum einen unter dem Gesichtspunkt der Religion und<br />

dem Wesen des Menschen und zum anderen im Hinblick auf den Widerspruch dieser beiden<br />

Kategorien.<br />

Gleich zu Beginn seiner Betrachtung arbeitet Feuerbach die Identität von Religion und dem<br />

Wesen des Menschen heraus - eine Identität, die demonstriert, daß die Religion nicht zufällig,<br />

nicht willkürlich entstanden ist, sondern ihre ursächliche Begründung der Mensch selbst ist.<br />

348 Feuerbach, Ludwig A.; Gesammelte Werke; Bd.5: Das Wesen des Christentums; Berlin/DDR 1984.<br />

Vgl. auch: Feuerbach 1967; Ascheri, Carlo; Feuerbachs Bruch mit der Spekulation; Frankfurt/Main<br />

1969; Thier, Erich; Ludwig Feuerbach; Darmstadt 1976.<br />

349 Feuerbach 1984; 5,10.<br />

350 Feuerbach 1984; 5,443.<br />

351 Vgl. auch meine Studie "Dann muß man sich eben in die Philosophie flüchten, wenn man Gott<br />

erkennen will" - Anmerkungen zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte;<br />

Münster 1992.<br />

352 Ludwig Feuerbach; Briefwechsel; Leipzig 1963; S.140/141.<br />

109


Prinzipiell beruht die Religion "auf dem wesentlichen Unterschiede des Menschen vom<br />

Tier" 353 , denn Religion kann nur der denkende, mit Bewußtsein versehene Mensch entwickeln,<br />

während "die Tiere keine Religion haben" 354 . Ausgehend von dieser These widmet sich<br />

Feuerbach nun der Suche nach dem "Wesen des Menschen" 355 , wobei für ihn der zentrale<br />

Unterschied zwischen Mensch und Tier im Vorhandensein von Bewußtsein begründet liegt,<br />

denn "Bewußtsein im strengsten Sinne (ist) nur da, wo einem Wesen seine Gattung, seine<br />

Wesenheit Gegenstand ist." 356 Gemeint ist damit die menschliche Fähigkeit, die Schranken<br />

der individuellen Endlichkeit dadurch "aufzuheben", daß er im Bewußtsein von Unendlichkeit<br />

und Vollkommenheit der Gattung über sich hinausgehen kann, ohne jedoch die menschliche<br />

Wesensbestimmung zu verlassen oder negieren zu müssen oder zu können, denn "der Mensch<br />

kann nun einmal nicht über sein wahres Wesen hinaus." 357 Der Mensch hat also im Gegensatz<br />

zum Tier eine "zweifache" Existenz, da er im Bewußtsein sich selbst Gegenstand ist: "Der<br />

Mensch ist sich selbst zugleich Ich und Du." 358 <strong>Die</strong>ses Selbst-Bewußtsein erschöpft sich nicht<br />

in der Selbst-Erkenntnis des Individuums, sondern richtet sich über die a priorischen<br />

"Gattungsfunktionen" Denken und Sprechen auf die Gattung und somit ist die Konstituierung<br />

eines Bewußtseins an die Notwendigkeit eines dem Individuum äußerlichen Gegenstandes<br />

gebunden. "An dem Gegenstande wird daher der Mensch seiner selbst bewußt: Das<br />

Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen." 359 Da es Feuerbachs<br />

"materialistischer Anthropologie" trotz aller Verweise auf "natürliche" Gattungsfunktionen nicht<br />

gelingt, die Existenz des Menschen ohne die apriorische Setzung der rein geistigen Qualität<br />

"Bewußtsein" herzuleiten, bleibt er auf halber Strecke stecken, da er es nicht vermag, die<br />

Existenz des Menschen aus sich selbst heraus zu begründen - auch wenn dieser Ansatz einen<br />

großen Fortschritt gegenüber Kant darstellt. Jede Anthropologie, die ausgeht vom "fertigen"<br />

Menschen mit Bewußtsein, der sprechen und denken kann, ist zum Scheitern verurteilt, da dies<br />

keine Anthropologie im wissenschaftlichen Sinne ist, sondern idealistische Spekulation bleibt.<br />

Mit der Etablierung des dialektischen Verhältnisses Individuum und Gattung, das im<br />

Mittelpunkt der feuerbachschen Suche nach dem Wesen des Menschen steht, bot sich ihm,<br />

anknüpfend an Hegel, die Möglichkeit zur Erkenntnis der Selbstentfremdung des Menschen -<br />

ein Element, das hier untersucht werden soll, da es als Gegenstand des nächsten Abschnittes<br />

auch für meine Herleitung des Menschen und damit letztlich auch für das Problem der Freiheit<br />

von großer Bedeutung ist.<br />

"Unsere Aufgabe ist es eben, nachzuweisen, daß der Gegensatz des Göttlichen und<br />

Menschlichen ein durchaus illusionärer, daß er nichts andres ist als der Gegensatz zwischen<br />

dem menschlichen Wesen und dem menschlichen Individuum, daß folglich auch der<br />

Gegenstand und Inhalt der christlichen Religion ein durchaus menschlicher ist." 360<br />

353 Feuerbach 1984; 5,28.<br />

354 Feuerbach 1984; 5,28.<br />

355 Feuerbach 1984; 5,28.<br />

356 Feuerbach 1984; 5,28.<br />

357 Feuerbach 1984; 5,43.<br />

358 Feuerbach 1984; 5,29.<br />

359 Feuerbach 1984; 5,34.<br />

360 Feuerbach 1984; 5,48/49 (Zusatz 2.Auflage).<br />

110


Dementsprechend wird die Religion nicht als selbständiges Abstraktum bestimmt, sondern<br />

unter die Prämisse subsumiert, die Feuerbach zuvor als anthropologische Bestimmung des<br />

Menschen entwickelt hatte. Da sich für Feuerbach Bewußtsein immer im Dialog mit anderem<br />

entwickelt, kommt er zu der These, daß "das Bewußtsein Gottes das Selbstbewußtsein des<br />

Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen (ist)." 361 Religion und<br />

Gott werden also von ihm soweit rationalisiert, daß sich der Glaube in ein Wissen umwandeln<br />

muß und schließlich das religiöse Streben nach der Erkenntnis Gottes in die Selbsterkenntnis<br />

des Gattungswesens Mensch umschlägt. "Wenn aber die Religion (...) als das<br />

Selbstbewußtsein des Menschen bezeichnet wird, so ist dies nicht so zu verstehen, als wäre<br />

der religiöse Mensch sich direkt bewußt, daß sein Bewußtsein von Gott das Selbstbewußtsein<br />

seines Wesens ist, denn der Mangel dieses Bewußtseins begründet eben die differentia<br />

specifica der Religion." 362 Religion kann also nur in einer Epoche existieren, in der der Mensch<br />

sich seiner selbst als Gattung nicht bewußt ist, oder anders ausgedrückt, in der er sich selbst<br />

fremd ist. Religiöses Streben als Ausdruck des anthropologischen Strebens orientiert somit auf<br />

eine Versöhnung von Individuum und Gattung, auf einen nicht entfremdeten, selbstbewußten<br />

Gattungsmenschen. "Es muß also nachgewiesen werden, daß (...) dieser Zwiespalt von Gott<br />

und Mensch (...), ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eignen Wesen ist." 363 Feuerbach<br />

will die Religion, die Kant noch rational nachvollziehen wollte, völlig rationalisieren, denn für<br />

ihn ist Gott "das objektive Wesen des Verstandes" 364 , "Intelligenz, Geist, reiner Verstand" 365 ,<br />

und somit wird aus Glauben das Streben nach Wissen, an dessen Ende das Reich des<br />

Verstandes als ein Reich der Freiheit stehen soll.<br />

Feuerbachs Entfremdungstheorie beruht wie seine Herleitung des Wesens des Menschen trotz<br />

ihrer großen denkerischen Brillanz auf dem gleichen Grundfehler wie die kantsche<br />

Anthropologie, da er a priori das menschliche Bewußtsein, seine Fähigkeiten zu denken und zu<br />

sprechen voraussetzt und erst dort seine Ausführungen beginnt, die letztlich in eine<br />

bewußtseinsgesteuerte Überwindung der Entfremdung münden. Da er einen idealisierten,<br />

abstrakten Menschen in den Mittelpunkt seines Werkes setzt, kann auch seine Lösung der<br />

Entwicklung des Menschen zu Vernunft und Freiheit nur abstrakt und idealistisch sein.<br />

Ausgangspunkt einer Untersuchung des Werdens des Menschen muß, im Gegensatz zu den<br />

hier angesprochenen Anthropologien, jenes geschichtliche Stadium sein, in dem der Mensch<br />

noch nicht Mensch war, denn nur von dort kann verfolgt werden, welche Veränderungen den<br />

animalischen Vorfahren des Menschen dazu befähigten, sich aus der ihn umgebenden Totalität<br />

"loszureißen". Nach dieser ersten Trennung aus dem reinen Tierreich kann er jedoch aus den<br />

angesprochenen Gründen nicht sofort über alle Fähigkeiten des Menschen verfügt, sondern<br />

muß sich in einem Zwischenstadium befunden haben. Hierbei wäre zu untersuchen, welche<br />

Besonderheiten des Daseins dieses Wesens, das zwischen Tier und Mensch stand, es dazu<br />

befähigte, die Möglichkeit zu entwickeln, sich zum Menschen zu transformieren. Nur durch die<br />

361 Feuerbach 1984; 5,46.<br />

362 Feuerbach 1984; 5,46.<br />

363 Feuerbach 1984; 5,75.<br />

364 Feuerbach 1984; 5,76.<br />

365 Feuerbach 1984; 5,79.<br />

111


Berücksichtigung der Möglichkeit einer anderen Entwicklung kann eine teleologischdeterministische<br />

Sicht, bei der das Ziel des Prozesses, ob bewußt oder unbewußt, bereits im<br />

Anfang enthalten ist, vermieden werden. Wenn man diese Gefahr nicht erkennt, wird jede<br />

noch so intellektuell verpackte Anthropologie, wie etwa bei Kofler, zum schalen Aufguß des<br />

Grundfehlers der aristotelischen Metaphysik mit ihrem bewegungslosen Beweger. Gleichgültig,<br />

ob äußere Mächte oder das Streben nach Verwirklichung des Wesens des Menschen als<br />

"Antriebskraft" der Entwicklung verstanden werden, macht ein geschichts-teleologisches<br />

Denken jedes Forschen nach der Dialektik von "Mensch als Ursache" - "Mensch als Folge"<br />

überflüssig, da mit dem Ziel auch das Motiv und somit die Ursache a priorisch gesetzt werden.<br />

Haupteinwand gegen eine solche Betrachtungsweise ist der Umstand, daß sie zwar richtig den<br />

post festum Charakter wahrer Erkenntnis berücksichtigt, aber andererseits übersieht, daß die<br />

Menschheitsgeschichte, genau wie die Naturgeschichte, nicht post festum betrachtet werden<br />

kann, denn gleichzeitig mit der Möglichkeit zur absoluten Erkenntnis werden Subjekt und<br />

Objekt vergangen sein.<br />

Es darf bei der Betrachtung der Genese des Menschen keine einzige menschliche Eigenschaft<br />

a priori vorausgesetzt werden, sondern es muß untersucht werden, welche "natürlichen"<br />

Veränderungen das Leben des einen "Naturwesens", das später Mensch werden sollte, es von<br />

den anderen "Naturwesen" entfernte, wobei diese Vorgehensweise mehr den "exakten<br />

Wissenschaften" als der Philosophie entspricht und fließend in Archäologie und Anthropologie<br />

übergeht. Da dies keine Arbeit im Rahmen einer exakten Analyse und Diskussion der<br />

vorliegenden anthropologischen Fakten und Theorien sein kann, muß hier eine Verkürzung<br />

vorgenommen werden, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen.<br />

<strong>Die</strong> Mehrheit der heutigen Forscher 366 geht von einer Phase aus, in der das Einzelexemplar<br />

der Gattung in enger Bindung mit anderen eine Horde bildete, die auch als "natürliche<br />

Vergesellschaftung" verstanden werden kann und in der die nächsten Verwandten der<br />

Menschen, die Schimpansen, noch heute leben. Das Einzelexemplar konnte sich nur im<br />

Rahmen dieser Horde erhalten und nicht zuletzt reproduzieren, auch wenn die Horde dadurch<br />

nicht völlig determiniert worden ist. Lebensraum dieser Horden war, nach Ansicht der<br />

Mehrheit der Forscher, der afrikanische Regenwald, bis dieser für die schnell zunehmende<br />

Population nicht mehr genug Nahrung hergab und nach und nach ein Teil dieser Spezies -<br />

vermutlich schwächere Exemplare - vor ca. 3,5 Millionen Jahren gezwungen wurde, in die<br />

ostafrikanische Savanne auszuweichen und sich dort zu neuen Horden formierte. <strong>Die</strong>ser<br />

366 Da dies keine fachwissenschaftliche Studie über die menschliche Genese ist, sei an dieser Stelle<br />

exemplarisch auf die verwendete Literatur hingewiesen, da im weiteren nicht jede Aussage belegt,<br />

sondern relativ frei Gedanken aus dem anthropologischen Diskurs entnommen werden: Aiello,<br />

Leslie/ Dean, Christopher; Human evolutionary anatomy; San <strong>Die</strong>go 1990; Ardrey, Robert; Adam<br />

kam aus Afrika; München 1989; Diamond, Jared; Der dritte Schimpanse - Evolution und Zukunft<br />

des Menschen; Frankfurt/Main 1994; Isaac, Glynn L.; The archaeology of human origins; New York<br />

1989; Le Gros Clark, Wilfrid; Man-apes or ape-men? The story of discoveries in Afrika; New York<br />

1967; Lewin, Roger; Bones of Contention; New York 1987; ders./ Leakley, Richard E.; Der Ursprung<br />

des Menschen - Auf der Suche nach den Spuren des Humanen; Frankfurt/Main 1993; Provine,<br />

William B.; The origins of theoretical population genetic; Chicago 1986; und insbesondere: Wills,<br />

Christopher; Das vorauseilende Ge hirn - <strong>Die</strong> Evolution der menschlichen Sonderstellung;<br />

Frankfurt/Main 1996.<br />

112


erzwungene Wechsel des Lebensraumes, der bei gutem Willen an die biblische Vertreibung<br />

aus dem Paradies erinnern kann, zwang die Spezies aus drei Gründen - "bei Strafe des<br />

Unterganges" - im Laufe der Evolution, sich mehr und mehr aufzurichten und sich so von einem<br />

partiellen zu einem ständigen Zweifüßler zu wandeln, von denen das heute bekannteste<br />

Exemplar auf den Namen Lucy "hört" und vor 3,2 Millionen Jahren im Hadar-Tal in Nord-<br />

Äthiopien lebte. 367 <strong>Die</strong>se drei Gründe sind: a) die bessere Sicht aus einem "erhabeneren" Gang<br />

auf der Suche nach Aas - der neuen Hauptnahrung -, aber auch zum Aufspüren von<br />

"natürlichen" Feinden; b) die bessere Kühlung des Körpers in "höheren" Luftschichten als<br />

Ausgleich für den "verlorenen" Lebensraum auf und zwischen Bäumen; c) die geringere<br />

Sonneneinstrahlung auf den aufrechten Körper in der schattenlosen Savanne als Ausgleich für<br />

den fehlenden Sonnenschutz der Blätter des Regenwaldes. Also wäre, wenn man diesen<br />

Theorien, deren Kernstück in Vergleichen des Knochenbaues, im Bezug auf die<br />

Mitochondrien-DNA und in Vergleichen der Größe und Komplexität des Gehirns besteht,<br />

Glauben schenken will, die von der "Natur" erzwungene Veränderung des Lebensraumes<br />

dieser Spezies die primäre Ursache für die Herausbildung einer Veränderung, die in letzter<br />

Instanz beim modernen Menschen endet. Als erste Bestimmung könnte man dann,<br />

vorausgesetzt die modernen Theorien sind mehr oder weniger zutreffend, von einem<br />

antwortenden Wesen ausgehen, das durch äußere Umstände zum "Handeln" - natürlich noch<br />

nicht im kognitiven Sinne - veranlaßt wurde.<br />

Der veränderte Lebensraum bedingte, da eine Rückkehr in den Wald nicht möglich war, die<br />

rapide Zunahme des Gehirnvolumens, die einerseits auf der vermehrten Eiweißzufuhr durch<br />

tierische Nahrung und andererseits auf der stärkeren Durchblutung des Schädels zu<br />

Kühlungszwecken fußte. 368 <strong>Die</strong>ses größere und komplexere Gehirn und die "frei" gewordenen<br />

Hände ermöglichten dann im Laufe von ca. 1 Million Jahren bei den Australophithecus<br />

africanus und den homo habilis, die vor 2,5 bis 1,5 Millionen Jahren in Ostafrika lebten, die<br />

Herausbildung von ersten Werkzeugen, die in dem gezielten Umgang mit dem Feuer einen<br />

ersten Höhepunkt erlebte. Auch andere Tiere verwenden Werkzeuge, jedoch erst das größere<br />

und komplexere Gehirn machte die Speicherung dieser Informationen möglich. Man kann<br />

davon ausgehen, daß sowohl das Tier als auch die hier behandelte Spezies durch Zufall Steine<br />

zum Öffnen von Früchten oder zum Aufbrechen von Aas verwendete, daß aber erst das<br />

gewachsene Gehirnvolumen die Vorfahren des Menschen in die Lage versetzte, diese auf<br />

Zufall gründende Erkenntnis einzelner innerhalb einer Horde und darüber hinaus<br />

weiterzugeben. Hierbei spielt die "natürliche Vergesellschaftung" eine große Rolle, denn wenn<br />

dieses Wesen als Einzelexemplar oder in Paarbeziehung gelebt hätte, wäre die Möglichkeit zur<br />

Summierung von Erfahrungen, die auf Erlebnissen einzelner aufbauen, bei weitem geringer<br />

gewesen. Erst diese Vielzahl von äußeren, "natürlichen" Faktoren ermöglichte es dem<br />

antwortenden Wesen, das schon kein Tier mehr, aber auch noch nicht Mensch war, im Laufe<br />

367 Der wissenschaftliche Name dieser Spezies lautet Australophithecus afarensis. Vgl.: Johanson,<br />

Donald C.; Lucy; München 1992.<br />

368 Vgl.: Jerison, Harry J.; Evolution of the brain and intelligence; New York 1973; ders.; Brain size and<br />

the evolution of the mind; New York 1991; Jaynes, Julian; Der Ursprung des Bewußtseins durch<br />

den Zusammenbruch der bikameralen Psyche; Reinbek 1993.<br />

113


der Zeit zufällige Ereignisse so zu "verarbeiten", daß es zuerst bei ähnlichen Situationen auf die<br />

"Erfahrung" zurückgreifen konnte, um schließlich solche Situationen vorsätzlich herbei zu führen<br />

und sich damit endgültig zum Menschen zu wandeln. <strong>Die</strong>ser Prozeß, der fast 2 Millionen Jahre<br />

dauerte, war weder gesetzmäßig noch vollzog er sich in qualitativen Sprüngen. Erst die<br />

Betrachtung dieser Epoche aus heutiger Sicht macht eine Bewertung möglich und läßt die<br />

letztlich erfolgte Durchsetzung einer Unterart dieser Spezies als gesetzmäßig erscheinen,<br />

obwohl sie in der konkreten Situation zufällig erfolgte, denn gegen eine teleologische Sicht<br />

sprechen nicht zuletzt die vielen Sackgassen der Entwicklung, wie etwa die der<br />

Neandertaler. 369 Zusammenfassend kann man sagen, daß, ausgehend von der These eines<br />

antwortenden Wesens, die durch "natürliche" Bedingungen erzeugte Veränderung des<br />

Lebensraumes den Vorfahren der Menschen, immer bei Strafe ihres Unterganges, die<br />

Möglichkeit eröffnete, diese Antwort mehr und mehr bewußt zu geben, bis sie eines Tages in<br />

der Lage waren, selbst aktiv zu werden.<br />

Erst an dieser Stelle kann von Arbeit gesprochen werden, wenn auch noch nicht im heutigen<br />

Sinne des Wortes, und erst an dieser Stelle setzen die Mehrheit der marxistischen Ontologien<br />

und Anthropologien ein, so heißt es z.B in der deutschen Ideologie: "Man kann die Menschen<br />

durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren<br />

unterscheiden. Sie selbst fangen an sich vom Tier zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre<br />

Lebensmittel zu produzieren (...)." 370<br />

Eine Besonderheit der urgemeinschaftlichen Produktion war über viele Jahrtausende, daß die<br />

Einzelexemplare kein Bewußtsein dessen besaßen, was sie taten. Ihre "Arbeit" basierte noch<br />

lange nicht auf einer bewußten, planmäßigen Verarbeitung ihrer Umgebung mit teleologischer<br />

Setzung (wie beim aristotelischen Baumeister), sondern "die Praxis des Menschen,<br />

milliardenmal wiederholt, prägt sich dem Bewußtsein des Menschen als Figur der Logik<br />

ein." 371 Aber um sich im Bewußtsein einzuprägen, mußte erst einmal die Möglichkeit gegeben<br />

sein, ein solches zu entwickeln. Schon in dieser sehr frühen Phase wird deutlich, daß sich die<br />

gesamte Menschheitsgeschichte von ihren ersten Anfängen an im Wechselwirkungsgeflecht des<br />

"Menschen als Ursache" und des "Menschen als Folge" manifestiert, wobei jedoch für die<br />

Entstehung des Menschen, und das war die Frage, die zu dem Exkurs in die Vergangenheit<br />

führte, ihm äußerliche Umstände verantwortlich waren, Umstände, die zufällig eine Entwicklung<br />

ermöglichten, an deren vorläufigem Ende der moderne Mensch steht. Da der Mensch nicht die<br />

Ursache seiner eigenen Entstehung war, kann von einer Freiheit in dieser Phase in keinster<br />

Weise gesprochen werden, denn auch im Prozeß des unbewußten Produzierens war der<br />

Mensch nicht frei und solange er kein Bewußtsein über sich hat, kann er auch kein Bewußtsein<br />

über Freiheit haben. Eine unbewußte Freiheit ist aber nicht einmal ein Schimmer von Freiheit.<br />

Das Bewußtsein dessen, was der "Mensch" tut und warum er es tut, entstand erst viele<br />

tausend Jahre später. Bis dahin trat die Kategorie des Telos nur in rein "gegenständlicher"<br />

369 ... die auf den schönen wissenschaftlichen Namen "Homo sapiens neandertalienis" hörten und vor<br />

100.000 bis 35.000 Jahren in Europa und dem Nahen Osten lebten. Vgl.: Trinkhaus, Erik; Der<br />

Neanderthaler - Spiegel der Menschheit; München 1993; ders.; The Shanidar Neanderthals; New<br />

York 1983.<br />

370 MEW 3,21.<br />

371 LW 38,208.<br />

114


Form, im äußeren Rahmen der urgeschichtlichen Horde auf, so trug die Verwendung der<br />

ersten Werkzeuge noch das Merkmal eines instinktmäßigen und somit unbewußten Mittels zur<br />

Sicherung des Überlebens dieser Horden. Schon in dieser frühen Phase trennten sich jedoch<br />

Werkzeuganfertigung und Werkzeuggebrauch vom Werkzeug selbst, da es teilweise zwar<br />

individuell "erschaffen" wurde, jedoch im Rahmen des "natürlichen Kollektives" als Mittel zur<br />

gemeinsamen Lebensmittel-Aneignung verwendet wurde, womit es sich zwar schon<br />

grundlegend vom zufälligen, individuellen Hilfsmittel anderer Primaten unterschied, aber erst<br />

der ständige Gebrauch von Werkzeugen ermöglichte ihre ständige Verbesserung und damit<br />

ihre Entwicklung zu wirklichen "Arbeits"werkzeugen. <strong>Die</strong>ses Werkzeug wurde von einem<br />

zufälligen Hilfsmittel im Lauf der Zeit zu einem notwendigen Mittel der Reproduktion der<br />

Horde und verlor so endgültig seinen zufälligen Charakter. Das Verfahren zur "Reproduktion"<br />

des Werkzeuges, sei es durch Systematisierung der Suche oder rationell gesteuerten<br />

Nachvollzug der zuvor zufällig erfolgten Erschaffung, kann als erste, wirklich planmäßige<br />

Arbeit verstanden werden, die die Epoche der Triebhaftigkeit dabei natürlich in keinster Weise<br />

mit einem qualitativem Sprung beendete, sondern nur als erste Zeichen einer Rationalisierung<br />

der Lebenswelt des Urmenschen gewertet werden können. Da die Bewahrung und<br />

Weiterentwicklung des individuellen Wissens um die Verwendung der Werkzeuge mit deren<br />

Komplexität auch eine immer engere Verbindung der einzelnen Subjekte der Horde bedingte,<br />

verwandelte sich das "natürliche Kollektiv" nach und nach in eine erste Form der<br />

"Kooperative". <strong>Die</strong>se "natürliche Kooperative" ermöglichte aber andererseits erst die<br />

Weiterentwicklung der zeitweise angewandten Knüppel und Steine zu regelmäßig<br />

reproduzierten Arbeitswerkzeugen, die diesem Namen auch gerecht wurden.<br />

All diese jahrtausendedauernden Entwicklungen eröffneten der urgeschichtlichen Horde eine<br />

Entwicklung zu einer ersten Form des sozialen und gesellschaftlichen Seins. <strong>Die</strong> ursprüngliche<br />

Aktivität dieser neuen Form des materiellen Seins entsprang aus dem wie es schien<br />

nebensächlichen Umstand, daß der wechselseitige Tätigkeitsaustausch der Mitglieder einer<br />

Horde um ein Vielfaches über dem der anderen Primaten lag. <strong>Die</strong> Fähigkeit, Werkzeuge<br />

herzustellen und somit die physischen Möglichkeiten um ein Vielfaches zu maximieren, bildete<br />

sich also auf der Grundlage der natürlichen Kooperation heraus und eröffnete der Menschheit<br />

als ganzes so die unermeßliche Möglichkeit einer weiteren Entwicklung.<br />

Somit ist das zweite Charakteristikum des Menschen die materiell-produktive Arbeit, die am<br />

Anfang der Epoche der Kooperation als wechselseitiger Tätigkeitsaustausch unter den<br />

Mitgliedern der urgemeinschaftlichen Horde auftrat. Erst an dieser Stelle kann von<br />

Produktivkraft im marxschen Sinne des Wortes gesprochen werden: "Es handelt sich hier nicht<br />

nur um Erhöhung der individuellen Produktivkraft durch die Kooperation, sondern um die<br />

Schöpfung einer Produktivkraft, die an und für sich Massenkraft sein muß." 372<br />

So vollzog sich Schritt für Schritt das Werden eines neuen Seins. Das gesellschaftliche Sein,<br />

obzwar es auf dem deterministisch-"natürlichen" Sein aufbaute, ermöglichte dem werdenden<br />

Menschen, sich grundlegend von den anderen Primaten zu unterscheiden, wobei aber diese<br />

neue Verkehrsform den halbaffenartigen Ahnen des Menschen nicht mit einem Mal in das<br />

372 MEW 23,345.<br />

115


Reich der Freiheit setzte, sondern sie vertiefte in gewisser Weise die Unfreiheit des Einzelnen<br />

noch um die neuen gesellschaftlichen Zwänge der sich zunehmend festigenden Horde.<br />

Gleichzeitig eröffnete erst diese neue Form die Möglichkeit, in ferner Zukunft Freiheit zu<br />

erringen.<br />

Von dieser Epoche an gehe ich, mit der oben begründeten Ergänzung um die Bestimmung des<br />

Menschen als einem antwortenden Wesen, mit der marxschen Auffassung der Entwicklung des<br />

Menschen konform. Ab dieser Epoche, aber wirklich erst ab hier, erscheint die Scheidung von<br />

Mensch und Tier, wie sie Marx in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von<br />

1844 entwickelt hat, zutreffend. Das Tier "produziert nur, was es unmittelbar für sich oder sein<br />

Junges bedarf; es produziert einseitig, während der Mensch universell produziert; es produziert<br />

nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch<br />

selbst frei vom physischen Bedürfnis produziert und erst wahrhaft produziert in der Freiheit<br />

von demselben; es produziert nur sich selbst, während der Mensch die ganze Natur<br />

reproduziert; sein Produkt gehört unmittelbar zu seinem physischen Leib, während der Mensch<br />

frei seinem Produkt gegenübertritt. Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis<br />

der species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder species zu<br />

produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der<br />

Mensch formiert daher auch nach dem Gesetz der Schönheit." 373<br />

Selbstredend ist die von der urgemeinschaftlichen Horde verrichtete Arbeit unendlich weit<br />

entfernt von der entwickelten Form der menschlichen Arbeit, wie sie in unserer Zeit praktiziert<br />

wird, jedoch liegt in ihr bereits die Tendenz begründet, die den Menschen die Möglichkeit<br />

eröffnet, durch viele Jahrtausende hindurch und bei zahllosen "Rück"schritten und<br />

"Fehl"entwicklungen gerade zu der heutigen Form der Arbeit zu gelangen. <strong>Die</strong>se Tendenz wird<br />

einerseits durch die gesellschaftliche Form des Wesens des Menschen begründet, denn nur in<br />

dieser Form der Außenbeziehung trennt sich der Arbeitsprozeß von dem individuellen<br />

Bedürfnis zur Konsumption, und andererseits durch die Entwicklung immer neuer<br />

Arbeitsinstrumente. Auch die Menschen in dieser Epoche antworteten mit immer komplexeren<br />

Werkzeugen auf die sich ständig erweiternde Sphäre ihrer Wahrnehmung. <strong>Die</strong>se ständige<br />

Ausdehnung der Einbeziehung der Natur in den Arbeitsprozeß selbst führt, obwohl der<br />

Mensch sich nicht selbst erschaffen hat oder von einem Gott in die Welt gesetzt wurde und er<br />

somit selbst "Naturwesen" ist und bleibt, zu einer "vermenschlichten Natur" wie es Marx nennt,<br />

und dieser Prozeß der "Vermenschlichung" der Natur hat über die Jahrtausende dazu geführt,<br />

daß dem Menschen heute "selbst die Gegenstände der einfachsten 'sinnlichen Gewißheit' nur<br />

durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben<br />

(sind)". 374 Vermutete Marx im Gegensatz zu Feuerbach, der überall ursprüngliche Natur zu<br />

sehen glaubte, "diese der menschlichen Geschichte vorhergehende Natur" noch "auf einzelnen<br />

australischen Koralleninseln neueren Ursprungs", 375 so findet sich heute auf unserem Globus<br />

kein Fleckchen Erde, das nicht auf diese oder jene Art - und sei es nur durch die verschmutzte<br />

Luft - "vermenschlicht" wurde.<br />

373 MEW 40,517.<br />

374 MEW 3,43.<br />

375 MEW 3,44.<br />

116


Jedoch bedeutet diese "Vermenschlichung" der Natur durch die menschliche Arbeit<br />

keineswegs eine Idealisierung oder Subjektivierung der Natur, denn aus der Tatsache, daß der<br />

Mensch die Natur immer mehr umgestaltet und so zugleich auch seine eigene "Natur"<br />

verändert, folgt keineswegs, daß dadurch der "Objektcharakter" der Natur aufgehoben<br />

würde. Deshalb kann auch nur diese "vermenschlichte" Natur analysiert und erkannt werden<br />

und gerade nicht die "Natur" an sich, die scheinbar unabhängig vom Menschen nach ihren<br />

eigenen Gesetzmäßigkeiten existiert. Eine Gegenüberstellung der "vermenschlichten" Natur und<br />

einer "natürlichen" Natur, wie sie von vielen Ökoaktivisten vertreten wird, ist ähnlich unhaltbar<br />

wie die kantsche Auseinanderreißung "des Dinges an sich" und des "Dinges für uns".<br />

Man muß Marx zustimmen, wenn er ausführt: "Der Mensch lebt von der Natur, heißt: <strong>Die</strong><br />

Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß<br />

das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen<br />

anderen Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist Teil der<br />

Natur." 376 Da der Mensch gerade nicht das mythische Gotteskind oder das Produkt eines<br />

spiritualistischen "Selbstbewußtseins" ist, sondern Produkt der Natur, kann auch das<br />

Verhältnis, das sich an der Oberfläche als Kampf des Menschen mit der Natur oder vice versa<br />

manifestiert, nichts anderes sein als das Verhältnis der Natur zu sich selbst, aber wenn der<br />

Mensch immer als Naturwesen, als Teil einer einheitlichen Welt wirkt und handelt, können<br />

auch die Resultate dieser Tätigkeit - die "vermenschlichte Natur" - nicht im antagonistischen<br />

Widerspruch zur Natur stehen. Das bedeutet, daß es im Laufe der Entwicklung nicht nur zu<br />

einer Entfremdung zwischen der ursprünglichen Natur und der "vermenschlichten" Natur<br />

kommt, sondern auch zu einer immer stärkeren Verflechtung der beiden Teile bis sie nicht<br />

mehr von einander zu trennen sind.<br />

Marx entwickelte in seinen Entwürfen für den dritten Band des "Kapitals" eine Vorstellung des<br />

Verhältnisses "Natur-Mensch", die heute noch nichts an ihrer Brisanz verloren hat, aber auch<br />

zum Gegenstand vieler fehlerhafter Interpretationen des Main-Stream-Marxismus wurde. "Wie<br />

der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu<br />

erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen<br />

Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung<br />

erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern<br />

sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. <strong>Die</strong> Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin<br />

bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren<br />

Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt<br />

von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten<br />

Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten<br />

376 MEW 40,516. "Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle<br />

Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch<br />

seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die<br />

Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein<br />

muß. Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und es würde nicht gegenständlich<br />

wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setzt nur<br />

Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist." (MEW<br />

40,577).<br />

117


Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit." 377 Je mehr<br />

sich der Mensch die Natur "unterwirft"- bzw. sie durch seine Arbeit umformt und<br />

"vermenschlicht"-, um so mehr erweitert sich die Sphäre seiner Verbindung mit und seine<br />

Abhängigkeit von ihr. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit wurde in den Ländern des selbsternannten<br />

Sozialismus, trotz des Wissens um sie, bewußt ignoriert und die Natur zum reinen Mittel der<br />

Produktion operationalisiert. 378 Mit dem Verweis auf die marxschen Ausführungen wurden die<br />

Atomkraftwerke dieser Staaten als den westlichen haushoch überlegen gepriesen, da sie "in<br />

der rationellen Hand des Menschen" lagen und nicht der "Profitgier der kapitalistischen<br />

Energiekonzerne" ausgeliefert waren. Dabei ist die marxsche Lösung des Verhältnisses Natur-<br />

Mensch genau so einfach wie genial: Durch die Entwicklung der Gattung Mensch wandelt sich<br />

die Abhängigkeit des Menschen von der Natur von einer "rein tierischen" zu einer<br />

"menschlichen", in deren Verlauf der Mensch die Natur in einem immer stärkeren Maße<br />

benötigt. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit, die zusammen mit der "Herrschaft" des Menschen über die<br />

Natur wächst, und zwar mit dem Verhältnis dieser Herrschaft, drückt sich unter anderem in<br />

der einfachen Tatsache aus, daß die heutige Gesellschaft für die Erhaltung der elementaren<br />

menschlichen Existenz ihrer Glieder ein im Vergleich zu früheren Jahrhunderten unermeßlich<br />

höheres Maß an Energie aufwenden muß. Deshalb würde in unserer Zeit eine allgemeine<br />

Einstellung der Produktion, so richtig sie oberflächlich betrachtet auch sein mag, und sei es nur<br />

für eine Woche oder nur um einige Prozent, eine Gefahr darstellen, wie sie den Menschen<br />

früher nie gedroht hätte. Nur eine einzige Stunde Stromausfall in einer Großstadt des<br />

kapitalistischen Zentrums würde eine Spur der Verwüstung nach sich ziehen, gegen die die<br />

Schäden der Niederschlagung der Pariser Commune wie Kinderstreiche erscheinen würden.<br />

<strong>Die</strong> existenzbedrohenden Folgen für Millionen und aber Millionen von Menschen, wenn auch<br />

nur für einige Minuten das internationale Telephon- und Computernetz der Börsen<br />

zusammenbrechen würde, können selbst von versierten Chaostheoretikern nur angedeutet<br />

werden. Für unsere Zeit gilt in noch stärkerem Maße, was Marx und Engels in einer Polemik<br />

gegen Feuerbach prognostizierten: "So sehr ist diese Tätigkeit (des Menschen - KSS), dieses<br />

fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen<br />

sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde,<br />

Feuerbach eine ungeheuere Veränderung nicht nur der natürlichen Welt vorfinden, sondern<br />

auch die ganze Menschenwelt und sein eigenes Anschauungsvermögen, ja seine Eigne Existenz<br />

sehr bald vermissen würde." 379<br />

So bedeutet die moderne Herrschaft über die Natur nicht nur eine wachsende Freiheit im<br />

Verhältnis zu ihr, sondern auch eine wachsende Abhängigkeit von ihr, die sich ausdrückt in<br />

der Notwendigkeit, diese Herrschaft mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Es ist dies eine sehr<br />

eigenartige Abhängigkeit: die Abhängigkeit des "Herrn" von seinem "Knecht", zudem eine<br />

solche Abhängigkeit, die mit zunehmender Herrschaft über den "Knecht" wächst. All diese<br />

Faktoren verdeutlichen, daß die aktuellen Probleme der Umweltzerstörung und des<br />

zunehmenden Umschlagens der "Vermenschlichung" von Welt von einer Ausdehnung der<br />

377 MEW 25,828; MEGA II 4.2,838.<br />

378 Harich, Wolfgang; Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf oder der 'Club of Rome'; Reinbek 1975.<br />

379 MEW 3,44.<br />

118


Freiheit der Gattung Mensch in die Gefährung der Gattung selbst nicht mit einer einfachen<br />

Verzichtsideologie, die ohnehin zutiefst arrogant und menschenverachtend im Bezug auf den<br />

Trikont ist, auch nur ansatzweise bewältigt werden können. Natürlich ist auch die<br />

Subsumierung des Konfliktes Mensch-Natur unter rein menschliche Auseinandersetzungen,<br />

wie etwa den Kampf der Klassen nach der schematischen "Theorie" des Haupt- und<br />

Nebenwiderspruches kapitalistischer Gesellschaften - wie sie im Marxismus anzutreffen ist -, in<br />

keinster Weise geeignet, dieser Probleme rationell habhaft zu werden. Nur die konsequente<br />

Einbindung dieses Gegensatzes in eine Gesamtanalyse der Welt, wie sie ist, kann praktische<br />

Philosophie zu einem möglichen Weg der Lösung emanzipieren.<br />

Daß die Entwicklung zu einem rationellen Umgang des Menschen mit sich und der Natur seine<br />

Gesellschaftlichkeit zur Grundlage hat und somit seine Antworten auf die drängenden<br />

Probleme auch nur gesellschaftlich gegeben werden können und nicht auf dem individuellen<br />

Willen dieses oder jenes Individuums aufbauen, liegt in der Grundbeziehungen "Mensch-<br />

Natur" und "Gesellschaft-Individuum" begründet. Marx bringt dies in der angesprochenen<br />

Textstelle aus der "Deutschen Ideologie" auf den Punkt, wenn er ausführt, daß "allerdings die<br />

Priorität der äußeren Natur bestehen (bleibt)" 380 . Das Individuum ist mit gewissen<br />

Einschränkungen nach wie vor völlig von der Natur bestimmt, denn es kann weder Leben<br />

schaffen - allenfalls den natürlichen Prozeß kopieren und bewußt nachvollziehen - noch es<br />

beliebig verlängern. Selbst wenn es der Menschheit in Zukunft gelingen sollte, die<br />

Lebensspanne des Einzelnen auf einige Jahrhunderte zu verlängern, so ist dies von der Warte<br />

der Natur ein Nichts und doch ist es dem Menschen alles.<br />

Von der Warte des Individuums liegt der Schluß nahe, da es sich nicht dieser Dominanz der<br />

Notwendigkeit entledigen kann, daß der Kampf um die positive Setzung von Freiheit<br />

vergebene Mühe ist, die die kurze Verweildauer des Einzelnen nur um noch ein Stück frei<br />

verfügbare Zeit verkürzt, und doch bietet allein dieser Kampf dem Menschen die Möglichkeit<br />

zur Freiheit. Für das Individuum besteht kein Unterschied, ob andere wissen, warum es stirbt<br />

oder nicht, und auch für die Natur besteht kein Unterschied, ob sie durch eine<br />

"Natur"katastrophe zerstört wird oder ob ihre Zerstörung Menschenwerk ist. Jedoch besteht<br />

zwischen dem Zustand der unbegriffenen Natur und der mehr und mehr verstehbaren Natur<br />

der große Unterschied, daß erst die zunehmend rationelle Verarbeitung der Erfahrungen des<br />

antwortenden Wesens Mensch ihm die Möglichkeit eröffnet, sich soweit zu emanzipieren, daß<br />

er bewußt seine Umwelt so "vermenschlicht", daß der Mensch auch zukünftig etwas zum<br />

"Vermenschlichen" hat. In der Universalität, mit der die Gesellschaft die Natur<br />

"vermenschlicht", liegt meiner Ansicht nach das Wesen, der Kern der als universelles Schaffen<br />

begriffenen Freiheit, denn diese "Vermenschlichung" der Natur ist "Reproduktion" der Natur,<br />

während das Tier die Natur nur konsumiert.<br />

Wenn "die Gesellschaft die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre<br />

Resurrektion 381 der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der<br />

durchgeführte Humanismus der Natur" 382 ist, so würde daraus folgern, daß Freiheit nicht von<br />

380 MEW 3,44.<br />

381 Auferstehung<br />

382 MEW 40,538.<br />

119


der Warte des konkreten Individuums aus betrachtet und als Ziel verstanden werden kann,<br />

sondern nur von der Ebene der Gattung und der Gesellschaft. Damit einhergehen würde eine<br />

Konkretisierung des Begriffes der Freiheit vom Gesichtspunkt ihres positiven Inhaltes, wobei<br />

sich dieser Inhalt als gesellschaftlicher Inhalt präsentiert und letztlich durch die Arbeit als causa<br />

sui im Sinne von Spinoza erreicht werden würde. Aber gerade weil dies nur das<br />

Charakteristikum der Freiheit des Menschen als Vertreter der Gesellschaft als Ganzes ist -<br />

"Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen" 383 - kann es auch nur Bedeutung für den<br />

Vergleich der Spezies Mensch mit anderen Gattungen haben und ist es für einen Vergleich der<br />

Freiheit des einen Individuums mit der eines anderen ungeeignet. An dieser Stelle bietet diese<br />

Auffassung "nur" die Möglichkeit einer Scheidung von absoluter Freiheit und absoluter<br />

Unfreiheit.<br />

Von dieser rein "äußerlichen" Betrachtung der Freiheit bis zu ihrer konkreten "inneren"<br />

Definition, die es ermöglichen würde, die Voraussetzungen von Freiheit zu erkennen, ist es,<br />

wie oben angedeutet, ein weiter Weg. <strong>Die</strong> Tatsache, daß der Mensch als Vertreter seiner<br />

Gattung im Unterschied und im Gegensatz zu den Einzelexemplaren einer beliebigen anderen<br />

Spezies frei ist, kann für das konkrete Individuum wohl kaum als Motivation ausreichen, diese<br />

Freiheit zu erweitern. Denn für jeden Menschen, der nicht in einer Gesellschaft lebt, in der "die<br />

freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" 384 , ist das<br />

Problem der Freiheit das Problem seiner individuellen Anteilnahme an der Freiheit der<br />

Gesellschaft, das Maß aller Dinge. Wenn der nicht im vollendeten Kommunismus lebende<br />

Mensch in seinen konkreten Lebenserfahrungen die Grenzen seiner Freiheit durch die Willkür<br />

anderer als gesetzt erfährt, kann ihm die Freiheit der Gattung Mensch und deren Ausdehnung<br />

wenig geben. <strong>Die</strong> Betrachtung der Freiheit der Gesellschaft als Ganzes in ihren absoluten<br />

Grenzen bleibt für den Einzelnen eine irreale Abstraktion, wenn er sich innerhalb dieser<br />

Grenzen nicht frei fühlt oder fühlen kann. Während die Grenzen der Freiheit der Gesellschaft<br />

insgesamt in jeder geschichtlichen Epoche zwar auch die absoluten Grenzen der individuellen<br />

Entwicklung sind, interessiert doch den konkreten lebendigen Menschen in viel stärkerem<br />

Maße, wie sich die Freiheit der einzelnen in diesen Grenzen verteilt und welchen Anteil der<br />

Einzelne an der Freiheit aller hat.<br />

<strong>Die</strong> Debatte über die absolute Freiheit des Menschen ist weit mehr als ein reines<br />

Gedankenspiel und leere Abstraktion - für eine praktische Philosophie, die den konkreten<br />

Menschen zum Inhalt und zum Ziel hat, kommt es aber darauf an, neben den äußeren Grenzen<br />

vor allem auch die inneren Grenzen, das Verhältnis der Freiheit des einen Menschen zum<br />

anderen zu thematisieren. Sobald man aber das Verhältnis der Freiheit verschiedener<br />

Individuen zueinander hinterfragt, stellt man fest, daß diese Individuen nicht als isolierte<br />

Monaden im Sinne von Leibniz existieren oder in Erscheinung treten, sondern immer auch als<br />

383 MEW 40,538.<br />

384 MEW 4,482. Erst der "Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als<br />

vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahre Auflösung des Widerstreites zwischen<br />

dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen<br />

Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit<br />

und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte<br />

und weiß sich als diese Lösung." (MEW 40,536)<br />

120


Vertreter konkreter gesellschaftlicher Klassen, Schichten und Gruppierungen. Deshalb setzt<br />

die Frage nach dem Verhältnis der Freiheit eines Individuums zur Freiheit eines anderen die<br />

Betrachtung der Frage nach der Freiheit der sozialen Gesellschaftsformation voraus, denen<br />

diese Individuen angehören, und der sozialen Gruppen, denen sie sich anschließen. In der<br />

bisherigen Geschichte des Menschen gab und gibt es keine Gesellschaftsformation, die den<br />

oben getroffenen Bedingungen der Freiheit als Zentralkategorie der Gesellschaft gerecht wurde<br />

oder wird, nicht zuletzt, da keine Gesellschaft das Prinzip der Universalität des harmonischen<br />

Miteinanders der Einzelnen auf ihre Fahnen geschrieben hatte oder hat. Aus der Geschichte<br />

der gesellschaftlichen Entwicklung könnte man im Gegenteil schlußfolgern, daß diese<br />

Universalität der Gesellschaft als scheinbar notwendige Ergänzung und konkrete Äußerung die<br />

Beschränkung des Einzelnen, die Enge und Einseitigkeit seiner Existenz, zur Folge und zum<br />

Inhalt hat. <strong>Die</strong>se "Lehre der Geschichte" ist wie jede unreflektierte Lehre nur zum Teil richtig,<br />

denn die Universalität der Gesellschaft beruht gerade nicht auf Beschränkung, sondern auf der<br />

Überwindung von Grenzen, aber für den einzelnen erscheint in seiner konkreten<br />

Alltagserfahrung jede Grenzerfahrung als absolute Grenze seiner Selbst, die er als<br />

antwortendes Wesen zu überwinden und auszudehnen versucht. Das Individuum trennt also<br />

gerade nicht zwischen absoluter Grenze der Gattung und innerer, vom Menschen erschaffener<br />

Grenze des Individuums im Verhältnis zur Gesellschaft und verstellt sich so den Weg zur<br />

Lösung seiner individuellen Freiheit, wie auch zur Lösung des Wechselwirkungsgeflechtes<br />

Natur-Mensch als äußeren Rahmen der Freiheit der Gattung. Warum kennt das Individuum<br />

diesen Unterschied nicht?<br />

<strong>Die</strong> eine Lösung wäre, daß die Trennung von äußerer Freiheit und innerer Freiheit eine<br />

Erfindung des Autors ist und keinerlei Bezug zur Realität aufweist und sich so dem Menschen<br />

dieses Problem gar nicht stellt, ja gar nicht stellen kann.<br />

Eine andere Lösung der Frage, warum der Mensch die reale Struktur von Individuum und<br />

Gesellschaft nicht erkennt, ist, daß er dazu nicht in der Lage ist - dann ist jede Diskussion über<br />

Freiheit obsolet, oder daß ihn etwas in seiner Lebenserfahrung hindert, sich der Lösung des<br />

Problemes der Freiheit zu nähern - diese Annahme soll im weiteren näher untersucht werden.<br />

121


3.1.2. <strong>Die</strong> Freiheit in den Ketten der Entfremdung<br />

Nach den bisherigen Ausführungen ist es einsichtig, daß von dem Verhältnis der Freiheit des<br />

einen zu der Freiheit eines anderen nicht in der frühen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

gesprochen werden kann, sondern erst in einer Epoche, in der das Individuum als relativ<br />

selbständiges Wesen innerhalb der Gesellschaft Realität geworden war. Was ist aber dieses<br />

Individuum, das im Gegensatz zur Gemeinschaft steht und doch Teil derselben ist? Es kann<br />

nicht das Einzelexemplar der Gattung in allen Zeiten gewesen sein, denn das Mitglied der<br />

urgeschichtlichen Horde kann nicht als Individuum bezeichnet werden, da der einzelne sich<br />

seiner selbst noch nicht einmal in Ansätzen bewußt war. Einzelexemplar und Gattung sowie die<br />

Grenzen des Einzelnen und die Grenzen der Gattung, von denen oben die Rede war, wurden<br />

von dem Einzelexemplar nicht erkannt, sondern nur der Unterschied zwischen dieser und jener<br />

Horde, die im Laufe der zunehmenden Interaktion zwischen den verschiedenen Horden zu<br />

scheinbar kollektiven Individuen wurden. Aber was ist dies Individuum und wie wird es in der<br />

Geistesgeschichte definiert?<br />

Für Aristoteles ist das Individuum (Ηεκαστον) das Subjekt, welches nicht das Prädikat eines<br />

anderen Subjektes werden kann, und erste Substanz allen Seins. Es kann nicht wie alle<br />

anderen, noch so besonderen Spezies durch logische Kriterien aus der Totalität ausgegliedert<br />

und so definiert werden, sondern es ist als zufällig höchste Form der Existenz in seiner<br />

Einzigartigkeit nicht mit Worten zu fassen. Somit kann es keine wissenschaftliche<br />

(philosophische) Definition vom Individuum geben, obwohl es real ist, sondern es kann nur<br />

empirisch-technisch beschrieben werden. 385 <strong>Die</strong>se Lehrmeinung sollte bis zum Beginn der<br />

Aufklärung dominierend bleiben. Es ist Leibniz' Verdienst, im Anschluß an den Substanzbegriff<br />

Spinozas die geistige Individualität stärker in den Mittelpunkt gestellt und so neben die<br />

äußerliche Definition (es kann von anderen unterschieden werden) eine innere Definition<br />

gestellt zu haben. <strong>Die</strong> Individualität besteht für Leibniz in der inneren Einheit einer Substanz, die<br />

in sich ihr Prinzip von Handlung, Wahrnehmung und Begehren hat. <strong>Die</strong> Monade, die schon<br />

öfter angesprochen wurde, ist grundsätzlich individuell, da sie auf der Einzigartigkeit der<br />

konkreten Realität basiert, und gleichzeitig durch und durch rational, da sie als Teil des rational<br />

gesetzten Universums fungiert. Jede Monade stellt auf ihre Art das ganze Universum dar und<br />

ist die Summe all dieser Erfahrungen und Informationen und damit die "unterste" Art in der<br />

Begriffshierarchie vom Allgemeinen zum Speziellen, deren Definition so vollständig erscheint,<br />

da in ihr nichts unbekanntes verbleibt. 386 Hegel übernahm diese Vorstellung der Individualität<br />

als bestimmte Reflexion seiner selbst und stellte sich damit gegen die damals vorherrschende<br />

These der erkenntnis- und handlungskonstituierten Rolle des Subjektes in der Tradition von<br />

385 "Wollte man nämlich die Wesen nicht als selbständig abtrennbar aufstellen, und zwar in der Weise,<br />

wie man von dem einzelnen Seienden spricht, so würde man, wie wir einmal sagen wollen, das<br />

Wesen aufheben; wenn man dagegen die Wesen als abgetrennt aufstellt, wie soll man dann ihre<br />

Elemente und Prinzipien aufstellen? Setzt man sie als Einzeldinge und nicht als Allgemeines, so<br />

kann es des Seienden nur ebensoviel geben wie es Elemente gibt, und die Elemente können nicht<br />

wissenschaftlich erkennbar sein." (Aristoteles; Metaphysik 1086b; Hamburg 1989ff.) Vgl. auch:<br />

999a, 1037b-1040b, 1086b-1087a.<br />

386 Vgl.: Leibniz, Gottfried Wilhelm; Discours de métaphysique; Hamburg 1975; §§ 8,9,13,14; und:<br />

ders.; Monadologie; in: Zimmermann, Robert (Hrg.); Leibniz‘ Monadologie – Deutsch mit einer<br />

Abhandlung über Leibniz‘ und Herbarts Theorien des wirklichen Geschehens; Wien 1847; § 9.<br />

122


Kant und Fichte. Für Hegel sind die verschiedenen Gestalten der Individualität nur Momente<br />

der Selbstentfaltung des Geistes und treten in der Entwicklung zuerst als Subjektivität auf, die<br />

allerdings zu der ihr abstrakt gegenüberstehenden Objektivität indifferent ist. <strong>Die</strong>se<br />

Subjektivität verliert sich, ohne Wissen des allgemeinen Zweckes der Geschichte, in ihrem<br />

spezifischen Einzelzweck und wird dort, ohne oder gegen ihren Willen, durch die List der<br />

Vernunft in die Entwicklung des Geistes eingebaut. Spezifisch in sich, aber nicht für sich, kann<br />

sich das Individuum nur die Universalität der Gattung erschließen, wenn es sich seiner eigenen<br />

Existenz in der Fortpflanzung und durch den Tod entledigt. Das Selbstbewußtsein des<br />

Menschen muß sich aus diesem Grund in der Vernunft der Ethik und der Kultur entfremden,<br />

während der Geist in der Kunst, der Religion und der Philosophie erkannt werden kann. 387<br />

In der Frühgeschichte der Menschheit erfüllte, wenn man der wissenschaftlichen Anthropologie<br />

Glauben schenken darf, nur das natürliche Kollektiv diese Kriterien der Individualität, nicht<br />

jedoch das Einzelexemplar. <strong>Die</strong> Horde muß als Identität von Individuum und Gemeinschaft<br />

verstanden werden, auch wenn dies natürlich keinem der Beteiligten bewußt war, da gerade<br />

das Nicht-Wissen um die Identität diese ermöglichte. Erst im Laufe der Entwicklung und vor<br />

allem als Resultat der zunehmenden Kontakte mit anderen Herden konnte sich das Verhältnis<br />

Wir-Ich (Horde A) zum Du-Ihr (Horde B) in das komplexere Verhältnis Ich - Wir - Ihr - Du<br />

verwandeln und die zuvor in der Horde anzutreffenden Charaktermerkmale in den werdenden<br />

Individuen herauskristallisieren. Im Prozeß dieser Entwicklung wird das anonyme Glied der<br />

Gemeinschaft zum Individuum und zwar in dem Maße, in dem es sich die Eigenschaften und<br />

Fähigkeiten, die das natürliche Kollektiv als Ganzes entwickelt, aneignet und zum Inhalt seiner<br />

Selbst macht. <strong>Die</strong>se Aneignung hängt in dieser Phase noch nicht mit der Summe der<br />

anzueignenden Eigenschaften und Erfahrungen zusammen, sondern erst später, als die Summe<br />

der Erfahrungen des Kollektives die Möglichkeiten der Aneignung des Einzelexemplares<br />

überstieg, wurde dieser Umstand bedeutsam. In dieser frühen Epoche eröffnete die äußere<br />

Form der Tätigkeit des gesellschaftlich arbeitenden, urgemeinschaftlichen Kollektives die<br />

Möglichkeit zu einer allmählich bewußten und zielgerichteten Wirklichkeitserfahrung des<br />

Subjekts in spe. <strong>Die</strong> durch äußere Einflüsse geweckten Bedürfnisse, die über die reine<br />

Erhaltung des Lebens hinausgingen, formten im Kopf des Individuums einen subjektiven<br />

Willen, der erst noch im Einklang, später mehr und mehr unabhängig vom Willen des<br />

natürlichen Kollektivs stand und sich zunehmend von einer triebhaften zu einer zielgerichteten<br />

Form transformierte. <strong>Die</strong>se Ziele des einzelnen waren jedoch in dieser Phase nicht viel mehr<br />

als die Übertragung des kollektiven Wissens auf die konkrete Wirklichkeitserfahrung des<br />

Einzelnen, und doch stellt die rationale Verarbeitung dieses Gegensatzpaares die Grundform<br />

des individuellen Bewußtseins des Einzelnen dar. Ausgehend von dieser Subjekterfahrung<br />

entwickelten sich "soziale" Verkehrsformen, die dem einzelnen eine möglichst effektive und<br />

387 "<strong>Die</strong> Materie hat Individualität, insofern sie das Fürsichsein so in ihr selbst hat, daß es in ihr<br />

entwickelt und sie damit an ihr selbst bestimmt ist. <strong>Die</strong> Materie entreißt auf diese Weise sich das<br />

Schwere, manifestiert sich, sich an ihr selbst bestimmend, und bestimmt durch die ihr immanente<br />

Form das Räumliche aus sich der Schwere gegenüber, der vorher als aus einem gegen die Materie<br />

andern, von ihr nur gesuchten Zentrum dieses Bestimmen zukam." (Hegel 1991; § 272, vgl. auch §<br />

290; Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Philosophie des Rechts; Hamburg 1967; §§ 124, 150, 156, 264,<br />

265, 290, 299, 327, 328, 337; Hegel 1988,259-287)<br />

123


umfassende Wirklichkeits- und Naturverarbeitung ermöglichten, ohne andererseits die soziale<br />

Vermittlung der Erfahrungen im Kollektiv abzubrechen. In der Phase dieser Trennung vollzog<br />

sich vermutlich auch die Herausbildung der "Sprache", denn in der Horde mit fast identischen<br />

Wirklichkeitserlebnissen konnten die Erfahrungen durch reines Betrachten angeeignet werden.<br />

Erst die allmähliche, räumliche Trennung der Horde machte eine Vermittlungsmethode über<br />

primitive Laute hinaus, wie sie auch von Tieren verwendet werden, notwendig.<br />

Einer der ersten Widersprüche dieses Prozesses, der sich über zehntausende von Jahren<br />

erstreckte, war, daß nicht alle Glieder des urgemeinschaftlichen Kollektives gleichzeitig<br />

"Individuen" wurden, genauso wie sich nicht alle Gemeinschaften gleichzeitig entwickelten.<br />

Zuerst kristallisierten sich die, von einem urgemeinschaftlichen Kollektiv als Ganzes<br />

"erarbeiteten", sozialen Charaktermerkmale in den Hordenführern, die sich nicht grundsätzlich<br />

vom Leittier in einer Herde unterschieden, heraus, da sie durch ihre auf Stärke und Erfahrung<br />

fußende "Herrschaftsstellung" den besten Zugriff auf die Erlebnisverarbeitung der anderen<br />

Glieder hatten. Anders als die meisten marxistischen Anthropologien halte ich vor dem<br />

Hintergrund des momentanen Forschungsstandes die Vorstellung eines "Urkommunismus" für<br />

nicht haltbar. Wenn Marx selbst im Kapital teilweise den Anschein vermittelt, als würden sich<br />

freie Individuen in dieser Phase rationell zusammensetzen, um ihre gesellschaftlichen Belange<br />

auszuhandeln, so trägt er einerseits der auf Rousseau zurückgehenden Vertragstheorie und<br />

andererseits dem Umstand Rechnung, daß "die politische Ökonomie Robinsonaden liebt". 388<br />

Für die Kritik der politischen Ökonomie ist es jedoch völlig belanglos, ob die Menschen<br />

freiwillig oder unter Zwang den Weg der Warengesellschaft gegangen sind, und so erscheint<br />

die Vorstellung eines "Urkommunismus" eher als Illustration dafür, daß es, selbst wenn die<br />

Menschen jener Epoche frei gewesen wären, im Laufe der Herausbildung der wertvermittelten<br />

Gesellschaft zu einer Polarisierung von Reichtum und Armut, von Herrschaft und<br />

Unterdrückung kommen mußte.<br />

Ausgehend von der Tatsache, daß die äußeren Umstände es nicht allen Einzelexemplaren einer<br />

Herde - und der Gattung Mensch im Besonderen - gleichzeitig ermöglichten, den Weg zur<br />

Herausbildung eines Subjektbewußtseins anzutreten, ist auch die These ihrer Atomisierung und<br />

des daraus folgenden Zerfalles des natürlichen Kollektives in einen Komplex von Monaden<br />

abzulehen. <strong>Die</strong>ser Prozeß war von seinen ersten Anfängen an nur ein Element eines<br />

bedeutsameren Entwicklungsweges, der Aufsplitterung der Horde in einander<br />

gegenüberstehende soziale Untergliederungen. Auf der werdenden menschlichen<br />

Persönlichkeit lag von ihren aller ersten Anfängen an das Damoklesschwert der Herrschaft, die<br />

jedoch nichts anderes war als der geistige Nachvollzug ihrer realen Struktur.<br />

Das Werden des Individuums als aktives, tätiges, selbständiges Wesen erfolgte also von<br />

Anbeginn an unter Umständen, die seine Spaltung in zwei disparate Teile bedingten: Auf der<br />

einen Seite tritt das Individuum als etwas konkretes, unmittelbares auf, auf der anderen Seite<br />

aber als Element der Gesellschaft, als Vertreter seiner Gattung. Während das Wesen Mensch,<br />

sobald es als Individuum in Erscheinung tritt, über die beschränkte Sphäre seiner Handlungen<br />

als Herrscher agiert, ist es gerade nicht in der Lage, seine Position im Geflecht der Menschen<br />

388 MEW 23,90. Vgl. auch: MEW 23,90-96.<br />

124


untereinander zu bestimmen, ganz gleich, auf welcher gesellschaftlichen Position er steht. Man<br />

kann Marx und Engels zustimmen, wenn sie in der "Deutschen Ideologie" die Vorstellung<br />

vertreten, daß "wenn die Umstände, unter denen dies Individuum lebt, ihm nur die einseitige<br />

Entwicklung einer Eigenschaft auf Kosten aller andern erlauben, wenn sie ihm Material und<br />

Zeit zur Entwicklung nur dieser Einen Eigenschaft geben, dies Individuum es (so) nur zu einer<br />

einseitigen, verkrüppelten Entwicklung (bringt)." 389<br />

Während das einseitige Wesen mit Namen Mensch seine unmittelbare Sphäre mehr und mehr<br />

unter seine Kontrolle zu bringen versucht und für sein Handeln ethische Normen von Gut und<br />

Böse konstruiert, bleibt diese Sphäre doch aufs Engste verflochten in die unendliche Kette der<br />

Handlungen aller anderen Individuen, und seine eigene Handlung, über die er Herr zu sein<br />

scheint, wird so zu einem Moment eines gemeinsamen "Werkes". Darüber aber, in welches<br />

allgemeine "Werk" diese seine Handlungen einfließen, hat das Individuum nicht im geringsten<br />

die Gewalt. Seine eigene Handlung verschwindet wie eine Träne im Ozean. Selbst wenn er alle<br />

immanenten Bewegungen dieser Sandkörner der Weltgeschichte in der Makrowelt des<br />

allgemeinen Seins verfolgen könnte, wäre er dennoch außerstande, irgendetwas daran zu<br />

ändern. Aus seinem Wissen folgt scheinbar nur die "Tragödie des Wissens": <strong>Die</strong> Furcht vor<br />

den verhängnisvollen Folgen seiner Handlungen läßt das Individuum in seiner Handlung<br />

stoppen, und die Unabänderlichkeit des großen "Werkes" treibt es in die Depression.<br />

Das Individuum kennt, wenn es als Moment des Ganzen agiert, weder Ziel, noch Bedeutung,<br />

noch den ethischen Wert seiner Handlungen im Komplex des Allgemeinen. Hier ist es nicht<br />

mehr Herr seiner Handlungen, sondern als absoluter Herr allen Seins erscheint dieses Werk<br />

selbst. Das Individuum, das sonst so stolz auf seinen freien Willen pocht, gibt sich willenlos und<br />

unzurechnungsfähig, es befindet sich, ob es will oder nicht, jenseits von Gut und Böse!<br />

<strong>Die</strong> Erkenntnis dieses Kernproblemes der Menschheit ist nicht neu, sondern trat bereits an der<br />

Schwelle der sogenannten "Zivilisation", als Gegensatz zwischen der menschlichen Handlung<br />

und dem göttlichen Willen, in das Bewußtsein der Menschen. <strong>Die</strong> altgriechischen Tragödien<br />

zeigen diesen Widerstreit vielleicht sogar deutlicher als die großen Stücke von Camus oder<br />

Sartre, da letztere im Wissen agierten, daß dieses große "Werk" nicht Gotteswerk, sondern<br />

Menschenwerk, nicht Ausdruck der großen Tragödie der menschlichen Existenz, sondern<br />

Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Umstände ist.<br />

In der antiken Polis nahmen die griechischen Polisbürger die ganze Verantwortung und das<br />

Ausmaß der "Schuld" für jede auch noch so isolierte, zufällige und unvorhergesehene Folge<br />

ihrer Handlungen auf sich. Allerdings auch nur dann, wenn sie letzten Endes über ihr Haupt<br />

hereinbrach und sie die Möglichkeit hatten, sich zu überzeugen, daß die Folgen wirklich das<br />

Resultat ihrer Handlungen waren, wobei dieser Prozeß von Schuld und Sühne zum größten<br />

Teil individuell war, aber auch ganze Städte und Regionen konnten Opfer ihrer Handlungen<br />

werden, die sie einsichtig bereit waren zu tragen. <strong>Die</strong> Verkettung der verschiedenen<br />

individuellen Aktionen, die manchmal zu Folgen führte, die für einzelne Individuen tragisch<br />

waren, personifizierten sich in der Tragödie als Gestalt des Schicksals und des Verhängnisses.<br />

<strong>Die</strong>ses Schicksal wurde selbst aktiv und teilte den Individuen mit: Du bist das Opfer von<br />

389 MEW 3,245/246.<br />

125


verhängnisvollen Verknüpfungen von Umständen, die Götter zürnen dir und indem sie es für<br />

nötig befinden, dir zu zürnen und dich mit Unheil zu überziehen, bedeutet dies, daß du im<br />

Unrecht und sie im Recht sind, denn du bist schuldig. <strong>Die</strong> Anerkennung der Schuld, ob nun bei<br />

Odysseus oder Sisyphos, ist in der griechischen Tragödie die Anerkennung der absoluten<br />

Macht jenes gesellschaftlichen Ganzen, zu dem dieses Individuum selbst gehört, da es das<br />

Empfinden der persönlichen Schuld hat, das aber doch seinem Gesichtskreis und seiner<br />

Kontrolle entzogen ist.<br />

Durch das Schuldeingeständnis änderte sich im Gegensatz zur modernen Gerichtsbarkeit<br />

nichts. Sogar wenn das Individuum durch scheinbar glückliche Fügung die Möglichkeit erhalten<br />

hatte, mit Hilfe eines Orakels oder eines Sehers in die Zukunft zu blicken, konnte es das Urteil<br />

der Götter nicht ändern, denn trotz aller Bemühungen erfüllte sich die Vorsehung. <strong>Die</strong> Einsicht<br />

in die Unabänderlichkeit der eigenen Verknüpfung mit dem Band der Geschichte führte aber<br />

nicht, wie man erwarten könnte, zu einem vorsichtigen Agieren der Menschen, um möglichst<br />

jeder Gefahr aus dem Wege zu gehen. <strong>Die</strong> Einsicht, daß sich, egal was man tut oder auch nicht<br />

tut, nichts an dem Umstand ändert, daß zufällige, unvorhersehbare Folgen aus diesem Tun<br />

oder auch Nicht-Tun erfolgen können, führte hingegen zum Handeln im Bewußtsein absoluter<br />

Unschuld. Unschuldig erscheinen die Menschen, da gleich welche ethische Entscheidung sie in<br />

ihrer individuellen Sphäre treffen, sie doch dem großen Ganzen unterworfen sind, mit einem<br />

Wort: den Launen der Götter des Olymps. Sie nahmen stoisch die Schuld auf sich: Ich habe<br />

getan, was ich konnte, mögen die Mächtigen mehr tun.<br />

Konnte das Individuum mehr tun, solange es die Herrschaft der Götter und der<br />

Polisgesellschaftsordnung über die eigene Persönlichkeit anerkannte? <strong>Die</strong>ses Mehr konnte<br />

unter den gegebenen Umständen wohl kaum mehr sein als der "Aufstand" des Sokrates und<br />

dessen Auflehnung gegen die Götter, gegen die überlieferten Gewohnheiten und gegen die<br />

eigensinnigen Despoten durch öffentliche Anerkennung der eigenen Schuld, um so die<br />

"fremden Mächte", die über und gegen das Individuum stehen, bloß zu stellen. Indem Sokrates<br />

die von seinen Gegnern vorgeschlagenen Kompromisse ausschlug, zerriß er den Vorhang der<br />

offenen und versteckten Kumpanei zwischen Individuum und Kollektiv, hoffte aber gleichzeitig,<br />

als Fanal für einen Sturz der alten Götter zu fungieren, was jedoch ein positives Menschenbild<br />

voraussetzt. Da die besondere Qualität des Ganzen aber gerade darin besteht, daß es als<br />

unbewußte intersubjektive Vergesellschaftung jede Position mehr oder weniger beliebig<br />

austauschbar macht, ist das Ganze nicht auf jedes einzelne Individuum angewiesen und der<br />

Tod des Sokrates blieb nicht mehr als eine Fußnote der Niedergangsepoche der Polis. Statt<br />

einer Emanzipation des Individuums zu weichen, wie dies Sokrates vorgeschwebt haben mag,<br />

war das Ende der Polisgesellschaft nur ihre Umwandlung in etwas weit Universelleres, das auf<br />

allgemeineren Gesetzen basierte als auf dem unergründlichen Gutdünken der Götter. Der<br />

überkommene Provinzialismus der antiken Polis wurde durch die Ausdehnung der<br />

gesellschaftlichen Bande bis an die Grenzen des bekannten Universums ersetzt. Zugleich war<br />

es ein Prozeß, in dem die Handlungen der Individuen weiterhin Bestandteil des umfassenden<br />

und universellen "Werkes" blieben, nur daß sich dies sowohl nach außen als auch nach innen<br />

ausdehnte. Wenn sich die Zusammenhänge und die Vermittlungen, auf die jede menschliche<br />

Handlung stößt, erweitern, so kehrt die Handlung immer seltener zu dem Individuum in Gestalt<br />

126


eines "Werkes", in dem die Spuren der Handlungen der Individuen noch nicht völlig<br />

ausgelöscht sind, zurück. In der überschaubaren Gemeinschaft der Polisbürger konnten noch<br />

die Verstrickungen der Individuen, die das Schicksal auf den Plan riefen, nachvollzogen und so<br />

das Individuum gerichtet werden, in der neuen, universelleren Gesellschaft war dies nicht mehr<br />

möglich und so wuchs scheinbar das Gewicht der individuellen Sphäre der Handlungen, in der<br />

Verbrechen geplant, aber auch gute Taten vollzogen wurden. <strong>Die</strong>ser Entwicklung trug auch die<br />

Moral der neuen Gesellschaft Rechnung: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet, Gott<br />

wird dich für deine Taten richten.<br />

In der Tat bedurfte es eines allwissenden Gottes, um die endlosen Zusammenhänge und<br />

Vermittlungen der individuellen Handlung mit dem allgemeinen Werk verfolgen und verstehen<br />

zu können. Ein anderer schien einfach nicht in der Lage zu sein, ein Urteil über den ethischen<br />

Wert der Handlung des Einzelnen zu fällen, und so wurde eben ein Gott gebraucht, der über<br />

die Menschen urteilte und mit ihnen ins Gespräch trat. Der Gott trat mehr und mehr als<br />

persönlicher, ethischer Berater in Erscheinung, denn wer sollte den ethischen Wert der<br />

Handlungen besser abschätzen als das Kollektiv "Gott und Individuum", als Inkarnation der<br />

Einheit von Weltgeist und Sandkorn der Weltgeschichte? Zerbrach diese Einheit auch nur für<br />

einen Moment, so kam es zu den, selbst für Gott unvorhersehbaren Sünden, die nur durch<br />

Selbstgeißelung und noch stärkere Unterordnung des Individuums unter die Macht der Götter<br />

des allgemeinen Werkes vergolten werden konnten. Das Individuum schmiedete sich durch all<br />

diese Prozesse und scheinbaren Einsichten immer stärker an die Allmacht der vermeintlichen<br />

Götter, die - so wird der aufmerksame Leser sofort erkannt haben - nicht viel mehr sind als<br />

die verklärte Form der Gesellschaft, die dem Menschen jener Epoche unbegriffen und<br />

allmächtig gegenüberstand. Es erschien dem Individuum zunehmend unglaublich, daß dies alles<br />

nicht mehr als das Werk des Menschen selbst ist.<br />

<strong>Die</strong> im letzten Absatz angesprochene, religiös-ethische Problematik, in deren konkretem<br />

Beziehungsgeflecht sich Sokrates, Augustinus, Kierkegaard, Schestow und viele andere<br />

scheinbar verliefen, kann allgemein als Aufsplitterung des Individuums in zwei Sphären<br />

verstanden werden. Während in den Grenzen der einen Sphäre, deren Rahmen sehr eng<br />

gesteckt ist, das Individuum "zurechnungsfähig" ist, kann sich der Mensch in der anderen ohne<br />

die Hilfe Gottes nicht einmal als "unzurechnungsfähig" erkennen. Durch die im Laufe der<br />

Geschichte zunehmende Verknüpfung von individueller Handlung und allgemeinem Werk wird<br />

auch in der scheinbar privaten Sphäre immer öfter die Hilfe Gottes angerufen, da sich die<br />

Trennung mehr und mehr dem Auge des Betrachters entzieht. <strong>Die</strong>ser zunehmend intime<br />

Umgang mit Gott führte nicht nur zur Reformation, die den Mittelsmann Priester aus den<br />

alltäglichen Zwiegesprächen Gott-Mensch verdrängte, sondern auch zu einem zunehmenden<br />

Verlust des eigenen Ichs, das in der Antike wenigstens über die private Sphäre geherrscht<br />

hatte. Gott wurde immer stärker zum Schiedsrichter der Individuen untereinander, aber auch<br />

zwischen dem Individuum und sich selbst, denn je mehr das individuelle Bewußtsein im<br />

Rahmen der zunehmenden Vergesellschaftung genormt wurde, um so öfter entstand bei dem<br />

Individuum auch der Zweifel, ob es das wirklich erkennt, dessen es sich bewußt wird und ob<br />

es sich nicht um bloße Suggestionen der äußeren Sphäre der Allgemeinheit handelt. Wenn dem<br />

Individuum aber Zweifel an den "Einsichten" seines Bewußtseins kommen, wird es<br />

127


zwangsweise auch an seiner Willensfreiheit zweifeln müssen, da diese auf "bewußten"<br />

Handlungen in der Sphäre des Privaten fußt. Gott wird sogar für die private Welt des<br />

individuellen Ichs immer wichtiger bis er sie schließlich absolut dominiert, denn ohne Gott<br />

scheint das Individuum nicht mehr in der Lage, zu entscheiden, wo sein Ich das Ich und wo es<br />

bereits das Nicht-Ich, die ihm von dem allgemeinen aufgezwungene Meinung ist. <strong>Die</strong>s führt fast<br />

zwangsläufig in einen Fatalismus, in dem Gott alles, der Mensch nichts ist. Wenn ich mich bei<br />

jeder Kleinigkeit an Gott wenden muß, um ein ethisches Urteil meiner Handlungen zu treffen,<br />

verschwindet die Sphäre der Freiheit für alle Zeiten aus dem Bewußtsein des Menschen, der<br />

so schon fast aufhört, Mensch zu sein. Befindet sich das Individuum nicht in der gleichen<br />

Abhängigkeit von seinem Gott, wie die Bürger der antiken Polis von ihren Göttern des<br />

Olymps?<br />

Durch die Individualisierung des "Gott-Mensch" Verhältnisses wird aber Gott auch als Symbol<br />

überflüssig, denn seine Funktion als scheinbar rationale Erklärung für den Gegensatz<br />

Individuum - Allgemeinheit verliert sich, wenn sich das Individuum "willenlos" dem Allgemeinen<br />

unterwirft und seine Handlungen nur noch durch seine ethischen Gefühle und Gedanken, die<br />

ihm durch die Allgemeinheit vermittelt werden, zu kontrollieren glaubt. An Stelle des alten<br />

Gottes wird die Vernunft zum Gott erkoren, die als Legitimation der eigenen Unterordnung die<br />

Knechtschaft der Individuen unter dem allgemeinen Werk besiegelt.<br />

Angesichts der absoluten Knechtschaft des eigenen Ichs durch das Allgemeine bleibt den<br />

Theologen und Philosophen, die als Deuter der göttlichen oder vernünftigen Absicht auftreten,<br />

nichts anderes übrig, als das de facto schön zu reden und mit scheinbarem Sinn zu füllen. Als<br />

Ausweg aus der Sackgasse wird als deterministischer Prozeß die Freiheit zum irrationalen<br />

<strong>Dr</strong>ang, zum irrationalen Gefühl und zum irrationalen Selbstempfinden. Der Sinn dieser<br />

apriorischen Konstruktion besteht darin, daß man mit ihrer Hilfe den Menschen als<br />

zurechnungsfähig ansehen kann, ohne ihn als bewußt handelnd verstehen zu müssen. <strong>Die</strong>se<br />

Konstruktion wurde sowohl von protestantischen Theologen als auch von Existenzphilosophen<br />

in den Menschen hineingedeutet, um ihm so die "Freiheit des Willens" zurückzugeben, die er<br />

de facto in dieser Absolutheit als vergesellschaftetes Wesen nicht haben kann. Da so die<br />

dialektische Verbindung des Individuums mit dem Allgemeinen durch einen, in jedem Wesen<br />

anzutreffenden Freiheitsdrang ersetzt wird, braucht auch nicht mehr die Sphäre der<br />

Gesellschaft Gegenstand der Betrachtung und der Suche nach Freiheit zu sein, denn wie Sartre<br />

ausführt liegt die Freiheit auf dem Grunde des eigenen Seelenkerkers.<br />

Aber Sartre und seine Anhänger stehen nicht allein mit dieser Auffassung. Schon Rousseau<br />

hatte das Problem der Widersprüchlichkeit in der Kultur und Zivilisation aufgeworfen und auch<br />

die deutsche "klassische" Philosophie hatte ihre Antwortversuche, die unter dem Begriff der<br />

Entfremdung gebündelt werden können, gegeben. Bei Fichte war es das Problem der<br />

Entfremdung des "reinen Bewußtseins", des "reinen Ichs" und des Problemes des Verhältnisses<br />

dieses "reinen Ichs" zum "empirischen Ich". Bei Hegel stellt sich das Problem der "Entfremdung<br />

des absoluten Geistes", bei Bruno Bauer das Problem der "Entfremdung des<br />

Selbstbewußtseins" und bei Feuerbach erscheint es als "Entfremdung des Menschen von seiner<br />

menschlichen Bestimmung".<br />

128


Der junge Marx, in dessen Tradition die praktische Philosophie, die hier entwickelt wird,<br />

stehen soll, sah sich in den vierziger Jahren des 19.Jahrhunderts mit genau den gleichen<br />

Problemen konfrontiert wie ein Leser der einschlägigen "Entfremdungslyrik" in heutiger Zeit.<br />

Der Unterschied der marxschen Herangehensweise an die Entfremdung, der ihm das Privileg<br />

verschafft, nun im Mittelpunkt der Betrachtung zu stehen, besteht darin, daß Marx die<br />

Entfremdung als "national-ökonomisches" Faktum und als "Entäußerung der Arbeit" versteht.<br />

Marx fixiert das Problem in Form einer ökonomischen Tragödie und eines logischen<br />

Paradoxons: "Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine<br />

Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware,<br />

je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der<br />

Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. <strong>Die</strong> Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert<br />

sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie<br />

überhaupt Waren produziert." 390<br />

Nun könnte bei diesen Ausführungen der Eindruck entstehen, Marx würde nur die<br />

Emanzipation des Arbeiters in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellen, weil der Arbeiter<br />

im Gegensatz zum Bourgeois noch nicht der Freiheiten der Gesellschaft teilhaftig geworden ist.<br />

<strong>Die</strong>se Auffassung ist grundfalsch, denn für Marx ist Arbeit im weitesten Sinne mehr als nur die<br />

Bedingung zur Befriedigung materieller Bedürfnisse, und so wird in den "Grundrissen" die<br />

Begründung für den hohen Stellenwert, den Marx der Arbeit und somit auch den Individuen<br />

beimißt, die diese Arbeit vollziehen, deutlich: "Allerdings erscheint das Maß der Arbeit selbst<br />

äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden Zweck und die Hindernisse, die zu seiner<br />

Erreichung durch die Arbeit zu überwinden. Daß aber diese Überwindung von Hindernissen an<br />

sich Betätigung der Freiheit - und daß ferner die äußeren Zwecke den Schein bloß äußerer<br />

Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt,<br />

gesetzt werden - also als Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher<br />

reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit ahnt A. Smith ebensowenig." 391 Wenn Arbeit im<br />

weitesten Sinne schon eine Form der Freiheit ist, ist der Schritt, den Arbeiter mit der<br />

Emanzipation der gesamten Gesellschaft zu betrauen, nur folgerichtig, da der Bourgeois in der<br />

zeitgenössischen marxschen Vorstellung und Realität gerade nicht arbeitete, sondern seinen<br />

Lebensunterhalt nur aus der Revenue der kapitalistischen Produktion bestritt. Eine<br />

monokausale Sicht dieser Arbeiter, wie sie im Marxismus anzutreffen ist, muß jedoch mit aller<br />

Entschiedenheit abgelehnt werden, denn während Marx im Rahmen der "Kritik der politischen<br />

Ökonomie" vor allem vom Arbeiter in der materiellen Produktion spricht, umfaßt der Begriff<br />

"Arbeiter", der hier im weiteren gebraucht wird, alle arbeitenden Menschen. Wenn man vor<br />

diesem Hintergrund versucht, einen Zeitsprung von 1844 zur heutigen Zeit zu tätigen, könnte<br />

man die These aufstellen, daß selbst die Aufsichtsratsvorsitzenden als arbeitende Menschen<br />

Arbeiter sind. Wo ist dann aber der "Feind", der nur auf Kosten anderer lebt? Da es allem<br />

Anschein nach keine "Feinde" in diesem Sinne mehr gibt, aber auch klar ist, daß wir nicht im<br />

Kommunismus leben, muß es wohl einen anderen Grund geben, warum die Welt so ist, wie sie<br />

ist und nicht so, wie sie sein könnte.<br />

390 MEW 40,511.<br />

391 MEGA II 1.2,499.<br />

129


<strong>Die</strong> Beschreibung der zeitgenössischen ökonomischen Wirklichkeit nimmt Marx 1844 in<br />

seinen "ökonomisch-philosophischen Manuskripten" als Ausgangspunkt seiner Erforschung der<br />

"entfremdeten Arbeit" und kommt dabei zu folgenden Schlüssen:<br />

1) "Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als<br />

eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber." 392 Deshalb erscheint 2a) die<br />

"Verwirklichung der Arbeit ... als Entwirklichung", 2b) "die Vergegenständlichung ... als<br />

Verlust des Gegenstandes" und 2c) "die Aneignung des Gegenstandes ... als Entfremdung". 393<br />

Das bedeutet, 3a) daß die Arbeit des Arbeiters "außer ihm, unabhängig, fremd von ihm<br />

existiert", 3b) daß sie "eine selbständige Macht ihm gegenüber wird", 3c) "daß das Leben, was<br />

er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt." 394<br />

Jedoch muß man konstatieren, daß Marx mit dieser systematischen Beschreibung nicht über<br />

die Analysen von Feuerbach und die der utopischen Sozialisten - hier ist vor allem Moses Heß<br />

"Philosophie der That" 395 zu nennen - hinaus ging. Sie alle hinterfragten nicht die Grundlagen<br />

der politischen Ökonomie, sondern beschränkten ihre Kritik auf eine differierende<br />

Interpretation und Gewichtung der als real gesetzten Ausführungen von Smith und Ricardo.<br />

Marx bleibt aber nicht auf dieser Ebene der Wertungen und Gewichtungen stehen, sondern<br />

war bemüht, die ökonomische Wirklichkeit allseitig zu analysieren, und trat somit aus der<br />

Interpretation der politischen Ökonomie in die Kritik der politischen Ökonomie über. Sein<br />

Versuch, von der Analyse der Oberflächenphänomene der kapitalistischen Gesellschaft zur<br />

Erforschung der Grundstrukturen voranzuschreiten, um dann anschließend die einzelnen<br />

Phänomene mit der Grundkategorie in Beziehung zu setzen, mag schon damals vielen als<br />

unpolitisch erschienen sein, da er, die "Wirklichkeitserfahrung" des "Arbeiters" bewußt<br />

vorübergehend ignorierend, zum Kern der Sache vorstieß. Marx war sich schon 1844 darüber<br />

bewußt, daß das Produkt der Arbeit des Arbeiters, "nur das Resümee der Tätigkeit, der<br />

Produktion" 396 sein kann, das an der Oberfläche der sozialen Wirklichkeit auftaucht, und wie<br />

jedes Resultat erfordert es die Untersuchung der Bedingungen, die zu seiner Entstehung<br />

führten. "Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit fremd gegenübertreten<br />

können, wenn er im Akt der Produktion selbst sich nicht sich selbst entfremdete?" 397 Für<br />

Marx "muß die Produktion selbst die tätige Entäußerung, die Entäußerung der Tätigkeit, die<br />

Tätigkeit der Entäußerung sein" 398 und indem er zur selbständigen Analyse der Grundlage der<br />

392 MEW 40,511.<br />

393 MEW 40,512.<br />

394 MEW 40,512. Wenig später faßt Marx zusammen: "Je mehr also der Arbeiter die Außenwelt, die<br />

sinnliche Natur, durch seine Arbeit sich aneignet, um so mehr entzieht er sich Lebensmittel nach<br />

der doppelten Seite hin, erstens, daß immer mehr die sinnliche Außenwelt aufhört, ein seiner Arbeit<br />

angehöriger Gegenstand, ein Lebensmittel seiner Arbeit zu sein; zweitens, daß sie immer mehr<br />

aufhört, Lebensmittel im unmittelbaren Sinn, Mittel für die physische Subsistenz des Arbeiters zu<br />

sein." (MEW 40,513)<br />

395 Heß, Moses; Philosophie der That; in: Herwegh, Georg (Hrg.); Einundzwanzig Bogen aus der<br />

Schweiz; Leipzig 1989; S.426-452. Vgl. auch die anderen Artikel von Heß in den "Einundwanzig<br />

Bogen": "Socialismus und Communismus" und "<strong>Die</strong> Eine und die ganze Freiheit" (in: Herwegh<br />

1989,157-184).<br />

396 MEW 40,514.<br />

397 MEW 40,514.<br />

398 MEW 40,514.<br />

130


kapitalistischen Bewußtseinsverknüpfung vorstößt, verläßt er zwar die Ebene der politischen<br />

Diskussion, um die Bewertung der Oberflächenphänomene vorzunehmen, die den Menschen<br />

als Wirklichkeit erscheinen, und somit die Sphäre der "praktischen Politik", schafft aber mit<br />

seiner ökonomischen Theorie der "Kritik der politischen Ökonomie" ein Gedankenmodell der<br />

realen Wirklichkeit, das selbst nach dem heutigen Stand der Kenntnisse als exakter angesehen<br />

werden muß als alle Modernisierungsversuche der klassischen politischen Ökonomie. Nur so<br />

gelingt es Marx, zum realen Kern der Entfremdung vorzustoßen, statt nur auf der Ebene der<br />

Bewertung ihrer Schlechtigkeit stehen zu bleiben.<br />

"Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter<br />

äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört." 399 <strong>Die</strong>s wird daran deutlich, daß a) der<br />

Arbeiter sich "in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich<br />

fühlt" und b) "keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis<br />

abkasteit und seinen Geist ruiniert." 400 c) "Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit<br />

bei sich und in der Arbeit außer sich." 401 Zweitens besteht die Entäußerung der Arbeit darin,<br />

daß "seine Arbeit daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit (ist). Sie ist daher<br />

nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer<br />

ihr zu befriedigen." 402 <strong>Dr</strong>ittens "erscheint die Äußerlichkeit der Arbeit für den Arbeiter darin,<br />

daß sie nicht sein eigen, sondern eines andern ist, daß sie ihm nicht gehört, daß er in ihr nicht<br />

sich selbst, sondern einem andern angehört." 403<br />

Aus dieser "Entäußerung der Arbeit" zieht Marx eine Schlußfolgerung, die unmittelbare<br />

Beziehung zum Problem der Freiheit des Menschen hat, auch wenn die Freiheit hier vorerst<br />

unter dem Gesichtspunkt des Selbstempfindens des Arbeiters gesehen wird. "Es kömmt daher<br />

zu dem Resultat, daß der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen,<br />

Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig fühlt<br />

und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier. Das Tierische wird das Menschliche<br />

und das Menschliche das Tierische." 404<br />

In diesem Zitatenreigen wird deutlich, daß Marx im Gegensatz zu Feuerbach, den utopischen<br />

und realen Sozialisten die Wurzel der Entfremdung nicht in der Verteilung der gesellschaftlichen<br />

Reichtümer zu erkennen und zu beheben vermutet, sondern in der Arbeit selbst. Da die Arbeit<br />

vom Arbeiter "verwirklicht" wird, besteht ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Lösung des<br />

Problemes des Verhältnisses der Freiheit und der Entfremdung in der Klärung des<br />

Verhältnisses des Arbeiters zu seiner Arbeit selbst.<br />

Auf der anderen Seite zeigt sich, daß, wenn Marx hier noch die "Entfremdung der Arbeit" aus<br />

dem Verhältnis der Arbeit des Arbeiters zu seinem Wesen zu erklären versucht, er den Einfluß<br />

Feuerbachs noch nicht gänzlich überwunden hat. Deshalb bleibt die Analyse der Entfremdung<br />

in gewisser Weise eine Untersuchung des emotionalen Verhältnisses des Arbeiters zu seiner<br />

Arbeit oder eine Analyse des Verhältnisses der konkreten empirischen Form der Arbeit zum<br />

399 MEW 40,514.<br />

400 MEW 40,514.<br />

401 MEW 40,514.<br />

402 MEW 40,514.<br />

403 MEW 40,514.<br />

404 MEW 40,514/515.<br />

131


Begriff des "menschlichen Wesens" und der "menschlichen Natur". Da der Begriff des<br />

menschlichen Wesens wie auch des emotionalen Verhältnisses des Arbeiters zu seiner Arbeit<br />

zu diesem Zeitpunkt von Marx noch nicht im Hinblick auf ihre Genese untersucht worden war,<br />

bleibt Marx in den "philosophisch-ökonomischen Manuskripten" noch auf der Stufe des<br />

Bundes der Gerechten und deren Programm "<strong>Die</strong> Menschheit wie sie ist und wie sie sein<br />

sollte". 405 So entwickelt er aus der empirischen Beschreibung der Oberflächenphänome zwar<br />

allgemeine Kategorien und geht so weit über seine Zeitgenossen hinaus, auf der anderen Seite<br />

konnte er zu dieser Zeit die Kluft zwischen dem Wunschbild einer freien und somit nichtentfremdeten<br />

Gesellschaft und der Realität noch nicht ohne die Konstruktion eines abstrakten<br />

menschlichen Wesens überbrücken.<br />

Nicht geringen Anteil an dieser Orientierung auf das noch abstrakte Gattungswesen hatte auch<br />

die angesprochene Leidenschaft der politischen Ökonomie, aber auch der praktischen<br />

Philosophie zu "Robinsonaden", also der Deduktion der modernen Gesellschaft aus der<br />

apriorischen Konstruktion von einzelnen, isolierten Jägern und Sammlern. Der Gattungsmensch<br />

des marxschen Werkes von 1844 erscheint noch sehr abstrakt, so muß er als eine Sammlung<br />

von völlig identischen Exemplaren der gleichen Gattung verstanden werden, als in keinster<br />

Weise über Individualität verfügend. Ausgehend von dieser ahistorischen Betrachtung jener<br />

Tage ist der Versuch von Marx, aus dem Verhältnis des konkreten Individuums "zu sich<br />

selbst" - zu seiner Arbeit - alle seine gesellschaftlichen Bestimmungen und das ganze System<br />

der Verhältnisse zu anderen Menschen "abzuleiten", folgerichtig, aber trotzdem nicht<br />

stichhaltig. Aus diesen Prämissen folgt aber auch, daß Marx keinen Zweifel an der<br />

Forschungsmethode hegte, bei der der Untersuchung das Verhältnis des "Gattungsindividuums<br />

zu sich selbst" - zu seiner Arbeit - unter, wenn auch nur vorübergehender, Abstraktion von<br />

seinem konkreten Verhältnis zu einem anderen Gattungsindividuum zugrunde gelegt wurde.<br />

Der junge Marx ignorierte die Untersuchung des Umstandes, wie aus dem Verhältnis eines<br />

konkreten Individuums zu anderen deren gesellschaftliche Form der Tätigkeit erwächst, wie<br />

diese in der weiteren Entwicklung der realen Wirklichkeit der Individuen eine isolierte Form<br />

erlangt, bis sie schließlich als fremde Kraft aufzutreten beginnt - was im Mittelpunkt des<br />

späten Marx des "Kapitals" stehen sollte. Aus dieser unterschiedlichen Pointierung die alte<br />

Leier des Gegensatzes zwischen humanistischem Marxismus in der Tradition des frühen Marx<br />

und ökonomistischem Marxismus in der Tradition des späten Marx abzuleiten, ist so<br />

verlockend wie falsch, da beide Teile unmittelbar zusammenhängen.<br />

<strong>Die</strong> Analyse der "Entäußerung der Arbeit" von 1844 erscheint nur deshalb als in sich kohärent,<br />

weil Marx seiner Analyse von vornherein das bereits ausgebildete Ideal des Wesens der<br />

Arbeit und des menschlichen Verhältnisses des Arbeiters zu seiner Arbeit voranstellt. Aber die<br />

405 Vgl. zu diesem Aspekt die Studie von "Utopischer Sozialismus und Kommunismus als Quelle für<br />

Marx' Übergang zum Kommunismus" von Joachim Höppner (in: Höppner, Joachim/ Seidel-Höppner,<br />

Waltraud; Theorie des vormarxistischen Sozialismus und Kommunismus; Köln 1987; S.309-322)<br />

bzw. zum Verhältnis von Marx zu Feuerbach Marx' Lob an Feuerbach: "Feuerbach ist der einzige,<br />

der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat und wahrhafte<br />

Entdeckungen auf diesem Gebiet gemacht hat, überhaupt der wahre Überwinder der alten<br />

Philosophie ist. <strong>Die</strong> Größe und Leistung und die geräuschlose Einfachheit, womit Feuerbach sie der<br />

Welt gibt, stehn in einem wunderlichen Gegensatz zu dem umgekehrten Verhältnis." (MEW 40,569)<br />

132


Hauptaufgabe wäre es gewesen, die Tatsache der "Entäußerung der Arbeit" aus den realen<br />

Verhältnissen der Menschen zueinander zu entwickeln, bevor das Idealbild einer "nichtentfremdeten"<br />

Gesellschaft entwickelt werden kann, außer man will das Modell des<br />

paradiesischen "Urkommunismus" aufnehmen, aber selbst dann hätte diese<br />

Gesellschaftsformation empirisch-historisch analysiert werden müssen. Wenn man ohne diese<br />

höchst fragwürdige Konstruktion auskommen will, muß man mit der Analyse der konkreten<br />

sozialen Form, in der die Arbeit verwirklicht wird, beginnen, um dann alle Metamorphosen der<br />

sozialen Tätigkeit des Menschen in der geschichtlichen Entwicklung nachzuzeichnen. Es bietet<br />

sich also an, das Problem der "Entäußerung der Arbeit" in eine Untersuchung des sozialen<br />

Mechanismus, der die Arbeit als selbständige Lebensäußerung des Menschen in die<br />

Entfremdung des Menschen von sich selbst transformiert, zu überführen. Wenn Marx 1844<br />

einleitend davon spach, daß es um die Analyse "des nationalökonomischen, gegenwärtigen<br />

Faktum" 406 ging, so war dies die Vorahnung des großen Ganzen, in dessen Rahmen die<br />

"Entäußerung der Arbeit" in der von Marx ausgearbeiteten Form nur ein Aspekt - wenn auch<br />

ein sehr wesentlicher - ist. <strong>Die</strong>se detaillierte wissenschaftliche Analyse der ökonomischen<br />

Gesellschaftsformation, deren gesellschaftlich vermittelten Produktionsbedingungen sowohl<br />

Lebenstätigkeit des Menschen wie deren Negierung sind, unternahm Marx in seinen späteren<br />

Werken, ohne daß es ihm vergönnt war, die anschließende Einordnung des Faktums der<br />

"Entäußerung der Arbeit" detailliert und umfassend durchzuführen.<br />

Als Inhalt des Verhältnisses des Gattungsindividuums zu sich selbst - zu seiner eigenen Arbeit -<br />

erwies sich, bei einer ausführlicheren Betrachtung, das Verhältnis der kapitalistischen<br />

Gesellschaftsformation zu sich selbst. Eben deshalb verwirft Marx ab der "Deutschen<br />

Ideologie" den Begriff der "Entäußerung der Arbeit" in der dargestellten absoluten Form als zu<br />

abstrakt, ohne den Begriff der "Entfremdung der Arbeit" jedoch völlig aus seinem Wortschatz<br />

zu streichen. Marx verzichtete auf ihn vor allem deshalb, weil er als Ausgangspunkt dieses<br />

Begriffes einen Zustand voraussetzte, der erst einer ausführlichen historischen und<br />

ökonomischen Erklärung bedurfte, und Marx erkannte spätestens in der "Deutschen<br />

Ideologie", daß die "Entfremdung der Arbeit" eine "normale Natur des Menschen" und eine<br />

"normale Form der Arbeit" voraussetzt, die sich im Verlauf der historischen Entwicklung<br />

entfremdet und eine "unwahre Form" ihres Inhaltes annimmt. Im Gegensatz zur Theorie des<br />

Urkommunismus ist es in der Realität aber so, daß die Vorstellung einer "normalen Natur des<br />

Menschen" und einer "normalen Form der Arbeit" gerade kein Element der Vergangenheit ist,<br />

sondern die Erarbeitung einer menschenwürdigen Gesellschaft und einer menschenwürdigen<br />

Arbeit ein Projekt der Zukunft ist und sein muß. Auch der Begriff der "normalen Natur des<br />

Menschen", den ich hier noch zur Verdeutlichung des Übergangscharakters des marxschen<br />

Werkes jener Tage verwendet habe, wird in der "Deutschen Ideologie" einer grundlegenden<br />

Kritik unterzogen: "<strong>Die</strong> Individuen, die nicht mehr unter die Teilung der Arbeit subsumiert<br />

werden, haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen 'der Mensch' vorgestellt, und<br />

den ganzen, von uns entwickelten Prozeß als den Entwicklungsprozeß 'des Menschen' gefaßt,<br />

so daß den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe 'der Mensch' untergeschoben<br />

406 MEW 40,511.<br />

133


und als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde. Der ganze Prozeß wurde so als<br />

Selbstentfremdungsprozeß 'des Menschen' gefaßt, und dies kommt wesentlich daher, daß das<br />

Durchschnittsindividuum der späteren Stufe immer der früheren und das spätere Bewußtsein<br />

den früheren Individuen untergeschoben wurde. Durch diese Umkehrung, die von vornherein<br />

von den wirklichen Bedingungen abstrahiert, war es möglich, die ganze Geschichte in einen<br />

Entwicklungsprozeß des Bewußtseins zu verwandeln." 407<br />

In dieser marxschen Kritik an Feuerbach steckt auch ein gutes Stück Selbstkritik, hatte Marx<br />

doch früher einfach den Begriff des "Menschen" bei Feuerbach durch seinen eigenen Begriff<br />

des "arbeitenden Menschen", bzw. der "Arbeit" ersetzt, dabei aber das feuerbachsche Ziel der<br />

menschlichen Entwicklung beibehalten. Im Gegensatz zu Feuerbach hatte Marx bereits in den<br />

"philosophisch-ökonomischen Manuskripten" das Ideal einer "nicht-entfremdeten Arbeit" im<br />

"Selbstgefühl" des Arbeiters angesiedelt und so die absolute Ebene des Ideals verlassen, ohne<br />

jedoch das konkrete, reale Individuum zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen,<br />

denn trotz aller Fortschritte blieb die Entfremdung der Arbeit die Entfremdung des Ideals der<br />

Arbeit.<br />

Es ist auf jeden Fall nachvollziebar, daß die realexistierende, konkrete Form der Arbeit für den<br />

arbeitenden Menschen als etwas auftritt, was für ihn nicht zu seinem Wesen gehört. Für dieses<br />

Paradoxon gibt es grob gesprochen zwei Lösungsansätze: Entweder gibt es eine "menschliche<br />

Form der Arbeit", die der Arbeiter kennt oder zumindest "fühlt" und die er seiner realen<br />

Situation gegenüberstellen kann, oder es hat sich bei dem Arbeiter unter dem Einfluß der<br />

gesellschaftlichen, konkreten Lebenslage eine Vorstellung von einer anderen, scheinbar<br />

humaneren Art der Arbeit gebildet als die, die er verrichten muß, um seinen Lebensunterhalt zu<br />

bestreiten.<br />

Im ersten Ansatz muß davon ausgegangen werden, daß ein solches "Ideal der menschlichen<br />

Arbeit" für alle Zeiten existiert und nun nur noch die Gründe untersucht werden müssen, die<br />

seine Realisierung in der konkreten Wirklichkeit behindern oder zumindest verzögern. In der<br />

aus diesem Ansatz zwingend notwendigen Form der Geschichtsbetrachtung werden in der<br />

Literatur die gewagtesten Spekulationen abgegeben, wobei fast jede Epoche als Idealtypos<br />

der menschlichen Arbeit erscheint oder dieser erst für die Zukunft vorausgesagt wird. Frei<br />

nach Hegel scheint bei jedem Autor in seiner konkreten Zeit die Eule der Minerva zum Flug<br />

aufgebrochen und die Verwirklichung des Ideals der menschlichen Arbeit als Tagesziel der<br />

Menschheit. Eine Betrachtung des geistesgeschichtlichen Verständis des Ideales einer<br />

menschenwürdigen Arbeit offenbart jedoch, daß dieser scheinbar absolute Begriff ein Kind<br />

seiner geistigen Rahmenbedingungen ist, und so erweist sich die Theorie eines "überzeitlichen"<br />

Ideals der Arbeit als falsch, wenn man nicht auf bedenkliche Theorien, wie auf ein<br />

überzeitliches Wesen des Menschen, zurückgreifen will.<br />

Im zweiten Ansatz gilt es vor allem, diese konkreten Bedingungen zu untersuchen, die den<br />

Arbeiter dazu bewegen, immer neue Vorstellungen über das Ideal der Arbeit zu entwickeln<br />

oder die konkret existierenden oder veralteten Theorien in die Praxis einzubringen. <strong>Die</strong><br />

Analyse der Bedingungen, die die Veränderungen des "Selbstempfindens" des Arbeiters in der<br />

407 MEW 3,69.<br />

134


Arbeit hervorrufen, legt nahe, daß es gerade kein überzeitliches "Wesen des Menschen" und<br />

auch kein absolutes "Ideal der Arbeit" gibt, ja nicht geben kann. Wenn der Arbeiter zu der<br />

Auffassung kommt, daß er sich durch seine reale Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, daß die<br />

Arbeit ihm als Einschränkung seiner selbst erscheint, dann ist diese Reflexionsbewegung selbst<br />

schon ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der er sich bejahen und<br />

wohlfühlen kann. <strong>Die</strong> Möglichkeit zu dieser Erkenntnis verdeutlicht, daß sich das arbeitende<br />

Individuum gegenüber der Arbeit soweit emanzipiert hat, daß es nicht mehr völlig durch seine<br />

Tätigkeit determiniert ist. Es muß also innerhalb oder außerhalb dieser Sphäre des Menschen<br />

ein Impuls entstanden sein, der dem Menschen eine umfassendere Sicht seiner Selbst<br />

ermöglicht.<br />

Damit schließt sich der Kreis und die zuvor aufgestellte These, nach der die konkreten<br />

gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen das Ideal einer "menschlichen Arbeit" aufgestellt<br />

wurden und werden, untrennbar mit eben diesem Ideal verbunden sind, tritt erneut in den<br />

Mittelpunkt der Betrachtung. Man muß also, wenn man diesen Zirkelschluß verlassen will,<br />

untersuchen, wo diese "Arbeit", die in der bekannten Geschichte des arbeitenden Menschen<br />

als "entfremdete Arbeit" aufgetreten ist, real existiert hat, existiert, oder ob es sich nur um eine<br />

positive Projektion handelt.<br />

Auch hier bietet es sich an, die marxschen "ökonomisch-philosophischen Manuskripte" trotz<br />

der oben angesprochenen Probleme zu Rate zu ziehen, wenn man sich in der Tradition von<br />

Marx bewegen will, was man nicht gänzlich ablehnen sollte, solange man nicht den gesamten<br />

Korpus betrachtet hat. In der weiteren Entwicklung der Analyse der "Entäußerung der Arbeit"<br />

kommt Marx auf das Verhältnis von Mensch und Natur zu sprechen, das hier schon behandelt<br />

wurde. "Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst,<br />

seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die<br />

Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens<br />

entfremdet sie das Gattungsleben und das individuelle Leben, und zweitens macht sie das<br />

letztere in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und<br />

entfremdeten Form." 408 Wenn man dieser These folgen will, zerfällt das Problem der<br />

Entfremdung des Menschen von seiner Gattung, als Folge der gedanklichen Trennung des<br />

Gattungs- und des individuellen Lebens, in zwei Momente: "insofern sie 1. ein unmittelbares<br />

Lebensmittel, als inwiefern sie 2. die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner<br />

Lebenstätigkeit ist." 409 Unter Gattungsleben des Individuums versteht Marx also dessen<br />

Teilnahme am Leben der Gattung und seine Arbeit als Vertreter der Gattung, aber auch die<br />

Arbeit der Gattung als Gesamtheit aller Individuen und somit die gesellschaftliche Form der<br />

Produktion. Ausgehend von diesem universalistischen Ansatz ist die oben aufgestellte These<br />

der absoluten Vermenschlichung der Natur durch den Menschen zu verstehen. <strong>Die</strong><br />

zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Produktion vermittelt dem tätigen Individuum<br />

die Vorstellung, daß es sich immer weiter von der Natur als Ideal des Gattungslebens entfernt<br />

und diesem mehr und mehr fremd wird. Da sich die Arbeit des Individuums als zunehmend<br />

entfremdet und entäußert darstellt, folgt daraus aber auch, daß die Gesamtheit, die<br />

408 MEW 40,516.<br />

409 MEW 40,516.<br />

135


gesellschaftliche Produktion einen entfremdeten Charakter annimmt. <strong>Die</strong> Einbindung des<br />

Individuums in das allgemeine Werk der Umgestaltung der Natur in eine vermenschlichte<br />

Natur nimmt so die Form einer unfreien Tätigkeit an, die scheinbar nicht zum Wesen des<br />

Individuums gehört, sondern ihm äußerlich ist. <strong>Die</strong> Universalität der Arbeit, die als Ausdruck<br />

der Freiheit der Gesellschaft verstanden werden kann, erweist sich zunehmend als universale<br />

Abhängigkeit, als universale Unfreiheit des vereinzelt arbeitenden Individuums. 410<br />

Für das Individuum liegt der Sinn für seine Beteiligung am gesellschaftlichen<br />

Produktionsprozeß aber gerade in seiner eigenen materiellen Existenz begründet. Sein<br />

entfremdetes Verhältnis zur gesellschaftlichen Produktion versperrt ihm einen direkten Zugang<br />

zu der Einsicht, in der Produktion mehr zu sehen als die Möglichkeit, im Austausch gegen seine<br />

Beteiligung an der Produktion seine individuellen, materiellen Bedürfnisse zu befriedigen und so<br />

sein Überleben zu sichern. <strong>Die</strong> Ziele, die das arbeitende Individuum als Teil der<br />

gesellschaftlichen Produktion anstrebt, und die gesellschaftliche Wirklichkeit, die sich aus<br />

diesen individuellen Zugängen konstituiert, unterscheiden sich grundlegend. "<strong>Die</strong> Arbeit macht<br />

also (...) das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges<br />

Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz." 411<br />

Als letztes Element der marxschen Analyse der Entfremdung der Arbeit muß die Übertragung<br />

auf das Verhältnis der Individuen untereinander angesehen werden. 412 Gerade in diesem<br />

Element zeigt sich, daß Marx die Grenzen des zeitgenössischen Gesichtspunktes verlassen und<br />

die Keimform seiner neuen "Methode" entwickelt hatte: "Wir gingen aus von einem<br />

nationalökonomischen Faktum, der Entfremdung des Arbeiters und seiner Produktion. Wir<br />

haben den Begriff dieses Faktums angesprochen: die entfremdete, entäußerte Arbeit. Wir<br />

haben diesen Begriff analysiert, also bloß ein nationalökonomisches Faktum analysiert. Sehn<br />

wir nun weiter, wie sich der Begriff der entfremdeten, entäußerten Arbeit in der Wirklichkeit<br />

aussprechen und darstellen muß." 413 <strong>Die</strong>s zu tun bedeutet, hinter die Kulissen der begrifflichen<br />

Widerspiegelung der Welt zu blicken und sich jenem "Mechanismus" zu nähern, mit dessen<br />

Hilfe sich die Entfremdung der Gesellschaft real verwirklicht, bevor aber hier dieser Weg in<br />

Angriff genommen und die Ebene der marxschen Begrifflichkeit zurückgelassen wird, soll noch<br />

kurz auf die marxschen Schlußfolgerungen eingegangen werden:<br />

"In der praktischen wirklichen Welt kann die Selbstentfremdung nur durch das praktische,<br />

wirkliche Verhältnis zu andern Menschen erscheinen. Das Mittel, wodurch die Entfremdung<br />

vorgeht, ist selbst ein praktisches." 414 Vor allem der Aspekt, daß Marx hier von "Erscheinen"<br />

der "Selbstentfremdung" spricht, ist hervorzuheben, denn daraus folgt, daß Marx das Faktum<br />

der Entfremdung selbst nicht hinterfragt, sondern als bestehend voraussetzt und nur die Frage<br />

410 "Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt,<br />

entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit und verwandelt<br />

seinen Vorzug vor dem Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen<br />

wird." (MEW 40,517)<br />

411 MEW 40,517.<br />

412 "Eine unmittelbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner<br />

Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem<br />

Menschen." (MEW 40,517)<br />

413 MEW 40,518.<br />

414 MEW 40,519.<br />

136


der "Erscheinung" der "Selbstentfremdung in der praktisch wirklichen Welt" behandelt. Damit<br />

offenbart sich aber, daß Marx entgegen aller Beteuerungen das Problem der Entfremdung<br />

nicht umfassend löst, sondern auch das Verhältnis des einen Menschen zu einem anderen nur<br />

aus der als Faktum gesetzten Selbstentfremdung des arbeitenden Individuums ableitet. "Durch<br />

die entfremdete Arbeit erzeugt der Mensch": 1) "sein Verhältnis zu dem Gegenstand und dem<br />

Akt der Produktion als fremden und ihm feindlichen Mächten;" 2) "das Verhältnis, in welchem<br />

andre Menschen zu seiner Produktion und seinem Produkt stehn"; 3) "das Verhältnis, in<br />

welchem er zu diesen anderen Menschen steht"; 4) "die Herrschaft dessen, der nicht<br />

produziert, auf die Produktion und auf das Produkt." 5) "Wie er seine eigne Tätigkeit sich<br />

entfremdet, so eignet er dem Fremden die ihm nicht eigne Tätigkeit an." 6) "Also (...) erzeugt<br />

der Arbeiter das Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu<br />

dieser Arbeit." 7) "Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhältnis des<br />

Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn nennen will." 415 Marx<br />

präsentiert das Verhältnis des arbeitenden Individuums zu seiner Arbeit als ursprünglichen<br />

Inhalt der Entfremdung, die sich durch die Arbeit des Menschen realisiert und sich im System<br />

der Wechselbeziehungen der Menschen entfaltet, aber dort gerade nicht entsteht. Dem<br />

arbeitenden (Marx lesenden) Menschen steht also weiterhin das Resultat seiner eigenen<br />

ursprünglichen "Entäußerung" in der Arbeit als fremde, äußerliche Macht gegenüber, auch<br />

wenn Marx beteuert, daß "nicht die Götter, nicht die Natur, (sondern - KSS) nur der Mensch<br />

diese fremde Macht über den Menschen (selbst) sein (kann)." 416 <strong>Die</strong> Frage nach der<br />

Entstehung dieser Selbstentfremdung ("Entäußerung der Arbeit") konnte Marx 1844 nicht<br />

lösen, was er indirekt gegen Ende des unvollendeten Abschnittes über "die entfremdete Arbeit"<br />

auch zugibt: "Wir haben die Entfremdung der Arbeit, ihre Entäußerung als ein Faktum<br />

angenommen und dies Faktum analysiert. Wie, fragen wir nun, kömmt der Menschen dazu,<br />

seine Arbeit zu entäußern, zu entfremden? Wie ist diese Entfremdung im Wesen der<br />

menschlichen Entwicklung begründet?" 417 <strong>Die</strong>se Frage hat Marx weder in den "ökonomischphilosophischen<br />

Manuskripten" noch in der "Heiligen Familie", die 1845 in Zusammenarbeit<br />

mit Engels entstand, gelöst, und somit muß sich ein Großteil der Theorie der Entfremdung, die<br />

an den Marx dieser Jahre anknüpft, fragen lassen, was diese Entfremdung denn nun eigentlich<br />

ist. Marx selbst trifft diese Kritik nur zum Teil, weil seine abschließend angesprochene Frage<br />

offenbart, daß ihm das Grundproblem seiner damaligen Entfremdungstheorie bekannt war und<br />

der unvollendete Charakter der Manuskripte zeigt, daß sie nur eine Zwischenposition auf dem<br />

Weg zu einer ausführlichen Einordnung der "Theorie der Entfremdung" in eine Gesamtanalyse<br />

der kapitalistischen Gesellschaft war und sein konnte. Da es ihm nicht mehr vergönnt war,<br />

diese Zurückführung der Gesamtanalyse auf die Selbstentfremdung des Einzelnen detailliert<br />

vorzunehmen, war es einerseits wichtig, trotz aller Probleme so ausführlich die Manuskripte<br />

von 1844 zu analysieren, und ist es andererseits wichtig, in der weiteren Entwicklung zwar auf<br />

einzelne Notizen von Marx zu diesem Thema zurückzugreifen, aber insgesamt selbständig die<br />

Entfremdung aus der Gesamtanalyse der realen Wirklichkeit unserer Zeit zu entwickeln.<br />

415 MEW 40,519/520.<br />

416 MEW 40,519.<br />

417 MEW 40,521.<br />

137


Bevor diese selbständige Analyse in Angriff genommen wird, soll noch kurz auf den<br />

Lösungsansatz eingegangen werden, den Marx und Engels in der "Deutschen Ideologie"<br />

erstmals formulierten und der in den "Grundrissen" und dem "Kapital" prinzipiell durchgehalten<br />

wird. Ausgehend von der Erkenntnis des Hauptproblemes der ersten Annäherung an das<br />

Problem der Entfremdung des arbeitenden Individuums rückt Marx 1845/46 vor allem von der<br />

abstrakten Setzung der Entfremdung ab und kommt zu einer Neuinterpretation des<br />

Gedankenganges, der zuvor den Begriff der Entfremdung ausfüllte. <strong>Die</strong>se Akzentverschiebung<br />

wird besonders deutlich durch die Verlagerung des Schwerpunktes von der Analyse des<br />

Verhältnisses des arbeitenden Individuums zu seiner Arbeit, zu der konkreten, sozioökonomischen<br />

Analyse der Entstehung und Entwicklung der gesellschaftlichen Form, die die<br />

Gesamttätigkeit der Menschen zu Marxens Zeit charakterisierte. "<strong>Die</strong> soziale Macht, d.h. die<br />

vervielfachte Produktionskraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte<br />

Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das<br />

Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigene, vereinte<br />

Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher<br />

und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine<br />

eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen<br />

erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft. <strong>Die</strong>se<br />

'Entfremdung', um den Philosophen verständlich zu bleiben," wird nun im Gegensatz zu 1844<br />

als "in der Teilung der Arbeit bedingtes Zusammenwirken" der Menschen verstanden und ihre<br />

Ursache wird in dem Umstand vermutet, daß "das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig,<br />

sondern naturwüchsig ist" 418 . Daraus folgt für Marx, daß das Problem der "Aufhebung" der<br />

Entfremdung in das Problem der Organisation eines Zusammenwirkens der Menschen<br />

umschlägt, welches nicht naturwüchsig, sondern freiwillig, bewußt und planmäßig verlaufen<br />

soll. Auf diese Weise überführt Marx das Problem der Freiheit in das Problem der Herrschaft<br />

der Individuen über die Form und die Resultate ihrer eigenen, assoziierten Tätigkeit.<br />

Der Marxismus leitet aus diesem Lösungsversuch von Marx seine Zuspitzung auf die Frage,<br />

"Wer" nun "Wen" unterdrückt, ab. Scheinbar ging er dabei mit Marx konform, hatte dieser<br />

doch im Kapital ausgeführt: "Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven<br />

Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der<br />

Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen<br />

Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen<br />

Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.<br />

<strong>Die</strong>se beständige Reproduktion oder Verewigung des Arbeiters ist das sine qua non der<br />

kapitalistischen Produktion." 419 Demnach schien es logisch, daß mit der Aufhebung der<br />

Dominanz der kapitalistischen Gesellschaftsformation und vor allem des Privatbesitzes an<br />

Produktionsmitteln auch das Problem der Entfremdung des Menschen gelöst sein müßte und<br />

der selbstbewußte, revolutionäre Mensch sich im Rahmen der Erziehungsdiktatur der<br />

Kommunistischen Partei mehr und mehr zum Herrn seiner assoziierten Tätigkeit emanzipieren<br />

würde. War dem wirklich so? Aus heutiger Sicht ist die Antwort einfach, denn wenn der<br />

418 MEW 3,34.<br />

419 MEW 23,596.<br />

138


selbsternannte Sozialismus die reale Verwirklichung des Humanismus gewesen wäre, wäre er<br />

wohl kaum gerade an der Frage der "Menschenrechte" und der individuellen Freiheit<br />

gescheitert. Aber auch im marxistischen Lager wurde diese Frage schon frühzeitig aufgeworfen<br />

und nach dem Ende der totalen Dominanz des Staatsapparates der Stalinzeit auch offen<br />

diskutiert. Als Meilenstein muß die 1965 erschienene Studie "Marxismus und das menschliche<br />

Individuum" des polnischen marxistischen Philosophen Adam Schaff gewertet werden. 420 Für<br />

Schaff "ist die Situation klar: In allen uns bisher bekannten Formen der sozialistischen<br />

Gesellschaft treten verschiedene Formen der Entfremdung auf. Das bedeutet, daß es keine<br />

Automatik gibt, die zusammen mit der Abschaffung des Privateigentums an den<br />

Produktionsmitteln die Abschaffung der Entfremdung herbeiführen würde." 421 Man kann<br />

demnach davon ausgehen, daß der Privatbesitz an Produktionsmitteln, also die Gegnerschaft<br />

von Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse - um im realsozialistischen Terminus zu bleiben -<br />

nicht die ursächliche Begründung für Entfremdung und damit für die Verschleierung des<br />

Verhältnisses von inneren und äußeren Grenzen der Freiheit des Individuums respektive seiner<br />

Gattung sein kann.<br />

Durch diese Einsicht ist viel gewonnen, schränkte sie doch die von Marx später<br />

angesprochenen, drei ursächlichen Bedingungen der Entfremdung (Privateigentum an<br />

Produktionsmitteln, Arbeitsteilung, Warencharakter der Arbeit) um einen elementaren Faktor,<br />

der vom Marxismus als zentral analysiert worden war, ein. <strong>Die</strong>s bedeutet jedoch nicht, daß<br />

damit die Frage des Privateigentums an Produktionsmitteln für das Problem der Entfremdung<br />

nebensächlich wäre und somit auch unter Beibehaltung dieser gesellschaftlichen Form die<br />

Entfremdung überwunden werden kann, sondern allein die monokausale Interpretation des<br />

Marxismus dieses Faktums kann nun endgültig ad acta gelegt werden. Für Schaff liegt die<br />

Weiterexistenz der Entfremdung vor allem im Übergangscharakter der sozialistischen<br />

Gesellschaftsformation begründet, eine Vorstellung, die so vage ist, daß mit ihr alles legitimiert<br />

werden kann, selbst die Existenz von gesellschaftlichen Phänomenen, die dem Ziel dieser<br />

sozialistisch genannten Gesellschaft diametral entgegenstanden. Interessanter ist seine<br />

Aufschlüsselung Entfremdung schaffender Bedingungen in dieser sozialistischen Gesellschaft: 1)<br />

"Der Staat ist eine entfremdete Kraft." 422 2) "Das zweite große Problem der Entfremdung in<br />

420 Schaff 1965,142: "Für Marx war es ein Axiom, daß, da die ökonomische Entfremdung die Grundlage<br />

aller anderen Formen der Entfremdung ist, diese bedingt, daß die Abschaffung der wirtschaftlichen<br />

Entfremdung durch die Abschaffung des Privateigentums der Produktionsmittel automatisch allen<br />

Entfremdungen ein Ende setzt. Ist dem wirklich so? Ist im Sozialismus Entfremdung unmöglich, das<br />

heißt, kann sie nicht aus einer anderen Quelle kommen als dem Privateigentum? Das ist die Frage,<br />

die aus der Entfremdung ein Problem macht, das nicht nur vom Gesichtspunkt des Kapitalismus,<br />

sondern auch von dem des Sozialismus aktuell und wichtig ist." (Schaff 1965,142) In eine ähnliche<br />

Richtung gehen auch die Studien "Das Alltagsleben - Versuch einer Erklärung der individuellen<br />

Reproduktion" von der Lukács-Schülerin Agnes Heller (Frankfurt/Main 1978) und "<strong>Die</strong> Welt<br />

menschlicher Objekte" von György Márkus (in: Honneth, Axel/ Jaeggi, Urs (Hrg.); Arbeit,<br />

Handlung, Normativität; Frankfurt/Main 1980). Auch Joachim Israels Buch "Der Begriff der<br />

Entfremdung - Makrosoziologische Untersuchung von Marx bis zur Soziologie der Gegenwart"<br />

(Reinbek 1972) geht sehr ausführlich auf die Problematik des Entfremdung in realsozialistischen<br />

Staaten ein.<br />

421 Schaff 1965,168.<br />

422 Schaff 1965,170.<br />

139


der sozialistischen Gesellschaft ist die Entfremdung der Arbeit." 423 3) "In Verlegenheit versetzt<br />

uns jedoch das Problem der Entfremdung des Arbeitsprozesses, der ganze Riesenkomplex<br />

von Problemen, die mit der Teilung und der Spezialisierung der Arbeit zusammenhängen." 424<br />

<strong>Die</strong>ser Komplex soll nun näher untersucht werden.<br />

3.1.3. Teilung der Arbeit als Teilung der Freiheit<br />

Das Problem der Freiheit scheint sich in das Problem der Arbeitsteilung verwandelt zu haben<br />

oder, um an die abstraktere Formulierung zu Beginn des letzten Abschnittes anzuknüpfen, in<br />

das Problem des Verhältnisses der Universalität der gesellschaftlichen Produktion in ihrer<br />

Totalität zur Endlichkeit und "Beschränktheit" der Tätigkeit jedes einzelnen Individuums. In<br />

dieser abstrakten Weise wurde das Problem Gegenstand und Inhalt der klassischen deutschen<br />

Philosophie, deren Verdienst vor allem darin besteht, daß es ihr selbst in den Grenzen einer<br />

solch abstrakten Fragestellung gelang, eine Reihe von Antinomien aufzudecken, zu denen der<br />

Versuch einer Lösung des Problemes führen muß.<br />

Grundlage dieses Ansatzes war die Frage, ob es möglich ist, daß die Handlungen eines<br />

einzelnen Individuums den ganzen Inhalt der gesellschaftlichen Totalität reproduzieren können.<br />

Wenn ja, dann liegt der Schlüssel zur Freiheit des Menschen in dieser universellen Freiheit<br />

begründet und die Hauptaufgabe der nach Freiheit strebenden Menschen besteht nur darin,<br />

sich den ganzen, von der Menschheit im Laufe ihrer Geschichte erarbeiteten Inhalt anzueignen,<br />

um damit dieser Gesellschaft gleich zu werden. Wenn nein, dann erweist sich diese universelle<br />

Freiheit als unerreichbares Ideal, auch wenn sie weiterhin Motiv des Strebens der Menschheit<br />

bleiben kann, die sich der Totalität nur annähert, wie sich ein Vieleck bei unendlicher Erhöhung<br />

der Zahl seiner Seiten dem Kreis annähert. Im ersten Fall sind zwei gesellschaftliche<br />

Perspektiven denkbar. Entweder man faßt die Aneignung des gesamten gesellschaftlichen<br />

Inhaltes ganz wörtlich auf, dann wandelt sich der Mensch zu einer allwissenden "Gottheit",<br />

gegen die die Götter des Olymps mit ihren Fehlern und Problemen reine Waisenknaben<br />

waren, oder man versteht unter der universellen Aneignung des gesellschaftlichen Wissens<br />

etwas anderes und sieht es als möglich an, den gesellschaftlichen Inhalt der Totalität so zu<br />

vermindern, daß es auch einem zumal sterblichen Individuum möglich ist, ihn völlig in sich<br />

aufzunehmen. <strong>Die</strong> Sterblichkeit des Menschen ist für das Problem des Verhältnisses des<br />

Individuums zur Gattung von elementarer Bedeutung, denn im Gegensatz zum Unsterblichen,<br />

den allenfalls die Langeweile dazu bewegen könnte, sich mit anderen seiner Art<br />

zusammenzuschließen, ist die Tatsache des Todes und der Geburt der zwingende Grund für<br />

die Vergesellschaftung des Menschen, auch wenn es dem Individuum als schicksalhafte<br />

Fügung erscheint, die die Tragödie des menschlichen Seins in der Widersprüchlichkeit<br />

zwischen Gesellschaft und Individuum zur Folge hat.<br />

Nur die zweite gesellschaftliche Perspektive besitzt eine gewisse theoretische Bedeutung, war<br />

sie doch mit leichten Abänderungen das theoretische Modell der roten Khmer, die in<br />

Kambodscha die Komplexität der modernen Gesellschaft eleminieren wollten, um an deren<br />

Stelle die große Einheit von Mensch und Natur zu zelebrieren. <strong>Die</strong>se zweite Perspektive lag<br />

auch der hegelschen Lösung des Problemes der Freiheit und der Universalität des Individuums<br />

423 Schaff 1965,176.<br />

424 Schaff 1965,178.<br />

140


zugrunde, wobei Hegel davon ausging, daß eine solche Reduktion nicht zwangsläufig eine<br />

Verminderung des Inhaltes sein muß, sondern daß mit Hilfe der Kategorie der dialektischen<br />

Logik die gesamte menschliche Kultur - sowohl im materiellen wie im geistigen Sinne - auf<br />

eben diese Kategorien zurückgeführt werden kann, da in ihnen die Grundstruktur und der<br />

Grundsinn allen Seins enthalten ist. 425 Ausgehend von dieser Vorstellung ist dann die Kenntnis<br />

der Kategorien der dialektischen Logik ausreichend, um aus ihnen ihre Spuren - und seien<br />

diese noch so verwischt - in der Weltgeschichte nachzuweisen und theoretisch abzuleiten und<br />

somit den Inhalt der allgemeinen Welt zu kennen. Ein Mensch, der das hegelsche System<br />

kennt, kann sich also im Gefühl wähnen, ebenso frei zu sein wie die allwissenden Götter, auch<br />

wenn diese faszinierende Lösung gewisse Nachteile hat, in denen sich Hegel fast zwangsläufig<br />

verstricken mußte: Da die Menschheit, die real gewirkt und praktisch ihre Geschichte<br />

geschaffen hat, die hegelsche Philosophie, die als Zusammenfassung erst in der "Dämmerung"<br />

der menschlichen Geschichte entstehen konnte, nicht kannte, mußten den Menschen - seien sie<br />

noch so große Heroen gewesen - die Resultate ihres Handelns unbekannt bleiben. Sie waren<br />

somit nicht frei, sondern völlig dem Weltgeist und der List der Vernunft untertan, und selbst<br />

der von Hegel so geschätzte Napoleon - die Weltseele zu Pferd 426 - konnte im Sinne von<br />

Hegel in keinster Weise ein freies und universelles Wesen sein. Erst als die Menschheit sich<br />

soweit entwickelt hatte, daß sie das hegelsche System hervorbringen konnte, hatte diese<br />

unbegriffene Wanderung ein Ende und in der Philosophie von Hegel eine Endstation gefunden,<br />

aus der kein Weg mehr herausführte, da mit dem Wissen um die Grundstruktur der Geschichte<br />

auch die Geschichte zwangsläufig beendet ist. Solange die Menschen real wirken, sind sie<br />

weder frei noch universell und wenn sie sowohl das eine wie das andere erreicht haben, bleibt<br />

ihnen nichts mehr zu tun und die Geschichte ist abgeschlossen. Wozu braucht der Mensch<br />

dann aber diese Freiheit? Allein für das universelle Wissen der Welt? Ist nicht der Umstand,<br />

daß man in der Sphäre des Denkens die Freiheit anstrebt, um frei denken zu können, eine<br />

Tautologie?<br />

Ausgehend von diesen Überlegungen scheint das hegelsche System nur für einen Teil des<br />

universellen Seins Bedeutung und Wirkung zu haben: für das theoretische Denken und die<br />

Sphäre des reinen Geistes. <strong>Die</strong> Freiheit auf dem Gebiet des theoretischen Denkens setzt die<br />

Aneigung des gesamten theoretischen Wissens in seiner geschichtlichen Entwicklung und die<br />

Fähigkeit voraus, das zu "entgegenständlichen", was dem Individuum als theoretischer<br />

Gegenstand erscheint, obwohl es gerade nicht von ihm, sondern von der ihm fremden<br />

Allgemeinheit erschaffen worden ist. <strong>Die</strong>ser theoretische Gegenstand kann erst dann in die<br />

Sphäre der Freiheit überführt werden, wenn das Individuum sich diesen Gegenstand völlig<br />

angeeignet und ihn zum Inhalt seines eigenen theoretischen Denkens transformiert hat. <strong>Die</strong>ses<br />

425 "<strong>Die</strong> Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu<br />

fassen. <strong>Die</strong>ses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich<br />

deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen<br />

vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist." (Hegel 1990,33/34)<br />

426 "... den <strong>Kai</strong>ser - diese Weltseele - sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; - es ist<br />

in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt<br />

konzentriert, auf einem Pferd sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht." (Hegel an<br />

Niethammer 1806; in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Briefe; Hamburg 1952ff.; Bd.1, S.120)<br />

141


spekulative Schema der "Vergegenständlichung" und "Entgegenständlichung" des Geistes warf<br />

vor allem Probleme des theoretischen Denkens und dessen Verhältnis zur angesammelten<br />

menschlichen Kultur auf, die, solange sie in ihrer Totalität unbegriffen war, dem denkenden<br />

Menschen als entfremdeter Gegenstand gegenübertrat und damit als irrational Unbewußtes die<br />

Versöhnung von menschlicher Kultur und theoretischem Denken verhinderte. Hegel versuchte<br />

so, den aus der Aufklärung entspringenden Bildungsdrang zu rationalisieren und der Summe<br />

des expandierenden menschlichen Wissens eine Struktur aufzuprägen, die ihr seiner Meinung<br />

nach ursächlich zugrunde liegt - was bezweifelt werden darf - um dem denkenden Individuum<br />

so die Möglichkeit zu geben, sich in jedes beliebige Gebiet des menschlichen Wissens zu<br />

vertiefen, ohne den Bezug zum Ganzen zu verlieren. In dieser neuen Welt des Geistes<br />

vergesellschaften sich die freien, potentiell allseitig gebildeten Individuen neu und überwinden<br />

so die unfreie Sphäre der Partikularität. <strong>Die</strong>se recht freie Interpretation der "Phänomenologie<br />

des Geistes" offenbart jedoch, daß der "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" 427 gerade dies<br />

nicht ist, da nur der reine Geist - das theoretische Denken - über dieses Bewußtsein verfügt,<br />

während in der realen Welt, wegen der für Hegel nur abgeleiteten Struktur ihrer Materialität,<br />

weiter Unfreiheit und Partikularität herrschen oder zumindest herrschen können. Für Hegel gibt<br />

es zwangsläufig auch nicht den Gegensatz von materieller Welt und gedanklicher<br />

Widerspiegelung als Grundkategorie der Entfremdung, sondern Entfremdung erscheint bei ihm<br />

als Gegensatz zwischen dem abstrakten Denken und der Vergegenständlichung des Geistes in<br />

der Realität und deshalb genügt es auch, die Entfremdung theoretisch zu überwinden. Das<br />

Bewußtwerden der Entfremdung eleminiert diese genauso wie das Wissen um die<br />

Knechtschaft die Knechtschaft beendet. 428 De facto heißt dies, daß Hegel jede konkrete<br />

Entfremdung als aufgehoben ansieht, sofern es gelingt, sie zu erkennen, sie zum Geist zu<br />

erheben, ihre interne logische Struktur aufzudecken und sie dann in das Gesamtgeflecht der -<br />

meiner Ansicht nach - spekulativen Konstruktion einzupassen. Wie durch göttliche Fügung<br />

schlägt diese Entfremdung dann in die Sphäre der menschlichen Freiheit um, also in einen<br />

Zustand, in dem sich der Mensch bei sich befindet, da der Geist zu sich gekommen ist.<br />

<strong>Die</strong> Ableitung der realen Welt aus der Vorstellung des theoretischen Fortschrittes im<br />

Bewußtsein der Freiheit stellte Hegel und stellt die meisten "idealistischen" Theorien vor arge<br />

Probleme: Wenn ich die tragische Empirie als Resultat meines freien voraussetzungslosen<br />

Denkens verstehe und sie aus meiner theoretischen Freiheit ableite, kann ich trotz aller<br />

ursprünglichen Erfahrung die Wirklichkeit nicht mehr für tragisch halten. Wenn ich die<br />

Wirklichkeit als aus dem Denken abgeleitet verstehe, habe ich auch die Tragödie des Alltages<br />

und die Nichtigkeit des Seins aus diesem Denken abzuleiten und dies Denken erscheint dann<br />

nicht mehr als Subjekt des Fortschrittes im Bewußtsein der Freiheit, sondern als befleckte<br />

Ursache allen Übels. Daraus würde folgen, daß ich entweder zugeben muß, daß das Denken<br />

nicht weiß, was es hervorbringt, oder ich muß die Schlechtigkeit der Welt irgendwie<br />

427 "<strong>Die</strong> Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, - ein Fortschritt, den wir in<br />

seiner Notwendigkeit zu erkennen haben." (Hegel, G.W.F.; Vorlesungen über die Philosophie der<br />

Weltgeschichte, Bd.1: <strong>Die</strong> Vernunft in der Geschichte; Hamburg 1955; S.63)<br />

428 Vgl. das große Kapitel "Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins -Herrschaft<br />

und Knechtschaft" in: Hegel 1988,127-136.<br />

142


echtfertigen, denn "was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist<br />

vernünftig" 429 . Da jeder Zweifel an der Allmacht des theoretischen Denkens auch den Glauben<br />

an die absolute Freiheit untergräbt und somit die Theorie selbst in Frage stellt, müssen den<br />

Schrecken der geschichtlichen Entwicklung mit Hilfe der logischen Kategorien eben positive<br />

Elemente abgerungen und jede noch so absurde historische Tat als notwendiges Moment in<br />

die Bewegung zum Absoluten eingearbeitet werden. De facto wird so zwangsläufig aus dem<br />

Versuch der Erklärung der Wirklichkeit deren Rechtfertigung.<br />

Als Konsequenz aus diesem Umstand entspringen die "konservativen" Schlußfolgerungen<br />

Hegels bezüglich seiner zeitgenössischen empirischen Wirklichkeit. <strong>Die</strong> teleologische<br />

Geschichtsbetrachtung Hegels, die in allem den Hinweis auf den Fortschritt im Bewußtsein der<br />

Freiheit zu erkennen glaubte, fand in leicht gewandelter Form auch Einzug in den Marxismus.<br />

<strong>Die</strong>se Neigung, in allem das Gute zu sehen, bzw. es dort erst hinein zu interpretieren, ist in<br />

Verbindung mit dem realpolitischen Pragmatismus der theoretische Hintergrund für die zutiefst<br />

antirevolutionäre Politik der ehemaligen Staatsparteien der real-sozialistischen Länder und ihrer<br />

Funktionäre, die sich vor diesem Hintergrund nicht sonderlich geistig wandeln mußten, sondern<br />

nur die eine Denkschablone durch eine andere ersetzt haben. <strong>Die</strong>ses Mißverhältnis der<br />

hegelschen Philosophie, einerseits mit dem Versuch der Synthetisierung die Kernstrukturen der<br />

menschlichen Gesellschaft aufzudecken und andererseits diese auch sofort als in der<br />

Wirklichkeit waltend zu sehen, führte zu dem überraschenden Resultat, daß sich Denker und<br />

Politiker aus allen politischen Lagern auf Hegel bezogen und beziehen können.<br />

Für eine praktische Philosophie, die nicht den Gegensatz zwischen dem Ideal einer freien<br />

Gesellschaft und der praktischen Realität weginterpretieren möchte, gibt es nur eine Lösung:<br />

Man muß zu Beginn der Erforschung der Wirklichkeit sein theoretisches Denken als Folge<br />

anerkennen und erst in der Phase der Zusammenfassung der Ergebnisse dieser realen<br />

Wirklichkeit in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit kann man sich im Bewußtsein der Realität als<br />

Herr seines Denkens fühlen und erlangt auf diesem Wege die Freiheit des Denkens. Wenn<br />

man diese zentrale Ebene der kritischen Analyse der Welt nicht berücksichtigt und Denken im<br />

Bewußtsein vollzieht, daß jeder freie Gedanke auch eine freie Wirklichkeit zur Folge hat, dann<br />

steht man schnell vor dem Problem, die gegebenen Zustände zu legitimieren, da ihre Existenz<br />

nicht zuletzt auf mein individuell Gedachtes zurückgeht. Es zeigt sich, daß Hegel trotz seiner<br />

großen Verdienste um die Philosophie gerade das Problem der realen Befreiung des<br />

Menschen von der Subsumtion unter die Teilung der Arbeit weder real beschreiben noch lösen<br />

konnte. Seine Darstellung des Problemes kann man heutzutage allenfalls auf die Überwindung<br />

der Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen anwenden, denn es ist natürlich richtig,<br />

daß Wissenschaft ihr Ziel verfehlt, wenn die verschiedenen Spezialisten ihre Ergebnisse einfach<br />

429 Hegel 1967,14. In einem Brief an Zellmann von 1807 versucht Hegel, eine Einschränkung dieser<br />

Auffassung zu entwickeln, die meiner Ansicht nach jedoch wenig überzeugend ist. "<strong>Die</strong><br />

Wissenschaft ist allein die Theodizee; sie wird ebensosehr davor bewahren, vor den<br />

Begebenheiten tierisch zu staunen oder klügerer Weise sie Zufälligkeiten des Augenblicks oder des<br />

Talents eines Individuums zuzuschreiben, die Schicksale der Reiche von einem besetzten oder nicht<br />

besetzten Hügel abhängig zu machen, als über den Sieg des Unrechts und die Niederlage des<br />

Rechts zu klagen." (Hegel 1952ff.; 1,137/138)<br />

143


nur zusammentragen und so ein geistig theoretisches Bild der Welt erschaffen, das dann eben<br />

dieser Welt gegenübergestellt wird.<br />

Auch wenn man Hegel nicht wörtlich nimmt und sein Ideal einer universellen, freien<br />

Persönlichkeit nur als unerreichbares Ideal versteht, verschwinden die Probleme, die aus seiner<br />

Sichtweise der Welt entspringen, nicht gänzlich, sondern erscheinen vielmehr als Dualismus.<br />

Einerseits wird eine objektive Freiheit als unerreichbares Ideal vorausgesetzt, andererseits gibt<br />

es die Ebene der subjektiven Freiheit des Individuums, das, obwohl es weiß, daß es das Ziel<br />

nie erreichen wird, nach diesem Ideal der Freiheit strebt. Daraus ergibt sich aber, daß in der<br />

Wirklichkeit reale Macht nur das subjektive Ideal hat, als faktisches Erleben des objektiven<br />

Ideales, und die Individuen im konkreten Fall zur Tätigkeit bewegt, während das objektive<br />

Ideal eine konstante, in sich gleich bleibende Größe ist, die rein formal keine inhaltliche<br />

Bedeutung hat. Das einseitige, durch die Arbeitsteilung gespaltene und real abhängige<br />

Individuum, dessen Freiheit ausschließlich in der Freiheit besteht, die Überwindung dieses<br />

Zustandes anzustreben, wobei vorausgesetzt ist, daß dieser Versuch niemals gelingen wird und<br />

gelingen kann, wäre Inhalt und Gegenstand eines solchen Versuches zur Rettung des<br />

hegelschen Ansatzes.<br />

Ausgehend von diesem Verständnis der Vermittlung von individueller und allgemeiner Sphäre<br />

liegt es nahe, die subjektive Freiheit als reale Triebkraft der Entwicklung zu verstehen und<br />

damit in eine Philosophie in der Tradition von Fichte zurückzufallen. Charakteristisch für diese<br />

Tendenz wäre das Streben des Subjektes, sich in sich selbst zu vertiefen, um dort nach der<br />

Allseitigkeit und Universalität zu suchen, die als Mikrokosmos die Totalität der Makrowelt<br />

enthält, und je nach persönlichem Interesse wird diese mikrokosmische Freiheit und<br />

Universalität entweder im subjektiven Denken oder im ethischen Erleben der ursprünglichen<br />

Allgemeinheit gesucht.<br />

Der angesprochene Ansatz birgt aber auch noch eine dritte Möglichkeit der Lösung in sich:<br />

Man denkt sich eine Zwischensphäre zwischen dem unerreichbaren, objektiven Ideal und dem<br />

subjektiven Streben des Einzelnen und erklärt diese zur Sphäre der Einheit von Subjektivem<br />

und Objektivem, von Endlichem und Unendlichem, von Begrenztem und Universellem. In der<br />

Philosophiegeschichte z.B. bei Schelling oder Nietzsche wird diese Sphäre in der Regel in der<br />

Kunst vermutet, als Einheit von Sinnlichem und Rationellem, von Bewußtem und<br />

Unbewußtem. Wo immer man diese Sphäre ansiedeln möchte, ihr Grundcharakteristikum ist,<br />

daß sie sich außerhalb der Teilung der Arbeit konstituieren muß, in einer Isolierung vom realen<br />

Leben der Menschen. Deshalb muß man konstatieren, daß dieser Ansatz keine Lösung der<br />

aufgeworfenen Frage bietet, sondern eine Lösung dort gibt, wo es am leichtesten ist: in den<br />

luftigen Höhen des reinen Intellektes.<br />

Ein Grundzug der überwältigenden Mehrheit der klassischen deutschen Philosophen ist, daß<br />

ihnen die faktisch bestehende Arbeitsteilung unüberwindbar erschien, als ewige und<br />

unvermeidliche Tatsache der menschlichen Existenz, wobei diese Auffassung grundsätzlich auf<br />

der Trennung von endlicher Materie und unendlichem, unsterblichem Geist beruht, dessen<br />

Existenz sie nicht hinterfragten und so als das Ursächliche verstanden, denn daß das Endliche<br />

das Unendliche hervorbringt, erscheint vom Gesichtspunkt des Individuums als Frevel gegen<br />

die Götter. Dem Individuum blieb vor diesem Hintergrund nur die Flucht aus der Welt der<br />

144


arbeitsteiligen Ordnung in die Philosophie als Sphäre der rein geistigen Ganzheit und der<br />

allgemeinen Universalität. Wenn man sich diesem Ansatz anschließt, erscheinen die realen<br />

gesellschaftlichen Probleme schon in wohligerem Licht als das Problem des Verhältnisses des<br />

endlichen Verstandes zur unendlichen Vernunft oder andersherum als Problem der<br />

beschränkten Vernunft und des unbeschränkten Instinktes, als Problem der endlichen Ratio<br />

und des unendlichen Gefühles.<br />

Feuerbach versuchte, das reale Problem des Gegensatzes von der Beschränktheit des<br />

Individuums in einer arbeitsteiligen Gesellschaft und der Universalität der allgemeinen<br />

Gesellschaft zu umgehen und setzte den Menschen in der Welt seiner normalen Sittlichkeit als<br />

eins mit der Gattung und dem Universum und so als universell und frei. 430 Allerdings gab er zu,<br />

daß diese menschliche Sittlichkeit sich einerseits im Laufe des menschlichen Lebens entwickelt<br />

und andererseits in seiner Zeit einer gewissen "Säuberung" bedürfe. Man kann Marx<br />

zustimmen, wenn er in der "Deutschen Ideologie" gegen diese Methode polemisiert; Feuerbach<br />

"kommt also nie dazu, die sinnliche Welt als die gesamte lebendige sinnliche Tätigkeit der sie<br />

ausmachenden Individuen aufzufassen, und ist daher gezwungen, wenn er z.B. statt gesunder<br />

Menschen einen Haufen skrofulöser, überarbeiteter und schwindsüchtiger Hungerleider sieht,<br />

da zu der 'höheren Anschauung' und zur ideellen 'Ausgleichung in der Gattung' seine Zuflucht<br />

zu nehmen, also gerade da in den Idealismus zurückzufallen, wo der kommunistische<br />

Materialismus die Notwendigkeit und zugleich die Bestimmung einer Umgestaltung sowohl der<br />

Industrie wie der gesellschaftlichen Gliederungen sieht. Soweit Feuerbach Materialist ist,<br />

kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er<br />

kein Materialist." 431 Nicht, daß die abstrakte Kategorie des "Materialisten" die hier<br />

angestrebte philosophische Position ist, ist die ursächliche Begründung für diesen kurzen<br />

Exkurs zu Feuerbach, sondern die Tatsache, daß in seiner Philosophie das ungeklärte<br />

Verhältnis von Individuum und Gattung besonders deutlich zu Tage tritt. Ausgehend von dieser<br />

logischen Prämisse des Gegensatzes von Individuellem und Allgemeinem erarbeitet die<br />

klassische deutsche Philosophie ihre Theorien der Entfremdung und der Arbeitsteilung. Es<br />

bietet sich jedoch an, hinter die Kulissen dieser scheinbaren Voraussetzungen zu blicken.<br />

Ein Grundfehler dieser philosophischen Traditionslinie war, daß sie ihre eigene Stellung im<br />

Beziehungsgeflecht Individuum-Gesellschaft nicht bestimmt und nicht auf die Rückwirkung der<br />

offensichtlich allmächtigen Entfremdung auf eben die Theorie der Entfremdung selbst rekurriert<br />

hatte. Da die theoretische Einbindung der Detailuntersuchungen in den Gesamtrahmen der<br />

Theorie aber fehlte, muß die klassische deutsche Philosophie nicht zuletzt auch als Produkt der<br />

Entfremdung des Individuums von seiner Gattung verstanden werden. <strong>Die</strong>ser Verdacht wird<br />

430 "<strong>Die</strong> Gattung bedeutet nämlich bei Feuerbach nicht ein Abstraktum, sondern nur, dem einzelnen,<br />

für sich selbst fixierten Ich gegenüber das Du, den Andern, überhaupt die außer mir existierenden<br />

menschlichen Individuen. Wenn es dabei bei Feuerbach z.B. heißt: Das Individuum ist beschränkt,<br />

die Gattung unbeschränkt, so heißt das nichts anders als: <strong>Die</strong> Schranken dieses Individuums sind<br />

nicht die Schranken der andern, die Schranken der gegenwärtigen Menschen deswegen noch nicht<br />

die Schranken der zukünftigen Menschen." (Feuerbach, Ludwig A.; Über das 'Wesen des<br />

Christentums' in Beziehung auf den 'Einzigen und sein Eigentum' (1845); in: ders.; Kritiken und<br />

Abhandlungen; Frankfurt/Main 1975; Bd.3, S.75/76) Offenbart Feuerbachs Sprechen von sich in der<br />

dritten Person nicht eine besondere Qualität der Entfremdung des Ichs von seinem Werk?<br />

431 MEW 3,44/45.<br />

145


estärkt, wenn man beachtet, daß fast all diese Theorien die Illusion einer völlig selbständigen<br />

Existenz der Gattung oder Gesellschaft im Vorfeld der Herausbildung des Individuums<br />

vertreten und im späteren Beziehungsgeflecht betonen, daß die Gesellschaft sich völlig<br />

unabhängig nicht nur von dem Willen und den Wünschen der Menschen formiert, sondern<br />

sogar unbeeinflußt von ihrer rein physischen Existenz vorhanden ist. <strong>Die</strong> Tatsache dieser<br />

Entfremdung, die durch die reine Subjektperspektive charakterisiert wird und sich zur<br />

Objektivperspektive verklärt, lastet auf dem theoretischen Denken nicht nur jener Epoche, da<br />

so die Denker nicht mit der Analyse ihrer eigenen empirischen Voraussetzungen für die Lösung<br />

des Problemes des Verhältnisses des Individuellen zum Allgemeinen begannen und so den<br />

einzig möglichen Einstieg in das Problem verpaßten und nur in einer, wenn auch teilweise<br />

brillanten Beschreibung der in der kapitalistischen Gesellschaft anzutreffenden Absonderung<br />

des Individuums von der Gesellschaft verhaftet blieben. 432 Wenn man sich der entfremdeten<br />

Gefangenheit auch des über die Entfremdung sinnierenden Individuums nicht bewußt ist und so<br />

- bewußt oder unbewußt - die Abstraktion von einer dem Menschen real fremden und<br />

unabhängigen Gesellschaft seinen Überlegungen zugrunde legt, ist es fast nicht zu vermeiden,<br />

daß das Produkt der geistigen Arbeit ein anderes Ergebnis hat als das, was man ursprünglich<br />

angestrebt hatte. Wenn man nur für einen kleinen Augenblick vergißt, daß Individuum und<br />

Gesellschaft in ihrer gegenseitigen Absonderung höchste Abstraktionen sind, auch wenn sie<br />

dem Individuum als reale Kategorien erscheinen, und daß sie ihren Sinn und ihre Bedeutung<br />

gerade nur aus der Wechselwirkung erhalten, ist es folgerichtig, daß sich die weiteren<br />

Ausführungen zum Problem der Entfremdung und der Teilung der Arbeit in eine Reihe<br />

vergeblicher scholastischer Versuche verwandeln, um diese beiden absoluten Abstraktionen zu<br />

vereinen und ihren gegenseitigen Zusammenhang aufzudecken. Doch sind die Abstraktionen<br />

gerade deshalb so gegenwärtig im Bewußtsein der Menschen, weil dieser Zusammenhang<br />

zerrissen scheint und weil ihre Existenz als antagonistisch verstanden wird. Man kann diese<br />

Fallen der Entfremdung umgehen, wenn man die Abstraktionen des Individuellen und des<br />

Allgemeinen gerade nicht als ursprüngliche Kategorien nimmt, sondern als das, was sie real<br />

auch sind, als Momente ein und desselben Gegenstandes, und versucht, sie ausgehend von<br />

diesem Gegenstand und seinen Widersprüchen zu analysieren und festzustellen, unter welchen<br />

konkreten Umständen der Anschein der gegenseitigen Unabhängigkeit voneinander entstehen<br />

konnte. Im 19.Jahrhundert wurden der Anschein der Absonderung der Gesellschaft und ihre<br />

432 Marx beschreibt diese reale Bewegung in den "Grundrissen": "Je tiefer wir in der Geschichte<br />

zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als<br />

unselbständig, einem größren Ganzen angehörig: erst noch in ganz natürlicher Weise in der Familie<br />

und in der zum Stamm erweiterten Familie; später in dem aus dem Gegensatz und Verschmelzung der<br />

Stämme hervorgehenden Gemeinwesen in seinen verschiedenen Formen. Erst in dem 18.<br />

Jahrhundert, in der 'bürgerlichen Gesellschaft', treten die verschiednen Formen des<br />

gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke<br />

entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des<br />

vereinzelten Einzelnen, ist gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen (allgemeinen von<br />

diesem Standpunkt aus) Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichen Sinn ein Ζωον Πολιτικον,<br />

nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann."<br />

(MEGA II 1.1,22) Damit gelingt es Marx auf der einen Seite, die Hintergründe aufzudecken, auf der<br />

anderen Seite offenbart sein Glaube an die große Gemeinschaft der Antike aber auch noch ein gutes<br />

Stück dieses Denkens.<br />

146


Formierung zu einem substantiellen Ganzen, das ohne die sie bildenden Individuen existieren<br />

kann, zwar untersucht, aber der Formulierung des Problemes, als Verhältnis des Individuums<br />

zur Gesellschaft, lag die Vorstellung einer Gesellschaft zugrunde, die neben und unabhängig<br />

von den Individuen existiert, und somit wurde der Zugang zu einer realen Analyse des<br />

Problemes verstellt.<br />

Ausgehend von der Tatsache, daß die Realität der Gesellschaft einzig in der konkreten<br />

historischen Interaktion der Menschen und somit in den Individuen selbst begründet liegt, zeigt<br />

sich, daß die klassische deutsche Philosophie die Realität mit der Abstraktion von eben dieser<br />

Realität als gleichwertige, auf einer Abstraktionsebene angesiedelte Begriffe verglich und so die<br />

Möglichkeit zur Einsicht in den Charakter des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum<br />

nicht nutzen konnte. Eine solche Gegenüberstellung ist schon deshalb unsinnig, weil ein<br />

Vergleich der Realität mit einer Abstraktion von ihr nur vermittelt möglich ist. Wenn man<br />

davon ausgeht, daß die Gesellschaft der gesellschaftliche Inhalt jedes Individuums ist und die<br />

Besonderheit dieses gesellschaftlichen Inhaltes darin besteht, daß er nur von den Individuen<br />

gemeinsam, in ihrem Wechselwirkungsgeflecht untereinander produziert wird, dann ergeben<br />

sich zwei Schlußfolgerungen: 1) Durch die Gegenüberstellung wird der Inhalt von der Form<br />

getrennt und diese beiden Momente eines Ganzen einander unmittelbar gegenübergestellt, als<br />

wären sie zwei unabhängige Ganze. 2) Es werden zwei nicht vergleichbare Größen<br />

miteinander verglichen, einerseits die apriorische Abstraktion des Individuums und andererseits<br />

die Gesellschaft, die nur durch die Interaktion aller Individuen erzeugt wird.<br />

Es ist das Verdienst von Karl Marx, in seinen "ökonomisch-philosophischen Manuskripten"<br />

von 1844 diesen gordischen Knoten durchschlagen zu haben: "Es ist vor allem zu vermeiden,<br />

die 'Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren." 433 Im<br />

weiteren versucht Marx, diese These näher zu erläutern:<br />

1) "Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung - erscheint sie<br />

auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich<br />

vollbrachten Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Bestätigung des<br />

gesellschaftlichen Lebens." 434<br />

Das Individuum der Gesellschaft als diametrale Totalität gegenüberzustellen würde demnach<br />

heißen, die Gesellschaft sich selbst gegenüber zu stellen und somit erscheint das Problem des<br />

Verhältnisses von Individuum und Gattung nur als ideologisch verkehrte Form des Problemes<br />

des Verhältnisses der Gesellschaft zu sich selbst. Demnach wäre die Aufgabe zur Lösung<br />

dieser Probleme die Entschlüsselung der realen Triebkräfte, die dem gesellschaftlichen Ganzen<br />

den Anschein eines unabhängigen Daseins geben. Zu untersuchen wäre die Frage, wie und<br />

unter welchen Bedingungen die Individuen aus ihrer Lebenssphäre - der Sphäre ihres<br />

individuellen, gesellschaftlichen Lebens - herausgedrängt wurden oder werden, und das<br />

Problem, warum und wie das Gemeinschaftsleben der Individuen sich in etwas verwandelt,<br />

das dem Individuum als fremd erscheint. Nach Lösung all dieser Fragen könnte man dann über<br />

Formen und Möglichkeiten der Organisation des Zusammenlebens der Menschen<br />

nachdenken, das den Trägern einer neuen Gesellschaft nicht als fremd und äußerlich erscheint.<br />

433 MEW 40,538.<br />

434 MEW 40,538/539.<br />

147


2) "Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr<br />

auch - und dies ist notwendig - die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr<br />

besondre oder mehr allgemeine Weise des Gattungsleben ist, oder je mehr das<br />

Gattungsleben ein mehr besondres oder allgemeines individuelles Leben ist." 435<br />

Das Individuum der Gesellschaft als diametrale Totalität gegenüberzustellen würde demnach<br />

heißen, die eine Seite seines Seins der anderen Seite dieses selben Seins gegenüberzustellen.<br />

<strong>Die</strong> sich daraus ableitende Untersuchung der Umstände, wie und warum das konkrete Sein ein<br />

und desselben Lebewesens in zwei diametrale Teile zerfällt, könnte nach deren Lösung in die<br />

Frage überführt werden, wie diese Zerrissenheit des Individuums zu beseitigen wäre und eine<br />

Form der Vergesellschaftung gefunden werden könnte, die die beiden "feindlichen",<br />

auseinanderdriftenden Seiten des menschlichen Seins als reale Äußerung ein und desselben<br />

Individuums begreift und in der Sphäre seiner Entäußerung versöhnt.<br />

3) "Der Mensch - so sehr er daher ein besondres Individuum ist, und grade seine<br />

Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklichen individuellen<br />

Gemeinwesen - ebensosehr ist er die Totalität, die ideale Totalität, das subjektive<br />

Dasein der gedachten und empfundnen Gesellschaft für sich, wie er auch in der<br />

Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Genuß des gesellschaftlichen<br />

Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerung da ist." 436<br />

Das Individuum der Gesellschaft als diametrale Totalität gegenüberzustellen würde demnach<br />

heißen, eine inhaltslose Abstraktion der von allem realen Inhalt befreiten "Form" der ebenso<br />

inhaltsleeren Abstraktion eines ihrer realen Seinsweise beraubten "Inhaltes" gegenüberzustellen.<br />

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft als<br />

mystifizierte Form der Frage nach dem Verhältnis des Individuums zum Individuum, einer<br />

Gruppe von Individuen zu einer anderen Gruppe, einer Form der Gesellschaft zu einer<br />

anderen. Da es unsinnig ist, Erscheinungen unterschiedlicher Abstraktionsebenen miteinander<br />

zu vergleichen, würde die zugrunde liegende Frage also in die konkreten angesprochenen<br />

Verhältnisse überführt werden müssen und die abstrakte Frage nach dem Verhältnis von<br />

Individuum und Gesellschaft müßte als abwegig erklärt werden, obwohl sie dem Individuum<br />

real erscheint. Um dieses Paradoxon zu umgehen, könnte man natürlich die Allmacht der<br />

Gesellschaft untergraben und sie nur als Summe aller anderen Individuen fassen, jedoch verliert<br />

man durch die Überführung des Wechselwirkungsgeflechtes Gesellschaft mit den<br />

unterschiedlichen Ebenen der Interaktion der Individuen in eine lose Summe von<br />

monadenartigen Einzelwesen mehr, als man durch die Rettung des Verhältnisses des<br />

abstrakten Menschen in Bezug auf die abstrakte Gesellschaft gewonnen hat.<br />

4) "Der Tod scheint als ein harter Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum und<br />

ihrer Einheit zu widersprechen; aber das bestimmte Individuum ist nur ein bestimmtes<br />

Gattungswesen, als solches sterblich." 437<br />

Das Individuum der Gesellschaft als diametrale Totalität gegenüberzustellen würde demnach<br />

abschließend heißen, eine konkrete Bestimmung sich selbst, in ihrer unbestimmten<br />

435 MEW 40,539.<br />

436 MEW 40,539.<br />

437 MEW 40,539.<br />

148


Allgemeinheit, gegenüberzustellen. Daraus würde folgern, daß Gesellschaft als unendliche<br />

Reihe bestimmter, individueller und sterblicher Wesen verstanden werden muß. Aber die<br />

Sterblichkeit des Einzelnen ist in ihrer Bestimmtheit, weil Einzigartigkeit unvergleichbar mit der<br />

scheinbaren Unsterblichkeit des Abstraktums, das ja gerade nicht begriffliche, rein geistige<br />

Abstraktion ist, sondern zugleich real. <strong>Die</strong> Unsterblichkeit der Gattung Mensch ist zugleich die<br />

Unsterblichkeit der Individuen, aus denen sich die Gattung zusammensetzt, und muß<br />

verstanden werden als der bewußte oder unbewußte Zusammenhang der Lebenden, der<br />

Toten und der Ungeborenen.<br />

Wie schon mehrfach angedeutet ist die abstrakte Vorstellung des absoluten und<br />

ausschließenden Charakters des Verhältnisses vom Individuum zur Gesellschaft und vice versa<br />

nicht nur auf den idealistischen Charakter der klassischen deutschen Philosophie und deren<br />

absolute Abstraktion von der Realität zurückzuführen, sondern sie beruht auf der realen<br />

Grundlage der sich in der Wirklichkeit vollziehenden und für jeden erkennbaren, realen<br />

Abstraktion. <strong>Die</strong> Realität dieser Abstraktion ist die Entfremdung des Menschen von der<br />

Gesellschaft und seiner Gattung, die Herrschaft der Gesellschaft über den Menschen, des<br />

gesellschaftlichen Lebens des Individuums über das Individuum selbst. Der klassischen<br />

deutschen Philosophie war es jedoch durch ihre Vorstellung des Ableitungscharakters der<br />

Realität aus dem Denken nicht vergönnt, den von dieser Real-Abstraktion erzeugten Schein<br />

von eben dieser Real-Abstraktion selbst zu trennen. <strong>Die</strong> Realität ist das unbestreitbare<br />

Faktum, daß das Leben der "entfremdeten" Gattung in den wirklichen, empirischen Individuen<br />

begründet liegt. Auch wenn man die Erkennbarkeit der Welt in Frage stellt, wie dies an<br />

anderer Stelle angedeutet wurde, ändert dies nichts an dem Fakt, daß die Realität, auch wenn<br />

sie vielleicht nicht die wahre Realität ist, in dieser konkreten Realität als solche verstanden<br />

werden muß, solange es keine Beweise für die Existenz einer anderen Realität oder für die<br />

Inkonsistenz dieser Realität gibt. Wie selbständig auch die äußeren Grenzen der<br />

"entfremdeten" Gattung in dieser Realität in Bezug auf die inneren Grenzen des sie bildenden,<br />

konkreten Individuums erscheinen mögen - diese Selbständigkeit bleibt doch immer relativ.<br />

Ihre absolute Anfangsgrenze ist die Existenz der empirischen Individuen, die diese relative<br />

Selbständigkeit erst mit Leben und Bedeutung füllen. Ihre relative Grenze ist die historischkonkrete<br />

Verkehrsweise der Individuen, die nicht nur durch den Stand der Produktivkräfte<br />

charakterisiert wird, wie dies der Marxismus vermutete, sondern durch die Totalität der<br />

verschiedenen Ebenen der intersubjektiven Interaktion.<br />

Aus diesem Grunde gehe ich davon aus, daß die Wurzel des Problemes der Beziehung des<br />

Individuums zur Gesellschaft nicht in dem Verhältnis des Individuums zu der Entfremdung der<br />

Gesellschaft vermutet werden muß, sondern in den Beziehungen der Menschen zueinander, in<br />

den konkreten Bedingungen, die die Form der umfassenden Tätigkeit jedes Individuums<br />

gewährleisten. Ich denke, es ist überflüssig erneut zu belegen, daß in der realen Welt des<br />

Kapitalismus die Arbeit der Individuen - geistige wie körperliche -, die als mit Hilfe<br />

individueller Anstrengung verwirklichte, gesellschaftliche Arbeit verstanden werden muß, sich<br />

in einer Form realisiert, die nicht Akt der Selbsttätigkeit des Individuums ist. Wenn im<br />

Abschnitt über Wesen und Genese des Menschen geschlußfolgert wurde, daß das Individuum<br />

die Totalität der menschlichen Lebensäußerungen ist, so braucht hier nicht untersucht zu<br />

149


werden, wie der Mensch dies werden kann, sondern es muß aufgedeckt werden, welche<br />

Bedingungen diese Totalität des Individuums in ihrer offensichtlich realen Begrenztheit und<br />

Einseitigkeit fixieren. Es stellt sich auch die Frage, warum in der realen Wirklichkeit im<br />

Individuum nicht die ganze Gesellschaft leuchtet, sondern allenfalls eine matte Widerspiegelung<br />

zu erkennen ist, obwohl offensichtlich ist, daß das Individuum selbst als absolute, abstrakte<br />

Form des sozialen Seins keine organischen Hindernisse aufweist, die der universellen<br />

Äußerung der Universalität des gesellschaftlichen Ganzen im Wege stünden. Da in der Sphäre<br />

der erkennbaren Welt außerhalb des Individuums keine anderen sozialen Realitäten als die<br />

anderen Individuen existieren, ist zu untersuchen, warum und wie das Verhältnis des einen<br />

Individuums zu den anderen statt einer potentiellen, wechselseitigen Verwirklichung und<br />

Entfaltung nur ihre gegenseitige Begrenzung und ihre wechselseitige Separierung zur Folge hat.<br />

<strong>Die</strong> Wurzel und damit die Voraussetzung einer Lösung des Problemes der Arbeitsteilung liegt<br />

dabei keineswegs darin begründet, Individuum und Gesellschaft anzugleichen, wie der<br />

Marxismus mutmaßte, denn diese Vorstellung beruht auf einem elementaren logischen Fehler:<br />

Das Individuum, das der Gesellschaft als dem gesellschaftlichen Teil seiner Selbst gleich ist,<br />

kann real der Gesellschaft niemals gleich sein als das, was von ihm selbst nur gemeinsam mit<br />

den anderen Exemplaren seiner Spezies produziert wird. Da die Abstraktion des Individuums<br />

der reale Kern seines Selbstbewußtseins ist, repräsentiert der Mensch wegen dieses<br />

Selbstbewußtseins scheinbar die ganze Gesellschaft. In Wirklichkeit kann diese abstrakte<br />

Gleichheit das Problem von Gesellschaft und Individuum nicht lösen, denn der Umstand, daß<br />

das Individuum in der Abstraktion der Gesellschaft als Ganzes gleich ist, kann nicht verhindern,<br />

daß es in der Realität und Konkretheit des alltäglichen Lebens sogar sich selbst nicht gleicht<br />

und kein ganzheitliches, sondern ein einseitiges Individuum bleibt. <strong>Die</strong> Frage nach dem<br />

Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft bleibt damit, trotz der für das Individuum<br />

ängstigenden Dominanz, nicht viel mehr als der ideologische Ausdruck der Tautologie des<br />

Verhältnisses des Ich zum Ich. Auch, oder gerade weil dem Menschen der Gegensatz als<br />

Begründung für seine tragische Existenz erscheint, wandelt sich der reale Kern des<br />

Wechselwirkungsgeflechtes der Menschen in der geistigen Verarbeitung in zwei absolute Pole,<br />

wobei das Individuum mit der Rolle des Helden bedacht, die Gesellschaft hingegen als die<br />

Sphäre des Übels angeprangert wird.<br />

Es bietet sich an, mit der Frage fortzufahren, warum und unter welchen Bedingungen sich die<br />

Individualität nicht einmal als Individualität realisiert, sondern eine Teilindividualität bleibt, für<br />

die der konformistische Nonkonformist das wohl treffendste Beispiel ist. Bei der Untersuchung<br />

der Oberflächenphänomene wird deutlich, daß die Vorstellung von einer Behinderung des<br />

individuellen <strong>Dr</strong>anges zur Verwirklichung der Individualität durch wen auch immer nicht<br />

hilfreich ist auf dem Weg zur Lösung des Problemes, da nichts die Individuen darin hindern<br />

könnte, ihren Inhalt hervorzubringen, ja daß sie in der realen Welt stets das Maximum ihrer<br />

realen Individualität äußern, auch wenn sie sich wünschten, über mehr Inhalt zu verfügen. Das<br />

Problem wandelt sich derart, daß nun davon ausgegangen wird, daß die gesellschaftlichen<br />

Bedingungen die Verhältnisse dieser Individualitäten zueinander eben nur als Teil der absoluten<br />

Individualität produzieren, als einseitige, eingeschränkte Individualitäten, und nur so wird auch<br />

verständlich, warum die Äußerungen der Individualität einseitig und unvollständig bleiben,<br />

150


wenn sie durch nichts an ihrer Entäußerung gehindert werden können. <strong>Die</strong> ursprüngliche Frage<br />

reduziert sich unter diesem Gesichtspunkt darauf, zu untersuchen, warum bestimmte<br />

Bedingungen eine einseitige Individualität geformt haben und auch weiterhin formen und welche<br />

Bedingungen eine allseitige, universelle Persönlichkeit erfordern oder zumindest ermöglichen,<br />

und in diesem Zusammenhang gilt es zu klären, was eine allseitige und universelle<br />

Persönlichkeit ist und ob es sie überhaupt geben kann.<br />

Zu fast allen Zeiten gab es bei breiten Teilen der Bevölkerung eine Sehnsucht nach der antiken<br />

Ganzheit und dem einfachen, überschaubaren Leben und ein, wenn auch nur marginal<br />

entwickeltes, Bewußtsein über die extreme Einseitigkeit der Persönlichkeitsentwicklung in der<br />

modernen Gesellschaft. In der Philosophiegeschichte wird dieses Bewußtsein als Symptom für<br />

den Umstand verstanden, daß schon bestimmte gesellschaftliche Bedingungen erreicht sind, die<br />

eine andere Persönlichkeit als die real existierende erfordern oder ermöglichen. Deshalb muß<br />

man die Antwort auf die Frage nach dem "allseitig entwickelten Menschen" nicht in der<br />

abstrakten Welt der Normen und ethischen Träume suchen, sondern in der Analyse der<br />

gesellschaftlichen Bedingungen, die solche Utopien hervorbrachten, und in der Aufdeckung<br />

des Verhältnisses dieser realen Welt und der realen Individuen zu ihrer Vorstellung des<br />

universellen Individuums.<br />

Der Wunsch nach der Beseitigung der Tragödie des Alltages und die Projektion einer idealen<br />

Welt scheinen ein ewiges Problem zu sein, so ewig wie das Ideal der antiken Ganzheit, das seit<br />

der Zeit des Unterganges der Polisgesellschaft als verlorengegangenes goldenes Zeitalter durch<br />

die Träume und Hoffnungen der Menschen schwebt, um gleichsam als stummer Vorwurf auf<br />

ihrer realen Existenz zu lasten - und doch ist diese Vorstellung grundfalsch, wenn man sich die<br />

anhand des Märchenbeispieles entwickelten Kategorien der "Freiheit von etwas" und der<br />

"Freiheit wozu" wieder ins Gedächtnis ruft. Alles Streben nach dem goldenen Zeitalter<br />

erscheint ewig, solange man in der negativen Ebene der "Freiheit von etwas" verbleibt, und die<br />

realen Gegensätze der historischen Entwicklung verblassen neben diesem großen Ideal.<br />

Sobald aber das Problem positiv formuliert wird als Frage der "Freiheit wozu", als Problem<br />

der allseitigen Äußerung, der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit, die das dominierende<br />

Bedürfnis nach dieser allseitigen Äußerung ihrer selbst verspürt und bei der die allseitige<br />

Äußerung als zentrales Bedürfnis und als Not erscheint, gewinnt das Problem eine völlig neue<br />

Dimension. Wie treffend formulierte Marx: "Der reiche Mensch (im kommunistischen und nicht<br />

im materiellen Sinne des Wortes - KSS) ist zugleich der einer Totalität der menschlichen<br />

Lebensäußerung bedürftige Mensch. Der Mensch, in dem seine eigne Verwirklichung, als<br />

innere Notwendigkeit, als Not existiert. Nicht nur der Reichtum, auch die Armut des<br />

Menschen erhält gleichmäßig - unter Voraussetzung des Sozialismus - eine menschliche und<br />

daher gesellschaftliche Bedeutung. Sie ist das passive Band, welches den Menschen den<br />

größten Reichtum, den andren Menschen, als Bedürfnis empfinden läßt. <strong>Die</strong> Herrschaft des<br />

gegenständlichen Wesens in mir, der sinnliche Ausbruch meiner Wesenstätigkeit ist die<br />

Leidenschaft, welche hier damit die Tätigkeit meines Wesens wird." 438 Im Mittelpunkt der<br />

Untersuchung werden nun die Bedingungen stehen, die den Individuen ermöglichen oder die es<br />

438 MEW 40,544.<br />

151


sogar verlangen, daß sie das Problem einer positiven Definition der Freiheit in Augenschein<br />

nehmen.<br />

Damit soll kein Verdammungsurteil über die klassischen Utopien von Platon über Morus,<br />

Campanella bis Bacon und Fichte gefällt werden, die alle ihre Berechtigung und ihren Beitrag<br />

zur Entwicklung des menschlichen Denkens jenseits des Sachzwanges haben, jedoch bleiben<br />

sie zumeist in den Grenzen ihrer historischen Epoche gefangen, wie natürlich auch alle späteren<br />

Utopien und auch dieser Versuch zur Formulierung einer positiven Definition der Freiheit. Das<br />

Hauptproblem der klassischen Utopien und ihr Unterschied zur heute notwendigen Erarbeitung<br />

von gesellschaftlichen Alternativen, wenn auch vorerst nur in den Köpfen, ist, daß sie alle ihre<br />

Utopien in der Vergangenheit (Platon) oder in fernen Regionen (Morus, Campanella, Bacon)<br />

spielen lassen und es so dem Individuum gerade nicht ermöglichen, eine Verbindung zwischen<br />

sich und den Utopien zu sehen, die in ihrer Perfektion dem Menschen eher als Beweis für die<br />

Allmacht der Götter und die Nichtigkeit des Einzelnen erscheinen.<br />

Das Grundproblem der gesellschaftlichen Utopien kann man anhand eines Beispieles recht gut<br />

nachvollziehen: Stellt man sich einen frei äußernden und entfaltenden Wassertropfen in der<br />

Unendlichkeit vor - was wäre das Resultat dieser freien Äußerung? Vermutlich eine ideale<br />

Kugel, die die Griechen für die vollkommenste geometrische Figur hielten. Stellt man sich<br />

hingegen einen Kristall vor, der sich nun ungehindert im Raum entfalten kann - was wäre das<br />

Resultat dieser freien Äußerung? Vermutlich eine hochkomplexe, kristalline Struktur, die die<br />

gleiche Sonne wie der einfache Tropfen widerspiegeln würde, nur in einer ungleich<br />

komplizierteren und vielschichtigeren Form. Wie alle Beispiele hinkt auch dieses, es<br />

verdeutlicht aber, daß ein komplizierterer Ursprungsstoff in der freien Entäußerung auch ein<br />

weit komplizierteres Gebilde, eine in sich entwickeltere und konzentriertere "Universalität" zur<br />

Folge hat. Ähnlich diesem Beispiel und der Untermauerung durch die angesprochenen Utopien<br />

wird deutlich, daß sich das Ideal der "Universalität" der Polis-Bürger von der potentiellen<br />

"Universalität" des modernen Menschen so grundlegend unterscheidet wie die in sich<br />

geschlossene Gesellschaft der antiken Griechen oder das Ideal des "geschlossenen<br />

Handelsstaats" von Fichte vom entwickelten globalen Kapitalismus. Es gilt also, zwischen<br />

Universalität und Universalität zu unterscheiden und dabei nicht zu vergessen, daß auch der de<br />

facto Zustand natürlich nur ein Zustand unter vielen ist, auf den bei glücklicher Fügung noch<br />

andere gesellschaftliche Umstände folgen, die nicht nur eine noch universellere Universalität<br />

ersinnen lassen, sondern die vielleicht sogar die Verwirklichung dieser Universalität in Angriff<br />

nehmen, und so kann nur die Analyse der konkreten historischen Bedingungen der<br />

menschlichen Interaktion, die das Individuum formen und die es selbst hervorbringt, einen<br />

Fortschritt auf dem Weg zur Lösung des Problemes der Freiheit bieten. Damit rückt erneut,<br />

und nun endgültig, das Problem des Verhältnisses der Arbeitsteilung zur historischen<br />

Entwicklung des menschlichen Individuums in den Mittelpunkt der Betrachtung.<br />

Ich denke, es ist einleuchtend und muß deshalb hier nicht erneut problematisiert werden, daß<br />

die Entwicklung der arbeitsteiligen Produktion und die Entwicklung des selbsttätigen<br />

Menschen nicht Hand in Hand gehen, sondern in einem umgekehrten Verhältnis zueinander<br />

152


stehen. 439 Je weiter die Arbeitsteilung voranschritt, um so weniger ganzheitlich und frei<br />

erschien der Mensch. <strong>Die</strong>se Entwicklung, die von vielen Kritikern aufgegriffen wurde, mündet<br />

in die Frage nach den potentiellen Grenzen dieser Divergenz und nach dem Verhältnis dieses<br />

Faktums zu den immer lauter werdenden Stimmen, die die menschliche Ganzheit, die die<br />

Ideale der Griechen beschwören.<br />

<strong>Die</strong> ausführlichen Analysen von Marx über die Entwicklung der kapitalistischen Arbeitsteilung<br />

setzen den Betrachter in die Lage, zu behaupten, daß es im Laufe dieser Entwicklung zu einer<br />

völligen Vertreibung der Freiheit aus der Sphäre der materiellen Produktion gekommen ist, da<br />

dieser Prozeß 1.) die Trennung der geistigen und körperlichen Arbeit von einem<br />

vorübergehenden Moment zu einer Grundbedingung der modernen Produktion transformiert<br />

hat; 2.) die körperliche Arbeit auf die einseitige Anwendung der abstrakten menschlichen<br />

Fähigkeiten herabwürdigt; 3.) die Anwendung dieser einseitig entwickelten Fähigkeit nicht<br />

nach Menschenmaß - und sei es auch nur physiologisch - erfolgen läßt, sondern der Mensch<br />

an das Maß und den Rhythmus der Maschine geschmiedet wird. Das einzig mögliche Feld<br />

einer wirklich freien Betätigung, die über das Maß einer Pseudofreiheit hinausgeht, ist für die<br />

Menschen der arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaft die Revolte, in der die Individuen<br />

durch ihre eigene Tätigkeit neue gesellschaftliche Verhältnisse produzieren, gleichgültig ob sie<br />

letztendlich Realität werden oder nicht. In der Revolte gewinnt das Individuum, gleichgültig<br />

welche gesellschaftliche, ökonomische oder kulturelle Stellung der Einzelne im<br />

Beziehungsgeflecht der arbeitsteiligen Ordnung einnimmt, erstmals die gesellschaftliche<br />

Dimension seines Handelns - und sei es auch nur die Erfahrung einer endlosen Kette von<br />

Niederlagen. Sein Bewußtsein, sein Wille, sein Charakter sind nicht länger nur die bloße<br />

Gratiszugabe zu den physischen Fähigkeiten des körperlich Arbeitenden, genauso wie der<br />

Körper nicht länger als bloßes Hindernis auf dem Weg zur Gewinnung der letzten Erkenntnis<br />

für den geistig Schaffenden verstanden werden muß. Je ganzheitlicher, je freier, bewußter und<br />

aktiver die Individuen sich in den revolutionären Prozeß stürzen, um so mehr gewinnt die<br />

Revolte. Von elementarer Bedeutung ist jedoch, daß in diesem Prozeß nicht nur eine, wenn<br />

auch negative Spiegelung der alten, arbeitsteiligen Ordnung entsteht, sondern auch daß der in<br />

der kapitalistischen Welt körperlich Arbeitende in der Revolte die körperliche Arbeit<br />

übernimmt und der geistig Arbeitende die theoretische Formulierung der Ziele.<br />

Der Grundfehler der marxistischen Organisationstheorie, daß sie diesen Prozeß als einseitigen<br />

Akt der Anpassung an die durch ihr historisches Leid unter der Herrschaft des Kapitals<br />

‚besseren‘ <strong>Revolution</strong>äre der körperlichen Arbeit verstand und nicht auch als Eroberung der<br />

Theorie durch die Arbeiter. Ein anderes Problem, das noch schwerer wiegt und viele<br />

Probleme des selbsternannten Sozialismus nach sich zog, war der Umstand, daß dieser Prozeß<br />

439 "Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs äußerste angreift, unterdrückt sie das<br />

vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. Selbst die<br />

Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter befreit,<br />

sondern seine Arbeit vom Inhalt. Aller kapitalis tischen Produktion, soweit sie nicht nur<br />

Arbeitsprozeß, sondern zugleich Verwertungsprozeß des Kapitals, ist es gemeinsam, daß nicht der<br />

Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet,<br />

aber erst in der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit." (MEW<br />

23,445/446)<br />

153


nicht die freie Entfaltung der Individualität zum Ziel und zum Inhalt hatte, sondern die<br />

Nivellierung von geistiger und körperlicher Arbeit auf ein Maß, das zwar für beide Seiten der<br />

arbeitsteiligen Welt erreichbar war, aber durch die Nivellierung den Individuen, die gerade in<br />

der Revolte ihre ersten aufrechten Gehversuche gemacht hatten, ein neues Ideal von<br />

Individualität setzte, das weder die freie Entfaltung des geistig noch des körperlich Arbeitenden<br />

war, sondern ihre Freiheit nur nach einer - ihrer alten Struktur entgegengesetzen - Seite hin<br />

ermöglichte. Damit bot der "reale Sozialismus" dem Individuum gerade nicht mehr Freiheit als<br />

die kapitalistische Ordnung, sondern sogar weniger, da im Endeffekt alle zu Sklaven des zur<br />

Norm erhobenen Ideales der Arbeiterklasse wurden, das weit entfernt von der realen Welt<br />

des Individuums stand. Selbst die Arbeiter, die diesem Ideal entsprachen oder ihm zumindest<br />

nahe kamen, waren unfrei weil sie als Verkörperung dieses Ideales zu Stillstand verurteilt<br />

waren - Stillstand aber ist das Gegenteil einer freien Entfaltung der Persönlichkeit.<br />

<strong>Die</strong> marxistische Theorie vermutet die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in der<br />

Hand der herrschenden Klasse, die bestimmen kann, in welche Form sich das gesellschaftliche<br />

Resultat der Tätigkeit der unmittelbaren Produzenten ergießt. Es fragt sich jedoch, was das für<br />

eine Freiheit sein soll, ist diese Freiheit doch bei Licht betrachtet nur die Freiheit, aus der<br />

Zufälligkeit ihrer eigenen Stellung im Wechselwirkungsgeflecht der kapitalistischen Gesellschaft<br />

Nutzen zu ziehen. Ein freier Mensch sollte aber mehr sein als ein Vollstrecker des Zufalles.<br />

Auch für Individuen, die sich ihre Zugehörigkeit zur herrschenden Schicht der Gesellschaft<br />

mehr oder weniger selbst erarbeitet haben, sei es durch Selbstausbeutung der körperlichen<br />

oder geistigen Arbeit über das durchschnittliche Maß hinaus oder durch Übervorteilung von<br />

anderen, ist der Kapitalismus nicht das Reich der Freiheit, selbst wenn sie glauben, daß die<br />

Ansammlung von Reichtum und Macht ihre Selbstverwirklichung und ihre Freiheit ist. Für alle<br />

Individuen eines gesellschaftlichen Ganzen gilt, daß, solange sie zu Beginn ihrer "Lebensreise"<br />

schon ein fertiges Bild vor Augen haben, welches die ganze Summe ihrer Lebensimpulse<br />

determiniert, ihre Freiheit nur in der Fähigkeit bestehen kann, die zufälligen Verknüpfungen der<br />

Umstände auszunutzen, um sich gegen die Sachzwänge des Alltages ein Stück Freiheit zu<br />

erkämpfen. Wenn dieses Bild ein wirklich individuelles Ziel ist, das sich der Einzelne<br />

selbständig erarbeitet hat, muß man zugestehen, daß dieser Mensch, der sich mit<br />

Einschränkungen als Schöpfer seiner sozialen Bestimmungen verstehen kann, eine gewisse<br />

Freiheit besitzt, jedoch ist dies nur eine relative, persönliche Freiheit, denn sie fußt auf der<br />

Unfreiheit der anderen. Wenn dem Individuum das Ziel der Lebensreise durch äußere<br />

Bedingungen zum Selbstziel wird, kann dieser Mensch nur als völliges Werk des Zufalles<br />

verstanden werden und ist als solches in keinster Weise frei. <strong>Die</strong> größte Freiheit, der er<br />

teilhaftig werden kann, ist die Freiheit, an der Zufälligkeit mitwirken zu können, als Sklave der<br />

schicksalhaften Umstände, die ihm seine konkrete soziale Stellung in der Gesellschaft zuteilten.<br />

In der Regel sucht aber das Individuum nicht einmal nach Möglichkeiten, sich aktiv auf die<br />

gegebene soziale Lage einzustellen und wenigstens Korrekturen an seiner sozialen Bestimmung<br />

vorzunehmen, da dies die Abstraktion von den alltäglichen Sachzwängen zur Voraussetzung<br />

hat. Auch Marx trennt diese beiden Arten von scheinbarer "Freiheit" des Individuums im<br />

Kapitalismus: "Der Unterschied zwischen persönlichem Individuum und zufälligem Individuum<br />

ist keine Begriffsunterscheidung, sondern ein historisches Faktum. <strong>Die</strong>se Unterscheidung hat zu<br />

154


verschiedenen Zeiten einen verschiedenen Sinn, z.B. der Stand als etwas dem Individuum<br />

Zufälliges im 18. Jahrhundert, plus ou moins auch die Familie. Es ist eine Unterscheidung, die<br />

nicht wir für jede Zeit zu machen haben, sondern die jede Zeit unter den verschiedenen<br />

Elementen, die sie vorfindet, selbst macht, und zwar nicht nach dem Begriff, sondern durch<br />

materielle Lebenskollisionen gezwungen. Was als zufällig der späteren Zeit im Gegensatz zur<br />

früheren erscheint, also auch unter den ihr von der früheren überkommenen Elementen, ist eine<br />

Verkehrsform, die einer bestimmten Entwicklung der Produktivkräfte entsprach. Das<br />

Verhältnis der Produktionskräfte zur Verkehrsform ist das Verhältnis der Verkehrsform zur<br />

Tätigkeit oder Betätigung der Individuen." 440 <strong>Die</strong> dieser Vorstellung zugrundeliegende Idee<br />

vom Unterschied zweier Etappen ein und derselben geschichtlichen Epoche kann zwar<br />

aufgrund ihres Schematismus und ihres Deduktionismus nicht geteilt werden, der Grundidee<br />

kann aber dennoch gefolgt werden, denn wenn man davon ausgeht, daß die geschichtliche<br />

Entwicklung auf dem Gebiet der Vergesellschaftung eine zunehmende Komplexität erlangte,<br />

gleichzeitig aber klar ist, daß das Gefühl der Unfreiheit mit zunehmender Dichte der Gattung<br />

wächst, so ist verständlich, daß für die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte und für die<br />

überwiegende Mehrheit der Menschen diese Freiheit in der Vergangenheit angesiedelt sein<br />

mußte, weil dort der Albdruck der gesellschaftlichen Allmacht noch nicht so stark auf dem<br />

Individuum lastete. Deshalb orientierten sich die Menschen der Renaissance, zu denen auch<br />

die drei bekanntesten Utopisten (Morus, Campanella, Bacon) gehörten, die also in einer Zeit<br />

lebten, in der sich den Individuen trotz der gewachsenen sozialen Möglichkeiten auch eine<br />

drangvolle, gesellschaftliche Nähe offenbarte, an den Heroen der Antike, wurden aber<br />

gleichzeitig durch ihre Stellung am Ende der "düsteren" Jahre des Mittelalters und Begründer<br />

der Neuzeit zu wahrhaften Giganten in der Geschichtsschreibung der nachfolgenden<br />

Generationen. Engels faßt diese Stimmung des 19. Jahrhunderts gut in der Einleitung zur<br />

Dialektik der Natur zusammen: "Es war die größte progressive Umwälzung, die die<br />

Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an<br />

Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. <strong>Die</strong> Männer, die<br />

die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich<br />

beschränkt. Im Gegenteil, der abenteuerliche Charakter der Zeit hat sie mehr oder weniger<br />

angehaucht. Fast kein bedeutender Mann lebte damals, der nicht weite Reisen gemacht, der<br />

nicht vier oder fünf Sprachen sprach, der nicht in mehreren Fächern glänzte. (...) <strong>Die</strong> Heroen<br />

jener Zeit waren eben noch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren<br />

beschränkende, einseitig machende Wirkung wir so oft an ihren Nachfolgern verspüren. Was<br />

ihnen aber besonders eigen, das ist, daß sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im<br />

praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und<br />

Schrift, der mit dem Degen, manche mit beidem. Daher jene Fülle und Kraft des Charakters,<br />

die sie zu ganzen Männern macht." 441 Allem Anschein nach war eine lange Zeit erforderlich,<br />

die Zeit des Unterganges des "Schlaraffenlandes", damit die Nachfahren dieser freien,<br />

ganzheitlichen, und markanten Individuen zur Weltgeistamöbe und zum Gesinnungskäfer<br />

(Botho Strauß) wurden, zu Menschen also, die ihre Menschlichkeit in der Anhäufung von toter<br />

440 MEW 3,71.<br />

441 MEW 20,312.<br />

155


Materie zu beweisen trachten. Wenn Marx in der "Deutschen Ideologie" den Kapitalisten als<br />

völlig durch seine soziale Umgebung determiniert beschreibt, muß man dies auch auf die<br />

anderen gesellschaftlichen Gruppen ausdehnen. 442 Erscheint nicht drohende Arbeitslosigkeit<br />

als Todesurteil der menschlichen Existenz? Als ob bezahlte Arbeit - geistige oder körperliche -<br />

die Arbeit an sich wäre, die den Menschen zum Menschen macht.<br />

Es bietet sich an, noch einmal auf den Begriff der Arbeit zurückzukommen, da es einerseits<br />

unterschiedliche Auffassungen über den Inhalt der Arbeit gibt und auf der anderen Seite diese<br />

Arbeit von elementarer Bedeutung für die Zielvorstellung einer praktischen Philosophie in der<br />

Tradition von Karl Marx ist. Im "Nachwort zu Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu<br />

Köln" kann man lesen, daß "die Gesellschaft nun einmal nicht ihr Gleichgewicht (findet), bis sie<br />

sich um die Sonne der Arbeit dreht." 443 Was ist aber diese Arbeit, um die sich die Gesellschaft<br />

drehen soll? <strong>Die</strong> Arbeit erscheint als Knotenpunkt der Verbindung von Herrschaft und<br />

Befreiung, von Mühsal und Genuß, von Entfremdung und Selbstbewußtsein und von<br />

Notwendigkeit und Freiheit. In der Arbeit findet die Interaktion des Menschen mit der Natur<br />

und der Menschen untereinader statt und doch wird in soziologischen Diskursen vom Ende der<br />

Arbeitsgesellschaft gesprochen. 444 Ist es der Gesellschaft gelungen, entsprechend der von den<br />

utopischen Sozialisten und auch von Marx aufgestellten Forderungen, die Arbeit gerecht zu<br />

verteilen (W.Weitling) 445 und sie anziehend zu machen (Fourier) 446 ? Denn "ist die Arbeit<br />

notwendig und unumgänglich, dann können die Menschen nur dann frei sein, wenn sie die<br />

Produktion so organisieren, daß die Arbeit anziehend wird." 447 Leben wir in einer<br />

Gesellschaft, die Schlußfolgerungen aus der These gezogen hat, die Victor Considerant 1845<br />

formulierte?<br />

Marx hatte in seinen frühen Schriften für so viel Real-Politik nichts übrig und wollte die Arbeit<br />

radikal ganz abschaffen, da die Kategorie der Arbeit ihm, wie oben ausgeführt, als Synonym<br />

für entfremdete Arbeit erschien. "Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus der<br />

entwickelten Geschichtsauffassung: (...) 3. daß in allen bisherigen <strong>Revolution</strong>en die Art der<br />

Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andre Distribution dieser Tätigkeit,<br />

um eine neue Verteilung der Arbeit an andre Personen handelte, während die kommunistische<br />

<strong>Revolution</strong> sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt und die<br />

442 "<strong>Die</strong>s ist nicht so zu verstehen, als ob z.B. der Rentier, der Kapitalist pp. aufhörten, Personen zu<br />

sein; sondern ihre Persönlichkeit ist durch ganz bestimmte Klassenverhältnisse bedingt und<br />

bestimmt, und der Unterschied tritt erst im Gegensatz zu einer andern Klasse und für sie selbst erst<br />

dann hervor, wenn sie Bankerott machen." (MEW 3,76)<br />

443 MEW 18,570.<br />

444 Vgl. z.B.: Matthes, Joachim; Krise der Arbeitsgesellschaft; Frankfurt/Main 1982.<br />

445 Vgl. Wilhelm Weitlings Kapitel "Von den Arbeiten" in seinem Buch "Garantien der Harmonie und<br />

der Freiheit" (Berlin/DDR 1955; S.158-160). Vgl. auch: Knatz, Lothar/ Marsiske, Hans-Arthur;<br />

Wilhelm Weitling - Ein deutscher Arbeiterkommunist; Hamburg 1989.<br />

446 Fouriers, Charles; Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmung; Wien 1966. Vgl.<br />

auch die gute Zusammenfassung von: Höppner, Joachim; Zur Geschichtsphilosophie Charles<br />

Fouriers; in: Höppner/ Seidel-Höppner 1987,49-107.<br />

447 Considerant, Victor; Kurzer Abriß von Fouriers Phalanxsystem; in: Höppner, Joachim/ Seidel-<br />

Höppner, Waltraud; Von Babeuf bis Blanqui - Französischer Sozialismus und Kommunismus vor<br />

Marx; Leipzig 1975; Bd.2, S.229.<br />

156


Herrschaft aller Klassen mit allen Klassen selbst aufhebt" 448 . Als Gegenbegriff und als<br />

Organisationsform der menschlichen Entäußerung nach Ende der Arbeitsgesellschaft verstand<br />

Marx in dieser Zeit ein universelles Produzieren in freier Selbsttätigkeit "nach den Gesetzen der<br />

Schönheit". 449 Bis zur Überwindung der Arbeitsgesellschaft durch die kommunistische<br />

<strong>Revolution</strong> ist die Arbeit ein zwiespältiger Prozeß, denn auf der einen Seite fangen die<br />

Menschen "an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu<br />

produzieren" 450 und auf der anderen Seite waren "in den früheren Perioden Selbstbetätigung<br />

und Erzeugung des materiellen Lebens dadurch getrennt, daß sie an verschiedene Personen<br />

fielen und die Erzeugung des materiellen Lebens wegen der Borniertheit der Individuen selbst<br />

noch als eine untergeordnete Art der Selbstbetätigung galt, fallen sie jetzt so auseinander, daß<br />

überhaupt das materielle Leben als Zweck, die Erzeugung dieses materiellen Lebens, die<br />

Arbeit (welche die jetzt einzig mögliche, aber wie wir sehn, negative Form der<br />

Selbstbetätigung ist), als Mittel erscheint." 451<br />

Im Prozeß der Entwicklung seiner Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit erkannte Marx,<br />

daß die Arbeit selbst in zwei diametrale Elemente - ihre Formbestimmung und ihre<br />

Naturnotwendigkeit - zerfällt und so nicht mehr die Arbeit an sich negiert werden muß,<br />

sondern nur die negative Seite der Arbeit - ihre Formbestimmung -, um die Arbeit in die freie<br />

Form der Selbsttätigkeit des Individuums zu überführen.<br />

Durch die Entdeckung des Doppelcharakters der Arbeit war Marx in der Lage, seine<br />

spekulative Kritik der Entfremdung der Arbeit durch eine detaillierte Beschreibung und<br />

Analyse der realen Arbeit weiter zu entwickeln, wobei er das Hauptgewicht seiner<br />

Aufmerksamkeit der Formbestimmtheit der Arbeit als Lohnarbeit zuwandte. Grundlage der<br />

"Kritik der politischen Ökonomie" ist dabei gerade die Analyse des Doppelcharakters der<br />

Arbeit, einerseits durch "konkret-nützliche Arbeit" Gebrauchswerte zu produzieren und<br />

andererseits durch "abstrakt-menschliche Arbeit" Tauschwerte und damit Warenwerte zu<br />

produzieren. <strong>Die</strong> in den Pariser Manuskripten als göttliche Hinterlist auftauchende Verkehrung,<br />

nicht auf "menschliche" Art und Weise zu produzieren, kann ausgehend von dieser Grundlage<br />

exakt bestimmt und dann analysiert werden. "Es ist nicht mehr der Arbeiter, der<br />

Produktionsmittel anwendet, sondern es sind die Produktionsmittel, die den Arbeiter<br />

anwenden. Statt von ihm als stoffliche Elemente seiner produktiven Tätigkeit verzehrt zu<br />

werden, verzehren sie ihn als Ferment ihres eignen Lebensprozesses, und der Lebensprozeß<br />

des Kapitals besteht nur in seiner Bewegung als sich selbst verwertender Wert." 452 <strong>Die</strong>se<br />

Produktionsmittel, die dem Menschen durch die Verkehrung als fremd gegenübertreten, sind<br />

für Marx tote Arbeit, da die Maschinen und die Vorprodukte - die vergegenständlichte Arbeit<br />

- zeitlich vor dem Prozeß der "konkret-nützlichen Arbeit" des Einzelnen von ihm selbst, oder<br />

von anderen erstellt worden sind. "Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur<br />

vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie<br />

448 MEW 3,69/70.<br />

449 MEW 40,517.<br />

450 MEW 3,21.<br />

451 MEW 3, 67.<br />

452 MEW 23,329.<br />

157


davon einsaugt." 453 "<strong>Die</strong> Wirkung, die die Dinge haben als gegenständliche Momente des<br />

Arbeitsprozesses, werden ihnen im Kapital zugeschrieben, als von ihnen besessen in ihrer<br />

Personifizierung, Selbständigkeit gegen die Arbeit. Sie würden aufhören, diese Wirkung zu<br />

haben, wenn sie aufhörten, in dieser entfremdeten Form sich der Arbeit gegenüber zu<br />

verhalten. Der Kapitalist als Kapitalist ist bloß die Personifikation des Kapitals, die mit eignem<br />

Willen, Persönlichkeit begabte Schöpfung der Arbeit im Gegensatz zur Arbeit." 454 Ausgehend<br />

von diesem Verständnis der konkreten Formbestimmtheit der Arbeit in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft verengt sich auch der Begriff der produktiven, "konkret-nützlichen Arbeit", die an<br />

sich produktiv im Sinne der Freiheit und Selbstentäußerung der Menschen ist, und es entsteht<br />

der Gegensatz von produktiver und unproduktiver Arbeit. "<strong>Die</strong> kapitalistische Produktion ist<br />

nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiter<br />

produziert nicht für sich, sondern für das Kapital. Es genügt nicht länger, daß er überhaupt<br />

produziert. Er muß Mehrwert produzieren. (...) Der Begriff der produktiven Arbeit schließt<br />

daher keineswegs bloß ein Verhältnis zwischen Tätigkeit und Nutzeffekt, zwischen Arbeiter<br />

und Arbeitsprodukt ein, sondern auch ein spezifisch gesellschaftliches, geschichtlich<br />

entstandnes Produktionsverhältnis, welches den Arbeiter zum unmittelbaren Verwertungsmittel<br />

des Kapitals stempelt. Produktiver Arbeiter zu sein ist daher kein Glück, sondern ein<br />

Pech." 455<br />

Vor diesem Hintergrund der Formbestimmtheit der Arbeit bei gleichzeitiger Beibehaltung ihres<br />

ursächlich "konkret-nützlichen" Charakters kommt es zu einer dreifachen Teilung der<br />

gesellschaftlichen Arbeit, die in der oben angedeuteten Weise auf die Individuen zurückschlägt.<br />

<strong>Die</strong> erste Form, die "Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des<br />

fremden in der Zeugung, erscheint nun sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als<br />

natürliches, andrerseits als gesellschaftliches Verhältnis -, gesellschaftlich in dem Sinne, als<br />

hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf<br />

welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird." 456 Wenn man sich dieser Meinung<br />

anschließen will, folgt daraus auch - da der gesellschaftliche Charakter der Teilung der Arbeit<br />

zwischen Mann und Frau formell und nicht inhaltlich ist und die gesellschaftliche Vermittlung<br />

zwischen den Geschlechtern nicht in der "natürlichen" und im biologischen Sinne wohl kaum zu<br />

überwindenden Trennung der Geschlechter begründet liegen kann -, daß der zu Recht<br />

kritisierte Zustand der konkreten Realität nicht das Resultat der geschlechtlichen Arbeitsteilung<br />

ist, sondern vielmehr der an anderer Stelle entstehende, negative Inhalt der gesellschaftlichen<br />

Realität auch dieses Verhältnis gerade wegen seines gesellschaftlichen Charakters beeinflußt.<br />

In diesem Sinne ist eine Zusammenführung des radikalen Feminismus, der den Gegensatz<br />

zwischen Mann und Frau als ursächliche Begründung für die Schlechtigkeit der Welt zu<br />

erkennen glaubt, mit der Theorie von Marx de facto nicht möglich, da für Marx "mit der<br />

Teilung der Arbeit (...) zu gleicher Zeit auch die Verteilung, und zwar die ungleiche, sowohl<br />

quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben (ist), also das<br />

453 MEW 23,247.<br />

454 MEW 26/3,290.<br />

455 MEW 23,532.<br />

456 MEW 3,29/30.<br />

158


Eigentum, das in der Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind, schon<br />

seinen Keim, seine erste Form hat." 457 Wenn aber die unüberbrückbare, geschlechtliche<br />

Trennung zwischen Mann und Frau gleichzeitig zwangsweise die Ungleichheit in allen Sphären<br />

zwischen Mann und Frau zur Folge hätte, wäre eine Veränderung der Welt nicht möglich,<br />

solange nicht eine Seite eleminiert würde. <strong>Die</strong> Emanzipation des Menschen, die die<br />

Vernichtung eines Teiles von ihm - seien es nun die Männer oder Frauen - erfordern würde,<br />

ließe jede Emanzipation hinfällig werden, da man - wie später gezeigt werden wird - die<br />

Freiheit nicht durch Unfreiheit erkämpfen kann.<br />

Als zweite Form der Arbeitsteilung entwickelt Marx ausgehend von der Interpretation des<br />

Buches von Proudhon "Système des contradictions économiques, ou philosophie de la misère"<br />

(1846) die Vorstellung, daß "die erste bedeutende Arbeitsteilung die Trennung von Stadt und<br />

Land" sei und daß sich "in dem Maße, wie sich bloß dies Verhältnis der Stadt zum Land<br />

modifiziert, sich die ganze Gesellschaft (modifiziert)." 458 Marx untersucht vor allem die<br />

Trennung von Stadt und Land in der Frühphase der Herausbildung des Kapitalismus, also vor<br />

der "Eroberung" der Kolonien. <strong>Die</strong>ser Gegensatz, der kein naturwüchsiger ist, da in seiner<br />

Genese der Mensch primär Landbewohner war, muß historisch fortgeschrieben werden, um<br />

auch für die heutige Zeit gültig zu sein. 459 Im dritten Band des "Kapitals" vertritt Marx die<br />

Vorstellung, daß die Trennung von Stadt und Land nur Ausdruck der industriellen<br />

Arbeitsteilung sei, denn die Trennung von Mehrarbeit und notwendiger Arbeit "ist nur Teilung<br />

der Arbeit zwischen ihnen. Ebenso verhält es sich mit der Teilung der Arbeit zwischen<br />

agrikolen und industriellen Arbeitern überhaupt. Dem rein industriellen Charakter der Arbeit<br />

auf der einen Seite entspricht der rein agrikole auf der anderen. <strong>Die</strong>se rein agrikole Arbeit ist<br />

keineswegs naturwüchsig, sondern selbst ein Produkt, und zwar ein sehr modernes,<br />

keineswegs überall erreichtes, der gesellschaftlichen Entwicklung und entspricht einer ganz<br />

bestimmten Produktionsstufe." 460 Ähnlich wie die gesellschaftliche Realisierung der Trennung<br />

zwischen Mann und Frau ist auch die Trennung von Stadt und Land, Peripherie und Zentrum<br />

nicht ursächliche Begründung ihrer selbst bzw. der Existenz der gesellschaftlichen Totalität und<br />

ihrer Entfremdung. Wenn hier der Eindruck entsteht, daß der Autor die marxistische Theorie<br />

von Haupt- und Nebenwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft wieder aufwärmen will,<br />

ist dies grundfalsch, da es hier nicht um eine ökonomisch-gesellschaftliche Analyse der<br />

Wirklichkeit geht, sondern um das Problem der Freiheit, und dieser ganze Exkurs nur dem<br />

Zwecke dienen soll, den Ort zu erkennen, wo die Erkenntnis in die Möglichkeiten zur Freiheit<br />

behindert werden. <strong>Die</strong>s kann nicht der Gegensatz von Stadt und Land, Peripherie und Zentrum<br />

sein, da es ohne Probleme denkbar ist, eine freie Gesellschaft zu konstituieren, wo die einen<br />

457 MEW 3,32.<br />

458 MEW 4,145. Vgl. auch: MEW 3,31 und 3,50.<br />

459 In meinem Buch "Eine Welt zu gewinnen" wird ausgehend von den Texten von Marx und Engels,<br />

aber auch von anderen Theroretikern eine differenzierte Betrachtung dieses Gegensatzes<br />

unternommen, der sich heute als Trennung des kapitalistischen Zentrums von den Peripherien in<br />

Asien, Afrika und Lateinamerika darstellt (<strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong>, <strong>Kai</strong>; Eine Welt zu gewinnen! <strong>Die</strong><br />

antikoloniale Strategie-Debatte in der Kommunistischen Internationale zwischen 1917 und 1929<br />

unter besonderer Berücksichtigung der Theorien von Manabendra Nath Roy; Bonn 1994.; v.a. S.10-<br />

32).<br />

460 MEW 25,646.<br />

159


Menschen als Bühne ihrer freien Selbstentäußerung ländliche Regionen bevorzugen, während<br />

andere das pulsierende Leben der Städte als Verwirklichungsebene ihrer selbst nicht missen<br />

wollen. Problematisch ist also nicht der Gegensatz von Stadt und Land an sich, sondern die<br />

mangelnde Freiheit der Einzelnen, über ihre Stellung in diesem Beziehungspaar selbstbewußt zu<br />

entscheiden.<br />

Anders verhält es sich mit der dritten Form, der Beziehung von geistiger und körperlicher<br />

Arbeit, die als zentrale Ursache für die Entfremdung des Menschen angesprochen, jedoch<br />

nicht näher spezifiziert wurde. In der "Deutschen Ideologie" wird die Vorstellung vertreten, daß<br />

"die Teilung der Arbeit erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an (wird), wo eine Teilung<br />

der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblicke an kann sich das<br />

Bewußtsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu<br />

sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen - von diesem<br />

Augenblicke an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur<br />

Bildung der 'reinen' Theorie (...) überzugehen." 461 Man sieht, daß Marx auch diese Teilung<br />

nicht prinzipiell verurteilt, da erst durch die Teilung der Arbeit, also auch der Trennung von<br />

geistiger und körperlicher Arbeit die absolute Ausdehnung der menschlichen Grenzen über ihre<br />

"natürlichen Grenzen" hinaus möglich wurde, aber gleichzeitig mit dieser Ausdehnung der<br />

äußeren Grenzen über den für ein einzelnes Individuum erarbeitbaren Inhalt hinaus das<br />

Problem der Vermittlung von inneren Grenzen und äußeren Grenzen auftritt und vor allem die<br />

Bestimmung der eigenen Position im Wechselwirkungsgeflecht der Gesellschaft problematisiert<br />

werden muß. Wenn diese Textstelle von marxistischen Theoretikern, wie zum Beispiel Sohn-<br />

Rethel, als modifizierter Sündenfall präsentiert wird, muß angemerkt werden, daß Über- und<br />

Unterordnung, Klassengegensatz und Staat hier bereits vorausgesetzt sind. So war es für Marx<br />

auch kein "Privileg" der Arbeiter, in geistig und körperlich Schaffende zerteilt zu werden,<br />

sondern auch innerhalb der von ihm als herrschend analysierten Klasse glaubte er, diesen<br />

Prozeß erkennen zu können. 462 Da hier ursächlich die Entäußerung des Individuums in der<br />

Arbeit untersucht werden soll, wird von einer universellen Gemeinschaft der Arbeitenden<br />

461 MEW 3,31.<br />

462 "<strong>Die</strong> Teilung der Arbeit, die wir schon oben als eine der Hauptmächte der bisherigen Geschichte<br />

vorfanden, äußert sich nun auch in der herrschenden Klasse als Teilung der geistigen und<br />

materiellen Arbeit, so daß innerhalb dieser Klasse der eine Teil als Denker dieser Klasse auftritt (...),<br />

während die Andern sich zu diesen Gedanken mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in der<br />

Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind und weniger Zeit dazu haben, sich Illusionen<br />

und Gedanken über sich selbst zu machen. Innerhalb dieser Klasse kann die Spaltung derselben<br />

sich sogar zu einer gewissen Entgegensetzung und Feindschaft beider Teile entwickeln, die aber<br />

bei jeder praktischen Kollision, wo die Klasse selbst gefährdet ist, von selbst wegfällt, wo denn<br />

auch der Schein verschwindet, als wenn die herrschenden Gedanken nicht die Gedanken der<br />

herrschenden Klasse wären und eine von der Macht dieser Klasse unterschiedene Macht hätten.<br />

<strong>Die</strong> Existenz revolutionärer Gedanken in einer bestimmten Epoche setzt bereits die Existenz einer<br />

revolutionären Klasse voraus..." (MEW 3,46-47). In dieser Stelle liegt das Problem des Umganges<br />

des Marxismus, der sich als Theorie aus der Arbeiterklasse verstand, mit den Intellektuellen, die als<br />

Teil der Kapitalistenklasse betrachtet wurden, begründet. War diese Vorstellung zu Marxens Zeit<br />

vielleicht noch in Ansätzen gerechtfertigt, auch wenn bezeichnenderweise alle "Führer" des<br />

revolutionären Proletariates jener Zeit aus der Kapitalistenklasse kamen, ist sie heute völlig<br />

überholt und für die Erkenntnis realer Lösungsansätze im Streben nach Freiheit zutiefst hinderlich.<br />

Aber dazu später mehr.<br />

160


ausgegangen. "Soweit der Arbeitsprozeß ein rein individueller, vereinigt derselbe Arbeiter alle<br />

Funktionen, die sich später trennen. In der individuellen Aneignung von Naturgegenständen zu<br />

seinen Lebenszwecken kontrolliert er sich selbst. Später wird er kontrolliert. Der einzelne<br />

Mensch kann nicht auf die Natur wirken ohne Betätigung seiner eignen Muskeln unter<br />

Kontrolle seines eignen Hirns. Wie im Natursystem Kopf und Hand zusammengehören, vereint<br />

der Arbeitsprozeß Kopfarbeit und Handarbeit. Später scheiden sie sich bis zum feindlichen<br />

Gegensatz." 463 <strong>Die</strong> Trennung von Kopf- und Handarbeit in der kapitalistischen Produktion ist<br />

also als ein Resultat der ihr zugrunde liegenden Arbeitsteilung zwischen den Individuen zu<br />

verstehen und endet da, wo der Mensch wieder universell produziert. Da sich der moderne<br />

Mensch unter der Maxime seiner Sterblichkeit und seiner gewachsenen materiellen<br />

Bedürfnisse nicht zum Naturwesen der Frühphase seiner Gattung zurückentwickeln kann, ohne<br />

daß es ihm als elementarer Verlust seiner selbst erscheint, er aber auch nicht die moderne<br />

Produktion alleine aufrecht erhalten kann, kann die Frage nach der Aufhebung der Trennung<br />

von geistiger und körperlicher Arbeit nicht mit der Forderung nach einer absoluten Aufhebung<br />

der Arbeitsteilung verbunden werden, sondern es muß untersucht werden, ob jede Form von<br />

Arbeitsteilung zwangsläufig und immer in der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit<br />

und damit in Entfremdung enden muß. Wenn dem so wäre, dann wäre wahrlich die Aufhebung<br />

der Arbeit an sich notwendig, um dem Menschen Freiheit zu eröffnen, oder aber die<br />

Entwicklung der arbeitsteiligen Produktionsweise führt in die Todesfalle der Menschheit, aus<br />

der es kein Entrinnen und damit keine Hoffnung auf Freiheit gibt.<br />

Geistige und körperliche Arbeit sind in der modernen Gesellschaft nicht mehr nach dem<br />

einfachen Muster der Produktionsweise des letzten Jahrhunderts zu verstehen, wo im wahrsten<br />

Sinne des Wortes die einen körperliche und die anderen geistige Arbeit verrichteten. Aber<br />

auch schon damals gab es keine körperliche Arbeit ohne geistige Kontrolle dieses Prozesses,<br />

selbst wenn es die millionenfache Aneinanderreihung einer Tätigkeit war, die nur wenige<br />

Sekunden dauerte und die dem Arbeiter scheinbar unbewußt von der Hand ging. Auch die<br />

geistige Arbeit kann nicht losgelöst von der Körperlichkeit des Geistes erfolgen, nicht zuletzt,<br />

da der Geist das Resultat eines rein körperlichen Prozesses, der physiologischen Prozesse im<br />

menschlichen Gehirn, des Denkens ist, auch wenn der Körper dem geistig Schaffenden häufig<br />

als störend und hinderlich auf dem Weg zur Hervorbringung des geistigen Produktes erscheint.<br />

Es kann bei der Unterscheidung von geistiger und körperlicher Arbeit also nur um die<br />

Dominanz dieser oder jener Seite der untrennbaren Teile jeder Arbeit gehen. War dies zu<br />

Marxens Zeiten noch relativ einfach zu erkennen, steht man heute vor dem Faktum, daß die<br />

schwere körperliche Arbeit, die als Sinnbild der körperlichen Arbeit schlechthin gilt,<br />

zunehmend aus der Arbeitswelt der Individuen, zumindest in den kapitalistischen Zentren,<br />

verschwindet und von Maschinen übernommen wird, deren Tätigkeit zwar absolut unfrei ist,<br />

diese aber nicht in Depressionen stürzt, da sie nicht nach Freiheit dürsten. Gleichzeitig scheint<br />

der Anteil der geistigen Arbeit sprunghaft angestiegen zu sein, was nicht zuletzt daran deutlich<br />

gemacht wird, daß inzwischen mehr Jugendliche ein Studium aufnehmen als eine Lehre<br />

absolvieren. Ist also die Gesellschaft im Begriff, sich zu einer modernen Polisgesellschaft zu<br />

463 MEW 23,531.<br />

161


entwickeln, in der sich der Mensch den Künsten und der Wissenschaft hingibt, während die<br />

Maschinen als Sklaven der Neuzeit die körperliche Arbeit verrichten? Steht also der Traum<br />

von der Wiederkehr des goldenen Zeitalters der Antike kurz bevor, quasi als Verwirklichung<br />

und Abschluß der Arbeitsteilung?<br />

Dem ist nicht so. In der Realität hat sich nicht das Verhältnis von geistiger und körperlicher<br />

Arbeit gewandelt, sondern die Veränderungen müssen als Entwicklung der Produktion von<br />

einfacher Arbeit zu zunehmend komplizierteren Arbeitsprozessen verstanden werden, bei<br />

absoluter Beibehaltung des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit. Marx ahnte<br />

diese Entwicklung in gewisser Weise: "Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs<br />

äußerste angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert alle freie<br />

körperliche und geistige Tätigkeit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der<br />

Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit<br />

vom Inhalt. Aller kapitalistischen Produktion, soweit sie nicht nur Arbeitsprozeß, sondern<br />

zugleich Verwertungsprozeß des Kapitals, ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die<br />

Arbeitsbedingungen, sondern umgekehrt daß die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet,<br />

aber erst mit der Maschine erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit.<br />

Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des<br />

Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die<br />

lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt. (...) Das Detailgeschick des individuellen,<br />

entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als ein winzig Nebending vor der Wissenschaft,<br />

den ungeheuren Naturkräften und der gesellschaftlichen Massenarbeit, die im<br />

Maschinensystem verkörpert sind und mit ihm die Macht der 'Meister' (master) bilden." 464<br />

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß es sich bei der "wissenschaftlich-technischen<br />

<strong>Revolution</strong>", die ihren deutlichsten Ausdruck in der massenhaften Einführung von<br />

computergesteuerter Produktion erhielt, nicht um eine Verlagerung oder eine Versöhnung<br />

innerhalb des Verhältnisses von geistiger und körperlicher Arbeit handelt, sondern nur um<br />

einen sprunghaften Anstieg der Komplexität der körperlichen Arbeit, die als geistige erscheint,<br />

weil sie Bereiche abdeckt, die vor nicht allzu langer Zeit noch Domänen der geistigen<br />

Produktion waren. Wenn in der modernen Gesellschaft der Eindruck vermittelt wird, die<br />

scheinbar neue Arbeit mit dem Werkzeug Computer hätte die zuvor hart körperlich<br />

Arbeitenden über Nacht zu geistig Schaffenden gewandelt, verkennt sie, daß der<br />

Arbeitsprozeß kein geistiges Produkt erzeugt, daß der Arbeiter nicht neue Techniken und<br />

Methoden der Produktion entwickelt, sondern nur mit einem neuen Werkzeug aus toter Arbeit<br />

Wert überträgt. Bei Licht betrachtet änderte sich durch die neue Produktionsweise für die<br />

Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit und damit für die Grundlage der das Streben<br />

nach Freiheit behindernden Entfremdung nicht viel mehr als durch die Einführung des Rades<br />

beim Bau der Pyramiden der Antike, bis auf den Umstand, daß der körperlich Arbeitende sich<br />

plötzlich als geistig Schaffender fühlen kann. Viele Domänen der geistigen Arbeit sind in den<br />

letzten Jahrzehnten von den körperlich Arbeitenden erobert worden, bzw. Positionen, die<br />

bislang mehrheitlich geistige Entäußerung des Individuums verlangten, können nun durch<br />

464 MEW 23,446.<br />

162


mehrheitlich körperliche Arbeit erfüllt werden. <strong>Die</strong> daraus folgende Verwirrung der Individuen<br />

ist nicht zu unterschätzen, glauben doch viele Studenten noch heute, geistig Arbeitende zu sein,<br />

obwohl sie später ihr Auskommen in einer rein körperlichen Entäußerung finden werden, auch<br />

ihr Studium zunehmend diesen Bedürfnissen angepaßt wird und die Frage der<br />

Praxistauglichkeit zur zentralen Frage selbst scheinbar progressiver Bewegungen wird. 465 Mit<br />

der Auflösung des deutlich sichtbaren Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit, ohne<br />

diesen Gegensatz selbst zu überwinden, schwindet das Bewußtsein um ihn und verstellt so<br />

seine potentielle Überwindung. Selbst das Ziel einer Annäherung der Gegensätze bei<br />

gleichzeitiger Beibehaltung als sozialdemokratische Reformvariante innerhalb der<br />

wertvermittelten Ordnung durch zunehmende Bildung der körperlich Arbeitenden verliert an<br />

Einfluß in einer Welt, in der die monotone Beherrschung einer Maschine - des Computers -<br />

und die reine Fähigkeit, Bücher zu lesen, als Indiz für eine vergeistigte Persönlichkeit gelten.<br />

Auf der anderen Seite hat die zunehmende Abkoppelung der geistigen Arbeit durch ihre sich<br />

verstärkende Spezialisierung zu einem neuen Phänomen geführt: zur arbeitsteiligen geistigen<br />

Arbeit. War in der Frühphase der kapitalistischen Produktion mit ihren einfachen<br />

Produktionsmethoden zumindest die geistige Verarbeitung dieser einfacheren Welt so<br />

überschaubar, daß die Kenntnis der wissenschaftlichen Methode die geistig Arbeitenden dazu<br />

emanzipierte, sich den gesamten Inhalt dieser geistigen Arbeit potentiell selbst zu erarbeiten,<br />

um so eine Anschauung der Welt zu erlangen, so ist heute das geistige Wissen über die Welt<br />

derart gewachsen, daß ein Menschleben kaum ausreicht, auch nur ein Sachgebiet inhaltlich<br />

erarbeitet zu haben, vor allem da die Wissenschaft mit der Zunahme ihres Inhaltes auch einen<br />

zunehmenden Arbeiterbedarf produziert, der dieses Wissen weiter expandieren läßt. Während<br />

also die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit für die körperlich Arbeitenden<br />

verschwimmt, da sie sich als geistig Arbeitende fühlen, wird die Einsicht in die Realität von<br />

Welt für die geistig Arbeitenden zunehmend schwieriger, da die Arbeitsteilung innerhalb des<br />

geistigen Betriebes komplexer wird. Ihnen wird der Eindruck vermittelt, daß ihnen der Zugang<br />

zu einer geistigen Erarbeitung der Welt ebenso verstellt wird wie den körperlich Arbeitenden,<br />

obwohl sie doch den potentiellen Zugang dazu hätten. Eine komplexere Gesellschaft produziert<br />

zwar einerseits auch komplexere Individuen, die ihrerseits immer komplexere geistige und<br />

körperliche Arbeit leisten und eine immer komplexere Welt erarbeiten, aber andererseits vor<br />

der Allmacht ihres Produktes selbst erschaudern und das Projekt einer geistigen Verarbeitung<br />

der Welt als Illusion verdammen, und so scheint sich die Geschichte zu schließen als<br />

auswegloser Irrgarten der Unfreiheit.<br />

In diesen Zusammenhang ist auch die von Marx kritisierte Klasse der Kapitalisten<br />

einzuordnen, vor allem vor dem Hintergrund, daß der Privatbesitz an Produktionsmitteln seit<br />

dem letzten Jahrhundert rapide abgenommen hat. Auch hier muß man Marx zugestehen, daß<br />

465 So versuchte der Marxistische Studentenbund Spartakus, seine gewerkschaftlich orientierte<br />

Studentenpolitik - so die Selbsteinschätzung - an den Mann und die Frau zu bringen, in dem sie<br />

sich selbst als die Aktivsten ausgaben. Aber nicht die Aktivsten bei der Erarbeitung einer<br />

wissenschaftlichen Analyse der Welt, sondern beim Abhalten von Festen und blankem<br />

Aktionismus ohne Inhalt. <strong>Die</strong>ser Aktionismus emanzipierte sie natürlich für ihre zukünftige Arbeit<br />

als Rädchen der kapitalistischen Maschinerie, da kein Inhalt auch durch jeden beliebigen anderen<br />

Inhalt ersetzt werden kann.<br />

163


sich hinter den aus heutiger Sicht in die Irre führenden Klassenkampfparolen von der<br />

Schlechtigkeit des Kapitalisten eine reale Einschätzung über die gesellschaftliche Stellung<br />

dieser Gruppe von Individuen finden läßt. Es wurde schon ausführlich dargestellt, daß eine<br />

geistig und ökonomisch entwickelte Gesellschaft, die dem Menschen potentiell ein Leben ohne<br />

die tägliche Angst vor dem Hungertod ermöglicht, eine Gesellschaft der Arbeitsteilung ist und<br />

daß die Chance der Freiheit darin besteht, diese bewußt und in freier Selbstbestimmung zu<br />

organisieren. <strong>Die</strong>s setzt aber die bewußte Kenntnis aller Faktoren voraus und diese Faktoren<br />

konnten aufgrund des post-festum Charakters der Erkenntnis erst in einer entwickelten<br />

arbeitsteiligen Gesellschaft langsam erkannt werden, auch wenn sie sich der Wahrheit der<br />

Totalität immer nur annähern können. Zur Zeit der Einführung der massenhaften Arbeitsteilung<br />

in der Produktion bedurfte "alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Arbeit auf<br />

größrem Maßstab mehr oder minder einer Direktion, welche die Harmonie der individuellen<br />

Tätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des<br />

produktiven Gesamtkörpers im Unterschied von der Bewegung seiner selbständigen Organe<br />

entspringen. Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des<br />

Musikdirektors. <strong>Die</strong>se Funktion der Leitung, Überwachung und Vermittlung, wird zur<br />

Funktion des Kapitals, sobald die ihm untergeordnete Arbeit kooperativ wird." 466 Wenn man<br />

die als moralische Kategorie der ungerechten Aneignung der Mehrarbeit verstandene<br />

Demagogie des Klassenkampfes also außen vor läßt, erscheint der Kapitalist als Organisator,<br />

als Mensch, der nicht nur die Produktivkräfte zusammenfügt, sondern auch die Zirkulation<br />

kontrolliert und steuert. Was tut dieser Mensch also anderes, als geistig zu arbeiten?<br />

Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in den weiteren Ausführungen von Marx: "Wie<br />

der Kapitalist zunächst entbunden wird von der Handarbeit, sobald sein Kapital jene<br />

Minimalgröße erreicht hat, womit die eigentlich kapitalistische Produktion erst beginnt, so tritt<br />

er jetzt die Funktion unmittelbarer und fortwährender Beaufsichtigung der einzelnen Arbeiter<br />

und Arbeitsgruppen selbst wieder ab an eine besondre Sorte von Lohnarbeitern. Wie eine<br />

Armee militärischer, bedarf eine unter dem Kommando desselben Kapitals<br />

zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (Dirigenten, managers) und<br />

Unteroffiziere (Arbeiteraufseher, formen, overlookers, contre-maîtres), die während des<br />

Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren. <strong>Die</strong> Arbeit der Oberaufsicht<br />

befestigt sich zu ihrer ausschließlichen Funktion." 467 Wenn man berücksichtigt, daß heute ein<br />

Großteil der Arbeitsorganisation direkt dem körperlich Arbeitenden übertragen wird, sei es<br />

durch Gruppenarbeit, sei es durch die Theorie des Profitcenters oder sei es durch<br />

Aufgliederung der Produktion, so wird die Arbeit der Organisation immer weniger vom<br />

Kapital selbst vorgenommen, sondern von geistig Arbeitenden in den Vorstandsetagen der<br />

Aktiengesellschaften und den staatsmonopolistischen Komplexen, die heute die internationale<br />

Wirtschaft koordinieren, so daß der klassische Kapitalist zum Arbeitslosen geworden ist, auch<br />

wenn diese Arbeitslosigkeit natürlich besser honoriert wird als die des ungelernten<br />

Obdachlosen. Der geistig Arbeitslose ist neben den Resten des Adels zur Randexistenz der<br />

Gesellschaft geworden, die nur noch als Lieferant für Klatschgeschichten der Medienindustrie<br />

466 MEW 23,350.<br />

467 MEW 23,351.<br />

164


und als Konsument von Luxusprodukten einen gewissen gesellschaftlichen Wert erhält. Der<br />

Eindruck der Freiheit der Bourgeoisie beruht vor allem auf der durch die kapitalistische<br />

Produktionsweise selbst erzeugten Vorstellung, daß materieller Wohlstand die<br />

Freiheitsbestimmung des Menschen sei. Wenn aber das Ziel der menschlichen Entäußerung in<br />

der Anhäufung von unbelebter Materie gesehen wird, beraubt sich damit der Mensch jeglicher<br />

Möglichkeit der Freiheit, da diese Vorstellung einen Rückfall in das Stadium seiner<br />

ursächlichen Genese, wenn auch auf höherem Niveau, darstellt und er sich, wie oben<br />

angesprochen, völlig zum Sklaven der Produktion und des Zufalles macht. Solange dies seine<br />

freie, bewußte Entscheidung ist, kann er sich zwar als freier Mensch fühlen, jedoch im<br />

eigentlichen Sinne nur, wenn er der Einzige ist, der dem Gotte Mammon huldigt, da sonst sein<br />

Streben nach Freiheit unmittelbar im anderen seine Grenze findet. Im Gegensatz zur Epoche<br />

der Jäger und Sammler kann das Individuum Geld nur anhäufen, wenn es mit anderen<br />

Individuen in Kontakt tritt und vor allem wenn es seine geistigen Fähigkeiten der Organisation<br />

darauf verwendet, andere für sich arbeiten zu lassen. Daß aber der Herr im Herr-und-Knecht-<br />

Verhältnis in keinster Weise ein freies Wesen ist, auch wenn dies im Alltagswissen so<br />

erscheint, ist nicht erst seit Hegels Ausführungen in der Phänomenologie bekannt. Letztendlich<br />

ist es evident, daß in der modernen kapitalistischen Form der gesellschaftlichen Produktion<br />

Freiheit in ihrer entwickelten Form nur als Möglichkeitskategorie anzutreffen ist.<br />

Neben der Formbestimmung enthält die Arbeit weiterhin das Moment der<br />

Naturnotwendigkeit, also jenes Moment, das den "Inhalt" der Arbeit ausmacht, der dann<br />

durch die spezifische "Form" der Produktionsweise konkretisiert wird. Arbeit hat in diesem<br />

Sinne für Marx eine anthropologische Dimension, die den Versuch, die Arbeit ganz zu<br />

eleminieren, als übertrieben und nicht praktikabel entlarvt, auch wenn das konkrete Individuum<br />

Arbeit als identisch mit Lohnarbeit versteht, während ihm die Tätigkeit außerhalb der<br />

kapitalistischen Produktion als nichtiger Müßiggang erscheint. "<strong>Die</strong> Arbeit ist zunächst ein<br />

Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit<br />

der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff<br />

selbst als eine Naturmacht gegenüber. <strong>Die</strong> seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme<br />

und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein<br />

eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur<br />

außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur." 468 Engels und der<br />

Marxismus verabsolutierten dieses Wechselverhältnis über den konkreten menschlichen<br />

Arbeitsprozeß hinaus und glaubten sogar behaupten zu können, daß "die Hand nicht nur das<br />

Organ der Arbeit, (sondern) auch ihr Produkt (ist)." 469 Oben wurde gezeigt, daß eine solche<br />

Vorstellung die Realität verfehlt. Von zentraler Bedeutung sind jedoch die Perspektiven zur<br />

Aufhebung der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, die Marx in seinem Werk gibt,<br />

obwohl natürlich festzuhalten ist, daß es sich bei diesen Äußerungen nur um Mutmaßungen für<br />

seine konkrete historische Situation handeln konnte und daß er grundlegende Veränderungen,<br />

wie die "wissenschaftlich-technische <strong>Revolution</strong>", erahnen, aber niemals genau bestimmen<br />

konnte. <strong>Die</strong> von Marx als zentrale Perspektive entwickelte Vorstellung, durch die<br />

468 MEW 23,192.<br />

469 MEW 20,445.<br />

165


Überwindung der Lohnarbeit die "negativen" Seiten der Arbeit ein für alle mal beseitigen zu<br />

können, wurde am Ende des letzten Abschnittes und durch die Realität des selbsternannten<br />

Sozialismus widerlegt. Aber dennoch ist es nachvollziehbar, daß wenn die Formbestimmung<br />

der Arbeit ihre Verkehrung und Entfremdung erzeugt, es darauf ankommt, diese Form zu<br />

sprengen, um so den Individuen die Möglichkeit zu eröffnen, die konkrete Form ihrer Arbeit<br />

selbst zu bestimmen und zwar nicht nur als Wahl zwischen verschiedenen, durch die<br />

Produktionsweise auf sie zugeschnittenen Lohnerwerbsberufen, sondern innerhalb der<br />

Außengrenzen der menschlichen Gattung. Da für eine solche Wahlmöglichkeit die Kenntnis der<br />

inneren und äußeren Grenzen zwingende Voraussetzung ist, versteht sich von selbst, daß eine<br />

solche neue Produktion auch schon einen neuen, nicht entfremdeten Menschen zur<br />

Voraussetzung hat. <strong>Die</strong> Emanzipation der Menschen liegt in der Entäußerung ihrer selbst, im<br />

Rahmen eines gemeinschaftlichen und selbstbestimmten Zweckes.<br />

Durch diese Lösung der Gegensatzpaare des Doppelcharakters der Arbeit verbindet Marx<br />

seine ausführliche Analyse der ökonomischen Wirklichkeit mit den apriorischen<br />

Vorwegnahmen in den Frühschriften, ohne daß ihm die Zeit blieb, alle in den Frühschriften<br />

aufgeworfenen Fragen nun mit analytisch gesichertem Inhalt zu füllen. Für das hier behandelte<br />

Problem ist vor allem zu memorieren, daß nicht mehr Arbeit an sich negiert werden muß,<br />

sondern die "entfremdete Arbeit", die nicht mehr in der Sphäre der abstrakten Entäußerung<br />

vermutet, sondern als konkretes Resultat der kapitalistischen Formbestimmtheit der Arbeit<br />

verstanden wird, die zu überwinden ist. Sie muß in eine andere freie, selbstbestimmte und<br />

gemeinschaftliche Form der Entäußerung des Menschen überführt werden, wobei in dieser<br />

neuen Form der Gesellschaft die Individuen im anderen nicht den Konkurrenten im Kampf um<br />

die Freiheit, sondern das Objekt der Freiheit selbst verstehen. Der Springpunkt einer<br />

Möglichkeit zur Transformation wird dabei von mir in der konkreten Arbeitsteilung und dort<br />

vor allem in der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit angesiedelt. <strong>Die</strong> Bedeutung<br />

der Arbeit für die Möglichkeit einer Transformation sah Marx in der Entwicklung der<br />

Produktivkräfte begründet: "Der <strong>Die</strong>bstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum<br />

beruht, erscheint als miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große<br />

Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große<br />

Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und<br />

daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. <strong>Die</strong> Surplusarbeit der Massen hat<br />

aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die<br />

Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen<br />

Kopfes. Damit bricht die auf Tauschwert ruhende Produktion zusammen, und der unmittelbare<br />

materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit<br />

abgestreift. <strong>Die</strong> freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der<br />

notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der<br />

notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische,<br />

wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und<br />

geschaffnen Mittel entspricht." 470 Nach dieser Vorstellung müßte der Kapitalismus an seine<br />

470 MEGA II 1.2,581/582; MEW 42,601.<br />

166


eigenen historischen Grenzen stoßen und die formell unterdrückte Arbeit als Automationsarbeit<br />

aus der materiellen Verkettung heraus in eine neue Formbestimmung überführt werden können.<br />

"Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit (im<br />

Sinne der Mehrwertproduktion - KSS) hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein" 471 , denn die<br />

Arbeit wird wieder unmittelbar produktiv als "konkret nützliche Arbeit". Der Marxismus<br />

meinte, die Transformation zu einer neuen Formbestimmung der Arbeit durch die Beseitigung<br />

der Herrschaft des Kapitals erreichen zu können, obwohl Marx selbst diese Vorstellung als<br />

verengt und einseitig ansah. "Sowenig er (Ricardo) die Identität von Kapital und Arbeit in<br />

seinem System begreift, sowenig begreifen sie (die utopischen englischen Sozialisten - KSS)<br />

den Widerspruch, den sie darstellen, weshalb die bedeutendsten unter ihnen, wie Hodgskin<br />

z.B., alle ökonomischen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion selbst als ewige<br />

Formen akzeptieren und nur das Kapital streichen wollen, die Basis und zugleich die<br />

notwendige Konsequenz." 472 "Sie teilen hierin - wenn auch von dem umgekehrten Pol - mit<br />

den Ökonomen die Borniertheit, die gegensätzliche Form dieser Entwicklung mit ihrem Gehalt<br />

selbst zu verwechseln. <strong>Die</strong> einen wollen den Gegensatz verewigen seiner Frucht wegen. <strong>Die</strong><br />

andren sind entschlossen, um den Gegensatz loszuwerden, die in dieser antagonistischen Form<br />

herangewachsenen Früchte aufzuopfern." 473 Bevor nun in dieser Studie untersucht wird, wie<br />

sich die Möglichkeit zu einer Transformation der Formbestimmung der Arbeit den Individuen<br />

und der Gesellschaft eröffen könnte, soll noch kurz auf die Rezeptionsgeschichte der Arbeit in<br />

bezug auf ihr Freiheitspotential in der marxistischen Theorie und in Theorien, die sich auf Marx<br />

beziehen, untersucht werden.<br />

Während im Marxismus der marxsche Arbeitsbegriff auf die Betrachtung der Arbeit als<br />

Lohnarbeit verengt und so faktisch eleminiert wurde, gab es immer auch Ansätze, die die<br />

Universalität der Arbeit jenseits der Forderung nach Aufhebung der Lohnarbeit vermuteten<br />

und die durch konkrete Analyse der Entwicklung der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft<br />

die Universalität des Begriffs der marxschen Interpretation auch für ihre konkrete Situation<br />

nutzbar machen wollten. Rosa Luxemburg untersuchte in ihrem theoretischen Hauptwerk "<strong>Die</strong><br />

Akkumulation des Kapitals" vor allem den Begriff der toten Arbeit in Bezug auf<br />

Wertschöpfung und Wertübertragung, um so die historische Dimension der Arbeit einerseits<br />

und des Kapitalismus andererseits zu verdeutlichen. "Das Operieren mit selbstgefertigten<br />

Arbeitsinstrumenten ist das fundamentale kulturhistorische Kennzeichen der menschlichen<br />

Gesellschaft. Der Begriff der vergangenen Arbeit, die jeder neuen vorausgeht und ihr die<br />

Operationsbasis bereitet, drückt die kulturhistorische Verknüpfung zwischen Mensch und<br />

Natur aus, die dauernde Kette der ineinander verschlungenen Arbeitsanstrengungen der<br />

menschlichen Gesellschaft, deren Anfang sich in der grauen Dämmerung der gesellschaftlichen<br />

Menschwerdung verliert, deren Ende nur mit dem Untergang der gesamten Kulturmenschheit<br />

erreicht werden kann." 474 Ausgehend von dieser Akzentverschiebung und der Hervorhebung<br />

471 MEW 17,342. Vgl. auch die Vorstellung einer Alternative zur realexistierenden Form der Arbeit in<br />

der "Kritik des Gothaer Programms" (MEW 19,3-32; v.a. S.19-21).<br />

472 MEW 26/3,256.<br />

473 MEW 26/3,257.<br />

474 RLW 5,41.<br />

167


eines der Gegensatzpaare der marxschen Analyse, nämlich des Gegensatzes von lebendiger<br />

und vergegenständlichter Arbeit, versuchte Luxemburg, ihre Theorie der Unmöglichkeit einer<br />

weltweiten kapitalistischen Produktionsweise zu begründen, da in dieser Gesellschaft die tote<br />

die lebendige Arbeit dominieren und die Kapitalakkumulation zwangsweise zusammenbrechen<br />

würde, außer wenn es den "Kapitalisten" gelänge, neue, noch nicht kapitalistische<br />

Gesellschaften zu erschließen und durch "ursprüngliche Akkumulation" für sich nutzbar zu<br />

machen. 475 Der frühe Lenin suchte aus dem Gegensatz von Stadt und Land und der<br />

zunehmenden Dominanz der toten über die lebendige Arbeit die Verelendung der Massen zu<br />

belegen. "<strong>Die</strong> in den großen Fabriken eingeführten Verbesserungen im Produktionsprozeß und<br />

die Maschinen fördern die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit und dienen dadurch der<br />

Verstärkung der Macht der Kapitalisten über die Arbeiter, sie vergrößern die Arbeitslosigkeit<br />

und zugleich damit auch die Schutzlosigkeit der Arbeiter. Indem die großen Fabriken die<br />

Knechtung der Arbeit durch das Kapital auf die Spitze treiben, schaffen sie aber eine<br />

besondere Klasse von Arbeitern, die den Kampf gegen das Kapital zu führen imstande ist,<br />

weil ihre Lebensbedingungen selbst alle ihre Bindungen an eine eigene Wirtschaft zerstören,<br />

weil sie die Arbeiter durch die gemeinsame Arbeit vereinen, sie von einer Fabrik in die andere<br />

treiben und dadurch die Massen des arbeitenden Volkes zusammenschweißen. <strong>Die</strong> Arbeiter<br />

nehmen den Kampf gegen die Kapitalisten auf, und in ihren Reihen macht sich das Streben<br />

nach Einigung immer stärker geltend. Aus den einzelnen Erhebungen der Arbeiter erwächst der<br />

Kampf der russischen Arbeiterklasse." 476 Durch diese Form der Auseinandersetzung mit ihrer<br />

als ungerecht und unfrei verstandenen Lage kommen die Arbeiter nach Lenin zu einer neuen<br />

Form der Vergesellschaftung, der Vergesellschaftung von Gleichen im Kampf um die Freiheit.<br />

Als wichtigstes "Mittel zum Zweck" wird von Lenin im Laufe seiner theoretischen Entwicklung<br />

immer stärker die Eroberung des Staates verstanden, der noch nicht der Staat der Freiheit -<br />

eine Parodoxie in sich 477 -, sondern der Staat der nach Freiheit Strebenden ist. "Der Staat<br />

wird dann völlig absterben können, wenn die Gesellschaft den Grundsatz 'Jeder nach seinen<br />

Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen' verwirklicht haben wird, d.h. wenn die<br />

Menschen sich so an das Befolgen der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens<br />

475 Vgl.: RLW 5,364/365.<br />

476 Entwurf und Erläuterungen des Programms der Sozialdemokratischen Partei 1895/96; in: LW 2,87.<br />

Vgl.: auch LW 2,95-97.<br />

477 Zwar wird in der bürgerlichen Ideologie davon ausgegangen, daß der demokratische Rechtsstaat<br />

die Freiheit seiner Bürger sichert und verteidigt, jedoch wird schon dadurch, daß diese Freiheit<br />

gesichert und verteidigt werden muß, deutlich, daß ihrer nicht alle teilhaftig sind, denn wer<br />

entscheidet darüber, welche Freiheit ausgelebt und welche unterbunden werden soll? Selbst wenn<br />

die Freiheit der Verwirklichung der individuellen Bedürfnisse des einen darin besteht, die Freiheit<br />

des anderen einzuschränken bzw. zu eleminieren, kann niemals ein abstraktes Moment wie der Staat<br />

die Freiheit der einzelnen garantieren, weil er in seiner Abstraktheit diese gar nicht erkennen kann,<br />

sondern sich dieser nur durch die Abstraktion der Grundbedürfnisse und Menschenrechte<br />

annähert. Da das Individuum jedoch niemals in all seinen Lebensäußerungen jener Abstraktion des<br />

Menschen entspricht, kann es seine Freiheit in einem staatlich verwalteten Gemeinwesen niemals<br />

verwirklichen. Nicht die Negierung jeglicher Freiheit durch die Allmacht des Staates kann Freiheit<br />

sichern, sondern nur das selbstbewußte Handeln der betroffenen Subjekte, deren Freiheit<br />

eingeschränkt wird. Eine wahrhaft freie Gesellschaft beginnt erst dort, wo die Menschen eines<br />

Zwangsinstrumentes, wie es der Staat nun einmal ist, nicht mehr bedürfen.<br />

168


gewöhnt haben werden und ihre Arbeit so produktiv sein wird, daß sie freiwillig nach ihren<br />

Fähigkeiten arbeiten werden. Der 'enge bürgerliche Rechtshorizont', der dazu zwingt (...), nur<br />

ja nicht eine halbe Stunde länger zu arbeiten als der andere und keine geringere Bezahlung zu<br />

erhalten als der andere, dieser enge Horizont wird dann überschritten sein. <strong>Die</strong> Verteilung der<br />

Produkte wird dann von der Gesellschaft keine Normierung der jedem zukommenden Menge<br />

erfordern; jeder wird frei 'nach seinen Bedürfnissen' nehmen." 478 <strong>Die</strong>se neue Form der<br />

Vergesellschaftung der Arbeiter nach den "Gesetzen" der Vernunft wird von ihnen nach Lenin<br />

nicht angestrebt als Ergebnis der "Aufklärung" der Arbeiter über ihre gesellschaftliche Realität<br />

und ihre potentiellen Möglichkeiten, sondern vor allem durch das eigene Erleben des<br />

Gegensatzes zwischen freier und unfreier Arbeit, den Lenin als die dem Arbeiter erfahrbare<br />

Auswirkung der Entfremdung der Arbeit verstand. 479 Damit eröffnet er zwar einerseits allen<br />

Individuen den Zugang zur Erkenntnis um die Notwendigkeit einer Transformation der<br />

kapitalistischen Gesellschaft, auf der anderen Seite werden durch diese Interpretation, die<br />

einhergeht mit der Festschreibung des "negativen" Aspektes der Arbeit als Lohnarbeit, die<br />

Weichen für eine Verflachung des Begriffes der Arbeit gestellt, die in der "Erziehung zur Liebe<br />

der Arbeit" 480 und in der Erziehung durch Arbeit im Gulag ihr tragisches Ende fand. Durch die<br />

Einengungen der Interpretation der Welt der Arbeit blieb nicht nur der an anderer Stelle als<br />

zentral für die Entfremdung analysierte Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit durch<br />

die Sowjetgesellschaft unberührt, sondern die Befreiung der Arbeit war eine einseitige<br />

Befreiung nach der negativen Seite des Begriffspaares "Freiheit von - Freiheit wozu" und<br />

ermöglichte so die Verlängerung der Unterwerfung von Menschen unter die Macht anderer<br />

Menschen, wenn auch unter neuem Vorzeichen. Den kommunistischen Parteien der<br />

kapitalistischen Länder blieb, da sie die in den "sozialistischen Ländern" entwickelten<br />

Arbeitsanalysen teilten, ohne sie selbst aus ihrer spezifischen, gesellschaftlichen Realität<br />

abzuleiten, die Einsicht in die grundlegenden Veränderungen der Arbeit in der kapitalistischen<br />

478 LW 25,483.<br />

479 Vgl. z.B.: "Wie soll man den Wettbewerb organisieren?" (LW 26,402-414) "Zum erstenmal nach<br />

Jahrhunderten der Arbeit für andere, der unfreien Arbeit für die Ausbeuter, bietet sich (dem<br />

russischen Arbeiter - KSS) die Möglichkeit, für sich selbst zu arbeiten, und zwar zu arbeiten,<br />

gestützt auf alle Errungenschaften der modernen Technik und Kultur." (LW 26,405)<br />

480 Suchomlinski, Wassili; Erziehung zur Liebe zur Arbeit; Berlin/DDR 1962. Das Buch offenbart die<br />

Einseitigkeit der marxistischen Interpretation der Arbeit, die als Freiheit verstanden wird, nur weil<br />

ihr die äußeren kapitalistischen Fesseln fehlen und so deutlich macht, wie sich die Freiheit zu einer<br />

Illusion wandelt, wenn sie nicht als Freiheit wozu, sondern nur als Freiheit von verstanden wird und<br />

daraus folgernd Arbeit nicht als formale und inhaltliche Bestimmung der Selbstentäußerung des<br />

Menschen gesehen, sondern nur nach der äußeren Formbestimmtheit der Arbeit geforscht wird. Ein<br />

Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit ist für Suchomlinski unter der "Herrschaft der<br />

Arbeiterklasse" eine zu vernachlässigende Größe. Vgl. auch: Autorenkollektiv; Körperliche und<br />

geistige Arbeit im Sozialismus; Berlin/DDR 1980. "Unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer<br />

marxistisch-lennistischen Partei konnte mit der Herausbildung der sozialökonomischen und<br />

politischen Grundlagen des Sozialismus in der DDR wie auch in den anderen Ländern der<br />

sozialistischen Gemeinschaft der antagonistische Gegensatz, der auf Grundlage des<br />

Privateigentums und der Ausbeutungsverhältnisse jahrtausendelang die Beziehungen von<br />

körperlicher und geistiger Arbeit prägte, überwunden werden" (Autorenkollektiv 1980,5) - eine<br />

Vorstellung, die nach dem heutigen Stand der Kenntnisse weit über das Maß einer Illusion<br />

hinausging.<br />

169


Gesellschaft verschlossen und die von ihnen hofierte Arbeiterklasse blieb die Arbeiterklasse zu<br />

Beginn unseres Jahrhunderts, die aber in der modernen Gesellschaft nur noch als Ferment der<br />

alten, überkommenen Produktion zu finden ist, während die Mehrheit der Individuen neue<br />

Formen der Arbeit praktiziert, die an dieser Stelle nicht ausführlich analysiert werden können.<br />

Ausgehend von der offensichtlichen Realitätsferne des dogmatischen Marxismus versuchten<br />

schon sehr früh Theoretiker, ausgehend von den marxschen Manuskripten von 1844, eine<br />

Neubestimmung der Arbeit vorzunehmen. Hier ist neben der Lebensphilosophie Erich Fromms<br />

vor allem Herbert Marcuse zu nennen: "<strong>Die</strong> Aufhebung der ökonomisch-gesellschaftlich<br />

verfestigten Teilung des Daseinsganzen in entgegengesetzte Daseinsweisen, die Verwandlung<br />

der verselbständigten leerlaufenden und von der sie erfüllenden Dimension abgeschnürten<br />

materiellen Produktion und Reproduktion in eine von dieser Dimension her beherrschte,<br />

begrenzte und vollendete Praxis ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß dem Dasein<br />

seine eigentliche Arbeit wiedergegeben wird, und daß die Arbeit aus der Entfremdung und<br />

Verdinglichung befreit wieder das wird, was sie ihrem Wesen nach ist: die volle und freie<br />

Verwirklichung des ganzen Menschen in seiner geschichtlichen Welt." 481 Wie oben gezeigt<br />

verfehlten all diese Theoretiker aber durch den einseitigen Bezug auf die "idealistischen"<br />

Frühschriften den Kern des marxschen Arbeitsbegriffes und mußten sich zwangsläufig fragen,<br />

warum denn das Wesen des Menschen sich nicht gegen die Schrecknisse des Alltages<br />

durchsetzen kann, und trieben viele, da ihnen dies nicht gelang, ja nicht gelingen konnte, in<br />

misantrophische Mutmaßungen darüber, ob denn das Wesen des Menschen vielleicht doch<br />

schlecht sei und sich deshalb die Welt nicht in der erhofften Form präsentierte. Daß der<br />

Mensch an sich weder gut noch schlecht ist, hätte ihnen eigentlich schon auffallen müssen,<br />

wenn sie nach der Bezugsgröße für dieses Urteil gesucht hätten.<br />

Im Rahmen der angesprochenen Hinwendung des Marxismus auf das Problem des<br />

Individualismus rückte in den Studien von Schaff, Rubinstein, Leontjew, Holzkamp und Sève<br />

der Begriff der Arbeit wieder stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung. 482 Alle Autoren<br />

verstehen unter Arbeit vor allem die Fähigkeit zur Handlung. <strong>Die</strong>se Wandlung des<br />

marxistischen Arbeitsbegriffes, der unter der Dominanz des einseitigen Verständnisses von<br />

Arbeit als Lohnarbeit zunehmend seines eigentlichen Inhaltes entleert wurde, zu dem<br />

universelleren Begriff der menschlichen Handlung eröffnete dem Marxismus auf diese Weise<br />

zwar die "Rückgewinnung" der von Marx intendierten Universalität der Arbeit als<br />

Selbstentäußerung des Menschen, auf der anderen Seite brachte die Einführung eines "neuen"<br />

Begriffes das Problem mit sich, daß sich für die Individuen scheinbar ein Gegensatz zwischen<br />

ihrer eigenen, konkreten Arbeit und der Universalität der menschlichen Fähigkeit zur Handlung<br />

konstituierte. Damit bleibt die marxistische Wende zu einer Revitalisierung des marxschen<br />

Arbeitsbegriffes aber auf der Stufe des Gegensatzes von konkreter, entfremdeter Arbeit und<br />

dem unentfremdeten Wesen der Arbeit an sich, also auf der Stufe der marxschen Manuskripte<br />

481 Marcuse, Herbert; Über die philosophischen Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitsbegriffs<br />

(1933); in: ders.; Kultur und Gesellschaft; Frankfurt/Main 1965; Bd.2, S.47/48.<br />

482 Schaff 1965; Rubinstein, Sergej L.; Grundlagen der Allgemeinen Psychologie; Berlin/DDR 1968;<br />

Leontjew, Alexej N.; Probleme der Entwicklung des Psychischen; Frankfurt/Main 1973; Holzkamp,<br />

Klaus; Grundlegung der Psychologie; Frankfurt/Main 1983; Sève, Lucien; Marxismus und Theorie<br />

der Persönlichkeit; Frankfurt/Main 1973.<br />

170


von 1844 stehen und verkennt die Ausweitung der Analyse des Arbeitsbegriffes, den Marx in<br />

seinem späteren Werk erarbeitet hatte und auf den hier ausführlich eingegangen wurde.<br />

Ein anderer Ansatz in der Neuinterpretation des marxschen Arbeitsbegriffes steht in der<br />

Tradition einer Hegelianisierung des marxschen Theorie. An die Stelle des Geistes bei Hegel<br />

hätte nach dieser Auffassung Marx nur den Begriff der Arbeit in die große Weltformel<br />

eingesetzt und so ergebe sich "eine Perspektive - wenn nicht die fundamentalste - (...) eine<br />

'Theorie der gesellschaftlichen Arbeit' aus dem gesamten Marxschen Werk zu rekonstruieren.<br />

Der Anspruch eines solchen Programmes ist nicht weniger, als umfassend: gelänge eine solche<br />

Rekonstruktion, so wäre mit ihr im Anschluß an das System Hegels eine<br />

geschichtsphilosophische Totalinterpretation der Weltgeschichte geleistet." 483 Joachim Bischoff<br />

glaubt, daß "in der Entwicklungsgeschichte der Arbeit der Schlüssel zum Verständnis der<br />

gesamten Geschichte der Gesellschaft" 484 verborgen liege, den es zu finden gelte. <strong>Die</strong>se<br />

Ontologisierung des Begriffes der Arbeit zur Grundkategorie der Theorie von Gesellschaft, aus<br />

der sich alle anderen Ebenen der Gesellschaft ableiten lassen, kann - ähnlich wie in den<br />

angesprochenen Stellen bei Engels und beim frühen Marx - nur eine Kleinigkeit nicht erklären,<br />

die aber für die theoretische Verarbeitung des Realen von fundamentaler Bedeutung ist: wo<br />

diese Arbeit denn eigentlich her kommt. Obwohl all diese Auslegungsvarianten sich in<br />

Opposition zum realsozialistischen Marxismus wähnten, teilen sie dessen Gleichsetzung von<br />

Arbeit mit körperlicher Arbeit, so daß es nur folgerichtig ist, wenn Jürgen Habermas die These<br />

vertritt, daß "das Produktionsparadigma dem Praxisbegriff eine so klare empirische Bedeutung<br />

(gibt), daß sich die Frage stellt, ob es mit dem historisch absehbaren Ende der<br />

Arbeitsgesellschaft seine Plausibilität verliert." 485 Wenn Arbeit einseitig als körperliche<br />

Lohnarbeit verstanden wird, ist die Abwendung von der Selbstentäußerung als potentielle<br />

Sphäre der Befreiung des Menschen und die Hinwendung zu anderen Ansätzen, die letztlich<br />

die Vertragstheorie des 18. Jahrhunderts revitalisieren, nur die logische Konsequenz. Einen<br />

Beitrag zur Transformation der Gesellschaft leisten sie allemal nicht.<br />

3.1.4. Selbstbefreiung des Individuums als Selbstbefreiung der Gattung Mensch<br />

Im Gegensatz zu den im voranstehenden Kapitel angesprochenen Ansätzen erhebt Marx eine<br />

universellere Maxime zum Credo seiner praktischen Philosophie: "Reform des Bewußtseins<br />

nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen sich selbst unklaren<br />

Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt<br />

längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um<br />

sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich<br />

zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der<br />

Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt,<br />

sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zu Stande bringt." 486 Jedoch stellt sich angesichts des<br />

483 Rüddenklau, Eberhard; Gesellschaftliche Arbeit oder Arbeit und Interaktion? - Zum Stellenwert des<br />

Arbeitsbegriffes bei Habermas, Marx und Hegel; Frankfurt/Main 1982; S.211.<br />

484 Bischoff, Joachim; Gesellschaftliche Arbeit als Systembegriff; Westberlin 1973; S.323.<br />

485 Habermas, Jürgen; <strong>Die</strong> neue Unübersichtlichkeit; Frankfurt/Main 1985a.<br />

486 Brief von Marx an Ruge vom September 1843 (MEGA III 1,57; MEW 1,346). In der Kritik des<br />

marxistischen Umganges mit Texten von Marx und Engels wurde die Verwendung von Briefen, die<br />

Reaktionen auf andere Passagen sind, die dem Leser unbekannt bleiben, kritisiert. Bei diesem Brief<br />

171


etwas mystischen Zitates von Marx die Frage, ob Menschen, die unter der Alplast der<br />

gesellschaftlichen Realitäten des Spätkapitalismus mit all seinen Verästelungen leben, nicht - im<br />

Gegensatz zur Auffassung von Marx - alles bisherige negierend ihrer gesellschaftlichen Form<br />

des Daseins eine neue Form geben müssen, um der Freiheit teilhaftig zu werden und ob sie<br />

nicht erst in diesem Akt der Selbstbefreiung zu einer für sie adäquaten Ausfüllung von Freiheit,<br />

Gleichheit und Solidarität kommen können, da "das Bewußtsein nie etwas Andres sein (kann)<br />

als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ihr wirklicher Lebensprozeß ist." 487 Wenn<br />

man berücksichtigt, daß der Traum von Freiheit im Kerker des Kapitalismus nur das doppelt<br />

gespiegelte Bild der Realität zu sein scheint, das sich zwar kritisch gegenüber der<br />

kopfstehenden Projektion der herrschenden Ideologie verhält und sich durch den doppelten<br />

Akt der Brechung von der Ideologie in Bezug auf die Authentizität gegenüber der Realität<br />

positiv abhebt, so bietet dieses Ideal, dessen Wirkungsfeld in der subjektiven Alltagserfahrung<br />

bisher im Mittelpunkt dieses Kapitels stand, keine Gewähr dafür, sich essentiell von dem<br />

ideologisch gewendeten Freiheitsbegriff der bürgerlichen Weltanschauung zu unterscheiden. In<br />

diesem Sinne könnte man der Interpretation der angesprochenen marxschen Textstelle von<br />

Fredric Jameson zustimmen, nach der "Intellektuelle Lösungen zu solchen Prozessen nicht<br />

aufgrund reiner Gedankenarbeit erfinden (können), denn es ist erst das Heranreifen<br />

struktureller Widersprüche in der Realität, das schrittweise die allmähliche Antizipation neuer<br />

Möglichkeiten möglich macht: allerdings können wir zumindest jenes entscheidende Dilemma<br />

im Bewußtsein behalten, indem wir den Gedanken einer globalen Totalität festhalten oder -<br />

wie Hegel gesagt hätte - 'dem Negativen folgen' und so letztlich jenen Ort lebendig erhalten,<br />

von dem das - unerwartete - Entstehen des Neuen erwartet werden kann." 488 Während so<br />

einerseits der Diskurs über Freiheit, Gleichheit und Solidarität zum Mittelpunkt der<br />

Emanzipation ernannt wird, ist es an dieser Stelle andererseits unabdingbar, das konkrete<br />

Verhalten des Individuums gegenüber den Sachzwängen der Alltäglichkeit zu erörtern - oder<br />

mit anderen Worten das bisher im Nebel liegende Konzept einer Apathie in der Praxis, wie es<br />

in Kapitel 2.3. entwickelt wurde, in eine umfassendere Konzeption des Strebens nach<br />

individueller und gesellschaftlicher Freiheit einzubinden.<br />

In der klassischen griechischen Philosophie fand die Leidenschafts- und Affektlosigkeit<br />

gegenüber den Schicksalsschlägen des Alltages ihren Ausdruck in dem vor allem von den<br />

Stoikern vertretenen Ideal der Ataraxie (Unerschütterlichkeit) und der Athaumasie<br />

(Verwunderungslosigkeit), aber auch im Denken der Kyniker und der Epikureer lassen sich<br />

derartige Ansätze nachweisen. Während die Bezugnahme auf Denker wie Zeno, Chrysippos,<br />

Epiktet und Seneca oder Diogenes wenig verwundert, erscheint Epikur vielen Betrachtern als<br />

die Inkarnation der Lebens- und Lustphilosophie, 489 auch wenn dieser in seinem Brief an<br />

Menoikeus zu bedenken gab, daß "wenn wir also erklären, die Lust sei das Endziel, so meinen<br />

wir nicht die Lüste der Schlemmer und diejenigen, die auf dem Genuß beruhen, wie manche<br />

liegt die Sache ein wenig anders, da er erstmals 1844 in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern"<br />

mit Billigung von Marx publiziert wurde.<br />

487 MEW 3,26.<br />

488 Jameson, Fredric; Fünf Thesen zum real existierenden Marxismus; in: Das Argument Nr.214/1996;<br />

S.175-181, hier S.181.<br />

489 Vgl. z.B.: <strong>Schmidt</strong>, Heinrich; Epikurs Philosophie der Lebensfreude; Leipzig 1911.<br />

172


Unwissende, Andersdenkende oder Böswillige glauben, sondern das Freisein von<br />

körperlichem Schmerz und seelischer Unruhe. Denn nicht eine ununterbrochene Folge von<br />

Trinkgelagen und Festessen und erotischer Genuß von Knaben und Frauen, nicht der Genuß<br />

von Fischen und alldem, was eine luxuriöse Tafel sonst bietet, schafft das lustvolle Leben,<br />

sondern nüchternes Denken, das die Gründe für jedes Wählen und Meiden erforscht und die<br />

Einbildungen vertreibt, von denen die größten Erschütterungen ausgehen, die die Seele<br />

ergreifen." 490 Es findet sich also schon bei Epikur eine Vorahnung jener Verbindung von<br />

Streben nach diskursiver Setzung eines an Freiheit orientierten Lebenskonzeptes und einer<br />

Gleichmütigkeit gegenüber den sogenannten schönen Dingen des Lebens, ohne daß dies in<br />

eine aus heutiger Sicht religiös anmutende Ablehnung aller Lebensgenüsse wie bei den<br />

Kynikern umschlägt, denn - so präzisiert Epikur - "auch die Selbstgenügsamkeit halten wir für<br />

ein großes Gut, nicht, um uns unter allen Umständen mit dem Wenigen zu begnügen, sondern<br />

damit wir, wenn wir das Viele nicht haben, mit dem Wenigen zufrieden sind" 491 , um so nicht<br />

das materielle, gesellschaftlich-vermittelte Streben nach Luxus zum Mittelpunkt des<br />

individuellen Lebens werden zu lassen, sondern, so muß aus heutiger Sicht ergänzt werden, die<br />

analytische Durchdringung der Möglichkeit zur Veränderung.<br />

Es fragt sich in Anlehnung an Epikur, wie Individuen in der totalen Gesellschaft des<br />

20.Jahrhunderts, in der der mediale Gottvater auf jede Frage und jeden Zweifel eine Antwort<br />

zu haben vorgibt, eine Atmosphäre des "nüchternen Denkens" gestalten können, wenn man<br />

berücksichtigt, daß Sartre bei seinen selbstkritischen Reflexionen über den in "Das Sein und<br />

das Nichts" exemplifizierten Terminus der "Wahl-Freiheit" feststellte, daß dies eine trügerische<br />

Illusion bleibt und unter den gegebenen Umständen bleiben muß. 492 Auch wenn eingestanden<br />

werden muß, daß Aristoteles, für den die Praxis als Wahlvorgang, Handlung und Unterlassung<br />

immer auf Vernunft und Wahlfreiheit 493 beruht, diese Illusion des frühen Sartre teilte,<br />

erleichtert ein Rekurs auf die griechische Philosophie und explizit auf Aristoteles als dem<br />

"Begründer der Praxistheorie" die Annäherung an den nebulösen Begriff einer Apathie der<br />

Praxis und eröffnet eine verlockende Sichtweise auf das nichtige, beliebig austauschbare<br />

Leben der Zahnräder der Konstruktion mit Namen "Praxis des Kapitalismus".<br />

Aristoteles verwendet den Begriff der Praxis sowohl als Oberbegriff für Bewegung, Tätigkeit<br />

und Leben, aber auch als Detailbegriff 494 , wobei er Praxis nicht auf die menschliche<br />

Selbstentäußerung beschränkt, sondern explizit von einer "Praxis der Bewegung von Sternen,<br />

Tieren und Pflanzen" 495 spricht. Eine erste Differenzierung erarbeitet er in der<br />

Gegenüberstellung von Praxis und Erfahrung 496 bzw. einer philosophischen und einer rein<br />

490 Epikur 1988,238/239.<br />

491 Epikur 1988,238.<br />

492 Vgl.: Sartre über Sartre – Interview mit „New left review“ 1969; in: Sartre, Jean-Paul; Sartre über<br />

Sartre – Aufsätze und Interviews 1940-1976; Reinbek 1988; S.163/164.<br />

493 Aristoteles; Ethik; in: ders.; Werke in deutscher Übersetzung; Berlin/DDR 1958ff.; 1223 a 5-6; ders.;<br />

Politik; Hamburg 1981; 1269 a 10-11.<br />

494 So faßt Aristoteles den Geschlechtsakt als "Zeugungspraxis" (Aristoteles; Über die Zeugung der<br />

Tiere; in: Aristoteles 1958ff.; 539 b 20).<br />

495 Aristoteles 1958ff.; Eudemische Ethik; 1222 b 29.<br />

496 Aristoteles 1989; Metaphysik; 981 a 16-17.<br />

173


praktischen Weltsicht 497 und entwickelt vor diesem Hintergrund drei differierende<br />

Lebensweisen: πρακτικε (praktische Lebensweise), ποιετικε (schöpferische Lebensweise)<br />

und τηεορετικε (theoretische Lebensweise). 498 Während das Ziel der theoretischen<br />

Lebensweise und der aus ihr resultierenden Wissenschaft die Wahrheit ist, bleibt die Wahrheit<br />

in der praktisch-wissenschaftlichen Lebensweise außen vor, denn das Ziel der Praxis ist nicht<br />

das Wahre, sondern die konkrete Tat und deren Ergebnisse. 499 Eine weitere Differenzierung<br />

seines Praxisbegriffes unternimmt Aristoteles, wenn er Praxis und poiesis trennt, wobei das<br />

Ziel der Praxis auf den konkreten Akt des richtigen Tuns beschränkt bleibt und sich z. B. im<br />

Flötenspielen manifestiert, 500 während das Ziel der poiesis darüber hinausgeht und auf die<br />

Schaffung von gegenständlichen Ergebnissen orientiert und z.B. die Baukunst umfaßt, 501 was<br />

um so deutlicher wird, als Aristoteles in diesem spezifischen Kontext nicht von πραξισ,<br />

sondern von ενεργεια spricht. In diesem Sinne könnte Apathie in der Praxis verstanden<br />

werden als zielorientiertes Handeln in Gegnerschaft zum Prinzip des l'art pour l'art, das die<br />

Lebensgrundlage der einfachen kapitalistischen Reproduktion strukturiert.<br />

<strong>Die</strong> Stoiker übernahmen die dreigliedrige Struktur der Praxis von Aristoteles und trennten<br />

zwischen theoretischem, praktischem und vernünftigem Leben<br />

(βιοσ τηεορετκοσ, πρακτικοσ, λογικοσ), jedoch ersetzten sie den Apriorismus der<br />

Wahlfreiheit bei Aristoteles durch einen Rekurs auf die Sachzwänge der Natur, die auch die<br />

Interaktionen zwischen Gesellschaft und Individuum umfassen. Für Seneca "(bringt) die Natur<br />

mich sowohl zum Tun (facere) als auch zum Handeln (agere) als auch zur Freiheit des<br />

Nachdenkens (contemplationi vacare)" 502 , jedoch schränkt er diese Trennung ein, wenn er<br />

erklärt, daß "die Philosophie es sowohl mit der Erkenntnis wie mit dem handelnden Leben zu<br />

tun (hat): in ihr vereinigen sich forschende Beobachtung und Handlung." 503 <strong>Die</strong>ser<br />

überblickartige Aufriß des Praxisbegriffs in der klassischen Philosophie erlaubt es, das<br />

Betrachtungsfeld der konkreten Handlungssphäre einer Apathie der Praxis auf jenen Bereich<br />

einzugrenzen, in dem das Individuum gerade nicht als Herr seiner Praxis, im Sinne einer<br />

kontemplativen Durchdringung aller Möglichkeiten der Handlung, angesehen werden kann,<br />

auch wenn zugestanden werden muß, daß es keine eindeutige Demarkationslinie zwischen der<br />

Ebene des theoretischen Diskurses über die Möglichkeiten einer Emanzipation und der aus ihr<br />

resultierenden Umsetzungsversuche und der Ebene der Praxis gibt und geben kann, denn die<br />

Suche nach einer zumindest gedanklichen Möglichkeit einer Alternative zum de facto ist ja<br />

nichts anderes als ein Versuch einer rationalen Durchdringung und Überwindung der<br />

gegenwärtigen Form der alltäglichen Praxisbeziehungen der Menschen.<br />

Der Rekurs auf Lebensentwürfe im Schatten des Absurden in Kapitel 2.3. offenbarte, daß<br />

eine absolute Apathie gegenüber den Prozessen der Gesellschaft angesichts der technisierten<br />

Form des Lebens der Menschen der Moderne, selbst wenn ihnen Luxus im Sinne von Epikur<br />

497 Aristoteles 1981; Politik; 1279 b 13-15.<br />

498 Aristoteles 1981; Politik; 1324 a 26-29.<br />

499 Aristoteles 1989; Metaphysik; 993 b 10.<br />

500 Aristoteles 1958ff.; Nikomachische Ethik; 1139 a 34.<br />

501 Aristoteles 1958ff.; Ethik; 1197 a 4-11; 1211 b 30-31.<br />

502 Seneca; Von der Muße; VIII 5; Übersetzung nach: Seneca 1993; 2,53.<br />

503 Seneca; Briefe; § 95, 10; Übersetzung nach: Seneca 1993; 4,150.<br />

174


gleichgültig ist, ohne erhebliche Einschränkungen vor allem im Hinblick auf die freie Verfügung<br />

über ihre individuelle Ökonomik der Zeit kaum als Alternative zum Sein erscheinen und kaum<br />

zu einem grundlegenden Wandel anspornen wird, denn ein Leben jenseits der Technik scheint<br />

wenig wünschenswert für Menschen, die die unbestreitbaren Vorzüge dieser Form der<br />

Produktion, trotz aller negativen Implikationen, einmal genossen haben. Wenn Marx in seinem<br />

- in Kapitel 3.1.2. entwickelten - Menschenbild des Kommunismus 504 an die aristotelische<br />

Automationsvorstellung aus der Politik anknüpft, dann wird deutlich, daß eine Welt jenseits<br />

der Gesellschaft keine nachvollziehbare Freiheitsperspektive eröffnen kann, denn erst "wenn<br />

jedes Werkzeug auf erhaltene Weisung, oder gar die Befehle im voraus erratend, seine<br />

Verrichtung wahrnehmen könnte, (...) wenn so auch das Weberschiff von selber webte und<br />

der Zitherschlägel von selber spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und<br />

die Herren keine Sklaven." 505 Es gilt im weiteren zu entwickeln, in welcher Form Menschen<br />

sich als Teil der Totalität dieser gegenüber apathisch verhalten können, ohne im Wahnsinn<br />

oder in einer Reduktion ihrer Selbst auf den spezifischen Gehalt ihrer Ware Arbeitskraft zu<br />

enden.<br />

Eine weitere Eingrenzung des als bekämpfenswert verstandenen Praxisfeldes wird durch einen<br />

negativen Bezug auf das Freiheitsmodell der Stoiker sichtbar, denn wenn Seneca erklärt, daß<br />

"Freiheit heißt, sich innerlich über alle Beleidigungen (zu) erheben und sich zu einem Wesen<br />

(zu) machen, das aus sich selbst alle seine Freuden schöpft, während es alles Äußere nicht auf<br />

sich einwirken läßt, um nicht ein unruhiges Leben zu führen in Angst vor dem allgemeinen<br />

Gelächter und Geklätsch" 506 , dann offenbart sich, daß dieses Ideal der Stoiker nur in der<br />

archaischen Welt des vortechnischen Zeitalters möglich war. Ein Mensch, der in der heutigen<br />

Zeit gemäß der Lehren der Stoiker sein eigenes Seelenleben zur absoluten Ebene seiner<br />

Handlungen erhebt, wird bald erkennen müssen, daß dieser Rückzug in die privaten Sphären<br />

der Glückseligkeit die als negativ verstandene Sphäre der Gesellschaftlichkeit nicht einmal<br />

peripher tangiert. Das von Seneca immer wieder ins Feld geführte, leuchtende Beispiel von<br />

Cato dem Älteren mag zwar in der überschaubaren Diskursebene der römischen Upperclass<br />

Begeisterung und Nachahmer finden können und war so als Versuch einer ethischen<br />

Umsetzung der praktischen Philosophie der Stoiker partiell wirksam, jedoch wäre ein solches<br />

Verhalten unter den Vorzeichen einer immens gewachsenen Komplexität nicht mehr als eine<br />

Träne in einem Ozean mit dem Ziel, diesen über die Ufer treten zu lassen. Es zeigt sich, daß<br />

die <strong>apathische</strong> Form des Protestes gegen die Erscheinungsformen des Seins nicht in der Stille<br />

und Abgeschiedenheit des eigenen Gehirns von statten gehen kann, sondern daß es auch<br />

sichtbare Zeichen setzen muß, ohne jedoch der Illusion zu verfallen, daß dieses Beispiel<br />

Nachahmer finden könnte.<br />

Hauptauseinandersetzungsfeld der <strong>apathische</strong>n Rebellion scheint nach dem bisher gesagten<br />

jenes Feld zu sein, das das reine Tun (facere) umschreibt und als zum größten Teil unbewußtes<br />

Gehorchen gegenüber den Sachzwängen charakterisiert werden kann. Der Rekurs auf den<br />

Autonomiegedanken, der sich aus dem Prozeß der Automation ergibt, verdeutlicht, daß zwar<br />

504 MEW 23,430.<br />

505 Aristoteles 1981; Politik; 1253b 33-40.<br />

506 Seneca; Von der Unerschütterlichkeit des Weisen; II 19; Übersetzung nach: Seneca 1993; 1,59.<br />

175


auch der apathisch-praktische Mensch eine Unzahl von Handlungen vollzieht, jedoch - und<br />

das ist die These, die im weiteren diskutiert werden soll - kommt es darauf an, dieses Handeln<br />

(agere) in Kombination mit den theoretischen Diskursen in dem Sinne zu konkretisieren und zu<br />

kombinieren, daß alle Handlungen, die über die unmittelbare Sphäre der natürlichen<br />

Sachzwänge (Lebenserhaltung etc.) hinausgehen, in den <strong>Die</strong>nst der Transformation des<br />

Bestehenden durch bewußte Apathie gestellt werden.<br />

Jedoch ist diese permanente Kritik der Handlungsebene nicht als pauschale Qualifizierung von<br />

Praxis und Theorie in der Tradition des Idealismus zu verstehen, der an Plotin anknüfend<br />

πραξεισ als an niederen Dingen interessierte, heteronome Tätigkeit beschreibt, die von<br />

Unvernunft und Leidenschaft beherrscht wird, während die wahren menschlichen<br />

Angelegenheiten sich dem Betrachter als Probleme ausschließlich theoretischer Natur<br />

präsentieren 507 , auch wenn sich die von Plotin getroffene Charakterisierung der Praxis als<br />

bloßes Mittel zum Rückzug auf die Innerlichkeit der Seele 508 gut in den Skeptizismus<br />

gegenüber der Welt der Praxis einbinden lassen würde. Auch den großen Scholastikern<br />

Bonaventura und Thomas von Aquin gelang es nicht, ihre Philosophie einer rein-negativen<br />

Bewertung der Praxis zu entziehen, kommt doch z.B. Thomas von Aquin zu der Behauptung,<br />

daß "die spekulative (Theologie) die praktische überragt, denn es ist herrlicher, sich mit<br />

göttlichen als mit menschlichen Dingen zu beschäftigen." 509 Zwar verlockt - eine Ersetzung der<br />

Theologie durch praktisch-philosophischen Diskurs vorausgesetzt - solche Einstellung zum<br />

zustimmenden Verweilen, jedoch blieb der Umgang mit den Zwängen der alltäglichen Praxis<br />

für Thomas von Aquin ähnlich undurchschaubar 510 wie die Konstruktion einer Apathie der<br />

Praxis bislang für den Leser. Aber wie Thomas von Aquin sich auf die Suche nach einer<br />

rationalen Verbindung von Theologie und Philosophie in der Praxis machte, so soll hier mittels<br />

der Methode der negativen Induktion die "Heimstatt" einer vorerst noch hypothetischen<br />

Apathie gesucht werden.<br />

Im Gegensatz zur von der Scholastik vertretenen Vorstellung der Allmacht des Intellektes<br />

regte sich bereits in der frühen Renaissance erster Widerstand, so vertrat Ficino die<br />

Vorstellung, daß "die menschlichen Künste ihrerseits herstellen, was immer schon die Natur<br />

selbst herstellt, aber nicht als ihr stumpfer <strong>Die</strong>ner, sondern als ihr Nachahmer (...). So ist der<br />

Mensch gleichsam Gott" 511 - eine These, die ihm 1489 den Besuch der heiligen Inquisition<br />

bescherte.<br />

Francis Bacon löste die ideelle Dualität von Theorie und Praxis auf höchst orginelle Weise,<br />

wenn er beispielsweise postulierte, daß "das fürs Handeln Nützlichste das fürs Wissen höchst<br />

Wahrhafte (ist)." 512 Der wohlbegründeten Theorie kommt zwar auch weiterhin eine leitende<br />

507 Vgl.: Plotin; Eneades; in: ders.; Schriften; Hamburg 1992; IV 4,43; V 9,1; VI 8,5.<br />

508 Plotin 1992; III 8,4.<br />

509 Thomas von Aquin; Summe der Theologie; Stuttgart 1985; I 1,4.<br />

510 "<strong>Die</strong> praktische Einsicht setzt etwas in Bewegung, aber nicht so, als ob sie selbst bewegte, sondern<br />

als ob sie die Bewegung steuerte." (Aquin 1985; I 79,11)<br />

511 "Humanae artes fabricant per se ipsas quaecumque fabricat ipsa natura, quasi non servi simus<br />

naturae, sed aemuli (...). Home est quidam Deus." (Ficino, Marsilio; Theologia Platonica (1483);<br />

Reprint o.O. 1975; 13,3)<br />

512 Bacon 1645; II,4.<br />

176


Funktion für alle Bereiche der menschlichen Praxis zu, jedoch nicht weil sie die christlichreligiöse<br />

Praxis unreflektiert widerspiegelt, sondern nur und insoweit sie sich durch den Rekurs<br />

auf die als exakt verstandene Naturwissenschaft in einem Prozeß der immanenten<br />

Objektivierung befindet. <strong>Die</strong>sem Projekt der Aufklärung, welches im weiteren zur<br />

Konkretisierung des Ortes der Praxis herangezogen werden soll, riß schon früh Thomas<br />

Hobbes den Schleier des selbstlosen Strebens nach Wahrheit vom Gesicht, wenn er erklärte,<br />

daß "das Ziel des Wissens die Macht ist (...). Alle Spekulation geht am Ende in einer<br />

Handlungsorientierung auf." 513 Daß die Aufklärung kein herrschaftsfreier Diskurs "wahrer"<br />

Wissenschaftler war und damit keine freiheitstiftende Praxis, erkannte auch der frühe Marx<br />

und doch stellt er sich bewußt in ihre Tradition 514 und verteidigt in seiner Dissertation Epikur,<br />

der von ihm noch in der "Deutschen Ideologie" als Vordenker der Aufklärung gefeiert wird:<br />

"<strong>Die</strong> Skeptiker reduzierten das theoretische Verhältnis der Menschen zu den Dingen auf den<br />

Schein und ließen in der Praxis Alles beim Alten, indem sie sich ebensosehr nach diesem<br />

Scheine richteten wie Andre nach der Wirklichkeit; sie gaben der Sache nur einen andern<br />

Namen. Epikur dagegen war der eigentliche radikale Aufklärer des Altertums, der die antike<br />

Religion offen angriff und von dem auch bei den Römern der Atheismus, soweit er bei ihnen<br />

existierte, ausging. Daher hat ihn auch Lukrez als einen Helden gefeiert, der zuerst die Götter<br />

gestürzt und die Religion mit Füßen getreten habe, daher hat Epikur bei allen Kirchenvätern,<br />

von Plutarch bis Luther, den Ruf des gottlosen Philosophen par excellence, des Schweins,<br />

behalten, weshalb Clemens Alexandrinus sagt, wenn Paulus gegen die Philosophie eifere, so<br />

meine er damit nur die epikuräische." 515 In seiner Dissertation vertieft Marx diesen Gedanken,<br />

denn wenn "das abstrakt-einzelne Selbstbewußtsein als absolutes Prinzip gesetzt (wird): so ist<br />

zwar alle wahre und wirkliche Wissenschaft insoweit aufgehoben, als nicht die Einzelheit in der<br />

Natur der Dinge selbst herrscht. Allein zusammengestürzt auch alles, was gegen das<br />

menschliche Bewußtsein sich transzendent verhält, also dem imaginierenden Verstande<br />

angehört. Wird dagegen das Selbstbewußtsein, das sich nur unter der Form der abstrakten<br />

Allgemeinheit weiß, zum absoluten Prinzip erhoben: so ist der abergläubischen und unfreien<br />

Mystik Tür und Tor geöffnet. Der historische Beweis davon findet sich in der stoischen<br />

513 Hobbes, Thomas; Grundzüge der Philosophie; Hamburg 1967; I 1,6.<br />

514 "<strong>Die</strong> Philosophie hat nichts in der Politik getan, was nicht die Physik, die Mathematik, die Medizin,<br />

jede Wissenschaft innerhalb ihrer Sphäre getan hat. (...) Gleich vor und nach der Zeit der großen<br />

Entdeckung des Kopernikus vom wahren Sonnensystem wurde zugleich das Gravitationsgesetz<br />

des Staats entdeckt, man fand seine Schwere in ihm selbst, und wie die verschiedenen<br />

europäischen Regierungen dieses Resultat mit der ersten Oberflächlichkeit der Praxis in dem System<br />

des Staatengleichgewichts anzuwenden suchten, so begannen früher Machiavelli, Campanella,<br />

später Hobbes, Spinoza, Hugo Grotius bis zu Rousseau, Fichte, Hegel herab den Staat aus<br />

menschlichen Augen zu betrachten und seine Naturgesetze aus der Vernunft und der Erfahrung zu<br />

entwickeln, nicht aus der Theologie, so wenig als Kopernikus sich daran stieß, daß Josua der<br />

Sonne zu Gibeon und dem Mond im Tale Ajalon stillezustehen geheißen. <strong>Die</strong> neueste Philosophie<br />

hat nur eine Arbeit weitergeführt, die schon Heraklit und Aristoteles begonnen haben. Ihr<br />

polemisiert also nicht gegen die Vernunft der neuesten Philosophie, ihr polemisiert gegen die stets<br />

neue Philosophie der Vernunft." (MEW 1,103; MEGA I 1,188/189; vgl. auch: MEW 1,80; MEGA I<br />

1,193/194)<br />

515 MEW 3,125. In seiner Dissertation heißt es: "Epikur ist (...) der größte griechische Aufklärer, und<br />

ihm gebührt das Lob des Lukrez." (MEW 40,305; MEGA I 1,57)<br />

177


Philosophie. Das abstrakt-allgemeine Selbstbewußtsein hat nämlich den Trieb in sich, in den<br />

Dingen selbst sich zu affirmieren, in denen er nur affirmiert wird, indem es sie negiert." 516 In<br />

dieser kurzen Textpassage kulminiert die marxsche Entwicklung der Dialektik der Aufklärung<br />

oder anders ausgedrückt die analytische Durchdringung der inerten Entwicklungsmöglichkeiten<br />

eines rein theoretischen Diskurses über die Möglichkeiten einer emanzipatorischen Praxis. 517<br />

Ausgehend von der Einsicht, daß sich auch das kritischste Denken in der Dingwelt de facto<br />

affirmieren will, kommt der Verbindung des oben entworfenen Modelles einer Apathie der<br />

Praxis und der hier zu entwickelnden Diskursstrategie emanzipatorischer Philosophie ein<br />

zentraler Stellenwert zu, dessen ungenügende Lösung die in dieser Studie versuchte Re-<br />

Konstruktion praktischer Philosophie in der Tradition von Karl Marx scheitern lassen wird.<br />

Erst wenn es gelingt, diese beiden, scheinbar disharmonischen Elemente nachvollziehbar und<br />

überzeugend zu verbinden, kann sich dieser Versuch einer Neufassung als "revolutionäre<br />

Praxis" im Sinne der dritten Feuerbachthese wähnen, in der Marx erklärt, daß "die<br />

materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung (also der<br />

materialistische Zweig der Aufklärung - KSS) vergißt, daß die Umstände von den Menschen<br />

verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei<br />

Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns<br />

der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als<br />

revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden." 518 Wenn man die Praxiswerdung<br />

der marxistischen Interpretation des marxschen Konzeptes mit diesen grundlegenden<br />

Gedanken von Marx konfrontiert, so ähnelt die marxistische Erziehungsdiktatur der Klassen<br />

und Parteienherrschaft in viel stärkerem Maße dem materialistischen Zweig der Aufklärung als<br />

dem marxschen Begriff der "revolutionären Praxis". 519<br />

516 MEW 40,304; MEGA I 1,57.<br />

517 Sowohl Marx (z.B.: MEW 13,615; MEW 26.1,320) als auch Engels (MEW 19,189-192) wendeten sich<br />

im Laufe ihres intellektuellen Werdeganges vor allem gegen die dominierenden bürgerlichen<br />

Auslegungsvarianten der Aufklärung, die ihnen als logisches Resultat der Aufklärung erschien,<br />

nicht zuletzt da Marx und Engels mit ihrer Hypothese - der Verbindung von partieller und allgemeinmenschlicher<br />

Emanzipation in der Arbeiterklasse - eine Alternative zu präsentieren glaubten, die<br />

eine differenzierte Betrachtung der Aufklärung ad acta zu legen schien, und so verwundert es nicht,<br />

wenn Engels 1889 programmatisch erklärt: "Karl Kautsky hat in seiner Schrift über Thomas Morus<br />

nachgewiesen, wie die erste Form der bürgerlichen Aufklärung, der 'Humanismus' des 15. und 16.<br />

Jahrhunderts, in weiterer Entwicklung auslief in das katholische Jesuitentum. Ganz so sehn wir hier<br />

ihre zweite, vollreife Form im 18. Jahrhundert auslaufen in das moderne Jesuitentum, in die<br />

russische Diplomatie. <strong>Die</strong>ser Umschlag in das Gegenteil, dies schließliche Anlanden bei einem dem<br />

Ausgangspunkt polarisch entgegengesetzten Punkt ist das natur-notwendige Schicksal aller<br />

geschichtlichen Bewegungen, die über ihre Ursachen und Daseinsbedingungen im unklaren und<br />

daher auch auf bloß illusorische Ziele gerichtet sind. Sie werden von der 'Ironie der Geschichte'<br />

unerbittlich korrigiert." (MEW 22,21) <strong>Die</strong>selbe Überlegenheitsphantasie wurde auch von Ideologen<br />

des de facto angesichts des Scheiterns des selbsternannten Sozialismus postuliert und doch ist der<br />

offene Determinismus weder im einen noch im anderen Fall mit dem Modell einer dialektischen<br />

Analyse der Wirklichkeit vereinbar.<br />

518 MEW 3,5/6.<br />

519 Engels leistete wie schon mehrfach angesprochen dieser Uminterpretation in gewisser Weise<br />

Vorschub, wenn er z.B. bei der Erstpublikation der Feuerbachthesen 1888 den elementaren<br />

Bestandteil der "Selbstveränderung" einfach unter den Tisch fallen ließ und ohne Kennzeichnung<br />

aus dem marxschen Konzept strich. (MEW 3,534)<br />

178


Wenn Apathie in der Praxis in dieser Studie als eine Möglichkeit der "revolutionären Praxis"<br />

verstanden wird, so knüpft sie im Bewußtsein um den Doppelcharakter der Aufklärung an die<br />

universalistischen Aufklärungskonzepte der Gründungsphase dieses Ansatzes von praktischer<br />

Philosophie an, wie sie etwa in dem großen Aufsatz von Kant "Was ist Aufklärung" im<br />

Mittelpunkt stehen: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst<br />

verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes<br />

ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die<br />

Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des<br />

Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe den Mut,<br />

dich dieses eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." 520<br />

Auch Horkheimer und Adorno kritisieren dieses primäre Motiv in ihrer "Dialektik der<br />

Aufklärung" nicht, sondern konfrontieren es mit der praxisgewordenen Form, wenn sie<br />

einleitend erklären, daß "seit je Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens<br />

das Ziel verfolgt (hat), von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren<br />

einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das<br />

Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt." 521 Auch für Michel Foucault ist<br />

nicht das ganze Projekt der Aufklärung von seinem Anbeginn an zum Scheitern verurteilt,<br />

sondern seine Kritik formiert sich um den Tatbestand, daß z.B. Mitte des 17.Jahrhunderts das<br />

Verhältnis von Wahnsinn und Gesellschaft "plötzlich umschlägt; die Welt des Wahnsinns wird<br />

die Welt der Ausgeschlossenen." 522 Es bleibt jedoch fraglich, ob vor diesem Hintergrund<br />

Heidegger Recht zu geben ist, der düster resümiert, daß "die Aufklärung die Wesensherkunft<br />

des Denkens (verfinstert)" 523 , oder ob es angesichts der gescheiterten Praxiswerdung der<br />

Aufklärung gar dem spöttischen Kommentar von Foucault zuzustimmen gilt: "Allen, die noch<br />

vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen,<br />

die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um<br />

zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des<br />

Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu<br />

anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren, die nicht denken<br />

wollen, ohne zugleich zu denken, daß es der Mensch ist der denkt, all diesen Formen linker<br />

und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen - das heißt:<br />

ein zum Teil schweigendes Lachen." 524<br />

520 Kant, Immanuel; Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783); in: Kant 1978; 9,53.<br />

521 Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.; Dialektik der Aufklärung (1944); in: Horkheimer 1985ff.;<br />

5,25.<br />

522 Foucault, Michel; Psychologie und Geisteskrankheit; Frankfurt/Main 1968; S.104. Zum Verhältnis<br />

der Aufklärungskritik von Horkheimer, Adorno und Foucault vgl.: Dews, Peter; Foucault und die<br />

'Dialektik der Aufklärung'; in: Kunneman, Harry/ Vries, Hent de (Hrg.); <strong>Die</strong> Aktualität der 'Dialektik<br />

der Aufklärung'; Frankfurt/Main 1989.<br />

523 Heidegger, Martin; Was heißt denken?; Tübingen 1954; S.127.<br />

524 Foucault 1974,412. Überraschend ist, daß der marxistische "Aufklärungsartikel" von Winfried<br />

Schröder (EE 1,276-285) ein ähnlich düsteres Bild zeichnet: "In Verbindung mit der Studentenrevolte<br />

der 1960er Jahre erfolgte eine Neubewertung und partielle Aktualisierung von aufklärerischen Ideen<br />

und Zielen. <strong>Die</strong>se sogenannte Neu-Aufklärung, der es um Vergegenwärtigung und Vollendung der<br />

bürgerlichen Emanzipationsideen der Vergangenheit ging und für die heute noch engagiert Jürgen<br />

179


Foucault wäre jedoch nicht Foucault, wenn er diesem Befreiungsschlag keine Konkretisierung<br />

folgen lassen würde: "Es gibt Denker, die heute die Erbschaft der Aufklärung lebendig und<br />

intakt halten wollen. Lassen wir ihnen ihre Frömmigkeit, sie ist die rührendste Art des Verrats.<br />

Aber es geht nicht darum, die Frage nach dem Ereignis und seinem Sinn (die Frage nach der<br />

Geschichtlichkeit der Idee des Allgemeinen) als Frage gegenwärtig zu halten und sie als das zu<br />

Denkende zu betrachten. (...) Entweder man optiert für eine kritische Philosophie, die sich als<br />

analytische Philosophie der Wahrheit im allgemeinen präsentiert, oder man optiert für eine<br />

Ontologie unserer selbst, eine Ontologie der Aktualität; diese Form der Philosophie hat, von<br />

Hegel bis zur Frankfurter Schule über Nietzsche und Max Weber, eine Form der Reflexion<br />

begründet, in der ich zu arbeiten versucht habe." 525 Wenn man diese Auseinandersetzung um<br />

ein adäquates Verständnis der Dialektik der Aufklärung auf die diesem Abschnitt<br />

zugrundeliegende Problematik anwendet, offenbart sich als negative Seite der Aufklärung der<br />

elitäre Anspruch ihrer Protagonisten, im Angesicht der Wahrheit den Menschen den richtigen<br />

Weg in eine lichtvollere Zukunft weisen zu wollen. Hier zeigt sich die bestechende Aktualität<br />

der 3. Feuerbachthese von Marx, nach der jede praktische Philosophie, die nach<br />

Praxiswerdung strebt, die "Selbstveränderung" ihrer Protagonisten zum inerten Element ihrer<br />

Praxis machen muß, so sie "revolutionäre Praxis" sein will und nicht Vogelflugdeutung oder<br />

<strong>Dr</strong>uidenkunst.<br />

Wenn man sich jedoch die Geschichte des Versuches der Praxiswerdung der Aufklärung und<br />

der marxistischen Theorie vergegenwärtigt, dann zeigt sich, daß in beiden Versuchen gerade<br />

nicht das Individuum zur Keimzelle der Veränderung wurde, sondern der bürokratische<br />

Diskurskomplex der Universitätsphilosophie, bzw. der revolutionären Partei. Kant gebührt das<br />

Verdienst, daß er in seiner letzten Schrift diese Tendenz zu erkennen vermochte, auch wenn<br />

seine Lösung, die Universalisierung der Aufklärung zu einem dem Wesen des Menschen<br />

innewohnenden Streben nach Verbesserung des Lebens und der Freiheit, nicht die Spur eines<br />

ausgearbeiteten Konzeptes in sich trägt 526 , denn gerade dieses Streben nach Universalisierung<br />

Habermas eintritt (...), hat sich historisch als Versuch erwiesen, Gegenwartsprobleme durch eine Art<br />

von 'Totenbeschwörung' zu bewältigen." (EE 1,284)<br />

525 Foucault, Michel; Was ist Aufklärung? Was ist <strong>Revolution</strong>?; in: die tageszeitung 2.7.1984; Reprint<br />

in: die taz - das Buch; Frankfurt/Main 1989; S.332-335; hier S.335.<br />

526 "Nun behaupte ich, dem Menschengeschlecht, nach den Aspekten und Vorzeichen unserer Tage,<br />

die Erreichung dieser Zwecke und hiermit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig<br />

werdende Fortschreiten desselben zu Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können.<br />

Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine<br />

Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen<br />

kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur<br />

der Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlecht vereint, aber, was die Zeit<br />

betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte. Aber, wenn der bei<br />

dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch jetzt nicht erreicht würde, wenn die <strong>Revolution</strong>, oder<br />

Reform, der Verfassung eines Volkes gegen das Ende doch fehlschlüge, oder, nachdem diese einige<br />

Zeit gewähret hätte, doch wiederum alles ins vorige Gleis zurückgebracht würde (wie Politiker jetzt<br />

wahrsagen), so verliert jene philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft. - Denn jene<br />

Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflusse<br />

nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern, bei irgend<br />

einer Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer<br />

180


auf der einen und die Schaffung von Möglichkeiten, auch ohne Zwischenebene das Individuum<br />

zu erreichen auf der anderen Seite, werden vor dem Hintergrund des Scheiterns zweier<br />

Modelle einer pädagogischen Revolte zu Kriterien sowohl des Konzeptes einer Apathie der<br />

Praxis als auch einer praktischen Philosophie in der Tradition von Karl Marx überhaupt.<br />

Einen anderen wichtigen Kritikpunkt, der ebenfalls konstitutiv für das Projekt einer<br />

emanzipativen Philosophie sein wird, entwickeln Husserl und Sartre aus der Kritik eines wie<br />

auch immer gearteten Determinismus, wie er z.B. der Aufklärung als naturwüchsiges Streben<br />

nach Freiheit zugrundelag und im Marxismus seinen Ausdruck in dem Glauben an die<br />

freiheitstiftende Potenz der Produktivkraft fand, auch wenn es dort einer <strong>Revolution</strong> zu<br />

bedürfen schien, um den Prozeß zu verwirklichen. Husserl wendet ein, daß "das Ich frei (ist)<br />

als Vergangenes. In der Tat, die Vergangenheit bestimmt mich und damit auch meine Zukunft,<br />

aber diese wiederum 'befreit' die Vergangenheit (...) In meiner Zeitlichkeit liegt meine Freiheit<br />

und in meiner Freiheit liegt es, daß meine Gewordenheit mich zwar bestimmt, doch nie ganz,<br />

weil sie in kontinuierlicher Synthesis mit der Zukunft erst von dieser her ihren Gehalt erhält." 527<br />

Vor diesem Hintergrund wäre es fatal für das Projekt einer emanzipativen Philosophie, nur<br />

eine einzige Umgehensweise mit den Schrecknissen des de facto zu konstruieren, da die<br />

Stunde der ethischen Bewertung erst post festum schlägt, auch wenn hier in keinster Weise<br />

einem Konsequentialismus das Wort geredet werden soll, da gerade das Projekt einer Apathie<br />

in der Praxis in der individuellen Praxis zumeist folgenlos bleibt. Sartre bringt dieses Paradoxon<br />

des entfremdeten Menschen zusammenfassend auf den Punkt. "In einem Wort, ich bin meine<br />

Zukunft in der konstanten Perspektive der Möglichkeit, sie nicht zu sein. Deshalb diese Angst<br />

(...), die daher kommt, daß ich diese Zukunft, die ich zu sein habe und die meiner Gegenwart<br />

ihren Sinn gibt, nicht genügend bin: denn ich bin ein Sein, dessen Sinn stets problematisch<br />

ist." 528<br />

In gemäßigten marxistischen Texten findet sich oft der an Engels anknüpfende Terminus der<br />

"letzten Instanz", 529 der andeuten soll, daß trotz aller eingestandenen Dialektik die Geschichte<br />

sich doch nach gewissen Gesetzmäßigkeiten entwickelt, auch wenn diese durch andere<br />

Faktoren zeitweilig überlagert und verändert werden. Ein allgemeines Problem, das sich aus<br />

Versuche dieser Art erweckt werden sollte." (Kant, Immanuel; Der Streit der Fakultäten; in: Kant<br />

1978; 9,361)<br />

527 Husserl, Edmund; Welt, Ich und Zeit - Unveröffentlichte Manuskripte; Den Haag 1955; S.127.<br />

528 Sartre, Jean-Paul; Das Sein und das Nichts - Philosophische Schriften I; Reinbek 1994; Bd.3, S.253.<br />

529 "Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in<br />

der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx<br />

noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das<br />

einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.<br />

(...) Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche<br />

Menge von Zufälligkeiten (...) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt."<br />

(MEW 37,463) Jacques Derrida greift die strukturalistische Marxinterpretation von Althusser genau<br />

wegen dieses Punktes an: "Im Kern wäre der Begriff der letzten Instanz der allgemeine Begriff des<br />

Dekonstruierbaren selbst, wenn es so etwas gäbe. Deshalb sah ich in ihm den eigentlichen<br />

metaphysischen Halt. (...) Alles in der Logik der Überdeterminierung Interessante und Fruchtbare<br />

wird durch diesen Diskurs über die 'letzte Instanz' (...) kompromittiert, reduziert oder zermalmt"<br />

(Derrida 1994,129) - und das auch, wenn Althusser selbst erklärt, daß die "einsame Stunde der<br />

'letzten Instanz' (nie) schlägt." (Althusser 1968,81)<br />

181


der Aufgabe dieser unhaltbaren Position einer, wenn auch gemäßigten deterministischen<br />

Weltsicht ergibt, ist, daß dies der eigenen bewußten Handlung im Wechselwirkungsgeflecht<br />

der Gesellschaft das Maßsystem und das Richtlot nimmt, denn wenn es keinen "Königsweg"<br />

zur Partizipation an der allgemein-menschlichen Emanzipation gibt, erscheint jede individuelle<br />

Handlung als gleichwertig im Hinblick auf eine unbestimmte Zielkategorie. 530 Nun kann diese<br />

Studie andererseits als ein Versuch verstanden werden, die Zielkategorie der Emanzipation<br />

schlaglichtartig der Dunkelheit des Zukünftigen zu entreißen, jedoch versetzt die Kenntnis des<br />

Zieles einer Handlung das handelnde Wesen nicht in den Stand, Maß und Richtung des Zieles<br />

exakt bestimmen zu können, denn ausgehend von der These, daß das Ziel der Emanzipation<br />

sich erst in der Annäherung dem handelnden Betrachter enthüllt, müssen sich viele individuelle<br />

Wege zur Freiheit als fata morgana erweisen, wobei für den Leser zu hoffen ist, daß diese<br />

Zeilen keine leere Lockung bleiben. Selbst dann, wenn das Ziel pragmatisch gefaßt wird als<br />

Transformation des de facto, ist zu fragen, in welcher Hinsicht und in welchem Maße?<br />

Ohne diese Frage sofort beantworten zu können liegt der Schluß nahe, daß sich<br />

emanzipatorische praktische Philosophie in der Tradition von Karl Marx hüten muß, die<br />

individuellen Handlungen in ein deterministisches Konstrukt einer sich selbstverwirklichenden<br />

Veränderung zu integrieren, auch wenn es ein inhärentes Moment des hier zugrundeliegenden<br />

Skeptizismus ist, daß die Möglichkeit einer "Hauptvariante" auf dem Weg zur Transformation<br />

des de facto nicht a priori ausgeschlossen werden kann. Jede praktische Philosophie, die für<br />

sich proklamiert, "Hauptvariante" der Emanzipation zu sein, hat den unbestreitbaren Vorteil,<br />

daß sie kein emanzipatorisches Diskurssystem über Möglichkeiten der Emanzipation errichten<br />

oder denkbar machen muß, sondern dem an Veränderung interessierten Subjekt eine direkte<br />

Praxis eröffnet, über deren Ergebnis zwar analytisch keinerlei Aussagen getroffen werden<br />

können, die aber dem Einzelnen - als Maß und Richtung - Sinn stiftet. <strong>Die</strong> marxsche<br />

Ideologie- und Religionskritik hat deutlich gemacht, welcher Stellenwert der scheinbaren<br />

Sinnstiftung in kapitalistischen Gesellschaften zukommt, auch wenn Marx nicht glauben wollte<br />

oder konnte, daß es der bürgerlichen Ideologie gelingen sollte, den vollkommen mythischen<br />

Glauben an Gott in einen Glauben an den Mammon zu transformieren 531 , denn trotz aller<br />

Ideologiekritik an der Aufklärung sah Marx wie gezeigt im Übergang vom mittelalterlichen<br />

Glauben zur bürgerlichen Ideologie insgesamt doch einen Fortschritt. <strong>Die</strong> aufgezeigte<br />

Dominanz der negativen Seiten der Aufklärung berechtigt zu dem Schritt, die marxsche<br />

Religionskritik auf die Sphäre der Ideologie auszuweiten, denn die doppelte Kritik an<br />

Aufklärung und Marxismus haben die Ähnlichkeit der Identitätsphänomene von Individuen<br />

soweit dekonstruiert, daß sie wie ein Ei dem anderen gleichen. "<strong>Die</strong> Religion ist die allgemeine<br />

530 „Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und der Universalien, der in<br />

den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und<br />

Kraftlinien kenntlich macht; der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er morgen<br />

sein noch was er denken wird, weil seine Aufmerksamkeit allein der Gegenwart gilt; der, wo er<br />

gerade ist, seinen Teil zu der Frage beiträgt, ob die <strong>Revolution</strong> der Mühe wert ist (...), wobei sich<br />

von selbst versteht, daß nur die sie beantworten können, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu<br />

setzten, um sie zu machen.“ (Foucault, Michel; Nein zu König Sex; in: ders.; Dispositive der Macht<br />

– Über Sexualität, Wissen und Wahrheit; Westberlin 1978; S.198)<br />

531 "Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist<br />

die Voraussetzung aller Kritik." (MEW 1,378)<br />

182


Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr<br />

spiritualistischer Poit-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche<br />

Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische<br />

Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre<br />

Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene<br />

Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck<br />

des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. <strong>Die</strong> Religion<br />

ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist<br />

geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks." 532 Auch wenn die Suche nach Sinn ein<br />

verständlicher Akt des menschlichen Lebens ist, bleibt der Genuß von "Opium des Volks"<br />

ähnlich folgenreich wie der Genuß von realem Rauschkraut. Das Individuum wird abhängig, in<br />

diesem oder jenem Diskurssystem seinen Sinn, sein Maß und seine Richtung gesetzt zu finden.<br />

<strong>Die</strong> Suche nach Freiheit erweist sich für den Süchtigen als Herointherapie gegen Opiumsucht.<br />

Horkheimer und Adorno bringen dies Verhältnis auf den Punkt, wenn sie erklären, daß "der<br />

mythische wissenschaftliche Respekt der Völker vor dem Gegebenen, das sie doch immerzu<br />

schaffen, schließlich selbst zur positiven Tatsache (wird), zur Zwingburg, der gegenüber noch<br />

die revolutionäre Phantasie sich als Utopismus vor sich selbst schämt und zum fügsamen<br />

Vertrauen auf die objektive Tendenz der Geschichte entartet." 533 Erst wenn es gelingt, die<br />

Zwingburg der Suche nach Sinn zu schleifen, wird der Mensch frei sein, seinen Sinn zu suchen,<br />

auch wenn es heute evident zu sein scheint, daß das Buch vom "Sinn des Seins" leer bleibt.<br />

"<strong>Revolution</strong>äre Praxis" in den Farben dieser Studie will und kann dem Individuum, angesichts<br />

der angesprochenen Konklusion einer Aufklärungskritik, weder Ratschläge erteilen, wie es<br />

sein Leben führen soll, wenn es an dem imaginären, unterirdischen Prozeß einer Emanzipation<br />

partizipieren will, noch mit lichtvollen Visionen für die konkreten Opfer, die das Modell einer<br />

Apathie der Praxis mit sich bringt, entschädigen, sondern sie kann nur Anregung sein, "aus der<br />

Kritik der alten Welt die neue finden (zu) wollen." 534 Das Konzept einer Apathie kann dabei<br />

als ein Minimalprogramm verstanden werden, weil es einerseits sowohl für das handelnde<br />

Subjekt, als auch für seine Interaktionspartner Kritik lebt, und andererseits durch die<br />

Befehlsverweigerung gegen die Sachzwänge der Dingwelt jenen Raum schafft, in dem durch<br />

die Etablierung von temporären, partiell-herrschaftsfreien Diskursfeldern nach jenem Ort und<br />

Weg gesucht wird, der eine Transformation des de facto zumindest denkbar macht, auch auf<br />

die Gefahr hin, daß der Ort ου τοποσ heißt.<br />

Ohne gegen die Maxime, daß "Ethik" außerhalb der individuellen Sphäre unter den<br />

Lebensbedingungen des Spätkapitalismus nur die Verklärung des scheinbar unabwendbar<br />

Schrecklichen ist, 535 soll an einigen Beispielen das bislang abstrakte Konstrukt "Apathie der<br />

532 MEW 1,378.<br />

533 Horkheimer/ Adorno 1944; in: Horkheimer 1985ff.; 5,65.<br />

534 MEW 1,344.<br />

535 Man kann Nietzsche zustimmen, wenn er erklärt, daß "abgesehn vom Werthe solcher<br />

Behauptungen wie 'es giebt in uns einen kategorischen Imperativ', man immer noch fragen (kann):<br />

was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren<br />

Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich<br />

zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit anderen<br />

183


Praxis" exemplifiziert werden, die nicht als Handlungsmaximen zu sehen sind, sondern lediglich<br />

als metaphorische Untermalung.<br />

Muß der Apathiker in der Praxis dem autistischen Ideal von Melchíandes nacheifern, dem<br />

Gabriel García Márquez in seinem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" ein monumentales<br />

Denkmal setzt, in dessen Verlauf Melchíandes Apathie so universell wird, daß "seine Haut sich<br />

mit einer zarten Moosschicht (überzog), die auf seiner anachronistischen Weste gedieh, die er<br />

nie mehr auszog, und sein Atem den Geruch eines schlafenden Tiers (verströmte)." 536 Ich<br />

denke nein, denn Melchíandes Entschluß, sich der Welt zu entziehen und die Menschheit mit<br />

Verachtung und Gleichmut zu bestrafen, bleibt das intime Geheimnis seiner unmittelbaren<br />

Interaktionspartner, denn nicht einmal alle Bewohner des Dörfchens Macondo wissen um die<br />

Rebellion des Melchíandes gegen die Ungerechtigkeit des Schicksales.<br />

Einen diametralen, aber nicht weniger <strong>apathische</strong>n Umgang mit den Schrecknissen des Seins<br />

verkörpert die Gestalt K. im Schlußkapitel von Kafkas großem Roman "Der Prozeß", wenn<br />

K. im Angesicht seines Todesurteiles in einem Selbstgespräch die Erkenntnis formuliert: "Das<br />

einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten. Ich<br />

wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu<br />

billigenden Zweck. Das war unrichtig. Soll ich nun zeigen, daß nicht einmal der einjährige<br />

Prozeß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir<br />

nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem<br />

Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bin dafür dankbar, daß<br />

man mir auf diesem Weg diese halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat, und<br />

daß man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen." 537 Während die Figur<br />

Melchíandes von Márquez das <strong>apathische</strong> Konzept einer totalen Negation des menschlichen<br />

Lebens proklamiert, um ihren Protest zu artikulieren, entläßt Kafka seine Gestalt K. in den<br />

Tod mit der Einsicht, daß der Stoizismus ein rein geistiges Unterfangen sei, das selbst der<br />

unmittelbaren Außenwelt des Apathikers der Praxis verborgen bleibt - ja, daß für den<br />

Betrachter sich die Revolte gerade darin manifestiert, daß der Handelnde die von den<br />

Sachzwängen an ihn herangetragenen Entscheidungen willenlos über sich ergehen läßt und in<br />

seinen Handlungen positiv überhöht.<br />

will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe<br />

und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von<br />

sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische<br />

Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn:<br />

'was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, - und bei euch soll es nicht anders stehn,<br />

als bei mir!' - kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte." (Nietzsche,<br />

Friedrich; Jenseits von Gut und Böse (1886); in: Nietzsche 1988; 5,107)<br />

536 Márquez, Gabriel García; Hundert Jahre Einsamkeit; Köln 1982; S.89. In gewisser Weise gleicht<br />

diese Form der Apathie der "Geistesgestörtheit", die Simon Weil dazu bewog "sich selbst (zu) töten<br />

und (zu) zerstören, indem sie sich weigerte zu essen" (Weil, Simone; Cahiers - Aufzeichnungen;<br />

München 1991ff.; Bd.1, S.35). Wenn hier dieses Konzept einer absoluten Verweigerung verworfen<br />

wird, so heißt dies nicht, daß es nicht Lebensumstände geben kann, in denen der selbst<br />

herbeigeführte Hungertod (Apokarterese) als letztes Mittel des Protestes und des Widerstandes<br />

sinnvoll ist, nur scheint diese Umgehensweise kaum als universalisierbare Grundlage einer Apathie<br />

der Praxis, die auf Veränderung orientiert, denkbar zu sein.<br />

537 Kafka, Franz; Der Prozeß; Frankfurt/Main 1979; S.192.<br />

184


Hermann Hesses Figur Harry Haller "mietete die Mansarde oben im Dachstock und die kleine<br />

Schlafkammer daneben, kam nach einigen Tagen mit zwei Koffern und einer großen<br />

Bücherkiste wieder und hat neun oder zehn Monate bei uns gewohnt. Er lebte sehr still und für<br />

sich, und wenn nicht die nachbarliche Lage unsrer Schlafräume manche zufällige Begegnung<br />

auf Treppe und Korridor herbeigeführt hätte, wären wir wohl überhaupt nicht miteinander<br />

bekannt geworden, denn gesellig war dieser Mann nicht, er war in einem hohen Grade<br />

ungesellig, er war wirklich, wie er sich zuweilen nannte, ein Steppenwolf, ein fremdes, wildes<br />

und auch scheues, sogar sehr scheues Wesen aus einer anderen Welt als der meinigen." 538 <strong>Die</strong><br />

Zerrissenheit von Harry Haller, die Hermann Hesse mit einem großen Rekurs auf die Lust an<br />

der Leidenschaft illustriert, kann dabei als Untermauerung der These verstanden werden, daß<br />

der individuelle Versuch einer Sinnsuche dem Einzelnen weder Glück noch Zufriedenheit<br />

verschafft, sondern ihn über die Grenzen des lebbaren Wahnsinns treibt, aus dem nur die letzte<br />

Flucht als Ausweg offen bleibt.<br />

<strong>Die</strong>ses Moment treibt auch Sartres Romanfigur Mathieu Delarue in die pulsierenden Spiralen,<br />

als die das menschliche Leben im Zyklus "<strong>Die</strong> Wege der Freiheit" geschildert wird und an<br />

deren Ende es zur großen Vereinigung der individuellen Freiheitsreisen im Angesicht des<br />

Todes kommt. In Mathieu kulminieren und wiederholen sich die angesprochenen<br />

Umgehensweisen mit dem Welträtsel, wobei der Kombination in einer Person eine besondere<br />

Würze zukommt, wenn er im Rückblick auf das Spannungsgeflecht zwischen Freundschaft und<br />

gegenseitigen Abhängigkeiten postuliert: "Mathieu sah Daniel verschwinden und dachte 'Ich bin<br />

allein.' Allein, aber nicht freier als vorher. Er hatte am Tag zuvor zu sich gesagt: 'Wenn Marcell<br />

nur nicht existierte.' Aber das war eine Lüge. 'Niemand hat meine Freiheit behindert, mein<br />

Leben hat sie aufgesogen.' Er schloß das Fenster und ging ins Zimmer zurück. Ivichs Geruch<br />

hing noch darin. Er sog diesen Geruch ein und sah diesen stürmischen Tag noch einmal vor<br />

sich. Er dachte: 'Viel Lärm für nichts.' Für nichts: dieses Leben war ihm für nichts gegeben, er<br />

war nichts, und doch würde er sich nicht mehr ändern: er war festgelegt. Er zog die Schuhe<br />

aus und blieb regungslos auf der Sessellehne sitzen, einen Schuh in der Hand; er hatte noch<br />

das gelbrote, süße Feuer des Rums in der Kehle. Er gähnte: er hatte seinen Tag beendet, er<br />

hatte seine Jugend beendet. Schon boten ihm bewährte Morallehren diskret ihren <strong>Die</strong>nst an: da<br />

war das abgeklärte Epikuräertum, die lächelnde Nachsicht, die Resignation, die<br />

Ernsthaftigkeit, der Stoizismus, all das, was es ermöglicht, ein verfehltes Leben Minute für<br />

Minute als Kenner zu genießen. Er zog sein Jackett aus, er machte sich daran, seine Krawatte<br />

aufzubinden. Er wiederholte sich gähnend: 'Es stimmt, es stimmt wohl doch: ich bin erwachsen.'"<br />

539 <strong>Die</strong>ses "erwachsen sein" kann als Allegorie und als Antwort auf den weitverbreiteten<br />

(marxistischen) Vorwurf gegen Sartre verstanden werden, daß seine existentialistischen Helden<br />

in einer selbstgewählten Welt jenseits aller gesellschaftlichen Schlichtheit mit ihren<br />

Nebensächlichkeiten wie Broterwerb etc. ihr Leben fristen. Der Übertritt aus dem reinen Ich,<br />

das in dieser Passage als Synonym für Jugend figuriert, in die gesellschaftliche Welt offeriert<br />

Mathieu neben der ganzen Bandbreite überkommener Morallehren auch die Möglichkeit, das<br />

538 Hesse, Hermann; Der Steppenwolf; in: ders; Gesammelte Werke; Frankfurt/Main 1987; Bd.7, S.183.<br />

539 Sartre, Jean-Paul; Zeit der Reife; in: ders.; Gesammelte Werke - Romane und Erzählungen; Reinbek<br />

1987; Bd.2, S.322.<br />

185


existentialistische Konzept einer negativ gefaßten Freiheit in der Auseinandersetzung mit<br />

anderen Konzepten und Lebensreisen positiv zu fassen und das Moment der Fremdheit zu<br />

überwinden, das Mathieu in diesem Medium umschließt. "Er war allein auf dieser Brücke,<br />

allein auf der Welt, und niemand konnte ihm einen Befehl geben. 'Ich bin frei für nichts',<br />

dachte er voller Überdruß. Kein Zeichen am Himmel oder auf der Erde, die Gegenstände<br />

dieser Welt waren zu sehr von ihrem Krieg in Anspruch genommen, sie wandten ihre<br />

vielfältigen Köpfe nach Osten, Mathieu lief über die Oberfläche der Dinge, und sie fühlten es<br />

nicht. Vergessen. Vergessen von der Brücke, die ihn gleichgültig trug, von diesen Wegen, die<br />

auf die Grenze zustrebten, von dieser Stadt, die sich langsam erhob, um am Horizont eine<br />

Feuersbrunst anzusehen, die ihn nicht betraf. Vergessen, ignoriert, ganz allein: ein Nachzügler;<br />

alle Einberufenen waren seit zwei Tagen weg, es gab hier nichts mehr zu tun. Soll ich den Zug<br />

nehmen? Völlig unerheblich. Fahren, bleiben, fliehen: diese Handlungen würden seine Freiheit<br />

nicht ins Spiel bringen. Und doch mußte er sie aufs Spiel setzen." 540 <strong>Die</strong>se Charakterisierung<br />

des Möglichkeitshorizontes von Mathieu beschreibt in einleuchtenden Farben die Stimmungslage<br />

eines Apathikers der Praxis im Sinne dieser Studie. Vor dem Hintergrund der<br />

Einsicht in die eigene Fremdheit in Bezug auf die harmonisch scheinende Ding- und<br />

Menschenwelt gelangt er zu einem Scheitelpunkt der individuellen und kollektiven Reflexion,<br />

von dem aus sich alle denkbaren Möglichkeiten von Handlung als gleich und nichtig enthüllen.<br />

In dieser Momentaufnahme kulminieren Apathie der Praxis, Reflexion der Ich-Ihr-Relationen<br />

und die Fähigkeit zum Diskurs.<br />

<strong>Die</strong> Entfremdung des Subjektes findet mittels der Methode der Apathie der Praxis durch die<br />

Überhöhung der Fremdheit ihren Bezugspunkt in einer unvermittelten Dualität von Individuum<br />

und Gesellschaft in den Subjekten selbst, die nach Sartre eine einzige Lösung impliziert, die<br />

jedoch vor dem Hintergrund des bereits Gesagten als Scheitern verstanden werden muß,<br />

wobei die Charakterisierung dieses Scheiterns ohne Rekurs auf eine scheinbare Objektivität<br />

auskommen kann, da es ein Versagen und Verzweifeln an den eigenen Projekten selbst ist.<br />

Mathieu scheint nicht in der Lage, die Leichtigkeit der Schwere, die die ununterbrochene<br />

Reflexion des Selbst an den Protagonisten heranträgt, auf Dauer ertragen zu können, und<br />

deshalb "trat (er) an die Brüstung und fing stehend an zu schießen. Es war eine Revanche;<br />

jeder Schuß rächte ihn für einen früheren Skrupel. 'Einen Schuß für Lola, die ich nicht zu<br />

bestehlen gewagt habe, einen Schuß für Marcelle, die ich hätte sitzenlassen sollen, einen Schuß<br />

für Odette, mit der ich nicht vögeln wollte. <strong>Die</strong>sen für die Bücher, die ich nicht zu schreiben<br />

gewagt habe, den hier für Reisen, die ich mir nicht gegönnt habe, den da für alle Kerle, die ich<br />

am liebsten gehaßt hätte und zu verstehen versucht habe.' Er schoß, die Gesetze flogen in die<br />

Luft, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, peng, in diese Idiotenfresse, du sollst<br />

nicht töten, peng, auf den falschen Fuffziger gegenüber. Er schoß auf den Menschen, auf die<br />

Tugend, auf die Welt: die Freiheit ist der Terror; das Feuer brannte im Rathaus, brannte in<br />

seinem Kopf: die Kugeln pfiffen, frei war die Luft, die Welt wird hochgehen, ich mit ihr (...); er<br />

schoß auf den schönen Offizier, auf alle Schönheit der Erde, auf die Straße, auf die Blumen,<br />

540 Sartre, Jean-Paul; Der Aufschub; in: Sartre 1987; 3,317.<br />

186


auf die Gärten, auf alles, was er geliebt hatte. <strong>Die</strong> Schönheit machte einen obszönen Kopfsprung,<br />

und Mathieu schoß weiter. Er schoß: er war rein, er war allmächtig, er war frei." 541<br />

Der blut- und gedärmtriefende Sprung in eine beliebige Praxis der kapitalistischen Wirklichkeit<br />

beschert dem Protagonisten Sartres die Freiheits- und Sinnillusion eines bewußtseinslosen<br />

Schräubchens der Vernichtungsgesellschaft, deren Freiheit sich allenfalls in einer l'art pour l'art<br />

Zerstörung und dem Ausleben des Weltschmerzes und Welthasses manifestieren kann.<br />

Mathieus Wagnis, "seine Freiheit aufs Spiel zu setzen", schlägt als maximierte Unfreiheit zurück<br />

und ihn zu Boden, da sein Wagnis letztlich folgenlos bleibt, denn ob er sich selbst vernichtet<br />

oder die Welt in einem Blutmeer ertränkt, schafft weder für ihn noch für jemand anderen<br />

Freiheit. Es ist durchaus möglich, daß Sartre recht hat, jedoch ist es nicht gewiß. <strong>Die</strong>se<br />

zwanghafte Unsicherheit in Bezug auf die Möglichkeiten zur Freiheit stand am Beginn dieses<br />

Kapitels und steht auch an dessen Ende, denn trotz aller Verortung der Trennlinie zwischen<br />

Freiheit und Unfreiheit in den unterschiedlichen Sphären des menschlichen Seins zeigt sich<br />

letztlich, daß erst die Erkundung dieser Möglichkeitskategorie Freiheit denkbar machen kann,<br />

oder anders ausgedrückt: Erst wenn es gelingt, dem Konzept einer Apathie der Praxis eine<br />

theoretische Chance der Praxiswerdung zu eröffenen, kann über die konkrete Ausformung<br />

eines freien Lebens debattiert werden, bzw. - so wird im weiteren zu zeigen sein - der Akt der<br />

Freiheitssuche, als einer auf Gleichheit basierenden Diskurssolidarität, schafft die Option zu<br />

ihrer Durchsetzung.<br />

541 Sartre, Jean-Paul; Der Pfahl im Fleische; in: Sartre 1987; 4,220.<br />

187


"<strong>Die</strong> natürliche Gleichheit, um die es geht, ist jene Gleichartigkeit der Bedürfnisse und<br />

Empfindungen, die uns angeboren sind oder sich mit dem ersten Gebrauch unserer<br />

Sinne und Organe entwickeln. Das Bedürfnis nach Ernährung und Fortpflanzung, der<br />

Selbsterhaltungstrieb, das Mitleid, die Fähigkeit zu empfinden, zu denken und zu<br />

wollen, seine Gedanken mitzuteilen und die seiner Mitmenschen zu verstehen, sein<br />

Handeln der allgemeinen Norm anzupassen, der Haß auf Zwang und die Liebe zur<br />

Freiheit - all dies besteht im gleichen Maß bei allen gesunden und normalen<br />

Menschen. Das ist das Naturgesetz, aus dem für alle Menschen die gleichen<br />

natürlichen Rechte hervorgehen (...). Von der ungleichen Verteilung der Güter und<br />

der Macht kommt alle Zerrüttung, über die sich neun Zehntel der Bewohner der<br />

zivilisierten Länder mit Recht beklagen. Von daher kommen ihre Entbehrungen und<br />

Leiden, ihre Erniedrigung und Sklaverei. Von daher kommt auch jene Ungleichheit an<br />

Bildung, die man aus eigennützigen Motiven fälschlich einer überbewerteten<br />

geistigen Ungleichheit zuschreibt." Filippo Buonarroti 542<br />

3.2. Gleichheit zwischen Mythos und Wirklichkeit<br />

Es war einmal ein Land - so heißt es in einem Märchen von Eduard Bellamy 543 -, in dem alle<br />

Mittel des Lebensunterhaltes und der Lebensannehmlichkeit in Form des Wassers gewonnen<br />

wurden. Eine Minorität von Leuten - durch Kraft, Klugheit und Glück begünstigt - bemächtigte<br />

sich nun des Bodens und damit auch aller Wasserquellen; das Volk mußte jetzt für diese<br />

Besitzer arbeiten, um Wasser zum Leben zu erwerben. <strong>Die</strong> Besitzer befahlen, ein großes<br />

Sammelbecken herzustellen zur Aufnahme allen Wassers, das den schon erschlossenen wie<br />

noch zu erschließenden Quellen entnommen werden sollte, und aus diesem Becken erst wurde<br />

Wasser für den Gebrauch abgegeben. <strong>Die</strong> Besitzer schlugen ferner folgende Ordnung für den<br />

Verkehr vor: für je einen Eimer Wasser, den das Volk in jedes Becken hinschaffe, solle ihm<br />

ein Pfennig ausgezahlt oder gutgeschrieben werden; für je einen Eimer, den es aus dem<br />

Becken empfange, solle es zwei Pfennig zahlen oder zwei Pfennig von seinem Guthaben<br />

ablassen; der eine Pfennig, der bei dem Verkaufe je eines Eimers Wasser übrigbleibe, habe<br />

den Gewinn der Besitzer zu bilden. Das Volk stimmte diesem Vertrage zu und ging frisch an<br />

die Arbeit. Doch bald stand man vor einer ebenso erstaunlichen wie traurigen Erscheinung.<br />

Das Wasser stieg immer höher und floß endlich über den Rand des Beckens. Allein aus den<br />

Büchern der Besitzer erwies sich, daß sich von einem gewissen Punkte an das Wasser im<br />

Becken vermehrte, ohne daß sich für die Besitzer Gewinne ergeben oder die Pfennige<br />

vermehrt hätten. Jene geboten nun dem Volke, die Arbeit einzustellen, und ermunterten es<br />

gleichzeitig, fleißig Wasser zu kaufen, damit sich das Becken rascher leere, die Gewinne<br />

wiederkehrten und die Arbeit, das Herbeischaffen des Wassers, von neuem aufgenommen<br />

werden könnte. Doch das Volk konnte, da es keine Arbeit und keine Pfennige erhielt, nur<br />

wenig oder gar kein Wasser kaufen. <strong>Die</strong> Besitzer aber sagten zu dem jammernden Volke: Wir<br />

werden euch doch nicht Arbeit und Pfennige geben, wenn der Absatz fehlt und eure Arbeit uns<br />

keinen Gewinn bringt! Wegen der großen Fülle an Wasser mußte also das Volk dürsten und<br />

zum Teil langsam verschmachten, und man jammerte im ganzen Lande, eine Krisis sei<br />

542 Buonarroti, Filippo; Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit (1828); in: Höppner/ Seidel-<br />

Höppner 1975; 2,90/91.<br />

543 <strong>Die</strong>ses Märchen orientiert sich an einem Kapitel des utopischen Sozialisten Bellamy, ohne jedoch<br />

eine genaue Wiedergabe seines Gedankenganges zu sein (Bellamy, Eduard; Gleichheit; Stuttgart<br />

1898; S.242ff.). Das Ende des Märchens ist angelehnt an: Orwell, Georg; <strong>Die</strong> Farm der Tiere - Ein<br />

Märchen; Zürich 1995.<br />

188


ausgebrochen. Als das Elend und die Klage des ganzen Volkes zunahmen, tauchten die<br />

Besitzer ihre Finger in das Becken und spritzten Tropfen auf das Volk. <strong>Die</strong>se Tropfen<br />

schmeckten aber sehr bitter. Dann errichteten sie große Bäder und Springbrunnen und<br />

organisierten auch andere, für sie belustigende Veranstaltungen, um den Überfluß an Wasser<br />

zu verschwenden. Darauf endete die Krisis und die Arbeit konnte wieder aufgenommen<br />

werden; als aber das Volk sich stark vermehrte, brach wieder eine Krisis herein. Das<br />

wiederholte sich immer von neuem. Alle Entdeckungen und Erfindungen, aller Fortschritt des<br />

Verkehrs und der Geschicklichkeit mochten den Luxus der Reichen noch so sehr mehren und<br />

vermannigfaltigen, das Volk mußte dennoch größtenteils in Dürftigkeit bleiben und versank<br />

immer wieder wegen der großen Wasserfülle in Arbeitslosigkeit und Elend. Schließlich habe es<br />

sich erhoben, den Privatbesitz an Boden und an Wasserquellen abgeschafft und diesen Besitz<br />

in die Hände der Gesamtheit gelegt; dadurch sei dann das widersinnige und verderbte<br />

Gewinnprinzip und damit auch die gewaltsame Beschränkung der Produktion und alles Elend<br />

beseitigt und allgemeine Wohlfahrt begründet worden. <strong>Die</strong> Verteilung des Wassers wurde nun<br />

von Menschen, die durch Kraft, Klugheit und Glück zu Vertretern des Volkes ernannt worden<br />

waren, koordiniert. Nach einer kurzen Zeit unterbreiteten sie dem Volk einen Vorschlag: für je<br />

einen Eimer Wasser, den das Volk in jedes Becken hinschaffe, solle ihm ein Pfennig ausgezahlt<br />

oder gutgeschrieben werden; für je einen Eimer, den es aus dem Becken empfange, solle es<br />

zwei Pfennig zahlen oder zwei Pfennig von seinem Guthaben ablassen; der eine Pfennig, der<br />

bei dem Verkaufe je eines Eimers Wasser übrigbleibe, habe den Gewinn des Volkes zu bilden<br />

und werde im weiteren von den Volksvertretern verwaltet, um so der Gleichheit zum Siege zu<br />

verhelfen. Das Volk stimmte diesem Vertag zu und ging frisch an die Arbeit. Als eines Tages<br />

zuviel Wasser in den Tanks war und es über die Ränder zu schwappen drohte, forderten die<br />

Volksvertreter das Volk auf, weniger zu arbeiten und mehr Wasser zu verbrauchen. Sie gaben<br />

einen großen Springbrunnen der Gleichheit in Auftrag, aus dem sich die Bedürftigen nach<br />

Maßgabe der Volksvertreter von Zeit zu Zeit einen Eimer entnehmen durften. <strong>Die</strong> Wasserfülle<br />

trieb trotz dieser Wohlfahrtsprojekte immer mehr Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut.<br />

Schließlich habe es sich erhoben, den Besitz an Boden und an Wasserquellen abgeschafft und<br />

diese in die Hände der Gesamtheit gelegt; dadurch sei dann das widersinnige und verderbte<br />

Gewinnprinzip und damit auch die gewaltsame Beschränkung der Produktion und alles Elend<br />

beseitigt und allgemeine Wohlfahrt begründet worden. <strong>Die</strong> Koordinierung der<br />

Wasserproduktion und der Wasserkonsumtion legten sie in die Hände von Wasserholerräten,<br />

die durch die tägliche Arbeit mit dem Symbol der Gleichheit des Volkes gleicher als gleich<br />

geworden waren - und wenn sie nicht gestorben sind, dann erheben sie sich noch heute.<br />

Anknüpfend an diese mythische Fassung des Gleichheitsideales im utopischen Sozialismus<br />

stellt sich die Frage, warum in den Diskussionen um die Notwendigkeiten und Möglichkeiten<br />

einer freien, solidarischen Gesellschaft der Begriff der Gleichheit keinen Einzug gefunden hat,<br />

wenn man berücksichtigt, daß die Protagonisten der bürgerlichen Auslegung der Ideale der<br />

französischen <strong>Revolution</strong> diesen Begriff aus ihrem Legitimationskanon gestrichen und durch<br />

den Begriff der Gerechtigkeit ersetzt haben. Im ersten Unterkapitel soll dieser Frage<br />

nachgegangen werden, bevor auf die gesellschaftstheoretischen Prämissen der<br />

Gleichheitstheorie eingegangen wird, wobei ein Rekurs auf die natur- und<br />

189


gesellschaftswissenschaftliche Durchdringung der Lebenswelten des Menschen zeigen soll, ob<br />

die Ideale von Rousseau, nach denen die Menschen frei und gleich geboren werden, vor dem<br />

Hintergrund der Moderne als idealistische Wunschträume einer anderen Epoche ad acta gelegt<br />

werden müssen. Wenn Denker ausgehend von dieser Prämisse für eine Abkehr vom<br />

Gleichheitsideal plädieren, kann ihnen eine praktische Philosophie in der Tradition von Karl<br />

Marx nur zustimmen, solange es um jene Sphäre der menschlichen Interaktion geht, in der die<br />

"Zirkulation oder der Warenaustausch (verortet sind - KSS), innerhalb deren Schranken Kauf<br />

und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt." 544 Wenn Marx polemisch konstatiert, daß dort<br />

"in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte (herrscht)" 545 , deren Maximen<br />

"Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham" 546 lauten, so können sich die Kritiker des<br />

Gleichheitsideales mit Marx nur dann einig wähnen, wenn es um die formale<br />

Gleichheitsdefinition der herrschenden Auslegungsvariante der emanzipatorischen Ideale<br />

geht. 547 Ausgehend von der These, daß Marx‘ Kritik des Gleichheitsideales sich nur auf die<br />

formaleund abstrakte Festschreibung dieses Ziels menschlicher Gemeinwesen bezieht und nicht<br />

auf jene konkreten Handlungsoptionen der Individuen, sollte es möglich sein, durch einen<br />

Perspektivenwechsel in das Individuum die berühmte Forderung für die gesellschaftliche<br />

Interaktion im Kommunismus - "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen<br />

Bedürfnissen!" 548 -, als das zu erkennen was sie ist: als schlüssige Ausfüllung des<br />

Gleichheitsideales in der Tradition der französischen <strong>Revolution</strong>.<br />

In diesem Kontext eröffnet die marxsche These, daß "das Recht seiner Natur nach nur in<br />

Anwendung von gleichem Maßstab bestehn (kann); aber die ungleichen Individuen (und sie<br />

wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleich wären) nur an gleichem Maßstab<br />

meßbar (sind), soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer<br />

bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in<br />

ihnen sieht, von allem andern absieht" 549 , neben der Forderung nach Schaffung von<br />

ökonomischer Gleichheit noch weitere Handlungsparadigmen, die Gegenstand des dritten<br />

Unterkapitels sein werden. Nach dieser Auffassung stellt das vom Marxismus favorisierte<br />

544 MEW 23,189.<br />

545 MEW 23,189.<br />

546 MEW 23,189.<br />

547 "Das gleiche Recht ist hier daher immer noch - dem Prinzip nach - das bürgerliche Recht, obgleich<br />

Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äquivalenten<br />

beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert. Trotz dieses<br />

Forschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht<br />

der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an<br />

gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem anderen<br />

überlegen, liefert als o in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die<br />

Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden,<br />

sonst hörte sie auf Maßstab zu sein. <strong>Die</strong>s gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit.<br />

Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt<br />

stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als<br />

natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles<br />

Recht." (MEW 19,20/21)<br />

548 MEW 19,21.<br />

549 MEW 19,21.<br />

190


Streben nach ökomomischer Gleichheit des Arbeiters mit dem Kapitalbesitzer nur ein<br />

Gegensatzpaar dar, das neben anderen zum Mittelpunkt eines Diskurses über die<br />

"Gerechtigkeit" der Ungleichheit werden und in die Forderung nach Gleichheit in diesem<br />

konkreten Beziehungsgeflecht durch die scheinbar benachteiligte Gruppe münden kann.<br />

Während sich alle Protagonisten konkreter Gleichheitsideale einig sind, daß in ihrem konkreten<br />

Fall zur Herbeiführung dieser Gleichheit "das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein" 550<br />

muß, herrscht über die Wertigkeit und die Bedeutung der Paradigmen Uneinigkeit, denn neben<br />

der klassischen und weitverbreiteten Theorie der "Triple Oppression" 551 sollen hier auch<br />

scheinbar periphere Gegensätze wie äußere Schönheit versus äußere Häßlichkeit, Dummheit<br />

versus Intelligenz, körperliche Unversehrtheit versus Behinderung thematisiert und zum<br />

Gegenstand einer analytischen Durchdringung ihres spezifischen Gleichheitsideales werden.<br />

Ein weiteres Problem, auf das in vielen Gleichheits- und Gerechtigkeitsmodellen nur am Rande<br />

eingegangen wird, ist die Frage nach der Praxiswerdung der erhobenen Forderung, denn<br />

anders als die an einer reinen Verbesserung des de facto interessierten Ansätze darf eine<br />

praktische Philosophie der Emanzipation sich nicht mit einem Appell an die staatlichen<br />

Strukturen zufrieden geben, und auch die reine Petition an die Adresse der Protagonisten der<br />

einzelnen Gegensatzpaare hat zumindest in der Vergangenheit nur sehr selten zu einem<br />

Ausgleich geführt. Es gilt vielmehr zu klären, wer das Subjekt einer an Gleichheit orientierten<br />

Emanzipationsbewegung sein kann und wie diese Prinzipien im Einklang mit dem schon<br />

analysierten Ideal der Freiheit und dem noch im Dunkel liegenden Begriff der Solidarität<br />

Wirklichkeit werden können.<br />

Als Ziel all dieser Bemühungen apostrophierten Marx und Engels 1845/46 in der "Deutschen<br />

Ideologie" ein Gesellschaftsmodell, das auch heute noch nichts von seiner Aktualität verloren<br />

zu haben scheint: "Nun aber besteht eines der wesentlichsten Prinzipien des Kommunismus,<br />

wodurch er sich von jedem reaktionären Sozialismus unterscheidet, in der auf die Natur des<br />

Menschen begründeten empirischen Ansicht, daß die Unterschiede des Kopfes und der<br />

intellektuellen Fähigkeiten überhaupt keine Unterschiede des Magens und der physischen<br />

Bedürfnisse bedingen: daß mithin der falsche, auf unsre bestehenden Verhältnisse begründete<br />

Satz: 'Jedem nach seinen Fähigkeiten', sofern er sich auf den Genuß im engeren Sinne bezieht,<br />

umgewandelt werden muß in den Satz: Jedem nach Bedürfnis; daß, mit andern Worten, die<br />

Verschiedenheit in der Tätigkeit, in den Arbeiten, keine Ungleichheit, kein Vorrecht des<br />

Besitzes und Genusses begründet." 552<br />

3.2.1. Gleichheit und Gerechtigkeit - Zur Genese eines Ideales menschlicher<br />

Gemeinwesen<br />

<strong>Die</strong> Gleichheit der Menschen in allen Belangen des täglichen Lebens ist gerecht - so kann man<br />

die weit verbreitete Vorstellung der Gleichheitsbefürworter zusammenfassen, jedoch fragt sich<br />

bei diesem Begründungszusammenhang, welcher philosophische Status dieser Gerechtigkeit<br />

zukommt, die scheinbar als Begriff der höchsten Kategorie fungiert. Schon Immanuel Kant<br />

wagte zu behaupten, daß sich jede beliebige Gesellschaftsformation ihren Begriff von Recht<br />

550 MEW 19,21.<br />

551 Vgl. z.B.: Für eine neue revolutionäre Praxis! Triple Oppression & Bewaffneter Kampf; Berlin 1995.<br />

552 MEW 3,528.<br />

191


sucht 553 und Blaise Pascal enthüllte, daß man "nichts Rechtes oder Unrechtes sieht, das bei<br />

einem Klimawechsel nicht seine Eigenart wechselt; drei Grad Polhöhe kehren die ganze<br />

Jurisprudenz um, ein Meridian entscheidet über die Wahrheit. In wenigen Herrschaftsjahren<br />

ändern sich die Grundgesetze, das Recht hat seine Epoche (...). Eine lachhafte Gerechtigkeit,<br />

die ein Fluß begrenzt. Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits." 554 Wenn aber der<br />

Gerechtigkeit als Begründungsinstanz des Gleichheitsideales kein theoretischer Status<br />

zukommt, sondern lediglich Instanz eines beliebigen Appellations- und<br />

Legitimationshokuspokus ist, würde dieses Verdammungsurteil auch auf die Gleichheit<br />

zurückschlagen, so diese denn gerecht sein will.<br />

<strong>Die</strong> Forderung nach gerechter Gleichheit erheben zumeist die Schwächeren in einem der vielen<br />

konkreten Auseinandersetzungsfelder 555 , ohne daß in allen Fällen geklärt ist, wer denn<br />

Ansprechpartner und Durchsetzungsorgan sein soll. 556 Es gilt also nicht nur zu klären, was<br />

diese ominöse Gerechtigkeit ist, sondern auch welche Stellung sie in der Gesellschaft der<br />

Menschen einnimmt, bevor auf ihre Beziehung zur Gleichheit eingegangen werden kann. Wenn<br />

man unter Gerechtigkeit die im weiteren zu bestimmenden Eigenschaften 1) des Verhaltens von<br />

Individuen zu anderen Individuen, 2) des Inhaltes von Verhaltensregeln, 3) des Inhaltes von<br />

Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen und 4) des Inhaltes der abstrakten Rechtsordnung<br />

insgesamt versteht, dann wird deutlich, daß Gerechtigkeit eine Ingredienz des menschlichen<br />

Zusammenlebens ist, die weit über die Ebene einer reinen Legitimation der Gleichheit<br />

hinausgeht, solange man nicht eine natürliche Gleichheit in allen Belangen voraussetzt, was im<br />

nächsten Kapitel untersucht werden soll. Bei Platon, der als erster europäischer<br />

Gerechtigkeitstheoretiker gehandelt wird, erscheint die Gerechtigkeit neben der Weisheit, der<br />

Besonnenheit und der Tapferkeit als primus inter pares der vier Kardinalstugenden, womit er<br />

sich explizit gegen die Auffassung der Sophisten stellt, deren Vorstellung einer Identität von<br />

Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit Antiphon auf den Punkt bringt, wenn er ausführt, daß<br />

"Gerechtigkeit nun darin besteht, daß man die Gesetze des Staates, in dem man Bürger ist,<br />

nicht übertritt." 557 Platon entwirft vor dem Hintergrund des sokratischen<br />

Gerechtigkeitsdualismus (Identität von Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit bei den Menschen im<br />

Gegensatz zu der Identität von Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit der Götter) 558 eine<br />

antipositivistische und antiutilitaristische Theorie, wenn er "dem Staate, in dem das Gesetz<br />

abhängig ist von der Macht des Herrschers und nicht selbst Herr ist, kühn sein Ende voraus<br />

553 Kant, Immanuel; Zum ewigen Frieden; in: Kant 1978; 11,228. Vgl. auch: Unruh, Peter; <strong>Die</strong> Herrschaft<br />

der Vernunft - Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants; Baden-Baden 1993; S.183-190.<br />

554 Pascal, Blaise; Gedanken; Leipzig 1987; S.43/44. Vgl. auch: Montaigne, Michel de; <strong>Die</strong> Essais;<br />

Leipzig 1953; S.217.<br />

555 Schon Aristoteles erkannte dies: Aristoteles 1981; Politik; 1318 b 3-5.<br />

556 In Kapitel 3.2.3. wird außerdem zu klären sein, ob die in der Gleichheitsdiskussion auftauchenden<br />

Gruppen real existierende Gruppen sind oder nur ideologische Schimären.<br />

557 Antiphon; Von der Gerechtigkeit; in: Capelle, Wilhelm; <strong>Die</strong> Vorsokratiker; Berlin/DDR 1961; S.376.<br />

Vgl. auch die Aussagen von Thrasymachos, der bekannte, "daß die Gerechtigkeit und das Gerechte<br />

in Wahrheit der Vorteil des andern ist: der Nutzen des Stärkeren und Herrschenden dagegen der<br />

Schaden des Gehorchenden und <strong>Die</strong>nenden." (Thrasymachos; Vom Wesen der Gerechtigkeit; in:<br />

Capelle 1961,358)<br />

558 Xenophon; Erinnerungen an Sokrates (4/4/18-25); Leipzig 1973; S.143-145.<br />

192


(sagt); demjenigen dagegen, in dem das Gesetz Herr ist über die Herrscher, und die<br />

Obrigkeiten den Gesetzen untertänig sind, dem sehe ich im Geiste Heil beschieden und alles<br />

Gute, was die Götter für Staaten bereit halten." 559 Im "Staat" läßt Platon Sokrates zum einen<br />

sagen, "daß das Seinige tun und sich nicht in alles Mögliche einmischen Gerechtigkeit ist" 560<br />

und zum anderen "Gerechtsein darin (bestehe), daß man einem jeden erstattet, was ihm<br />

gebührt." 561 Somit kommt Platon das Verdienst zu, die Vorform der Formel "suum - cuique -<br />

formula" entwickelt zu haben, die aussagt, daß die Gerechtigkeit in dem ständigen und<br />

unaufhörlichen Willen besteht, jedermann das ihm zuständige Recht zukommen zu lassen, was<br />

bei genauerem Hinsehen leicht als Tautologie enttarnt werden kann, da in dieser Formel nicht<br />

bestimmt wird, wonach das Seinige und das Meinige bemessen werden sollen. Wenn man<br />

diese Formel jedoch als Matrix des Gleichheitsideales verwendet, könnte man sie als<br />

Grundstein einer Gleichheitsethik instrumentalisieren. 562 Es fragt sich nur, was dadurch für das<br />

Streben nach Gleichheit gewonnen wäre?<br />

Genau dieser Frage geht Aristoteles in der wohl folgenreichsten Gerechtigkeitstheorie der<br />

Antike nach, wenn er in der Nikomachischen Ethik zwischen ausgleichender und austeilender<br />

Gerechtigkeit trennt. 563 Während sich die Verteilungsgerechtigkeit auf die Verhältnisse<br />

zwischen dem Staat und seinen Bürgern, zwischen dem Vater und seinen Kindern, zwischen<br />

Reichen und Armen, also zwischen auch weiterhin ungleich bleibenden bezieht, gilt die<br />

Austauschgerechtigkeit überall dort, wo gesetzlich Gleiche mit Gleichen interagieren, also z.B.<br />

zwischen Käufer und Verkäufer. 564 Beiden Gerechtigkeitsformen ist jedoch gemein, daß ihr<br />

Kern auf ein Mittleres zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig orientiert und damit in letzter<br />

Instanz auf Gleichheit. Im Falle der Verteilungsgerechtigkeit ist dies eine proportionale, wenn<br />

nicht sogar geometrische Gleichheit, denn die Ämter des Staates sollen von den Bürgern<br />

gemäß ihrer Tugend und Bildung besetzt werden, während es sich bei der<br />

Austauschgerechtigkeit um eine numerische, wenn nicht arithmetische Gleichheit handelt, da<br />

Leistung und Gegenleistung sich als kommensurable Größen direkt aufeinander beziehen.<br />

559 Platon; Gesetze (715 St); in: ders.; Sämtliche Dialoge; Hamburg 1993; 7,131. Vgl.: Demandt,<br />

Alexander; Der Idealstaat - <strong>Die</strong> politische Theorie der Antike; Köln 1993.<br />

560 Platon 1993; Der Staat (433 St); 5,153. Vgl.: Kelsen, Hans; <strong>Die</strong> Illusion der Gerechtigkeit - Eine<br />

kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons; Wien 1985; S.233-250.<br />

561 Platon 1993; Der Staat (332 St); 5,9.<br />

562 Platon kann natürlich auch so gedeutet werden, daß Gleichheit nur den Gleichen zukommt während<br />

Ungleichheit unter den Ungleichen zu gelten haben. Wenn man dieses Modell vor dem Hintergrund<br />

des <strong>Dr</strong>eiklassenstaates der Polis diskutiert, wird deutlich, daß für Platon Sklaven, Frauen, Kinder<br />

und Fremde als Ungleiche auch ungleich zu behandeln sind.<br />

563 Aristoteles 1958ff.; Nikomachische Ethik; 1130 b-1131 a. Vgl. Panagiotou, Spiro (Ed.); Justice, Law,<br />

and Method in Plato and Aristotle; London 1989; Röhl, Klaus Friedrich; <strong>Die</strong> Gerechtigkeitstheorie<br />

des Aristoteles aus der Sicht sozialpsychologischer Gerchtigkeitsforschung; Baden-Baden 1992.<br />

564 Wie Platon bleibt auch Aristoteles in seinem gesellschaftlichen Umfeld gefangen: "Das Recht der<br />

Herrn (über die Sklaven) und das des Vaters (über die Kinder) ist den geschilderten Formen (der<br />

Austauschgerechtigkeit - KSS) nicht wesensgleich, sondern nur ähnlich, denn es gibt nicht<br />

einfachhin Ungerechtigkeit gegen das, was 'unser' ist; ein Stück Eigentum aber (= der Sklave) und<br />

das Kind ist, bis es ein bestimmtes Alter erreicht hat und selbständig geworden ist, wie ein Teil von<br />

uns selbst; niemand aber will sich mit Absicht selber schaden, weshalb es ja auch keine<br />

Ungerechtigkeit gegen die eigene Person geben kann." (Aristoteles 1958ff.; Nikomachische Ethik<br />

1134 b.<br />

193


Ohne Austausch gibt es so für Aristoteles keine Gesellschaft, ohne Gleichheit keinen<br />

Austausch und ohne Meßbarkeit keine Gleichheit.<br />

<strong>Die</strong>se Passage kommentiert Marx im "Kapital" treffend: "Das Genie des Aristoteles glänzt<br />

gerade darin, daß er im Wertausdruck der Waren ein Gleichheitsverhältnis entdeckt. Nur die<br />

historische Schranke der Gesellschaft, worin er lebte, verhinderte bei ihm herauszufinden,<br />

worin 'in Wahrheit' dies Gleichheitsverhältnis besteht." 565 Marx hält dem entgegen, daß "das<br />

Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten (...) nur<br />

entziffert werden (kann), sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit<br />

eines Volksvorurteils besitzt. Das ist aber erst möglich in einer Gesellschaft, worin die<br />

Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also das Verhältnis der Menschen<br />

zueinander als Warenbesitzer das herrschende Verhältnis ist." 566 Jedoch ist dies, wie in der<br />

Einleitung zu diesem Kapitel bereits angedeutet, nur die Gleichheit im Bezug auf die<br />

ökonomische Sphäre der Warenzirkulation - eine Sphäre, auf die sich das Gleichheitsideal<br />

einer emanzipatorischen Philosophie nicht beschränken sollte, da - wie in Kapitel 3.1.3.<br />

gezeigt wurde - die Arbeit zwar als Gebietskategorie des Seienden erscheint, diese aber nicht<br />

ist.<br />

Nicht erst Marx, sondern schon Epikur gelang es, die Gerechtigkeitstheorie aus der sie<br />

umgebenden Verklärung (religiös-mythisch, naturalistisch, gesellschaftlich-ontologisch) zu<br />

extrahieren: "Es gibt keine Gerechtigkeit an sich, sondern es gibt sie in den gegenseitigen<br />

Beziehungen der Menschen in Gebieten gleich welcher Größe als eine Art Vertrag, einander<br />

nicht zu schädigen noch sich schädigen zu lassen." 567 Indem Epikur Recht als ein vom<br />

Menschen gemachtes Ding auffaßt, relativiert er den Gerechtigkeitsbegriff und stellt ihn in einen<br />

materialistischen und historischen Kontext, was ihm nicht erst im Mittelalter den Ruf eines<br />

Ketzers einbrachte, sondern schon zu seinen Lebzeiten die Stoiker auf die Barrikaden trieb.<br />

<strong>Die</strong> Stoiker dehnten, im Gegensatz zu Epikur, das von Platon und Aristoteles ersonnene<br />

Gerechtigkeitsmodell der Polisgesellschaft ohne weitere Hinterfragung auf die Kosmopolis aus,<br />

die neben der Welt des Menschen auch die des Himmels, der Erde und der Götter umfassen<br />

sollte und in der das kosmische Gesetz "die Autorität (sei - KSS), die bestimmt, was sittlich<br />

und was unsittlich ist." 568 <strong>Die</strong> daraus folgende Gerechtigkeits-Triade "Kosmisches Recht -<br />

Naturrecht - Menschenrecht" erlangte die Weihen eines ontologischen Status, der partiell bis in<br />

die heutige Zeit nachwirkt. Während im Rahmen der Konstituierung des Theoremes einer<br />

Apathie der Praxis die Stoiker als Gewährsleute und Bezugspunkt herangezogen wurden, muß<br />

im Zusammenhang mit dem Gleichheits- und Gerechtigkeitsideal gesagt werden, daß, wenn<br />

Seneca erklärt, daß "der ein Mann von hochgemutem Geist (ist), der sich (dem Schicksal)<br />

hingibt, wogegen kleinlich und entartet derjenige ist, der widerstrebt und von der Weltordnung<br />

565 MEW 23,74.<br />

566 MEW 23,74.<br />

567 Epikur; <strong>Die</strong> Hauptlehrsätze (33); in: Griechische Atomisten 1988,290. Vgl.: Müller, Reimar; <strong>Die</strong><br />

Epikureische Gesellschaftstheorie; Berlin/DDR 1972; S.104-110; ders.; <strong>Die</strong> epikureische Ethik; Berlin<br />

1991; S.78-80.<br />

568 Chrysippos; in: Arnim, Hans von; Stoicorum veterum fragmenta; Leipzig 1905ff.; Bd.3, Nr.314. Vgl.:<br />

Müller, Reimar; Polis und Res publica; Weimar 1987; S.279-292.<br />

194


übel denkt und lieber die Götter bessern will als sich" 569 , ihre Apathie die Diskursfelder, die<br />

eine analytische Durchdringung der verschiedenen Sphären der Triade hätte eröffnen können,<br />

für lange Zeit verschüttete. <strong>Die</strong>se Ontologisierung der Ordnung mittels der Aufhebung der<br />

Trennfelder leistete einer religiös-christlichen Interpretation der antiken Gerechtigkeits- und<br />

Gleichheitstheorie Vorschub, in der der klassische "homo-mensura"-Satz 570 als wahnsinnige<br />

Ketzerei verlacht wurde.<br />

Augustinus und Thomas von Aquin eröffneten eine alternative Sichtweise, wenn sie ein dem<br />

Naturrecht widersprechendes Menschengesetz nicht als Gesetz anerkannten, sondern als pure<br />

Gewalttat stigmatisierten 571 und Staaten als Räuberbanden charakterisierten, solange ihnen die<br />

göttliche Gerechtigkeit fehlte. 572 So progressiv die Interpretation durch Martin Luther King,<br />

der den rassistischen Gesetzen der USA in Anknüpfung an die These von Augustinus die<br />

Rechtsqualität absprach 573 , einerseits auch war, so kann andererseits nicht verborgen bleiben,<br />

daß durch die Verlagerung der Gerechtigkeits- und Gleichheitsbegründung in himmlische<br />

Sphären ihnen jeglicher theoretische Inhalt genommen wird, denn wer kann dann noch<br />

entscheiden, was gerecht und was ungerecht ist?<br />

<strong>Die</strong> Aufklärung orientierte im Gegensatz zur kritischen Scholastik nicht auf die Praxiswerdung<br />

einer göttlichen Gerechtigkeit, sondern erkannte, daß die <strong>Die</strong>sseitsgerechtigkeit nicht Gottessondern<br />

nur Menschenwerk sein kann. Trotz der unterschiedlichen gesellschaftspolitischen<br />

Ansätze und Zielvorstellungen der Aufklärer kann vor diesem Hintergrund die Aufklärung als<br />

Episteme, die sich in Gegnerschaft zur christlichen Mystik durchsetzen konnte, verstanden<br />

werden, was nicht zuletzt seinen Ausdruck in der Diskursstrategie der Aufklärung fand. So<br />

entwickelt z.B. John Locke in seinen "Two Treatises of Government" seine Konzeption einer<br />

abstrakten Gleichheit vor dem Gesetz nicht aus den substanzlosen Sphären des abstrakten<br />

Geistes, sondern widmet fast die Hälfte dieses Werkes der Widerlegung der von dem<br />

radikalen Royalisten Robert Filmer vertretenen These, nach der die absolute Gewalt des<br />

Königs als Erbfolge der Machtübergabe von Gott an Adam legitimierbar sei. 574 Ein anderes<br />

Hindernis auf dem Weg zur Konstituierung einer Gerechtigkeit und Gleichheit nach<br />

Menschenmaß stellte die aus den empirisch-historischen Erscheinungsformen des de facto<br />

resultierende Abneigung der herrschenden Eliten gegen jede Art der Veränderung dar. <strong>Die</strong>se<br />

selbstgefällige Besitzstandswahrung trieb selbst den distinguierten Kant auf die Barrikaden und<br />

ließ ihn empört ausrufen: "Nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres<br />

gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die<br />

doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zur rechten Zeit nach den Ideen getroffen<br />

würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft<br />

569 Seneca; Briefe; § 107, 12; Übersetzung nach: Seneca 1993; 4,235.<br />

570 "Der Mensch sei das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht<br />

sind." (Protagoras; in: Capelle 1961,327)<br />

571 Aquin, Thomas von; Summa theologica (I-II,95,2); Heidelberg 1977; S.97.<br />

572 Augustinus; Vom Gottesstaat (4,4); München 1977; S.173.<br />

573 ??Martin Luther King; Freiheit; Kassel 1964; S.190-195.<br />

574 Locke, John; Two Treatises on Government; Cambridge 1988; p.135-263. Filmer, Robert; Patriarcha;<br />

Oxford 1949; p.49-126.<br />

195


werden, alle gute Absicht vereitelt hätten." 575 Nicht Moralität, Religiosität, Gemüt, Gefühl,<br />

Gesinnung und einfache Fortschreibung des Status quo können nach Vorstellung der Aufklärer<br />

zur Legitimierung von Gerechtigkeitsmodellen herangezogen werden, sondern nur der für jedes<br />

Individuum nachvollziehbare Rekurs auf eine praktische und gleichheitstiftende Vernunft.<br />

Gerade dieser individuelle Zugangsweg, der sich in der Praxiswerdung der Aufklärung immer<br />

mehr im Paragraphendschungel verlor, erhebt die Aufklärung trotz ihrer Mystifizierung der<br />

Vernunft über eine Pauschalverurteilung allen Menschensrechtes in der Tradition von<br />

Augustinus und Thomas von Aquin zu Bausteinen einer emanzipatorischen Philosophie des<br />

21.Jahrhunderts.<br />

<strong>Die</strong> Suche nach einer Gleichheitsbegründung in der Sphäre des Begriffes der Gerechtigkeit<br />

könnte nun in die Tiefen des Begriffes der Vernunft hinabsteigen und dort nach dem<br />

Gleichheitsgehalt der Vernunft forschen, da diese Verbindung ihren Ursprung jedoch in dem<br />

hat, was die Philosophie als Natur des Menschen faßt, wird diese begriffliche und praktische<br />

Interaktion im nächsten Kapitel thematisiert werden. An dieser Stelle gilt es ausgehend von<br />

den Prämissen des Gerechtigkeitsmodelles der Aufklärung auf deren intendierte,<br />

gleichheitstiftende Wirkung in Bezug auf die Subjekte zu rekurrieren. Ganz allgemein etablierte<br />

sich unter den Protagonisten der Aufklärungsvernunft die Vorstellung, daß das Praxis werden<br />

soll, was als gerecht verstanden wird. Ein Vorwurf, der der Philosophie der Aufklärung dabei<br />

nicht erspart werden kann, ist deren scheinbar übergroßes Streben nach unmittelbarer<br />

Praxiswerdung ihrer Ideale, denn wenn Thomas Hobbes 576 in Gegnerschaft zum Postulat von<br />

Francis Bacon 577 davon ausgeht, daß nicht die Weisheit, sondern nur die Autorität der<br />

Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen könne, dann leistete er in gewisser Weise Theorien<br />

Vorschub, die die Aufklärung darauf beschränken wollten, der Ungleichheit des de facto eine<br />

neue - nun rationale - Legitimation zu verschaffen. In eine ähnliche Richtung geht auch eine<br />

Interpretationsmöglichkeit der hegelschen Überlegungen zur Praxiswerdung von Gerechtigkeit,<br />

denn wenn Hegel einerseits formuliert, daß das "was sein soll, in der Tat auch (ist), und (das -<br />

KSS), was sein soll, ohne zu sein, keine Wahrheit (hat)" 578 , dann stellt er in dieser Textstelle<br />

jeder beliebigen Gesellschaftsform einen Legitimationsscheck aus, der nicht gedeckt werden<br />

kann, auch wenn er andererseits einlenkt und seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, daß "durch<br />

ihre Dialektik die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben (wird)". 579 Während<br />

Montesquieu eine freie und gerechte Gesellschaft mittels einer an Aristoteles geschulten,<br />

vermittelnden Gleichheit der drei Arten staatlicher Machtausübung (puissance législative,<br />

575 Kant, Immanuel; Kritik der reinen Vernunft (A 316/317); in: Kant 1978; 3,324. Auch Hegel teilte diese<br />

Position: "Wenn das Entstehen einer Institution unter ihren bestimmten Umständen sich<br />

vollkommen zweckmäßig und notwendig erweist und hiermit geleistet ist, was der historische<br />

Standpunkt erfordert, so folgt, wenn dies für eine allgemeine Rechtfertigung der Sache selbst gelten<br />

soll, vielmehr das Gegenteil, daß nämlich, weil solche Umstände nicht mehr vorhanden sind, die<br />

Institution hiermit vielmehr ihren Sinn und ihr Recht verloren hat." (Hegel 1967,24)<br />

576 Hobbes, Thomas; Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische<br />

Recht; Weinheim 1992; S.42-50.<br />

577 "Recte enim Veritas, Temporis filia dicitur, non Authoritatis" (Bacon 1645; Buch I, §84,93)<br />

578 Hegel 1988,170.<br />

579 Hegel 1967,202.<br />

196


exécutive, de juger) gewährleisten wollte 580 , setzte Rousseau auf die Identität der Regierenden<br />

und Regierten, "da man nicht mehr danach fragen darf, wem die Gesetzgebung gebührt, da die<br />

Gesetze Akte des Allgemeinwillens sind; auch nicht, ob der Fürst über den Gesetzen steht, da<br />

er ein Glied des Staates ist, ebensowenig ob das Gesetz ungerecht sein kann, da niemand<br />

gegen sich selbst ungerecht ist." 581 Es wird deutlich, daß das Streben nach Praxiswerdung des<br />

Gleichheits- und Gerechtigkeitsideales der Aufklärung seinen scheinbaren Endpunkt findet in<br />

einer Apologie des de facto. <strong>Die</strong> Gerechtigkeitstheorie als Begründungsinstanz für<br />

gesellschaftliche Gleichheit erscheint nach dieser oberflächlichen Analyse als ein wenig<br />

geeignetes Instrument des philosophischen Diskurses, denn wenn Gerechtigkeit eine<br />

Traumgestalt bleibt solange sie als Ideal auf Freiheit und Solidarität baut und erst praxisfähig<br />

wird, wenn sie einen autoritären Charakter annimmt, dann beschränkt sich ihre reale Rolle<br />

darauf, als methodologische Gebetsmühle jegliche Gesellschaftstheorie mit der Gnade der<br />

Legitimation zu segnen - eine Legitimation, die, da sie beliebig bleibt, nichtig wird.<br />

Um diesen apokalyptischen Trauergesang auf die schöne, weil einfache, und ethische<br />

Begründung von Gleichheit etwas fundierter zu belegen, bietet es sich an, auf die vier Arten<br />

von Gerechtigkeitstheorie einzugehen, die in der Moderne hegemonial zu sein scheinen, die da<br />

sind a) analytisch, b) agnostisch, c) formal und d) materialistisch.<br />

a) <strong>Die</strong> analytische Gerechtigkeitstheorie ist im eigentlichen Sinne keine Theorie der<br />

Gerechtigkeit und entwickelt auch selbst keine Kriterien, um "gerechtes" bzw. "ungerechtes"<br />

Handeln bezeichnen zu können, sondern untersucht, gemäß ihres Abstraktionsstatus als<br />

Metatheorie, die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die logischen Strukturen, die<br />

sprachlichen Formen, die Motivationen, die intellektuellen Quellen und Folgen, die sozialen<br />

Ursachen und Wirkungen sowie den Verbreitungsgrad von existenten und hypothetischen<br />

Gerechtigkeitstheorien. Das Streben der Menschen nach Gerechtigkeit wird dabei<br />

unhinterfragt als Real-Seiendes gefaßt und lediglich dem Begründungskanon mittels<br />

theologischer, philosophischer, soziologischer, psychologischer, erkenntnistheortischer,<br />

logischer, linguistischer und historischer Methoden in Theorie und Empirie zu Leibe gerückt,<br />

was zwar Aufschlüsse über den ideologischen Charakter der Gerechtigkeitstheorien eröffnet,<br />

aber letztlich kann man Hermann Klenner zustimmen, wenn er zusammenfaßt, daß die<br />

analytische Gerechtigkeitstheorie "nur eines nicht zustande (bringt): eine eigene<br />

Gerechtigkeitstheorie. Boshafte meinen zuweilen: die Analytiker wissen alles, aber verstehen<br />

nichts." 582<br />

b) Den Protagonisten der agnostischen Gerechtigkeitslehre bleibt der Begriff der<br />

Gerechtigkeit, trotz seiner Bedeutung für das Alltagsleben als ein quasi-religiöser, quasiideologischer,<br />

quasi-politischer Ausdruck suspekt 583 , und so lehnen sie auch jede Verbindung<br />

von Objektivität und Gerechtigkeit folgerichtig ab. 584 Angelehnt an die Kritik der Konzeption<br />

580 Montesquieu, Charles-Louis de; Vom Geist der Gesetze; Tübingen 1992; Bd.1, S.215.<br />

581 Rousseau, Jean-Jacques; Der Gesellschaftsvertrag; Leipzig 1984; S.69.<br />

582 Klenner, Hermann; Gerechtigkeitstheorien in Vergangenheit und Gegenwart; in: BzG Nr.1/1994; S.3-<br />

21, hier S.14. Vgl. auch: ders.; Deutsche Rechtsphilosophie im 19.Jahrhundert; Berlin 1991; ders.;<br />

Zur Gerechtigkeit des Rechtsstaats; in: Initial - Berliner Debatte Nr.4/1996; S.7-13.<br />

583 Dürrenmatt, Friedrich; Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht; Zürich 1969; S.18.<br />

584 Weber, Max; Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Tübingen 1988; S.505.<br />

197


einer objektiven Ästhetik kommen sie zu der These, daß sich weder die Schönheit einer<br />

Symphonie Beethovens noch die Gerechtigkeit einer Handlung begrifflich fassen lassen. 585 <strong>Die</strong><br />

Gerechtigkeitspostulate mit Absolutheitsanspruch, auf die sich viele Theoretiker in letzter<br />

Instanz zurückziehen, werden von ihnen mit einem Rekurs auf ihre tautologische Natur ad<br />

absurdum geführt, 586 denn Leerformeln sind keine Lehrsätze - um nun selbst ein<br />

Absolutheitspostulat zu verwenden. Trotz gewisser Differenzen stimmen sie darin überein, daß<br />

die Inhalte der Gerechtigkeitstheorien gleich gültig und damit gleichgültig seien, oder wie es<br />

Hermann Kant zynisch zuspitzt: "Der ermordete gute Ruf des Krieges ist dieser Tage<br />

quicklebendig. Es wimmelt geradezu von Kriegern mit gutem Ruf. Für jeden Standpunkt hält<br />

man einen am Lager. Für jede Zielsetzung auch. Jeder ist recht, nur gerecht muß er sein.<br />

Gerecht ist der Krieg, der auf Jerusalem fällt, sagt Bagdad. Gerecht ist der Krieg, der auf<br />

Bagdad fällt, sagt Jerusalem. Gerecht ist er, wenn er amerikanisch ist, sagt Bush, und Saddam<br />

sagt das Gegenteil. <strong>Die</strong> einen sprechen vom Job, die anderen von der Schlacht aller<br />

Schlachten, und ich rede vom guten Ruf, den der Krieg verloren habe." 587<br />

c) <strong>Die</strong> formalen Gerechtigkeitstheorien, die in der modernen bürgerlichen Gesellschaft<br />

hegemonial sind, haben sich von solchen problemtriefenden Abstraktionshöhen verabschiedet<br />

und die rationale Durchdringung des Gerechtigkeitsbegriffes längst "überwunden", 588 so daß<br />

sie zwar die Gerechtigkeit mehren wollen, ohne jedoch sagen zu können, was diese letztlich<br />

ist. 589 Populärer als direkt apologetische Texte sind gegenwärtig prozessual-formale<br />

Gerechtigkeitstheorien, wie etwa die Theorien von Rawls, Nagel und Habermas. John Rawls<br />

überrascht gesellschaftstheoretisch geschulte Leser, die nicht unbedingt seine Fangemeinde<br />

darstellen, mit einem Gedankenexperiment: Der vernunftbegabte Leser solle sich gedanklich in<br />

einen urgeschichtlichen Homunkulus hineinversetzen, der nun Gerechtigkeitsprinzipien für eine<br />

zukünftige Gesellschaft entwerfen darf, ohne bestimmen zu können, welchen individuellen Platz<br />

er in seinem Gedankenkonstrukt einnimmt. Rawls enthüllt als Ergebnis seiner Zeitsprünge zwei<br />

Grundmaximen: 1) "Jede Person soll ein gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem<br />

gleicher Grundfreiheiten haben, sofern es mit einem ähnlichen Freiheitssystem für alle vereinbar<br />

585 Ehrlich, Eugen; Grundlegung der Soziologie des Rechts; Westberlin 1989; S.163.<br />

586 Kelsen, Hans; Reine Rechtslehre; Wien 1976; S.366; ders.; Was ist Gerechtigkeit?; Wien 1993; S.43.<br />

587 Kant, Hermann; Abspann - Erinnerungen; Berlin 1991; S.437/438. Vgl. auch: „Wenn denn auf Erden<br />

Wesen leben, deren Neigungen alle landläufigen Vorurteile vor den Kopf stoßen, deren<br />

Mutwilligkeiten sämtlichen Grundsätzen der Gesellschaft darwiderlaufen, deren Launen alle<br />

sittlichen wie religiösen Gesetze verletzen; mit einem Wort: Wesen, die Ihnen nur deshalb als<br />

Verbrecher und Ungeheuer erscheinen, weil sie lediglich aus reiner Lust und aus keinem anderen<br />

Grunde zum Verbrechen neigen; so soll man sich weder entrüsten noch zu Strafpredigten und<br />

Züchtigungen greifen, nein, man soll ihnen vielmehr Vorschub leisten, soll ihnen Genugtuung<br />

verschaffen, jegliche Zügel, von denen sie im Zaum gehalten werden, lockern und ihnen, wenn man<br />

sich gerecht verhalten will, sämtliche Mittel zur Verfügung stellen, damit sie sich ungestört<br />

befriedigen können; denn jene Menschen haben ebensowenig Einfluß auf die Frage, ob sie diese<br />

wunderwürdige Neigung erhalten oder nicht, wie Sie auf die Frage, ob sie geistreich oder einfältig,<br />

wohlgebaut oder bucklig zur Welt kommen.“( Sade, Donatien Alphonse Francois de; Justine und<br />

Juliette; München 1990ff.; Bd.2, S.170)<br />

588 <strong>Dr</strong>eier, Ralf; Recht - Staat - Vernunft; Frankfurt/Main 1991; S.8-20.<br />

589 Perelman, Chaim; Über die Gerechtigkeit; München 1967; S.82-84, 153-162. Luhmann, Niklas; Das<br />

Recht der Gesellschaft; Frankfurt/Main 1993. Vgl. zur Kritik an Luhmann: Klenner, Hermann;<br />

Rechtsnorm- und Rechtswirklichkeit; Berlin 1993; S.107-145.<br />

198


ist." 2) "Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sollen so arrangiert werden, daß sie beide a)<br />

den am wenigsten Begünstigten den größten Vorteil bringen, und b) mit Ämtern und Positionen<br />

verbunden sind, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen." 590 Man kann Rawls<br />

"Theorie" durchaus als idealistische Fassung eines nebulös bleibenden<br />

Gerechtigkeitsempfindens breiter Gesellschaftsschichten verstehen, jedoch welcher<br />

philosophische Stellenwert entspringt daraus für diese "Theorie" und warum handeln die<br />

Menschen nicht gerecht, wenn doch die Einsicht in die Möglichkeiten eines Wandels so<br />

einfach ist? Ein Rekurs auf die Beziehung von Ideal und Interesse unterbleibt auch bei der<br />

selbsttranszendenten, formalen Gerechtigkeitstheorie von Thomas Nagel, dessen Handelnde<br />

sich im Prozeß der Handlung wegabstrahieren, um mit "dem Blick von Nirgendwo"<br />

Rechenschaft über die Motive und Handlungen der Protagonisten eines Konfliktes<br />

einzufordern und zugleich abzulegen, bevor sie in ihren Körper zurückkehren, um nun gerecht<br />

und weise zu handeln. 591 Wenn das Subjekt dieses selbstbewußte, rationale und natürlich<br />

gleiche Wesen wäre, dessen Nagels "Methode" bedarf, um wenigstens den Schein von<br />

Plausibilität zu erheischen, würde sich die Funktion von Gerechtigkeitstheorien vermutlich<br />

darauf beschränken, Gegenstand von kindlichen Wortspielen zu sein. Produktiver erscheint da<br />

schon die Gerechtigkeitstheorie der Diskursethik des Jürgen Habermas, die zumindest den<br />

Anspruch erhebt, die monologischen Meditationen von Rawls und Nagel durch ein<br />

dialogisches und polylogisches Konzept zu ersetzen. Zentraler Diskursort der Subjekte<br />

"gleichursprünglicher Autonomie" ist dabei der Gesetzgebungsprozeß, denn dort<br />

vergesellschaften sich die privaten Rechtssubjekte kommunikativ, um eine "freie Assoziation<br />

der Gerechten" zu schaffen bzw. zu erhalten. Habermas bleibt dabei nicht verborgen, daß<br />

dieses Verfahren einen recht ungewissen Ausgang haben kann, da die Subjekte als zumindest<br />

kommunikativ unterschiedlich potent verstanden werden müssen. Um nicht einer Beliebigkeit<br />

das Wort zu reden führt Habermas eine kommunikative Methode ein, um aus den<br />

"kommunikativen Arrangements" der Rechtsgenossen verallgemeinerungsfähige Grundsätze<br />

und Normen zu extrahieren, indem man die Diskursstrukturen untersucht und gegebenenfalls<br />

gerechte und gleiche Verhandlungsbedingungen schafft, die dann für Habermas selbstredend<br />

faire Kompromisse zur Folge haben. 592 <strong>Die</strong> Konsequenzen der formalen<br />

Gerechtigkeitskonzeption sind offensichtlich: "<strong>Die</strong> Berechtigung einer Behauptung soll nicht<br />

mehr von der Wahrheit abhängen, sondern die Wahrheit des Behaupteten von der<br />

Berechtigung der Behauptung." 593 Wenn sich unter dem Strich die Einsicht formiert, daß<br />

Gleiche mit Gleichen gerecht umgehen, dann wäre auch zu fragen - und dieser Frage weichen<br />

die "Prozeduralisten" tunlichst aus -, wie diese Gleichheit herzustellen ist, denn bislang blieben<br />

selbst rationale Argumente der Machtlosen global ungehört und folgenlos, solange sie nicht die<br />

590 Rawls, John; Eine Theorie der Gerechtigkeit; Frankfurt/Main 1979.<br />

591 Nagel 1992.<br />

592 Habermas, Jürgen; Faktizität und Geltung; Frankfurt/Main 1992; S.109-120, S.166-186. Vgl. auch die<br />

ausgezeichnete Kritik dieses Ansatzes durch: Klenner, Hermann; Fortiter in modo, suaviter in re?<br />

Über das prozeduralistische Rechtsparadigma des Jürgen Habermas; in: Utopie kreativ<br />

Nr.35/36/1993; S.110-116.<br />

593 Alexy, Robert; Theorie der juristischen Argumentation; Frankfurt/Main 1991; S.138. Vgl. auch:<br />

ders.; Recht - Vernunft - Diskurs; Frankfurt/Main 1995.<br />

199


Sphären der rein diskursiven Handlungen verlassen, um mit der Kalaschnikow zu<br />

kommunizieren.<br />

d) <strong>Die</strong> materialistischen Gerechtigkeitstheorien lassen sich in vier Untergruppen<br />

aufgliedern: 1) naturrechtliche, 2) hermeneutische, 3) positivistisch-menschenrechtliche und,<br />

last but not least, 4) marxsche Konzeptionen. Während die naturrechtlichen Varianten in<br />

Ermangelung eines historisch-archäologischen Nachweises der natürlichen Rechte sich auf<br />

theologische oder anthropologische Spekulationen über den Rechts- bzw. Unrechtscharakter<br />

des geltenden Rechtes zurückziehen müssen - die an Augustinus und Thomas von Aquin<br />

erinnern -, versuchen die hermeneutischen Gerechtigkeitstheorien, den Menschen als Ensemble<br />

seiner Interaktionen mit anderen Menschen als ontologische Grundrelation des Gerechtigkeitsund<br />

Gleichheitsideales aufzufassen. <strong>Die</strong> Vertreter des ersten Konzeptes neigen dabei nicht<br />

unbedingt dazu, ein einheitliches Gerechtigkeitsideal anzustreben, sondern kommen ausgehend<br />

von stark differierenden Menschenbildern zu unterschiedlichen Rechtsmodellen, denen ihrer<br />

Auffassung nach jedoch allen der Schein einer naturrechtlichen Begründung anhängt 594 ,<br />

während hermeneutische Gerechtigkeitsmodelle gemäß ihres ideologischen Backgrounds nicht<br />

auf Gerechtigkeitsbegründung orientieren, sondern auf die Analyse der Hintergründe des<br />

gesellschaftlich-hegemonialen Rechtskonstruktes, da erst nach deren analytisch-diskursiver<br />

Durchdringung Aussagen über den Status der Gerechtigkeit möglich seien - jedoch so weit ist<br />

die materialistisch-hermeneutische Gerechtigkeitstheorie noch nicht. 595<br />

<strong>Die</strong> positivistisch-menschenrechtliche, materielle Gerechtigkeitskonzeption hat meines<br />

Erachtens vor allem deshalb Zulauf, weil sie nicht als Theorie im eigentlichen Sinne verstanden<br />

werden kann, sondern sich als theoretisierte und formal-gefaßte Form einer Praxis am<br />

Machbaren orientiert. <strong>Die</strong> beiden Konventionen der UNO über wirtschaftliches, soziales und<br />

kulturelles sowie über bürgerliches und politisches Recht von 1966 und 1976 können als<br />

universalisierteste Form der menschlichen Rechtssprechung auch als Gerechtigkeitskodex<br />

betrachtet werden, da sie den Menschen umfangreiche Kriterien für eine "gerechte<br />

Rechtsordnung" an die Hand geben und gleichzeitig geltendes und zukünftiges Recht<br />

legitimieren bzw. verdammen. 596 <strong>Die</strong>se Rechtsform spiegelt jedoch nur das gesellschaftlichhegemoniale<br />

Gerechtigkeitsverständnis wider, auch wenn die Orientierung auf einen globalen,<br />

friedlichen Konsens der Menschen als Grundlage für Gerechtigkeit und in Gegnerschaft zu<br />

nationalen Verfassungen vom Gesichtspunkt des Machbaren als wünschenswerte Alternative<br />

zur kapitalistischen Realität verstanden werden kann, und doch erwächst daraus keinerlei<br />

594 Coing, Helmut; Grundzüge der Rechtsphilosophie; Berlin 1993; Messner, Johannes; Das Naturrecht<br />

- Handbuch der Gesellschaftsethik; Westberlin 1984; Böckle, Franz/ Böckenförde, Ernst-Wolfgang<br />

(Hrg.); Naturrecht in der Kritik; Mainz 1973; Llompart, José; Dichotomisierung in der Theorie und<br />

Philosophie des Rechts; Berlin 1993.<br />

595 Gadamer, Hans-Georg; Wahrheit und Methode; Tübingen 1975; Pasternack, Gerhard (Hrg.);<br />

Erklären, Verstehen, Begründen; Bremen 1985; Kaufmann, Arthur; Rechtsphilosophie in der Nach-<br />

Neuzeit; Heidelberg 1990; S.40-60; ders.; Gerechtigkeit: Der vergessene Weg zum Frieden -<br />

Gedanken eines Rechtsphilosophen zu einem politischen Thema; Köln 1993; S.27-45, S.355-376. Zur<br />

Kritik vergleiche: Sandküher, Hans-Jörg; Zum Verhältnis von Hermeneutik und<br />

Ideologiewissenschaft - Fragen einer materialistischen Interpretationstheorie; Gießen 1992.<br />

596 Menschenrechte - Eine Sammlung internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz; Bonn<br />

1992; S.31-65.<br />

200


theoretischer oder philosophischer Begründungszusammenhang für dieses<br />

Gerechtigkeitskonzept, das so als recht willkürliches Konstrukt erscheint.<br />

Wenn es um die Frage einer Gerechtigkeitstheorie nach Marx geht, beginnt der Streit der<br />

Forscher in der Regel schon dort, wo es um die Verortung des Begriffes der Gerechtigkeit bei<br />

Marx geht. Während einige Wissenschaftler in den verstreuten apokalyptischen Äußerungen<br />

von Marx über die Ironie der Geschichte den eigentlichen naturalistischen Kern der marxschen<br />

Rechtsphilosophie zu erkennen glauben, behaupten andere Forscher, daß Marx nicht einmal<br />

eine kritische Theorie der Gerechtigkeit vorgelegt habe, sondern einen amoralischen Abgesang<br />

auf jegliche Art von Gerechtigkeitstheorie, was damit belegt wird, daß bei Marx der Begriff<br />

der Gerechtigkeit nicht vorkäme. 597 Andere wollen Glauben machen, daß der marxsche<br />

Versuch einer Kritik der politischen Ökonomie nur eine Verschleierungstaktik sei, denn "Marx<br />

and Engels plainly believed that capitalism was unjust, but they did not believe, that they<br />

believed this." 598 Auch unter marxistischen Rechtsphilosophen herrschte lange Zeit eine<br />

gewisse Gläubigkeit an die gleichheit- und gerechtigkeitstiftende Wirkung der eigenen<br />

historischen Mission, vor deren Hintergrund der wissenschaftlichen Klärung des marxschen<br />

Begriffes der Gerechtigkeit geschickt ausgewichen werden konnte, indem man darauf verwies,<br />

daß "die sozialistische Gesellschaft immer bessere Bedingungen für die Verwirklichung der<br />

Gerechtigkeitsforderungen der revolutionären Arbeiterklasse (schafft). (...) Ausdruck der<br />

Gerechtigkeit im Sozialismus sind die Gewährleistung der sozialen Sicherheit und einer<br />

gesicherten Perspektive der Menschen, die Verwirklichung des Grundsatzes 'Jeder nach<br />

seinen Fähigkeiten - jedem nach seiner Leistung', die Gleichberechtigung von Mann und Frau<br />

sowie die großen Möglichkeiten zur Entfaltung der Persönlichkeit des werktätigen<br />

Menschen." 599 Nicht nur die fehlende Umsetzung dieser hehren Ziele, sondern auch ihr<br />

ungeklärter wissenschaftlicher Status bewogen spätestens seit den 80er Jahren immer mehr<br />

marxistische Philosophen zu einer kritischen Analyse der verstreuten und vereinzelten<br />

Textstellen, in denen Marx und Engels zu diesem Problem Stellung beziehen. Der wohl<br />

prominenteste marxistische Rechtsphilosoph Hermann Klenner kommt dabei zu dem Ergebnis,<br />

daß "sie einerseits jedes angeborene oder göttlich vorgeschriebene oder apriorisch<br />

konstruierte Gerechtigkeitsprinzip mit absolutem Geltungsanspruch negiert (haben), während<br />

sie andererseits den teils progressiven, teils konservativen Gehalt der im Geschichtsverlauf der<br />

Menschheit auftretenden Gerechtigkeitsvorstellungen und -theorien als ideellen Ausdruck<br />

597 Friedrich, Carl Joachim; <strong>Die</strong> Philosophie des Rechts in historischer Perspektive; Westberlin 1955;<br />

S.93. Vgl. insgesamt zum Komplex „Marx und Gerechtigkeit“: Nielsen, <strong>Kai</strong>; After the demise of the<br />

tradition – Rorty, critical theory, and the fate of Philosophy; Boulder 1991; ders.; Marx and Justice -<br />

A Critique of Marxist Amoralism; in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie; Nr.74/1988; S.1-32;<br />

ders.; Equality and liberty – A defense of radical egalitarianism; Totowa 1985; ders.; Marx and<br />

Morality; Guelph 1981. Selbst Sir Ralf Dahrendorf, der kaum in Verdacht steht, ein glühender<br />

Marxist zu sein, weist in seinem Buch "Marx in der Perspektive - <strong>Die</strong> Idee des Gerechten im Denken<br />

von Karl Marx " (Hannover 1952; S.14) insgesamt nicht weniger als sechzig Zitatstellen im Werk<br />

von Marx und Engels nach, in denen es um Gerechtigkeit geht .<br />

598 Lukes, Steven; Marxism, Morality and Justice; in: Parkinson, George Henry Radcliffe (Ed.); Marx<br />

and Marxism; Cambridge 1982; p.197.<br />

599 Klaus/ Buhr 1987; 1,457.<br />

201


materieller Interessen der verschiedenen Gesellschaftsklassen gewürdigt haben." 600 <strong>Die</strong>se<br />

Doppelstrategie, einerseits das gesellschaftlich präsente Unrechtsempfinden gegenüber der<br />

Obrigkeit einzubinden in eine umfassende emanzipatorische Bewegung mit dem Ziel, "alle<br />

Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein<br />

verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" 601 , und andererseits deutlich zu machen, daß der<br />

revolutionäre Impuls des Protestes gegen Unrecht nicht in eine Überhöhung der<br />

Gerechtigkeitsidee als positiv gewandelter Kampfbegriff münden darf, sondern nur als Begriff<br />

der immanenten Kritik gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft emanzipatorisch wirksam wird,<br />

steht im Mittelpunkt aller Ausführungen von Marx und Engels, die sich mehrschichtig<br />

präsentieren:<br />

a) Kritik an konkreten Rechtsnormen<br />

b) Kritik des Begriffes "Menschenrechte"<br />

c) Kritik der mangelnden dialektischen "Natur" des Rechtes<br />

d) Kritik einer entfremdeten "Gerechtigkeit"<br />

e) Kritik eines rein ökonomisch strukturierten Gleichheitspostulates<br />

f) Kritik des Rechtes an sich und Hervorhebung seiner Historizität<br />

g) Kritik des Formalismus von Gerechtigkeits- und Gleichheitsidealen<br />

a) Marx selbst hob immer wieder hervor, daß sich seine erste Kritik der bürgerlichen<br />

Rechtsphilosophie vor dem Hintergrund der Diskussionen mit seinem als Anwalt tätigen Vater<br />

formiert hatten 602 und daß es erst im Zuge einer intensiveren Beschäftigung mit dieser Materie<br />

zu einer Ausdehnung über die Sphäre der Kritik an einzelnen, konkreten Verstößen gegen den<br />

Gleichheitsgrundsatz des bürgerlichen Rechtes gekommen war. 603<br />

b) Es verwundert nicht, daß Marx dem Hauptinhalt der bürgerlichen <strong>Revolution</strong>, den erklärten<br />

und erstmals festgeschriebenen Menschenrechten, seine besondere Aufmerksamkeit zuwandte<br />

und sie einer umfassenden, kritischen Analyse unterzog: "Betrachten wir einen Augenblick die<br />

sogenannten Menschenrechte, und zwar die Menschenrechte unter ihrer authentischen Gestalt,<br />

unter der Gestalt, welche sie bei ihren Entdeckern, den Nordamerikanern und Franzosen,<br />

besitzen! Zum Teil sind diese Menschenrechte politische Rechte, Rechte, die nur in der<br />

Gemeinschaft mit andern ausgeübt werden. <strong>Die</strong> Teilnahme am Gemeinwesen, und zwar am<br />

politischen Gemeinwesen, am Staatswesen, bildet ihren Inhalt. Sie fallen unter die Kategorie<br />

der politischen Freiheit, unter die Kategorie der Staatsbürgerrechte." 604 Faktenreich weist<br />

600 Klenner 1994,19. Vgl. auch: ders.; Marxismus und Menschenrechte - Studien zur<br />

Rechtsphilosophie; Berlin/DDR 1982; S.147-158; Peschka, Vilmos; Grundprobleme der modernen<br />

Rechtsphilosophie; Budapest 1974; S.129-160; Baratta, Alessandro; Philosophie und Strafrecht;<br />

Köln 1985; S.197-211.<br />

601 MEW 1,385.<br />

602 Vgl.: Monz, Heinz; Der Waldprozeß der Mark Thalfang als Grundlage für Karl Marx' Kritik an den<br />

Debatten um das Holzdiebstahlsgesetz; in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte<br />

Nr.11/1985; S.415-420; Schaefer, Alfred; Politik und Wahrheit - Gedanken des jungen Marx; in:<br />

Zeitschrift für philosophische Forschung 1970; S.554.<br />

603 So wandte sich Marx gegen den Versuch, das zum Gewohnheitsrecht gewordene Holzsammeln zu<br />

kriminalisieren (MEW 1,109-147), gegen "ungerechte Steuern" (MEW 4,195), gegen die Belastung<br />

ausländischen Getreides mit Schutzzöllen (MEW 4,444) und gegen die Legalität der Sklaverei<br />

(MEW 4,553; MEW 16,18) und der Kinderarbeit (MEW 4,481; MEW 23,311).<br />

604 MEW 1,362.<br />

202


Marx nach, daß "keines der sogenannten Menschenrechte über den egoistischen Menschen<br />

hinaus (geht), über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf<br />

sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen<br />

abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen<br />

aufgefaßt wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den<br />

Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das<br />

einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das<br />

Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person." 605 Im<br />

Mittelpunkt der bürgerlichen Gerechtigkeitsrealität stehen für Marx also gerade nicht die<br />

postulierten Menschenrechte und deren erklärte, gleichheitstiftende Mission, sondern die<br />

ökonomischen Interaktionen der Menschen, deren Kritik Marx so einen höheren Stellenwert<br />

zuschreibt.<br />

c) Im Unterschied zur Vermittlungsinstanz des Marktes postuliert der bürgerliche<br />

Gerechtigkeitsbegriff eine überzeitliche und objektive Bedeutung von Recht und Unrecht,<br />

selbst wenn sich diese Bewertung vor den Schranken des Gesetzes nur auf konkrete Fälle<br />

bezieht und beziehen kann. 606 Auch wenn die moderne Gerichtsbarkeit in stärkerem Maße als<br />

zu Marxens Zeit auf die Hintergründe einer Tat eingeht, werden die Motive zumeist im<br />

konkreten Umfeld des Täters und des Opfers gesucht und weniger in der gesamtgesellschaftlichen<br />

Realität des Spätkapitalismus, nicht zuletzt da eine tiefgreifende<br />

Durchdringung der Verstrickungen des Einzelnen in Schuld und Unschuld enthüllen würde, daß<br />

alle schuldig und zugleich unschuldig sind, daß also mit anderen Worten von der<br />

gesellschaftlichen Ebene aus der Mensch jenseits von Gut und Böse steht, da diese Kategorien<br />

nicht Realitäten sind, sondern Interpretationen bleiben.<br />

d) Da der Betrachung der marxschen Entfremdungskonzeption bereits ein eigenes Kapitel<br />

(3.1.2) gewidmet ist, kann sich hier die Darstellung auf die Hervorhebung des Umstandes<br />

beschränken, daß Gleichheit und Gerechtigkeit immer nur vor der Matrix der Entfremdung<br />

bewertet werden können und daß im Gegensatz zur schematischen Rezeption des Marxismus<br />

"die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats dieselbe menschliche<br />

Selbstentfremdung (darstellen). Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung<br />

wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein<br />

einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr<br />

ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz." 607 Trotz dieses<br />

Umstandes erhebt die Erkenntnis in die Bedingungen der Entfremdung das Subjekt nicht in die<br />

Lage, objektive Werturteile zu fällen und so unterliegt die "revolutionäre Gerichtsbarkeit" der<br />

gleichen Kritik wie jede Art von positivistischer Gerechtigkeitsrealität.<br />

605 MEW 1,366.<br />

606 "<strong>Die</strong> kleine, hölzerne, geistlose und selbstsüchtige Seele des Interesses sieht nur einen Punkt, den<br />

Punkt, wo sie verletzt wird, gleich dem rohen Menschen, der etwa einen Vorübergehenden für die<br />

infamste, verworfenste Kreatur unter der Sonne hält, weil diese Kreatur ihm auf seine Hühneraugen<br />

getreten hat. Er macht seine Hühneraugen zu den Augen, mit denen er sieht und urteilt; er macht<br />

den einen Punkt, in welchem ihn der Vorübergehende tangiert, zu dem einzigen Punkt, worin das<br />

Wesen dieses Menschen die Welt tangiert." (MEW 1,120/121)<br />

607 MEW 2,37.<br />

203


e) Vor dem Hintergrund der Diskussion der revolutionären Parteien um die Forderung nach<br />

einer "gerechten Verteilung des Reichtums" stellt Marx folgende Fragen: "Behaupten die<br />

Bourgeois nicht, daß die heutige Verteilung 'gerecht' ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige<br />

'gerechte' Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die<br />

ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt<br />

die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen?" 608 Während dem Marxismus mit seinem<br />

Dogma des Primates der Ökonomie die tiefere Einsicht in die Dialektik dieses Verhältnisses<br />

verstellt blieb, spiegelt ein Gleichheitspostultat, welches in der Sphäre des Ökonomischen<br />

verbleibt, in dieser oder jener Form die entfremdeten und verdinglichten Beziehungen der<br />

Menschen des Spätkapitalismus wider und damit die dort existenten Formen von Unfreiheit,<br />

Ungleichheit und gesellschaftlicher Kälte.<br />

f) Wie schon mehrfach angedeutet wendet sich Marx gegen die Postulierung eines<br />

überzeitlichen Gleichheits- und Gerechtigkeitsideales und ruft im "Kommunistischen Manifest"<br />

den Protagonisten der bürgerlichen Gesellschaftsformation zu: "Eure Ideen selbst sind<br />

Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der<br />

zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den<br />

materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse." 609 Vor diesem Hintergrund wenden sich Marx<br />

und Engels immer wieder pointiert gegen die Erhebung der Gerechtigkeitsforderung zu einer<br />

emanzipatorischen Potenz 610 und proklamieren, daß "diese Gerechtigkeit immer nur der<br />

ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehenden ökonomischen Verhältnisse (ist), bald<br />

nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin." 611 Letztlich zeigt sich, daß<br />

das Gerechtigkeitsideal, welches immer wieder durch die revolutionären Veränderungen im<br />

Europa des letzten Jahrhunderts populär gemacht wurde, Marx gerade wegen der<br />

angesprochenen Unbestimmtheit suspekt blieb, 612 solange es nicht als Ausdruck einer<br />

608 MEW 19,18. Vgl. auch: MEW 1,365 und MEW 19,20/21.<br />

609 MEW 4,477. Marx und Engels knüpfen damit explizit an eine Passage bei Thomas Morus an, der in<br />

seiner "Utopia" davon ausgeht, daß "wenn ich alle diese Staaten, die heute irgendwo in Blüte<br />

stehen, prüfend an meinem Geiste vorbeiziehen lasse, so finde ich - so wahr mir Gott helfe! - nichts<br />

anderes als eine Art von Verschwörung der Reichen, die im Namen und unter dem Rechtstitel des<br />

Staates für ihren eigenen Vorteil sorgen. Alle möglichen Schliche und Kniffe ersinnen und erdenken<br />

sie, um zunächst einmal das, was sie durch üble Machenschaften zusammengerafft haben, ohne<br />

Furcht vor Verlust zusammenzuhalten, dann aber alle Mühe und Arbeit der Armen so billig wie<br />

möglich zu erkaufen und ausnützen zu können. Sobald die Reichen erst einmal im Namen der<br />

Allgemeinheit, das heißt auch der Armen, den Beschluß gefaßt haben, diese Methoden<br />

anzuwenden, so erhalten sie auch schon Gesetzeskraft." (Morus, Thomas; Utopia; in: Heinisch,<br />

Klaus (Hrg.); Der utopische Staat - Morus: Utopia - Campanella: Sonnenstaat - Bacon: Neu-<br />

Atlantis; Reinbek 1991; S.108)<br />

610 Vgl. z.B.: MEW 3,46; MEW 4,473.<br />

611 MEW 18,277.<br />

612 "Es ist schon rätselhaft, daß ein Volk, welches eben beginnt, sich zu befreien, alle Barrieren<br />

zwischen den verschiedenen Volksgliedern niederzureißen, ein politisches Gemeinwesen zu<br />

gründen, daß ein solches Volk die Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom<br />

Gemeinwesen abgesonderten Menschen feierlich proklamiert ('Déclaration de 1791'), ja diese<br />

Proklamation in einem Augenblicke wiederholt, wo die heroischste Hingebung allein die Nation<br />

retten kann und daher gebieterisch verlangt wird, in einem Augenblicke, wo die Aufopferung aller<br />

Interessen der bürgerlichen Gesellschaft zur Tagesordnung erhoben und der Egoismus als ein<br />

Verbrechen bestraft werden muß." (MEW 1,366)<br />

204


estimmten historischen Situation verstanden wird, was nicht zuletzt daran deutlich wird, daß<br />

Marx und Engels Mitglieder des "Bundes der Gerechten" wurden, auch wenn sie sich von<br />

Anfang an für dessen Umbenennung in "Bund der Kommunisten" stark machten.<br />

g) In der "Kritik des Hegelschen Staatsrechts" von 1843 wendet sich Marx gegen die<br />

Tendenz, durch formalisierte Abstrahierung empirischen Phänomenen theoretische Weihen zu<br />

verleihen, wenn z.B. "in den modernen Staaten, wie in Hegels Rechtsphilosophie, die<br />

bewußte, die wahre Wirklichkeit der allgemeinen Angelegenheit nur formell (ist), oder<br />

nur das Formelle wirkliche allgemeine Angelegenheit (ist). Hegel ist nicht zu tadeln, weil er<br />

das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das was ist, für das<br />

Wesen des Staats ausgibt. Daß das Vernünftige wirklich ist, beweist sich eben im<br />

Widerspruch der unvernünftigen Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegenteil von dem<br />

ist, was sie aussagt, und das Gegenteil von dem aussagt, was sie ist." 613 Damit bleibt vom<br />

emphatischen Ideal der Gerechtigkeit in einer Klassengesellschaft nach der marxschen<br />

Dekonstruktion nicht mehr übrig als eine formalisierte Festschreibung des entfremdeten und in<br />

der Geschichte hegemonial gewordenen Bewußtseins des de facto, dem die Erhebung der<br />

Gerechtigkeit zur philosophischen Kategorie den fahlen Schein einer Legitimation geben<br />

soll. 614<br />

Im Anschluß an seine Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie spielte Marx eine Zeitlang mit<br />

der Vorstellung, eine universelle "Kritik des Rechts, der Moral, Politik etc." zu verfassen,<br />

jedoch blieb dieses Vorhaben Zeit seines Lebens - wie so viele andere Projekte -<br />

fragmentarisch. 615 Wenn marxistische Analysen dem Terminus der Gerechtigkeit im<br />

marxschen Werk den Status eines allgemeinen, menschlichen Wertes zusprechen, 616 dann<br />

verdecken sie durch den einseitigen Bezug auf das universelle Programm des Kommunismus<br />

die Problematik, die diesem Begriff im marxschen Werk anhaftet. Es gilt, in Umkehrung der<br />

marxistischen Darstellungsform nicht vom Ziel auszugehen, sondern das konkrete marxsche<br />

Verständnis der Gerechtigkeit aus dem Ergebnis seiner Kritik abzuleiten. 617 Auch wenn man<br />

vor dem Hintergrund der Probleme, die aus der Einleitung von 1859 resultieren, die dort<br />

vertretene Identifikation von Recht und ökonomischer Realität 618 übergeht, bleibt festzuhalten,<br />

daß für Marx "die Menschen ihre eigene Geschichte (machen), aber sie machen sie nicht aus<br />

freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen,<br />

gegebenen und überlieferten Zuständen. <strong>Die</strong> Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein<br />

Alp auf dem Gehirn der Lebenden." 619 Wie schon mehrfach entwickelt folgt daraus für das<br />

613 MEW 1,266.<br />

614 "Zum Schluß kommt der Philosoph und erklärt, diese Gesetze besäßen die allgemeine Zustimmung<br />

der Gesellschaft." (MEW 18,59)<br />

615 Vgl.: Baratta, Alessandro; Recht und Gerechtigkeit bei Marx; in: Büsser, Fritz (Hrg.); Karl Marx im<br />

Kreuzverhör der Wissenschaften; Zürich 1974; S.93; Wildt, Andreas; Gerechtigkeit in Marx'<br />

'Kapital'; in: Angehrn, Emil/ Lohmann, Georg; Ethik und Marx; Königstein/Taunus 1986; S.149-158.<br />

616 Szabó spricht von einer "soziologischen Rechtstheorie" bei Marx (Szabó, Imre; Karl Marx und das<br />

Recht; Berlin/DDR 1981; S.7).<br />

617 Vgl.: Monz, Heinz; Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der Hebräischen Bibel - Übereinstimmung,<br />

Fortführung und zeitgenössische Identifikation; Baden-Baden 1995; S.23-62, v.a.: 51-62.<br />

618 MEW 13,8/9.<br />

619 MEW 8,115.<br />

205


hier behandelte Problem weder, daß das Gerechtigkeitsideal einer vorgefundenen Gesellschaft<br />

in keinster Weise emanzipatorischen Charakter tragen kann, noch daß es den Menschen<br />

möglich ist, ein neues Gerechtigkeitssystem an die Stelle des alten zu setzen, sondern dem<br />

Streben nach Gerechtigkeit werden einerseits äußere Grenzen im Rahmen des dialektischen<br />

Prozesses der Geschichte und vor allem der Geschichte der Emanzipation zugeschrieben und<br />

andererseits wird jedes zukünftige Rechtssystem untrennbar mit diesem Prozeß verwoben. 620<br />

Als Ziel seiner Bemühungen fixiert Marx dabei die Vorstellung, daß "an die Stelle der alten<br />

bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation (tritt),<br />

worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." 621 Da<br />

aber "nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz<br />

gibt, die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören (werden), politische <strong>Revolution</strong>en zu sein",<br />

kommt dem Begriff der Gerechtigkeit in einer praktischen Philosophie in der Tradition von<br />

Karl Marx bis auf weiteres eine gewisse Bedeutung zu, auch wenn vor dem Hintergrund des<br />

oben gesagten sein ontologischer Status negiert werden muß. Das Streben nach Gerechtigkeit<br />

kann dabei als Verknüpfung von drei parallelen, aber gleichwohl miteinander verwobenen<br />

Bestrebungen gesehen werden: der Postulierung einer Gleichheit in Verschiedenheit, dem<br />

Streben nach Überwindung der Entfremdung, der Schaffung einer Welt, in der die<br />

Gerechtigkeitsfrage überflüssig wird. Da der erste Komplex später noch ausführlich behandelt<br />

werden wird (Kap. 3.2.5.) und über den zweiten Bereich bereits referiert wurde (Kap.3.1.2.)<br />

soll am Ende dieses Abschnittes Marx selbst das Recht zugesprochen werden, seine<br />

Konzeption einer Praxiswerdung von "universeller Gerechtigkeit" 622 vorzustellen: "In einer<br />

höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der<br />

Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher<br />

Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das<br />

erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch<br />

ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums<br />

voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden<br />

und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach<br />

620 "Bürgerliche Industrie und bürgerlicher Handel schaffen diese materiellen Bedingungen einer<br />

neuen Welt in der gleichen Weise, wie geologische <strong>Revolution</strong>en die Oberfläche der Erde<br />

geschaffen haben. Erst wenn eine große soziale <strong>Revolution</strong> die Ergebnisse der bürgerlichen<br />

Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen<br />

Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der<br />

menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den<br />

Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte." (MEW 9,226) Um Mißverständnissen<br />

vorzubeugen: der Begriff des "Forschrittes" bei Marx bezieht sich nicht ausschließlich auf<br />

ökonomische Entwicklungen und kann so nicht als Indiz einer "sozialimperialistischen" Sichtweise<br />

bei Marx herangezogen werden.<br />

621 MEW 4,482.<br />

622 Manche Autoren entwickeln aus den spärlichen Funden die gewagtesten Konstruktionen, auf die<br />

leider hier nicht eingegangen werden kann. Vgl. z.B.: Dahrendorf 1952,161; Reding, Marcel; Der<br />

politische Atheismus; Köln 1957; S.51; Kern, Walter; Atheismus - Marxismus - Christentum;<br />

München 1976; S.106; Röhr, Heinz; Pseudoreligiöse Motive in den Frühschriften von Karl Marx;<br />

Tübingen 1962; S.53.<br />

206


seinen Bedürfnissen!" 623 Erst wenn keiner mehr fragen wird, ob diese Form der Interaktion<br />

gerecht sei oder nicht, ist der Mensch wahrhaft jenseits von Gut und Böse, oder mit anderen<br />

Worten: Der Kommunismus löst die Gerechtigkeitsproblematik, ohne sie zu stellen!<br />

3.2.2. Gleichheit und Natur<br />

Wenn im letzten Kapitel der Kritik des Legitimationsmythos der ökonomischen Ungleichheit<br />

und der juristischen Gleichheit des de facto der philosophische Schleier entrissen wurde, so<br />

stellt sich zu Beginn eines Kapitels, das sich mit dem Verhältnis von Natur und Gleichheit<br />

beschäftigt, die Frage, welche Bedeutung daraus zur Lösung der Gleichheitsproblematik<br />

erwächst, denn sowohl eine naturalistische Gleichheit als auch eine in der Natur herrschende<br />

Ungleichheit kann in der Welt des de facto zu gesellschaftlicher Gleichheit bzw. Ungleichheit<br />

führen. Es geht also in diesem Kapitel - um es vorweg zu sagen - nicht um die Frage einer<br />

naturalistischen Legitimierung einer möglichen gesellschaftlichen Option der emanzipatorischen<br />

Bewegung, sondern lediglich um den historischen Ausgangspunkt einer auch weiterhin nebulös<br />

bleibenden Forderung.<br />

Schon die Sophisten suchten im Rekurs auf die mythologisch verschleierte Genese des<br />

Menschen nach Informationen über die "natürlichen" Interaktionsformen der Menschen, die<br />

ihnen aber, wie später der Aufklärungsphilosophie, widersprüchlich entgegentreten, und so<br />

verwundert es nicht, daß Hippias 624 und Antiphon 625 mit derselben Inbrunst glaubten, die<br />

Gleichheit aller im Mythos zu erkennen wie Trasymachos 626 und Kallikles 627 als Sprachrohr<br />

des Gorgias die "Natürlichkeit" von Starken und Schwachen. Vor diesem Hintergrund stellt<br />

623 MEW 19,21.<br />

624 "Ich glaube, daß wir alle - nicht dem Herkommen nach, sondern von Natur - miteinander verwandt<br />

und Stammesgenossen und Mitbürger sind. Denn das Gleiche ist mit dem Gleichen von Natur<br />

verwandt; das Herkommen dagegen, dieser Tyrann des Menschen, erzwingt vieles wider die<br />

Natur." (Hippias; in: Capelle 1961,370; bzw. Platon 1993; Protagoras (337 St); 1.1,81)<br />

625 "Von Natur sind alle in jeder Hinsicht gleich, ob Barbaren oder Hellenen. Das kann man aus dem<br />

erkennen, was von Natur für alle Menschen notwendig ist. Alle haben die Möglichkiet, es sich auf<br />

demselben Wege zu verschaffen, und in all diesem ist weder ein Barbar von uns verschieden noch<br />

ein Hellene. Denn wir atmen alle durch Mund und Nase in die Luft aus, und wir essen alle mit den<br />

Händen." (Antiphon; in: Capelle 1961,377)<br />

626 Vgl. Thrasymachos; in: Capelle 1961,357-359; und: Platon 1993; Der Staat (337-356 St); 5,17-46.<br />

627 "<strong>Die</strong> Natur selbst aber, denke ich, gibt deutlich zu erkennen, daß es gerecht is t, wenn der Bessere<br />

gegen den Schlechteren und der Fähigere gegen den Unfähigeren im Vorteil ist. Daß dem so ist,<br />

zeigt sich in mannigfacher Weise nicht nur bei den übrigen Geschöpfen, sondern auch bei den<br />

Menschen in den Verhältnissen ganzer Staaten und Geschlechter: es gilt nämlich da als<br />

ausgemachtes Recht, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und gegen ihn im Vorteil sei.<br />

Auf Grund welches Rechtes wäre denn sonst Xerxes gegen Hellas zu Felde gezogen, oder sein<br />

Vater gegen die Scythen? Und tausend andere Beispiele der Art könnte man anführen. Kein<br />

Zweifel: diese Leute handeln nach der Natur und, beim Zeus, nach dem Gesetz der Natur, aber<br />

freilich nicht nach jenem von uns willkürlich aufgestellten Gesetz, auf Grund dessen wir auf die<br />

Besten und Kraftvollsten unter uns gleich von Jugend auf die Hand legen und sie wie Löwen zu<br />

zähmen und zu sänftigen suchen, um sie unterwürfig zu machen, unter dem Vorgeben, es müßte<br />

Gleichheit herrschen und diese sei das Schöne und Gerechte. Aber laßt nur den rechten Mann<br />

erstehen, eine wirkliche Kraftnatur; der schüttelt all das ab, zerreißt die Fesseln und macht sich frei,<br />

tritt all unsere Paragraphen, unsere Zähmungs- und Besänftigungsmittel und den ganzen Schwall<br />

widernatürlicher Gesetze mit Füßen und steigt so vom Sklaven empor zum glänzenden Herrn über<br />

uns: da leuchtet denn das Recht der Natur aufs hellste hervor." (Platon 1993; Gorgias (383/384 St);<br />

1.4,91)<br />

207


sich die Frage, ob der Rekurs auf biologische Gegebenheiten überhaupt als gültiges Kriterium<br />

für Gleichheit und Ungleichheit herangezogen werden kann oder ob nicht der unbestimmte<br />

Begriff der "Natur des Menschen, unter der Hand eines jeden naturrechtlichen Denkers die<br />

Gestalt (annimmt), die er sich wünscht" 628 ? Während in Kapitel 3.1.1. "Natur und Mensch -<br />

Genese eines Wesens" noch relativ unkritisch an das Projekt einer anthropologischen<br />

Ursachenforschung über das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft herangegangen wurde,<br />

kann dieser unkritische Schein nicht länger aufrecht erhalten werden, wenn dort am Beispiel<br />

von Kant und Feuerbach gezeigt wurde, wie sie die Suche nach der Genese des Menschen zur<br />

Begründungsinstanz ihres Menschenbildes umformulierten und hier herausgearbeitet wurde,<br />

daß dies bei Denkern, die auf die Verbindung von Gleichheit und Genese abheben, nicht<br />

anders ist. Trotz dieser kritischen Sichtweise im Hinblick auf anthropologische<br />

Untermauerungen von Gleichheits- oder Ungleichheitstheorien soll nicht verschwiegen werden,<br />

in welcher Form die Aufklärung diesen Topos rezipierte. Vor dem Hintergrund des Gesagten<br />

überrascht es wenig, daß Protagonisten eines starken Staates - wie etwa Thomas Hobbes -<br />

diesen Herrschaftsapparat dadurch zu legitimieren versuchen, daß sie in der Natur des<br />

Menschen ungleiche Kräfte wirken sehen, die Hobbes treffend mit den Termini "bellum<br />

omnium contra omnes" und "homo homini lupus" herausarbeitet. 629 <strong>Die</strong>se Sichtweise des<br />

menschlichen Naturzustandes enthält wie bei Machiavelli den Glauben an eine in der Natur<br />

begründete, menschliche Ungleichheit, denn wenn es keinerlei Unterschiede zwischen den<br />

Kombattanten gäbe, hätte sich in frühgeschichtlicher Zeit keine Form der Herrschaft<br />

herausbilden können, und erst durch die Einsicht in die historische Mission des<br />

Gesellschaftsvertrages und die friedenstiftende Potenz des "sterblichen Gottes" - sprich des<br />

absoluten Staates - hätte der Leviathan besiegt werden können. Hobbes instrumentalisiert also<br />

den Rekurs auf eine hypothetische menschliche Ungleichheit, um sein Konzept eines Gleichheit<br />

schaffenden und Frieden stiftenden Staates zu legitimieren. Rousseau teilt vor dem Hintergrund<br />

seiner konkreten Erfahrungen mit Staat und Obrigkeit hundert Jahre später diesen etatistischen<br />

Glauben nicht und postuliert im Gegenzug für das konkrete Modell der Verfassung in Korsika,<br />

daß "wenn ein Starker und ein Schwacher einen Vertrag schließen, der Schwache selten an<br />

Gleichheit gewinnt, der Starke jedoch zumeist." 630 Aus dieser analytischen Durchdringung der<br />

Oberflächenphänomene seiner Zeit formiert sich die Einsicht, daß sein Konzept eines<br />

Gesellschaftsvertrages der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gleicher, freier und<br />

brüderlicher Vertragspartner bedarf. Eine Einsicht, die noch heute die formalistische<br />

Gerechtigkeitstheorie als den Stein der Weisen feiert - und doch bleibt dort wie bei Rousseau<br />

die Frage offen, wo in der konkreten Gesellschaft dieses Wesen gefunden werden kann.<br />

628 Welzel, Hans; Naturrecht und materiale Gerechtigkeit; Göttingen 1962; S.16/17. Weiter heißt es dort:<br />

"<strong>Die</strong> 'Natur' des Menschen ist ein so offener und gestaltbarer Begriff, daß schlechterdings alles in<br />

ihn hineingelegt und als Begründung wieder aus ihm herausgeholt werden kann. In der Frühzeit des<br />

Naturrechts zeigt sich das beispielhaft daran, daß die Gleichheit aller Menschen mit derselben<br />

methodischen Schlußweise wie ihr Gegenteil aus der Natur des Menschen abgeleitet werden<br />

konnte." Vgl. auch: Lippe, Rudolf zur; Autonomie als Selbstzerstörung - Zur bürgerlichen<br />

Subjektivität; Frankfurt/Main 1975.<br />

629 Hobbes, Thomas; Leviathan; Reinbek 1965; S.83.<br />

630 Rousseau, Jean-Jacques; Zur Verfassungsfrage auf Korsika; in: ders.; Sozialphilosophische und<br />

politische Schriften; München 1981; S.510-550.<br />

208


Während spätere Philosophen in der Tradition von Kant, Hegel und Feuerbach diese<br />

Dichotomie mit der Konstruktion des Menschen an sich, welches über die geforderten<br />

Qualitäten verfügt, und eines entfremdeten Wesens, das dem empirisch-nachweisbaren und<br />

kaum idealisierbaren Phänomen entsprach, zu Leibe rückten, begnügte sich Rousseau mit der<br />

These, daß "der Menschen frei geboren (wird)" 631 und in dieser Freiheit gleich ist und doch in<br />

der konkreten Welt nicht gleich bleibt, da es dort nicht vernünftig zugeht. Ausgehend von<br />

dieser These bedürfen die stumpfen Gesellen des de facto nur noch ihrer Freiheit und der<br />

Brüderlichkeit, die die Philosophie der Aufklärung in ihren Herzen entfacht, bewußt zu werden,<br />

um der natürlichen Gleichheit, als Vorraussetzung für einen wahrhaften, glückstiftenden<br />

Gesellschaftsvertrag, zum Durchbruch zu verhelfen.<br />

Marx wendete sich gegen dieses Verfahren, denn "der Mensch, das ist kein abstraktes, außer<br />

der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt der Menschen, Staat,<br />

Sozietät." 632 Im Gegenzug zu der idealistischen Anthropologie postuliert er, daß "die<br />

empirische Beobachtung in jedem Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und<br />

politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation aufweisen<br />

(muß)." 633 Daß sich hinter dieser Auffassung ein partiell unkritischer Naturalismus und<br />

Positivismus verbirgt, kann kaum übersehen werden, wenn Marx festhält, daß "die in der<br />

menschlichen Geschichte - dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft - werdende<br />

Natur die wirkliche Natur des Menschen (ist), darum die Natur, wie sie durch die Industrie,<br />

wenn auch in entfremdeter Gestalt, wird, die wahre anthropologische Natur ist." 634 Vor<br />

dem Hintergrund einer umfangreichen Analyse der marxschen, ethnologischen Exzerpthefte<br />

über Morgan und Darwin kommt Krader zu der These, daß Marx in der Anthropologie und<br />

speziell in dem Werk Darwins einen Rückhalt für seine antiteleologische Perspektive der<br />

menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten fand, daß sie jedoch "zur Trennung der Wissenschaft<br />

des Menschen von der Wissenschaft der Natur sowohl aufgrund des Standes beider<br />

Wissenschaften wie aufgrund der Trennung des Menschen in seiner Aktualität von der Natur<br />

(führte)." 635 Krader kann somit als Zeuge und Bundesgenosse für die in 3.1.1. aufgestellten<br />

Thesen herangezogen werden, und doch fragt sich, welcher Stellenwert aus dieser Ablehnung<br />

einer aprioristischen Ontologie für die Betrachtung des Verhältnisses von Gleichheit und Natur<br />

erwächst, denn der bloße Augenschein offenbart, daß jeder Mensch ein Unikat ist und auch<br />

selbst dann bleibt, wenn er den gleichheitstiftenden Tendenzen nach Gleichheit strebender<br />

Gesellschaften ausgesetzt wird.<br />

Auch hier bietet sich eine differenzierte Betrachtung an, denn während es offensichtlich ist, daß<br />

aus den biologischen Gegebenheiten keine relevanten und hinreichenden Kriterien a priori<br />

entspringen, wäre es ebenfalls falsch, wenn man behaupten würde, daß sie überhaupt keinerlei<br />

Vergleichskriterien bieten. Wenn oben am Beispiel der Sophisten und der Aufklärer gezeigt<br />

wurde, daß der Rekurs auf die menschliche Natur einer Beliebigkeit der Interpretationen das<br />

631 Rousseau 1984,38.<br />

632 MEW 1,378.<br />

633 MEW 3,25.<br />

634 MEW 40,543.<br />

635 Krader, Lawrence; Ethnologie und Anthropolgie bei Marx; München 1976; S.116.<br />

209


Wort redet, dann wurde angesichts der beiden Auslegungsvarianten - rationalistisch versus<br />

irrationalistisch - übersehen, daß die Argumentationsbasis all dieser Modelle ein einheitliches<br />

Bild der "Natur des Menschen" ist, nämlich jene primär irrational-triebhafte Welt, die zwischen<br />

dem Tier und dem modernen Menschen angesiedelt zu sein scheint. Ausgehend von dieser<br />

Sichtweise kann dann gefolgert werden, daß auch die scheinbar diametralen Positionen der<br />

Sophisten nicht diametrale Konzepte sind, sondern den beiden Standpunkten entsprechen, die<br />

schon in der Betrachtung der Natur in bezug auf die menschliche Freiheit eine Rolle spielten.<br />

Während Protagonisten der Gleichheit ausgehend von der Ebene der Gattung folgerichtig die<br />

allgemeinen Gattungsmerkmale im Unterschied zu anderen Spezies in den Mittelpunkt ihrer<br />

Untersuchungen stellen, aus der die Gleichheit der Gattung zwingend folgt, beginnen die<br />

Befürworter einer gesellschaftlichen Ungleichheit ihre Analyse der menschlichen Natur von der<br />

Ebene des Individuums und kommen dann ebenfalls folgerichtig zu der Erkenntnis, daß die<br />

Menschen ungleich sind. Beide Urteile können somit als in sich schlüssige Aussagen über den<br />

Gleichheitscharakter der Natur des Menschen verstanden werden und werden erst dann<br />

fragwürdig bis falsch, wenn sie als Aussagen mit Absolutheitsanspruch figurieren - eine<br />

Einsicht, die nicht erst Marx hatte, sondern schon bei Platon finden sich erste Ansätze einer<br />

Verbindung dieser beiden Sichtweisen.<br />

Indem Protagoras versucht, Sokrates "in einleuchtender Weise nach(zu)weisen, daß die<br />

Tugend lehrbar ist" 636 , legt er unabhängig von der Etablierung einer Gerechtigkeitslehre eine<br />

erste Verbindung der beiden Sichtweisen zur Gleichheit der menschlichen Natur vor:<br />

Epimetheus, der den Auftrag erhalten hatte, einer jeden Spezies die nötigen Kräfte zum<br />

Überleben zu geben, "bemerkte nicht, daß er seinen Vorrat an schutzkräftigen Gaben schon<br />

völlig aufgebraucht hatte, ehe noch das Menschengeschlecht ausgestattet war, das nun allein<br />

noch übrig war; so war er denn ratlos, was er mit ihm anfangen sollte. (...) Alle anderen<br />

Geschöpfe nun findet er wohl versehen mit allem Nötigen, den Menschen aber nackend, ohne<br />

Schutz für die Füße, ohne Decke und Wehr." 637 Prometheus beschenkt nun diese Gattung, die<br />

sich im Unterschied zu den anderen Spezies als Gleiche konstituiert, mit dem Feuer und der<br />

individuellen Weisheit, die daraus resultiert. "<strong>Die</strong> Menschen wohnten anfangs noch zerstreut,<br />

und Städte gab es nicht. Sie wurden daher eine Beute der wilden Tiere, weil sie ihnen<br />

durchweg an Kraft unterlegen waren; denn ihre kunstmäßige Geschicklichkeit bot ihnen zwar<br />

für den Lebensunterhalt hinreichende Sicherung, für den Kampf aber gegen die wilden Tiere<br />

war sie unzureichend. Denn noch fehlte ihnen die staatsbürgerliche Kunst, von der die<br />

Kriegskunst einen Teil ausmacht. So waren sie denn von dem Wunsch beseelt, sich<br />

zusammenzutun und zu sichern durch Gründung von Städten. Jedesmal aber, wenn sie sich<br />

zusammentaten, kam es zu Vergehungen und Beleidigungen gegeneinander, denn noch waren<br />

sie nicht im Besitz der staatsbürgerlichen Kunst; sie zerstreuten sich also bald wieder und fielen<br />

so dem Verderben anheim." 638 Aus ihrer Gleichheit als Elemente einer Spezies resultiert also<br />

nach Platon das individuelle Gefühl der Ungleichheit, das oben beschrieben wurde, und auch<br />

ein Blick in die wissenschaftlichen Anthropologien der Moderne legt den Schluß nahe, daß der<br />

636 Platon 1993; Protagoras (320 St); 1.1,54.<br />

637 Platon 1993; Protagoras (321 St); 1.1,56.<br />

638 Platon 1993; Protagoras (322 St); 1.1,57.<br />

210


Mensch als einzelner im Kampf ums Überleben in der Natur und in Gegnerschaft zur Natur<br />

nicht die besten Karten hat. Erst als Zeus Hermes beauftragt, Künste, Recht und Scham unter<br />

den Menschen zu verteilen, um ihnen so mit der Etablierung des Staates die Existenz zu<br />

sichern, wendet sich das Blatt. Dabei erfolgte die Verteilung nach Platon folgendermaßen: "Ein<br />

Einzelner, der im Besitz der ärztlichen Kunst ist, reicht aus für viele Laien, und so steht es auch<br />

mit den anderen Werkmeistern. Soll ich es nun mit der Gründung von Recht und Scham unter<br />

den Menschen ebenso halten, oder soll ich sie an alle austeilen? An alle, erwiderte Zeus, und<br />

jeder soll daran teil haben. Denn nie wird es zum Bestehen von Staaten kommen, wenn nur<br />

wenige jener Güter teilhaftig sind wie bei den anderen Künsten." 639 Zeus ist demnach der<br />

Verursacher jenes Gegensatzes zwischen Gleichheitsbefürwortern und Gleichheitsgegnern,<br />

indem er in der menschlichen Natur beide Elemente verankert hat. Wenn man nun noch die<br />

konkrete Ausfüllung des gleichheitstiftenden Momentes durch die zugrundeliegende Ethik vor<br />

dem Hintergrund der Erkenntnisse des letzten Kapitels in Frage stellt und durch den<br />

allgemeineren Bezug auf einen anthropozentrischen Gattungsbegriff ersetzt, offenbart der<br />

platonsche Ansatz eine erste Annäherung an das Problem der Gleichheit von Natur, das sich<br />

hier als Gleichheit der Ungleichen bzw. als Ungleichheit der Gleichen trotz seiner mythischen<br />

Fassung dem Betrachter enthüllt.<br />

Während die Sophisten in Platons Darstellung die Gleichheit der Bürger der Polis-Gesellschaft<br />

aus einer partiellen Gleichheit der zugleich auch partiell ungleichen Individuen ableiten und als<br />

Repräsentanten eines Ansatzes zu sehen sind, die Gleiches zwar gleich, Ungleiches jedoch<br />

ungleich behandeln, erweitern Platons Sokrates und Aristoteles diese mystifizierte und<br />

nebulöse Sichtweise. Da für beide weniger der Rekurs auf naturwüchsige Formen der<br />

menschlichen Gleichheitsrelation als Begründungsinstanz der konkreten praktischen<br />

Philosophie anzusehen ist als vielmehr die Orientierung auf die Leitidee der praktischen<br />

Vernunft, fällt ihre Naturanalyse in Bezug auf das Problem von Gleichheit und Ungleichheit<br />

verhältnismäßig oberflächlich aus. <strong>Die</strong> Gattungsnatur des Menschen wird deskriptiv als<br />

synthetische Natur 640 verstanden, insofern sie an allen Seinsstufen (anorganisch, vegetativ,<br />

animalisch-irrational, rational) teilhat, und funktional-teleologisch als spezifische Natur 641 ,<br />

insofern die Vernunftfähigkeit den spezifischen Unterschied des Menschen gegenüber anderen<br />

Lebensformen bezeichnet und insofern identitätsstiftend wirkt. <strong>Die</strong> spezifische Fähigkeit,<br />

Qualität oder Eignung eines Seins enthält neben dessen naturgemäßen Funktionen und<br />

Tätigkeiten zugleich dessen Zweckbestimmung oder zumindest das Ziel, zu dessen Erfüllung<br />

und Aktualisierung es bestimmt ist. <strong>Die</strong> menschliche Natur beschränkt sich für Platon und<br />

Aristoteles nicht darauf, entweder irrational oder rational zu sein, sondern umfaßt beide<br />

Elemente der psychischen und physischen Anlangen, auch wenn zum Erreichen des<br />

"naturgemäßen" Zieles des Menschen (telos) der rationale Teil dominant werden muß. Da die<br />

Fähigkeit zur Vernunft im Sinne einer potentiellen Fähigkeit den Stellenwert eines<br />

gleichheitstiftenden Gattungskriteriums erreicht, stellte sich schon in der Antike die Frage nach<br />

der fehlenden gesellschaftlichen Gleichheit der Bürger. Mit einem Rekurs auf die individuelle<br />

639 Platon 1993; Protagoras (322 St); 1.1,57/58.<br />

640 Vgl.: Aristoteles; De anima; in: Aristoteles 1958ff.<br />

641 Vgl. Aristoteles 1958ff.; Nikomachische Ethik 1094 a-1103 a.<br />

211


Ungleichheit der Menschen versuchen Aristoteles und Platon diese reale Ungleichheit zu<br />

rechtfertigen, denn obzwar alle Menschen über die gleichen Vorraussetzungen hinsichtlich einer<br />

abstrakten Vernunft verfügen, prägt sich diese im konkreten Fall unterschiedlich aus und so<br />

erlangt der eine aus der gütigen Hand der Götter eine "medizinische Natur", ein anderer eine<br />

"philosophische Natur" und ein dritter wird "Sklave von Natur". Während man die Besitzer der<br />

natürlichen philosophischen Veranlagung, die Platon mit der Führung des Gemeinwesens<br />

betrauen möchte, daran erkennt, "daß sie stets mit ganzem Herzen an einer geistigen Tätigkeit<br />

hängen, die ihnen etwas von jenem Sein offenbart, das immerdar ist und unberührt bleibt von<br />

jedem Wandel durch Entstehen oder Vergehen" 642 , ist der "Sklave von Natur" bei Aristoteles<br />

"der Vernunft nur insoweit teilhaftig, (als) er sie in anderen vernimmt, sie aber nicht selbst<br />

hat." 643 "Eliminative Materialisten" wie Richard Rorty 644 versuchen heute, mit einem Rekurs<br />

auf die genetischen Anlangen des Individuums zu belegen, daß die Mythen, die Platon vor über<br />

zweitausend Jahren erzählte, die offenbarte Wahrheit der Natur sind. "Ihr seid nämlich - so<br />

werden wir als Märchenerzähler zu ihnen sagen - nun zwar alle, ihr Bürger unserer Stadt,<br />

Brüder untereinander, aber der Gott, der euch bildete, hat denen unter euch, die zum<br />

Herrschen berufen sind, bei ihrer Geburt Gold beigemischt, daher sind sie die gediegensten;<br />

den Beihelfern aber Silber, und den Ackerbauern und sonstigen Handarbeitern Eisen und Erz.<br />

Da ihr nun alle eines Stammes seid, so kann es, wenn auch in der Regel eure Nachkommen<br />

euch selbst gleichen werden, doch vorkommen, daß aus Gold ein silberner Nachkomme und<br />

aus Silber ein goldener Nachkomme erstehe, und so auch die übrigen Fälle von<br />

Gegenseitigkeit sich finden." 645 Bis zu diesem Punkt könnte man noch glauben, daß diese frühe<br />

Fassung des american dream auf einer gewissen Gleichheit in dem Sinne beruht, daß jeder<br />

entsprechend seiner zufälligen individuellen Anlangen seinen Platz in der Gesellschaft suchen<br />

und finden soll. Wenn Platon jedoch fortfährt und erklärt, daß "den Regierenden nun die<br />

Gottheit (gebietet) zuerst und vor allem, sich für nichts als schärfere Wächter zu bewähren und<br />

auf nichts so eifrig zu achten wie darauf, was von diesen Stoffen den Seelen ihrer<br />

Nachkommen beigemischt ist; und wenn irgendeiner ihrer Nachkommen eine Beimischung von<br />

Erz oder Eisen hat, so dürfen sie nicht das geringste Mitleid zeigen, sondern müssen ihn dem<br />

seiner Natur entsprechenden Stand zuweisen und ihn in die Klasse der Handwerker oder der<br />

642 Platon 1993; Der Staat (485 St); 5,226/227.<br />

643 Aristoteles 1981; Politik 1254 b 20-23. In Bezug auf diesen Topos entwickelte sich in der Literatur<br />

ein recht amüsanter Streit, denn während del Vecchio völlig zu Recht resümiert, daß Aristoteles "die<br />

Sklaverei rechtfertigt" (Veccio, Giorgio del; <strong>Die</strong> Gerechtigkeit; Basel 1950; ders.; Gleichheit und<br />

Ungleichheit im Verhältnis zur Gerechtigkeit; in: Bracher, Karl-<strong>Die</strong>trich (Hrg.); <strong>Die</strong> moderne<br />

Demokratie und ihr Recht - Modern Constitutionalism and Democracy; Tübingen 1966; Bd.1 S.609),<br />

erklärt Dagmar Herwig kategorisch, "daß Aristoteles die Sklaverei rechtfertigt - es kann nur die<br />

gesetzmäßige Sklaverei gemeint sein, da die Sklaverei von Natur keiner Rechtfertigung bedarf - ist<br />

nicht der Fall." (Herwig, Dagmar; Gleichbehandlung und Egalisierung als konkurrierende Modelle<br />

von Gerechtigkeit; München 1984; S.113)<br />

644 Vgl. Kap.2.4. dieser Studie.<br />

645 Platon 1993; Der Staat (415 St); 5,129/130.<br />

212


Ackerbauern verweisen" 646 , dann wird offensichtlich, daß es sich hierbei um eine mythischnaturalistische<br />

Verschleierung einer Apologie der Klassengesellschaft der Polis handelt.<br />

Vor diesem Hintergrund scheint nicht nur die menschliche Anamnese Rückschlüsse auf die<br />

Positionierung der Idee der Gleichheit in der Totalität der Naturbeziehungen zuzulassen,<br />

sondern in weit stärkerem Maße ist zu klären, inwieweit das Individuum im Spannungsfeld<br />

'Identität der Gattung' und 'Unterschied der Teile des Ganzen' geprägt wird im Hinblick auf<br />

seine Interaktionen mit der Ganzheit seiner Gattung bzw. deren Untergruppen. Platon trennt<br />

zwischen "zwei Arten von Gleichheit, die zwar den gleichen Namen führen, tatsächlich aber in<br />

vielen Beziehungen sich nahezu entgegengesetzt sind; die eine von ihnen, nämlich die Gleichheit<br />

nach Maß, Gewicht und Zahl" 647 , soll im weiteren näher beleuchtet werden, bevor auf die<br />

"allein wahrhafte und beste Gleichheit" 648 eingegangen wird, denn diese "ist nicht so leicht für<br />

jedermann zu erkennen" 649 , vor allem, wenn man keine goldenen Gene hat, wie dies der Autor<br />

selbstkritisch für sich resümieren muß.<br />

Aristoteles hebt in seiner Metaphysik hervor, a) daß "man etwas einmal in akzidentellem Sinne<br />

als Identische bezeichnet. (...) Was nämlich einem Dinge allgemein zukommt, das kommt ihm<br />

an sich zu, die Akzidenzien aber kommen ihm nicht an sich zu, sondern werden nur von den<br />

Einzeldingen schlechthin ausgesagt. (...b) Offenbar ist also die Selbigkeit eine Einheit des<br />

Seins, entweder unter mehreren oder bei einem, wenn man es als die Mehrheit ansieht. (...c)<br />

Als Anderes bezeichnet man die Dinge, bei denen die Formen oder der Stoff oder der Begriff<br />

des Wesens eine Mehrheit bilden, und überhaupt gebraucht man Anderes im<br />

entgegengesetzten Sinne als Dasselbe. d) Verschieden nennt man alles, was ein anderes ist,<br />

während es in einer Beziehung dasselbe ist, nur nicht der Zahl nach, sondern der Art oder der<br />

Gattung oder der Analogie nach. Ferner das, dessen Gattung ein anderes ist, und das<br />

Konträre und alles, dessen Anderes-sein in dem Wesen liegt. e) Ähnlich heißen die Dinge,<br />

welche in jeder Beziehung als selbige (identische) bestimmt sind, und die, deren Qualität eine<br />

ist; auch das nennt man einem anderen ähnlich, was mit ihm die meisten oder die<br />

bedeutendsten von den Gegensätzen gemein hat, nach denen es sich verändern kann." 650<br />

Hinter dieser etwas verwirrenden Definition verbergen sich vier Abstraktionsebenen, denn<br />

Identität und Unterschied figurieren als 1) epistemologische Prinzipien, 2) als<br />

Kategorien des Seienden, 3) als methodologische Instrumentarien und 4) als<br />

Gegenstände methodologischer Untersuchungen. <strong>Die</strong>se vier Ebenen sollen im weiteren<br />

untersucht werden, ohne zu vergessen, daß es in diesem Kapitel nicht um die Begriffe an sich,<br />

sondern um ihre Relation zu den als natürlich verstandenen Erscheinungen der Dingwelt geht.<br />

1) <strong>Die</strong> moderne Kognitionswissenschaft verifiziert und rehabilitiert zur Zeit vor dem<br />

Hintergrund der Hirnforschung die alte These, daß biologisch und sozial erworbene<br />

Denkprinzipien sich über die Reflexion der scheinbaren Wirklichkeit normieren und sich so die<br />

646 Platon 1993; Der Staat (415 St); 5,130. Vgl. zum sozio-ökonomischen Hintergrund: Koppe, Renate;<br />

Ökonomie und Politik in antiken Gesellschaften - Studien zu Sozialstruktur und Basis -Überbau-<br />

Beziehungen in der Polisgesellschaft; Bonn 1991.<br />

647 Platon 1993; Gesetze (757 St); 7,182/183.<br />

648 Platon 1993; Gesetze (757 St); 7,183.<br />

649 Platon 1993; Gesetze (757 St); 7,183.<br />

650 Aristoteles 1989ff.; Metaphysik 1017 b-1018 a.<br />

213


Objekte der Reflexion mittels Identifizierung und Unterscheidung als gesellschaftlich einheitliche<br />

Dinge konstituieren. 651 Der Prozeß der Identifizierung und Unterscheidung kann somit als<br />

Methode einer Informationsverarbeitung und Logik einfachster Ordnung verstanden werden<br />

oder wie Patent es formuliert: "In allen 'Welten', in denen Regelsysteme existieren und<br />

Informationsverarbeitung erfolgt, bilden die Gesetze der Identität und des Widerspruchs (als<br />

Minimum) die Grundlage ihres Funktionierens." 652 Daß es sich dabei um eine einheitliche<br />

Methode handelt, wird deutlich, wenn vergegenwärtigt wird, daß eine absolute Identität jede<br />

Erkenntnis über die Dinge ausschließen und ein absoluter Unterschied die Dinge in diesem<br />

Unterschied zu gleichen machen würde, die sich durch ihre Fülle ebenfalls jeglicher Erkenntnis<br />

verschließen. Leibniz leitet aus diesem Paradoxon ab, daß "jede Monade verschieden sein<br />

(muß) von jeder anderen. Denn schon in der Natur gibt es nicht zwei Wesen, die einander in<br />

allen Stücken völlig gleich und wo wir außer Stande wären, eine innere oder auf eine innere<br />

Bestimmung sich gründende Verschiedenheit zu finden." 653 Hegel kommentiert diese These<br />

und stellt ihre Relation zum Begriff der Gleichheit her, wenn er feststellt, daß "dieser äußerliche<br />

Unterschied als Identität der Bezogenen die Gleichheit, als Nichtidentität derselben die<br />

Ungleichheit (ist)." 654 Wenn man diese epistemologische Bestimmung auf die Relation von<br />

Gleichheitsideal und Natur überträgt, folgt, daß ohne eine exakte Definition der Gruppe der<br />

Gleichen bzw. derjenigen, die gleich sein sollen, oder gleich werden wollen, einer<br />

Gleichheitsauffassung das Wort geredet wird, in der jedes Subjekt in einer oder mehreren<br />

Beziehungen als gleich und ungleich gegenüber einem oder mehreren anderen angesehen<br />

werden muß. So können zwar einerseits alle Menschen in dem Sinne als gleich angesehen<br />

werden, als sie sich in ihrer Definition als Mensch vom Tier und von der Pflanze unterscheiden,<br />

und doch erscheinen sie andererseits aus unzähligen, anderen Blickwinkeln als ungleich.<br />

2) Wenn es um Identität und Unterschied als Kategorien des Seienden geht, erlangt die Frage<br />

nach den qualitativen Komponenten eine besondere Bedeutung, genauso wie die Frage nach<br />

der hypothetischen Bewegungsform des Seienden schlechthin, denn jede der beiden großen<br />

Traditionslinien - logisch-mathematisch und dialektisch - führt zu einer Vielzahl von<br />

Identitätsbegrifflichkeiten.<br />

Aristoteles kann als Begründer der logisch-mathematischen Identitätslehre verstanden werden,<br />

wenn er postuliert: "Das Selbige gebraucht man in mehreren Bedeutungen; einmal sagen wir<br />

zuweilen von dem aus, was der Zahl nach Eines ist, dann von dem, was sowohl dem Begriffe<br />

wie der Zahl nach Eines ist, wie z.B. du mit dir selbst der Form wie dem Stoff nach Eines bist.<br />

Ferner, wenn der Begriff des ersten Wesens ein einziges ist; z.B. die gleichen geraden Linien<br />

sind dieselben, und ebenso die gleichen und gleichwinkligen Vierecke, obwohl ihrer mehrere<br />

651 Vgl.: Auwärter, Manfred (Hrg.); Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität; Frankfurt/Main<br />

1976; Marquard, Odo/ Stierle, Karlheinz (Hrg.); Identität; München 1978.<br />

652 Patent, Grigorij L.; Marxismus und Apriorismus; in: Wittich, <strong>Die</strong>ter; Marxismus und Apriorismus;<br />

Berlin/DDR 1977; S.91/92; Vgl. auch: Taureck, Bernhard; Mathematische und transzendentale<br />

Identität - Philosophische Untersuchungen über den Identitätsbegriff der mathematischen Logik<br />

sowie bei Schelling und Hegel; Wien 1973.<br />

653 Leibniz Monadologie (§ 9); in: Zimmermann 1847,12.<br />

654 Hegel 1991,127.<br />

214


sind; aber bei diesen ist die Gleichheit Einheit." 655 In der Terminologie der Logik werden diese<br />

drei Formen als 'numerische', 'genetische' und 'generische Identität' bezeichnet, wobei die<br />

numerische Identität 656 bis in die Neuzeit die verbreitetste Fassung der Beziehung zwischen<br />

Entitäten blieb. In Auseinandersetzung mit Russell, der als prominentester Protagonist einer<br />

rein numerisch bestimmbaren Identität angesehen wird, entwickelt Ramsey das Konzept einer<br />

epistemischen Identität, wobei als Basis die Bestimmung einer extensionalen Satzfunktion, das<br />

heißt eine Korrelation figuriert, "welche mit jedem Individuum einen einzigen Satz assoziiert,<br />

wobei das Individuum das Argument ist, der Satz ihr Wert." 657 <strong>Die</strong> Identität zweier Argumente<br />

(Individuen) liegt dann vor, wenn zwei verschiedene Sätze dasselbe Argument in derselben<br />

Sprache mit demselben Gehalt bezeichnen, wodurch es Ramsey gelingt, Aussagen treffen zu<br />

können, ohne von der absoluten Erkennbarkeit der Welt ausgehen zu müssen. <strong>Die</strong> genetische<br />

Identität, die in der Aufklärungsphilosophie als Identität des Selbstbewußtseins gefaßt wurde,<br />

thematisiert den Erhalt und die Veränderung des Individuums im Prozeß seiner ständigen<br />

Veränderung und basiert auf der Setzung eines individuellen Selbstbewußtseins, wie es schon<br />

Descartes' "ego cogito, ergo sum" umschreibt. 658 Generische Identität liegt in der Logik dann<br />

vor, wenn eine individuelle Substanz nur über einen einzigen Begriff verfügt und damit als<br />

identisch verstanden werden muß, weil keine weitere Differenzierung denkbar ist. 659 Für das<br />

hier behandelte Problem scheinen vor allem die genetische und die generische Identität von<br />

Interesse zu sein, da es hier weder um reine Logik noch um Dinglichkeiten, sondern um<br />

Menschen geht, die abstrakt betrachtet als Gattung eine generische Identität besitzen. Ohne<br />

die Mytochondrienverwandschaft aller Menschen als Inhalt der generischen Identität<br />

bestimmen zu wollen, bleibt festzuhalten, daß ausgehend von einem Subjekt genetischer<br />

Identität nach dessen Vergehen ein Prozeß in Gang gekommen ist, dessen Mutationen trotz<br />

einer konstanten generischen Identität so gravierende Unterschiede aufweisen, daß die logischmathematische<br />

Identitätslehre vor dem Hintergrund der hier behandelten Fragestellung kaum<br />

geeignet scheint, der Probleme habhaft zu werden.<br />

<strong>Die</strong> Traditionslinie des dialektischen Identitätsverständnisses nimmt ihren Anfang im Denken<br />

von Heraklit und beschäftigt sich mit der exakten Bestimmung von aporetischen Identitäten -<br />

oder mit anderen Worten der Identität und dem Unterschied der Gegensätze, die sich als<br />

entzweite Einheit präsentieren, in der der Unterschied als bewegliche und widersprüchliche<br />

Identität enthalten bleibt." 660 Platon läßt in seinem Dialog "Sophistes" einen Fremdling die vom<br />

Standpunkt der logisch-mathematischen Identitätsauffassung folgerichtige These aufstellen, daß<br />

655 Aristoteles 1989ff.; Metaphysik 1054 a.<br />

656 "Dinge sind identisch, wenn alles, was von einem ausgesagt wird, auch vom anderen ausgesagt<br />

werden sollte." (Aristoteles; Topica 151b; in: Aristoteles 1958ff.)<br />

657 Ramsey, Frank P.; Grundlagen - Abhandlungen zur Philosophie, Logik, Mathematik und<br />

Wirtschaftswissenschaft; Stuttgart 1980; S.168. Vgl. auch: Schenk, Günther; Identität/Unterschied;<br />

in: EE 2,611-616.<br />

658 Vgl.: Piaget, Jean; Abriß der genetischen Epistemologie; Stuttgart 1974.<br />

659 Carnap, Rudolf; Einführung in die symbolische Logik mit besonderer Berücksichtigung ihrer<br />

Anwendung; Wien 1968; S.180-201.<br />

660 Vgl.: Farandos, Georgios D.; <strong>Die</strong> Wege des Suchens bei Heraklit und Parmenides - <strong>Die</strong> Dialektik des<br />

Suchen und Findens; Würzburg 1982; S.42-54.<br />

215


"Bewegung und Stillstand weder mit 'Verschieden' noch mit 'Einerlei' gleichzusetzen (sind)" 661 ,<br />

um dann dem Sokratesschüler Theaitetos die Möglichkeit zu geben, zu beweisen, daß<br />

"zwischen dem Seienden und der Verschiedenheit nicht ein tiefgreifender Unterschied bestünde<br />

(...), wenn die Verschiedenheit an beiden eben genannten Formen (Stillstand und Bewegung -<br />

KSS) teilhätte ebenso wie das Seiende, (denn) dann müßte es auch manches Verschiedene<br />

geben, dessen Verschiedenheit sich nicht von der Beziehung auf ein Anderes herschreibe." 662<br />

Auf diese Weise erlangt das "Nicht-Seiende", das sich zum Begriff des "Seienden" in Bezug<br />

auf die Idee des Seins verhält, wie der Begriff der "Ruhe" zum Begriff der "Bewegung", eine<br />

positive Bestimmung im Sinne von "Anders-Seiendem" bzw. "Verschieden-Seiendem". 663 <strong>Die</strong>s<br />

gilt jedoch nur, solange man Platons These teilt, daß "reine Begriffe" über eine Selbstidentität<br />

verfügen, denn erst dann erscheint die Untersuchung über ihren wechselseitigen<br />

Zusammenhang sinnvoll im Hinblick auf die hier intendierte Suche nach der Gleichheit, aber<br />

was Begriffen an dieser Stelle ohne Probleme zugestanden werden kann, wird in dem<br />

Augenblick problematisch, in dem das idealistische Ideal Platons geteilt wird und es um real<br />

Seiendes geht.<br />

Hegel variiert in der Logik diese statische Festschreibung durch die Einführung der historischen<br />

Dimension 664 dergestalt, daß nun nicht mehr Identität als Gleichheit mit sich selbst im<br />

Gegensatz steht zum absoluten Unterschied, sondern Identität und Unterschied werden<br />

gleichzeitig Inhalt und Moment der Identität und des Unterschiedes, oder wie es Hegel selbst<br />

formuliert: "Das Wesen ist zuerst einfache Beziehung auf sich selbst: reine Identität. <strong>Die</strong>s ist<br />

seine Bestimmung, nach der es vielmehr Bestimmungslosigkeit ist. Zweitens, die eigentliche<br />

Bestimmung ist der Unterschied, und zwar teils als äußerlicher oder gleichgültiger<br />

Unterschied, die Verschiedenheit überhaupt, teils aber als entgegengesetzte Verschiedenheit<br />

oder als Gegensatz. <strong>Dr</strong>ittens, als Widerspruch reflektiert sich der Gegensatz in sich selbst<br />

und geht in seinen Grund zurück." 665 In dieser Einheit des Entgegengesetzen, nämlich des<br />

Identischen und des Unterschiedenen figurieren die beiden Momente des Gegensatzes - das<br />

'Positive': Eine in sich selbst reflektierte Gleichheit mit sich selbst, die in sich selbst die<br />

Beziehung auf die Ungleichheit enthält; das 'Negative': Eine in sich selbst reflektierte<br />

661 Platon; Sophistes (255 St.); in: Platon 1993; 6.2,101.<br />

662 Platon 1993; Sophistes (255 St); 6.2,103.<br />

663 "<strong>Die</strong> Begriffe treten miteinander in Gemeinschaft und der Bereich des Seienden und der<br />

Verschiedenheit erstrecken sich auf alle Begriffe sowie auf ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander,<br />

dergestalt, daß das Verschiedene durch seine Teilnahme am Seienden, die ihm zukommt, zwar ist,<br />

aber doch nicht jenes selbst ist, an dem es Anteil hat, sondern ein davon Verschiedenes; als<br />

verschieden aber von dem Seienden ist es nach augenscheinlicher Notwendigkeit nicht seiend.<br />

Andererseits ist das Seiende, als teilnehmend an der Verschiedenheit von den anderen<br />

Geschlechtsbegriffen verschieden, und diese Verschiedenheit von allem anderen bedeutet, daß es<br />

alles jenes nicht ist, weder im Einzelnen noch im Ganzen, sondern sein Sein für sich hat. Mithin ist<br />

es unzweifelhaft, daß das Seiende anderseits in tausend und abertausend Fällen nicht ist und daß<br />

demnach auch das andere im Einzelnen und zusammengenommen in vielfachem Betracht ist, ebenso<br />

oft aber auch nicht ist." (Platon 1993; Sophistes (259 St); 6.2,110)<br />

664 Vgl.: Brauer, Oscar-Daniel; Dialektik der Zeit - Untersuchungen zu Hegels Metaphysik der<br />

Weltgeschichte; Stuttgart 1982.<br />

665 Hegel, Georg W.F.; Wissenschaft der Logik – Erster Teil: <strong>Die</strong> objektive Logik, Zweiter Band: <strong>Die</strong><br />

Lehre vom Wesen (1813); Hamburg 1992; S.24.<br />

216


Ungleichheit mit sich selbst, die in sich selbst die Beziehung auf ihr Nichtsein (die Gleichheit)<br />

enthält - als selbständige, für sich seiende Einheiten eines untrennbaren Ganzen. Der<br />

Widerspruch des Gegensatzes entsteht, indem das Positive und das Negative, jedes in seiner<br />

Selbsttätigkeit, sich selbst aufhebt und in sein Gegenteil übergeht. Ohne in die Tiefen der<br />

abstrakten Dialektik hinabsteigen zu wollen, kann doch gesagt werden, daß von Gleichheit und<br />

Ungleichheit als bestimmbaren Größen in bezug auf Identität und Unterschied im hegelschen<br />

Werk kaum die Rede sein kann, auch wenn Hegels Versprechungen, daß "die Analyse des<br />

Anfangs somit den Begriff der Einheit des Seins und des Nichtseins, - oder, in reflektierter<br />

Form, der Einheit des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins - oder der Identität<br />

der Identität und Nichtidentität (gäbe)" 666 , noch so verlockend erscheint. <strong>Die</strong>ser Umstand liegt<br />

nicht in einem immanenten Fehler der hegelschen Logik begründet, sondern resultiert aus der<br />

Tatsache, daß Hegels Intention für seine Fassung der Dialektik nicht epistemologischer Natur<br />

ist, sondern die Selbstschöpfung der Begriffe und des Seins aus dem Nichts verstehbar<br />

machen soll. Im Gegensatz zu Hegel, Engels und Teilen des Marxismus muß sich eine<br />

praktische Philosophie in der Tradition von Karl Marx davor hüten, Identität und Unterschied<br />

als Kategorien des Seienden zu fassen, denn wie Hegel zu Recht postuliert, kann nur eine<br />

Analyse des Anfanges der Welt Aufschluß über ihre reale Struktur geben - dieser Anfang<br />

bleibt aber trotz der hegelschen Illuminationsversuche ein Ort der Finsternis.<br />

3) Als methodologische Instrumentarien fanden Identität und Unterschied in vielfältigen<br />

Ausprägungen Einzug in Beweis- und Entscheidungstheorien und wurden besonders von<br />

marxistischen Autoren als Momente der dialektischen Erkenntnisfindung hervorgehoben. 667<br />

<strong>Die</strong> marxistische Philosophie unterscheidet dabei zwischen sinnlich-konkreter, abstrakter und<br />

geistig-konkreter Identität, wobei die sinnlich-konkrete Identität das Identische in der<br />

Veränderung als relativ und die Veränderung selbst als absolut beschreibt, während die<br />

abstrakte Identität "Invarianzen" und "Varianzen" als Identität und Unterschied thematisiert und<br />

die geistig-konkrete Identität das Sinnlich-Konkrete begrifflich rekonstruieren will. 668 Der<br />

Erkenntnisprozeß beginnt so bei dem Sinnlich-Konkreten und kommt über die Ebene des<br />

Abstrakten zum Geistig-Konkreten und kann als ständige Setzung, Auflösung und Neusetzung<br />

verstanden werden, wobei die konkrete Identität als Ziel und die abstrakte Identität als<br />

Methode fungieren.<br />

4) Metatheoretische Analysen zu Identität und Unterschied untersuchen zum einen den<br />

theoretischen Stellenwert der Identität, wobei "die Untersuchung dieser Grundlagen auf eine<br />

semiotische Behandlung der Individuation hinaus (läuft), deren Zusammenhang mit den<br />

Problemen der Identität Gegenstand der wichtigsten Teile der gegenwärtigen Diskussion" 669<br />

666 Hegel 1990,63. Vgl. neben den Ausführungen zur Dialektik in der Einleitung auch: Barata Moura,<br />

José; Abstrakt - Konkret - Begriffsgeschichtliche Subsiduen; in: Topos Nr.7/1996; S.103-132.<br />

667 "Dialektik ist die Lehre, wie die Gegensätze identisch sein können und es sind (wie sie es werden) -<br />

unter welchen Bedingungen sie identisch sind, indem sie sich ineinander verwandeln -, warum der<br />

menschliche Verstand diese Gegensätze nicht als tote, erstarrte, sondern als lebendige, bedingte,<br />

bewegliche, sich ineinander verwandelnde auffassen soll." (LW 38,99)<br />

668 Vgl.: Moltmann, Ernst; Historische und systematische Untersuchungen zum Identitätsbegriff; Halle<br />

1983; S.141-149.<br />

669 Lorenz, Kuno (Hrg.); Identität und Individuation - Bd.1: Logische Probleme im historischen Aufriß;<br />

Stuttgart 1982; S.13.<br />

217


der ontologischen Grundlagen des Seins, bzw. ihrer logisch-wissenschaftstheoretischen und<br />

empirisch-fachwissenschaftlichen Untersuchung ist. Zum anderen wird einerseits ausgehend<br />

von den Prämissen der Logik nach der Verbindung von Gleichheit und Identität und<br />

andererseits ausgehend von soziologischen Theorien nach der "Ich-Identität" bzw. nach der<br />

"Gruppenidentität" geforscht, 670 wobei letztlich beiden Ansätzen eine Annäherung an die<br />

konkrete Ausprägung von Identität und Unterschied im Denken und Handeln der Menschen<br />

vorschwebt, auf die auch im weiteren einzugehen sein wird.<br />

Obwohl diese Ausführungen scheinbar peripher für das hier behandelte Thema bleiben, kann<br />

doch Wittgenstein zugestimmt werden, der in einem Brief an Russell hervorhob, daß "die<br />

Identität der Teufel in Person und ungeheuer wichtig, sehr viel wichtiger (ist), als ich glaubte.<br />

Sie hängt unmittelbar mit den grundlegenden Fragen zusammen." 671 Für die vorliegende Frage<br />

nach der Verbindung von Gleichheit und Natur ergeben sich vor dem Hintergrund des bisher<br />

gesagten folgende Annäherungen:<br />

Aus einer Verbindung der epistemologischen Erkenntnisse über die primäre Stellung des<br />

Vergleiches im Prozeß des Denkens mit der Betonung des methodologischen Stellenwertes<br />

der Gleichheitsrelation für die Theorie, die selbstredend auch auf die erkenntnistheoretischen<br />

Prämissen aller hier angesprochenen Theoriegebiete angewendet werden muß und diese damit<br />

partiell in Frage stellt, kann vor dem Hintergrund der daraus folgenden Relativität kein<br />

endgültiges Urteil über den Ursprung von Identität und Unterschied, die auch als<br />

Extrempositionen des Begriffes der Gleichheit verstanden werden können, abgelegt werden.<br />

Es ist gleichermaßen denkbar, daß Identität und Unterschied Kategorien des Seienden sind<br />

und als solche dem menschlichen Denken als Matrix des Erkenntnisprozesses dienen, als auch<br />

daß das menschliche Gehirn vor dem Hintergrund der biologischen Beschränktheit der<br />

Möglichkeiten zur Erkenntnis und zur Erkenntnisverarbeitung im Prozeß der Genese dazu<br />

übergegangen ist, Phänomene als Abstraktionen zu klassifizieren und in Relation zu bereits<br />

Bekanntem zu stellen, mit dem Resultat, daß der relationslosen Materie die Strukturen<br />

'Identität und Unterschied' aufgeprägt wurden, bis sie sich heutzutage untrennbar verwoben<br />

präsentieren. Da es nicht möglich erscheint, jetzt oder in absehbarer Zukunft dieses Problem<br />

hinreichend zu lösen, bleibt für den Fortgang der Darstellung zu akzentuieren, daß diese<br />

Dichotomie weiterhin existiert und daß an starre Konzepte von Identität und Unterschied als<br />

Klassifizierungsmomente der Gleichheit mit besonderer Skepzis herangegangen werden muß,<br />

nicht zuletzt, da der Rekurs auf die dialektische Sichtweise verdeutlicht hat, daß kein Sein per<br />

se von einem anderen unterschieden werden kann. Trotz oder gerade wegen dieser<br />

allgemeinen Gleichheit der Dinge oder im konkreten Fall der Menschen bleibt es notwendig,<br />

die trennenden Momente herauszuarbeiten und in Beziehung zur prinzipiellen Gleichheit zu<br />

stellen bzw. zu fragen, ob und in welcher Form der konkrete Unterschied und die daraus<br />

resultierende Relation sich im Prozeß der Emanzipation aufheben muß - oder nicht.<br />

3.2.3. Ausgangspunkt und Gegenstand des Gleichheitsideales<br />

670 Vgl.: Auwärter 1976.<br />

671 Wittgenstein, Ludwig; Briefwechsel; Frankfurt/Main 1980; S.36.<br />

218


Nachdem im letzten Kapitel die absoluten, äußeren Grenzen des Gleichheitsbegriffes in ihrer<br />

Relation zu Identität und Unterschied gefunden wurden, gilt es nun, diese Beschreibung mittels<br />

negativer Induktion weiterzutreiben, denn gerade die hier vertretene Präferenz für dialektische<br />

Widerspruchsbeziehungen erweist sich angesichts des bisher Gesagten als recht vage<br />

Charakterisierung. Ein Moment der Annäherung scheint die Suche nach dem Ausgangspunkt<br />

des Gleichheitsideales in der geschichtlichen Entwicklung zu sein, denn es liegt nahe, daß sich<br />

die historisch-konkreten Ausformungen der Forderung nach Gleichheit in Bezug auf die<br />

gesellschaftlichen Sphären konstituiert haben, die den handelnden Subjekten elementar<br />

erscheinen. <strong>Die</strong> Relationen, auf denen diese Sphären basieren und die sie strukturieren, müssen<br />

im Hinblick sowohl auf ihre immanente Schlüssigkeit als auch auf ihre Relevanz für den Prozeß<br />

der Emanzipation zu Beginn des 21.Jahrhunderts durchleuchtet werden, bevor das ihnen<br />

zugrundeliegende, konkrete Gleichheitsideal mit anderen elementaren Gleichheitsidealen in<br />

Relation gesetzt werden kann. <strong>Die</strong>s erscheint um so notwendiger, wenn vergegenwärtigt wird,<br />

daß die einzelnen, partiellen Gleichheitsforderungen als Elemente einer partiellen Emanzipation<br />

durchaus nicht miteinander harmonieren müssen, bzw. daß aus einer Vielzahl von<br />

Gleichheitsforderungen die Ungleichheit in anderen Sphären folgert. Unabhängig von den<br />

konkreten Ausformungen der historischen Gleichheitsforderungen wird zu prüfen sein, ob sich<br />

die Anzahl der möglichen Gleichheitspostulate mit diesen deckt oder ob nicht unter dem<br />

Einfluß der Entfremdung manche zentrale Relation in Vergangenheit und Gegenwart übersehen<br />

wurde und hinter den konkreten Ausformungen verborgen blieb.<br />

Wenn in der Terminologie der Logik "Gleichheit" als vollständige Übereinstimmung bezüglich<br />

a) der Beschaffenheit von Entitäten - Gleichheit als Kategorie der Qualität -, b) der<br />

quantitativen Eigenschaften - Gleichheit als Kategorie der Quantität - oder c) der Beziehungen<br />

und Verhältnisse - Gleichheit als Kategorie der Relation -, verstanden wird 672 , dann spiegelt<br />

sich damit die Verwendung des Begriffes der "Gleichheit" in der Umgangssprache wider, denn<br />

dort kann "gleich" heißen: a) gleichartig, b) gleichbedeutend oder c) einheitlich. 673 Dagmar<br />

Herwig arbeitet in ihrer lesenswerten Studie über "Gleichbehandlung und Egalisierung" ein<br />

vierschichtiges Modell der Gleichheit heraus, das als hegemoniale Fassung der philosophisch<br />

inspirierten Gleichheitsforschung verstanden werden kann:<br />

"1) Gleichheit bedeutet Übereinstimmung einer Mehrzahl von Gegenständen, Personen oder<br />

Sachverhalten in einem bestimmten Merkmal, bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen (a =<br />

b). Gleichheit ist damit sowohl von Identität abzugrenzen, der Übereinstimmung eines<br />

Gegenstandes mit sich selbst in allen Merkmalen (a = a), als auch von Ähnlichkeit, dem Begriff<br />

für nur annähernde Übereinstimmung.<br />

2) Gleichheit ist ein Verhältnisbegriff. Er bezeichnet keinen Sachverhalt an einzelnen<br />

Gegenständen oder Personen, sondern eine Beziehung zwischen ihnen. <strong>Die</strong>se Beziehung wird<br />

allein durch den urteilenden Verstand hergestellt. Eine Gleichheitsaussage enthält also stets ein<br />

Gleichheitsurteil; sie ist damit von der Situation des Urteilenden abhängig.<br />

672 Vgl.: Schenk, Günter; Gleichheit; in: EE 2,459-460: Scholz, Heinrich; <strong>Die</strong> sogenannten Definitionen<br />

durch Abstraktion - Eine Theorie der Definition durch Bildung von Gleichheitsverwandtschaften;<br />

Leipzig 1935; Savigny, Eike von; Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren; München 1970.<br />

673 Der Duden - Das Bedeutungswörterbuch; Mannheim; CD-Rom-Version.<br />

219


3) Gleichheit ist immer nur Gleichheit in einer bestimmten Hinsicht. Jeder Vergleich setzt ein<br />

tertium comparationis voraus, ein konkretes Merkmal, in dem die Gleichheit gelten soll.<br />

Gleichheit ist also niemals eine generelle, sondern stets eine partielle Aussage über die<br />

verglichenen Objekte.<br />

4) Ein Gleichheitsurteil setzt die Verschiedenheit des Verglichenen voraus. Da es als partielle<br />

Aussage auf bestimmte Merkmale bezogen ist, impliziert es Ungleichheit in anderen<br />

Merkmalen. Völlige oder absolute Gleichheit sind in sich widersprüchliche Aussagen." 674<br />

Als Methode der Annäherung an ein Problem hat sich in der Vergangenheit der Rekurs auf die<br />

philosophische Genese eines Begriffes als recht nützlich erwiesen und so liegt es nahe, daß hier<br />

der Gleichheitsrelation mittels einer Wiederaufnahme des oben begonnenen Abrisses der<br />

griechischen Philosophie zu Leibe gerückt wird. In Bezug auf das Modell der Gerechtigkeit<br />

wurde bereits auf Aristoteles' "Nikomachische Ethik" verwiesen, in der er "eine allgemein<br />

verbreitete Annahme, für die kein Beweis verlangt wird" 675 vorstellt, nämlich die These, "daß<br />

der Ungerechte die Gleichheit verletzt und daß die ungerechte Tat Ungleichheit bedeutet.<br />

Somit ist klar, daß es auch ein Mittleres zwischen (den Extremen) der Ungleichheit gibt. Das<br />

ist das Gleiche. Denn bei jeder Art von Handeln wo es ein Mehr und ein Weniger gibt, gibt es<br />

auch das Gleiche." 676 Da es an dieser Stelle weder um die Frage der Begründbarkeit dieser<br />

Prämisse noch um die Plausibilität der Darstellung geht, sondern um die Dokumentation von<br />

konkreten Relationen, kann von der mythischen Form der Präsentation bei Aristoteles<br />

abstrahiert und mit Aristoteles auf die Suche gegangen werden nach Sphären der "Gleichheit<br />

für gleiche". 677 Bei diesem Konzept einer Verteilungsgleichheit darf "man nicht vergessen, zu<br />

untersuchen, was für Personen die Gleichheit und was für Personen die Ungleichheit eignet." 678<br />

Es stellt sich also die Frage der Relevanz der Verteilungskriterien in Bezug auf die Sache<br />

selbst, oder mit Aristoteles gesprochen: "Von gleich gut geschulten Flötenspielern muß man<br />

denen nicht die besten Flöten geben, die von edlerer Abkunft sind; sie werden deshalb um<br />

nichts besser spielen; sondern wer durch seine Leistung (in dieser Kunst - KSS) die anderen<br />

übertrifft, dem gebührt auch hinsichtlich der Instrumente ein Vorzug." 679 <strong>Die</strong>ses<br />

Proportionalitätsprinzip der Verteilung von Anteilen innerhalb einer Gleichheitsrelation<br />

erscheint in gewisser Weise gerechtfertigt, denn unabhängig von der konkreten Ausprägung<br />

der Widerspruchspaare in dieser Relation ist es einleuchtend, daß der Vergleichsmaßstab in<br />

funktionaler Beziehung zum Zweck der betreffenden Sache stehen muß - und das auch, wenn<br />

man die aristotelische Maxime, nach der die Verteilung gemäß der natürlichen Gleichhheit<br />

resp. Ungleichheit ihrer Protagonisten zu erfolgen habe, außer Acht läßt. Jedoch sind die<br />

wenigsten Paradigmen, in denen konkrete Gleichheitsforderungen erhoben werden, derart<br />

strukturiert, daß sie erstens lediglich zwei Individuen verbinden, zum zweiten vor einem so<br />

übersichtlichen Hintergrund ablaufen wie dem Flötenspiel und zum dritten, daß die Genese der<br />

674 Herwig 1984,56/57. Aus Gründen der Lesbarkeit wurden die Anführungszeichen des Originales hier<br />

weggelassen.<br />

675 Aristoteles 1958ff.; Nikomachische Ethik 1131 a.<br />

676 Aristoteles 1958ff.; Nikomachische Ethik 1131 a.<br />

677 Aristoteles 1981; Politik 1280 a 11.<br />

678 Aristoteles 1981; Politik 1282 b 23.<br />

679 Aristoteles 1981; Politik 1282 b 33-35.<br />

220


eiden Widerparte ausgeklammert werden kann. Selbst wenn man die Flötenspielkunst als<br />

Synonym für jegliche Art von erlernbaren Künsten und Berufen auffaßt, bleibt der zentrale<br />

Bereich, in dem sich im Laufe der Geschichte Gleichheitsforderungen gebildet haben, außen<br />

vor, denn während der Klang der Flöte oder zumindest die handwerkliche Fingerfertigkeit des<br />

Spielenden gemessen und als Maßstab für die Gleichheitsrelation verstanden werden können,<br />

fehlt ein solch "objektiver" Maßstab in allen politischen Belangen, auch wenn Aristoteles<br />

einwendet, daß "die, die am meisten zu einer solchen Gemeinschaft beitragen, mehr Teil am<br />

Staate (haben) als die, die zwar an freier Geburt und an Geschlecht ihnen gleich oder<br />

überlegen sind, an bürgerlicher Tugend aber ungleich, oder als die, die sie zwar an Reichtum<br />

übertreffen, aber in der Tugend von ihnen übertroffen werden." 680 Mit der Tugend verhält es<br />

sich jedoch wie mit der Gerechtigkeit: Sie ist eine Schimäre, die nur den erfreut, der die<br />

hegemoniale Macht der Definition besitzt. 681<br />

<strong>Die</strong> Stoiker versuchten, sich diesem Problemkreis, der das Zentrum der meisten<br />

Gleichheitsforderungen bildet, dadurch zu nähern, daß sie die alte Frage der Verbindung von<br />

individueller Ungleichheit und gattungsgemäßer Gleichheit in das Individuum selbst<br />

verlagerten 682 und obwohl sie an der Tugend als Maßstab für die Gleichheitsrelation in der<br />

Sphäre des Politischen festhielten 683 , trieben sie sie auch darüber hinaus, wenn Seneca den<br />

680 Aristoteles 1981; Politik 1281 a 5-7.<br />

681 So bleibt es fraglich, warum man sich den Argumenten von Botho Strauß anschließen möchte, nach<br />

denen eine Welt ohne Ordnung als die schlimmste aller denkbaren Welten figuriert, denn "hier<br />

verdreht sich die Welt, als sähe man Herakles, bezwungen von einer Empuse. Als stimmte der<br />

Dichter ein Loblied an auf die Ratte. <strong>Die</strong> verlorene Unterscheidung befördert die Anbetung der<br />

Unverschämtheit. <strong>Die</strong> Kotfresser genießen die gleichen Rechte wie die Milchtrinker. Zaghafte<br />

Jünglinge erhalten Trophäen, weil sie sich niemals an einer Waffe vergriffen." (Strauß, Botho;<br />

Ithaka - Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee; München 1996; S.48) Vielleicht<br />

liegt ja in dem Streben nach einer Ordnung der Dinge der Ursprung des behandelten Problems,<br />

denn weder Strauß noch Aristoteles können hinreichend nachweisen, daß ihre Hierarchisierung<br />

sich grundlegend von der unterscheidet, die Antonin Artaud am konkreten Beispiel Heliogabal<br />

(röm. <strong>Kai</strong>ser von 218-222 u.Z.) herausarbeitet: "An die Spitze seiner Nachtwachen (...) setzte er den<br />

Kutscher Gordius und ernannte einen gewissen Claudius, der Sittenzensor war, zum Verwalter der<br />

Nahrungsmittel; alle anderen Ämter wurden im Hinblick darauf verteilt, ob die Männer durch die<br />

Ausmaße ihres Gliedes empfehlenswert waren. Als Prokuratoren des Zwanzigsten setzte er<br />

nacheinander einen Maultiertreiber, einen Läufer, einen Koch und einen Schlosser ein." (Artaud,<br />

Antonin; Heliogabal oder Der Anarchist auf dem Thron; München 1980; S.140) Ist nicht die<br />

Tugend - was immer dies auch sei - im Hinblick auf die Verteilung von gesellschaftlicher Macht<br />

ebenso periver wie die Länge des Gliedes und liegt nicht in der von Strauß befürchteten "Anbetung<br />

der Unverschämtheit" ein Schlüssel zur Erkenntnis der ideologischen Verklärung der Herrschaft?<br />

682 "Man muß sich klarmachen, daß wir von Natur eigentlich zwei Personen in uns tragen. <strong>Die</strong> eine ist<br />

die allgemein menschliche, die auf dem Besitze der Vernunft und derjenigen Eigenschaften beruht,<br />

durch die wir den Tieren überlegen sind. (...) <strong>Die</strong> andere Person ist die Individualität jedes einzelnen<br />

Menschen. Denn wie es große Unterschiede in den körperlichen Eigenschaften gibt (...) so gibt es<br />

auch in den geistigen Eigenschaften Unterschiede und sogar noch größere." (Panaititos; Frg.26; in:<br />

Nestle, Wilhelm (Hrg.); <strong>Die</strong> Nachsokratiker; Jena 1923)<br />

683 "Es gibt zwei Gattungen von Menschen: die Tüchtigen und die Untüchtigen. <strong>Die</strong> Tüchtigen sind<br />

ihr ganzes Leben hindurch tugendhaft, die Untüchtigen lasterhaft. Daher haben die einen in allem,<br />

was sie sich vornehmen, Erfolg, die anderen nicht. Der Tüchtige macht auf Grund seiner<br />

Lebenserfahrungen bei seinen Handlungen alles recht: er benimmt sich verständig und besonnen<br />

und ebenso auch den anderen Tugenden entsprechend; der Untüchtige dagegen macht alles<br />

schlecht." (Zenon; Frg.67; in: Nestle 1923)<br />

221


Leser auffordert, "zwei Gemeinwesen uns vor die Seele treten (zu lassen), das eine groß und<br />

wahrhaft allgemein, das Götter und Menschen umfaßt, wo unser Blick nicht an diesem oder<br />

jenem Eckchen haftet, sondern wo uns zum Ausmaß des Ganzen die Sonne dient, das andere,<br />

an das uns der Zufall unserer Geburt gebunden hat; (...) <strong>Die</strong>sem größeren Gemeinwesen<br />

können wir auch im Ruhestand dienen, ja vielleicht im Ruhestand noch besser, beschäftigt mit<br />

den Fragen: Was ist das Wesen der Tugend? Gibt es nur eine oder mehrere?" 684 Wenn<br />

Seneca im Weiteren die Vernunft zum Maßstab der Tugend und zur Vergleichskategorie der<br />

allgemein-menschlichen Sphäre ernennt 685 , ermöglicht er es dem Leser, die offensichtlichen<br />

Diskrepanzen, die zwischen der irrationalen und unbegründeten politischen Macht der<br />

konkreten Staaten und der auf Vernunft basierenden allgemeinen Gleichheit der Ratio<br />

herrschen, zu erkennen. <strong>Die</strong> Ungleichheit der Partizipation an der politischen Macht gemessen<br />

an der individuellen Fähigkeit zur Ratio mündet so sowohl in eine Kritik der nicht rational<br />

legitimierten Staaten und der dort praktizierten Herrschafts- und Knechtsschaftsverhältnisse,<br />

als auch in die Suche nach einer positiven Fassung der Gleichheitsforderung in der politischen<br />

Sphäre, denn während die Vernunft "für die einen das eigentliche Ziel (ist), ist sie für uns<br />

Stoiker eine Station, nicht der Hafen." 686<br />

In der Nachfolge der Stoiker formierte sich in der Sphäre der politischen Partizipation an der<br />

Herrschaft über die Gesellschaft eine der folgenreichsten partiellen Emanzipationsbewegungen<br />

mit Gleichheitspostulat, deren positive Fassung vorerst Element und Gegenstand von Utopien<br />

blieb. Wenn "die Utopie - gleichsam in einem Sprung - eine Welt (entwirft), die stimmt, die<br />

institutionell so geordnet ist, daß in ihr dem Menschen sein Leben glückt" 687 , dann kann sie als<br />

Ausdruck jenes allgemein-abstrakten Gemeinwesens verstanden werden, in dem die<br />

Gleichheitsrelation der politischen Partizipation nicht mit einem Rekurs auf das real Seiende ad<br />

acta gelegt wird, sondern wo die reine abstrakte Rationalität als Maß und Richtung der<br />

konkreten Auseinandersetzung funktionalisiert wird.<br />

Thomas Morus, dessen Reisebericht "Nova Insula Utopia" nicht nur dieser Gattung von<br />

philosophisch-literarischen Reflexionen ihren Namen vermachte, sondern auch als das<br />

klassische Bindeglied zwischen der Dialogstruktur des Denkens der Stoiker und der Moderne<br />

verstanden werden kann, nimmt bewußt den bornierten Standpunkt eines in der Welt des<br />

Möglichen verhafteten Rationalisten ein, dem enstprechend der hegemonialen Auffassung<br />

seiner Zeit "dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich (erscheint)." 688 Erst<br />

684 Seneca; Von der Muße VIII c4; Übersetzung nach: Seneca 1993; 2,52/53.<br />

685 "So lebe ich denn der Natur gemäß, wenn ich mich ganz dieser Erkenntnis hingegeben habe, wenn<br />

ich ihr Bewunderer und Verehrer bin. <strong>Die</strong> Natur aber hat mich für beide Aufgaben (in beiden<br />

Gemeinwesen - KSS) bestimmt, für das tätige Leben und für die denkende Betrachtung. Beides<br />

vollziehe ich; denn auch die denkende Betrachtung ist nicht ohne Tätigkeit." (Seneca; Von der<br />

Muße VIII c5; Übersetzung nach: Seneca 1993; 2,56)<br />

686 Seneca; Von der Muße VIII c7; Übersetzung nach: Seneca 1993; 2,59.<br />

687 Nipperdey, Thomas; Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit; in: Archiv für<br />

Kulturgeschichte Nr.3/1962; S.359. "<strong>Die</strong> Utopie ist der Entwurf eines Staates, wie er sein soll."<br />

(Heiss, Robert; Utopie und <strong>Revolution</strong> - Ein Beitrag zur Geschichte des fortschrittlichen Denkens;<br />

München 1973; S.15) Vgl. zu Begriff, Gegenstand und Geschichte der Utopie Kap. 2.1 der<br />

vorliegenden Studie und zu ihrer Entwicklung bis in die Moderne: Erzgräber, Willi; Utopie und<br />

Antiutopie in der englischen Literatur: Morus - Morris - Wells - Huxley - Orwell; München 1980.<br />

688 Morus 1991,45.<br />

222


durch einen Rekurs auf die Faktizität seiner Reiseerlebnisse erlangt Raphael Hythlodeus'<br />

Bericht neben aller immanenter Rationalität das Übergewicht im Diskurs und seine Darlegung<br />

einer zentralen Determinanten der Gleichheitsrelation in der politischen Sphäre den Schein<br />

einer fremden, abstrakt-rationalen Legitimation, die, obzwar sie von der Ebene des de facto<br />

märchenhaft klingt, wahr ist oder zumindest denkbar wird. 689 "Indessen (...) scheint es mir (...)<br />

in der Tat so, daß es überall da, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert<br />

des Geldes messen, kaum jemals möglich sein wird, gerechte oder erfolgreiche Politik zu<br />

treiben, es sei denn, man wäre der Ansicht, daß es dort gerecht zugehe, wo immer das Beste<br />

den Schlechtesten zufällt, oder dort glücklich, wo alles an ganz wenige verteilt wird und auch<br />

diese nicht in jeder Beziehung gut gestellt sind, die übrigen jedoch ganz übel. Daher erwäge ich<br />

oft die überaus klugen und ehrwürdigen Einrichtungen der Utopier, bei denen alles durch so<br />

wenig Gesetze so zweckmäßig geordnet ist, daß einerseits die Leistung ihren Lohn findet,<br />

andererseits infolge der allgemeinen Gleichheit allen alles reichlich zugemessen ist. Und dann<br />

vergleiche ich mit diesen ihren Verhältnissen im Gegensatz dazu so viele andere Völker, die<br />

immerfort neue Ordnungen schaffen, und niemals findet auch nur eins von ihnen hinreichende<br />

Ordnung." 690 Abschließend heißt es: "Ich habe euch so wahrheitsgetreu wie möglich die<br />

Verfassung dieses Staatswesen beschrieben, das nach meiner festen Überzeugung nicht nur<br />

das beste, sondern auch das einzige ist, das mit Recht den Namen eines 'Gemeinwesens' für<br />

sich beanspruchen kann. Denn wo man sonst von Gemeinwohl spricht, haben es alle nur auf<br />

den eigenen Nutzen abgesehen; hier, wo es nichts Eigenes gibt, berücksichtigt man ernstlich<br />

die Belange der Allgemeinheit. Hier wie da handelt man nach gutem Grund." 691 Ohne die<br />

Rationalität des Ungleichgewichtes zwischen den einzelnen Faktoren der politischen Sphäre<br />

der Gesellschaft des de facto abzuerkennen, versucht Morus, mit der analytischen<br />

Rückführung der als negativ verstandenen Alltagsphänomene auf den Privatbesitz seinem<br />

Konzept einer Gleichheit aus Mangel an Besitz eine größere Vernünftigkeit zuzusprechen. Es<br />

bleibt jedoch fraglich, ob ihm dies gelungen ist, denn selbst wenn all dies von der Ebene des<br />

"normalen Menschenverstandes" aus einleuchtend klingt, erlangt es dadurch trotzdem nicht<br />

unbedingt und unmittelbar eine philosophisch-rationale Begründung, sondern bleibt in gewisser<br />

Weise rhethorischer Schall und Rauch, auch wenn festzuhalten gilt, daß Morus' Darstellung<br />

eine weitere Sphäre möglicher Gleichheitsrelationen in den Vordergrund gestellt hat: die<br />

ökonomische Gleichheit/Ungleichheit der Menschen einer Gesellschaft.<br />

Nachdem schon gezeigt wurde, daß kein Rekurs auf die menschliche Natur oder auf die<br />

Gesetze des Kosmos oder der Götter die politische oder ökonomische Gleichheit legitimieren<br />

oder bewerten läßt, kann nur der rationale Rekurs auf die diesen Relationen innewohnenden<br />

689 "Ich wundere mich nicht (...) daß dir das so vorkommt. Du vermagst dir ja auch kein Bild von einem<br />

solchen Zustand zu machen, oder nur ein falsches. Wenn du aber mit mir in Utopien gewesen<br />

wärest und hättest mit eigenen Augen die dortigen Sitten und Einrichtungen gesehen, wie ich, der<br />

ich mehr als fünf Jahre dort gelebt habe und niemals mehr hätte fortgehen wollen, wenn nicht um<br />

von dieser Welt zu künden, dann würdest du ohne weiteres gestehen, nirgendwo sonst ein so<br />

wohlgeordnetes Staatswesen gesehen zu haben wie dort." (Morus 1991,46)<br />

690 Morus 1991,44. Selbst Ralf Dahrendorf sieht die Konfliktfreiheit als conditione sine qua non jeder<br />

auf Gleichheit basierenden Utopie (Dahrendorf, Ralf; Pfade aus Utopia - Arbeiten zur Theorie und<br />

Methode der Soziologie; München 1974; S.242-248).<br />

691 Morus 1991,106.<br />

223


Maßstäbe Auskunft über die Wertigkeit der einzelnen Argumentationen - für oder gegen<br />

Gleichheit in diesem konkreten Fall - geben. Campanella legt in seiner Utopie weitere<br />

Argumente für eine politische und ökonomische Gleichheit der Bürger einer Gesellschaft dar,<br />

wenn er den Umstand, daß "bei ihnen alles Gemeinbesitz (ist)" 692 damit begründet, "daß der<br />

Eigentumsbegriff daher komme, daß wir unsere eigenen Wohnungen und eigene Kinder und<br />

Frauen haben. Daraus entsteht die Selbstsucht." 693 <strong>Die</strong>se Selbstsucht hat nun nach<br />

Campanella nicht nur negativen Einfluß auf das Leben der Verlierer des Paradigmas, sondern<br />

auch auf die Gewinner, denn "die harte Armut (mache) die Menschen feil, hinterlistig,<br />

verschlagen, diebisch, hinterhältig, landflüchtig, lügnerisch, meineidisch usw., der Reichtum<br />

aber unmäßig, hochmütig, unwissend, verräterisch, grundlos eingebildet, prahlerisch, gefühllos,<br />

streitsüchtig usw. <strong>Die</strong> echte Gemeinschaft aber mache alle zugleich reich und arm: reich, weil<br />

sie alles haben, arm, weil sie nichts besitzen; und dabei dienen sie nicht den Dingen, sondern<br />

die Dinge dienen ihnen." 694 Selbst fundamentale Gegner jeglicher Gleichheitsbestrebungen in<br />

der politischen und ökonomischen Sphäre der Gesellschaft würden sich kaum solchen<br />

Argumenten verschließen, wenn einerseits die Negativität der Ungleichheit in dieser Schärfe<br />

nachweisbar wäre und andererseits evident wäre, daß "wenn wir aber die Selbstsucht<br />

aufgeben, so bloß noch die Liebe zur Gemeinschaft übrig (bleibt)", 695 denn ein erster Versuch<br />

eines Gemeinwesens, in dem "die Verteilung in den Händen der Behörden" 696 lag, dient den<br />

Gegnern der Gleichheit als Analyseobjekt für ihr Plädoyer für Ungleichheit. 697 Ähnlich der<br />

Suche nach der Natur des Menschen offenbart sich hier, daß die oberflächliche<br />

Inanspruchnahme einzelner gesellschaftlicher und individueller Phänomene als Beweismittel für<br />

Gleichheits- bzw. Ungleichheitsforderungen kaum als rationale und nachvollziehbare Lösung<br />

des hier vorliegenden Problemes verstanden werden kann - was bei Campanella jedoch eher<br />

entschuldbar ist, starb er doch bereits am 21.Mai 1639.<br />

<strong>Die</strong> wohl radikalste Fassung der Gleichheitsforderung erarbeiteten Gracchus Babeuf und seine<br />

Genossen mit ihrem "Manifest der Gleichen" von 1796, in dem sie sich gegen den formalen<br />

Charakter des Menschenrechtes auf Gleichheit der französischen Verfassung wendeten, denn<br />

"seit undenklichen Zeiten wiederholt man uns heuchlerisch: die Menschen sind gleich, und seit<br />

undenklichen Zeiten lastet die erniedrigendste und größte Ungleichheit schamlos auf dem<br />

Menschengeschlecht. Seit es zivilisierte Gesellschaften gibt, wird das schönste Erbteil des<br />

Menschen zwar widerspruchslos anerkannt, doch konnte es nicht ein einziges Mal Wirklichkeit<br />

werden: die Gleichheit war nichts als eine schöne, ergebnislose Fiktion des Gesetzes. Und<br />

heute, wo sie lauter gefordert wird, antwortet man uns: Schweigt, Elende! <strong>Die</strong> faktische<br />

Gleichheit ist nur ein Hirngespinst. Begnügt euch mit der bedingten Gleichheit: ihr alle seid<br />

692 Campanella; Thomaso; Sonnenstaat; in: Heinisch 1991,123.<br />

693 Campanella 1991,123.<br />

694 Campanella 1991,136.<br />

695 Campanella 1991,123.<br />

696 Campanella 1991,123.<br />

697 Vgl. z.B.: Kraus, Mickey; The End of Equality; New York 1992; Schoeck, Helmut; Das Recht auf<br />

Ungleichheit; München 1990.<br />

224


gleich vor dem Gesetz." 698 Vor allem die Reaktion der Gegner der Verschwörung der<br />

Gleichen macht dieses Dokument aktuell, denn der Verweis auf die Unmöglichkeit einer<br />

Gleichheit, die die Sphäre der formalen Gesetzlichkeit übersteigt, bildet das Kernargument<br />

aller Gleichheitsgegner. Im Gegensatz dazu erscheint die formale Begründungsebene der<br />

"Forderungen, die die Natur diktierte und die sich auf die Gerechtigkeit stützen" 699 wenig<br />

innovativ, denn der Rekurs auf die Natur bestätigte ja gerade den Doppelcharakter der<br />

allgemeinen Gleichheitsrelation und auch die apokalyptischen Gesänge 700 können kaum als<br />

rationale Begründungszusammenhänge charakterisiert werden. Wie Morus und Campanella<br />

fordern auch Babeuf und seine Genossen: "Kein individuelles Landeigentum mehr: die Erde<br />

gehört niemandem. Wir verlangen, wir fordern den gemeinsamen Genuß der Früchte der<br />

Erde: die Früchte gehören allen." 701 Sie leiten daraus eine allgemeine Gleichheitsrelation ab,<br />

nach der "es keinen anderen Unterschied mehr zwischen den Menschen geben (darf) als den<br />

des Alters und des Geschlechts. Nachdem alle dieselben Bedürfnisse und dieselben Familien<br />

haben, soll es für sie auch nur ein und dieselbe Erziehung, dieselbe Ernährung geben. Sie<br />

begnügen sich ja auch mit einer Sonne und einer Luft für alle." 702 Auch hier mutet die<br />

Begründung esoterisch an: "Französisches Volk! Öffne die Augen, öffne dein Herz der<br />

vollkommenen Glückseligkeit. Anerkenne die Republik der Gleichheit und rufe sie mit uns<br />

aus." 703<br />

Fichtes Utopie "Der geschloßne Handelsstaat" 704 kann als Hauptwerk seines insgesamt recht<br />

idealistischen Systems betrachtet werden, da es durch die Dominanz der Praxis, die diesem<br />

Entwurf zugrunde liegt, seine eigene Hauptforderung an die Philosophie seiner Zeit erfüllt.<br />

Seine Darlegung einer "besseren Welt" geht dabei nicht von einem abstrakten Ideal aus, das<br />

konträr zur empirischen Realität steht, sondern den Kern der fichteschen Utopie bilden<br />

Analysen der Wirtschafts- und Sozialordnung der Zeit nach der französischen <strong>Revolution</strong>.<br />

Einen zentralen Stellenwert erhält Fichtes kompromißloser Glaube an seine individuelle<br />

Sendung, der oft fehlende Argumentationen ersetzen muß, so sagt er über sich selbst aus, daß<br />

"ich ein Priester der Wahrheit (bin); ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht,<br />

alles für sie zu tun und zu wagen und zu leiden." 705 Fichte erhebt dieses Sendungsbewußtsein<br />

eines aufklärerischen Glaubens an die Allmacht der Vernunft zur hegemonialen<br />

Bewußtseinslage der Bürger seines "Geschloßnen Handelsstaates", ohne die das Ziel dieses<br />

Staates, das Fichte in Muße zur Freiheit und Bildung für alle 706 zu erkennen glaubt, nicht<br />

698 Das Manifest der Gleichen; in: Babeuf, Graccus; <strong>Die</strong> Verschwörung für die Gleichheit; Hamburg<br />

1988; S.103/104.<br />

699 Babeuf 1988,105.<br />

700 "Der Augenblick ist gekommen, große Maßnahmen zu treffen. Das Übel hat seinen Höhepunkt<br />

erreicht, es überzieht die ganze Erde. Das Chaos herrscht unter dem Namen der Politik seit allzu<br />

vielen Jahren. Alles soll wieder in Ordnung und an seinen Platz kommen." (Babeuf 1988,106)<br />

701 Babeuf 1988,105.<br />

702 Babeuf 1988,106.<br />

703 Babeuf 1988,108<br />

704 Fichte, Johann Gottlieb; Der geschloßne Handelsstaat - Ein philosophischer Entwurf als Anhang<br />

zur Rechtslehre, und Probe einer künftig zu liefernden Politik (1800); Hamburg 1979.<br />

705 Fichte, Johann Gottlieb; Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre; in: Gropp, Rugard Otto (Hrg.);<br />

Philosophisches Erbe; Berlin/DDR 1962; Bd.1, S.75.<br />

706 Vgl.: Fichte 1979,36-38.<br />

225


ealisierbar scheint. Fichte geht, wie der Titel schon andeutet, von einem Staat aus, der relativ<br />

autonom alle lebensnotwendigen Produkte auf seinem geographischen Territorium herstellt und<br />

von Importen unabhängig ist, wobei er die real-existierende Gesellschaft analytisch in zwei<br />

Hauptzweige und vier Gruppen aufgliedert: Während der eine Hauptzweig mit der Gewinnung<br />

von Naturprodukten beschäftigt ist, bearbeitet der andere diese weiter und kann nochmals in<br />

Künstler, die das Rohprodukt veredeln, und Händler unterteilt werden, während der erste<br />

Hauptzweig, trotz der Heterogenität seiner Tätigkeit, als einheitliche Gruppe verstanden wird,<br />

wobei eine Dominanz in der agrarischen Produktion gesehen wird. Außerhalb dieser beiden<br />

Zweige stehen die Beamten, die die gesellschaftlichen Interaktionen planen, überwachen und<br />

gegen innere und äußere Feinde verteidigen. 707 Anknüpfend an die französische<br />

Vertragstheorie geht Fichte bei dem Entwurf seiner Rechtsordnung, die die Gleichheit aller<br />

Menschen herbeiführen und garantieren soll, davon aus, daß jede Garantie, die vom Bürger<br />

empfangen wird, auch eine übernommene Verpflichtung enthält:<br />

a) Der garantierte Arbeitsbereich: die Pflicht, nicht in den Tätigkeitsbereich eines anderen<br />

zu kommen. Der Bauer darf kein Korn mahlen und keine Äpfel verkaufen und der<br />

Müller und der Bäcker dürfen ihre Produkte, Mehl und Brot, nicht verkaufen, sondern<br />

dies darf nur der Händler.<br />

b) <strong>Die</strong> Erfolgsgarantie: es ist die Pflicht der Gemeinschaft, alle Leistungen der einzelnen<br />

restlos abzunehmen. Alles Korn, alles Mehl und alles Brot wird dem jeweils<br />

Produzierenden abgenommen.<br />

c) <strong>Die</strong> Versorgungsgarantie: jeder hat die Pflicht, seine Tätigkeit bestmöglich auszuüben<br />

und die Ergebnisse den anderen zur Verfügung zu stellen, wofür er auch seinen Anteil an<br />

allen Produkten der anderen erhält.<br />

Es erscheint einleuchtend, daß diese Garantien und Pflichten nur in einem planwirtschaftlichen<br />

System zu regeln sind, in dem kein Bürger mit dem Ausland Handel treiben darf, da das<br />

Ausland nicht der gesetzlichen Fassung des Plans der Gleichen unterworfen ist und somit die<br />

Prinzipien des Aquivalententausches, auf denen diese Gesellschaft beruht, in Frage stellen<br />

würde, die da sind:<br />

a) Das allgemeine Äquivalent ist die Kalorie und zwar in der Form des Brotgetreides,<br />

wobei der Wert aller anderen Lebensmittel durch die Zeit, die man damit im Vergleich<br />

zum Brotgetreide leben kann, bestimmt wird. 708<br />

b) Nahrungsmittel, die nicht dem reinen Überleben dienen, also Luxusgüter sind und die<br />

trotz höherer Kosten angebaut werden, haben den Wert in Brotgetreide, den die<br />

Produzenten in der gleichen Zeit mit der gleichen Mühe auf dem gleichen Boden hätten<br />

anbauen können. 709<br />

c) Der Wertanteil gewerblicher Produkte, der auf die Verarbeitung entfällt, soll nach der<br />

Kornmenge bestimmt werden, die der gewerbliche Arbeiter im Zeitraum der Herstellung<br />

für seine Ernährung benötigt, wobei hier anteilig die Lehrzeit etc. eingerechnet wird. 710<br />

707 Vgl.:Fichte 1979,17-23.<br />

708 Vgl.: Fichte 1979,30.<br />

709 Vgl.: Fichte 1979,32.<br />

710 Vgl.: Fichte 1979,30.<br />

226


d) Im ganzen sollen sich Preise ergeben, von denen sowohl die in der Landwirtschaft, als<br />

auch im Gewerbe Tätigen ebenso wie die Kaufleute "mit der ihrem Geschäfte<br />

angemessenen Annehmlichkeit leben können" 711 , so "daß alle die Genannten davon sich<br />

ernähren, und für das übrige die anderen ihrer Lebensart zukommenden Bedürfnisse<br />

eintauschen können." 712<br />

Im ganzen vertritt Fichte die These, daß die Einrichtung einer Planwirtschaft eine "moralische<br />

Notwendigkeit" 713 sei, da nur hier die Individuen nicht gegeneinander arbeiten, um ihre Ziele -<br />

ein angenehmes Leben - zu verwirklichen, sondern miteinander, nicht zuletzt da das<br />

"Volkseinkommen" in der rationalen Welt des reinen Geistes nur dann steigt, wenn die<br />

Konkurrenz "Jeder gegen Jeden" wegfällt und in einen produktiven Wettstreit übergeht.<br />

Nachteile, die sich aus dieser Wirtschaftsweise ergeben, also z.B. eine eingeschränkte<br />

Produktpalette, nehmen die Bürger in Fichtes Utopie gern in Kauf, weil sie den Sinn der<br />

Einschränkungen einsehen - oder wie Fichte an anderer Stelle sagt: "Dem höchsten Verstand<br />

zu gehorchen, ist jeder Freie verbunden; denn er ist das Gesetz der Freiheit, und nur inwiefern<br />

er diesem folgt, ist jeder frei (...) - ihm nicht folgend, ist er blinde Naturgewalt." 714 Hier muß<br />

auch die Kritik an Fichte einsetzen, denn einerseits hat die Realität der Planwirtschaften des<br />

selbsternannten Sozialismus verdeutlicht, daß, bei allen Unterschieden, die Menschen weder<br />

"vernünftig" im Sinne Fichtes sind noch sein wollen und daß andererseits die Reduktion der<br />

Individuen der Gesellschaft auf Minimal- und Durchschnittsbedürfnisse 715 auch einen Minimalund<br />

Durchschnittsmenschen zum Gegenstand und zum Ziel hat, der in weit stärkerem Maße<br />

einem Rädchen im Getriebe einer ihm fremden Maschine gleicht als einem emanzipierten<br />

Menschen.<br />

Bevor auf die spezifische Grundposition des utopischen Gleichheitspostulates eingegangen<br />

wird, liegt es nahe, sich die konkreten Argumentationen der Utopisten zu vergegenwärtigen,<br />

um diese anschließend in Beziehung zu den Aussagen selbst zu setzen. Nicht nur in den hier<br />

analysierten Utopien werden zwei Argumentationsweisen deutlich, die als materialistisch und<br />

institutionalistisch charakterisiert werden können, sondern diese erscheinen als<br />

Grundargumentationen der klassischen Utopien.<br />

1) <strong>Die</strong> utopische Argumentation erscheint materialistisch, weil sie den Standpunkt vertritt,<br />

daß die konkrete Ausprägung der Seinsverfassung und der Verhaltensweisen des<br />

Menschen in den materiellen Lebensumständen der Individuen nicht nur existentiell<br />

begründet, sondern funktional bedingt sind, wobei die Ungleichheit der materiellen<br />

Lebensumstände zwangsläufig Konflikte und die Gleichheit zwangsläufig Glückseligkeit<br />

nach sich zieht.<br />

711 Fichte 1979,32.<br />

712 Fichte 1979,32.<br />

713 Fichte 1979,58.<br />

714 Fichte, Johann Gottlieb; Sämtliche Werke; Berlin 1845-1846; Bd.4, S.444.<br />

715 "Es läßt sich sehr wohl denken, daß es einem hart falle, des chinesischen Tees plötzlich zu<br />

entbehren, oder im Winter keinen Pelz, im Sommer kein leichtes Kleid zu haben. Aber es läßt sich<br />

nicht einsehen, warum das erstere gerade ein Zobelpelz, oder das letztere von Seide sein müsse,<br />

wenn das Land weder Zobel noch Seide hervorbringt; und noch weniger, Stickerei von den<br />

Kleidern verschwände, durch welche ja die Kleidung weder wärmer, noch dauerhafter wird." (Fichte<br />

1979,93)<br />

227


2) <strong>Die</strong> utopische Argumentation erscheint institutionalistisch, insofern sie einerseits die<br />

konkreten, materiellen Lebensumstände nicht auf intersubjektive Verkehrsformen<br />

zurückführt, sondern deren Ursprung in den Institutionen vermutet und dies andererseits<br />

auch positiv gewendet für ihre Utopie reklamiert, da dort der Institution als normativer<br />

Instanz des Guten die alleinige und absolute Kontrolle über die Gesellschaft zukommt.<br />

<strong>Die</strong> Utopien wenden sich gerade nicht gegen die Institution schlechthin, als formalisierter<br />

Fassung des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft, sondern kritisieren die<br />

Institution des Privateigentums als Ursache für die ökonomische Ungleichheit lediglich<br />

von einer formalistischen Position aus und nicht etwa von einer naturalistischen oder<br />

anarchistischen Position, was zur Folge hat, daß für sie ein institutionalisiertes Leben in<br />

einer formalen Gleichheit als erstrebenswertes Ziel erscheint und die Frage der<br />

individuellen Freiheit als nebensächliche Spielerei unter den Tisch fällt.<br />

Trotz ihres unterschiedlichen Ansatzes (einerseits ontologisch-kausal, andererseits normativegalitär)<br />

eint beide Argumentationsweisen ihre Ausrichtung auf ein einheitliches Modell der<br />

besten aller möglichen Gesellschaften, die als institutionelle Fassung einer Gesellschaft auf der<br />

Grundlage absoluter Gleichheit im Hinblick auf das Privat- bzw. Gemeineigentum verstanden<br />

wird, denn nur auf dieser Grundlage kann in den Augen der Utopisten die Institution des<br />

gleichheitstiftenden Staates der Gleichen den Individuen unabhängig von ihren persönlichen<br />

Umständen ein Leben in Harmonie, Tugendhaftigkeit und Glück organisieren. Durch die<br />

Verknüpfung der beiden Argumentationen mit dem Ziel der Argumentation wird dieses Ziel<br />

selbst jedoch auch bestimmt, denn wenn es durchaus denkbar bleibt, daß in einer<br />

institutionellen Gesellschaft der ökonomisch Gleichen die Individuen sich unterscheiden und in<br />

einer Vielzahl von anderen Kriterien variieren, beschränkt der materialistische Ansatz durch<br />

seine Identifizierung von Lebensumständen und Persönlichkeit diese Kriterien auf die<br />

Kategorie des Geschlechtes und des Alters, 716 da selbst scheinbar "naturwüchsige"<br />

Unterschiede wie Gesundheit und Intellekt durch die Institutionen ausgeglichen werden. Trotz<br />

ihres bestechenden Plädoyers für die Schaffung einer materiellen Gleichheit als Grundlage für<br />

ein "menschliches" Leben der Individuen können die Utopien nicht ohne größere<br />

Transformationen in eine praktische Philosophie in der Tradition von Karl Marx integriert<br />

werden, weil sie unabhängig von ihrer mangelnden Durchdringung der Möglichkeiten ihrer<br />

Praxiswerdung, die sie mit einem Rekurs auf die Faktizität der Utopie aus der Welt schaffen,<br />

durch ihren rigiden Egalismus einerseits zwar Solidarität schaffen, aber andererseits jede Form<br />

der individuellen Freiheit bekämpfen müssen, da eine institutionell verordnete Gleichheit nur<br />

durch die faktische Unfreiheit in allen Belangen aufrechterhalten werden kann. Solange nicht<br />

das Individuum Ausgangspunkt und Gegenstand des Strebens nach ökonomischer Gleichheit<br />

ist und dieses auf seiner individuellen, freien Entscheidung beruht, kann auch das<br />

Gemeinschaftsgefühl, das zweifelsohne in einer solchen Gesellschaft entsteht, nicht als<br />

Zielpunkt der Emanzipation verstanden werden.<br />

Letztendlich unterscheidet sich die Gleichheitsvorstellung der Utopisten diametral von den<br />

zuvor behandelten Modellen, denn während in den antiken Gleichheitstheorien diese aus der<br />

716 Vgl. z.B.: Babeuf 1988,106.<br />

228


Natur des Menschen, aus den universellen Naturgesetzen oder göttlichen Heilslehren abgeleitet<br />

werden und dementsprechend nur als Relation für materielle Ordnungsprinzipien höherer<br />

Ordnung (Natur, Vernunft etc.) figurieren, entspringen in der Vorstellung der Utopisten<br />

Tugend, Gerechtigkeit, Glück und Harmonie aus dem Prinzip der materiellen Gleichheit selbst.<br />

Gleichheit wird so zur unabdingbaren Voraussetzung der Verwirklichung der menschlichen<br />

Existenz und argumentativ zur Kategorie höchster Ordnung. In der historischen Rückschau<br />

zeigt sich jedoch, daß beide Ansätze, trotz ihrer immanenten Logik und Stichhaltigkeit, nicht<br />

als exakte Fassung des Ausgangspunktes und Gegenstandes der Gleichheitsrelation verstanden<br />

werden können, da einerseits der abstrakte Rekurs auf eine ungewisse Natur des Menschen<br />

bzw. auf eine absolute und unfaßbare Vernunft Gleichheit zum Gegenstand mythischer<br />

Spekulationen macht und andererseits die Verabsolutierung einer spezifischen<br />

Gleichheitsrelation die Dialektik von Gleichheit und Ungleichheit der Menschen einseitig und<br />

damit unzureichend auflöst.<br />

Unabhängig von der philosophischen Suche der Utopisten nach Gleichheitsmodellen in den<br />

hohen Sphären des reinen Geistes gab es immer auch praktische Versuche der Umsetzung<br />

einer auf Gleichheit basierenden Gesellschaft, wobei den Gemeinschaften, die eine solche<br />

Interaktionsform der Menschen errichteten, teilweise selbst der Begriff der Gleichheit fehlte.<br />

Als früheste nachweisbare Gesellschaft mit explizit egalitären Prinzipien, das heißt mit einem<br />

nicht allein dem absoluten Mangel an Möglichkeiten zur Bildung von Privateigentum<br />

geschuldeten Streben nach ökonomischer, politischer und sozialer Gleichheit, können<br />

Protestbewegungen im asiatischen und arabischen Teil der Welt verstanden werden, zu denen<br />

ich Jean Chesneaux das Wort erteilen werde, da mir selbst auf diesem Gebiet die Kenntnisse<br />

fehlen: "Gewiß, die Protestbewegungen fanden im religiösen Bereich ihren Ausdruck, waren<br />

also mit den spezifischen religiösen Grundlagen einer jeden Gesellschaftsordnung, um die es<br />

ging, verhaftet. Sie stützten sich in China auf die kanonischen, archaischen Begriffe 'da-tong'<br />

und 'tai-ping', im Iran auf Erinnerungen an die Predigt der Manichäer und im Islam auf die<br />

Prinzipien der von Mohammed begründeten brüderlichen Gemeinschaft. Bald erwartet man die<br />

Ankunft des Mahdi, bald die des Milofu oder des Maitreya. Doch diese religiösen<br />

Unterschiede erscheinen als sekundär angesichts der Gemeinsamkeiten, die alle diese<br />

Bewegungen utopischer Vision bzw. egalitären Protestes aufweisen, das heißt angesichts ihres<br />

im wesentlichen bäuerlichen Charakters. Vor allem in den Dörfern sind die Träume von<br />

Gleichheit sowie die genossenschaftlichen Bräuche lebendig geblieben, und aus ihnen<br />

erwachsen den Bauernaufständen die Impulse, im mittelalterlichen Persien wie im kaiserlichen<br />

China, bis hin zu den burmesischen Bauern der Neuzeit. <strong>Die</strong> Utopien von Wohlstand,<br />

Gleichheit und Überfluß sind in Asien eng verbunden mit dem Bild des Landlebens und einer<br />

Wirtschaftswiese, die eben noch ausschließlich auf Feldarbeit und landwirtschaftlicher<br />

Nahrungsmittelproduktion beruht. (...) Eine andere Gemeinsamkeit aller dieser utopischen<br />

Träume ist die Doppeldeutigkeit zwischen Vergangenheit und Zukunft, so beim Mahdismus<br />

des Islam, dem Goldenen Zeitalter des Buddhismus und dem chinesischen 'da-tong'. <strong>Die</strong>se<br />

Utopien sind in der Tat außerhalb der Zeit angesiedelt und verleihen einer Weltanschauung<br />

229


Ausdruck, die sich nicht in die Dimension der Zeit einfügt und die der Idee des Fortschritts fast<br />

stets fremd gegenübersteht." 717<br />

In Europa manifestierten sich an Gleichheit orientierte Gesellschaften und Gemeinschaften im<br />

Dunstkreis einer fundamentalistischen Religiosität, die den trennenden Faktoren der realen<br />

Welt ihre Wertigkeit gegenüber der Gleichheit vor Gott absprach. 718 Realisierungsversuche<br />

dieser religiös inspirierten Gesellschaften mit umfassendem Gleichheitpostulat gab es durch die<br />

"Böhmischen Brüder" 719 , durch die Wiedertäufer in Münster 720 , durch die "Diggers" 721 , durch<br />

die Jesuitengemeinschaften in Paraguay 722 und durch viele andere mehr, deren Namen und<br />

Taten heute kaum noch bekannt sind.<br />

Einen anderen Weg als die Utopisten, die klassischen Gleichheitstheorien und die Versuche<br />

einer praktizierten Gleichheit gehen Hobbes und Rousseau, wenn sie Gleichheit weder als<br />

Essenz der Welt noch als einfache Folge einer ökonomischen Gleichschaltung begreifen,<br />

sondern auf der Grundlage von individualistisch-naturrechtlichen Prämissen<br />

Begründungsmodelle der rechtlichen und politischen Gleichheit zu entwickeln versuchen.<br />

Hobbes' revolutionärer Ansatz besteht dabei darin, daß er vor dem Hintergrund des englischen<br />

Bürgerkrieges und angesichts der Vorstellung, "daß die bisherigen Schriften der<br />

Moralphilosophen zur Erkenntnis der Wahrheit nichts beigetragen haben", 723<br />

naturwissenschaftliche Methoden, wie er sie aus den Werken Galilleis exemplifizierte, auf<br />

gesellschaftliche Phänomene übertrug. Durch die Ausdehnung der Methoden der scheinbar<br />

exakten Wissenschaften glaubte Hobbes auch deren selbsterklärte Genauigkeit und<br />

Eindeutigkeit in der Sphäre der Gleichheitsbegründung verankern zu können. 724 <strong>Die</strong>se absolut<br />

sichere Erkenntnis kann es für Hobbes gemäß der aristotelischen Prämissen nur dort geben,<br />

wo die Ursachen der Eigenschaften der Dinge - bzw. die erster Prinzipien - vollständig<br />

bekannt sind und diese Ursachen sind gemäß der naturwissenschaftlichen Methode nur dort<br />

717 Chesneux, Jean; <strong>Die</strong> egalitären und utopischen Traditionen im Orient; in: <strong>Dr</strong>oz, Jacques (Hrg.)<br />

Geschichte des Sozialismus; Frankfurt/Main 1974; Bd.1, S.61/62. Vgl. auch: Bauer, Wolfgang; China<br />

und die Hoffnung auf Glück: Paradiese - Utopien - Idealvorstellungen; München 1971; Franke,<br />

Otto; Staatssozialistische Versuche im alten und mittelalterlichen China; in: Sitzungsberichte der<br />

preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (philologisch-historische Klasse); Berlin 1931;<br />

Khella, Karam; Geschichte der arabischen Völker; Bremen 1994; Klima, Otakar; Mazdak - Geschichte<br />

einer sozialen Bewegung im sassanidischen Persien; Prag 1957.<br />

718 Vgl.: Mossé, Claude; Messianismus - Christentum - Häresien - Chiliansmus; in: <strong>Dr</strong>oz 1974 1,103-112;<br />

Grundmann, Herbert; Ketzergeschichte des Mittelalters; Göttingen 1963; vgl. außerdem: Bloch 1959.<br />

719 Vgl.: Müller, Josef; Geschichte der Böhmischen Brüder; Herrnhut 1923-1931.<br />

720 Vgl.: Schubert, Hans; Der Kommunismus der Wiedertäufer in Münster und seine Quellen;<br />

Heidelberg 1919; Karasek, Horst; <strong>Die</strong> Kommune der Wiedertäufer - Münster 1534/35; Westberlin<br />

1983.<br />

721 Vgl.: Berens, Lewis H.; The Digger Movement; London 1956; Petegorsky, David W.; Left Wing<br />

Democracy in the English Civil War - A study of the social Philosophy of Gerrard Winstanley;<br />

London 1940; Winstanley 1983 - vgl. dort vor allem auch das Nachwort von Hermann Klenner "'Ich<br />

spreche im Namen aller Armen' oder: <strong>Die</strong> gute alte Sache der Kommunisten" (Winstanley 1983,301-<br />

340).<br />

722 Otruba, Gustav; Der Jesuitenstaat in Paraguay - Idee und Wirklichkeit; Wien 1962; Muratori,<br />

Ludovico; Relation des missions du Paraguai; Paris 1757.<br />

723 Hobbes, Thomas; Vom Menschen - Vom Bürger; Hamburg 1966.<br />

724 Vgl.: Hobbes 1966,60/61.<br />

230


vollständig bekannt und gewiß, wo sie selbst geschaffen werden, 725 was sich jedoch bei<br />

Erkenntnissen über den Menschen als problematisch erweist, da sich der Mensch als<br />

natürliches Wesen im Unterschied zu abstrakten und künstlichen Dingen einer Konstruktion<br />

durch den Menschen entzieht. Entsprechend der Vorgehensweise der Naturwissenschaften<br />

kommt so der Methode der Analyse der Dinge eine besondere Bedeutung zu, denn wie es die<br />

"richtige" Methode ermöglicht, aus der Betrachtung der Einzelteile einer Uhr die Ursachen und<br />

die Bedeutung der Eigenschaften der einzelnen Elemente zu rekonstruieren, so glaubt Hobbes<br />

mittels der "richtigen" Methode "aus den uns sichtbaren Eigenschaften rückwärts schließen" 726<br />

zu können auf die Prämissen des gesellschaftlichen Seins der Menschen. Ausgehend von der<br />

These, daß die Naturwissenschaften nur natürliche Phänomene künstlich imitieren, indem sie<br />

z.B. Automaten als Nachbildungen von sich bewegenden Organismen erbauen, kommt<br />

Hobbes zu der zweifelhaften Einsicht, daß der Höhepunkt der menschlichen Kunst in der<br />

Schöpfung eines künstlichen Menschen seinen Ausdruck finde. <strong>Die</strong>ser "Leviathan" determiniert<br />

als Staat mittels seiner Gesetze die Menschen, die als Elemente eines umfassenden<br />

Bewegungsmechanismus verstanden werden, ebenso wie die mechanischen<br />

Bewegungsgesetze die Zahnräder einer Uhr. "<strong>Die</strong> Bezeichnungen gut, schlecht und<br />

verachtenswert sind immer nur von dem abhängig, der sie gebraucht. Es gibt nichts, was in sich<br />

und absolut gut, schlecht oder verachtenswert wäre, und es gibt auch keine Regel für Gut und<br />

Böse, die auf die Natur der Gegenstände selbst begründet wäre. Maßgeblich ist allein (wo es<br />

keinen Staat gibt) der einzelne Mensch, wo ein Staat besteht, derjenige, der ihn vertritt." 727<br />

Mittels dieses Konstruktes gelingt es Hobbes dann, die Dichotomie der Gleichheitsmodelle auf<br />

überraschende Weise zu lösen, indem er die alte These aufgreift, daß "die Menschen von<br />

Natur aus gleich (sind), sowohl in ihren körperlichen als auch in den geistigen Anlagen. Es mag<br />

wohl jemand erwiesenermaßen stärker sein als ein anderer oder schneller in seinen<br />

Gedankengängen, wenn man jedoch alles zusammen bedenkt, so ist der Unterschied zwischen<br />

den einzelnen Menschen nicht so erheblich, daß irgend jemand Veranlassung hätte, sich einen<br />

Anspruch daraus herzuleiten, den ein anderer nicht mit dem gleichen Recht geltend machen<br />

könnte." 728 "<strong>Die</strong>ser Gleichheit der Fähigkeiten entspringen die gleichen Hoffnungen ein Ziel zu<br />

erreichen. So werden zwei Menschen zu Feinden, wenn beide zu erlangen versuchen, was nur<br />

einem von ihnen zukommen kann." 729 Hobbes entwirft also das Modell einer<br />

individualistischen Gleichheit, die sich nicht in Relation zu anderen manifestiert, sondern<br />

einerseits ihren Ausdruck findet in dem allen Menschen gleichen Streben nach Selbsterhaltung,<br />

die die Möglichkeit der Vernichtung des Anderen einschließt, und andererseits in der<br />

individuellen Hoffnung, die konkreten Ziele, die sich der Einzelne setzt, auch erreichen zu<br />

725 Auf den Bereich der Ethik übertragen heißt dies für Hobbes, daß Erkenntnis dort nur möglich ist,<br />

wenn die Menschen "die Ursachen der Gerechtigkeit, nämlich die Gesetze und Abmachungen<br />

selbst schaffen." (Hobbes 1966,18)<br />

726 Hobbes 1966,19.<br />

727 Hobbes 1965,39/40.<br />

728 Hobbes 1965,96.<br />

729 Hobbes 1965,97.<br />

231


können. Da diese Gleichheit in Freiheit 730 für Hobbes ein wenig erstrebenswertes Ziel ist, denn<br />

"jeder Mensch sucht Frieden, solange er hoffen kann, dieses Ziel zu erreichen" 731 , konstruiert<br />

der rationale Mensch den Leviathan, der mittels Gesetzen die Freiheit der Einzelnen und damit<br />

auch ihre Gleichheit beschneidet. "Erst bürgerliche Gesetze brachten die jetzige Ungleichheit<br />

mit sich. Ich weiß wohl, daß Artistoteles in der Politeia seiner Lehre die Unterscheidung der<br />

Menschen in mehr oder weniger zu Befehlen geeignete zugrundelegt (...) ganz so, als beruhe<br />

die Unterscheidung von Herr und <strong>Die</strong>ner nicht auf menschlicher Übereinkunft, sondern auf<br />

verschiedener Geisteskraft; das aber widerspricht nicht nur der Vernunft, sondern auch der<br />

Erfahrung. (...) Sind die Menschen von Natur gleich geschaffen worden, so müssen sie diese<br />

Gleichheit auch anerkennen. Aber selbst wenn sie von Natur her nicht gleich wären, würden<br />

sie doch zustimmen, wenn ein jeder die gleichen Bedingungen vorfände. Man muß eine solche<br />

Gleichheit also auf jeden Fall annehmen. Daher lautet das neunte Naturgesetz: Ein jeder<br />

soll den Nächsten als seinesgleichen anerkennen." 732 Hobbes verwirft also einerseits die<br />

klassischen Spekulationen über die Möglichkeiten einer Wiederherstellung der natürlichen<br />

Gleichheit oder Ungleichheit und stellt andererseits dem utopischen Glauben an eine universelle<br />

Gleichheit der Menschen das düstere Konstrukt eines "bellum omnium contra omnes", als<br />

zwangsläufige Folge dieser Gleichheit, gegenüber, aus dem einzig der Vertragsstaat einen<br />

Ausweg weist, wobei drei Ausprägungen denkbar sind: Demokratie, Aristokratie und<br />

Monarchie. <strong>Die</strong> Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichheit im Hinblick auf die Partizipation<br />

an der Erarbeitung dieser Gesetze, die die Freiheit und die Gleichheit der Einzelnen<br />

einschränken, wird dabei für Hobbes zum zentralen Gleichheitspostulat, da alle universelleren<br />

Konzepte in Chaos und Krieg enden. Wenn Hobbes selbst die Monarchie als effizienteste<br />

Möglichkeit zur Aufrechterhaltung dieses Modelles präferiert, dann ändert dies nichts an der<br />

Tatsache, daß hier erstmals ein Gleichheitsmodell ohne Rekurs auf höhere Sphären des Seins<br />

(Götter, Natur etc.) entwickelt wird, welches durch seine normative Ausrichtung auf eine<br />

gleichheitstiftende Vernunft Ungleichheit begründet, um ein friedvolles Leben in rechtlicher<br />

Gleichheit zu gewähren.<br />

In eine ähnliche Richtung geht auch Rousseaus Theorie "Vom Gesellschaftsvertrag oder den<br />

Prinzipien des politischen Rechts" von 1762, die er wie Hobbes auf der Grundlage einer<br />

Anthropologie und einer Reihe naturrechtlicher Prämissen über den Zusammenhang von<br />

menschlicher Natur und politischer Ordnung errichtet, auch wenn seine Gedankengebäude sich<br />

weniger systematisch und präzise, mit Widersprüchen in der Entwicklung und nicht frei von<br />

Begriffsmystik präsentieren. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den beiden Denkern<br />

besteht in der Zielsetzung ihres Entwurfes eines Gemeinwesens, denn während für Hobbes die<br />

Effizienz im Mittelpunkt der Interaktionen steht, geht Rousseau davon aus, daß der legislative<br />

Akt des Gesellschaftsvertrages, trotz aller daraus resultierenden Hemmnisse, nicht Gegenstand<br />

730 "Freiheit bedeutet (im eigentlichen Sinn des Wortes) die Abwesenheit eines Widerstandes (mit<br />

Widerstand meine ich äußere Hindernisse, die eine Bewegung aufhalten). Von Freiheit kann man<br />

sowohl bei vernunft- und leblosen Dingen sprechen wie auch bei vernünftigen Wesen. (...) Der<br />

eigentlichen und auch allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes zufolge ist derjenige FREI zu<br />

nennen, den man nicht hindert, zu tun, was im Bereich seiner Kräfte liegt." (Hobbes 1965,164/165)<br />

731 Hobbes 1965,102.<br />

732 Hobbes 1965,122.<br />

232


einer rationalisierenden Repräsentation und Delegierung sein kann, sondern unmittelbar im<br />

Individuum verhaftet bleiben muß. <strong>Die</strong>ser Gegensatz hat seinen Ursprung in unterschiedlichen<br />

Rechtsprämissen, so legitimiert sich Recht für Hobbes nur vor dem Hintergrund des immer<br />

drohenden "bellum omnium contra omnes" als Beschränkung des Individuums, während bei<br />

Rousseau der Akt der Gesetzgebung zur irreduziblen moralischen Selbstbestimmung des<br />

Individuums in der Gesellschaft gerinnt, die so den Einzelnen nicht durch die Summe der<br />

Anderen beschränkt, sondern den Menschen auf der Grundlage der Interaktion aller<br />

Menschen neu schöpft. Rousseau differenziert gegenüber Hobbes bezüglich der Folgen der<br />

gesellschaftlichen Gleichheit in der Sphäre der Freiheit, denn während Hobbes die Gesellschaft<br />

als absolute Negation der Freiheit versteht, erklärt Rousseau, daß einerseits "der Verlust, den<br />

der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag erleidet, in dem Aufgeben der natürlichen Freiheit<br />

(besteht)" 733 , während andererseits "sein Gewinn sich in der staatsbürgerlichen Freiheit<br />

(äußert) und in dem Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt." 734 Rousseau denunziert die<br />

natürliche Freiheit, die Hobbes besingt, als "Trieb der bloßen Begierde" 735 und als<br />

"Sklaverei" 736 gegenüber der Natur, während "der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich<br />

selber vorgeschrieben hat, Freiheit (ist)" 737 , was in dieser Kürze bezweifelt werden kann und<br />

vor allem als negative Legitimation für die von Rousseau favorisierte, bürgerliche Gleichheit<br />

verstanden werden muß. Zu Recht kritisiert Rousseau die Spuren anthropologischer Prämissen<br />

in Hobbes Werk, ohne selbst ganz darauf verzichten zu können, 738 jedoch eröffnet seine<br />

These, daß "alle, die unaufhörlich von Bedürfnis, Begierde, Unterdrückung, Wünschen und<br />

Ehrgeiz sprechen, die Begriffe, die sie in der Gesellschaft aufgenommen haben, auf den<br />

Naturzustand übertragen (haben)" 739 , einen realistischen Blick auf diese Prämissen, auch wenn<br />

diese Kritik als generelle Zurückweisung universellerer Freiheits- und Gleichheitsgedanken<br />

intendiert ist, die sowohl in der klassischen Philosophie als auch in den Utopien immer in<br />

Verbindung mit dem "Wesen des Menschen" standen.<br />

In Bezug auf die hier behandelte Frage findet Rousseau "in der menschlichen Gattung zwei<br />

Arten der Ungleichheit. <strong>Die</strong> eine, die ich natürliche oder physische nenne, weil sie von der<br />

Natur gesetzt ist und im Unterschied des Alters, der Gesundheit, der Körperkraft und der<br />

Eigenschaften des Geistes und der Seele besteht. <strong>Die</strong> andere, die man die moralische oder<br />

politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Übereinkunft abhängt. Sie ist durch<br />

733 Rousseau 1984,53.<br />

734 Rousseau 1984,53.<br />

735 Rousseau 1984,53.<br />

736 Rousseau 1984,53.<br />

737 Rousseau 1984,53.<br />

738 "Es ist demnach gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das in jedem Individuum die<br />

Gewalt der Eigenliebe mäßigt und zur wechselseitigen Erhaltung der gesamten Gattung beiträgt. (...)<br />

Gerade das Mitleid nimmt im Naturzustand die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend ein,<br />

doch mit dem Vorteil, daß keiner versucht ist, nicht auf seine sanfte Stimme zu hören. (...) Gerade<br />

das Mitleid gibt allen Menschen an Stelle der erhabenen Maxime der Vernunftgerechtigkeit: 'Handle<br />

gegen andere so, wie du willst, daß man gegen dich handle', jene vielleicht nützlicher als die vorige<br />

ist: 'Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden wie möglich für den anderen." (Rousseau, Jean-<br />

Jacques; Schriften zur Kulturkritik - <strong>Die</strong> zwei Diskurse von 1750 und 1755; Hamburg 1971; S.174/176<br />

resp. S.175/177)<br />

739 Rousseau 1971,78 resp.79.<br />

233


die Zustimmung der Menschen gesetzt oder wenigstens ins Recht gesetzt worden. <strong>Die</strong>se<br />

besteht in den verschiedenen Privilegien, die einige zum Nachteil der andern genießen, wie<br />

etwa reicher, angesehener, mächtiger zu sein als andere, oder gar Gehorsam von ihnen<br />

verlangen zu können." 740 <strong>Die</strong>se Trennung der Gleichheitsrelationen erscheint auf den ersten<br />

Blick recht einleuchtend und ist ein zentrales Element des Modelles des Gesellschaftsvertrages,<br />

denn dadurch, daß die Ungleichheit im ersten Bereich als Folge des Schicksales präsentiert<br />

und bei Seite gelegt werden kann, schafft Rousseau eine scheinbare, auf Freiheit basierende<br />

Gleichheit in Bezug auf die politischen und gesellschaftlichen Gleichheits- und<br />

Ungleichheitsrelationen. <strong>Die</strong> auch von Rousseau im Naturzustand vermutete Ungleichheit<br />

verliert so ihre Bedeutung, denn für die Etablierung einer politischen Gleichheit bedarf es nur<br />

einer natürlichen Gleichheit in zweierlei Hinsicht: 1) In Bezug auf den Überlebenswillen des<br />

Individuums; 2) In Bezug auf die Willensfreiheit des Einzelnen. Nicht erst das Konstrukt der<br />

Willensfreiheit, auf das noch einzugehen sein wird, macht diese Gliederung der<br />

Gleichheitsrelationen problematisch, denn sobald sie über die Funktion einer reinen Gliederung<br />

hinaus geht und der Ignorierung der "natürlichen" Gleichheitsrelationen das Wort redet, wird<br />

die tiefe Dialektik der beiden Sphären zerstört. Auch wenn anerkannt werden sollte, daß<br />

Gesundheit und Intelligenz sich keineswegs außerhalb der menschlichen Gesellschaft<br />

konstituieren, sondern in einer eindeutigen Wechselwirkung zur gesellschaftlichen Stellung des<br />

Einzelnen in den von Rousseau angesprochenen Paradigmen stehen, folgt aus der Ignorierung<br />

der Faktoren Alter und körperliche Potenz einerseits eine mangelnde Analysemöglichkeit der<br />

Etablierung von Gesellschaftsverträgen im historischen Kontext, andererseits wird die zentrale<br />

Rolle der direkten, materiellen Gewalt in antiken Gesellschaften und in ihren Rückwirkungen<br />

auch auf die modernen Gesellschaften unnötig verschleiert. Ersteres erkennt Rousseau<br />

teilweise selbst, wenn er die Erblichkeit von Ämtern als höchsten Grad der Ungleichheit,<br />

Abhängigkeit und Unfreiheit brandmarkt 741 , jedoch müßte die Kritik weiter gehen in Bezug auf<br />

die Wahlmöglichkeiten des Individuums hinsichtlich der Gesellschaft, in die es hineingeboren<br />

werden möchte, bzw. in der es herangezogen wird. Auch die zweite Kritik nimmt Rousseau in<br />

gewisser Weise auf, wenn er die Sicherheit des Einzelnen vor Gewalt zum Ziel der Gesellschaft<br />

ernennt, 742 jedoch verkennt er, daß die Fähigkeit zur Gewalt nicht mit dem formalen Akt des<br />

Gesellschaftsvertrages verschwindet, sondern nur in neue Formen gegossen wird. Rousseau<br />

abstrahiert so von der Gewalt als Mittel der Hervorhebung der eigenen Interessen im<br />

konkreten Vertragsverhältnis und kommt zu der Vorstellung, daß "der Grundvertrag nicht etwa<br />

die natürliche Ungleichheit auf(hebt), sondern setzt im Gegenteil an die Stelle der physischen<br />

Ungleichheit, die die Natur unter den Menschen hätte hervorrufen können, eine sittliche und<br />

gesetzliche Gleichheit, so daß die Menschen, wenn sie auch an körperlicher und geistiger Kraft<br />

740 Rousseau 1971,76 resp. 77.<br />

741 Rousseau 1971,248/250 resp. 249/251.<br />

742 "'Eine Form der gesellschaftlichen Vereinigung gilt es zu finden, die mit der ganzen gemeinsamen<br />

Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und durch die<br />

jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereinigt, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei<br />

bleibt wie vorher.' <strong>Die</strong>s ist die Hauptaufgabe, deren Lösung der Gesellschaftsvertrag gibt."<br />

(Rousseau 1971,48)<br />

234


ungleich sein können, durch Übereinkunft und Recht alle gleich werden." 743 Es bleibt<br />

Rousseaus und seiner Anhänger Geheimnis wie Ungleiche in Bezug auf ihre geistigen<br />

Möglichkeiten und Ausprägungen dennoch eine Übereinkunft unter Gleichen schließen sollten,<br />

wenn sie gemäß eines gleichmäßig ausgeprägten Willens zum Überleben ein Maximum an<br />

individueller Partizipation anstreben. Rousseau erkannte dieses Problem selbst im konkreten<br />

Zusammenhang, ohne jedoch in seiner allgemeinen theoretischen Fassung Antworten geben zu<br />

können, denn selbst wenn man sich der Auffassung anschließt, "daß der Gesellschaftsvertrag<br />

unter den Staatsbürgern eine derartige Gleichheit herstellt, daß sich alle auf dieselben<br />

Bedingungen hin verpflichten und alle dieselben Rechte genießen müssen" 744 , bleibt zu fragen,<br />

inwieweit diese künstliche Gleichheit in Bezug auf etwas Neues - scheinbar nicht Wesentliches<br />

-, eine Bedeutung für die Menschen erlangt, die über die Gleichheit in Bezug auf den<br />

Hauptgewinn einer Lotterie hinausgeht.<br />

In den aktuellen Diskussionen figurieren Hobbes und Rousseau als Protagonisten einer<br />

Traditionslinie einer bedingten Gleichbehandlung, deren Ursprung im aristotelischen<br />

Proportionalitätsdenken liegen soll. 745 Auch wenn diese Bezugnahme in gewisser Weise<br />

berechtigt erscheint, denn sowohl in der klassischen, wie in der dezidiert bürgerlichen<br />

Gleichheitstheorie läßt sich eine Dominanz des formal-praktischen Prozederes gegenüber der<br />

Suche nach den Hintergründen der Gleichheits- bzw. Ungleichheitsrelationen nachweisen, die<br />

verblüffend an die prozessual-formalen Gerechtigkeitstheorien von Rawls, Nagel und<br />

Habermas erinnert, bleibt ähnlich wie bei den Gerechtigkeitstheorien zu fragen, welche<br />

Bedeutung die aus diesen Relationen abgeleiteten Handlungsanweisungen und moralischen<br />

Werturteile für die handelnden Subjekte erlangen können, solange eine umfassende Theorie<br />

der Gleichheit zwischen den Menschen fehlt. Christopher Jenck bereitet in seinem viel<br />

beachteten Buch "Chancengleichheit" 746 die Diskrepanz zwischen der verfassungsrechtlich<br />

verankerten Chancengleichheit aller Bürger und der realen Ungleichheit in vielen Gebieten mit<br />

Rekursen auf "Ungleichheit in den Schulen", "Ungleichheit der kognitiven Fertigkeiten",<br />

"Ungleichheit der nichtkognitiven Eigenschaften", "Ungleichheit der erreichten<br />

Bildungsabschlüsse", "Ungleichheit des Berufsstatus", "Einkommensungleichheit" und<br />

"Ungleichheit der Zufriedenheit am Arbeitsplatz" analytisch auf und kommt zu der<br />

abschließenden These, daß "eine erfolgreiche Kampagne zur Verkleinerung der ökonomischen<br />

Ungleichheit wahrscheinlich zwei Dinge voraus (setzt). Erstens müssen Menschen mit niedrigen<br />

Einkommen aufhören, ihre Lage als unvermeidlich und gerecht hinzunehmen. Statt wie<br />

glücklose Spieler zu hoffen, letzten Endes werde ihre Nummer oder die Nummer ihrer Kinder<br />

doch noch gezogen, müssen sie eine Änderung der Spielregeln fordern. Zweitens müssen<br />

743 Rousseau 1971,56.<br />

744 Rousseau 1971,62.<br />

745 Vgl. z.B.: Herwig 1984,198-200; Bärsch, Claus-Ekkehard; <strong>Die</strong> Gleichheit der Ungleichen - Zur<br />

Bedeutung von Gleichheit, Selbstbestimmung und Geschichte im Streit um die konstitutionelle<br />

Demokratie; München 1979; Leibholz, Gerhard; <strong>Die</strong> Gleichheit vor dem Gesetz; München 1959; Luf,<br />

Gerhard; Freiheit und Gleichheit - <strong>Die</strong> Aktualität im politischen Denken Kants; Wien 1978; Rees,<br />

John Collowyn; Soziale Gleichheit, Anspruch und Wirklichkeit eines politischen Begriffs;<br />

Frankfurt/Main 1974.<br />

746 Jenck, Christopher; Chancengleichheit; Reinbek 1973.<br />

235


Menschen mit hohen Einkommen und besonders die Kinder von Menschen mit hohem<br />

Einkommen anfangen, sich der ökonomischen Ungleichheit zu schämen. Wenn diese Dinge<br />

geschehen sollten, würden entscheidende institutionelle Änderungen in der Maschinerie der<br />

Einkommensverteilung politisch durchführbar." 747 Unabhängig davon, ob man sich den<br />

Lösungsvorschlägen derjenigen, die für eine Gleichheit der Menschen in Bezug auf elementare<br />

Bereiche ihres Lebens plädieren, anschließen kann oder nicht, offenbart sich die Frage nach<br />

der Begründbarkeit der Handlungsmaximen, die für diesen oder jenen Protagonisten einer der<br />

unzähligen Ungleichheitsrelationen ersonnen und proklamiert werden, als Damoklesschwert<br />

einer gleichheitstiftenden Praxis, die sich in leeren Appellen einem Subjekt a priori anbiedert.<br />

3.2.4. Subjekte der Gleichheit<br />

Als Ergebnis des letzten Kapitels kann die These formuliert werden, daß eine universelle<br />

Theorie der Gleichheit nicht existiert und daß vor diesem Hintergrund kein Weg daran vorbei<br />

führt, die konkreten Gleichheits- und Ungleichheitsrelationen von der Ebene der sie<br />

statuierenden Subjekte zu durchleuchten und zu hinterfragen, bevor auf das Verhältnis der<br />

Relationen untereinander eingegangen werden kann, auch wenn der Rekurs auf die<br />

philosophische Durchdringung der historischen Forderungen nach Gerechtigkeit auf eine<br />

Dominanz des Ökonomischen hinzudeuten scheint. Nicht zuletzt das Ausbleiben einer<br />

gesellschaftlichen Transformation in Folge von Gleichheitspostulaten wie sie Jenck erhob legt<br />

zwanzig Jahre später die Vermutung nahe, daß der abstrakte Appell an analytische Kategorien<br />

von Relationen dieser oder jener Ausprägung auch in Zukunft ähnlich wirkungsvoll bleibt wie<br />

Bittgottesdienste und Schlangenbeschwörungen. Solange unklar bleibt, warum Menschen in<br />

den konkreten Verhältnissen ungleich in Bezug auf diese Verhältnisse bleiben, sind<br />

emanzipatorische Aktionen in diesem Bereich nebulös und nichtig, gleichgültig, ob die Frage<br />

der Begründbarkeit mystischen Spekulationen 748 oder einer sinnstiftenden Praxis 749 weichen<br />

muß.<br />

Michael Walzer gelangt, ausgehend von einer Analyse der Ursachen, die in der Sphäre des<br />

distributiven Güterverhältnisses Ungleichheit erzeugen und aufrecht erhalten, zu der Auffassung,<br />

daß Gleichheit in diesem Sektor mittels dreier Prämissen erreicht werden kann, die da sind:<br />

"Gegenforderung I: Das dominante Gut, was immer es sei, ist so umzuverteilen, daß alle<br />

Mitglieder der Gemeinschaft oder zumindest eine breite Allgemeinheit in seinen Besitz gelangen<br />

- Implikation: das Monopol ist ungerecht. Gegenforderung II: Es muß dafür gesorgt werden,<br />

daß alle Sozialgüter eine autonome Verteilung erfahren - Implikation: die Dominanz eines<br />

einzelnen Gutes ist ungerecht. Gegenforderung III: Das gegenwärtig dominante Gut muß<br />

durch ein anderes, von einer anderen Gruppe monopolisiertes Gut substituiert werden -<br />

747 Jenck 1973,288.<br />

748 "Der Sinn der Weltgeschichte liegt, falls sie überhaupt einen hat, in der fortschreitenden<br />

Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit aller Menschen." (Harich 1975,62)<br />

749 "Equality is the great political issue of our time (...) The demand for equality obsesses all our<br />

political thought. We are not sure what it is (...) but we are sure that whatever it is, we want it."<br />

(Lucas, John Randolph; Against Equality; in: Philosophy 1965; S.296)<br />

236


Implikation: die bestehende Herrschafts- und Monopolstruktur ist ungerecht." 750 Unabhängig<br />

von der Vorliebe Walzers für die Worthülse Gerechtigkeit eröffnet diese Sichtweise den Blick<br />

auf drei zentrale Determinanten der ökonomischen Ungleichheitsrelationen der kapitalistischen<br />

Gesellschaft, zumindest wenn man sich der immanenten Logik dieses Gesellschaftssystemes<br />

verpflichtet sieht. Reichtum, Macht und Bildung können als wichtigste Kriterien angesehen<br />

werden, die, obzwar sie in keinem immanent logischen Zusammenhang zur Verteilung der<br />

Dinge selbst stehen, diese entscheidend dominieren und ihre innere Stuktur verschleiern.<br />

Theoretisch sind mehrere Modelle der Verteilung denkbar:<br />

1) Der existierende "freie" Austausch aller Waren im Hinblick auf die Dialektik von<br />

Angebot und Nachfrage bzw. Tausch- und Gebrauchswert unter Beibehaltung nicht<br />

direkt ökonomischer Faktoren. Gleichheit in Bezug auf die Verteilung von materiellen<br />

Gütern könnte dieses Modell nur erzeugen, wenn von absolut gleichen - sprich<br />

identischen - Menschen ausgegangen wird und eine Möglichkeit besteht, alle konkreten<br />

Ausprägungen von Unterschieden zwischen den Menschen ein für alle Mal zu<br />

eleminieren.<br />

2) Ein Austausch gemäß eines gesellschaftlich bestimmbaren Verdienstes kann als die<br />

klassische Lösung eines moralischen Gleichheitspostulates verstanden werden, wobei zu<br />

fragen bleibt, ob es möglich ist, ein universell gültiges Muster von Kriterien zu<br />

entwickeln, an dem sich die Warenzuteilung orientiert, denn eine schematische<br />

Gleichverteilung aller Güter auf alle Menschen wäre nur dann sinnvoll, wenn alle<br />

Menschen ebenfalls gleich wären.<br />

3) <strong>Die</strong> zum Ideal erhobene kommunistische Verteilung gemäß des individuellen<br />

Bedürfnisses berücksichtigt die Ungleichheit der Menschen in Bezug auf ihre<br />

individuellen Ausprägungen, ohne diesen einen Ewigkeitswert zu geben, wobei jedoch<br />

eingestanden werden muß, daß dieses Modell für die Verteilung von schönen und<br />

seltenen Gegenständen aller Art wenig bringt, sondern auf eine Grundversorgung<br />

beschränkt bleibt. Erst auf der Basis dieser Verteilungsform der elementaren,<br />

lebensnotwendigen Güter erlangt der auch heute noch von vielen geteilte Traum, daß<br />

jeder das erreichen kann, was er will, eine Bedeutung für das Leben der Individuen, die<br />

über psychopathische Wahnbilder im Angesicht der eigenen Verfaßtheit hinausgeht.<br />

Ein allgemeines Modell einer Gesellschaftlichkeit in einer nichtentfremdeten Welt, das Karl<br />

Marx entwickelt hat, kann als Matrix verwendet helfen, konkrete Gleichheits- und<br />

Ungleichheitsrelationen in Bezug auf ihre Möglichkeiten zu durchleuchten: "Setze den<br />

Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst<br />

du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die<br />

Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluß auf<br />

andre Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere<br />

Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zur Natur -<br />

muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung deines<br />

750 Walzer, Michael; Sphären der Gerechtigkeit - Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit;<br />

Frankfurt/Main 1992; S.40. Vgl. auch: Kirchhoff-Hund, Bärbel; Theorie sozialer Ungleichheit;<br />

Argument Studienheft Nr.47/1981.<br />

237


wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d.h.,<br />

wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine<br />

Lebensäußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist<br />

deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück." 751 Trotz der zugestandenen Brillanz, die hinter diesem<br />

Postulat deutlich wird und die es leicht macht, eine Verteilung gemäß der angeführten Kriterien<br />

einzufordern, bleibt auch weiterhin fraglich, warum die Güterverteilung in der Realität nicht<br />

gemäß des Bedürfnisses, sondern gemäß eines freien Austausches der Unfreien erfolgt. Auch<br />

der angesprochene Rekurs auf die determinierende Wirkung von Reichtum, Macht und<br />

Bildung kann nicht als hinreichende Begründung verstanden werden, solange nicht<br />

gesellschaftlich erzeugte und vermehrte Ungleichheit als irreduzible Tatsache anerkannt und das<br />

Projekt einer an Gleichheit interessierten Emanzipation ad acta gelegt werden soll. 752<br />

Ein alternatives Modell wurde in Kapitel 2 mit dem Rekurs auf den individuellen Anarchismus<br />

von Max Stirner entwickelt, jedoch bleibt fraglich, ob sich aus diesem Konzept des<br />

Individualismus eine Theorie der Gleichheit ableiten läßt, denn diese Gleichheit stände nicht in<br />

Beziehung zu den Dingen, sondern zu den subjektiven Interessen. Wenn Stirner einerseits das<br />

Verdienst zukommt, auf die Bedeutung der Unterdrückten zur Aufrechterhaltung der<br />

Unterdrückung hingewiesen zu haben, nähert sich seine Theorie andererseits in den<br />

ökonomischen Sphären einem absoluten Wirtschaftsliberalismus an, denn wenn einem Teil der<br />

Menschen weniger Dinge das schnöde Dasein versüßen als anderen, so liegt dies nach Stirner<br />

an dem mangelnden Interesse der Armen an ökonomischer Partizipation. Ein solcher Ansatz<br />

könnte zwar das angesprochene Problem der Gegensätzlichkeit von Wunschbild und Realität<br />

lösen, jedoch nur auf Kosten einer Streichung des Gleichheitspostulates aus dem Kanon der<br />

emanzipativen Forderungen. Der Stirner-Biograph und Wortführer des individuellen<br />

Anarchismus John Henry Mackay sah dies etwas gemäßigter als sein großes Vorbild und ließ<br />

seinen Protagonisten Auban ausrufen: "Gerecht allein ist die Freiheit: die Abwesenheit aller<br />

Gewalt und allen Zwanges. Ihre Basis wird gebildet durch die Gleichheit der Bedingungen für<br />

alle Menschen. Auf der Grundlage gleicher Lebensbedingungen das freie, unabhängige,<br />

751 MEW 40,567.<br />

752 Jean Baudrillard wendet sich vor diesem Hintergrund völlig von Gleichheitsbegriff ab: "<strong>Die</strong> beste<br />

Stratgie, um jemanden zu verlieren, ist es, alles zu beseitigen, was ihn bedroht, und ihm so all seine<br />

Abwehrkräfte zu nehmen; diese Strategie wenden wir gerade bei uns selbst an. Indem wir das<br />

Andere in all seinen Erscheinungsformen (...) beseitigen, ganz zu schweigen von den<br />

Unterschieden in Rasse und Sprache, indem wir alle Einzigartigkeit beseitigen, um eine völlige<br />

Positivität erstrahlen zu lassen, sind wir im Begriff, uns selbst zu beseitigen. (...) <strong>Die</strong>ses Paradigma<br />

des Subjekts ohne Objekt, des Subjekts ohne Anderen, zeigt sich in allem, was seinen Schatten<br />

verloren hat und sich selbst transparent geworden ist, bis hin zu den abgetöteten Substanzen: der<br />

Zucker ohne Kalorien, das Salz ohne Natrium, das Leben ohne Salz, die Wirkung ohne Ursache, der<br />

Krieg ohne Feind, die Leidenschaft ohne Gegenstand, die Zeit ohne Erinnerung, der Herr ohne<br />

Sklaven, der Sklave ohne Herrn, der wir geworden sind. Was wird aus einem Herrn ohne Sklaven?<br />

Er wird sich schließlich selbst tyrannisieren. Und aus einem Sklaven ohne Herrn? Es wird sich<br />

schließlich selbst ausbeuten. Heute sind beide in der modernen Form der freiwilligen Knechtschaft<br />

vereint: Unterwerfung unter die Datensysteme, unter die Rechensysteme – totale Effizienz, totale<br />

Performanz. Wir sind die Herren – zumindest die virtuellen – dieser Welt geworden, doch der<br />

Gegenstand dieser Herrschaft, der Zweck dieser Herrschaft sind verschwunden." (Baudrillard<br />

1996,171-173)<br />

238


souveräne Individuum, dessen einzige Forderung an die Gesellschaft in der Respektierung<br />

seiner Freiheit besteht und dessen einziges selbstgegebenes Gesetz die Respektierung der<br />

Freiheit der anderen ist - das ist das Ideal der Anarchie. (...) <strong>Die</strong> freie Konkurrenz, der Kampf<br />

'aller gegen alle', beginnt. <strong>Die</strong> künstlich geschaffenen Begriffe der Stärke und Schwäche<br />

müssen verschwinden, sobald die Bahn freigegeben ist und die Erkenntnis des echten<br />

Egoismus sich durchgerungen hat: daß das Wohlbefinden des einen das des andern ist und<br />

umgekehrt." 753 Es bleibt gerade hinsichtlich der ökonomischen Gleichheitsrelation fraglich, ob<br />

sich nicht mein Wohlbefinden auf der Grundlage des Elendes des Anderen formieren kann,<br />

und dies nicht nur solange ich diesem durch die Apostrophierung der "Werte" Reichtum,<br />

Macht, Bildung etc. Respekt aufnötige und abverlange, sondern auch weil diese Kriterien,<br />

obzwar nominell unabhängig von der konkreten ökonomischen Interaktion, Strukturmerkmale<br />

der gesellschaftlichen Totalität sind und nicht nur als solche erscheinen. <strong>Die</strong> von mir entwickelte<br />

Kritik an Nietzsches Konzept eines individuellen Willens zur Freiheit 754 , der eine Gleichheit<br />

der Willen sowohl voraussetzt wie intendiert, hat gezeigt, daß auch der Wille zur Freiheit und<br />

zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen sich nicht im luftleeren Raum des absoluten<br />

Geistes konstituiert, sondern sich in Interaktion mit den ungleichen Lebensrealitäten der mit<br />

Willen ausgestatteten Leiber zugleich deformiert und situiert. 755 Während einerseits die<br />

Implikation, daß auch nur dort eine Gleichheits- bzw. Ungleichheitsrelation besteht, wo die<br />

Subjekte dieser Relation gegen diese aufbegehren, geteilt werden kann, ist andererseits dieser<br />

Wille zur Schaffung von Veränderung eine zumeist nicht unmittelbar hinreichende Begründung,<br />

solange dem Willen keine Handlungen nachfolgen. Solange Polizei und Militär den Hungernden<br />

vom Brote trennen, erscheint diese universelle Eingebundenheit des konkreten Konfliktes<br />

einleuchtend und nachvollziehbar, jedoch fragt sich, ob in der Moderne, wo es dieser Mauern<br />

aus Blei nur selten bedarf, keinen Willen zur ökonomischen Gleichheit mehr gibt und damit<br />

Gleichheitsforderungen in dieser Sphäre Totentänzen einer vergangenen Zeit gleichen, oder ob<br />

der Wille vielleicht doch keine menschliche Qualität ist, über die wir nach eigenem Gutdünken<br />

verfügen können, sondern die sich in der unmittelbaren Konfrontation mit den Strukturen des<br />

Seienden bildet und immer nur das fahle Spiegelbild einer Welt zurückwirft, in der der Lebensund<br />

Freiheitswille als institutionalisiertes Schreckgespenst figuriert.<br />

Ein weiteres Detail, das zu klären ist, wenn es um die Subjekte der Gleichheit bzw. die<br />

Protagonisten der Gleichheits- und Ungleichheitsrelationen geht, ist die Frage ob es sich dabei<br />

um Differenzen zwischen Individuen in Bezug auf eine Singularität handelt, oder ob sich auch -<br />

oder ausschließlich - Relationen der angesprochenen Art zwischen gesellschaftlichen Gruppen<br />

formieren. Engels vertrat, ausgehend von der schon mehrfach angesprochenen marxschen<br />

Grundprämisse gegenüber Carlo Cafiero, folgende Auffassung: "Sie sagen, daß unsere<br />

753 Mackay, John Henry; <strong>Die</strong> Anarchisten - Kulturgemälde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts;<br />

Leipzig 1992; S.140/141.<br />

754 <strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong> 1997,114-129.<br />

755 Engels kommentiert die Apostrophierung des Willens zur revolutionären Potenz im Anti-Dühring<br />

bissig: "Wir haben hinlänglich gesehn, daß die völlige Gleichheit der beiden Willen nur solange<br />

besteht, als diese beiden Willen nichts wollen; daß, sobald sie aufhören, menschliche Willen als<br />

solche zu sein, und sich in wirkliche, individuelle Willen, in die Willen von zwei wirklichen<br />

Menschen verwandeln, die Gleichheit aufhört." (MEW 20,95)<br />

239


Freunde in Neapel mit der reinen Abstraktion nicht zufrieden sind, daß sie etwas Konkretes<br />

wollen, sich mit nichts anderem zufrieden geben als mit der Gleichheit und der sozialen<br />

Ordnung anstelle der Unordnung. Gut, wir sind bereit, mehr zu tun. Es gibt im Generalrat nicht<br />

einen Mann, der nicht für die völlige Abschaffung der sozialen Klassen wäre, und es gibt kein<br />

einziges Dokument des Generalrats, das nicht damit in Übereinstimmung stünde. Wir müssen<br />

uns von den Grundbesitzern und den Kapitalisten befreien, indem wir die verbündeten Klassen<br />

der Land- und Industriearbeiter an ihre Stelle setzen und sie drängen, sich aller<br />

Produktionsmittel zu bemächtigen: Boden, Werkzeuge, Maschinen, Rohstoffe und die Mittel,<br />

um während der zur Produktion notwendigen Zeit zu leben. Dadurch wird die Ungleichheit<br />

aufhören müssen." 756 Engels vertrat also scheinbar die These, daß die Klassen nicht durch die<br />

ökonomische Relation strukturiert werden, sondern als homogene Kollektive nur temporär in<br />

diese konkrete Verbindung in Bezug auf die Verfügungsgewalt über die Produktivkräfte<br />

eintreten, um diese schon bald - nach der <strong>Revolution</strong> - wieder zu verlassen. Neben dem<br />

Begriff der Klasse als sozialer Gruppe in Bezug auf eine Gleichheits- bzw.<br />

Ungleichheitsrelation steht seit dem Ende des 19.Jahrhunderts der Begriff der<br />

Gemeinschaft 757 , der, da er nicht auf die rein ökonomischen Interaktionen der Menschen<br />

beschränkt bleibt, zuerst kurz beleuchtet werden soll.<br />

Eine Gemeinschaft kann einerseits verstanden werden als eine aktive Gruppe von Individuen<br />

mit einem gleichen Interesse in Bezug auf ein gemeinsames Ziel oder als ein Konstrukt, das<br />

durch äußere Einflüsse formiert wird, ohne daß die Subjekte sich dessen bewußt sind. Der<br />

Marxismus versuchte, diese Dichotomie am Beispiel der von ihm präferierten Gemeinschaft<br />

"Arbeiterklasse" durch einen Verweis auf die Dialektik von Ding an sich und Ding für sich aus<br />

der Welt zu definieren, da so die Elemente eine Gemeinschaft auch ohne ihr Wissen schon<br />

dann bilden, wenn für einzelne das Ding erkennbar ist. Ziel dieser selbstbewußten Elemente<br />

einer Gemeinschaft wäre es dann, im Bündnis mit den anderen Subjekten der Gemeinschaft<br />

diese von einer Gemeinschaft an sich zu einer Gemeinschaft für sich zu transformieren, um so<br />

nicht länger als Individuen ohnmächtig einer feindlichen Totalität gegenüberzustehen, sondern<br />

als Teil der Gruppe machtvoller agieren zu können. Das Modell einer Gemeinschaft, die sich<br />

allein durch äußere Faktoren konstituiert, erscheint jedoch problematisch, solange nicht geklärt<br />

werden kann, ob es sich bei den Spekulationen Einzelner um reale Sachverhalte oder um<br />

Wunschbilder handelt, und auch der Rekurs auf die Möglichkeit zur Formierung einer<br />

Gemeinschaft für sich auf der Grundlage dieser vorerst individuellen Spekulationen sagt<br />

letztlich nichts über die reale Bedeutung dieser konkreten Gemeinschaft aus, da diese in einer<br />

entfremdeten Welt nicht selten das Resultat von Ideologien sind. Es bleibt fraglich, ob es<br />

einerseits überhaupt Gemeinschaften gibt, die sich auf rationaler Grundlage - ob aktiv oder<br />

passiv - formieren und andererseits wenn es sie geben sollte, ob es nicht genausoviele<br />

756 MEW 33,668.<br />

757 Vgl. z.B.: Tönnies, Ferdinand; Gemeinschaft und Gesellschaft - Abhandlung des Communismus und<br />

des Socialismus als empirische Culturformen; Leipzig 1887; oder auch Marx' Exzerpte und<br />

Lektürenotizen über das Buch "Der Gemeindelandbesitz - Ursachen, Verlauf und Folgen seines<br />

Zerfalls" von Maxim Kovalevskij (Moskau 1879); in: Harstick, Hans-Peter (Hrg.); Karl Marx über<br />

Formen vorkapitalistischer Produktion - Vergleichende Studien zur Geschichte des<br />

Grundeigentums; Frankfurt/Main 1977; S.2-109.<br />

240


Gemeinschaften gibt wie Menschen, da jedes Individuum durch seine konkreten Qualitäten<br />

und Interessen sich zwar von vielen anderen unterscheidet, aber gleichzeitig mit vielen anderen<br />

wieder übereinstimmt.<br />

Bei der Erhebung einer Gleichheitsforderung innerhalb einer Ungleichheitsrelation erscheint es<br />

verwunderlich, daß die Subjekte erst durch die Gleichheit ihrer Ungleichheit in Bezug auf eine<br />

konkrete Dinglichkeit zu einer Gemeinschaft werden, obwohl sie in anderen Relationen<br />

weiterhin Ungleiche bleiben, denn ausgehend von einer Vielzahl von Relationen,<br />

Gleichheitsforderungen und Subjekten könnte der circulus vitiosus nur dann durchbrochen<br />

werden, wenn alle gleich und damit identisch wären. Wie bei der Frage der konkreten Relation<br />

der Relationen offenbart sich auch bei der Frage nach den Subjekten der Gleichheitsforderung<br />

hinter dem Schleier postulierter Klarheit ein undurchsichtiges Gemenge von Dummheit und<br />

Lüge, aus dem jede These ihre Aura von Wahrheit erlangt. Wie am Beispiel des Mythos der<br />

Gerechtigkeit gezeigt wurde, könnte auch hier eine neue Wahrheit herbeigezaubert werden,<br />

oder - und dieser Weg soll im weiteren beschritten werden - mit einer weiteren Abstraktion<br />

die Funktionsweise selbst untersucht werden, indem nach gemeinsamen Elementen der<br />

konkreten Gleichheits- und Ungleichheitsrelationen geforscht wird, ohne die ganze Breite von<br />

existierenden und möglichen Gleichheitsrelationen, ihren Subjekten und ihren Forderungen<br />

darstellen und kritisieren zu müssen. Als große Gemeinsamkeit aller realen oder hypothetischen<br />

Gleichheitsforderungen ist das konkrete reale oder hypothetische Interesse der Subjekte von<br />

Relationen zur Veränderung des de facto zu nennen. Universelle Gleichheit der Möglichkeiten<br />

würde demnach erst dann bestehen, wenn es eine Gleichheit der Möglichkeit zur Entwicklung<br />

und Artikulierung dieses Interesses geben würde.<br />

Obwohl sich die Mehrzahl der Forscher der Bedeutung einer Differenzierung des Begriffes des<br />

"Interesses" gegenüber dem Begriffsfeld "Bedürfnis" bewußt ist und trotz einer Vielzahl von<br />

Untersuchungen über Geschichte und Gegenstand des Interessensbegriffes 758 bleibt diese<br />

Verknüpfung oft nebulös. Wenn z.B. Bosch fordert, daß "Bedürfnisse in Interessen<br />

transformiert werden (müssen), wenn sie in zielstrebiges und erfolgversprechendes Handeln<br />

umgesetzt werden und nicht in tatenloser Apathie oder sinnloser Auflehnung enden sollen" 759 ,<br />

dann bleibt erstens zu fragen, wer Bedürfnisse in Interessen transformiert, und zweitens,<br />

warum es eines Interesses bedarf, wenn das Bedürfnis als hinreichende Begründung für eine<br />

Handlung angesehen wird. Gegen eine solche Apostrophierung des Interesses als<br />

zielgerichteter Tätigkeitsform polemisieren Marx und Engels in der "Deutschen Ideologie",<br />

wenn sie feststellen, daß "im Interesse der reflektierende Bourgeois immer ein <strong>Dr</strong>ittes zwischen<br />

758 Vgl. zur Geschichte: Fuchs, Hans Jürgen/ Gerhardt, Volker; Interesse; in: Ritter, Joachim/ Gründer,<br />

Karl (Hrg.); Historisches Wörterbuch der Philosophie; Basel 1971ff.; Bd.4, S.478-494; und zur<br />

Begriffsbestimmung: Massing, Peter/ Reichel, Peter (Hrg.); Interesse und Gesellschaft: Definitionen<br />

- Kontroversen - Perspektiven; München 1977; Mittelstraß, Jürgen (Hrg); Methodologische<br />

Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie; Frankfurt/Main 1975; Nastansky, Heinz-<br />

Ludwig; Über die Möglichkeit eines interessenhermeneutischen Einstiegs in praktische Diskurse;<br />

in: Mittelstraß, Jürgen (Hrg.); Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen<br />

Handeln; Frankfurt/Main 1979; Neuendorff, Hartmut; Der Begriff des Interesses - Eine Studie zu<br />

den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx; Frankfurt/Main 1973.<br />

759 in: Katterle, Siegfried/ Krahn, Karl (Hrg.); Wissenschaft und Arbeitnehmerinteressen; Köln 1980;<br />

S.104.<br />

241


sich und seine Lebensäußerung (schiebt), eine Manier, die wahrhaft klassisch bei Bentham<br />

erscheint, dessen Nase erst ein Interesse haben muß, ehe sie sich zum Riechen entschließt." 760<br />

Trotz dieser Globalkritik der Bezugspunkte emanzipatorischer Philosophie darf der individuelle<br />

Faktor des subjektiven Interesses an einer Handlung nicht durch den gesellschaftlichen Faktor<br />

überdeckt werden, da sonst Interesse zur Worthülse einer Ideologie der richtigen und<br />

sinnvollen Handlungen wird, an der der einzelne Handelnde nur noch passiv - als Ausführender<br />

- partizipieren darf, oder eben auch nicht.<br />

Neuendorff arbeitet drei Merkmale interessenorientierten Handelns in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft heraus, die als exakte Fassung des bürgerlichen Interessenshorizontes verstanden<br />

werden können: "1. Interesseorientiertes Handeln unterstellt eigenverantwortliche Einzelne (...).<br />

Jeder ist vom anderen isoliert und verfolgt nur seine eigenen (selbstbezogenen) Interessen. (...)<br />

2. <strong>Die</strong> subjektive Definition einer Situation, in der die Akteure unabhängig voneinander nur<br />

eigene Interessen verfolgen, ist (...) für alle strukturell gleichartig (Modell: Marktmechanismus)<br />

(...). 3. Hinsichtlich der erstrebten 'Objekte' läßt sich interesseorientiertes Handeln als die<br />

Intention der Verfügung über generalisierte knappe Mittel bestimmen (...) - Reichtum, Macht,<br />

Prestige." 761 Der Ursprung dieser Ausprägungsmomente von Interessen kann in der<br />

Frühphase der warenproduzierenden Gesellschaft und der dort anzutreffenden Verbindung von<br />

Arbeit, Arbeitsteilung, Tauschneigung und Egoismus vermutet werden. Im Gegensatz zu einer<br />

Verteilung gemäß der individuellen Interessen erwarten wir in der kapitalistischen Gesellschaft<br />

laut Adam Smith "unsere Mahlzeit nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Bauerns und<br />

Bäckers, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an<br />

ihre Humanität, sondern an ihren Egoismus, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen,<br />

sondern von ihren Vorteilen." 762 Es gibt also scheinbar trotz aller Kritik gegenüber<br />

deterministischen Verknüpfungen von Seinslagen und Interessen einen strikten Zusammenhang<br />

zwischen dem gesellschaftlichen Umfeld und dem Interessen produzierenden Individuum, wenn<br />

z.B. Max Weber postuliert, daß "Klassenlage und Klasse (...) an sich nur Tatbestände gleicher<br />

(oder ähnlicher) typischer Interessenlagen bezeichnen, in denen der Einzelne sich ebenso wie<br />

zahlreiche andere befindet." 763 Während der Marxismus die Ökonomie als Springquelle der<br />

Interessen zu erkennen glaubte, 764 ist Schumpeter trotz aller Klassenmystik zuzustimmen,<br />

760 MEW 3,194. "Jeder verfolgt sein Privatinteresse und nur sein Privatinteresse; und dient dadurch,<br />

ohne es zu wollen und zu wissen, den Privatinteressen aller, den allgemeinen Interessen. Der Witz<br />

besteht nicht darin, daß, indem jeder sein Privatinteresse verfolgt, die Gesamtheit der<br />

Privatinteressen, also das allgemeine Interesse erreicht wird. Vielmehr könnte aus dieser abstrakten<br />

Phrase gefolgert werden, daß jeder wechselseitig die Geltendmachung des Interesses der anderen<br />

hemmt, und statt einer allgemeinen Affirmation, vielmehr eine allgemeine Negation aus diesem<br />

bellum omnium contra omnes resultiert. <strong>Die</strong> Pointe liegt vielmehr darin, daß das Privatinteresse<br />

selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse ist und nur innerhalb der von der<br />

Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebenen Mitteln erreicht werden kann."<br />

(Grundrisse; S.74)<br />

761 Neuendorff 1973,25/26.<br />

762 Smith, Adam; Der Reichtum der Nationen; Leipzig o.J.; S.9.<br />

763 Weber, Max; Wirtschaft und Gesellschaft; Köln 1964; S.223.<br />

764 "Da alle Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft durch Tätigkeit des Menschen vermittelt<br />

werden, muß man (...) auch vom menschlichen Verhalten ausgehen. <strong>Die</strong>ses Verhalten der Menschen<br />

wird stimuliert durch ihre Bedürfnisse und Interessen. <strong>Die</strong> Bedürfnisse und Interessen stellen<br />

242


wenn er erklärt, daß sich auf der Grundlage von "verschiedenen Definitionen des<br />

Klasseninteresses und auch aus den verschiedenen Meinungen darüber, wie sich die<br />

Klassenaktion selbst manifestiert, verschiedene Interpretationen ergeben werden" 765 , daß es<br />

also gerade keine einheitliche und für alle gleiche Verbindung von subjektivem Interesse an<br />

Gleichheit und realer Ungleichheit gibt. Vor diesem Hintergrund liegt der Schluß nahe, daß für<br />

die Suche nach den Subjekten der Gleichheitsrelationen der Klassenbegriff auf zweierlei Weise<br />

unzureichend bleibt, denn wenn Marx einerseits im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals<br />

herausstellt, daß "es sich um die Personen nur (handelt), soweit sie die Personifikation<br />

ökonomischer Kategorien sind" 766 , wird deutlich, daß es sich hier um eine abstrakte Gruppe<br />

auf der Grundlage einer interessensorientierten Analyse handelt und nicht per se um Menschen<br />

mit gleichen Interessen, und andererseits, daß jede Interpretation einer Ungleichheitsrelation<br />

aus einer Vielzahl individueller Interessen im Sinne einer Abstraktion ihre konkret individuelle<br />

Sichtweise und Interessenskonstellation extrahieren kann, ohne sich in immanente<br />

Widersprüche zu verwickeln oder die Realität offensichtlich unzureichend zu erfassen.<br />

Wenn sich auch hier erneut gezeigt hat, daß der Gemeinschaft der Klasse als Protagonistin<br />

einer Ungleicheitsrelation keine Bedeutung zukommt, die sie über andere Gemeinschaften<br />

erhebt, kann sie doch, da sie im Mittelpunkt der marxistischen Interessensanalyse steht, als<br />

Beispiel dienen, um drei Sichtweisen und Interpretationen des Verhältnisses von subjektiven<br />

und gesellschaftlichen Faktoren auf die Interessensentwicklung herauszuarbeiten. Während die<br />

subjektive Interessenskonzeption davon ausgeht, daß gesellschaftliche Verhältnisse nur über<br />

den Umweg des Bewußtseins wirksam werden und die Interessen bedingen, 767 vermutet die<br />

gesellschaftliche Interessenskonzeption die Interessen als Ausdruck der materiellen und<br />

sozialen Positionierung des Einzelnen ohne jegliche Differenzierung fassen und damit objektiv<br />

gewissermaßen die bestimmenden Faktoren ihres Verhaltens dar. <strong>Die</strong> vom Menschen realisierten<br />

Gesetze der Gesellschaftsentwicklung sind insofern ihrem Inhalte nach Interessen der Individuen<br />

und Kollektive. Bedürfnisse und Interessen der Menschen wiederum bilden sich im Prozeß der<br />

Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt, wobei die objektive Realität der<br />

bestimmende Faktor bei ihrer Bildung ist. Nun ist aber nicht die objektive Realität schlechthin, die<br />

die Interessen und Bedürfnisse der Menschen hervorruft, sondern es sind vor allem und in erster<br />

Linie die ökonomischen Verhältnisse und die aus den ökonomischen Verhältnissen resultierende<br />

soziale Stellung und Rolle, die die Interessen und Bedürfnisse bilden und die nun ihrerseits wieder<br />

das Verhalten der Menschen - vor allem das politische Verhalten - bestimmen." (Söder, Günter;<br />

Politik und Ökonomie im sozialistischen Gesellschaftssystem; in: DZfPh Sonderheft 1969; S.100)<br />

765 Schumpeter, Joseph; Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie; Tübingen 1987; S.32. Ähnlich<br />

widersprüchlich wie Schump eter präsentiert sich auch der Beitrag zur "Einführung in die politische<br />

Soziologie" von Wulf Hund, wenn er anknüpfend an Lenin erklärt, daß "ideologische Einheitlichkeit<br />

ein Ordnungsprinzip (ist), das über Diskussion und Kritik immer wieder hergestellt werden muß. <strong>Die</strong><br />

Einheit der Aktion bleibt nur sinnvoll, wenn ihr Ziel auf adäquater Interessenswiderspiegelung, also<br />

auf wissenschaftlicher Grundlage, die Diskussion und Kritik erfordert, bestimmt wird. Dadurch wird<br />

aber nicht nur die Aktionsfähigkeit gewährleistet, sondern auch die Notwendigkeit des<br />

Aktionsbündnisses bewiesen. (...) Der Klassencharakter der Interessen schließt nicht aus, daß<br />

Überschneidungen der unterschiedlichen Interessenlagen existieren, die zur Grundlage<br />

gemeinsamen politischen Handelns verschiedener Klassenkräfte werden können." (Hund, Wulf;<br />

Interesse und Organisation; Argument Studienhefte Nr.48/1981; S.70)<br />

766 MEW 23,16.<br />

767 Vgl.: Demin, M.W.; Zur Natur des Interesses; in: Sowjetwissenschaft -<br />

Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge Nr.11/1972; S.1188.<br />

243


erkennen zu können. 768 Mittels der dialektischen Sichtweise kann eine dialektische<br />

Interessenskonzeption aus diesen beiden Extrempositionen konstruiert werden, in der dem<br />

Vermittlungsprozeß zwischen materiell-gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem<br />

Bewußtsein als Formbestimmung der individuellen menschlichen Praxis ein besonderer<br />

Stellenwert zukommt, da Interessen als Resultate dieser Subjekt-Objekt-Dialektik als<br />

Triebkräfte des gesellschaftlichen Lebens der Einzelnen verstanden werden können. 769 Selbst<br />

innerhalb des Marxismus konstituierte sich ein Problembewußtsein in dieser Frage, wenn z.B.<br />

Frank Deppe einforderte, daß sich "eine komplexe Bestimmung des gesellschaftlichen<br />

Bewußtseins (...) weder auf eine mechanische Reduktion (im Sinne der passiven<br />

Widerspiegelung von Arbeits- und Lebenserfahrung durch das Bewußtsein) noch auf eine<br />

formale Zurechnung empirisch bestimmbarer Bewußtseinsformen zu a priori deduzierten<br />

Kategorien (z.B. tradeunionistisches Klassen-Bewußtsein) beschränken darf" 770 , denn trotz<br />

der Möglichkeiten einer Annäherung an das Problem, die aus der dialektischen<br />

Interessenskonzeption resultieren, enthält die Gleichung mehr Unbekannte als einem seriösen<br />

Wissenschaftler lieb sein kann. Von dieser Warte aus erscheint die marxistische Propagierung<br />

eines Primates der Ökonomie als geniale, aber unzulässige Vereinfachung der<br />

Interessensbestimmung in der nun zentral gewordenen Ungleichheitsrelation. Selbst Gegner<br />

einer an Gleichheit orientierten Emanzipation bewerten die Forderungen nach ökonomischer<br />

Gleichheit als prinzipiell zulässig und partiell gerechtfertigt, wenn - so ihre Argumentation 771 -<br />

diese ökonomische Gleichheit auf einer Gleichheit der ökonomischen Leistungen fußt. Trotz<br />

der zeitweilig destabilisierenden, also positiven Folgen für die Welt des de facto darf einer<br />

Legitimierung dieser marxistischen Vereinfachung der Beziehung zwischen Interesse,<br />

individueller und gesellschaftlicher Situation nicht das Wort geredet werden, weil die sonst in<br />

der Realität ablaufenden Differenzierungsprozesse den analytischen Augen des Betrachters<br />

verschlossen bleiben. Wenn berücksichtigt wird, daß der Marxismus diesen Problemen durch<br />

eine Summierung der konkreten Ungleichheitsrelationen mit erhobenen Gleichheitsforderungen<br />

gerecht werden wollte, zeigt dies, daß weder den Trägern eines einzigen konkreten<br />

Gleichheitsinteresses noch der Addition von sich in der Realität konstituierenden<br />

Gleichheitsinteressen eine hinreichende Stellung als Subjekte berechtigter<br />

Gleichheitsforderungen zukommt, daß also die aus einer problematischen Vereinfachung einer<br />

komplexen Relation resultierenden Fehler durch die Übertragung auf andere Bereiche nicht<br />

verringert werden können, da die Summe aller realen und aller möglichen<br />

Gleichheitsforderungen auf einen absolut gleichen, sprich identischen Menschen hinauslaufen.<br />

Da dies weder ein realistisches noch ein wünschenswertes Ziel ist, muß eingestanden werden,<br />

daß die Analyse der Subjekte von Gleichheitsforderungen in Bezug auf deren konkrete Form<br />

als Individuum oder Gemeinschaft wenig hilfreich ist - mit anderen Worten, das Problem, die<br />

Relation der Relationen zu strukturieren, potenziert sich durch die Einführung von<br />

768 Vgl.: Demin 1972,1190.<br />

769 Vgl.: Demin 1972,1187.<br />

770 Deppe, Frank; Arbeiterbewußtsein und Krise; in: Forum Kritische Psychologie Nr.3/1978 =<br />

Argument-Sonderband Nr.28/1978; S.187.<br />

771 Vgl. z.B.: Beck, Ulrich; <strong>Die</strong> Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne,<br />

Frankfurt/Main 1986; S.121-148.<br />

244


Gemeinschaftsinteressen neben den individuellen Interessen derart, daß die gewonnenen<br />

Klarheiten erneut verschwimmen.<br />

Festzuhalten ist nach dem bisher Gesagten, daß sich zwei Modelle einer partiellen<br />

hypothetischen Gleichheitsrelation anbieten, einerseits auf ihre Wechselwirkung mit anderen<br />

Relationen hin untersucht zu werden und andererseits in Verbindung gebracht zu werden mit<br />

einer dialektischen Interessenskonzeption auf der Basis der individuellen Grundbedürfnisse der<br />

Menschen am Ausgang des zweiten Jahrtausends der Zeitrechnung der Moderne. Der Begriff<br />

des Bedürfnisses unterscheidet sich insoweit vom Begriff des Interesses, als er nicht als<br />

Abstraktion, sondern als Reduktion auf scheinbar universelle Mindestgrenzen verstanden<br />

werden kann, ohne die ein Überleben und auch die Formierung von Interessen nicht möglich<br />

erscheint, und daß er doch kein bewußtes Erfassen impliziert, welches dem Interesse durch<br />

seine Ethymologie anhaftet. 772<br />

Schon Hegel maß den Bedürfnissen und deren Befriedigung eine große Bedeutung auf dem<br />

Weg der Emanzipation zu, wenn er in der Enzyklopädie die These aufstellte, daß "Bedürfnis,<br />

Trieb die am nächsten liegenden Beispiele vom Zweck (sind). Sie sind der gefühlte<br />

Widerspruch, der innerhalb des lebendigen Subjekts selbst stattfindet, und gehen in die<br />

Tätigkeit, diese Negation, welche die noch bloße Subjektivität ist, zu negieren. <strong>Die</strong><br />

Befriedigung stellt den Frieden her zwischen dem Subjekt und Objekt, indem das Objektive,<br />

das im noch vorhandenen Widerspruche (- dem Bedürfnisse) drüben steht, ebenso nach<br />

dieser seiner Einseitigkeit aufgehoben wird, durch die Vereinigung mit dem Subjektiven." 773<br />

Durch die Befriedigung der Bedürfnisse würden demnach alle Ungleichheitsrelationen fallen<br />

und die Menschen eine friedliche Gesellschaft der Gleichheit der Ungleichen schaffen, denn<br />

wie es Marx formuliert, "solange das Bedürfnis des Menschen nicht befriedigt ist, ist er im<br />

Unfrieden mit seinen Bedürfnissen, also mit sich selbst." 774 Vor diesem Hintergrund scheint<br />

die Frage nach den Möglichkeiten der Gleichheit durch einen Rekurs auf den Gegenstand der<br />

Bedürfnisse und auf die Möglichkeiten ihrer Befriedigung lösbar zu sein. Aber was sind diese<br />

Bedürfnisse und sind sie für alle Menschen gleich?<br />

Als Träger von Bedürfnissen und damit als Subjekte ihrer Befriedigung können nur Individuen<br />

gedacht werden, weil es trotz aller Gruppen- und Gemeinschaftsdynamik schon bei Marx<br />

weder die "Gesellschaft als Subjekt" 775 noch als "Person" 776 gibt, auch wenn er an anderer<br />

Stelle davon spricht, daß "die Bedürfnisse der Völker in eigener Person die letzten Gründe<br />

ihrer Befriedigung (sind)." 777 Wenn den Differenzierungsprozessen der Gesellschaft Rechnung<br />

getragen werden soll, dürfen gemeinschaftliche Interessen wie etwa die Sicherung der Existenz<br />

der Spezies Mensch nicht übergangen werden, jedoch kommt ihnen im Hinblick auf die<br />

Schaffung einer Gesellschaft der Gleichheit eine geringere Bedeutung zu als der individuellen<br />

Bedürfnisbefriedigung, da unter dem Mantel des Kollektiven schon bei Antiphon jede<br />

772 So bezeichnen sowohl die englische Form "interest" als auch die fanzösische "interêt" (=Zinsen)<br />

ökonomisch-finanzielle Dinglichkeiten.<br />

773 Hegel 1991,178.<br />

774 MEW 19,363.<br />

775 MEW 3,37.<br />

776 MEW 3,187.<br />

777 MEW 1,381.<br />

245


Forderung nach konkreter Gleichheit in Ungleichheitsrelationen im Keim erstickt werden kann.<br />

Eine Reduktion des Individuellen auf ökonomische Kategorien, wie dies der Marxismus<br />

unternommen hat, und die darauf fußende Konstruktion eines "Menschen an sich", wie sie im<br />

westlichen Marxismus anzutreffen ist, ist mit derselben Begründung abzulehnen wie die<br />

Einführung eines Stufenmodelles, in dem zwischen allgemeinen und individuellen Bedürfnissen<br />

getrennt wird. Wenn in der Bedürfnisforschung zwischen elementaren-organischen und<br />

entwickelten-menschlichen 778 , sinnlich-vitalen und produktiven 779 , physischen und sozialen 780 ,<br />

bio- und soziogenetischen 781 Bedürfnissen unterschieden wird, kann auf Adornos Warnung<br />

rekurriert werden, nach der "das gesellschaftliche und das natürliche Moment des Bedürfnis<br />

sich nicht als sekundär und primär abspalten (lassen)" 782 , denn während es einerseits<br />

einleuchtend erscheint, zwischen dem Bedürfnis nach Sicherung der individuellen Existenz und<br />

kulturell-geistigen Bedürfnissen zu trennen, bleibt andererseits zu fragen, wie und wo sich die<br />

Nahtstelle bzw. die Trennungslinie konstituiert. Schon Engels polemisierte gegen eine solche<br />

Trennung und erklärte auf die Frage nach dem Wesen des Menschen, daß dieser "halb Tier,<br />

halb Engel" 783 sei und Irene Döllinger fragte pointiert, ob man sich kulturelle Bedürfnisse<br />

freischwebend vorstellen müsse, "als 'Geist über den Wassern'?" 784 Vielleicht kann ein<br />

Rückblick auf die konkrete Genese der Bedürfnisse und ihrer philosophischen Durchdringung<br />

Aufschluß über ihre innere Struktur geben, denn trotz aller Kritik des Modelles von Hauptund<br />

Nebenbedürfnis scheint offensichtlich, daß nicht zuletzt die gesellschaftliche Verfaßtheit<br />

dem Individuum ein differenziertes, aber nicht beliebiges Bedürfnismuster aufgeprägt hat, das,<br />

da es zu einem Großteil unbewußt bleibt, nur anhand der daraus folgenden Handlungen und<br />

Bewußtseinsformen erfahrbar wird.<br />

Marx verstand die Entwicklung der Bedürfnisse im Individuum vom Erleiden zum Handeln als<br />

"praktischen Ausdruck der Notwendigkeit" 785 , denn für das Individuum wird "jede seiner<br />

Wesenstätigkeiten und Eigenschaften, jede seiner Lebenstriebe (...) zum Bedürfnis, zur Not,<br />

die seine Selbstsucht zur Sucht nach anderen Dingen und Menschen außer ihm macht." 786<br />

Während sich in der kindlichen Lebenswelt die Wandlung von der Not zur Notwendigkeit<br />

weitgehend unbewußt vollzieht, manifestiert sich beim erwachenden Menschen schon bald die<br />

778 Sève 1973,323.<br />

779 Holzkamp -Osterkamp, Ute; Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung Bd.2: <strong>Die</strong><br />

Besonderheit menschlicher Bedürfnisse - Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse;<br />

Frankfurt/Main 1976; S.23.<br />

780 Diliganski, G.G.; Probleme der Theorie der menschlichen Bedürfnisse; in: Sowjetwissenschaft<br />

Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge Nr.3/1977.<br />

781 Engels, Heinrich; Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Bedürfnisentwicklung in der<br />

Freizeit; in: Akademie der Wissenschaften der DDR: Beiträge des III. Internationalen Symposiums<br />

zur Theorie und Geschichte der Soziologie und des 4.Bedürfniskolloquiums; Berlin/DDR 1989.<br />

782 Adorno; Thesen über Bedürfnis (1942); in: ders.; Gesammelte Schriften; Frankfurt/Main 1970ff.;<br />

Bd.8, S.392.<br />

783 MEW 21,282.<br />

784 Dölling, Irene; Individuum und Kultur; Berlin/DDR 1986; S.197/198.<br />

785 MEW 2,38. Vgl. auch: Kusnezow, Wassili; Zu den philosophischen Auffassungen von Karl Marx<br />

und Friedrich Engels über das Wesen und die Arten der Bedürfnisse; in: Marx-Engels -Jahrbuch<br />

Nr.11/1989; S.39-72.<br />

786 MEW 2,127.<br />

246


Einsicht, daß "zum Leben vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges<br />

Andere (gehört)." 787 In der modernen Welt tritt mittels der Produktion und Konsumtion bzw.<br />

der Gesellschaft eine Vielzahl von Bedürfnissen an den Menschen heran, wobei vor allem die<br />

Konsumtionsbedürfnisse der warenproduzierenden Gesellschaft individuelle Bedürfnisse zu<br />

wecken verstehen, oder wie es Marx ausdrückt, "der Kunstgegenstand - ebenso jedes andre<br />

Produkt - schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. <strong>Die</strong> Produktion<br />

produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den<br />

Gegenstand." 788 <strong>Die</strong>s kann entweder kritisiert werden, wie es Peter Hacks tut, wenn er<br />

bemerkt, daß "das genußvolle Aneignen der stofflichen und geistigen Wirklichkeit die<br />

Betätigung (...) aller menschlichen Vermögen (ist, aber) im Spätkapitalismus wird (...) auf die<br />

falsche Weise produziert und konsumiert, lebt der Mensch mit (...) Rausch und Reklame" 789 ,<br />

oder aber es kann verstanden werden als "Geheimnis der 'productive consumtion'" 790 und<br />

Schlüsselbegriff der marxschen Bewußtseinstheorie. 791 Den Prozeß einer<br />

produktionsbedingenden Konsumtion sieht Marx selbst in geistigen Sphären wirksam werden,<br />

wenn er an Nikolai Danielson schreibt, daß "man den gegenwärtigen Verlauf beobachten<br />

(muß), bis die Dinge ausgereift sind, dann erst kann man sie 'produktiv konsumieren', das heißt<br />

'theoretisch'." 792 Wie weit geht jedoch diese Wechselwirkung 793 bzw. hat der Marxismus<br />

doch recht, wenn er behauptet, daß die Produktion von Konsumenten soweit determiniert<br />

wird, daß nur noch zwei erkennbare Gruppen übrigbleiben?<br />

Neben den Einflüssen auf die Bedürfnisstruktur der Individuen, die aus der Produktion<br />

entspringen, sieht Marx demographische 794 , gesamtgesellschaftliche 795 und kulturelle<br />

Prozesse 796 als Determinanten der Bedürfnisentwicklung an. Während der Marxismus den<br />

787 MEW 3,28.<br />

788 MEW 42,27.<br />

789 Hacks, Peter; Essais; Leipzig 1983; S.219/220.<br />

790 MEW 23,597.<br />

791 Vgl. Traut, Heinrich; Bedürfnis; in: HKWM 2,125; ders.; Zur Dialektik von Arbeit und Bedürfnissen<br />

im Sozialismus und Kommunismus; Berlin/DDR 1967.<br />

792 MEW 34,371.<br />

793 "Wenn es klar ist, daß die Produktion den Gegenstand der Konsumtion äußerlich darbietet, so ist<br />

daher ebenso klar, daß die Konsumtion den Gegenstand der Produktion ideal setzt, als innerliches<br />

Bild, als Bedürfnis, als Trieb und als Zweck. Sie schafft die Gegenstände der Produktion in noch<br />

subjektiver Form. Ohne Bedürfnis keine Produktion. Aber die Konsumtion reproduziert das<br />

Bedürfnis." (MEW 42,27)<br />

794 Am Beispiel des Untergangs des römischen Reiches verdeutlichen Marx und Engels, daß "bei dem<br />

erobernden Barbarenvolke der Krieg selbst noch (...) eine regelmäßige Verkehrsform (ist), die um so<br />

eifriger exploitiert wird, je mehr der Zuwachs der Bevölkerung bei der hergebrachten und für sie<br />

einzig möglichen rohen Produktionsweise das Bedürfnis neuer Produktionsmittel schafft." (MEW<br />

3,23)<br />

795 "Unsre Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie daher an der<br />

Gesellschaft; wir messen sie nicht an den Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie<br />

gesells chaftlicher Natur sind, sind sie relativer Natur." (MEW 6,412)<br />

796 "<strong>Die</strong> natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind<br />

verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes.<br />

Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein<br />

historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem<br />

auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und<br />

247


scheinbar "objektiven Aspekt der materiellen Produktion" 797 zur zentralen Determinante einer<br />

"konsequent materialistischen Position" 798 ernennt, neben der alle anderen Elemente zu<br />

subjektivistischen Spielereien verkamen, bezeichnet Seev Gaziet Bedürfnisse lediglich "als<br />

objektive Notwendigkeiten für ein menschenwürdiges Leben" 799 und trifft damit den Nagel auf<br />

den Kopf, denn nicht die abstrakte Interpretation von der Bedeutung der individuellen<br />

Bedürfnisse im Geflecht der gesamtgesellschaftlichen Totalität befriedigt das konkrete Subjekt,<br />

sondern nur die Erfüllung der eigenen, konkreten Wünsche und Träume, selbst wenn sie für<br />

jeden anderen als nichtiger Unsinn erscheinen. Marx spricht vor allem der Arbeit in diesem<br />

Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, wobei in Kapitel 3.1.3. gezeigt wurde, daß es<br />

sich dabei nicht um die konkrete Form der kapitalistischen Lohnarbeit handelt, sondern um<br />

Arbeit als ein Instrument der Selbstbefreiung des Menschen, und kritisiert an Adam Smith, daß<br />

dieser nicht anerkennen wollte, daß "das Individuum 'in seinem normalen Zustand von<br />

Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit' auch das Bedürfnis einer<br />

normalen Portion von Arbeit und von Aufhebung der Ruhe (hat)." 800 <strong>Die</strong>ses nach Marx<br />

zentrale Bedürfnis nach Arbeit bezieht sich auf eine Tätigkeit, bei der "außer der Anstrengung<br />

der Organe, die arbeiten, der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit, für die ganze<br />

Dauer der Arbeit (äußert)" von zentraler Bedeutung ist, und dies "um so mehr, je weniger sie<br />

durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt,<br />

je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt." 801 In<br />

die gleiche Richtung geht Klaus Holzkamps These, nach der "Handlungsfähigkeit, die<br />

allgemeinste Rahmenbedingung eines (...) menschenwürdigen Daseins" 802 umschreibt, und<br />

auch Peter Weiss sieht in der Arbeit das "schöpferische Prinzip, das Wesen der<br />

Menschengattung" 803 am Werk, ohne daß dieses Bedürfnis damit aus dem undurchdringbaren<br />

Gefüge von Bedürfnissen, Wünschen und Träumen herausfallen würde, denn Tätigkeit kann<br />

nicht als l'art pour l'art Befriedung der menschlichen Bedürfnisse sein, sondern nur als<br />

gesellschaftlich-individuelles Ganzes, das im Einzelnen zumindest den Hauch von Sinnhaftigkeit<br />

aufkommen läßt. Unabhängig von der konkreten Fassung des Bedürfnisses nach Arbeit bleibt<br />

jedoch zu fragen, ob jedes Bedürfnis, dessen Befriedigung dem Einzelnen Zufriedenheit<br />

verschafft, von der Warte der emanzipativen praktischen Philosophie als gleichwertiges Mittel<br />

zur Schaffung einer Gleichheit der Menschen verstanden werden kann, oder ob es neben<br />

autoagressiven auch andere destruktive Bedürfnisse gibt, deren Auslebung Ungleichheit<br />

Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat." (MEW 23,185) "Der Arbeiter<br />

braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den<br />

allgemeinen Kulturzustand bedingt sind." (MEW 23,246)<br />

797 Döbler, Martin; Triebkraft Bedürfnis - Zur Entwicklung der Bedürfnisse der sozialistischen<br />

Persönlichkeit; Berlin/DDR1969; S.59.<br />

798 Steitz, Lilo: (Hrg.); Bedürfnisse und Interessen als Triebkräfte unseres Handelns; Berlin/DDR 1984;<br />

S.7.<br />

799 Gaziet, Seev; Menschliche Bedürfnisse - Eine theoretische Synthese; Frankfurt/Main 1981; S.10.<br />

800 MEW 42,512.<br />

801 MEW 23,193.<br />

802 Holzkamp 1983,243.<br />

803 Weiss, Peter; <strong>Die</strong> Ästhetik des Widerstands; Frankfurt/Main 1988; Bd.1, S.351.<br />

248


schafft. 804 Selbst in einer Gesellschaft, in der die real-existierenden Bande zwischen den<br />

Menschen gefallen sind und Knechtschaft bzw. Herrschaft nicht länger als Lebensform durch<br />

Tradition und Gewohnheit legitimiert werden, fragt sich, ob es nicht auch außerhalb<br />

entfremdeter Umstände das individuelle Bedürfnis zum Amoklauf und zum sinnlosen Quälen<br />

gibt? Wenn Stirner zu Recht auf die konstituierende Bedeutung der Unterwürfigkeit für jedes<br />

Autoritätsverhältnis hinweist, bleibt die daraus resultierende Gegenstrategie beim sinn- und<br />

grundlosen Töten unwirksam, denn das destruktive Bedürfnis macht zumeist in solchen Fällen<br />

nicht vor der eigenen Person halt. Wie dem auch sei, hier stehen nicht Bedürfnisse<br />

hypothetischer Menschen in hypothetischen Gesellschaften auf dem Prüfstand, sondern die des<br />

de facto und die Möglichkeiten ihrer Transformation. Man kann Marx in diesem Fall<br />

zustimmen, wenn er ausführt, daß "teils sich die Entfremdung (zeigt), indem die Raffinierung<br />

der Bedürfnisse und ihrer Mittel auf der einen Seite die viehische Verwilderung, vollständige,<br />

rohe, abstrakte Einfachheit des Bedürfnisses auf der andren Seite produziert" 805 , daß also "die<br />

Produktivkräfte und die Verkehrsformen (...) unter der Herrschaft des Privateigentums zu<br />

Destruktivkräften geworden sind" 806 , auch wenn in Anknüpfung an das zuvor Gesagte zu<br />

fragen bleibt, ob dieser Hang zur Zerstörung wirklich immer und ausschließlich Ergebnis der<br />

Entfremdung ist und ob es nicht auch ein elementares Bedürfnis nach Vernichtung gibt.<br />

Vor diesem Hintergrund bleibt es fraglich, ob Marx Vorstellung geteilt werden kann, nach der<br />

"die kommunistische Organisation in doppelter Weise auf die Begierden (wirkt), welche die<br />

heutigen Verhältnisse im Individuum hervorbringt; ein Teil dieser Begierden, diejenigen<br />

nämlich, welche unter allen Verhältnissen existieren und nur der Form und Richtung nach von<br />

verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen verändert werden, wird auch unter dieser<br />

Gesellschaftsform nur verändert, indem ihnen die Mittel zur normalen Entwicklung gegeben<br />

werden; ein anderer Teil dagegen, diejenigen Begierden nämlich, die ihren Ursprung nur einer<br />

bestimmten Gesellschaftsform, bestimmten Produktions- und Verkehrbedingungen verdanken,<br />

wird ganz und gar seiner Lebensbedingungen beraubt. Welche Begierden nun unter der<br />

kommunistischen Organisation bloß verändert und welche aufgelöst werden, läßt sich nur auf<br />

praktische Weise, durch Veränderung der wirklichen praktischen 'Begierden', nicht durch<br />

804 Georges Bataille vertrat eine gegenteilige These, denn „jedesmal, wenn der Sinn einer Diskussion<br />

von dem grundlegenden Wert des Begriffs nützlich abhängt, das heißt jedesmal, wenn wichtige<br />

Probleme der menschlichen Gesellschaft behandelt werden, kann man sagen, daß eine solche<br />

Diskussion grundsätzlich verfehlt ist und die entscheidende Frage umgangen wird, ganz gleich, wer<br />

sich dazu zu Wort meldet und welche Meinung dabei vertreten werden.“ (Bataille, Georges; <strong>Die</strong><br />

Aufhebung der Ökonomie: Der Begriff der Verausgabung – Der verfemte Teil – Kommunismus und<br />

Stalinismus – <strong>Die</strong> Ökonomie im Rahmen des Universums; München 1985; S.9) Gerd Bergfleth faßt<br />

die Auffassung von Bataille gut zusammen, wenn er schreibt, daß „die Geschichte der letzten<br />

Jahrhunderte eigentlich genügen (müßte), um zu zeigen, daß die Befreiung nicht über die<br />

Selbstbestimmung läuft, die immer nur eine Form der Selbstdomestikation – der Verinnerlichung<br />

gesellschaftlicher Repression – gewesen ist. ‚Nichtunterdrückte‘ funktionieren besser, deshalb wird<br />

die Emanzipation neuerdings sogar vom Staat verordnet. (...) <strong>Die</strong> Freiheit des Menschen leigt im<br />

revolutionären Aufstand seiner Natur.“ (Bergfleth, Gerd; Theorie der Verschwendung –Einführung<br />

in Georges Batailles Antiökonomie; München 1985; S.74/75)<br />

805 MEW 40,548.<br />

806 MEW 3,424. Vgl. auch: Holzkamp 1983,210-245; Müller-Hegemann, <strong>Die</strong>tfried; Zur Psychologie des<br />

deutschen Faschisten; Rudolfstadt 1955; S.41-49.<br />

249


Vergleichungen mit früheren geschichtlichen Verhältnissen entscheiden. (...) <strong>Die</strong> Kommunisten<br />

(...) erstreben nur eine solche Organisation der Produktion und des Verkehrs, die ihnen die<br />

normalen, d.h. nur durch die Bedürfnisse selbst beschränkte, Befriedigung aller Bedürfnisse<br />

möglich macht." 807 Vielleicht bewog der hier deutlich werdende Schematismus Marx dazu,<br />

diese Passage aus der "Deutschen Ideologie" zu streichen, denn auch der Vermittlungversuch<br />

im zweiten Satz - eine Vertagung der Bewertung von Bedürfnissen auf den Tag nach der<br />

<strong>Revolution</strong> - läßt die abschließend vorgenommene Apostrophierung der individuellen<br />

Bedürfnisbefriedigung zur revolutionären Aktion a priori nicht unbedingt als zentrales Element<br />

der Emanzipation erscheinen, nicht zuletzt, da bezweifelt werden muß, ob eine Befriedigung<br />

aller individuellen Bedürfnisse überhaupt möglich ist, da diese sich im Zuge ihrer<br />

Verwirklichung dynamisch erweitern. 808 Das Streben nach Befriedigung der individuellen<br />

Bedürfnisse erscheint so in der kapitalistischen Gesellschaft noch nicht als Sphäre der<br />

Gleichheit, sondern als Element der Möglichkeit zur Schaffung einer Interaktionsform, in der<br />

sich die individuelle Entwicklung von Bedürfnisstrukturen unter freien Bedingungen konstituiert<br />

und damit eine Gesellschaft der ungleichen Gleichen, auf der Basis einer Verteilung gemäß des<br />

nun freien Bedürfnisses, nahe legt. In diesem Sinne kann man Bloch zustimmen, wenn er<br />

ausführt, daß "der wichtigste Erwartungsaffekt, der eigentlichste Sehnsuchts-, also Selbstaffekt<br />

aber bei all dem stets die Hoffnung (bleibt...). Hoffnung, dieser Erwartungs-Gegenaffekt gegen<br />

Angst und Furcht, ist deshalb die menschlichste aller Gemütsbewegungen und nur<br />

Menschen zugänglich, sie ist zugleich auf den weitesten und den hellsten Horizont<br />

bezogen." 809<br />

<strong>Die</strong>se Sichtweise der Bedürfnisse und der Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung vorausgesetzt,<br />

erscheinen die beiden zu prüfenden, gleichheitstiftenden Interaktionsformen - distributive<br />

Gleichheit gemäß des Bedürfnisses und Gleichheit der Möglichkeiten zur Entwicklung von<br />

individuellen Bedürfnissen - als zwei Seiten einer utopischen Münze, die Gleichheit der<br />

Ungleichen in Bezug auf all die Relationen schafft, in denen Individuen ein Bedürfnis nach<br />

Gleichheit entwickeln. Gesellschaften reproduzieren demnach stets die Form von Interaktion,<br />

die ihnen zugrunde liegt, sei es nun die Verewigung von Gleichheit oder von Ungleichheit und<br />

die einzige revolutionäre Form würde demnach in der "sprunghaften Ausdehnung" dieser<br />

gesellschaftlichen Grundrelation in neue Sphären liegen, die zuvor als nebensächlich und<br />

naturgegeben dem kollektiven Willen der Subjekte entzogen waren.<br />

Entsprechend der Subjektfrage der Emanzipation schlechthin wären demnach die Subjekte der<br />

Gleichheit diejenigen, "die sich von den übrigen (emanzipativen Kräften mit Gleichheitspostulat<br />

- KSS) nur dadurch (unterscheiden), daß sie einerseits in den verschiedenen<br />

807 MEW 3,238/239. Vgl. auch: Heller, Agnes; Theorie der Bedürfnisse bei Marx; Westberlin 1974.<br />

808 "Das Kapital treibt dieser seiner Tendenz nach ebensosehr hinaus über nationale Schranken und<br />

Vorurteile wie über Naturvergötterung und überlieferte, in bestimmten Grenzen selbstgenügsam<br />

eingepfählte Befriedigung vorhandner Bedürfnisse und Reproduktion alter Lebensweise. Es ist<br />

destruktiv gegen alles dies und beständig revolutionierend, alle Schranken niederreißend, die die<br />

Entwicklung der Produktivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Mannigfaltigkeit der<br />

Produktion und die Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen." (MEW<br />

42,323)<br />

809 Bloch, Ernst; Gesamtausgabe 5,83/84.<br />

250


(Ungleichheitsrelationen - KSS) die gemeinsamen, von (den konkreten Ausprägungen - KSS)<br />

unabhängigen Interessen der (Gesamtheit der Individuen - KSS) hervorheben und zur Geltung<br />

bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche (das<br />

emanzipative Streben nach Gleichheit der Ungleichen - KSS) durchläuft, stets das Interesse<br />

der Gesamtbewegung vertreten." 810 <strong>Die</strong>se etwas gezwungen wirkende Neuinterpretation der<br />

marxschen Position im "Manifest" ist nur dann als hinreichend zu verstehen, wenn es möglich<br />

ist, zum einen eine Interaktionsform der Individuen gedanklich zu entwerfen, in der den<br />

Einzelnen auf der Grundlage einer Gleichheit der Möglichkeiten ein Höchstmaß an individueller<br />

Bedürfnisbefriedigung erreichbar wird, ohne daß Freiheit und Solidarität der Subjekte<br />

vernachlässigt werden, und zum anderen eine Möglichkeit ersonnen wird, die auf der<br />

"produktiven Konsumtion" beruhende Reproduktion der Ungleichheitsrelationen des de facto<br />

grundsätzlich zu durchbrechen und nicht nur partiell zu korrigieren.<br />

3.2.5. Gleichheit im Reich der Freiheit<br />

Wenn hier über die Ausformung der gesellschaftlichen Gleichheit im Reich der Freiheit sinniert<br />

wird, sollte dem marxschen Diktum, nach dem es "indessen gerade wieder der Vorzug der<br />

neuen Richtung (ist), dass wir nicht dogmatisch die Welt anticipiren, sondern erst aus der<br />

Kritik der alten Welt die neue finden wollen" 811 , Rechnung getragen werden, denn selbst wenn<br />

abstrakte Utopien für sich reklamieren können, durch die Schnittstelle des Autoren mit der<br />

Realität verbunden zu sein, bleibt bei ihnen immer der schale Geschmack einer ins Jenseitige<br />

verlagerten Paradiesillusion, die die Schrecknisse des Seins zu überdecken trachtet. <strong>Die</strong>ses<br />

Kapitel, in dem mittels einer Analyse "moderner" Utopien eine Annäherung an eine<br />

Maximalforderung gesellschaftlicher Gleichheit unternommen werden soll, konstituiert sich<br />

insoweit auf den kritischen Überlegungen der vorangegangenen Abschnitte, als dort getroffene<br />

Aussagen wieder aufgenommen und aus einer zusätzlichen Perspektive betrachtet werden.<br />

Während H.G. Wells "Modern Utopia" 812 versucht, die gesamte utopische Tradition von<br />

Platon, Morus, Campanella bis hin zu William Morris mit all ihrem Fortschrittsoptimismus<br />

aufzunehmen und aufzuarbeiten, setzt sich Aldous Huxley in seinem Beitrag "Brave New<br />

World" grundsätzlicher mit der gesellschaftlichen Realität auseinander, auch wenn er<br />

beobachtbare Tendenzen in den fiktiven Raum des Jahres 632 A.F. (nach Ford) verlängert.<br />

"Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit" 813 erscheinen nicht länger als das Resultat<br />

eines nach Gleichheit strebenden Weltgeistes, sondern als verwirklichtes Ideal des zukünftigen<br />

Weltstaates. <strong>Die</strong> Trias "Liberté, Egalité, Fraternité" weicht einer bedrückenden Interpretation,<br />

in der die Gemeinschaftlichkeit mittels naturwissenschaftlicher und psychologischer Methoden<br />

810 MEW 4,474. Das vollständige Original lautet folgendermaßer: "<strong>Die</strong> Kommunistenunterschieden<br />

sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen<br />

nationalen Kämpfen die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten<br />

Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den<br />

verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie<br />

durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten."<br />

811 MEGA III 1,54.<br />

812 Wells, Herbert George; A Modern Utopia; Lincoln 1967. Vgl. zu diesem Komplex auch: Erzgräber<br />

1980.<br />

813 Huxley 1981,19. Im Orginal lautet die Losung "Community, Identity, Stability" (Huxley 1967,15) und<br />

ist damit um einiges pointierter als die deutsche Übertragung.<br />

251


künstlich generiert wird, bevor sich auf ihr eine Einheitlichkeit in Übereinstimmung mit den<br />

Normen des Staates formiert, wobei die Beständigkeit dieser scheinbar auf Gleichheit<br />

basierenden Gesellschaft zum Hauptziel erhoben wird. Das gesamte gesellschaftliche System<br />

inclusive seiner Aufgliederung in fünf Klassen, die mit Alpha bis Epsilon bezeichnet werden,<br />

muß unverändert erhalten bleiben, um die Chancengleichheit der Ovarien und Gameten am<br />

Beginn der Produktionsstraße des Lebens zu gewährleisten, bevor mittels der Sauerstoffzufuhr<br />

die spätere Klassenzugehörigkeit zufällig entschieden wird. Dabei ist "das<br />

Bakanowskyverfahren", das "sechsundneunzig völlig identische Geschwister" hervorbringt,<br />

"eine der Hauptstützen für eine stabile Gesellschaft" 814 , denn diese direkte und absolute<br />

Gleichheit verspricht in der Zukunft Millionlinge in die Welt zu setzen, die nach einer<br />

identischen Erziehung identische Maschinen in identischen Fabriken bedienen, wobei die<br />

Aufgliederung in fünf Klassen als vertretbare Differenzierung zugelassen werden sollte, weil<br />

selbst bei ideeller Angleichung der Lebens- und Arbeitsweisen dem Techniker und dem<br />

Bergmann zum perfekten und glückvollen Schaffen unterschiedliche Voraussetzungen nicht von<br />

Nachteil, sondern von Vorteil sind. "Eine Gesellschaft aus lauter Alphas muß einfach zu<br />

Unbeständigkeit und Unglück führen. Stellen Sie sich eine Fabrikbelegschaft aus lauter Alphas<br />

vor, das heißt, aus lauter verschiedenen, unabhängigen Persönlichkeiten mit erstklassiger<br />

Abstammung und einer Normung, die ihnen, in gewissen Grenzen, gestattet, Willensfreiheit zu<br />

entfalten und Verantwortung auf sich zu nehmen. (...) Es wäre absurd. Ein Mensch, der als<br />

Alpha entkorkt und genormt ist, würde wahnsinnig werden, wenn er die Arbeit eines Epsilon-<br />

Halbidioten verrichten müßte; er würde wahnsinnig werden oder alles kurz und klein schlagen.<br />

Alphas können der menschlichen Gemeinschaft perfekt eingefügt werden, aber nur, wenn man<br />

ihnen Alphaarbeit überträgt. Nur ein Epsilon kann die Opfer eines Epsilons bringen, aus dem<br />

einfachen Grund, daß sie für ihn keine Opfer bedeuten, sondern der Weg des geringsten<br />

Widerstandes sind." 815 In den "Neo-Pawlowschen Normungssälen (...) verbindet schon der<br />

kindliche Verstand (von Delta-Kindern - KSS) Bücher und unerträglichen Lärm, Blumen und<br />

elektrische Schläge miteinander, und nach zweihundert Lektionen dieser oder ähnlicher Art<br />

waren sie unlösbar miteinander verknüpft. Was der Mensch zusammenfügt, das kann die<br />

Natur nicht trennen." 816 Da diese postnatale Reflexnormung als ungenügend erachtet wird,<br />

verwendet man zusätzlich die Methode der Hypnopädie, d.h. der Beeinflussung im Schlaf,<br />

wobei das Klassenbewußtsein der Kinder, der Stolz auf die eigene, vorgezeichnete Tätigkeit<br />

und die unabänderliche Abneigung gegen die Angehörigen der anderen Klassen geformt<br />

werden, um die Solidarität der Gleichen zu stärken, indem man den Haß auf die Ungleichen<br />

indoktriniert. Wie zu Beginn der Lebensreise steht auch ihr Ende unter dem Zeichen der<br />

Gleichheit, denn wie Henry Forster im Angesicht der<br />

Phosphorwiedergewinnungsvorrichtungen der Krematorien der neuen Welt erläutert ist es "ein<br />

schöner Gedanke, daß wir dem Gemeinwohl nützen können, auch wenn wir schon tot sind!<br />

Wir lassen die Pflanzen wachsen." 817 Während Lenina die Vorurteile ihrer Beta-Normung<br />

814 Huxley 1981,22.<br />

815 Huxley 1981,193.<br />

816 Huxley 1981,36.<br />

817 Huxley 1981,75.<br />

252


eproduziert und sich verwundert zeigt, "daß aus Alphas und Betas nicht mehr Pflanzen<br />

wachsen als aus diesen ekligen kleinen Gammas, Deltas und Epsilons", stellt Henry, ganz<br />

Träger der rationalistischen Alphanormung, fest: "Alle Menschen sind chemisch-physikalisch<br />

gleich." 818 Ist also die "Brave New World" eine mögliche Verwirklichungsform der Gleichheit<br />

im Reich der Freiheit, denn in Bezug auf seine Normierung erhält das Individuum eine Welt<br />

vorgesetzt, in der es seine Freiheit in Gleichheit perfekt ausleben kann. Wohl kaum, denn<br />

obzwar die genetische Identität den Mitgliedern einer Klasse nach der Geburt ein Leben in<br />

Gleichheit und Solidarität ermöglicht, bleibt dieses Leben im Horizont einer von der<br />

Alphaklasse strukturierten Verwertungslogik gefangen, an deren Grenzen der Wilde dem<br />

Rebellen die Möglichkeit eröffnet, mittels Selbstkasteiung das sündige Fleisch so lange zu<br />

strafen, bis er bereit ist, in die illusorische Gleichheit der Welt zurückzukehren oder die reale<br />

Gleichheit des Todes zu erfahren.<br />

Adorno weist zu Recht darauf hin, daß die von Huxley postulierte Wahl "zwischen der<br />

Barbarei des Glücks und der Kultur als dem objektiv höheren Zustand, der Unglück in sich<br />

einbegreift", ein zutiefst "reaktionäres Fazit" 819 beinhaltet, denn durch die doppelte<br />

Unmöglichkeit, die Folgen der Kultur zu ertragen bzw. in den Schoß der Barbarei<br />

zurückzukehren, treibt er den Leser zu einer kritischen Affirmation der konkreten Wirklichkeit,<br />

in der die "Brave New Wold" zum Kinderschreck für jede Art von selbstbestimmter Zukunft<br />

wird. Gleichheit im Reich der Freiheit kann also gerade nicht auf die hypothetische Gleichheit<br />

der befrucheten Ovarien zu Beginn des zufälligen Differenzierungsprozesses berschränkt<br />

bleiben, sondern Gleichheit im Reich der Freiheit heißt gerade, daß das Individuum trotz oder<br />

gerade wegen seiner ursprünglichen Unterschiedlichkeit eine Welt vorfindet, in der es seine<br />

selbstgesetzten Möglichkeiten voll ausschöpfen kann, ohne daß ein Zufallscomputer im <strong>Die</strong>nste<br />

einer abstrakten Dinglichkeit seine Möglichkeiten und Fähigkeiten determiniert.<br />

In gewisser Weise nahm Arthur von Kirchenheim schon 1892 diese Kritik vorweg, wenn er<br />

am Ende seiner Analysen der klassischen Utopien deren Einseitigkeiten pointiert kommentiert:<br />

"Siehst du dort, lieber Freund, jenen merkwürdigen Bau, planmäßig angelegt, so daß von der<br />

Halle unter der Mittelkuppel der Blick überall hin schweifen kann. Eine Bevölkerung von<br />

Hunderten bringt dort in musterhafter Ordnung ihre Tage zu. Jedem Einzelnen ist die Arbeit<br />

nach seinen Fähigkeiten und den Bedürfnissen des Ganzen zugewiesen, der Ertrag deckt<br />

zunächst die Kosten, den Überschuß erhält nach genauster Berechnung der Einzelne; in<br />

gleicher Kleidung gehen sie dahin, die Nahrung wird gleichmäßig nach allen Ergebnissen der<br />

Lebensmittelchemie zu gleicher Stunde genommen ... siehe, lieber Freund, das ist ..... nicht<br />

etwa der Zukunftsstaat. Es ist das große Zuchthaus (...) - ja wahrlich, die Klöster des<br />

Mittelalters und diese Laienklöster der Neuzeit mit den Bajonetten auf der Umfassungsmauer,<br />

818 Huxley 1981,75.<br />

819 Adorno, Theodor W.; Aldous Huxley und die Utopie; in: Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft;<br />

Frankfurt/Main 1955; S.135. Sein optimistisches Gegenkonzept wird jedoch nicht argumentativ<br />

entwickelt, sondern präsentiert sich appellativ: "<strong>Die</strong> Menschheit hat nicht zwischen totalitärem<br />

Weltstaat und Individualismus zu wählen. Ist die große historische Perspektive überhaupt mehr als<br />

die Fata Morgana des verfügenden Blickes, so geht sie auf die Frage, ob die Gesellschaft<br />

schließlich sich selbst bestimmen oder die tellurische Katastrophe herbeiführen wird, nicht ein."<br />

(Adorno 1955,143)<br />

253


die Zellengefängnisse, das sind die Anstalten, die jenen Idealen am nächsten kommen, das ist<br />

der utopische Staat im Kleinen. Es ist unendlich langweilig und eintönig in diesen raffinierten<br />

Bauten mit der Verteilung der Arbeitsprodukte und der gleichen Lebensführung." 820 Es<br />

scheint, wenn man sich dieser Kritik anschließen möchte, gewiß, daß jede Reise nach Utopia,<br />

die ein Häftling des Seins antritt, in einem neuen Kerker endet und damit der Reise eines<br />

Holzwurmes ähnelt, der sich durch die verschiedenen Schichten einer russischen Holzpuppe<br />

arbeitet. Aber wie der Wurm vielleicht eines Tages die letzte Oberfläche erreicht und sich dort<br />

zum Falter wandelt, bleibt die Suche nach Utopia, oder in dem konkreten Fall dieses Kapitels<br />

die Suche nach Gleichheit, eine Möglichkeit der Sinnsuche, die angesichts der Langeweile der<br />

momentanen Existenz zumindest temporär Kurzweil erzeugen kann.<br />

Ohne ausführlich auf die "Schlaraffia politica" einzugehen, soll noch ein Aspekt der<br />

Vorbedingung von universellen Gleichhheitssystemen, der bei Huxley stillschweigend<br />

vorausgesetzt wird, illustriert werden. Sohn seiner in materieller Not darniederliegenden Zeit<br />

schrieb Kirchenheim: "Es ist richtig, daß die Gleichheit der Menschen durch das<br />

Privateigentum leidet; aber jene Gleichheit war Gleichheit der Rohheit, der Armut, der<br />

Unwissenheit, der Unkultur, des tierischen Zustandes. Uns scheint, daß diese kommunistischen<br />

Ideale niemals besser erklärt und widerlegt worden sind als durch jenen einfachen Pariser<br />

Arbeiter, der die Bluse eines Kameraden nahm und in zwanzig Stücke schnitt und jedem der<br />

Umstehenden ein Stück gab. 'Das ist der Kommunismus', sagte er; 'bisher nützte die Bluse<br />

einem von uns, diese Fetzen nützen niemandem." 821 Daraus folgt, daß Gleichheit in dem<br />

modernen Sinne, den emanzipative Philosophie intendieren sollte, nicht auf Mangel, sondern<br />

auf einem Reichtum basieren muß, der bei gleichmäßiger Verteilung aller Güter seine<br />

Protagonisten nicht in die große Gleichheit des Hunger- oder Kältetodes treibt - dies ist<br />

jedoch nach demographischen Berechnungen unter Beibehaltung der agrarischen Produktion<br />

derzeit und in absehbarer Zukunft ohne Probleme möglich.<br />

Eine der meist diskutierten Utopien der letzten Jahre ist die strukturelle Utopie "bolo' bolo" 822<br />

des Schweizer Anarchisten P.M., der zuvor mit einer im klassischen Stil gehaltenen Utopie<br />

unter dem Titel "Weltgeist Superstar" 823 bekannt geworden war. Während in "Weltgeist<br />

Superstar" die von Karl Marx dirigierten Raumschiffe auf die Suche nach inselhaften Sternen<br />

gehen, auf denen herrschaftsfreie Strukturen die grünen Männchen zur Verzückung treiben,<br />

beschreibt "bolo' bolo" den Ansatz eines global beschränkten Projektes einer konkreten<br />

Utopie, in der das Buch von P.M. selbstbewußt zum universellen Kodex wird. Dabei geht der<br />

eigenartige Titel auf die Intention des Autors zurück, mittels eines zwanzig Wörter<br />

umfassenden Welt-Esperanto kulturelle Schranken zu überwinden und den Siegeszug seines<br />

Werkes zu sichern, wobei "bolo' bolo" Gruppe der Gruppen heißen soll, was bereits auf den<br />

kollektiven Charakter der zukünftigen Welt hindeutet. Hauptintention für P.M., aber auch für<br />

die Subjekte, die die Utopie, deren Entstehungsgeschichte und Gesellschaftsvertrag er aus der<br />

820 Kirchenheim, Arthur von; Schlaraffia politica - Geschichte der Dichtung vom besten Staate; Leipzig<br />

1892; S.287/288.<br />

821 Kirchenheim 1892, 284.<br />

822 P.M.; bolo' bolo; Zürich 1995.<br />

823 P.M.; Weltgeist Superstar; München 1980.<br />

254


Zukunft erhalten haben muß, durchsetzten, ist der Kampf gegen die "Planetare<br />

Arbeitsmaschine", deren "Entwicklung die Geschichte der Zerstörung von Reichtum" 824 war.<br />

Wenn der Größenwahn von P.M., der dem Betrachter einen Zeitplan der <strong>Revolution</strong> an die<br />

Hand gibt, 825 dem Leser das Buch nicht verleiden würde, wäre die methodische Auflistung<br />

von Umgehensweisen mit dem Welträtsel noch bestechender, denn die Festschreibung, daß<br />

"bolo' bolo bis Ende 1987 verwirklicht werden kann" 826 nimmt der Konstruktion der ABC-<br />

Knoten, in denen Subjekte aus den damaligen drei Welten diskursive Praxis entwickeln sollen,<br />

die notwendige Ernsthaftigkeit. Trotzdem soll hier eine Passage ausführlich zitiert werden, in<br />

der die Methodik der Durchsetzung thematisiert wird, denn in dieser oder jenen Weise kann<br />

sie als Ausfüllung jener Apathie der Praxis verstanden werden, die als zentrales Moment der<br />

Veränderung in der hier dargelegten praktischen Philosophie nach Marx entwickelt wurde:<br />

"A) Dysinformation: Sabotage (Hardware oder Programme), Maschinenzeitdiebstahl (Spiele,<br />

eigene Interessen), absichtliche Fehlplanung, Konstruktionsfehler, Indiskretionen (z.B.<br />

Ellsberg, der den Watergate Skandal auslöste), Absprünge (Wissenschaftler, Beamte,<br />

Manager), Verrat, Verweigerung der Selektion oder Überwachung (Lehrer, Offiziere),<br />

Missmanagment, ideologische Dissidenz, Fälschungen, usw. (...)<br />

B) Dysproduktion: Leistungszurückhaltung, Qualitätssabotage, Maschinensabotage,<br />

Krankfeiern, <strong>Die</strong>bstahl von Material und Werkzeugen, Benutzung von Anlagen für eigene<br />

Zwecke, Streiks, Arbeitsplatzwechsel, Betriebsversammlungen, Besetzungen, Arbeit nach<br />

Vorschrift (...).<br />

C) Dysruption: Ehestreitigkeiten, Scheidungen, Flucht, Gewaltakte, Krawalle, Plünderungen,<br />

Strassenblockaden, Haus- und Landbesetzungen, Brandstiftungen, Gebärstreik (oder<br />

Abtreibungen), Guerillaaktionen usw." 827<br />

In Bezug auf diese Ausformungen der Apathie der Praxis gilt es zu berücksichtigen, daß P.M.<br />

im Gegensatz zu anderen Utopisten seinen Weltentwurf nicht als Stein der Weisen versteht,<br />

sondern das Individuum "stellt sich wunderschöne Utopien, Luftschlösser, Paradiese,<br />

harmonische Welten vor, die es natürlich nie verwirklichen kann, um sich weiter foltern zu<br />

lassen. Sie dienen lediglich dazu, es in seinem Alptraum festzuhalten, ihm Hoffnung zu machen<br />

und es zu allerlei politischen Unternehmungen, <strong>Revolution</strong>en, Anstrengungen und Märtyrien<br />

anzutreiben. Das (Individuum) lässt sich mit Illusionen und Sehnsüchten immer wieder ködern.<br />

Es ist unbelehrbar. Es vergisst, dass alle Welten, alle Träume und es selbst unendlich langweilig<br />

und mühsam sind und dass die einzige Lösung darin besteht, sich sofort ins wohlige Nichts<br />

zurückzuziehen." 828 Dementsprechend erinnert auch eine von jedermann getragene Giftkapsel<br />

immer und überall "daran, dass auch bolo' bolo keinen Sinn hat, dass niemand und keine<br />

Gesellschaftsform dem (Individuum) in seiner Verlassenheit und Verzweiflung helfen kann." 829<br />

Während Rolf Schwendter hier eine Revitalisierung der "Nazi-Euthanasie" 830 zu erkennen<br />

824 P.M.1995,40.<br />

825 P.M.1995,62-65.<br />

826 P.M.1995,62.<br />

827 P.M.1995,46/47.<br />

828 P.M.1995,68/69<br />

829 P.M.1995,126.<br />

830 Schwendter 1994,44.<br />

255


glaubt, würde ich dies eher als intellektuell gelungenen Kunstgriff verstehen, die individuelle<br />

Freiheitsmission des Anarchismus mit einem Kollektivismus zu kombinieren, um so die<br />

Gesellschaft zwischen einer etatistisch strukturierten Gleichheit und einer individuell<br />

verankerten Freiheit zu situieren. Dafür spricht auch die überschaubare Größe der bolos, die<br />

P.M. auf maximal 500 Individuen festlegt, wobei, wie bei allen Festlegungen in diesem Werk,<br />

zu fragen bleibt, wer Kontrollinstanz ist bzw. wie solcherart Normen entstanden sind. Um eine<br />

größtmögliche Selbständigkeit der einzelnen bolos zu erreichen, verordnet P.M. jeder Gruppe,<br />

die sich auf Verwandschafts- Freundschafts- oder Interessenidentitätsbande stützt, eine<br />

bäuerliche Subsistenzproduktion, die jedem Gruppenmitglied täglich mindestens zweitausend<br />

Kalorien zur Verfügung stellt. 831 Während alle Produktionsmittel Gemeineigentum sind, verfügt<br />

jedes Individuum über eine Truhe mit 125 l Fassungsvermögen, deren Inhalt, gleichgültig ob<br />

der einzelne dort Waffen, <strong>Dr</strong>ogen, Bücher oder schmutzige Wäsche hortet, "absolut<br />

unantastbar, heilig, tabu, sakrosankt, privat, exclusiv" 832 ist - eine bestechende Lösung des<br />

alten Problemes, die weitverbreiteten Eigentumsillusionen mit Gleichheitsforderungen zu<br />

harmonisieren. Um nicht zu große Langeweile im Leben der bolos aufkommen zu lassen, ist es<br />

nach P.M. den einzelnen Gruppen jenseits ihrer Subsistenzproduktion gestattet, das zu<br />

produzieren, was ihnen Freude bereitet - bzw. es auch ganz zu lassen - und ihre<br />

Überschußprodukte anschließend mittels elektronifiziertem Naturaltausch 833 weltweit zu<br />

transferieren, wobei die basisnahe Computerisierung Hierarchien genauso verhindern soll wie<br />

die Schatzbildung, da als Lager nur die Summe der Privateigentumskisten langfristig dem<br />

Zugriff der Allgemeinheit entzogen bleiben. Eine andere Form der Unterhaltung sind die nach<br />

Duellregeln ausgetragenen Kämpfe zwischen gleichstarken Gegnern, bei denen alle Face-to-<br />

Face Waffen erlaubt sind, jedoch bleibt gleichermaßen fraglich, ob damit endgültig alle<br />

aggressiven Tendenzen des Menschen, die P.M. anthropologisch verankert sieht, zu bändigen<br />

sind, bzw. wie die bolo' bolo die Kontrolle über diese Turniere gewinnen will, ohne selbst zum<br />

Akteur zu werden. 834 Strukturen höherer Ordnung sind nach dem alten Räteprinzip aufgebaut,<br />

wobei die Delegierten nicht gewählt, sondern per Los bestimmt werden und nur die<br />

Angelegenheiten zu regeln haben, die die einzelnen bolos nicht selbständig lösen können oder<br />

wollen. 835 Letztlich bleibt jedoch zu vermerken, daß dieses Gleichheitskonzept wie jede Art<br />

von Gesellschaftsvertrag nur so stark sein kann wie seine Mitglieder, daß also hier eine<br />

naturalistische Gleichheit vorausgesetzt wird, denn auf Dauer kann ein solch dezentrales<br />

Gesellschaftsmodell nur existieren, wenn es keine ernsthaften Feinde hat. Ein anderes Problem<br />

liegt in dem Umstand begründet, daß durch die Fixierung auf bolo interne<br />

Subsistenzproduktion einerseits ein Großteil der gesellschaftlichen Zeit relativ unproduktiv<br />

verwendet wird und auf der anderen Seite die freiheitlichen Möglichkeiten, die in der<br />

hochtechnisierten Produktion am Ende des 20.Jahrhunderts schlummern, leichtfertig einem<br />

831 Vgl.: P.M.1995,70-77.<br />

832 P.M.1995,82.<br />

833 Vgl.: P.M.1995,161-165.<br />

834 Vgl.: P.M.1995,179-182.<br />

835 Vgl.: P.M.1995,142-145.<br />

256


äuerlichen Leben geopfert werden, das nun wirklich nicht alle menschlichen Subjekte<br />

frohlocken läßt.<br />

Insgesamt kristallisiert sich die Erkenntnis heraus, daß die Durchsetzung von<br />

Gleichheitsforderungen ein zweischneidiges Unterfangen ist, denn je intensiver sich eine wie<br />

auch immer geartete Zentralinstanz in das Leben der Subjekte mischt, um über ihre Gleichheit<br />

zu wachen, um so mehr entfernt sich diese Instanz von den Menschen und wird Quell und<br />

Gegenstand neuer Ungleichheiten. Auf der anderen Seite entpuppt sich die Hoffnung auf die<br />

gleichheitstiftende Kraft einer unbestimmbaren, menschlichen Natur, welche nach der<br />

Zerschlagung der realen Ungleichheit des de facto die Interaktionen bestimmen soll, als<br />

Warten auf Godot, dessen Künder im Bewußtsein seiner Nichtexistenz zum primus inter pares<br />

mutiert. Wenn es also hier, ganz im Gegensatz zur Haupttendenz dieses Buches, gilt, positive<br />

Aussagen zu treffen, dann darf sich der Autor nicht auf einen allgemeinen Verweis auf die<br />

individuelle Gleichheit im Hinblick auf die Möglichkeit zur Freiheit zurückziehen, sondern es<br />

heißt, jenen Ort zu suchen, der dem Einzelnen die Möglichkeit bietet, gegen<br />

Ungleichheitsphänomene, die ihn selbst oder seine Umwelt tangieren, vorzugehen. Im<br />

Gegensatz zu ethischen Konzeptionen, deren Wirkungslosigkeit schon analysiert wurde, kann<br />

der Impuls zur Eingrenzung oder Überwindung einer Ungleichheitsrelation weder von<br />

abstrakten Instanzen noch vom Subjekt kommen, das das Gleichheitsgefühl eines anderen<br />

verletzt, indem es seine Freiheit auszudehnen trachtet, da eine Ethik der goldenen Regel im<br />

besten Falle Wortklauberei und hohles Geschwätz bleibt, in jedem Fall aber antiemanzipativ<br />

wirkt. Wer das Individuum das Fürchten vor seinen eigenen Interessen lehrt, hat trotz<br />

anderslautender Bekundungen zumeist den Willen, aus dem Sträfling des Seins einen<br />

Musterhäftling zu formen, dessen wahre Bestimmung die weiche Eleganz einer Gummizelle zu<br />

sein scheint.<br />

In einer ideellen Gesellschaft wird also nach meiner Auffassung nicht eine ideelle Gleichheit<br />

herrschen, nicht zuletzt da dies wie oben gezeigt Stillstand und Langeweile bedeuten würde,<br />

sondern der Versuch des Einzelnen, seine Lebenswelt zu meistern und sich in der Welt zu<br />

vergegenständlichen, erzeugt zwangsläufig in einer Welt jenseits der urgeschichtlichen Horden<br />

Spannungen, die Ungleichheitsrelationen nach sich ziehen, welche wiederum von den anderen,<br />

ebenfalls nach Freiheit strebenden Individuen soweit eingegrenzt werden, wie sie es individuell<br />

wollen und können.<br />

Im weiteren sind daher zwei Punkte von Interesse: Wie kann der individuelle Wille insoweit<br />

Resultat der kindlichen Genese sein, daß es ab einem bestimmten Entwicklungsgrad frei<br />

entscheiden kann, ob es überhaupt Ungleichheitsrelationen veränderbarer Ordnung zulassen<br />

will, bzw. welchen es sich fügen will und welchen nicht, oder ob es gegen jede Form<br />

veränderbarer Ungleichheit den Kampf auffnimmt. Anschließend wird zu klären sein, welche<br />

Mittel und Wege der Einzelne finden kann, um sich gegen die von ihm als Bedrückung<br />

empfundenen Umstände zur Wehr zu setzen, wobei der Verweis auf das noch ausstehende<br />

Hauptkapitel "Solidarität" an dieser Stelle Hinweis genug sein soll.<br />

Ohne allzu tief in den Keller der zeitgenössischen Pädagogik hinabsteigen zu wollen, können<br />

doch drei Ebenen der Kritik exemplifiziert werden, auf denen eine Erziehung des werdenden<br />

Menschen im Reich der Freiheit basieren sollte, wenn sie nicht die Herrschaftsverhältnisse des<br />

257


de facto unkritisch in eine monokausale Lehrer-Schüler-Relation überführen will, in der jedes<br />

Neue dem Wertmaßstab des Alten unterliegt. Auf der anderen Seite wäre ein naturalistischer<br />

Glaube an die Authenzität des werdenden Menschen im Sinne eines noch nicht entfremdeten<br />

Subjektes, wie es den Roten Khmer und Teilen der chinesischen Parteielite während der<br />

Kulturrevolution vorgeschwebt haben mag, zutiefst problematisch, da in letzter Instanz die<br />

unbegriffene Natur selbst zum Maßstab und Ziel wird.<br />

Aus einer Kritik der institutionalisierten Form der Bildung mit ihren relativ beschränkten Wahlund<br />

Fördermöglichkeiten läßt sich die Forderung ableiten, zukünftige pädagogische Konzepte<br />

als temporäre, auf Freiheit orientierte, stark differenzierte und in zunehmendem Maße auf<br />

Freiwilligkeit basierende Zusammenschlüsse zwischen Menschen unterschiedlicher<br />

gesellschaftlicher und individueller Erfahrung zu fassen, wobei vor allem beim Klein- und<br />

Kleinstkind die Freiwilligkeit problematisiert werden sollte, da einerseits ein "Recht" auf<br />

Dummheit wünschenswert wäre, jedoch andererseits zugestanden werden muß, daß wohl<br />

kaum ein Elternteil die stoische Ruhe aufbringen würde, dem Kind den selbstbewußten<br />

Lernprozeß mit dem Herd oder im Straßenverkehr zu ermöglichen. Erschwerend für eine<br />

kritische Pädagogik kommt hinzu, daß es sich so oder so um ein Eingreifen im Sinne einer<br />

gesellschaftlichen oder individuell verankerten Ethik handelt, deren negative Folgen für die<br />

angestrebte solidarische Gleichheit der Freien bereits angeschnitten wurde. Ohne zukünftigen<br />

Gesellschaftsformen auch nur im Entferntesten Vorschriften machen zu wollen bzw. zu können,<br />

wäre es aber zum Beispiel denkbar, ein individuelles Entwicklungsmodell des werdenden<br />

Menschen zu entwerfen, das den unmittelbaren Erzeugern ein Kind nur solange überläßt bis<br />

sich das Kind, quasi als Zwischenschritt auf dem Weg zum individuellen Eintritt in die Gruppe<br />

selbstbewußter Subjekte, im Sinne von Wahlverwandschaften mit anderen Menschen<br />

zusammenschließt, die ihm, obwohl noch nicht ohne Schutz lebensfähig, mehr zusagen als die<br />

Erzeuger - ein Modell, das in einer mystifizierten Form seit Jahrtausenden bei den Sams in der<br />

Kalahari praktiziert wird.<br />

Eine andere Ebene der notwendigen Kritik formiert sich auf und in der herrschenden<br />

institutionalisierten Form der Bildung als Ableitung einer umfassenderen Ideologiekritik im<br />

Sinne des frühen Marx. <strong>Die</strong> traditionellen Träger von Bildung und Erziehung knüpfen im<br />

Verbund mit dem ideologisch-praktischen Konstrukt der Kleinfamilie jenes Leichentuch des<br />

nach Wissen und Freiheit suchenden Kindes, das formell als gleiche Chance auf Bildung<br />

verklärt wird und doch nur Reproduktionsort für Herrschaft, Unterdrückung und Ungleichheit<br />

bleibt. Neben der Form gilt es vor allem jene Bildungsinhalte zu kritisieren, über deren<br />

Funktionsweise schon Max Stirner zu recht sagte, daß "ein Wissen, welches mich nur als ein<br />

Haben und Besitz beschwert, statt ganz und gar mit mir zusammengegangen zu sein, so daß<br />

das freibewegliche Ich, von keiner nachschleppenden Habe geniert, frischen Sinnes die Welt<br />

durchzieht, ein Wissen also, das nicht persönlich geworden (ist), eine ärmliche Vorbereitung<br />

aufs Leben ab(gibt)." 836 Auf der anderen Seite muß sich eine Pädagogik, die das Ziel verfolgt,<br />

836 Stirner, Max; Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Humanismus und Realismus; in: Stirner<br />

1986,88. <strong>Die</strong> Verschlingung von Institutionalisierung und Ideologie in der klassisch-humanistischen<br />

bzw. realistischen an <strong>Die</strong>sterweg orientierten Bildung kommentiert er treffend: "Nur ein formelles<br />

und materielles Abrichten wird bezweckt, und nur Gelehrte gehen aus den Menagerien der<br />

258


den werdenden Menschen dahingehend zu formen, daß er bei seinem Eintritt ins<br />

selbstbewußte Menschsein als freies Subjekt über seine Lebensreise bestimmen kann, selbst<br />

ideologisch wird, wenn sie nicht Element einer in ständiger Reflexion begriffenen Veränderung<br />

bleibt, in welcher auch die Erzieher erzogen werden müssen.<br />

Gerade die im gegenwärtigen Bildungsbetrieb anzutreffende Fixierung auf pädagogische<br />

Führungspersönlichkeiten, die die ganze Verknüpfung von institutionalisierter Ideologie und<br />

ideologisierter Institution repräsentieren, muß einer dualistischen Interaktion weichen, in der<br />

Subjekt und Objekt im Verlauf des Prozesses zu Partnern werden, deren Band neben der<br />

Solidarität der individuelle Nutzeffekt im Sinne einer Erweiterung der Erfahrungen sein sollte.<br />

Während die lebenslange Festschreibung auf den Beruf des Pädagogen Machtstreben,<br />

unbefriedigtes Geltungsbedürfnis und psychopathische Helferkomplexe forcieren und die<br />

kapitalistische Erziehergemeinschaft zu einem Panoptikum der Entfremdung erstarren lassen,<br />

würde Bildung in einer Gesellschaft der Freien vermutlich beiläufig und temporär vermittelt, um<br />

so jeder einseitigen Fixierung entgegen zu wirken.<br />

Wenn hier einige Kritierien genannt wurden, mit deren Hilfe es - nach momentanem<br />

Kenntnisstand - in einer Gesellschaft der Freien dem werdenden Menschen ab einem gewissen<br />

Grade möglich sein könnte, einen selbstbewußten Willen auszuformen, ohne daß er sich dabei<br />

mit allen Sphären der Gesellschaft überwerfen muß, so heißt dies nicht, daß der anarchistische<br />

Ansatz einer auf Pädagogik basierenden Transformation, wie er erstmals von Tolstoi explizit<br />

entwickelt wurde 837 , geteilt wird. Jedoch können sowohl die von Tolstoi, Robin 838 oder<br />

Ferrer 839 unternommenen praktischen Schulversuche als auch die theoretischen Überlegungen<br />

des anarchistischen Pariser Komitees von 1898 Aufschlüsse darüber geben, wie alternative<br />

Pädagogik aussehen könnte, ohne daß sie selbst als Teil der Transformation des de facto<br />

verstanden werden darf. Wenn es in der programmatischen Schrift von 1898 "Freiheit durch<br />

Bildung" heißt, daß Bildung<br />

"a) allseitig, indem der Mensch individuell und gesellschaftlich seiner eigenen Vollendung<br />

entgegenstrebt, (...)<br />

b) rational, indem Erziehung auf Vernunft und auf den Prinzipien der gegenwärtigen<br />

Wissenschaft und nicht des Glaubens begründet ist, (...)<br />

c) koedukativ, indem die Geschlechter im gemeinsamen öffentlichen und privaten Leben<br />

ständig zusammengeführt werden, (...)<br />

Humanisten, nur 'brauchbare Bürger' aus denen der Realisten hervor, die doch beide nichts als<br />

unterwürfige Menschen sind. Unser guter Fond von Ungezogenheit wird gewaltsam erstickt, und<br />

mit ihm die Entwicklung des Wissens zum freien Willen. Resultat des Schullebens ist dann das<br />

Philistertum. Wie wir uns in der Kindheit in alles zu finden gewöhnten, was uns aufgegeben wurde,<br />

so finden uns schicken wir uns später ins positive Leben, schicken uns in die Zeit, werden ihre<br />

Knechte und sogenannte gute Bürger." (Stirner 1986,90)<br />

837 Vgl.: Tolstoi, Leo; <strong>Die</strong> Schule von Jasnaja Poljana; Wetzlar 1980; Dennsion, G.; Lernen und Freiheit<br />

- Aus der Praxis der First Street School; Frankfurt/Main 1971.<br />

838 Vgl.: Grunder, Hans-Ulrich; Theorie und Praxis anarchistischer Erziehung; Grosshöchstetten 1993.<br />

839 Ferrer, Francisco; <strong>Die</strong> moderne Schule; Berlin 1923.<br />

259


d) freiheitlich (sein sollte), damit das Kind selbst seine Weltanschauung anhand der Tatsachen<br />

aufbauen, unbehindert und unbeschwert von allen Hemmnissen der bürgerlichen Erziehung und<br />

Dogmatik leben kann," 840<br />

dann wird neben aller historischen Begrenztheit dieses Dokumentes deutlich, welche<br />

Mindestanforderungen an Bildung in einer Gesellschaft der Freiheit gestellt werden können.<br />

Wenn ich dies nicht als Forderung für die gegenwärtige Gesellschaft verstanden wissen<br />

möchte, dann nicht zuletzt deswegen, weil Kinder, die eine solche Erziehung im wahrsten Sinne<br />

des Wortes "genossen" haben, mit dem Verlassen des Schulgeländes in eine Welt wechseln, in<br />

der die ihnen vermittelten Lebensprinzipien sie zu Verlierern und Außenseitern stempeln<br />

werden, da dort Gleichheit, Solidarität und Freiheit als rhetorische Hülle für ihr Gegenteil<br />

verwendet werden. 841 Pädagogik, die nicht ideologisches Feigenblatt dieser oder jener<br />

politischen Richtung sein will, müßte sich in diesem Sinne auf zustimmende Personen 842<br />

beschränken, die freiwillig ein ihnen gemachtes Angebot annehmen - oder eben auch nicht.<br />

Wenn man Stirners Forderung teilt, daß "nicht das Wissen ausgebildet werden, sondern die<br />

Person zur Entfaltung ihrer selbst kommen (soll); darf die Pädagogik nicht vom Zivilisieren<br />

ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere." 843 Nach dem<br />

Gesagten wird deutlich, daß dies zwar nicht ohne Probleme von statten gehen wird, jedoch<br />

können die Hemmnisse insoweit verringert werden, als es zukünftige Generationen als<br />

selbstbewußtere Individuen leichter haben, darüber zu wachen, ob in den gesellschaftlich<br />

vermittelten Relationen ihr Gleichheitsgefühl in Bezug auf den Gegenstand der Relation insoweit<br />

unterminiert wird, als es sie zum Eingreifen drängt. Gerade die unüberbrückbare Spannung, die<br />

sich selbst in dem angerissenen Konzept zwischen werdendem Menschen und<br />

gesellschaftlicher Wirklichkeit einstellt, ja einstellen muß, wird jedoch aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach insoweit von Nutzen für das Kind sein, als es dort erste Erfahrungen sammelt, sich in<br />

Konflikten mit anderen als Akteur zu behaupten und im Gegensatz zum pädagogischen<br />

Konzept des de facto auch behaupten kann. Ein pädagogisches Konzept, das von sich<br />

behauptet, ohne jeglichen innergesellschaftlichen Konflikt nach Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität strebende Subjekte hervorzubringen, verfehlt insoweit sein selbstgesetztes Ziel, als<br />

erst in der Konfrontation mit Anderen die individuelle Freiheit erfahrbar wird und erst im<br />

840 Freiheit durch Bildung (1898); zitiert in: Baumann, Heribert; Libertäre Erziehung von 1919-1933;<br />

Phil.Diss. Oldenburg 1982; S.25/26. Vgl. zu diesem Komplex auch: Autorenkollektiv; <strong>Revolution</strong>äre<br />

Erziehung im Kapitalismus und Sozialismus – Kritik der antiautoritären Erziehung; Köln 1973;<br />

Autorenkollektiv; Erziehung in der Klassengesellschaft – Einführung in die Soziologie der<br />

Erziehung; München 1971; Huisken, Freerk; Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und<br />

Bildungsökonomie; München 1972; Klemm, Ulrich (Hrg.); Anarchismus und Pädagogik - Studien<br />

zur Rekonstruktion einer vergessenen Tradition; Frankfurt/Main 1991; Lamnek, Siegfried; Theorien<br />

abweichenden Verhaltens; München 1979.<br />

841 Vgl. auch die in eine ähnliche Richtung gehende Argumentation der Antipädagogik: Braunmühl,<br />

Ekkehard von; Antipädagogik; Weinheim 1975; Schoenebeck, Hubertus von; Unterstützen statt<br />

erziehen; München 1982; Kern, Gerhard/ Grünklee, Gerald (Hrg.); Lernen in Freiheit: Wider die<br />

totale Institution - Anti-pädagogische Thesen und Pamphlete; Münster 1993.<br />

842 Vgl. die Problematisierung dieses Bereiches durch: Blankertz, Stefan; Legitimität und Praxis; Wetzlar<br />

1989; Fischer, Wolfgang/ Ruhloff, Jörg; Skepsis und Widerstreit: Neue Beiträge zur skeptischtranszendentalkritischen<br />

Pädagogik; Sankt Augustin 1993.<br />

843 Stirner 1986,94.<br />

260


Erleben einer konkreten Ungleichheit im bezug auf einen als wichtig verstandenen Gegenstand<br />

eine vorerst individuelle Gleichheitsforderung erhoben werden kann, der anschließend, wenn<br />

sich andere Individuen ebenfalls eingeschränkt fühlen, mittels Solidarität zu Leibe gerückt wird,<br />

bzw. dem sich das Subjekt entziehen kann, um andere Relationen einzugehen, die ihm<br />

angenehmer erscheinen. Wenn hier alternative Pädagogik als eine Voraussetzung einer<br />

Gesellschaft angesehen wird, in der das Individuum sich nicht dadurch als Mensch erfährt, daß<br />

es andere unterdrückt, dann heißt dies weder, daß Pädagogik in der Welt des de facto<br />

revolutionär ist, noch daß solche Konzepte heute realisierbar wären, jedoch macht es die<br />

besondere Stellung des werdenden Menschen als einem von Natur abhängigen Wesen<br />

notwendig, in einer Gesellschaft, in der die intersubjektiven Konfrontationen den Raum und die<br />

Stellung der Individuen bestimmen, die Interaktionsform zwischen entwickeltem und<br />

werdendem Menschen hinreichend zu definieren, da sonst die natürliche Reproduktion der<br />

Gesellschaft als Springquell eines Schüler-Lehrer-Herrschaftsverhältnisses zum<br />

Damoklesschwert einer vorerst theoretischen Utopie wird, in der Subjekte allzeit in der Lage<br />

sein sollten, sich einer solchen Herrschaft zu entledigen, oder, wenn sie dazu nicht in der Lage<br />

sind, sich ihr zu entziehen.<br />

3.2.6. Zu den Möglichkeiten der Gleichheit im Reich der Unfreiheit resp. des<br />

realexistierenden Kapitalismus<br />

<strong>Die</strong> konkreten Umgehensweisen des Individuums zur Durchsetzung seiner konkreten und<br />

realisierbaren Gleichheitsforderungen unterscheiden sich in der Welt des de facto nur insoweit<br />

von denen im Reich der Freiheit, als sie dort zumeist von Erfolg gekrönt sein werden - so<br />

zumindest meine subjektive Hoffnung -, während sie im hier und jetzt ungehört verhallen, wie<br />

die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen im Maschinenraum der Titanic. Trotz der<br />

wenig erbaulichen Schlußfolgerungen, die eine analytische Durchdringung der<br />

Verwirklichungschancen konkreter Gleichheitsforderungen im Subjekt aufkommen lassen,<br />

erscheint es andererseits auch nicht hilfreich, gänzlich auf sie zu verzichten, nicht zuletzt da sie<br />

scheinbar einem grundsätzlichen Bedürfnis der Menschen entsprechen, denn ihre ersten<br />

mythisch-religiösen Manifestationsformen sind fast so alt wie die menschliche Gemeinschaft<br />

schlechthin. Bevor jedoch der Handlungskanon der Apathie der Praxis in Verbinung gebracht<br />

wird mit subjektiven Gleichheitsforderungen im Spätkapitalismus, soll auf eine weitere<br />

Problematik hingewiesen werden, die mittelbar aus der marxschen Forderung "Jeder nach<br />

seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" 844 resultiert. Während in Kap.2.1.<br />

gezeigt wurde, daß es kompliziert anmutet, eine Gesellschaft zur positiven Utopie zu erheben,<br />

in der auch destruktive Bedürfnisse ungehemmt befriedigt werden können, soll hier untersucht<br />

werden, welche Faktoren es geben kann, daß das Resultat einer in der Praxis erhobenen<br />

Gleichheitsforderung nicht mit dem ursprünglichen Ziel übereinstimmt. Wenn Marx postuliert,<br />

daß "solange das Bedürfnis des Menschen nicht befriedigt ist, er in Unfrieden mit seinen<br />

Bedürfnissen, also mit sich (ist)" 845 , dann wird die Doppeldeutigkeit des Aktes der<br />

Befriedigung bereits erahnbar, die die Bedürfnisse des Individuums angesichts der<br />

Wirkungslosigkeit seiner Handlungen immer wieder auf es zurückwerfen und es mit<br />

844 MEW 19,21.<br />

845 MEW 19,363.<br />

261


verunsichernder Schlichtheit fragen lassen, ob eine Befriedigung der Bedürfnisse nicht einfacher<br />

zu erreichen ist, wenn nicht die Welt, sondern die Bedürfnisse verändert werden. Der<br />

Marxismus, dem oft die differenzierte Dialektik der marxschen Termini verschlossen blieb,<br />

glaubte, im Streben der Bedürfnisbefriedigung immer nur jenen Motor der<br />

Menschheitsgeschichte zu erkennen, der unmittelbar die Welt mit dem Bedürfnis befriedet,<br />

statt jenen Aspekt zu rekognoszieren, der die Bedürfnisse mit der Welt harmonisiert, was nicht<br />

zuletzt daran deutlich wird, daß "Befriedigung" weder im Register des marxschen "Kapitals"<br />

noch im Gesamtregister der "MEW" zu finden ist. Gerade im Kontext der hier behandelten<br />

Ungleichheitsrelationen zwischen Individuen der kapitalistischen Totalität und in Anbetracht der<br />

Tatsache, daß friedensschaffende Maßnahmen in der politischen Sphäre zunehmend mit einer<br />

stärkeren Unterdrückung des schwächeren, aber aufbegehrenden Relationssubjektes<br />

identifiziert werden, wäre es vorteilhaft, wenn es jenes Transzendentalsubjekt der Ethik geben<br />

würde, das über die Aktionen wachen würde und dem Einzeln als Mahnung erscheint, an<br />

seinen berechtigten Forderungen festzuhalten, auch wenn sie nicht unmittelbar und konfliktfrei<br />

durchsetzbar sind. Mittels eines Verweises auf die Warenstruktur der Dinge 846 und<br />

insbesondere auf die nivellierende Macht des Geldes 847 zeigt Marx, daß im entwickelten<br />

Kapitalismus fast alle Bedürfnismöglichkeiten in Tauschwerten ausdrückbar sind, bzw. in<br />

dieser Form erscheinen: "Da dem Geld nicht anzusehen ist, was in es verwandelt ist,<br />

verwandelt sich alles, Waren oder nicht, in Geld. Alles wird verkäuflich und kaufbar." 848 Somit<br />

verwandeln sich einfache Ungleichheitsrelationen zwischen Individuen in Anbetracht der<br />

Totalität des kapitalistischen Interaktionsmodelles in ein fast unentwirrbares Geflecht<br />

wechselseitiger Beziehungen, in dem das Geld zum Element einer ausgleichenden Gerechtigkeit<br />

wird. <strong>Die</strong> zunehmende Transformation aller Bedürfnismöglichkeiten - selbst solcher, die nur<br />

mittelbar mit dem ökonomischen Prozeß in Verbindung gebracht werden können wie<br />

Lebensqualität, sexuelle Attraktivität und landschaftliche Schönheit - in Tauschwerte<br />

entpersonalisiert die Befriedigungsmöglichkeiten, indem es sie mittels der Abstraktionsform des<br />

Geldes aus den konkreten, durch Raum, Zeit und Summe der handelnden Subjekte<br />

bestimmten Verhältnisse reißt und Befriedigung von einer individuellen Erfahrung der<br />

konkreten Handlungen zur Durchsetzung einer konkreten Gleichheitsforderung zu einer<br />

gesellschaftlich bedingten Erfahrung werden läßt, die zwar weiterhin individuell erfahrbar bleibt,<br />

jedoch durch die zunehmend generalisierte Tauschwertbeziehung des Kapitalverhältnisses<br />

begründet wird. Oberhalb der Befriedigung jener vitalen Bedürfnisse, die seit jeher das<br />

menschliche Überleben sichern 849 , erzeugt diese Generalisierung des Tauschwertverhältnisses<br />

mittels der Abstrahierung der Befriedigungsmöglichkeiten im Geld eine neue<br />

846 Zur Erinnerung sei auf den zweiten Abschnitt des ersten Bandes des Kapitals verwiesen: "<strong>Die</strong><br />

Ware ist zunächst ein äußerlicher Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften<br />

menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. <strong>Die</strong> Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z.B. dem<br />

Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache. Es handelt sich hier auch nicht<br />

darum, wie die Sache das menschliche Bedürfnis befriedigt, ob unmittelbar als Lebensmittel, d.h. als<br />

Gegenstand des Genusses, oder auf einem Umweg, als Produktionsmittel." (MEW 23,49)<br />

847 "Wie im Geld aller qualitativer Unterschied der Waren ausgelöscht ist, löscht es seinerseits als<br />

radikaler Leveller alle Unterschiede aus." (MEW 23,146)<br />

848 MEW 23,145.<br />

849 Vgl. Holzkamp -Osterkamp, Ute; Motivationsforschung; Frankfurt/Main 1978, Bd.2, S.23.<br />

262


Befriedigungsmöglichkeit, in der scheinbar alle konkreten Forderungen nach Gleichheit,<br />

Freiheit und Solidarität münden: Der Besitz von Geld im Sinne jenes Schatzbildners, der dem<br />

"Goldfetisch seine Fleischeslust" 850 opfert. Wie recht hatte doch schon Kolumbus, den Marx<br />

zustimmend zitiert, wenn er 1503 erklärte: "Gold ist ein wunderbares Ding! Wer dasselbe<br />

besitzt, ist Herr von allem, was er wünscht. Durch Gold kann man sogar Seelen in das<br />

Paradies gelangen lassen." 851 Wenn man rückblickend auf einhundertfünfzig Jahre<br />

Arbeiterbewegung erklärt, daß jede subjektive Gleichheitsforderung, sobald sie die Ebene der<br />

individuellen Wünsche und Hoffnungen verläßt, in die Fänge jenes nexus rerum gerät, welches<br />

mittels seiner Doppelstruktur ("<strong>Die</strong> Logik ist das Geld des Geistes; und Geld die bare Münze<br />

des Apriori - der Geist der Logik" 852 ) den Einzelnen derart umschließt, daß jeder Wunsch<br />

nach Veränderung in seiner gesellschaftlichen Gestalt unmittelbar materiell erscheint, wäre dies<br />

übertrieben, denn auch wenn die meisten Forderungen dem betörenden Charme klingender<br />

Münzen erlagen, kann die Arbeitszeitverkürzung als ein Gegenbeispiel ins Feld geführt werden.<br />

Jedoch strukturiert das Geld in zunehmendem Maße auch jene Sphären der Befriedigung, die<br />

jenseits des reinen Konsumierens den Horizont der individuellen Entäußerung umschreiben, als<br />

da wären Genuß, Lust und Glück.<br />

Wenn die englische Parallele für Befriedigung "satisfaction" nicht nur im Lied der Rolling<br />

Stones jenen Bereich einschließt, der im Deutschen mit "Genugtuung" bestimmt ist, eröffnet<br />

dies neben der angesprochenen Einbindung in monetäre Tauschwertbeziehungen eine weitere<br />

Sichtweise auf jenen Ort, an dem sich die ursprüngliche Dynamik von konkreten<br />

Gleichheitsforderungen in der Welt des de facto verliert. Da Befriedigung erst als<br />

abgeschlossener Vorgang dem Individuum Frieden verschafft, wird die Wirkungslosigkeit der<br />

eigenen Handlung in soweit verschleiert, als man selbst genug getan zu haben vorgibt und nun<br />

mit der Welt in Frieden der Dinge harrt, die andere tun - nur in diesem Sinne kann<br />

Befriedigung als unmittelbare Erfüllung verstanden werden. 853 Ein Eingeständnis der Tatsache,<br />

daß trotz unseres Handelns unsere ursprünglichen Bedürfnisse nicht befriedigt sind, führt dem<br />

Einzelnen tagtäglich vor Augen, daß sein individuelles Tun insoweit minderwertig war, als es<br />

nicht genug war, um die Welt insoweit zu transformieren, daß sie in Frieden mit den<br />

Bedürfnissen harmoniert. Ähnlich verhält es sich mit jener Befriedigung, die dem Subjekt zuteil<br />

wird, wenn seine Gleichheitsforderung von anderen anerkannt wird. Schon Aristoteles warnte<br />

vor jenem Moment des Stillstandes, den bejahende Urteile mit sich bringen, denn nicht der<br />

Prozeß als solcher kann sich der anerkennenden Solidarität erfreuen, sondern nur seine<br />

konkrete Darstellungsform in den Augen der Anderen. 854 Um jener Befriedigung, die die<br />

Anerkennung erzeugt, möglichst lange teilhaftig zu bleiben, liegt es nahe, die Forderung soweit<br />

zu transformieren, bis sie mit den Forderungen der anderen harmonisiert ist. Es kommt so zwar<br />

850 MEW 23,147.<br />

851 Kolumbus, Brief aus Jamaika (1503); zitiert nach: MEW 23,145.<br />

852 Hörisch, Jochen; <strong>Die</strong> beiden Seiten einer Münze - Sohn-Rethels Theorie von Geld und Geltung; in:<br />

Sohn-Rethel, Alfred; Das Geld, die bare Münze des Apriori; Berlin 1990; S.11.<br />

853 Vgl.: Husserl, Edmund; Formale und transzendentale Logik; Halle 1929; ders.; Erfahrung und Urteil;<br />

Prag 1948.<br />

854 Aristoteles; De Interpretatione; 4,17 a; in: Aristoteles 1958ff.; 5,17a. Vgl. auch: Menne, Albert;<br />

Anerkennungstheorie; in: Ritter/ Gründer 1971ff.; 1,300.<br />

263


nicht zu einer Befriedung mit der Welt an sich, jedoch schafft die Ebene der Gruppe durch ihre<br />

Dialogstruktur jene wechselseitig versicherte Genugtuung, nach der es das Individuum<br />

scheinbar verlangt. Trotz dieser Gefahren ist darauf hinzuweisen, daß eine Befriedigung<br />

individueller Gleichheitsforderungen im Sinne einer Durchsetzung ohne jene Verallgemeinerung,<br />

die sie durch eine Gruppe erfährt, kaum möglich erscheint. Es gilt jedoch nach wie vor, jene<br />

Methode zu finden, mit der Gleichheitsbedürfnisse zwischen einer dogmatischen<br />

Festschreibung einer einmal dargelegten Form und einer einfachen Befriedigung der<br />

Bedürfnisse mit der Welt oder der durch eine Gruppe situierten Teilwelt entwickelt werden<br />

können, wobei beide Formen der unmittelbaren Befriedigung die Sirenen des Selbst bleiben,<br />

denn auch dogmatischer Nonkonformismus kann als negativ gewendete Anpassungsleistung<br />

Genugtuung verschaffen. In diesem Sinne sind auch beide Verhaltensweisen, die das<br />

philosophische Altertum ihren Protagonisten zuspricht 855 , nicht als Befriedung der Welt mit<br />

dem Bedürfnis zu verstehen, sondern als zwei Seiten einer Münze, deren Prägung mit jener<br />

"Dummheit" umschrieben werden kann, die die griechische Klassik im Angesicht der eigenen<br />

Borniertheit immer nur den anderen zuschrieb.<br />

Wenn sich Apathiker der Praxis in der Welt des de facto gegen die vermeintliche oder reale<br />

Dummheit, die Bedürfnisse mit der Welt zu befrieden, wenden, so tun sie dies gerade nicht im<br />

Bewußtsein der eigenen Überlegenheit, sondern im reflexiven Eingeständnis der Tatsache, daß<br />

selbst wenn Dummheit als Unfähigkeit zur Dialektik verstanden wird, dies die Dialektiker nur<br />

dann von den anderen grundsätzlich unterscheidet, wenn Dialektik sich aus Dummheit im<br />

Einklang mit kosmischen Gesetzen wähnt. Eine andere Form der Dummheit, die in<br />

ursächlicherem Verhältnis zu dem im letzten Abschnitt gesagten steht, scheint im Streben nach<br />

unmittelbarem Erfolg begründet zu liegen, jedoch weil diese Formen der Dummheit trotz ihrer<br />

vom dialektischen Standpunkt aus gesehenen Nichtigkeit Titanen 856 sind, kann man sie nicht<br />

mit einem einfachen Verweis auf ihre Einbindung in die globale Entfremdung ad acta legen.<br />

Selbst wenn Marx schreibt, daß die verkehrende Macht des Geldes "die Treue in Untreue, die<br />

Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in ein Laster, das Laster in eine Tugend, den<br />

Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in<br />

Blödsinn (verwandelt)" 857 und die Welt zu einem "Narrenschiff" 858 macht, grenzt er sich doch<br />

bewußt von jenem Überheblichkeitsdenken der Schulphilosophie ab, die vorgibt, "die<br />

Auflösung aller Räthsel in ihrem Pulte liegen" 859 zu haben. Hingegen warnt er vor der<br />

Dummheit eines spezifischen Dummheitsbegriffes, "die alle dogmatischen Gegensätze in den<br />

855 "Das philosophische Alterthum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von Sokrates<br />

an wurden die Denker nicht müde zu predigen: 'eure Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer<br />

Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund,<br />

wesshalb ihr es so selten zu Glück bringt, - wir Denker sind als Denker die Glücklichsten."<br />

(Nietzsche 1988; 3,555)<br />

856 "Auch die Dummheit und der Aberglaube sind Titanen." (MEW 40,300; MEGA I, 1,53)<br />

857 MEW 40,566; MEGA I, 2,321.<br />

858 MEW 1,340; MEGA III, 1,50; bzw.: I, 2,477. Michel Foucault nimmt diesen Begriff später als<br />

Ausgangspunkt für seine Untersuchung über Wahnsinn und Gesellschaft (Foucault, Michel;<br />

Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft;<br />

Frankfurt/Main 1969).<br />

859 MEW 1,344; MEGA III, 1,54; bzw.: I, 2,486/487.<br />

264


einen dogmatischen Gegensatz ihrer eignen Klugheit und der Dummheit der Welt (...)<br />

aufgelöst" 860 glaubt, und Lenin kommt ideologieübergreifend zu dem Schluß: "Aufs Wort<br />

glauben nur Narren." 861 Der Marxismus folgte seiner Sendung entsprechend Thomas Carley,<br />

dessen Position Marx und Engels pointiert zusammenfassen: "<strong>Die</strong> richtige Erkenntniß des<br />

ewigen Naturgesetzes ist die ewige Wahrheit, alles Andere ist falsch. Mit dieser<br />

Anschauungsweise lösen sich die wirklichen Klassengegensätze, so verschieden sie in<br />

verschiednen Epochen sind, sämmtlich auf in den Einen großen Gegensatz derer, die das ewige<br />

Naturgesetz ergründet haben und darnach handeln, der Weisen und Edlen, und derer die es<br />

falsch verstehn, es verdrehn und ihm entgegen wirken, der Thoren und Schurken." 862 Es wird<br />

deutlich, daß nicht selten "sich die Dummheit einen schöneren Namen um hängt und sich<br />

Nothwendigkeit (nennt)" 863 , um so ihre Anhänger zu betören, jedoch "die Prognose, daß die<br />

Dummheit noch schreckliche Tragödien aufführen wird (...) ist für die Opfer kein Trost, aber<br />

wir können nichts tun als unsere Arbeit, die wenig Folgen hat und für die Toten keine." 864<br />

Worin besteht diese Arbeit?<br />

Wenn man sich von der Vorstellung trennt, daß die Brandmarkung der Befriedung der<br />

Bedürfnisse mit der Welt als Dummheit die Menschen zu selbstbewußten Streitern ihrer<br />

eigenen Gleichheitsforderungen machen wird, nimmt man der Arbeit der Apathiker der Praxis<br />

scheinbar ihren Sinn, da sie so nunmehr als eine andere Umgehensweise mit der Absurdität<br />

des Seins sichtbar wird, die weder besser noch schlechter ist. Warum aber einen anderen<br />

Weg gehen als die Massen, wenn er dem <strong>apathische</strong>n Subjekt weder die Befriedigung des<br />

Erfolges, noch das Sendungsbewußtsein der richtigen Sache, noch die Anerkennung und<br />

Genugtuung einer einheitlichen Gruppenidentität eröffnet? In diesem Mangel an scheinbar<br />

objektiver Motivation liegt der Hauptunterschied des hier entwickelten Konzeptes einer<br />

praktischen Philosophie nach Marx. Während andere Sichtweisen der Welt dem Individuum<br />

Vorschriften machen wollen, wer, wie, wo und warum zu leben, zu kämpfen und zu arbeiten<br />

hat, bietet die Apathie der Praxis dem Einzelnen soviel Handlungsspielraum wie er will. Wenn<br />

im folgenden Methoden erörtert werden, wie konkreten Ungleichheitsrelationen<br />

entgegengetreten werden kann, so bleibt es nicht nur rethorisch den Subjekten freigestellt,<br />

darauf zurückzugreifen, sondern ein Erdulden von Ungleichheit, Unfreiheit und sozialer Kälte<br />

wird weder als Dummheit verworfen noch als individuelle Schwäche verdammt. Wenn Marx<br />

zu recht schreibt, daß "all unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt darauf hinauszulaufen<br />

(scheinen), daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche<br />

860 MEGA I, 2,276.<br />

861 LW 20,359.<br />

862 MEGA I, 10,271.<br />

863 Nietzsche 1988; 12,122.<br />

864 "<strong>Die</strong> Schwerkraft der Massen, im Kapitalismus Bedingung, ist in der sozialistischen Gesellschaft<br />

Korrektiv der Politik. <strong>Die</strong> Blindheit der Erfahrung ist der Ausweis ihrer Authentizität. Nur der<br />

zunehmende <strong>Dr</strong>uck authentischer Erfahrung entwickelt die Fähigkeit, der Geschichte ins Weiße im<br />

Auge zu sehn, die das Ende der Politik und der Beginn einer Ge schichte des Menschen sein kann.<br />

<strong>Die</strong> Prognose, daß die Dummheit noch schreckliche Tragödien aufführen wird, bei Marx<br />

nachzulesen, ist für die Opfer kein Trost, aber wir können nichts tun als unsre Arbeit, die wenig<br />

Folgen hat und für die Toten keine." (Müller 1989,93)<br />

265


Leben zu einer materiellen Kraft verdummen" 865 , so wird jenseits aller Polemik deutlich, daß<br />

der Weg der Anpassung des eigenen Ichs an die vorgefundene und aufgeprägte Seinsstruktur<br />

nicht ein dummer Fehler ist, sondern die Normalität bleibt. Der Apathiker bleibt bis auf<br />

weiteres Außenseiter und gerade deswegen gilt es, seine Handlungsweisen begründet<br />

darzulegen, bzw. im analytischen Rekurs aus der Kritik der bisherigen<br />

Transformationsbewegungen jene theoretischen Seinsmuster zu exemplifizieren, die bewußt<br />

oder unbewußt hinter den <strong>apathische</strong>n Handlungen stehen. Wie kann demnach die <strong>apathische</strong><br />

Arbeit im Umgang mit selbsterfahrenen, konkreten Ungleichheitsrelationen beschaffen sein?<br />

<strong>Die</strong> im bisherigen Verlauf der Darstellung angeführten Handlungsweisen gehen von einem<br />

unsichtbaren Protest, der sich erst in Abwesenheit der scheinbaren Gewinner einer Relation<br />

manifestiert, bis zu aktiven Formen der Sabotage und der offenen Konfrontation. Übertragen<br />

auf die beliebteste Ungleichheitsrelation bedeutet dies, daß Apathiker ihrer ökonomischen<br />

Relation differenziert entgegentreten, wobei das eigene Temprament bzw. die subjektive<br />

Geduld über Art und Umfang der Maßnahmen entscheidet. Eine Umgehensweise des<br />

<strong>apathische</strong>n Handlungsrahmens entwickelt Valéry's Monsieur Teste: "Ich denke, und das stört<br />

nichts. Ich bin allein. Wie behaglich ist die Einsamkeit! (...)Wer mit mir spricht und nicht<br />

beweist - ist ein Widersacher. Weit mehr liebe ich die Äußerung der geringsten Tatsache, die<br />

sich zeigt. Ich bin seiend und mich sehend; ich sehe, wie ich mich sehe, und so fort ... Denken<br />

wird ganz scharf. Bah! man schläft über irgendeinem, gleichviel welchem Thema ein ... Der<br />

Schlaf führt irgendeine, gleichviel welche Idee weiter ..." 866 Mark Polizzotti zeigt recht<br />

überzeugend, welchen Einfluß dieser kleine Aufsatz von Valéry auf den Surrealismus ausübte,<br />

der mittels einer partiellen Weltflucht die Munition schaffen wollte, um die große<br />

Transformation einzuleiten. 867 Wenn diese Ausprägung einer Apathie der Praxis einerseits<br />

einfach erscheint, da sie für das konkrete Leben des Einzelnen insoweit folgenlos bleibt, als er<br />

sich der Auseinandersetzung mit der Welt bewußt entzieht, so muß andererseits berücksichtigt<br />

werden, daß diese Handlungsweise dem Subjekt jegliche Solidarität unmöglich macht, denn<br />

Gleichheit stellt sich in dieser Form der Durchsetzung von Gleichheitsforderungen erst in den<br />

angenehm kühlen Räumen des Leichenschauhauses ein. 868 Eine andere Umgehensweise, die<br />

865 MEW 12,4.<br />

866 Valéry, Paul; Monsieur Teste; Frankfurt/Main 1995; S.24.<br />

867 Polizzotti, Mark; <strong>Revolution</strong> des Geistes - Das Leben André Bretons; München 1996. Dort findet<br />

sich auch eine interessante Kommentierung des Projektes des Monsieur Teste durch André Breton:<br />

"Valéry, so kommentierte Breton später, 'profitierte von dem Prestige, das einem Mythos innewohnt<br />

(...) dem eines Mannes, der eines schönen Tages seinem Lebenswerk den Rücken kehrt, als ob das<br />

Werk, nachdem er einmal gewisse Höhen erreicht hatte, irgendwie seinen Schöpfer 'verwürfe'.<br />

Solches Verhalten seinerseits verlieh diesen Höhen einen unübersteigbaren, einigermaßen<br />

schwindelerregenden Charakter." (Polizzotti 1996,39)<br />

868 "Monsieur Teste sprach zu mir: - Adieu. Bald ... endet ... eine bestimmte Sichtweise. Vielleicht<br />

plötzlich und jetzt. Vielleicht heute nacht mit einem Verfall, der sich selbst nach und nach verkennt<br />

... Dabei habe ich mein Leben lang auf diese Minute hingearbeitet. Gleich schon, vielleicht, vor dem<br />

Ende, kommt dieser wichtige Augenblick - und vielleicht werde ich mich ganz in einem<br />

schrecklichen Blick erfassen - Nicht möglich. <strong>Die</strong> Syllogismen durch den Todeskampf geschwächt,<br />

der Schmerz tausend heitere Bilder emporspülend, die Furcht mit schönen, gewesenen<br />

Augenblicken verquickt. Welche Vorstellung dennoch, der Tod. Etwas Unvorstellbares, das sich<br />

266


scheinbar das andere Extrem der Handlungsweisen bezeichnet, ist der in Kap.3.1.4.<br />

entwickelte Versuch, neben einer konkreten Apathie der Praxis in Bezug auf die Mächte des<br />

de facto Orte zu schaffen, an denen die Apathiker Raum und Muße finden, über<br />

Ausformungen der zukünftigen Welt zu debattieren, wobei der temporäre Status ihrer<br />

Zusammenkünfte ihnen auf der einen Seite jenes Gefühl der Befriedigung gibt, das der Verlust<br />

der intellekuellen Einsamkeit für seine Protagonisten bereithält. Auf der anderen Seite verlangt<br />

das Wissen um die Unmöglichkeit der Durchsetzung von statischen Gegenentwürfen in der<br />

kapitalistischen Welt von ihnen jene innere Härte, der Gemeinschaft jederzeit den Rücken zu<br />

kehren, wenn sie zu erkennen glauben, daß dort nicht länger Solidarität als Mittel zur<br />

Durchsetzung von Gleichheitsforderungen instrumentalisiert wird, sondern als Selbstzweck<br />

neue Herrschaftrelationen hervorbringt. Das Individuum muß also trotz der notwendigen<br />

Einbindung in eine Gruppe soweit autark bleiben, daß es beurteilen kann, ob die Unterstützung<br />

der Gruppe zur Durchsetzung der individuellen, konkreten Gleichheitsforderungen produktiv<br />

beiträgt - im Sinne einer Befriedigung durch Erfüllung - oder ob sie den Einzelnen nur den<br />

Schein einer Lösung offeriert, die sich bei Licht betrachtet als schale Reproduktion einer<br />

Versöhnung der Bedürfnisse mit der Welt erweist. <strong>Die</strong> Subjekte einer konkreten<br />

Gleichheitsforderung sind also stets auf der Suche nach Partnern, die ihnen bei der<br />

Durchsetzung ihrer Forderungen helfen, da ihre Interessen in eine ähnliche oder gleiche<br />

Richtung gehen, wobei Subjekte, die in direkter Relation zum jeweils antagonistischen Subjekt<br />

der Relation stehen, natürlich über eine größere Effektivität in der Auseinandersetzung<br />

verfügen, denn die metaphysische Solidarität selbst breiter Teile der Gesellschaft bleibt für eine<br />

konkrete Relation dann folgenlos, wenn ein anderes Relationssubjekt sich dieser<br />

gesellschaftlichen Einbindung auf Dauer entzieht.<br />

Der Verweis auf die Weltflucht offenbart jedoch eine letzte Aktionsmöglichkeit der Apathiker<br />

der Praxis, die neben jener fast mystisch-praktischen Gewißheit der unverstellten finalen Flucht<br />

dem Individuum zumindest von einem theoretischen Standpunkt aus jenen Rückhalt gibt, der<br />

bei der Aushandlung von Lösungsmöglichkeiten in konkreten Ungleichheitsrelationen in<br />

direkter oder gruppendynamischer und indirekter Konfrontation unabdingbar ist. Abbruch aller<br />

gesellschaftlich vermittelten Beziehungen heißt dabei nicht unbedingt, daß das Subjekt der<br />

Lebenswelt der Menschen körperlich entfliehen muß, um seine Gleichheitsbedürfnisse trotz<br />

mangelnder Realisationsmöglichkeiten zu befriedigen, sondern es ist schon den Stoikern<br />

gelungen, eine Lebensweise zu ersinnen, die dem Subjekt eine Befriedigung der individuellen<br />

Gleichheitsbedürfnisse verschafft, indem es der Welt geistig entflieht. Selbst wenn nur die<br />

unmittelbaren Relationen des Individuums berücksichtigt werden, erscheint die geistige<br />

Distanzierung von ihnen im Sinne einer absoluten Ignorierung ihrer Auswirkungen auf das<br />

eigene Leben nur dann hinreichend praktikabel, wenn es dem Individuum gelingen sollte,<br />

bewußt Autist zu werden. Ob nun ein Mensch trotz der Schrecknisse des unmittelbaren,<br />

umfassenden Naturkontaktes die Gesellschaft der Menschen hinter sich läßt oder seinen<br />

Lebensschwerpunkt in die fiktionale Welt des eigenen Gehirns verlagert, um der<br />

Hoffnungslosigkeit der eigenen Gleichheits- bzw. auch Ungleichheitsforderungen zu entfliehen,<br />

dem Geist abwechselnd in Gestalt des Begehrens und des Grauens aufdrängt. Geistiges Ende.<br />

Totentanz des Denkens." (Valéry 1995,79)<br />

267


eröffnet dieser Schritt ihm zumindest theoretisch eine Welt, in der er Herr und Held oder eben<br />

auch Gleicher unter Gleichen sein kann. Ein Subjekt ohne gesellschaftliche Kontakte bleibt<br />

aber sowohl ein Ideal wie eine Abstraktion, welches aufgrund seines Mangels an Relationen<br />

weder Herr noch Knecht sein kann, und so gilt es, jene intersubjektiven Konstellationen in<br />

Bezug auf die Durchsetzung konkreter Gleichheitsinteressen zu untersuchen, die dem scheinbar<br />

undurchdringbaren Beziehungsgeflecht der Moderne zumindest theoretisch nahe kommen.<br />

Da alle Relationspartner als Elemente der Gesellschaft unfassend in die Totalität des Seins<br />

eingebunden sind, haben sie auch umfassende Möglichkeiten, auf die anderen Partner einer<br />

konkreten Relation einzuwirken, um die individuellen Gleichheitsforderungen durchzusetzen.<br />

Menschen mit Herrschaftsgelüsten bedürfen dieser Einbindung vor allem aus Gründen der<br />

Bestätigung, denn ein Einzelner, der im Keller seiner Blockhütte Lebenspartner und Kinder<br />

drangsaliert, wird in den seltensten Fällen auf jenes scheinbar wohlige Gefühl verzichten<br />

wollen, seine Herrschaft anderen zu offenbaren bzw. darauf seinen Herrschaftsraum derart<br />

auszuweiten, daß er auch in anderen Relationen zum Chef wird, und das spätestens dann,<br />

wenn die ursprüngliche Herrschaft durch die Flucht der anderen Subjekte aufgelöst wird.<br />

Ohne sich der Illusion eines Durchschnittsmenschen bedienen zu müssen, kann doch gesagt<br />

werden, daß - mit Ausnahme einiger Extremfälle, die bereits angesprochen wurden - die<br />

überwiegende Mehrheit der Menschen eine Vielzahl von Relationen eingeht, die sich ihnen nur<br />

im seltesten Fall als Gleichheitsrelation enthüllen. Nicht nur in der Gesellschaft des de facto ist<br />

der "Normalzustand" einer intersubjektiven Relation eine Beziehung, die den einen bevorzugt<br />

und den anderen benachteiligt, sowohl was die Verteilungsgleichheit angeht wie die konkrete<br />

Interaktionsbeziehung, und doch geht die hier dargelegte, praktische Philosophie nach Marx<br />

davon aus, daß Gleichheit mehr ist als eine leere Illusion der Verlierer der gesellschaftlich<br />

vermittelten, konkreten Relationen. Während das 19.Jahrhundert selbst in Europa Subjekte<br />

hervorbrachte, die in allen konkreten Relationen mit Gleichheitsmöglichkeiten jenseits des<br />

privaten Herdfeuers Gleichheitsforderungen entwickeln konnten 869 , die sie in konkrete<br />

Beziehung zu den Protagonisten der jeweiligen Relation stellten, befinden sich zu Beginn des<br />

21.Jahrhunderts diese übersichtlichen Verhältnisse auf dem Rückzug. Nicht, daß es an<br />

Subjekten mangelt, die begründet in jeder konkreten Relation, die sie in ihrem Leben eingehen,<br />

Gleichheitsforderungen erheben könnten, sondern der gesellschaftliche Differenzierungs- und<br />

Verklausulierungsprozeß verstellt ihnen auf der einen Seite den Blick auf die anderen<br />

Relationssubjekte und damit auf die Gewinnung einer Strategie zur Überwindung der<br />

Ungleichheit in dieser oder jener Relation und eröffnet ihnen auf der anderen Seite, durch die<br />

Möglichkeit zur Generierung neuer Relationen, in denen sie sich als Gewinner der konkreten<br />

Ungleichheit erleben, eine Kompensationsmöglichkeit, deren Bedeutung für die<br />

Aufrechterhaltung einer Gesellschaft der Unfreiheit, Ungleichheit und sozialen Kälte von<br />

elementarer Notwendigkeit ist, neben der gebrochenen Befriedigung von<br />

Gleichheitsforderungen mittels der monetären, ausgleichenden „Gerechtigkeit“ der<br />

warenproduzierenden Gesellschaft. Solange einem Individuum die partielle Herrschaft über<br />

andere ausreichende Kompensation für unbefriedigte Gleichheitsforderungen in anderen<br />

869 Marx und Engels bringen dies im kommunistischen Manifest auf den Punkt: "<strong>Die</strong> Proletarier haben<br />

nichts in (der kommunistischen <strong>Revolution</strong>) zu verlieren als ihre Ketten." (MEW 4,493)<br />

268


Relationen bietet, erscheint auch die hier entworfene Strategie zur Durchsetzung konkreter<br />

Gleichheitsforderungen nicht als solidarischer Akt der nach konkreter Gleichheit strebenden<br />

Subjekte, sondern als Verschwörung der partiell Benachteiligten zur Gewinnung eines<br />

konkreten Vorteiles bei Aufrechterhaltung der Ungleichheit. Selbst wenn Gewinner und<br />

Verlierer nur die Rollen tauschen, wobei der Impuls, wie schon Aristoteles wußte, zumeist von<br />

den Verlierern ausgeht, schaffen sie in ihrem Ringen eine temporär begrenzte, konkrete<br />

Gleichheit, sowohl in Bezug auf die Relation, in der die Gleichheitsforderung erhoben wurde,<br />

als auch in Bezug auf die Handelnden zur Durchsetzung dieser Forderungen, denn erfolgreiche<br />

Solidarität entsteht nur dort, wo Subjekte mit unterschiedlichen Gleichheitsforderungen ihren<br />

eigenen Horizont überschreiten, um anderen zu nützen, indem sie sich selbst helfen. Eine<br />

Erweiterung individueller Gleichheitsforderungen kann nur dann erfolgreich sein, wenn<br />

unterschiedliche Subjekte, die durch unterschiedliche Relationen mit den Gewinnern der<br />

ursprünglichen Beziehungen verbunden sind, eine neue Relation eingehen, in der die<br />

Durchsetzung der jeweiligen konkreten Gleichheitsforderungen Gleichheit in dem Sinne schafft,<br />

daß der Einzelne nur dann und in dem Maße die Projekte der anderen unterstüzt, wie diese<br />

seinen Bedürfnissen dienlich sind. Es ist jedoch eine Illusion vergangener Dekaden, davon<br />

auszugehen, daß diese Gleichheit der nach Gleichheit Strebenden von Dauer seien kann, denn<br />

sowohl die Tendenz, erlittene Ungleichheit durch scheinbar genossene Ungleichheit zu<br />

kompensieren, als auch der individuelle Austritt aus dieser Gruppe unmittelbar nach der<br />

Befriedigung der eigenen Forderungen transformiert diese Gruppengleichheit von einer realen<br />

Tatsache zu einem intersubjektiven Phänomen, dem nur der Analytiker habhaft werden kann.<br />

Jürgen Habermas versuchte erstmals mit seinem Band "Arbeit und Interaktion - Bemerkungen<br />

zu Hegels Jenenser 'Philosophie des Geistes" 870 diese Unterscheidung zwischen einem an<br />

Intersubjektivität orientierten, kommunikativen Handeln und einer zweckrationalen und<br />

instrumentellen Arbeit plausibel zu machen. Im Gegensatz zum Modell einer rein auf Arbeit<br />

basierenden Konstituierung der Welt, die Habermas bei Marx begründet sieht 871 , stellt er in<br />

seiner Theorie diese bislang unerkannte zweite Natur der Interaktion in den Mittelpunkt der<br />

Betrachtungen, da nach der marxistischen Sichtweise "1) das Produktionsparadigma den<br />

Begriff der Praxis so ein(grenzt), daß sich die Frage stellt, wie sich der paradigmatische<br />

Tätigkeitstypus der Arbeit oder der Herstellung von Produktion zur Gesamtheit aller übrigen<br />

kulturellen Äußerungsformen sprach- und handlungsfähiger Subjekte verhält. (...) 2) Das<br />

Produktionsparadigma bestimmt den Begriff der Praxis derart in einem naturalistischen Sinne,<br />

daß sich die Frage stellt, ob sich aus dem Stoffwechselprozeß zwischen Gesellschaft und<br />

Natur überhaupt noch normativer Gehalt gewinnen läßt. (...) 3) Das Produktionsparadigma<br />

gibt dem Praxisbegriff eine so klare empirische Bedeutung, daß sich die Frage stellt, ob es mit<br />

dem historisch absehbaren Ende der Arbeitsgesellschaft seine Plausibilität verliert." 872<br />

870 Habermas, Jürgen; Arbeit und Interaktion - Bemerkungen zu Hegels Jenenser 'Philosophie des<br />

Geistes; in: ders.; Technik und Wissenschaft als 'Ideologie'; Frankfurt/Main 1968b.<br />

871 Michael Weingarten (Bemerkungen über Wissenschaft und Krise; in: Topos Nr.4/1994; S.57-75) hat<br />

dies in Bezug auf Marx recht überzeugend widerlegt, indem er die Unterschiede zwischen Marx und<br />

dem Marxismus in diesem Bereich herausarbeitet.<br />

872 Habermas, Jürgen; Der philosophische Diskurs der Moderne; Frankfurt/Main 1985b; S.99. Darüber<br />

hinaus hält Habermas generell fest: "<strong>Die</strong> Ausgleichung der gesellschaftlichen Arbeit ans Modell<br />

269


Demgegenüber eröffnet seine analytische Trennung der unterschiedlichen Aspekte von<br />

Handlung den Blick auf jene zweite Natur, die Handlungen innewohnt, auch wenn die luftigen<br />

Höhen der reinen Vernunft Habermas dazu inspirieren, sowohl die temporäre Begrenztheit von<br />

kommunikativer Handlung als auch die konkrete Undurchdringbarkeit der Verkettung beider<br />

Elemente von intersubjektiver Handlung dergestalt zu verkennen, daß sie bei ihm zu statischen<br />

und singulären Phänomenen werden. 873 Ohne ausführlicher auf Habermas' anschließende<br />

Suche nach Orten rein kommunikativer Handlungen einzugehen, soll doch seine Definition<br />

dieses Topos dargelegt werden, da sie sich gut zur Konkretisierung der oben entwickelten<br />

Handlungsspielräume eignet: "Ich spreche von kommunikativen Handlungen, wenn die<br />

Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über<br />

Akte der Verständigung koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten<br />

nicht primär am eigenen Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der<br />

Bedingung, daß sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen<br />

aufeinander abstimmen können. Insofern ist das Aushandeln von Situationsdefinitionen ein<br />

wesentlicher Bestandteil der für kommunikatives Handeln erforderlichen<br />

Interpretationsleistung." 874 Böse Zungen könnten zu dem Schluß kommen, daß Habermas im<br />

Gegensatz zur Subjektphilosophie seine Theorie auch weiterhin mit dem Schein des Quasi-<br />

Objektiven adeln will, denn wenn erst eine gemeinsame Situationsdefinition als Benachteiligte<br />

in einer Ungleichheitsrelation mit realisierbaren Gleichheitsforderungen den Subjekten<br />

Handlungsmöglichkeiten eröffnet, dann wird der Tag der erfolgreichen Handlung nie kommen,<br />

da dies eine objektive und für alle erkennbare Verkettung der Menschen voraussetzt - zudem<br />

würde emanzipative Handlung dann auf den eingeschränkten Bereich komplexer Relationen<br />

fixiert bleiben und gerade den für die Befriedigung des Individuums zentralen Aspekt des<br />

Privaten ausklammern. Wenn ein Individuum mit realisierbaren Gleichheitsforderungen auf den<br />

Tag warten muß, an dem ihm Andere mit gleichen Forderungen begegnen, bevor es zu handeln<br />

beginnt, dann würde der kapitalistische Lösungsansatz einer Vereinzelung der Subjekte durch<br />

die Differenzierung von Macht aufgehen. Das Gegenteil ist richtig! Besonders die Einbeziehung<br />

der 'Selbsttätigkeit' im Sinne schöpferischer Selbstverwirklichung konnte eine gewisse Plausibilität<br />

allenfalls aus dem romantisch verklärten Vorbild handwerklicher Tätigkeit ziehen. (...) Sie bleibt eine<br />

Variante der Subjektphilosophie, die die Vernunft zwar nicht in der Reflexion des erkennenden, aber<br />

doch in der Zweckrationalität des handelnden Subjekts ansiedelt. In den Beziehungen zwischen<br />

einem Aktor und einer Welt wahrnehmbarer und manipulierbarer Gegenstände kann sich allein eine<br />

kognitiv-instrumentelle Rationalität zur Geltung bringen; und in dieser Zweckrationalität geht die<br />

vereinigende Macht der Vernunft, die jetzt als emanzipatorische Praxis vorgestellt wird, nicht auf."<br />

(Habermas 1985b,82)<br />

873 "Erfolgs- vs. Verständigungsorientierung. Indem ich strategische und kommu nikative Handlungen<br />

als Typen bestimmte, gehe ich davon aus, daß sich konkrete Handlungen unter diesen<br />

Gesichtspunkten klassifizieren lassen. Ich möchte mit 'strategisch' und 'kommunikativ' nicht nur<br />

zwei analytische Aspekte bezeichnen, unter denen sich dieselbe Handlung einmal als die<br />

wechselseitige Beeinflussung von zweckrational handelnden Gegenspielern, und zum anderen als<br />

Prozeß der Verständigung zwischen Angehörigen einer Lebenswelt beschreiben lassen. Vielmehr<br />

lassen sich soziale Handlungen danach unterscheiden, ob die Beteiligten entweder eine erfolgsoder<br />

eine verständigungsorientierte Einstellung einnehmen; und zwar sollen sich diese<br />

Einstellungen unter geeigneten Umständen anhand des intuitiven Wissens der Beteiligten selbst<br />

identifizieren lassen." (Habermas 1988; 1,385/386)<br />

874 Habermas 1988; 1,385.<br />

270


von Subjekten, die nicht unmittelbar Opfer einer konkreten Ungleichheitsrelation sind, in diese<br />

Relation eröffnet den Fordernden ungeahnte Handlungsspielräume, weil sie den<br />

Möglichkeitsspielraum von Sanktionen gegen den Protagonisten der ursächlichen Relationen<br />

erhöhen. Erst die Gewinnung dieser Verknüpfung von individuell unlösbaren<br />

Gleichheitsforderungen zu einer temporären Gleichheit in Bezug auf die nun ausgedehnte und<br />

tendenziell universelle Gleichheitsforderung schafft jene Handlungsspielräume, die notwendig<br />

sind, um die Welt mit den individuellen Bedürfnissen zu befrieden. Obwohl immer die<br />

Möglichkeit besteht, daß das konkrete Subjekt am Tag seines Triumphes die Gemeinschaft<br />

der nach konkreter Gleichheit Strebenden verläßt und sich dem nun wohligeren Sein<br />

verschreibt, bleibt de facto immer die Möglichkeit offen, daß es entweder durch den<br />

temporären Zusammenschluß mit anderen eine neue Sichtweise auf die Dinge gewinnt, in der<br />

bisher unreflektierte Seinszustände zum Gegenstand von Gleichheitsforderungen werden, oder<br />

daß durch die Dynamik der Bündelung von konkreten Gleichheitsforderungen zu einem<br />

universellen Gleichheitskanon einem Interaktionsmodell zum Durchbruch verholfen wird, indem<br />

konkrete Gleichheit die Regel und konkrete Ungleichheit die Ausnahme sind.<br />

271


In dem Roman Justine und Juliette bietet sich für die tugendhafte Justine die<br />

Möglichkeit, dem Gefängnis zu entkommen, jedoch "viele Leute werden verbrennen,<br />

da besteht kein Zweifel: was ficht’s dich an, Justine; sobald es um unser eigenes<br />

Wohl geht, muß uns das Schicksal der anderen stets einerlei sein. Mir jedenfalls ist<br />

dieses fadenscheinige Gespinst der Brüderlichkeit, das Schwäche und Aberglaube<br />

zwischen den Menschen ausspannen, fremd. Bleiben wir auf uns allein gestellt, mein<br />

Mädchen, wie uns die Natur erschaffen hat: sehen wir jemals, daß sie einen<br />

Menschen an einen andern Menschen bindet? Wennzwar uns bisweilen das Gebot<br />

der Stunde einander näherbringt, so müssen wir uns, sobald es unser Eigennutz<br />

verlangt, wieder voneinander trennen, denn das oberste, gerechteste und heiligste<br />

Naturgesetz ist ungezweifelt der Egoismus; laß uns in den anderen nichts als<br />

Individuen sehen, die für unsere Lüste und Mutwilligkeiten geschaffen sind:<br />

verkriechen wir uns, wenn wir die Schwächeren sind; machen wir, nach Art der Tiere,<br />

von all unseren Vorrechten Gebrauch, wenn wir die Stärkeren sind."<br />

Donatien Alphonse Francois de Sade 875<br />

3.3. Solidarität zwischen leerem Versprechen und ideologischer Vereinnahmung<br />

Wenn am Beginn dieses Kapitels kein Märchen steht, liegt dies in der besonderen<br />

Stellung der Solidarität zwischen Solidaritätsabgabe und der Solidarität aller, deren<br />

Leidenschaft Kaffee ist, begründet. Sie gleicht so mehr einem Fabelwesen als einem<br />

philosophischen Begriff, dessen Monumentalität durch ein triviales Beispiel aus den<br />

lichten Höhen des reinen Geistes verdrängt werden muß, bevor ihm die dialektischen<br />

Betrachtungen einen Hauch von Evidenz zurückgeben. Um den literarischen Zugang<br />

nicht gänzlich in den Hintergrund treten zu lassen, sei an dieser Stelle jedoch auf die<br />

sprachliche Nähe verwiesen, in der 'solidaire' und 'solitaire', also solidarisch und<br />

einsam in der französischen Sprache stehen. Während Jonas - Kunstmaler in einer<br />

Erzählung von Camus 876 - die Verwirklichung des eigenen Ichs in dem reinen Akt<br />

des Malens zu erkennen glaubt, bringt ihn seine Umwelt dazu, diesen Genuß mit<br />

anderen zu teilen, da "ein bißchen Liebe ungeheuer viel" 877 bedeutet für den Prozeß<br />

des Malens. "Was tut’s wie man dazu kommt!" 878 Jedoch: "In gewissem Sinn war<br />

sein Leben wohl ausgefüllt, keine Stunde blieb müßig, und er dankte seinem<br />

Schicksal, das ihn vor der Langeweile bewahrte. Andererseits waren viele Striche<br />

nötig, um ein Bild zu füllen, und manchmal dachte er, daß die Langeweile auch ihr<br />

Gutes habe, da man ihr durch angestrengte Arbeit entgehen konnte. Jonas Schaffen<br />

verlangsamte sich immer mehr, je anregender seine Freunde wurden. Selbst in den<br />

seltenen Stunden, da er ganz alleine war, fühlte er sich zu müde, um mit verdoppeltem<br />

Eifer das Versäumte nachzuholen. In solchen Stunden war er nur fähig, einer<br />

Neuordnung nachzusinnen, die den Freuden der Freundschaft und den Vorzügen der<br />

Langeweile gleichermaßen gerecht würde." 879<br />

Nicht erst dieser literarische Rekurs auf das Werk von Camus, der schon als Garant einer<br />

dialektischen Betrachtung der in Absurdität gefangenen Welt aus den luftigen Höhen des<br />

875 Sade 1990ff.;1,99/100.<br />

876 Camus, Albert; Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit; in: ders.; Gesammelte Erzählungen; Reinbek<br />

1971; S.181-213.<br />

877 Camus 1971,204.<br />

878 Camus 1971,204.<br />

879 Camus 1971,195.<br />

272


geistigen Pantheon entführt wurde, um die Trivialität einer Neukonstruktion praktischer<br />

Philosophie in der Tradition von Karl Marx mit einem Schein von wissenschaftlich-absurder<br />

Solidität zu umschmeicheln, läßt jene innere Spannung spürbar werden, die ein Individuum<br />

bewegt, die Sphäre des eigenen Ichs zu verlassen, um mittels einer hier als Solidarität zu<br />

entwickelnden Interaktion andere für seine Sache einzuspannen, indem es seine Sache zu ihrer<br />

und ihre Sache zu seiner macht, sondern die Dialektik der Solidarität zwischen Eigennutz und<br />

Opfer scheint eine weit verbreitete Einsicht in den Gang der Welt zu sein. Daß dies ein<br />

Individuum voraussetzt, welches die grundlegenden Aussagen über Freiheit und Gleichheit, die<br />

hier entwickelt wurden, auf die eine oder andere Weise teilt, wird zur conditio sine qua non,<br />

wenn solidarisches Handeln im Sinne einer als Emanzipation begriffenen Ganzheit wirksam<br />

werden will. Im Gegensatz zu der von dieser Studie intendierten, allgemein-menschlichen<br />

Emanzipation könnte ein Subjekt, dem seine eigene Freiheit gleichermaßen gleichgültig bliebe<br />

wie die Befriedigung der individuell ausgeprägten konkreten Gleichheitsideale im Sinne einer<br />

Verwirklichung, unter dem Mantel der Solidarität alles mögliche treiben. <strong>Die</strong> Spannweite<br />

dieser im folgenden zu 'entlarvenden', antiemanzipatorischen Solidaritätsbegriffe erstreckt sich<br />

von der psychopathischen 'selbstlosen' Tat bis zu einer Versklavung anderer durch den<br />

Verweis auf die hohen, aber nichtsdestoweniger hohlen Ideale einer theatralischen<br />

Gemütsethik. Sie können, auch wenn sie dem eigenen Sein in dieser oder jener Form nützlich<br />

erscheinen, das Individuum letztlich nicht umfassend befriedigen, da der Handelnde in all<br />

diesen Konzepten, die als Projektionsfläche einer negativen Induktion im weiteren in<br />

Augenschein genommen werden, als Clown einer Stückwerk bleibenden Zirkusnummer agiert,<br />

selbst wenn die Scheinwerfer des guten Gewissens, die das nichtige Dasein für einen kurzen<br />

Moment illuminieren sollen, längst erloschen sind.<br />

Ohne der Begriffsgenese vorgreifen zu wollen, sei hier schon gesagt, daß das<br />

Begriffsfeld der Solidarität im Gegensatz zu Freiheit und Gleichheit recht neu ist, da<br />

es die Abstraktheit einer in sich zerrissenen und entfremdeten Welt voraussetzt. Es<br />

gilt somit gleichermaßen zu rechtfertigen, warum sich diese Praktische Philosophie in<br />

der Tradition von Karl Marx von dem alten Triadenbegriff der Brüderlichkeit<br />

abwendet, als auch aufzuzeigen, warum der klassische Begriff der Freundschaft ein<br />

unzureichendes Bild der Interaktionsform der praktischen Apathiker zeichnet.<br />

Eine weitere Konkretionsmöglichkeit erwächst aus dem Umstand, daß<br />

universalistische Solidaritätsmodelle zwar modern im Sinne einer Alltagstauglichkeit<br />

sind, aber nichtsdestoweniger erliegt ihr realer Inhalt der dialektischen Verknüpfung<br />

von Qualität und Quantität. Wie schon im Freiheitskapitel angesprochen wird<br />

nachzuweisen sein, daß eine unerfüllbare Solidaritätsforderung den Menschen in<br />

zweierlei Weise den Zugang zu einer emanzipatorischen Solidarität verstellt:<br />

Unerfüllbare Forderungen erzeugen ihr Gegenteil, weil sich der einzelne im Angesicht<br />

des Damoklesschwertes der 'göttlichen‘ Aufgabe als nichtiger Mensch von jeder<br />

Form der selbstbestimmt interaktiven Handlung zurückzieht. Das Wissen um die<br />

eigene Nichtigkeit verleitet den einzelnen dazu, jenseits aller Rationalität jenen<br />

Heroen die Verfügungsgewalt über das eigene Selbst zuzusprechen, die in der Ebene<br />

der Metadiskussion über Form und Richtung von solidarischem Handeln das große<br />

273


Wort führen. Zwar erscheint die Solidarität mit den Schwachen und Ausgegrenzten<br />

der globalen Gesellschaft im politischen Diskurs als emanzipatorisches Gegenstück<br />

zu der von Sartre kritisierten Freundschaft der Richter und Henker, und doch bleibt<br />

eine praktische Philosophie in den auswechselbaren Strukturen von Macht und<br />

Herrschaft gefangen, solange sie es nicht vermag, die Solidarität der Einzelnen mit<br />

sich an erste Stelle zu setzen. Es muß an diesem vorgerückten Punkt der Studie wohl<br />

nicht mehr gesagt werden, daß dies zwar der Ausgangspunkt einer selbstreflexiven<br />

Konstruktion einer emanzipatorischen Solidarität ist, ohne gleichermaßen ihr<br />

Endpunkt zu sein.<br />

3.3.1. Solidarität: Eine Interaktionsform jenseits aller Freundschaft<br />

Wenn rekapituliert wird, welchen Stellenwert Solidarität im Leben der nach Freiheit und<br />

Gleichheit strebenden Menschen nach dem bisher gesagten einnimmt, dann kann von einer<br />

Doppelstruktur von Bedürfnissen gesprochen werden: Einerseits bedarf das Subjekt zur<br />

Durchsetzung seiner Ziele jenseits einer <strong>apathische</strong>n, abstrakten Freiheit der anderen, um die<br />

Welt mit den eigenen Bedürfnissen zu harmonisieren, auch wenn die Erkenntnis der<br />

Verwobenheit der Welt jenseits des eigenen Ichs mit der als Bedrückung empfundenen<br />

Seinslage nicht selten den Versuch einer Suche nach Bündnispartnern ins Licht einer<br />

utopischen Ausblendung der konkreten Potenzen von Veränderung stellt. Andererseits wurde<br />

gezeigt, daß die Diskursstruktur, welche sich unter der Maxime der Suche nach Freiheit und<br />

Gleichheit formiert, zum temporären Experimentierfeld neuer Vergesellschaftungsmodelle wird,<br />

auch wenn sie nicht Selbstzweck werden können, ohne das kollektive Unternehmen einer<br />

Suche nach Freiheit und Gleichheit an den Klippen einer nun doppelt entfremdeten Welt<br />

zerschellen zu lassen.<br />

Man könnte Solidarität in einer ersten Annäherung folgendermaßen populär umreißen: Der<br />

Einzelne gliedert sich einer Gemeinschaft unter, deren Struktur als Bündnis von elf Freunden<br />

verstanden werden kann, wobei der Verweis auf die neunzig Minuten eines Spiels, die<br />

Zielgerichtetheit der Mission und das Tor als Symbol für die Gewinnung von Gleichheit und<br />

Freiheit, diese Solidarität als konkrete Freundschaft in Gegnerschaft zum universellen<br />

Freundschaftsbegriff der Antike bestimmt. Es fragt sich nur, ob nicht der Freundschaftsbegriff<br />

selbst durch seine historische Genese so eindeutig bestimmt ist, daß seine Verwendung im<br />

Rahmen eines temporären, zweckrationalen und partiell egoistischen<br />

Vergesellschaftungskonzeptes den Betrachter negativ verwirrt, auch wenn es natürlich falsch<br />

wäre, zu behaupten, daß ein Begriffsfeld durch seine tradierte Verwendungsweise auf alle<br />

Zeiten festgeschrieben ist. <strong>Die</strong> Verwirrung wäre dann negativ, wenn die Verunsicherung der<br />

Begriffswelt der Betrachter so fundamental wird, daß keine produktive, geistige Reflexion des<br />

hier entwickelten Gesamtkonzeptes einer praktischen Philosophie mehr möglich erscheint, da<br />

sie sich dem Betrachter als Verbindung von für ihn als unverbindbar festgeschriebenen Teilen<br />

manifestiert. Es gilt also vor der immanenten Suche nach dem Ursprung und Gegenstand des<br />

Solidaritätsbegriffes dessen äußere Grenzen abzustecken, die durch Freundschaft - und im<br />

nächsten Kapitel durch Brüderlichkeit - historisch bestimmt sind.<br />

274


Während sich für die Vorsokratiker wie Empedokles Freundschaft als kosmologisches<br />

Prinzip, als Zustand einer umfassenden Versöhnung und Ursache des Guten manifestierte, 880<br />

überführt Platon mit einem Rekurs auf die spezifische Qualität der Handelnden (Gute und<br />

schlechte Menschen) das Freundschaftsproblem als Moment der politischen Eintracht in sein<br />

Konzept der Gerechtigkeit der menschlichen Beziehungen insgesamt. 881 Freundschaft wird so<br />

zum Moment eines von außen initiierten, individuellen Sittlichkeitskonzeptes, welches mit der<br />

Möglichkeit der Selbstbegründung, welche im Laufe der Darstellung zum Kriterium der<br />

Emanzipation wurde, unvereinbar scheint.<br />

Im Gegensatz zu diesen recht abgehobenen Konzepten verzeichnet der Freundschaftsbegriff<br />

bei Aristoteles schon jene räumliche Begrenztheit, die in Annäherung an das Interaktionsmodell<br />

der Solidarität formuliert wurde, auch wenn bei ihm Freundschaft als Zentrum humaner und<br />

politischer Interessen die platonsche Verknüpfung von Gerechtigkeit und Freundschaft nur<br />

spiegelbildlich gebrochen reproduziert, da nach Aristoteles Freunde keiner Gerechtigkeit mehr<br />

bedürfen, während auch die Gerechten ohne Freundschaft kein vollkommenes Leben<br />

führen. 882 Zum einen begrenzt Aristoteles Freundschaft auf gleichwertige Subjekte und<br />

klammert dezidiert Dinge (mithin auch Sklaven), Frauen und Tiere aus, da diese der<br />

wechselseitigen Bedeutung von Freundschaft nicht gerecht werden können, 883 zum anderen<br />

kann sich nach Aristoteles Freundschaft nur im direkten Kontakt der Polisbürger formieren, sei<br />

es als Form der Kameradschaft, der Jugendfreundschaft, der persönlichen Vertrautheit im<br />

Vereinsleben oder der politischen Freundschaft. 884 Damit bezieht Aristoteles Stellung in der<br />

Frage nach den Subjekten der Interaktionsbeziehung Solidarität, wobei es recht einleuchtend<br />

erscheint, daß Freundschaft nur unter gleichwertigen Partnern möglich wird, 885 auch wenn<br />

„mein Freund, der Baum“ trällernden Naturschützern als Spiegelbild ihrer selbst erscheinen<br />

mag und damit mehr über sie als über die Freuden der Freundschaft aussagt. Jedoch kann<br />

diese Differenzierung kaum auf das Begriffsfeld der Solidarität angewandt werden, weil sie<br />

nach der ersten Annäherung jenseits der unmittelbaren Vergesellschaftungsebene derer zu<br />

liegen scheint, die einander von Festgelagen und Senatssitzungen kennen.<br />

Fraglich ist auch, ob Freundschaft und mithin auch Solidarität in allen Fällen auf den<br />

aristotelischen Motiven basieren, die einerseits in dem Streben nach dem Guten, dem<br />

Nützlichen und dem Angenehmen 886 und zum anderen als Moment der Eudämonie als<br />

Methode zur Überwindung der menschlichen Urangst vor dem Leben in Einsamkeit zu sehen<br />

880 Vgl.: Empedokles; zitiert in: Aristoteles 1989ff.; Metaphysik; 985 a. Vgl. auch: Dirlmeier, Franz;<br />

Philos und Philia im vorhellinistischen Griechentum; Phil.Diss. München 1931.<br />

881 Vgl.: Platon 1993; (Lysis 214St-216St) 3,98-101; (Gorgias 507St) 1,132/133. Vgl. auch: Ziebis,<br />

Willibald; Der Begriff Philia bei Platon; Phil.Diss. Breslau 1927.<br />

882 Vgl.: Aristoteles 1958ff.; Nicomachische Ethik; 1155 a.<br />

883 Vgl.: Aristoteles 1958ff.; Nicomachische Ethik; 1161 b.<br />

884 Vgl.: Aristoteles 1958ff.; Nicomachische Ethik; 1157 b,1161 a.<br />

885 Aristoteles definiert Freundschaft in der Nicomachischen Ethik als Mitte zwischen aufdringlicher<br />

Gefallsucht, berechnender Schmeichelei und abwehrender Selbstverhärtung. (Vgl.: Aristoteles<br />

1958ff.; Nicomachische Ethik; 1108 a. Vgl. auch: Normann, Friedrich; <strong>Die</strong> von der Wurzel Philgebildeten<br />

Wörter und die Vorstellung der Liebe im Griechischen; Phil.Diss. Münster 1952.<br />

886 Vgl.: Aristoteles 1958ff.; Nicomachische Ethik; 1155 b.<br />

275


sein sollen. 887 Während die Stoiker die aristotelische Motivtrichotomie zum festen<br />

Lehrbestand ihres Lebenskonzeptes erhoben und Freundschaft zu den officia media zählten, 888<br />

wandten sie sich doch gegen die wenig heroische, auf dem Streben nach einem angenehmen<br />

Leben basierende Freundschaft der Normalmenschen und proklamierten Freundschaft als<br />

ausschließliches Privileg der Weisen. 889 Cicero widersprach diesem stoischen Monopol der<br />

Weisen auf wahre Freundschaft und wies recht anschaulich nach, daß gerade die einfachen<br />

Menschen mit ihren alltäglichen Nöten und Sorgen viel öfter Freundschaft auf die Probe stellen<br />

als die weltentrückten Geistesgrößen und so viel mehr Informationen über die Qualität ihrer<br />

Freundschaften haben, da diese sich erst in der Bewährung konkret manifestieren. 890 Der<br />

aristotelische Freundschaftsbegriff scheint eher der Welt jener unsterblichen Götter zu<br />

entstammen, die einander treffen, um durch neckische Streiche und huldvolle Reden die eigene<br />

Langeweile zu besänftigen.<br />

Im christlichen Einflußgebiet wich diese differenzierte und auf immanenten Analysen<br />

aufbauende Sichtweise der Freundschaft ab dem Mittelalter mehr und mehr einer einerseits<br />

spiritualistischen Freundschaft, deren Ursprung Gott bzw. der gemeinschaftliche Bezug der<br />

Gläubigen auf ihn darstellte, 891 und einer andererseits naturalistischen Freundschaft, wobei<br />

Natur durch die Gottgegebenheit dieser Sphäre die Weihen einer Begründung erhielt, so daß<br />

Adelard von Bath festzustellen glaubte, daß das, "was von Natur ähnlich ist, einander<br />

notwendig ein Freund ist". 892 Getragen von dem Wunsch der großen Einheit mit Gott leitete<br />

Thomas von Aquin eine Wende im Freundschaftsbegriff ein, der diesen vorerst aus der<br />

rationalen Sphäre der Begründung verbannen sollte, indem er als Teil des universellen Gefühls<br />

der gottgegebenen Liebe instrumentalisiert wurde. 893 Am Ausgang des Mittelalters wich diese<br />

jenseitsgewandte Bedeutung der Freundschaft wieder einer zwischenmenschlichen Sichtweise,<br />

die sich stark dem aristotelischen Modell anlehnte, ohne dieses jedoch zu kopieren 894 , so<br />

führte die Wiederentdeckung der Individualität bei Montaigne dazu, daß der Freund weniger<br />

als selbständiges Subjekt in Erscheinung trat, als vielmehr als alter ego das Wunder zu<br />

verwirklichen schien, "sich selbst zu verdoppeln". 895 In diesem Sinne steht auch nicht der<br />

Austausch mit anderen im Mittelpunkt der Freundschaft als eine Übereinstimmung der Seelen<br />

und Charaktere, die es fraglich macht, warum man der Freundschaft bedarf, da diese doch<br />

jenen geistigen Selbstgesprächen gleicht, welche die vereinzelte ‚Seele‘ im Kerker des Seins<br />

anstimmt, um sich selbst die Furcht vor sich selbst zu nehmen. <strong>Die</strong>se Form der<br />

887 Vgl.: Aristoteles 1958.; Nicomachische Ethik; 1097 b, 1169 b.<br />

888 Armin 1905ff.; 3,Frg.723.<br />

889 Armin 1905ff.; 3,Frg.630.<br />

890 Cicero, Marcus Tullius; Laelius; Ditzingen o.J.; 18.<br />

891 Vgl.: Egenter, Richard; Gottesfreundschaft in der Scholastik und Mystik des 12. und 13.<br />

Jahrhundert; Augsburg 1928.<br />

892 Bath, Adelard von; Quaestiones Naturales; in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie und<br />

Theologie des Mittelalters; Nr.31.2/1934; S.44; Vgl. auch: Nitschke, August; Naturerkenntnis und<br />

politisches Handeln im Mittelalter: Körper-Bewegung - Raum; Stuttgart 1967.<br />

893 „<strong>Die</strong> Liebe ist eine Freundschaft des Menschen zu Gott“ (Aquin 1977, I/II 26a, 4).<br />

894 Rasch, Wolfdietrich; Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des<br />

18.Jahrhunderts; Halle 1936.<br />

895 Montaigne, Michel de; Über die Freundschaft; in: Montaigne 1953,22.<br />

276


Selbstversicherung durch den Verweis auf einen ähnlichen anderen entpuppt sich als recht<br />

fragwürdiges Unterfangen, führt doch die Kenntnis über die Existenz einer ganzen Heerschar<br />

von Jesusreinkarnationen im konkreten Kontext der psychiatrischen Klinik zu gewaltvollen<br />

Zusammenstößen und nicht zum gemeinsamen Jubilieren. Während Montaigne Freundschaft<br />

als "eine unbegreifliche, unwiderstehliche Macht" 896 nicht klar von der 'niederen' Liebe trennt<br />

und dezidiert die Gefühlsebene miteinbezieht, verwirft Spinoza jegliche, auf Gefühlen<br />

basierende Freundschaft und proklamiert statt dessen die Ehrbarkeit einer an Vernunft<br />

orientierten Freundschaft, die auch den Austauschcharakter der nach Wahrheit strebenden<br />

Menschen berücksichtigt. 897 <strong>Die</strong> Aufklärer gliederten das Interaktionsmodell, das auch<br />

weiterhin unter den Begriff der Freundschaft subsumiert blieb, ihrer Großtheorie unter, und so<br />

verwundert es nicht, daß Freundschaft zur diesseitigen, vernünftigen und moralischen<br />

Grundhaltung gegenüber jedermann 898 und gar zum Grundprinzip der idealen, aufgeklärten<br />

Gesellschaft umgewidmet wurde. 899 Ähnlich wie alle früheren Epochen prägte auch die<br />

Romantik dem Begriffsfeld der Freundschaft ihren geistigen Stempel auf: Für Friedrich<br />

Schlegel ist "partiale Ehe und Liebe Freundschaft, von allen Seiten und nach allen Richtungen<br />

universelle Freundschaft. Das Bewußtsein der notwendigen Grenzen ist das Unentbehrlichste<br />

und das Seltenste in der Freundschaft." 900 Rationaler erscheint da schon die an Hegel<br />

geschulte Annäherung von Schleiermacher, die in der Freundschaft ein Mittel zur<br />

Verwirklichung der im Menschen angelegten Individualität und sogar "eine Annäherung zur<br />

Individualität in’s Unendliche" zu erkennen glaubt, da sie die "Verschmelzung der Individualität,<br />

des Fragments, welches jeder von der ganzen Menschheit in sich hat, dessen was in dem<br />

Einzelnen die Menschheit repräsentiert", darstellt. 901 Zwar erlag Schleiermacher ganz der<br />

hegelschen Versuchung 902 , hinter dem Wirken der Einzelnen die geheime Macht des<br />

universellen Individuums zu suchen, jedoch liegt in seiner Feststellung, wonach Freundschaft<br />

und in der hier verwendeten Diktion Solidarität Ausdehnungsbewegungen des Einzelnen in eine<br />

universellere Sphäre darstellen, die ohne sie erreichen zu können das allumfassende Bild einer<br />

896 Montaigne 1953,15.<br />

897 Spinosa, Baruch de; Ethik; Hamburg 1950; S.220.<br />

898 Vgl. z.B.: Thomasius, Christoph; Einleitung in die Sittenlehre; o.O. 1692. Wenn bei Thomasius<br />

Freundschaft sowohl als Gesinnung, als auch als Handlung im Mittelpunkt seiner Ethik steht, so<br />

kann diese als "vergessener Vorklang mancher späteren Theorien" angesehen werden. (Vgl.:<br />

Schneiders, Werner; Recht, Moral und Liebe – Untersuchung zur Entwicklung der<br />

Moralphilosophie und Naturrechtslehre des 17.Jahrhunderts bei Christoph Thomasius; Phil. Diss.<br />

Münster 1961; S.78)<br />

899 "Est autem Amicitia virtus reciprocae benevolentia" (Goclenius, Rudolf; Amicitia; in: Lexicon<br />

philosophicum; Frankfurt/Main 1613 (Reprint Hildesheim 1964); S.91). Vgl. auch: Klopstock,<br />

Friedrich Gottlieb; Oden; Leipzig 1889. Bei Klopstock wird die Freundschaft zur Begründerin der<br />

Gemeinschaft und als "nicht unwürdig der Ewigkeit" (Klopstock 1889,83) präsentiert.<br />

900 Schlegel, Friedrich; Artenäum-Fragment; Stuttgart 1958ff.; Bd.2, S.229.<br />

901 Dilthey, Wilhelm (Hrg.); Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers; Berlin 1870; S.107, vgl.<br />

auch: S.114.<br />

902 Vgl. z.B.: "Männer sind Freunde nicht so sehr direkt als vielmehr objektiv in einem substantiellen<br />

Bande, in einem <strong>Dr</strong>itten (...) das Band ist ein objektiver Inhalt, nicht Zuneigung als solche." (Hegel,<br />

Georg Wilhelm Friedrich; Werke; Frankfurt/Main 1971; Bd.16, S.314)<br />

277


Vergesellschaftungssphäre entwirft, in der die Methode der Freundschaft zum Modellfall des<br />

Ganzen erhoben wird.<br />

Gegen dieses Universalisierungskonzept richtete sich schon lange vor Schleiermacher Kant<br />

und verwarf universelle Freundschaftskonzeptionen als "Steckenpferd der<br />

Romanenschreiber" 903 , aber, obwohl diese letztlich unerreichbar bleiben, wurden sie als Maß<br />

und Richtung in das kantsche Konzept des ethischen Handelns integriert. 904 Radikaler<br />

präsentiert sich da schon Schopenhauer, nach dessen Ansicht die philosophiegeschichtlich<br />

relevanten Konzepte der Freundschaft den menschlichen Egoismus unberücksichtigt lassen, so<br />

daß es naheliegt, uneigennützige Freundschaft zu jenen Dingen zu zählen, von denen man, "wie<br />

von den kolossalen Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft sind oder irgendwo<br />

existieren." 905 Auch Nietzsche legt die klassischen Konzepte auf dem Müllhaufen der<br />

unsinnigen und falschen Begriffe ab, um nun seinerseits den Begriff mit neuem Inhalt zu füllen.<br />

So kann Freundschaft zweier Personen idealtypisch nur durch einen "gemeinsamen höheren<br />

Durst nach einem über ihnen stehenden Ideale" 906 hervorgerufen werden, das nicht auf Mitleid,<br />

sondern auf Mitfreude 907 fußt und so zum "Fest der Erde (wird) und ein Vorgefühl des<br />

Übermenschen sein soll." 908<br />

Freundschaft bewegt sich also nach Ansicht der klassischen Denker zwischen der moralischen<br />

Verpflichtung des Individuums zur produktiven Unterstützung der gesamtgesellschaftlichen<br />

Prozesse und einer Festschreibung als Mittel der Selbstverwirklichung des einzelnen, dessen<br />

Individualität sich im anderen erfüllt und erweitert. <strong>Die</strong>sen letzten Aspekt unterstützt in gewisser<br />

Weise die soziologische und psychologische Betrachtung des Freundschaftskomplexes, denn<br />

diese geht davon aus, daß vor allem die prägendsten Freundschaftsbeziehungen, welche die<br />

Menschen vornehmlich in ihrer Jugend eingehen, elementar auf den<br />

Individualitätsbildungsprozeß einwirken, bzw. mit diesem in Wechselwirkung treten. 909 Cohen<br />

sieht den "Sinn für Freundschaft" in jener "allgemeinen Signatur des geistigen Verkehrs<br />

(begründet), die für Zeitalter charakteristisch ist, denen ihre jeweilige Kultur missbehagt und<br />

die das Vorgefühl einer Umwandlung der Dinge haben. In solchen Zeiten klammert man sich<br />

an das Urgefühl der Freundschaft." 910 Eine Definition, die durch ihre unbestimmte<br />

Verwendung vielleicht unbewußt jenem Umstand Rechnung trägt, daß jede konkrete<br />

Freundschaft, die der Mensch in seinem Leben eingeht, sich von allen anderen unterscheidet,<br />

weil die Subjekte dieser Freundschaft immer andere sind.<br />

Gegen Ende dieses kurzen historischen Rückblickes auf die begriffliche Genese der<br />

Freundschaft scheint sich der Eindruck zu bestätigen, daß jenseits der begrenzten Sphäre der<br />

Polisgesellschaft Freundschaft ein Interaktionsmodell bleibt, das wenig geeignet scheint, dem<br />

903 Kant, Immanuel; Metaphysik, Sitten, Tugendlehre; in: Kant 1978;8,609.<br />

904 Kant 1978;8,609-611.<br />

905 Schopenhauer, Arthur; Parerga und Paralipomena I; in: ders.; Sämtliche Werke; Wiesbaden 1972;<br />

Bd.5, S.489.<br />

906 Nietzsche 1988ff.; 12,53.<br />

907 Nietzsche 1988ff.; 8,350.<br />

908 Nietzsche 1988ff.; 13,75.<br />

909 Vgl. z.B.: Tenbruck, Friedrich; Freundschaft: Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen<br />

Beziehungen; in: Kölner Zeitung für Soziologie und Sozialpsychologie 16/1964; S.439/440.<br />

910 Cohen, Hermann; Ethik des reinen Willens; Berlin 1907; S.574.<br />

278


Individuum jene Handlungsebene zu eröffnen, in der es seine konkreten Gleichheitsforderungen<br />

verwirklichen kann, geschweige denn als Modell einer freien und gleichen Gesamtgesellschaft<br />

vorerst fiktionaler Endpunkt der Emanzipation zu sein. 911 <strong>Die</strong>s folgt nach meiner Einschätzung<br />

aus dem Umstand, daß Freundschaft ein auf Gefühlen aufgebautes, wechselseitiges<br />

Beziehungsnetz spannt, das vor allem dann Bestand hat – und damit nach allgemeiner<br />

Auffassung erfolgreich ist – wenn alle Subjekte der Gesellschaftsgruppe Freundschaft insoweit<br />

ihre eigenen Ziele vernachlässigen als es dem konkreten Gemeinwohl nützlich erscheint. <strong>Die</strong>s<br />

gilt auch und gerade für den stoischen Freundschaftsbegriff, selbst wenn dieser für sich<br />

reklamiert, weit oberhalb des einfachen Gefühls den hehren Idealen der Wahrheit zu dienen,<br />

da es zu berücksichtigen gilt, daß dies nur dann eine wahrhaft objektive Basis wäre, wenn es<br />

den Menschen vergönnt wäre, über jene gewußte Wahrheit zu verfügen, die den Göttern<br />

vorbehalten scheint. Da die Existenz von Göttern ähnlich der Möglichkeit zum Besitz der<br />

objektiven Wahrheit als ungewiß eingestuft werden muß bis die Menschheit, wenn nicht gar<br />

die Welt, ihr Ende gefunden hat, bleibt der Kristallisationspunkt der stoischen Freundschaft ein<br />

individueller bzw. gruppendynamischer Wahrheitsinhalt, den der Einzelne teilen kann, oder<br />

eben auch nicht. Gerade das Werk der produktiven Stoiker kann dabei als Beleg für die<br />

These dienen, daß gruppendynamische Prozesse sich dann negativ auf die geistige Dynamik<br />

konkreter theoretischer Elemente auswirken, wenn der einzelne Gefahr läuft, die von den<br />

Meistern gesetzten Dogmen zu verletzen. <strong>Die</strong>s ist im Fall einer Freundschaft, die nicht darauf<br />

beruht, dem Einzelnen jenes inhaltsleere Gefühl der Geborgenheit zu geben, welches in der<br />

menschlichen Genese scheinbar ungebrochen jenen Hordentrieb reproduziert, der wie gezeigt<br />

anthropologische Voraussetzung seiner Entwicklung war, um so gravierender als sich dort der<br />

Einzelne gerade nicht insoweit zurück nehmen kann, daß er sagt: Zur Aufrechterhaltung der<br />

behaglichen Geborgenheit der Freundschaftsbeziehung klammere ich in der Debatte mit den<br />

Freunden jene Sphäre aus, die mein Streben nach Verwirklichung von konkreter Gleichheit<br />

beinhaltet, da sonst die Lüge zur Aufrechterhaltung der auf Wahrheit orientierten<br />

Gruppenbeziehung das schon genügend entfremdete Wesen gänzlich in einen Prozeß treiben<br />

911 Michel Foucault diskutiert Freundschaft im Kontext der Homosexualität ("Wir müssen darauf<br />

hinarbeiten, homosexuell zu werden, und dürfen uns nicht hartnäckig darauf versteifen, daß wir es<br />

schon sind. Das Problem der Homosexualität entwickelt sich mehr und mehr zu einem Problem der<br />

Freundschaft." Foucault, Michel; Von der Freundschaft als Lebensweise (1981); in: ders.; Von der<br />

Freundschaft – Michel Foucault im Gespräch; Westberlin o.J.; S.85-93, hier: 86), wobei<br />

Freundschaft in einer Theorie der Lebensweise aufgelöst wird ("Der Begriff der Lebensweise<br />

erscheint mir wichtig. Sollte man nicht eine feinere Unterscheidung einführen, die nicht mehr nach<br />

sozialen Klassen, Berufsgruppen oder Kulturniveaus verfährt, sondern sich an einer<br />

Beziehungsform, d.h. an der ‚Lebensweise‘ orientiert? Eine Lebensweise kann von Individuen<br />

geteilt werden, die sich in bezug auf Alter, Status und soziale Tätigkeit unterscheiden. Sie kann zu<br />

intensiven Beziehungen führen, die keiner institutionalisierten Beziehung gleichen. Und eine<br />

Lebensweise kann, glaube ich zu einer Kultur und einer Ethik führen. '‚Schwul‘ sein heißt nicht, sich<br />

mit den psychologischen Zügen und den auffälligen Masken des Homosexuellen zu identifizieren,<br />

sondern heißt, eine Lebensweise zu bestimmen und zu entwickeln versuchen." Foucault o.J., 89),<br />

die an Foucaults große, aber letzlich fragliche These anknüpft, wonach jeder aus seinem Leben ein<br />

Kunstwerk machen sollte. Letzlich wird so die konkrete Freundschaft zum Experimentierfeld einer<br />

Lebensweise, die ich eher dem abstrakteren Prinzip der Solidarität zuordnen würde, da sie nach<br />

Foucaults eigenen Worten die gewünschte oder gefürchtete Enge der ‚Liebes’beziehung zu<br />

verlassen trachtet.<br />

279


würde, in dem es mehr und mehr das eigene Ich der Außenwelt unterordnen würde. In diesem<br />

Sinne wäre die ideale Freundschaft die, in der alle Bereiche, die dem Individuum wichtig sind,<br />

ausgeklammert bleiben, so daß Freundschaft inhaltsleerer Ausdruck des Triebes nach<br />

Geborgenheit würde. Jedoch schon die zentrale Stellung, die dieser Trieb im menschlichen<br />

Denken einnimmt, läuft diesem Ideal zu wider, um so mehr, als die soziologische Betrachtung<br />

realer Freundschaftsgruppen jenseits des vorerst inhaltsleeren Raumes der Familie nahelegt,<br />

daß sich Freundschaftsbeziehungen um signifikante Probleme des eigenen Strebens nach<br />

Entäußerung gruppieren. Das von Nietzsche beschworene Modell einer Freundschaft der<br />

Egoisten bleibt insoweit Wunschtraum, als sich gezeigt hat, daß diese Form der Freundschaft<br />

im <strong>Die</strong>nste der Durchsetzung einer konkreten Gleichheitsforderung nur von begrenzter Dauer<br />

sein kann. Ob dann noch von Freundschaft zu sprechen ist, bleibt nach dem historischen<br />

Rekurs fraglich.<br />

3.3.2. Solidarität und Brüderlichkeit: Besser solidarisch handeln als brüderlich<br />

teilen<br />

Obgleich lange Zeit der Begriff der Brüder - und später auch der Schwestern - Ausdruck einer<br />

universellen Verbundenheit der im emanzipatorischen Kampf Stehenden war und breitesten<br />

Einzug in das zeitgenössische, revolutionäre Liedgut fand, haftet ihm neben seiner<br />

geschlechtlichen Begrenzung vor allem der Makel einer Parteilichkeit an, welche sich in der<br />

Auseinandersetzung der verschiedenen Interpretationsweisen der Welt als zunehmend<br />

hinderlich erwies. Dabei handelt es sich nicht um die schon des öfteren kritisierte, einseitige<br />

Parteilichkeit für die Sache der Arbeiter, sondern um die wenig emanzipatorische Sache<br />

Christi. Zwar ist es ein Verdienst der Befreiungstheologie, daß nicht wenige Brüder in Jesu zu<br />

Brüdern in Marx wurden, jedoch muß insgesamt eingeräumt werden, daß der Bezug auf einen<br />

Heils- und Dogmenstifter in jedem Fall den emanzipatorischen Tendenzen des Individuums<br />

entgegenwirkt, da sie die Suche nach Wegen und Zielen der Veränderung von außen setzt statt<br />

in autozentrierten Reflexionsprozessen entwickelt zu werden, selbst wenn die konkreten<br />

Praxisversuche sich ihrem äußeren Schein nach kaum von anarchistischen oder<br />

kommunistischen Projekten unterschieden. Ob dies nun für das Interaktionsmodell der<br />

Brüderlichkeit entschuldigend, oder für die alternativen Projekte diskreditierend ist, sei dabei<br />

anheim gestellt. Nicht zuletzt da Brüderlichkeit als Bestandteil der Trias der französischen<br />

<strong>Revolution</strong> bis heute nachwirkt, gilt es an dieser Stelle, etwas differenzierter auf die<br />

Begriffsgeschichte zu rekurrieren, auch wenn der erste Eindruck Brüderlichkeit nicht als<br />

kompatibel mit Solidarität erscheinen läßt. 912<br />

<strong>Die</strong> katholische Bruderschaft (Sodalität) umschließt ex definitionem lediglich die Mitglieder<br />

einer "Genossenschaft" (Sodalitas) mit einem auf religiösen Grundsätzen basierenden,<br />

wechselseitigen Solidaritätsprinzip. Begriffsgeschichtlich leitet sich diese Sodalität vom<br />

lateinischen sodalis (Genosse) ab, wobei dieses Interaktionsmodell zumindest in der römischen<br />

Republik einen durchaus politischen Charakter erlangte, da dort die sodalis Mitglieder jener<br />

illegalen Wahlunterstützungsgemeinschaft waren, die zumindest zeitweilig gegen die Interessen<br />

912 Vgl. zu diesem Themenkomplex: Schieder, Wolfgang; Brüderlichkeit; in: Brunner, Otto/ Conze,<br />

Werner/ Koselleck, Reinhart (Hrg.); Geschichtliche Grundbegriffe – Historisches Lexikon zur<br />

politisch-sozialen Sprache in Deutschland; Stuttgart 1975; Bd.1, S.552-581.<br />

280


des Adels opponierten. Während der Übergang zum römischen <strong>Kai</strong>serreich den sodalicium<br />

ihre Existenzgrundlage entzog und sodalis zu einer besonders festgefügten Form der<br />

Freundschaft umwandelte, trugen die christlichen sodalitas in ihrer wechselvollen Geschichte<br />

den Veränderungen ihrer gesellschaftlichen Umgebung kaum Rechnung. <strong>Die</strong>se Jahrhunderte<br />

überdauernde Statik führte mehr noch als die attestierte ideologische Parteilichkeit dazu, daß<br />

dieses Interaktionsmodell in nicht-christlichen Diskursbeziehungen ein negatives Image<br />

erlangte, das Brüderlichkeit als immanentes Gefühl jener Phänomene faßt, die analytisch<br />

Korruption und Vetternwirtschaft genannt werden. Jedoch muß eingestanden werden, daß<br />

religiöse Bruderschaften wie etwa der opus dei mit ihren Machenschaften nicht alleine in der<br />

entfremdeten Wirklichkeit ihre Anhänger den Unbillen des Alltags zu entziehen trachten,<br />

sondern nur die Ersten waren, die es nicht verstanden, jene in einer Bedrängungssituation<br />

gewachsene, brüderliche Solidarität den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen, die sich<br />

einstellen, wenn aus Unterdrückten Unterdrücker werden. <strong>Die</strong>ses liegt meiner Auffassung nach<br />

ursächlich in der unkonkreten Universalität dieser Gemeinschaften begründet, zu denen ich<br />

ausdrücklich die kommunistischen Parteien genauso zähle wie abstrakte<br />

Vergesellschaftungsmodelle nationaler Provenienz, denn während dem Konzept einer<br />

konkreten Solidarität jeweils ein konkretes, erreichbares Ziel zugrundeliegt, formieren sich<br />

Bruderschaften in jenem luftleeren Raum der Abstraktion, der Wesensmerkmal der Ideologien<br />

bleibt. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß nicht alle Gemeinschaften, die sich auf abstrakten<br />

Prinzipien konstituieren, zwangsläufig zu Bruderschaften werden, denn in gewisser Weise kann<br />

auch das konkrete Bedürfnis nach umfassender Veränderung des Bestehenden als Forderung<br />

verstanden werden, die sich in ihrer Universalität dem individuellen Möglichkeitshorizont<br />

entzieht. Damit dies keine abstrakte Forderung bleibt, soll im weiteren jene Ideologie der<br />

innergemeinschaftlichen Brüderlichkeit untersucht werden, die christliche Denker unter dem<br />

Begriff des Solidaritätsprinzips und der Sozialethik fassen und die als charakteristisch für jene<br />

Form der konkreten Vergesellschaftung angesehen werden kann, die auch das Projekt einer<br />

Emanzipation zur Farce werden ließe, wenn es nicht gelingen sollte, eine Solidarität vorerst<br />

theoretisch zu entwickeln, welche sowenig brüderlich ist wie Sozialethik sozial.<br />

Das der christlichen Brüderlichkeit zugrunde liegende "Solidaritätsprinzip" wird nicht als<br />

ethische Maxime (Einer für alle – Alle für einen) verstanden, sondern als ein in der<br />

menschlichen 'Natur' seinshaft begründeter, sozialphilosophischer Zusammenhang, wobei der<br />

Mensch einerseits als Person zwar mehr Bedeutung erlangt als nur Teil des gesellschaftlichen<br />

Ganzen zu sein, andererseits aber seinem 'Wesen' nach der Gesellschaft untergeordnet bleibt,<br />

auch wenn diese durch wechselseitige Beziehungen der Einzelmenschen strukturiert wird. Dem<br />

Brüderlichkeit erzeugenden Solidaritätsprinzip liegt damit eine naturphilosophische Prämisse<br />

zugrunde: <strong>Die</strong> Natur des Menschen treibt diesen dazu, daß er in Gemeinschaft mit anderen<br />

leben möchte und erst in dieser Gemeinschaft kann er seine gottgegebenen Anlagen umfassend<br />

entfalten. Gundlach formuliert zusammenfassend, daß die Personen "aus innerer Wertfülle<br />

heraus an das Ganze gebunden sind, aber so, daß das Ganze seine eigene Wertfülle nur hat in<br />

seiner Gebundenheit an die persönliche Wertfülle der Glieder." 913 Auch wenn dieser<br />

913 Gundlach, Gustav; Solidarismus; in: Staatslexikon; Freiburg 1931; Bd.4, S.1614. Vgl. auch: ders.; <strong>Die</strong><br />

Ordnung der menschlichen Gesellschaft; Köln 1964; Nell-Breuning, Oswald von; Baugesetz der<br />

281


dialektischen Sichtweise nicht die Spur einer Begründung innewohnt, ermöglicht sie den<br />

christlichen Theoretikern, Brüderlichkeit zwischen den Extrempositionen des Individualismus<br />

und Kollektivismus zu verankern, was den Vorteil mit sich bringt, daß die Verwirklichung der<br />

göttlichen Mission im Sinne eines Zirkelschlusses den Menschen zur Brüderlichkeit zwingt.<br />

"Das Prinzip der Solidarität nimmt Bezug auf den natürlichen, von Gott gewollten Zweck des<br />

gesellschaftlichen Lebens. <strong>Die</strong>ser Zweck besteht in nichts anderem als in dem Wohl aller<br />

Beteiligten. Unterordnung unter ein gesellschaftliches Ganzes mit Rücksicht auf den Zweck des<br />

Ganzen, auch positives Zusammenwirken für diesen Zweck, der mittelbar die einzelnen<br />

beglückt, - das ist die Solidarität als Grundsatz, als sittliche Pflicht." 914 Brüderliche Solidarität<br />

präsentiert sich somit einerseits als beglückende sittliche Pflicht und andererseits als Lohn für<br />

religiöse Unterwürfigkeit. Papst Johannes Paul II. unterstreicht dabei in seiner Sozialenzyklika<br />

"Sollicitudo Rei Socialis" ein weiteres Mal, daß Solidarität wie Freiheit und Gleichheit in<br />

keinster Weise als Menschenwerk zu verstehen sind, sondern "Solidarität ist die feste und<br />

beständige Entschlossenheit, sich für das 'Gemeinwohl' einzusetzen, das heißt, für das Wohl<br />

aller und eines jeden, weil wir alle in Verantwortung genommen werden." 915 Da diese<br />

Verantwortung weder aus den individuellen Wünschen und Nöten, noch aus einem<br />

gesellschaftlich vermittelten Zusammengehörigkeitsgefühl, noch aus analytischer Einsicht<br />

entspringt, sondern Befehl Gottes bleibt, wird offensichtlich, daß Brüderlichkeit nur dann<br />

solidarisch mit sich selbst ist, wenn das Individuum der Zwangsvorstellung verfallen ist, im<br />

göttlichen Kerker des Seins Musterhäftling werden zu wollen.<br />

In evangelisch christlichen Kreisen formiert die brüderliche Solidarität der Christenmenschen<br />

seit dem Ende der agrarisch-ständischen Lebensordnung, welche dort nicht selten zur guten<br />

alten Zeit verklärt wird, unter dem Begriff der Sozialethik, die vor diesem Hintergrund auch als<br />

konservative Polemik gegen Vertragstheorie und liberalen Individualismus verstanden werden<br />

kann. 1867 führte der lutherische Theologe von Oettingen den Begriff der Sozialethik ein, um<br />

als exakte, "induktiv-numerische Erfahrungswissenschaft von den sittlichen<br />

Bewegungsgesetzen" 916 der Menschen nunmehr den 'wissenschaftlich' fundierten Beweis zu<br />

liefern, daß das göttliche Prinzip der Brüderlichkeit dem Wesen des Menschen adäquat sei.<br />

Ziel dieses Unterfangens ist der Nachweis, daß der Mensch "erst als Glied des organisch<br />

Gesellschaft; Freiburg 1968; ders.; Unsere Verantwortung: Für eine solidarische Gesellschaft;<br />

Freiburg 1987.<br />

914 Pesch, Heinrich; Lehrbuch der Nationalökonomie; Freiburg 1905; Bd.1, S.30/31. <strong>Die</strong>se Auffassung<br />

wird bis heute von christlichen Gesellschaftstheoretikern geteilt. Vgl. z.B.: Rauscher, Anton; Kirche<br />

in der Welt - Beitrag zur christlichen Gesellschaftsverantwortung; Würzburg 1988.<br />

915 Korff, Wilhelm/ Baumgartner, Alfred (Hrg.) Solidarität – <strong>Die</strong> Antwort auf das Elend in der Welt -<br />

Papst Johannes Paulus II: Enzyklika 'Sollicitudo rei socialis'; Freiburg 1988.<br />

916 Oettingen, Alexander von; <strong>Die</strong> Moralstatistik und die christliche Sittenlehre – Versuch einer<br />

Sozialethik auf empirischer Grundlage: Bd.1 <strong>Die</strong> Moralstatistik – Inductiver Nachweis der<br />

Gesetzmäßigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit; Erlangen 1868; S.34.<br />

Vgl. dazu auch: Schick, Manfred; Kulturprotestantismus und soziale Frage – Versuch zur<br />

Begründung der Sozialethik, vornehmlich in der Zeit von der Gründung des Evangelisch-sozialen<br />

Kongresses bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges (1890-1914); Tübingen 1970; Graf, Friedrich<br />

Wilhelm (Hrg.); Sozialprotestantismus im <strong>Kai</strong>serreich; Leverkusen 1995.<br />

282


gegliederten Ganzen (...) ein sittliches Wesen" 917 werden kann, dessen Leben nach dem<br />

göttlichen "Grundgesetz der Solidarität" 918 strukturiert wird. Während die protestantischen<br />

Sozialkonservativen es noch für nötig hielten, mittels einer Moralstatistik, deren Fragwürdigkeit<br />

dem Betrachter schon angesichts der reinen Begrifflichkeit ins Auge springt, 919 die universelle<br />

Gültigkeit der göttliche Brüderlichkeit aus der konkreten Gesellschaft zu entwickeln,<br />

rekurrierten die katholischen Sozialethiker auf naturrechtliche Prinzipien, wie die<br />

Personenwürde und die Solidarität, Subsidiarität und Sozialverpflichtung des<br />

Privateigentums. 920 Der Neukantianismus um Tönnies und Simmel versuchte, mittels einer auf<br />

sozialethischen Prinzipien konstruierten Brüderlichkeit ein Gegengewicht zu der konkretweltlichen<br />

Solidarität der Arbeiterbewegung zu etablieren 921 , wobei die moralische Kritik der<br />

herrschenden Zustände und die Durchsetzung der Einsicht, daß die Ordnung der Wirtschaft<br />

neben immanent ökonomischen zukünftig auch moralischen Faktoren Rechnung tragen solle, in<br />

Form des Kathedersozialismus breitesten Einzug in die Sozialdemokratie fand. 922 Im<br />

gegenwärtigen politischen Spektrum der Bundesrepublik präsentiert sich diese zutiefst<br />

konservative und antiemanzipatorische Sichtweise, wenn auch unter anderem Namen, als<br />

zentrale Begründungsinstanz derjenigen gesellschaftlichen Kräfte, die glauben behaupten zu<br />

können, in Gegnerschaft zum System der wertvermittelten Ordnung zu stehen. Nicht zuletzt<br />

diesen Gruppen ist es "zu verdanken", daß der nichtige Appell an eine unbegründete,<br />

unhinterfragte Solidarität und Brüderlichkeit in keiner Rede eines Politikers fehlt, der seiner<br />

Berufung zur Aufrechterhaltung der Unfreiheit, Ungleichheit und der sozialen Kälte gerecht<br />

wird. Während die rhetorische Verwendung einer religiös motivierten, brüderlichen Solidarität<br />

zunahm, ging der theoretische Stellenwert der Sozialethik zurück, vor allem da das dort<br />

vertretene Homogenitätsideal den Prozessen der Pluralisierung von Kultur und den zyklischen<br />

sozialen Differenzierungsschüben kaum Rechnung tragen konnte. Obwohl der von Troeltsch<br />

917 Oettingen, Alexander von; <strong>Die</strong> Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Sozialethik; Erlangen 1882;<br />

S.27.<br />

918 Oettingen, Alexander von; <strong>Die</strong> Moralstatistik und die christliche Sittenlehre – Versuch einer<br />

Sozialethik auf empirischer Grundlage: Bd.2 <strong>Die</strong> christliche Sittenlehre – Deductive Entwicklung der<br />

Gesetze christlichen Heilslebens im Organismus der Menschheit; Erlangen 1873; S.3.<br />

919 <strong>Die</strong>s erkannten selbst protestantische Theologen, auch wenn ihr Motiv vor allem aus einer<br />

Ablehnung jeglicher Subjektphilosophie und der auf ihr fußenden Sozialethik herrührt. "Eine<br />

Sozialethik (...) kann es nicht geben. (...) Wir verstehen unter Ethik die wissenschaftliche Darlegung<br />

des Thatbestandes der christlichen Sittlichkeit: dieser Thatbestand läßt sich bei der Einzelperson<br />

kraft der Einzelerfahrung, wie sie von den verschiedenen Individuen (...) gemacht worden ist, (...)<br />

constatiren (...). Hingegen fehlt uns (...) jede Möglichkeit, in gleichem Sinn den Thatbestand der<br />

collectiven Sittlichkeit festzustellen, einmal schon, weil überhaupt die Zahlen der Statistik dazu<br />

untauglich sind, und dann, weil es statistische Zahlen, welche das hier in Frage kommende<br />

Collectivsubject beträfen, gar nicht giebt, auch nicht geben kann." (Frank, Franz Hermann Reinhold<br />

von; System der christlichen Sittlichkeit; Erlangen 1884; Bd.1, S.55).<br />

920 Vgl.: Meyer, Theodor; <strong>Die</strong> Arbeiterfrage und die christlich-ethischen Sozialprinzipien; Freiburg<br />

1895; Pesch, Heinrich; Liberalismus, Sozialismus und die christliche Gesellschaftsordnung; Freiburg<br />

1891.<br />

921 Vgl.: Simmel, Georg; Bemerkungen zu social-ethischen Problemen; in: ders.; Gesamtausgabe;<br />

Frankfurt/Main 1989ff.; Bd.2, S.20-36.<br />

922 Köhnke, Klaus Christian; Ethische Kultur – Neuer Kurs und Sozialdemokratie; in: Holzhey, Helmut<br />

(Hrg.); Ethischer Sozialismus – Zur politischen Philosophie des Neukantianismus; Frankfurt/Main<br />

1994; S.283-300.<br />

283


unternommene Versuch einer Remystifizierung der Brüderlichkeit, welche ihren<br />

Arbeitsschwerpunkt vom Nachweis der Gültigkeit der göttlichen Solidarität auf religiöstheologische<br />

Normativitätsproduktion verlagern wollte, 923 sich theoretisch nicht durchsetzen<br />

konnte, wurde er rhetorisch dominierend, auch oder gerade weil dieser brüderlichen<br />

Solidarität bis heute nicht der Schein einer Begründung teilhaftig wurde.<br />

3.3.3. Solidarität als wechselseitige Beziehung der nach Emanzipation strebenden<br />

Menschen<br />

Während der lateinische Begriff "solidaritas", aus dem später der Begriff der Solidarität<br />

hervorgehen sollte, erst in mittelalterlichen Texten anzutreffen ist, findet sich der verwandte<br />

Terminus "soliditas" bereits in Texten von Cicero 924 und Lukrez, 925 wobei diese ihn vor allem<br />

im Kontext des philosophischen Atomismus benutzten. Dabei beschreibt "soliditas" jene<br />

dauerhafte Homogenität und physikalische Geschlossenheit, welche als ursächliche<br />

Eigenschaften der Atome angesehen wurden, wobei diese Charakteristika auf gesellschaftliche<br />

Phänomene übertragen als integer und gediegen interpretiert werden könnten, auch wenn sich<br />

diese Verwendungsweise in der Antike meines Wissens nicht nachweisen läßt und ab der<br />

Renaissance Solidität in jenen Kontext gestellt wurde, den heute die Festkörperphysik zum<br />

Gegenstand hat. 926 Auch wenn diese Begriffsgenese dem Betrachter als abwegige Annäherung<br />

an jenes theoretische, bisher nebelhaft verschwommene Phänomen erscheint, welches mit<br />

"Solidarität" zwar benannt, nicht aber beschrieben wurde, so ging die Historie doch den<br />

Umweg von der Festkörperphysik über die Jurisprudenz zur Philosophie. Aber vielleicht ist die<br />

Suche nach den Inhalten eines Begriffes ein wenig ergiebiger Zeitvertreib, ist doch im Fall von<br />

Freundschaft und Brüderlichkeit die Benennung eines Phänomenes scheinbar hinreichende<br />

Begründung für seine Erhebung in den hehren Stand der Ziele des Menschen. Hans<br />

Blumenberg liefert in der wunderbar harmonisch-mythischen Abhandlung "Einbrechen des<br />

Namens in das Chaos des Unbenannten" 927 einen Erklärungsversuch: "Archaisch ist die Furcht<br />

nicht so sehr vor dem, was noch unerkannt ist, sondern schon vor dem, was unbekannt ist. Als<br />

Unbekanntes ist es namenlos; als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen<br />

werden oder magisch angegriffen werden. Entsetzen, für das es wenig Äquivalente in anderen<br />

Sprachen gibt, wird ‚namenlos‘ als höchste Stufe des Schreckens. Dann ist es die früheste und<br />

nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt, Namen für das Unbestimmte zu finden.<br />

Erst dann und daraufhin läßt sich von ihm eine Geschichte erzählen." 928 Wenn somit nichts<br />

923 Vgl.: Graf, Friedrich Wilhelm (Hrg.); Ernst Toeltschs Soziallehren – Studien zu ihrer Interpretation;<br />

Gütersloh 1993.<br />

924 Vgl.: Cicero, Marcus Tullius; De finibus bonorum et malorum; Stuttgart 1993; I,6,17.<br />

925 Vgl.: Lukrez; Von der Natur; München 1993; I, 486-488.<br />

926 Vgl. z.B.: Descartes, Rene; Prinzipien der Philosophie; Hamburg 1992; III, §§121-125; und zur<br />

zeitgenössischen Verwendungsweise: Kittel, Charles; Einführung in die Festkörperphysik;<br />

München 1989.<br />

927 Blumenberg, Hans; Einbrechen des Namens in das Chaos des Unerkannten; in: ders.; Arbeit am<br />

Mythos; Frankfurt/Main 1996; S.40-67.<br />

928 Blumenberg 1996,40/41. Vgl. auch: Benjamin, Walter; Über Sprache überhaupt und über die Sprache<br />

des Menschen; in: Benjamin 1991; II 1,148: "Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er ein,<br />

und am Schluß einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es. Sie ist also<br />

284


dagegen spricht, von jenem Unbekannten zu erzählen, welches unter dem Namen Solidarität<br />

firmiert, so soll denn auch der in dieser Studie gewählten, chronologischen Vorgehensweise<br />

Rechnung getragen und der Weg von der Festkörperphysik über die Jurisprudenz bis zur<br />

Philosophie nachgezeichnet werden, auch wenn der Autor eingestehen muß, daß es<br />

interessantere Geschichten zu erzählen gäbe.<br />

Jenes Phänomen, welches heute Solidarität genannt wird, konstituierte sich im ausgehenden<br />

Mittelalter um die lateinischen Begriffe "soliditas" und "solidus", weil es<br />

Schuldnergemeinschaften, die gemeinschaftlich Kredite erwirkten, jenen Schein von Solidität<br />

geben sollte, der Kreditgeber bis heute gnädig stimmt. Während sowohl im Englischen als auch<br />

im Französischen dieses individuelle Einstehen für eine gemeinsame Schuld, bzw. das<br />

gemeinschaftliche Einstehen für die Schuld eines Einzelnen bis heute Verwendung findet, ist im<br />

Deutschen der Begriff in seiner reinen Form schon vor langer Zeit in jene unbestimmte Region<br />

entkommen, die Philosophie genannt wird. Einzig der juristische Terminus der<br />

Solidarobligation kündet noch heute von der früheren, scheinbar exakten Bestimmung im<br />

juristischen Kanon. 929 Während in der 1765er Ausgabe der großen französischen<br />

Enzyklopädie "Solidarité" als Terminus des Handelns geführt wird, 930 präsentiert die Ausgabe<br />

von 1773 schon annähernd die bis heute dominierende, populäre Definition: Alle für einen und<br />

einer für alle. 931<br />

Bevor Solidarität Mitte des 19.Jahrhunderts Einlaß in die Begriffswelt der Philosophie erlangte,<br />

fand sie auch Verwendung in liberalistischen ökonomischen Theorien, wobei sie vor allem jene<br />

wechselseitige Abhängigkeit ausdrücken sollte, die die ökonomische Gesamtrechnung zu<br />

einem Spiel mit zahllosen Unbekannten macht. 932 Jedoch wich diese unbestimmte Form der<br />

Wechselwirkungsbeziehungen in der Ökonomie bald jenem Prinzip der gegenseitigen<br />

Kostenrechnung, das bis heute dominierend ist, wobei Marx zu recht darauf hingewiesen hat,<br />

das Schaffende, und das Vollendende, sie ist Wort und Name. In Gott ist der Name schöpferisch,<br />

weil er Wort ist, und Gottes ist erkennend, weil es Name ist."<br />

929 Vgl.: Amengual, Gabriel; Zu einer begrifflichen Bestimmung der Solidarität; in: Fraling, Bernhard/<br />

Hoping, Helmut/ Scannone, Juan (Hrg.) Kirche und Theologie im interkulturellen Dialog; Freiburg<br />

1994; S. 237-254; Bayertz, Kurt (Hrg.); Solidarity; Boston 1996; Schmelter, Jürgen; Solidarität – <strong>Die</strong><br />

Entwicklungsgeschichte eines sozialethischen Schlüsselbegriffes; Phil.-Diss.; München 1991;<br />

Wildt, Andreas; Bemerkungen zur Begriffs- und Ideengeschichte von Solidarität und ein<br />

Definitionsvorschlag für diesen Begriff heute; in: Rechtsphilosophische Hefte Nr.4/1995; S.37-48.<br />

Lexikalisch ist Solidarität erfaßt in: Beier, Gerhard; Solidarität; in: Meyer, Thomas (Hrg.); Lexikon<br />

des Sozialismus; Köln 1986; S.547; Autorenkollektiv; Solidarität; in: Klaus/Buhr 1985,841-842;<br />

Vierkandt, Alfred; Solidarität; in: Bernsdorf, Wilhelm (Hrg.); Wörterbuch der Soziologie; Stuttgart<br />

1969; S.944; Wildt, Andreas; Solidarität; in: Ritter/Gründer 1971ff., 9,1004-1015.<br />

930 "Solidarité, f.f. (Commerce) c’est la qulité d’une obligation ou plusieurs débiteurs s’engagent à<br />

payer une somme qu’ils soit exigible contre chacun d’eux, sans que celui, au profit duquel<br />

l’obligation est faite, soit obligé de discuter les autres, & l’un plutôt que l’autre." (Encyclopädie ou<br />

Dictionnaire raisonné des science des arts et des métiers; Neufchastel 1765; Bd.15, S.320b)<br />

931 "In solidum. D’une manière solidaire, tous ensemble & un seul pour." (Encyclopädie ou<br />

Dictionnaire raisonné des science des arts et des métiers – Le Grand vocabulair Francais; Paris<br />

1773; Bd.26, S.482)<br />

932 Vgl. Gide, Charles/ Rist, Charles; Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen; Jena 1913;<br />

S.667-676; Hayward, Jack E.; Solidarity: The social history of an idea in 19 th century France; in:<br />

International Review on Social History Nr.4/1959; S.261-284.<br />

285


daß die Interaktion zwischen Käufer und Verkäufer weder durch Freundschaft noch durch<br />

Solidarität noch durch reine Kosten-Nutzen-Analyse bestimmbar ist. Gerade aus diesem<br />

circulus vitiosus von Armut, Herrschaft und Krieg kann die Solidarität einen Ausweg bieten, so<br />

zumindest die Auffassung von Saint-Simon und Fourier, 933 welche als erste Solidarität als<br />

politisch-philosophischen Kampfbegriff verwendeten. Jedoch muß eingestanden werden, daß<br />

bei den utopischen Sozialisten 'solidarité humaine' nur jenes Phänomen oder Wunschbild neu<br />

benennt, welches bisher unter christlicher Nächstenliebe firmiert hat. 934<br />

Gegen diese Unbestimmtheit zwischen moralisch-normativer Setzung und deskriptiver<br />

Entwicklung wandte sich Auguste Comte, der Solidarität als auf moralischer Verbundenheit<br />

fußende Interaktionsbeziehungen von Subjekten bestimmte. 935 Ziel dieses Unterfangens war<br />

es, jener Probleme habhaft zu werden, die bis heute Analytiker umschließt, die sich auf die<br />

Suche nach dem Ursprung von Nationen machen und jene Verbundenheit erklären wollen, die<br />

ein gemeinsamer Kulturrahmen scheinbar unmittelbar generiert. Ebendiese Verbundenheit<br />

meinten revolutionäre Denker jener Zeit im Proletariat in einer Keimform entdeckt zu haben,<br />

deren Wachstum nicht nur die Welt verändern, sondern zum gesellschaftlichen Ziel erhoben all<br />

jene Probleme der Menschheit lösen sollte, welche Solidarität in ihrer ganzen Unbestimmtheit<br />

ursprünglich erzeugten. 936 In den Dokumenten der Internationalen Arbeiter Assoziation<br />

verdrängte der Begriff der Solidarität schon von ihren ersten Anfängen an jene Brüderlichkeit<br />

der Trias der französischen <strong>Revolution</strong> 937 , da sich das Begriffsfeld der Solidarität gegenüber<br />

dem der Brüderlichkeit dadurch auszeichnet, daß sie neben dem unbestreitbaren normativen<br />

Inhalt auch analytische Qualitäten in Bezug auf direkte Kooperation und Wechselseitigkeit der<br />

Interessen besitzt. <strong>Die</strong> massenhafte Beschwörung der Solidarität als proletarische<br />

Interaktionsform war somit nicht Ausdruck einer theoretischen Einsicht, sondern entsprach<br />

eher dem Wunsch der Arbeiterbewegung nach rationaler Begründung ihres Handeln, jedoch<br />

muß eingestanden werden, daß normative und deduktive Elemente zumeist in der Tradition<br />

von Hegel miteinander verschmolzen wurden, der über die Kooperation aussagt: "Ihr (ob)liegt<br />

es zunächst, für die Bildung der Kinder ihrer Mitglieder zu sorgen, und ebenso hat sie sich<br />

solidarisch zu verbinden für diejenigen, welche zufälligerweise in Armut geraten." 938 Einer<br />

Begründung dieser Interaktion geht Hegel mit dem Verweis auf die Allmacht des Geistes<br />

genauso aus dem Weg wie Feuerbach, bei dem Solidarität zur Bewegungsform der Gattung<br />

933 Vgl. z.B.: Ruby, Marcel; Le solidarisme; Paris 1971; S.17-25. "C’est qu’il ne nous est pas donné<br />

d’être heureux les uns sans les autres, c’est que tous les membres de la grande famille sont liés en<br />

un seul faisceau, par la loi divine, La Solidarité. La Solidarité est une chose juste et sainte (...) nous<br />

aurons à faire comprendre que les intérêts des hommes sont en tous points rigoureusement<br />

identiques." (Renaud, Hippolyte; Solidarité – Vue synthétis sur la doctrin de Charles Fourier; Paris<br />

1842; S.52/53). Vgl. auch: Schmelter 1991,20-36.<br />

934 Vgl. z.B.: Leroux, Pierre; De l’humanité, de son principe et de son avenir; Paris 1840.<br />

935 Vgl.: Comte, Auguste; Discours sur l’esprit positive; Paris 1944.<br />

936 Vgl.: Hayward 1959,275-280.<br />

937 Vgl.: Provisorisches Statut der Internationalen Arbeiter-Assoziation (1864); in: MEW 16,14-16;<br />

Schieder 1975,578.<br />

938 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Philosophie des Rechts – <strong>Die</strong> Vorlesung von 1819/20 in einer<br />

Nachschrift; Hamburg 1983; S.203.<br />

286


wird, auch wenn er den Begriff selbst nicht verwendet. 939 Im Rahmen der <strong>Revolution</strong> von<br />

1848 entwickelte sich eine programmatische Verwendungsweise des Solidaritätsbegriffes in<br />

Gegnerschaft zur freien Konkurrenz des sich entwickelnden Kapitalismus, 940 wobei vor allem<br />

das aus dem französischen übertragene Buch von Renaud dazu beitrug, daß einerseits der<br />

Solidaritätsbegriff breitesten Einzug in den Wortschatz der revolutionären Kreise jener Zeit<br />

erlangte, während es andererseits die Ansätze einer inhaltlichen Bestimmung mit einer Woge<br />

der moralischen Entrüstung unterminierte und überflüssig zu machen schien. 941 In ebendieser<br />

unbestimmten Form reproduzierte z.B. Lassalle Solidarität als Konglomerat aus Brüderlichkeit<br />

und sozialer Gleichheit, wenn er anführt, daß gegen die realexistierende Ungleichheit "die<br />

sittliche Idee des Arbeiterstandes (...) allein noch nicht ausreiche, sondern daß zu ihr in einem<br />

sittlich geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müssen: die Solidarität der Interessen, die<br />

Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit in der Entwicklung." 942 <strong>Die</strong> eingeforderte Solidarität<br />

entwickelt sich jedoch nach dieser Auffassung nicht spontan aus den Interessen der Arbeiter<br />

als quasi ontologische Umsetzung ihrer Natur, wie dies im Denken der utopischen Sozialisten<br />

angelegt war, sondern bedarf zur Praxiswerdung einer solidaritätsschaffenden, öffentlichen<br />

Autorität. Der Staat erhält somit die Rolle zugesprochen, die in früheren Geschichtsperioden<br />

den Göttern vorbehalten war, und enthebt somit sowohl Bestimmung als auch konkrete<br />

Ausfüllung der Solidarität dem unmittelbaren Lebenshorizont der Menschen. <strong>Die</strong>se Solidarität<br />

nach Herrscherwillen kann mit Nietzsche als "tölpelhaftes Mißverständniß jenes christlichen<br />

Moral-Ideals" 943 angesehen werden, welches von Menschen ersonnen wurde, die den<br />

Nachgeborenen jene Lebensweise aufzunötigen gedachten, welche von Schöpfern ersonnen<br />

wurde, welche zu ihrer Lebenszeit die Welt nicht mit ihren Bedürfnissen befrieden konnten und<br />

deswegen ihre Bedürfnisse nach Harmonisierung auf die Nachgeborenen verlagerten. Wenn es<br />

neben dieser Verwendungsweise als schale Reproduktion der Einbindung allen<br />

Emanzipatorischen in das alte Spiel von Unfreiheit und Unterdrückung keine weitere<br />

Verwendungsweise des Begriffes der Solidarität geben würde, wäre jede Diskussion über ihre<br />

Stellung im Rahmen einer praktischen Philosophie müßig, da Begriffsgeschichte, wie jede<br />

Form der Historie, zwar immer aufs neue geschrieben wird, aber gleichzeitig immer auch ein<br />

Bezug zum Vergangenen bzw. dessen stetiger Reproduktion gewahrt bleiben sollte.<br />

Auch wenn sich die staatssozialistische Idee einer autoritär verordneten Solidarität nicht<br />

unmittelbar in der Sozialdemokratie des 19.Jahrhunderts durchsetzen konnte, leistete sie doch<br />

939 Braun, Hans Jürgen (Hrg.); Solidarität und Egoismus – Studien zu einer Ethik bei und nach Ludwig<br />

Feuerbach; Berlin 1994; Amengual, Gabriel; Gattungswesen als Solidarität; in: Braun, Hans Jürgen/<br />

Sass, Hans Martin (Hrg.); Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft; Berlin 1990; S.345-<br />

367.<br />

940 "‚Freie Konkurrenz!‘ Jeder für sich! wird hier gegenübergestellt dem Prinzip der Solidarität, der<br />

‚Verbrüderung! Jeder für Alle!‘" (Verbrüderung 13.10.1848; zitiert in: Balser, Frolinde; Sozial-<br />

Demokratie 1848/49-63; Stuttgart 1962; S.152)<br />

941 Renaud, Hippolyte; Kurzgefaßte Darstellung der Lehre Fourier’s; Zürich 1855. "A translation of<br />

Renaud’s book served to intduce 'solidarity' into German in 1855." (Bestor, Alfred E.; The evolution<br />

of the socialist vocablary; in: Journal of the History of Ideas Nr.9/1948; S.259-302, hier: S.273)<br />

942 Lassalle, Ferdinand; Das Arbeiterprogamm – Über den besonderen Zusammenhang der<br />

gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes; in: ders.; Gesammelte Reden<br />

und Schriften; Berlin 1919; Bd.2, S.195.<br />

943 Nietzsche 1988; 12,558.<br />

287


jener inhaltlichen Lehre Vorschub, die von den Protagonisten dieser scheinbaren Realpolitik<br />

als Entideologisierung gefeiert wird. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg wurde es in der<br />

Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung üblich, Schrebergärten, Taubenzüchtervereine, aber<br />

auch sozialdemokratische Sparclubs "Solidarität" zu nennen, wobei es aus heutiger Sicht<br />

unmöglich ist, festzustellen, ob diese Benennung allein einer Mode geschuldet war oder ob sie<br />

auf jenen inhaltlichen Diskussionen fußte, die als Revisionismusdiskussion Einzug in die<br />

Geschichtsbücher fand. 944 Während Wilhelm Liebknecht erklärte, daß "der Begriff der<br />

allgemeinen menschlichen Solidarität der höchste Kultur- und Moralbegriff (ist); ihn voll zu<br />

verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialismus", 945 proklamierte Eduard Bernstein: "Man<br />

kann auch sagen, daß innerhalb der Arbeiterbewegung kein Prinzip, keine Idee stärkere Kraft<br />

ausübt, als die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Solidaritätsausübung. Gegen sie kommt<br />

keines der anderen großen normgebenden Prinzipien des sozialen Rechts an – weder das<br />

Prinzip der Gleichheit, noch das Prinzip der Freiheit." 946 Während den einen Solidarität als<br />

Ideal der Gegenwart und Ziel für die Zukunft als Gegenstand und Inhalt der politischen Arbeit<br />

begründungspflichtig bleibt, geht es für die andere Richtung nurmehr um die Ausübung eines<br />

normativen Prinzips. Überraschend ist dabei, daß diese unreflektierte Praktizierung einer<br />

zumindest partiell unbegründeten Prämisse die staatstragende Sozialdemokratie mit den<br />

staatsverneinenden Anarchisten vereint. Wenn Anton Pannekoek schreibt, daß "von allen<br />

anderen Vereinen sich die Arbeiterorganisationen dadurch (unterscheiden), daß in ihnen die<br />

Solidarität, die völlige Unterordnung des einzelnen unter die Gemeinschaft, als dem Wesen<br />

eines neuen, werdenden Menschentums" 947 praktiziert wird, glaubt man eher, einem<br />

neukantianischen Staatssozialisten zu lauschen als einem antiautoritären Rätekommunisten.<br />

Trotz aller Versuche, Solidarität inhaltlich zu füllen und analytisch zu erfassen, blieb doch das<br />

oft zitierte, optimistische Memento Kurt Eisners ein leerer Wunschtraum: "Nein, nichts mehr<br />

von Liebe, Mitleid und Barmherzigkeit. Das kalte stahlharte Wort Solidarität ist in dem Ofen<br />

des wissenschaftlichen Denkens geglüht." 948<br />

In der Weimarer Republik waren es vor allem die kritischen marxistischen Denker, wie Georg<br />

Lukács 949 und Otto Rühle 950 , die diesen "Ofen des wissenschaftlichen Denkens" auf<br />

944 Vgl.: Meyer, Thomas; Grundwerte und Wissenschaft im demokratischen Sozialismus; Köln 1978;<br />

Saage, Richard (Hrg.); Solidargemeinschaft und Klassenkampf – Konzeptionen der<br />

Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen; Frankfurt/Main 1986; Adler, Max; <strong>Die</strong> solidarische<br />

Gesellschaft; Stuttgart 1964.<br />

945 Liebknecht, Wilhelm; Zu Trutz und Schutz; in: ders.; Kleine Politische Schriften; Leipzig 1976; S.99.<br />

946 Bernstein; Eduard; <strong>Die</strong> Arbeiterbewegung; Berlin 1910; S.134.<br />

947 Pannekoek, Anton; Marxistische Theorie und revolutionäre Taktik; in:<br />

Pannekoek, Anton/ Gorter, Herman; Organisation und Taktik der<br />

proletarischen <strong>Revolution</strong>; Frankfurt/Main 1969; S.56/57. Vgl. auch: Kropotkin<br />

1975; Kropotkin 1976; ders.; Anarchistische Moral; (o.O.; o.J); Essbach-<br />

Kreuzer, Ursula/ Essbach, Wolfgang; Solidarität und soziale <strong>Revolution</strong>;<br />

München 1974.<br />

948 Eisner, Kurt; <strong>Die</strong> Halbe Macht den Räten – Ausgewählte Aufsätze und Reden; Köln 1969; S.217.<br />

949 Vgl.: Lukács, Georg; <strong>Die</strong> Rolle der Moral in der kommunistischen Produktion; in: ders.; Taktik und<br />

Ethik; Darmstadt/ Neuwied 1975; ders.; <strong>Die</strong> moralische Sendung der kommunistischen Partei; in:<br />

288


marxschem Fundament erneut zum Glühen bringen wollten, wobei es ihnen weniger um eine<br />

philosophische Definition des Solidaritätsbegriffes ging als vielmehr um eine Bestimmung jener<br />

Interaktionsform der <strong>Revolution</strong>äre, welche gleichzeitig schon partiell-verwirklichte Utopie sein<br />

sollte. Während Theoretiker der revolutionären Bewegung die "Einheit von Freiheit und<br />

Solidarität" 951 als realexistierendes Phänomen der Wirklichkeit verstanden, versuchte die<br />

Frankfurter Schule, vor allem nach der Niederlage der Arbeiterbewegung 1933, einen<br />

philosophischeren Zugang zu Interaktionsformen und –modellen zu erlangen. 952 In diesem<br />

Kontext wurde auch jene französische Diskussion der Jahrhundertwende wieder rezipiert, die<br />

unter dem Stichwort "Solidarismus" analytisch einen Maßstab für 'gerechte', politisch-soziale<br />

Reformen entwickeln wollte, sich dabei aber vom Neukantianismus unterschieden, weil sie<br />

Solidarität in der Tradition der Vertragslehre diskutierten und nicht autoritär durchsetzen<br />

wollten. 953 In diesem Sinne erhob Emile Durkheim "solidarité" zu einem Grundbegriff der<br />

neuen Geisteswissenschaft der Soziologie, wobei ihn weniger die "mechanische Solidarität"<br />

kollektivistischer Gesellschaften in anderen Erdteilen interessierte, sondern vielmehr jene<br />

"organische Solidarität", welche partiell im Kapitalismus erkennbar wird. 954 Während der<br />

Versuch einer analytischen Rekonstruktion der existierenden konkreten Solidarität der<br />

Menschen letztlich scheiterte, fand die praktische Doktrin der Produktionsgenossenschaft<br />

zumindest zeitweise breiten Einfluß. 955 In die gleiche Richtung zielte auch die<br />

Solidaritätspropaganda der Studentenbewegung, wobei das Scheitern der meisten dieser<br />

selbstverwalteten Produktionsgenossenschaften als Beleg dafür angesehen werden kann, daß<br />

gesellschaftliche Experimente, die ohne theoretische Fundierung zur Umsetzung gelangen, vor<br />

großen Problemen stehen, da auftretenden Hemmnissen so die Erklärungsebene genommen<br />

wird. 956<br />

ders.; Geschichte und Klassenbewußtsein; Darmstadt/ Neuwied 1967. Vgl. ausführlich zu Lukács‘<br />

Werk und Wirkung: <strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong> 1997,149-169.<br />

950 Vgl.: Essbach-Kreuzer/ Essbach 1974.<br />

951 Lukacs 1967,318.<br />

952 Adorno, Theodor W.; Minima Moralia; Frankfurt/Main 1976; Horkheimer (vgl. ausführlich zu<br />

Horkheimer: <strong>Schmidt</strong>-<strong>Soltau</strong> 1997,208-222); Marcuse 1969; Habermas, Jürgen; Zur philosophischen<br />

Diskussion um Marx und den Marxismus; in: ders.; Theorie und Praxis; Frankfurt/Main 1967.<br />

953 Vgl.; Scott, John A.; Republican ideas and the liberal tradition in France 1870-1914; New York 1951.<br />

954 Durkheim, Emile; Über soziale Arbeitsteilung – Studie über die Organisation höherer<br />

Gesellschaften; Frankfurt/Main 1988. Vgl. auch: Müller, Hans-Peter/ Schmid, Michael;<br />

Arbeitsteilung, Solidarität und Moral – Eine werkgeschichtliche und systematische Einführung in<br />

die ‚Arbeitsteilung‘ von Emile Durkheim; in: Durkheim 1988; Müller, Hans-Peter; Gesellschaft,<br />

Moral und Individuum: Emile Durkheims Moraltheorie; in: Bertram, Hans (Hrg.); Gesellschaftlicher<br />

Zwang und moralische Autonomie; Frankfurt/Main 1986; S.71-105.<br />

955 Vgl.; Gülich, Christian; <strong>Die</strong> Durkheim-Schule und der französische Solidarismus; Leverkusen 1991;<br />

Bloch, Roger; Histoire du Parti radicale-socialiste; Paris 1968; Hausknecht, Louis; Der Solidarismus<br />

oder die Doktrin der sozialen Solidarität als ökonomische, juristisch, soziale, politische und<br />

kulturelle Bewegung; Cernauti 1938.<br />

956 Brückner, Peter; Nachruf auf die Kommunebewegung; in: Krebs, Dagmar (Hrg.); <strong>Die</strong> hedonistische<br />

Linke; Frankfurt/Main 1971; S.124-142; Vester, Michael; Solidarisierung als historischer Lernprozeß<br />

– Zukunftsperspektiven systemverändernder Praxis im neuen Kapitalismus; in: Krebs 1971,143-198;<br />

Negt, Oskar/ Kluge, Alexander; Öffentlichkeit und Erfahrung; Frankfurt/Main 1972.<br />

289


Einen anderen Versuch zur Begründung unternahm Max Scheler, der seine materielle<br />

Wertethik in einer doppelten Frontstellung gegenüber der Vertragsrechtslehre einerseits und<br />

der Autonomieethik von Kant andererseits durchsetzen wollte, indem er auf den im<br />

Solidarismus zentralen Terminus der Gesamtschuld rekurriert. 957 Der theologische Unterton ist<br />

zwar nicht ganz ungewollt, jedoch geht Scheler davon aus, daß nur die Solidarität, welche auf<br />

gesellschaftlichen Zwängen und Nöten fußt, vertretbar sei, während "Solidarität des<br />

einzigartigen Personenindividuums und Träger des individuellen Gewissens unvertretbar" 958 sei,<br />

da es im Widerspruch zu jener prinzipiellen "Mitverantwortlichkeit" steht, die er in der<br />

praktizierten Solidarität der Menschen zu erkennen glaubt. Interessanterweise überträgt er<br />

dabei den ursprünglichen, juristischen Terminus "in solidum" ungewollt auf<br />

gesamtgesellschaftliche Prozesse und deren innere Begründung und untergräbt damit nur seinen<br />

Versuch einer exakteren Bestimmung eines als real-existierend verstandenen Phänomens.<br />

Nikolai Hartmann versuchte, dieser Tendenz zur Entdeckung immer neuer gesellschaftlicher<br />

Sphären mit praktizierter Solidarität entgegenzuwirken, indem er verschiedene<br />

Solidaritätsebenen destillierte: "Rechtliche und bürgerliche Solidarität", "Solidarität des<br />

Rechtsgefühls", "Solidarität der Nächstenliebe", "Solidarität des Vertrauens und Glaubens",<br />

"Solidarität der Generationenfolge", "Solidarität der Teilhabe und der Erfüllung in der<br />

schenkenden Tugend". 959 Auch wenn einige dieser Ebenen wenig nachvollziehbar erscheinen,<br />

so ist Hartmann insoweit zuzustimmen, als durch die scheinbar unbegrenzte Ausdehnung der<br />

Verwendungsweisen von Solidarität die Tatsache verdeckt wird, daß sich hinter diesem<br />

Begriff unterschiedliche Phänomene verbergen, welche zwar gewisse Gemeinsamkeiten<br />

besitzen, jedoch durch die undifferenzierte Betrachtung ihrer ursächlichen Bestimmung durch<br />

ihren Kontext beraubt werden.<br />

Ein ganz spezielles Feld der Solidarität betrachtet Jürgen Habermas, wenn er Solidarität als<br />

"dem Anderen der Gerechtigkeit" seine Aufmerksamkeit zuwendet und dabei all das<br />

untersuchen will, was über das abstrakte Recht auf Gleichbehandlung hinausgeht. 960 In eine<br />

ähnliche Richtung geht auch die These von Richard Rorty, nach der Solidarität als dem letzten<br />

noch wirksamen Prinzip einer aufgeklärten Moral, jenseits einer zwangsläufig zum Scheitern<br />

angelegten, philosophischen Moralbegründung angesiedelt sein muß, wobei seine Definition als<br />

unspezifisches Mitgefühl mit Subjekten, die einer selbstgesetzten "Wir-Identität" auch gegen<br />

ihren Willen als zugehörig betrachtet werden können, alles andere als konkret ist. 961 Ohne dies<br />

dezidiert zu beabsichtigen, verdrängt Rorty, in seiner Verzweiflung über die mangelnde<br />

Rationalität ethischer Konzepte, Solidarität aus jenem Diskurszusammenhang, der sich<br />

zumindest die Aufgabe einer Begründungssuche gesetzt hat, und übergibt Solidarität jenen<br />

957 Scheler, Max; Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik; in: ders.; Gesammelte<br />

Werke; Bonn 1954ff.; Bd.2.<br />

958 Scheler, Max; Wertethik; in: Scheler 1954ff.,537.<br />

959 Hartmann, Nicolai; Ethik; Berlin 1926; S.386-465.<br />

960 Habermas, Jürgen; Gerechtigkeit und Solidarität – Eine Stellungnahme zur Diskussion über ‚Stufe<br />

6‘; in: Edelstein, Wolfgang/ Nummer-Winkler, Gertrud (Hrg.); Zur Bestimmung der Moral;<br />

Frankfurt/Main 1986; S.291-318, hier: 311.<br />

961 Rorty, Richard; Solidarität; in: ders.; Kontingenz, Ironie und Solidarität; Frankfurt/Main 1989; S.305-<br />

320; und ders.; Solidarität oder Objektivität; Stuttgart 1988; S.11-37.<br />

290


Gesellen, denen der nichtige Luxus ihrer Lebensweise Bäume, Tiere, Föten und Flußläufe zu<br />

Gegenständen mitleidiger Solidaritätserklärung stilisiert, deren einseitiger Charakter vor allem<br />

dafür sorgt, daß sie niemals eingefordert wird. Während der Wilde auf der einen Seite<br />

weiterhin ungefragter Gegenstand einer zivilisierten Solidarität bleibt, entbrannte andererseits in<br />

der Ethnologie allen Ernstes ein Streit über die Frage, ob nicht die aus europäischen Augen<br />

umfassende Grausamkeit des Alltags dem Wilden einen emotionsgeleiteten "Geist der<br />

Solidarität" verstellen würde. 962 Der tiefe Rassismus dieses Konzeptes wird deutlich, wenn<br />

man berücksichtigt, daß in Zeiten, wo abendländisches Denken bemüht war, sich selbst mit<br />

dem Schein von Rationalität zu adeln, den Wilden ein mythischer Trieb zur Geselligkeit<br />

unterstellt wurde, während heute, wo jeder Zweckrationalität ein Makel von mangelnder<br />

Modernität anhängt und unbegründetes Mitleid alleiniger Maßstab für solidarisches Handeln zu<br />

sein hat, sich der Wilde zum aufgeklärten Werttheoretiker wandelt, dessen Handlungen finster<br />

geplant sind. 963 Es ist schon bestechend wie nach dem Scheitern der bisherigen Versuche,<br />

Solidarität rational zu durchdringen 964 , jene unbestimmten Kräfte angerufen werden, die schon<br />

zur Bestimmung von Freundschaft und Brüderlichkeit herangezogen wurden und die Luhmann<br />

dazu veranlaßten, Solidarität zu verwerfen, weil sie in diesen Zusammenhängen zu jenen<br />

ideologischen Begriffen gehört, deren fortgesetzte Verwendung einer rationalen Durchdringung<br />

der Welt kontraproduktiv entgegensteht. 965<br />

Ein grundlegendes Problem, das analytischen Geistern nicht verschlossen blieb, ist die<br />

mangelnde Trennung zwischen dem Phänomen der Verbundenheit in den unterschiedlichsten<br />

Seinslagen, wobei gemeinsamer Faktor die fehlende Intention zu sein scheint, und jenen<br />

Interaktionsprozessen, die abwertend als auf Zweckrationalität fußend charakterisiert werden.<br />

Nun mag es nicht dem Zeitgeist entsprechen, Handlungen auf rationalen Überlegungen<br />

hinsichtlich eines zuvor theoretisch entwickelten Zieles aufzubauen und auszurichten, jedoch hat<br />

diese zugegebenermaßen ebenfalls mythische Stringenz gegenüber anderen<br />

Handlungsgrundlagen den Vorteil, daß sie anderen nicht nur mitteilbar, sondern sogar<br />

962 Vgl.: Elwert, Georg; <strong>Die</strong> Elemente der traditionellen Solidarität – Eine Fallstudie in Westafrika; in:<br />

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Nr.32/1980; S.681-704.<br />

963 Zur Kritik dieser Auffassung vgl.: Kramer, Franz; Über Zeit, Genealogie und solidarische<br />

Beziehung; in: Kramer, Franz/ Sigrist, Christian (Hrg.); Gesellschaften ohne Staat – Bd.2: Genealogie<br />

und Solidarität; Frankfurt/Main 1978. "Afrika steht im Ruf, der Kontinent der Weisheit und der<br />

dauerhaft bestehenden großen menschlichen Werte zu sein." (Kane, Abdoulaye E.; Über die<br />

vorgebliche Besonderheit der sogenannten traditionellen Werte Afrikas; in: Dialektik 1/1998; S.29)<br />

964 Anselm, Sigrun; Angst und Solidarität – Eine kritische Studie zur Psychoanalyse der Angst;<br />

München 1985; Feger, Hubert; Gruppensolidarität und Konflikt; in: Gottschaldt, Kurt/ Lersch,<br />

Philipp/ Sander, Friedrich (Hrg.) Handbuch der Psychologie; Göttingen 1972ff; Bd.7, S.1594-1653;<br />

Flodell, Charlotta; Miteinander und gegeneinander – Eine sozialpsychologische Untersuchung<br />

über Solidarität und Konkurrenz in der Arbeitswelt; Leverkusen 1989; Hechter, Michael; Principles<br />

of group solidarity; Berkley 1987; Irle, Martin; Zur Sozialpsychologie der Solidarität; in: Kurzrock,<br />

Ruprecht (Hrg.); Ideologie und Motivation; Westberlin 1973; Reidemeister, Helga; Warum ist<br />

Solidarität so schwierig? Protokoll eines Gesprächs mit drei Arbeitern; in: Kursbuch Nr.37/1974;<br />

Weigand, Wolfgang; Solidarität durch Konflikt – Zu einer Theorieentwicklung von Solidarität;<br />

Münster 1979.<br />

965 Luhmann, Niklas; <strong>Die</strong> Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft – Probleme einer<br />

soziologischen Solidarität; in: Kopp, Robert (Hrg.); Solidarität in der Welt der 80er Jahre –<br />

Leistungsgesellschaft und Sozialstaat; Basel 1984; S.79-89.<br />

291


nachvollziehbar wird, weil das mythisch-rationale Verfahren zumindest inert gewissen Regeln<br />

unterworfen ist. Im Falle einer dialektischen Betrachtungsweise der Welt verlangt die<br />

Transformation einer Auffassung in eine andere eine Erläuterung, während der ethische<br />

Gefühlsmythos den Gegenständen der Solidarität als Gottesglück oder Gottespest erscheinen<br />

muß, die einen wie ein tropisches Gewitter überkommt, bevor es sich erneut im Nichts verliert.<br />

Es scheint mir nach den historischen Rückblicken und analytischen Durchdringungen der<br />

verschiedensten, hier angesprochenen Interaktionsmodelle fraglich, ob eine dauerhafte<br />

Veränderung der geglaubten Wirklichkeit erreicht werden kann, wenn der Zugang zu diesem<br />

Modell auf individuellen Launen und Gemütswallungen basiert, auch wenn es natürlich richtig<br />

ist, daß das Konzept einer Apathie der Praxis, wie jeder emanzipatorische Prozeß, ebenfalls<br />

ursächlich aus diesen hervorgeht, jedoch ist wie gezeigt gerade die mangelnde Effektivität<br />

dieser reflexhaften Protesthaltung Grund für den Zusammenschluß mit anderen. Wenn die<br />

Anderen jedoch mit der gleichen Spontaneität an einem Tag alles irgendwie neu machen<br />

wollen, weil betroffenes Mitleid sie angesichts des alltäglichen Grauens an einem nebligen<br />

Herbsttag umschließt, um am nächsten erneut mit Begeisterung dem nichtigen Geschäft des<br />

Daseins nachzukommen, dann fragt es sich, ob die Interaktion – die selbstredend Solidarität<br />

genannt werden kann, ohne sie zu bestimmen - nicht mehr einer freiwilligen Reproduktion<br />

dessen ähnelt, was ursprünglich verändert werden sollte, als jener koordinierten Entäußerung<br />

in die Welt, die trotz aller Zweifel zumindest theoretisch in der Lage sein könnte, eine<br />

Transformation zu Freiheit und Gleichheit einzuleiten.<br />

Dabei sollte man Michel Foucaults Mahnung berücksichtigen, nach der "man auf dem Gebiet<br />

der modernen Theorie sehr wohl (weiß), daß man sich darin gefällt, nicht so sehr<br />

demonstrierbare Systeme zu erfinden, sondern Disziplinen, deren Möglichkeit man eröffnet,<br />

deren Programm man entwirft und deren Schicksal und Zukunft man anderen anvertraut.<br />

Kaum ist die punktierte Linie ihres Aufrisses beendet, verschwinden sie mit ihren Autoren und<br />

das Feld, das sie hätten bearbeiten sollen, bleibt für immer steril." 966 Trotz allen Wissens um<br />

die Unvollkommenheit der konkret erarbeitbaren Konzepte, sollten Interaktionsformen schon<br />

im theoretischen Experimentierstadium als Praxisform erprobt werden können. Das<br />

vermutliche Scheitern einer dauerhafteren Installation jener solidarischen Diskurs- und<br />

Handlungssphären wird dabei nur selten - als Niederlage verstanden - depressive Schatten auf<br />

das Projekt an sich werfen, wenn sich die Akteure zu jedem Zeitpunkt vergegenwärtigen, daß<br />

die Solidaritätsbeziehung als zweckrationale Interaktionsform selbst im Erfolgsfall nur eine<br />

begrenzte, temporäre Existenz erheischen kann. 967<br />

Als ein theoretisches Modell einer temporären, konkret-solidarisch handelnden<br />

Interaktionsgemeinschaft mit dem Ziel der Durchsetzung einer individuellen Freiheit und einer<br />

temporären, konkreten Gleichheit kann die "Temporäre Autonome Zone" angesehen werden,<br />

auch wenn sich die diese unmittelbare Vergesellschaftungsebene des Subjekts – die Horde –,<br />

966 Foucault 1981,294.<br />

967 Foucault weißt zu Recht darauf hin, daß die Menschen es "nicht ertragen (können), und man kann<br />

sie auch ein wenig verstehen), wenn man ihnen sagt: 'Der Diskurs ist nicht das Leben: seine Zeit ist<br />

nicht die Eure; in ihm versöhnt Ihr Euch nicht mit dem Tode; es kann durchaus sen, daß Ihr Gott<br />

unter dem Gewicht all dessen, was Ihr gesagt habt, getötet habt. Denkt aber nicht, daß Ihr aus all<br />

dem, was Ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebt als er.'"(Foucault 1981,301)<br />

292


strukturierende Solidarität unbestimmbar im "deadcoolen" Wortnebel verliert. 968 <strong>Die</strong><br />

angeführten Beispiele neuer Gesellschaftsformen lassen jedoch Rückschlüsse auf die ihnen<br />

innewohnenden Interaktionsbeziehungen zu, welche programmatisch als Ausdruck einer<br />

universellen Solidarität verstanden werden: 969 "Besetze ein Haus, sperre eine Autobahn,<br />

errichte ein Zeltlager neben einer Startbahn oder einem AKW, erobere eine Stadt, lege einen<br />

Strommast um, feiere deinen Geburtstag in der Oper, rauche einen Joint im Kinosaal, laß das<br />

Schulfest in großartiger Weise außer Kontrolle geraten, entführe einen Touristenbus und<br />

beschere den Insassen den aufregendsten Tag ihres Lebens, baue eine Kirche zu einer<br />

öffentlichen Toilette um, stelle deine Wagenburg in der Einkaufspassage auf. Zwanzig<br />

Wachmänner treiben den Konsumterror in absurde Höhen, indem sie ungefragt das komplette<br />

Inventar des Kaufhauses verteilen." 970 <strong>Die</strong> Kaperung eines Touristenbusses zeigt deutlich, daß<br />

dies keine Solidarität der universellen Harmonie sein kann, sondern sich gerade aus der<br />

Konfrontation verschiedener Lebensweisen entwickelt, wobei scheinbar jede Seite Solidarität<br />

dadurch konstruiert, daß der konkrete Akt eine rationalisierbare Bedürfnisgemeinschaft<br />

schafft: <strong>Die</strong> Solidarität der Buspiraten basiert auf dem gemeinsamen Bedürfnis nach Spaß und<br />

Auslebung eines individuellen Interesses nach Chaos; die Solidarität der Reisenden fußt auf<br />

jenem, von vielen als zentral verstandenen Bedürfnis nach Fortexistenz des eigenen Seins und<br />

dem Interesse, das eigene Leben scheinbar selbstbestimmt zu Ende bringen zu wollen; die<br />

Solidarität der Betrachter findet Maß und Richtung in dem Interesse der Schaulustigen nach<br />

einem Moment von Kurzweil, welches ihre eigene, langweilige Existenz temporär vergessen<br />

macht; die Solidarität der staatlichen Stellen basiert auf dem Bestreben, durch exemplarische<br />

Akte ihrem Dasein einen Sinn zu geben; den Philosophen eröffnet das Spektakel die<br />

Möglichkeit, einen Diskurs über Hintergründe und Bedeutung des Phänomens zu entfachen. 971<br />

968 "<strong>Die</strong> Horde ist offen – nicht für jede(n) natürlich, aber für die verwandte Gruppe, die auf Solidarität<br />

und Liebe Eingeschworenen.<strong>Die</strong> Horde ist nicht Teil einer umfassenderen Hierarchie, sondern<br />

vielmehr Teil einer horizontalen Struktur von Sitten, erweiterter Verwandschaft, von Vertrag und<br />

Allianz, spirituellen Ähnlichkeiten usw." (Bey, Hakim; T.A.Z. <strong>Die</strong> Temporäre Autonome Zone;<br />

Berlin 1994; S.116)<br />

969 "<strong>Die</strong> ‚Stammenzusammenkünfte‘ der sechziger Jahre, die Waldkonklaven von Öko-Saboteuren, das<br />

idyllische keltische Manifest Beltane der Neo-Heiden, anarchistische Konferenzen, schwule<br />

Märchenzirkel ... Harlem Rent Parties der zwanziger Jahre, Nachtclubs, Bankette, libertäre Picknicks<br />

der alten Zeit – wir sollten verstehen, daß all iese in gewisser Weise bereits ‚befreite Zonen‘ waren,<br />

zumindest potentielle TAZen sind. Ob nun für ein paar Freude, wie im Falle einer Dinner Party, ober<br />

für tausende von Feiernden, wie bei einem Be-In, die Party ist immer ‚offen‘; sie mag geplant sein,<br />

wenn sie sich aber nicht ‚ereignet‘, ist sie ein Fehlschlag. Das Element der Spontanität ist<br />

entscheidend. Das Wesentliche ist die Party: von Angesicht-zu-Angesicht, eine Gruppe von<br />

Menschen agiert synergetisch, um die Wünsche der Einzelnen zu befriedigen, entweder die nach<br />

guten Essen oder Spaß, Tanz, Konversation, Lebenskunst, vielleicht sogar nach erotischem<br />

Vergnügen oder nach Vollendung eines gemeinsamen Kunstwerkes oder nach Seligkeit, kurz, eine<br />

‚Union von Egoisten‘ (laut Stirner) in ihrer einfachsten Form oder aber, im Kropotkinschem Sinne,<br />

eine grundlegende Triebkraft in Richtung ‚gegenseitiger Hilfe‘." (Bey 1994,118) Desweiteren wird<br />

auf Piratengemeinschaften (vgl. z.B.: Sterling, Bruce; Inseln im Netz; München 1990) und<br />

Siedlergemeinschaften in Nordamerika verwiesen (vgl. z.B.: Sakolsky, Ron/ Koehnline, James (Hrg.);<br />

Gone to Croatan – Origins of North American <strong>Dr</strong>opout Culture; New York 1993).<br />

970 Bey 1994,7/8.<br />

971 Schon Lukrez führt an, daß derjenige, welcher auf fester Klippe stehend, beim Anblick eines<br />

Schiffbruchs auf offenem Meer, nicht den Untergang der anderen, sondern seine eigene Distanz<br />

293


Welche Bedeutung kommt jedoch diesen jeweils durch eine konkrete Solidarität situierten<br />

Interaktionsgemeinschaften im Hinblick auf das Projekt einer allgemein-menschlichen<br />

Solidarität zu? <strong>Die</strong> Buspiraten erleben ihre Freiheit im temporären Akt der Party und errichten<br />

gleichzeitig eine temporär begrenzte Gleichheit in Bezug auf das sonst dominierende<br />

Gewaltmonopol des Staates. Den Geiseln wird durch die Einschränkung ihrer<br />

Bewegungsfreiheit unter Umständen bewußt, daß die konkrete Situation ihnen als absolute<br />

Negation von Freiheit ein zuvor vielleicht in Vergessenheit geratenes Bedürfnis nach Freiheit in<br />

Erinnerung ruft, welches sie unter Umständen dazu befähigt, nach ihrer 'Freilassung' ihr Leben<br />

aus jenen eingefahrenen Gleisen zu stoßen, die selten zu Gleichheit und Freiheit führen.<br />

Gleiches gilt für das vielleicht rudimentär vorhandene Bedürfnis nach Gleichheit, das auf der<br />

einen Seite in der Gruppe der Geiseln erfahrbar wird, um sich auf der anderen Seite angesichts<br />

der Ungleichheit gegenüber den Geiselnehmern vielleicht als Forderung auch nach dem<br />

temporären Ereignis erhebt. Betrachtern, Staatsdienern und Philosophen bietet das<br />

beschriebene Phänomen nur vermittelt Zugang zu einer Teilnahme am Prozeß der<br />

Emanzipation, wobei zu sagen ist, daß auch für die anderen beiden Gruppen dies nur gilt, wenn<br />

sie sich der mühsamen Arbeit einer rationalen Betrachtung unterziehen, denn konkrete<br />

Solidarität wird erst dann zum transformatorischen Akt, wenn sie von den Individuen als<br />

Interaktionsform auf jenem Weg gewählt wird, der Utopien wahr werden lassen kann.<br />

Es geht also, wenn man real-wirksame, emanzipatorische Solidarität als Interaktionsform<br />

räumlich-analytisch einschränken will, darum, jene Beziehung zwischen Privatsphäre,<br />

Gesellschaft und Staat auszuloten, in der sich das Individuum unmittelbar im Kontext mit<br />

Anderen vergegenständlicht und vergesellschaftet. Eine konsensfähige Definition von<br />

Vergesellschaftung liefert Sorg: "Wenn Gesellschaft das Produkt des wechselseitigen Handelns<br />

der Menschen ist, 972 dann kann man Vergesellschaftung verstehen als den geschichtlich<br />

fortschreitenden Prozeß der Entwicklung, Verdichtung und Vertiefung der sozialen<br />

Beziehungen der Menschen. Als Grundprozeß der Entwicklung der menschlichen Zivilisation<br />

aus der nichtmenschlichen Natur und im Gegensatz zu ihr ist Vergesellschaftung<br />

formationsübergreifend, besitzt aber in jeder Gesellschaftsformation eine spezifische<br />

sozialökonomische Qualität und Erscheinungsform." 973 Demnach würde sich emanzipatorische<br />

Solidarität von der alltäglichen nur dadurch unterscheiden, daß sie diese Prozesse vertieft und<br />

verdichtet. Spricht hier nicht der klassische Geschichtsdeterminismus rechtshegelscher<br />

Prägung? Muß nicht gerade die unreflektierte Alltäglichkeit der Solidarität erzeugenden<br />

Vergesellschaftungsprozesse durchbrochen werden, wenn man die Negierung von Freiheit und<br />

Gleichheit, die die Totalität dieser Interaktionen beständig reproduziert, durchbrechen will? Ich<br />

denke schon, denn warum sollten Beziehungen, in die das Subjekt zufällig gerät, dem Einzelnen<br />

von Nutzen sein, außer man unterstellt, daß dem Sein per se eine Sinnhaftigkeit für das<br />

Individuum entspringt.<br />

dazu genießt, Philosoph genannt werden muß, da er den Schrecknissen des Sein unangefochten in<br />

die schreckliche Fratze schaut. (Vgl.: Blumenberg, Hans; Schiffbruch mit Zuschauern – Paradigma<br />

einer Daseinsmetapher; Frankfurt/Main 1979; S.28-31)<br />

972 MEW 27,452.<br />

973 Sorg, Richard; Krise und Individualisierung; in: Forum Wissenschaft Nr.1/1988, S.56.<br />

294


Da sich diese Studie bewußt in die Tradition des marxschen Werkes setzt, gilt es auch, die<br />

wenigen Textstellen, in denen Marx explizit diesen Terminus verwendet, unter die Lupe zu<br />

nehmen, wobei das Hauptaugenmerk auf jenen Passagen liegen sollte, wo er Solidarität nicht<br />

analytisch, sondern programmatisch verwendet, sei es um eine Form der Interaktion der<br />

<strong>Revolution</strong>äre zu beschreiben, sei es um Modelle zukünftiger Gesellschaften zu entwerfen. In<br />

der "Deutschen Ideologie" heißt es: "Innerhalb der kommunistischen Gesellschaft, der einzigen,<br />

worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist, ist sie bedingt eben<br />

durch den Zusammenhang der Individuen, ein Zusammenhang, der teils in den ökonomischen<br />

Voraussetzungen besteht, teils in der notwendigen Solidarität der freien Entwicklung Aller, und<br />

endlich in der universellen Betätigungsweise der Individuen auf der Basis der vorhandenen<br />

Produktivkräfte. Es handelt sich hier also um Individuen auf einer bestimmten historischen<br />

Entwicklungsstufe, keineswegs um beliebige zufällige Individuen, auch abgesehen von der<br />

notwendigen kommunistischen <strong>Revolution</strong>, die selbst eine gemeinsame Bedingung ihrer freien<br />

Entwicklung ist. Das Bewußtsein der Individuen über ihre gegenseitige Beziehung wird<br />

natürlich ebenfalls ein ganz andres und daher ebensowenig das ‚Liebesprinzip‘ oder das<br />

Dévoûment wie der Egoismus sein." 974 Solidarität ist demnach eine Interaktionsform jenseits<br />

der Liebe, jenseits der Aufopferung und jenseits des Egoismus. Wenn man sich<br />

vergegenwärtigt, welche Inhalte die Philosophie in der Solidarität zu erkennen glaubt, stellt sich<br />

nach dem marxschen Urteilsspruch die Frage, welche Form der Interaktion dann noch bleibt,<br />

auch wenn zugestanden werden muß, daß es sich bei der in der Textstelle bestimmten<br />

Solidarität um die Solidarität der Menschen im Kommunismus handelt, jedoch kann in dieser<br />

Form der Interaktion auch eine Art Utopie der Solidarität gesehen werden. Betrachtet man<br />

zuerst jene andere Form des Zusammenhanges der Menschen, die Marx in den ökonomischen<br />

Voraussetzungen zu erkennen glaubt, wird sein Solidaritätsbild in Bezug auf den Kapitalismus<br />

zumindest ansatzweise deutlich: "<strong>Die</strong>se Nivellierung der Lebenslage, diese Identifikation der<br />

Partei-Interessen der Arbeiter aller Nationen ist das Resultat der Maschinerie, und daher<br />

bleibt die Maschinerie ein ungeheurer geschichtlicher Fortschritt. Was folgt für uns daraus?<br />

Weil die Lage der Arbeiter aller Länder dieselbe, weil ihre Interessen dieselben, ihre Feinde<br />

dieselben sind, darum müssen sie auch zusammen kämpfen, darum müssen sie der<br />

Verbrüderung der Bourgeois aller Völker eine Verbrüderung der Arbeiter aller Völker<br />

entgegenstellen." 975 Nun wäre es jedoch völlig falsch zu vermuten, daß eine analytische<br />

Beschreibung der äußere Solidarität produzierenden Faktoren und programmatischer<br />

Festschreibung des Inhaltes und der Form der Solidarität in Eins fallen würden, denn es ist<br />

offensichtlich, daß der Faktor der Gleichheit der sozialen Lage nur als äußerer Rahmen zur<br />

Solidaritätsbildung angesehen werden kann, während kommunistische Solidarität selbst erst<br />

dann entsteht, wenn sich die Protagonisten erstens dessen bewußt werden und zweitens zur<br />

Durchsetzung ihrer Ziele diese vorerst formale Möglichkeit zur Ebene der Veränderung der<br />

974 MEW 3,424/425.<br />

975 MEW 4,428. Vgl. auch: "Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser<br />

Träger die Bourgeosie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenu ihre<br />

revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird<br />

also unter den Füßen der Bourgeosie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert<br />

und die Produkte sich aneignet."(MEW 4,474)<br />

295


Welt machen. Im "Kommunistischen Manifest" wird in der gleichen Weise die<br />

Solidargemeinschaft der Kommunisten als konkrete Aktionsgemeinschaft innerhalb der<br />

abstrakten, auf formalen Kriterien begründeten Arbeiterklasse entwickelt: "<strong>Die</strong> Kommunisten<br />

unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in<br />

den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von den<br />

Nationalitäten unabhängigen Interessen des gesamten Proletaritats hervorheben und zur<br />

Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen,<br />

welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der<br />

Gesamtbewegung vertreten." 976 Anhänger dieser oder jener traditionell-philosophischen<br />

Solidaritätsbegründung würden hieraus vermutlich ethische Prinzipien entwickeln, die der<br />

selbstlosen Tat für abstrakte Gegenstände kommunistischen Mitleids Form und Inhalt geben,<br />

jedoch verfehlt man so die marxsche Intention bei weitem, auch wenn es der Marxismus<br />

verstanden hat, aus solchen Textstellen die "Ethik der Offiziere der Luftstreitkräfte der Union<br />

der sozialistischen Sowjetrepubliken" 977 zu entwickeln. Mehr Licht in die Sache bringt ein<br />

Artikel von 1847, in dem Engels, mittels einer Polemik gegen Karl Heinzens Bedauern über<br />

die Unmoral der "kommunistischen Solidarität" 978 , ebendiese kommunistische Solidarität der<br />

<strong>Revolution</strong>äre darlegt: "Herr Heinzen scheint darauf anspielen zu wollen, daß Kommunisten<br />

sich über sein hochmoralisches Auftreten lustig gemacht und alle jene heiligen und erhabenen<br />

Ideen, Tugend, Gerechtigkeit, Moral usw. verspottet haben, von denen Herr Heinzen sich<br />

einbildet, daß sie die Grundlage aller Gesellschaft ausmachen. <strong>Die</strong>sen Vorwurf akzeptieren<br />

wir. <strong>Die</strong> Kommunisten werden sich durch den ehrbaren Mannes Herrn Heinzen moralische<br />

Empörung nicht abhalten lassen, diese ewigen Wahrheiten zu verspotten. <strong>Die</strong> Kommunisten<br />

behaupten übrigens, jene Wahrheiten seinen keineswegs die Grundlage, sondern umgekehrt<br />

das Produkt der Gesellschaft, in der sie figurieren." 979 Wenn auch jenseits von Gut und Böse<br />

so agieren die Kommunisten als Summe von Einzelnen doch nicht nur nach Lust und Laune,<br />

sondern der gemeinsame Punkt ihrer Interessen bestimmt sowohl die Form als auch den Inhalt<br />

ihrer Gemeinschaft und der dort herrschenden, solidarischen Interaktionsbeziehungen 980 : "Der<br />

nächste Zweck der Kommunisten ist (...): Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der<br />

976 MEW 4,474.<br />

977 Autorenkollektiv; Ethik der Offiziere der Luftstreitkräfte der Union der sozialistischen<br />

Sowjetrepubliken; Berlin/DDR 1972.<br />

978 MEW 4,319. Heinzen, Karl; Polemik: Karl Heinzen und die Kommunisten; in: Deutsche-Brüsseler<br />

Zeitung Nr.77 vom 26.9.1847 (Reprint Bruxelles o.J.); Vgl. auch: ders.; Teutsche <strong>Revolution</strong> –<br />

Gesammelte Flugschriften; Bern 1847.<br />

979 MEW 4,319.<br />

980 Auch wenn dies kommunistischen Moralisten nicht gefallen wird, erinnert diese Dialektik von<br />

Zweckrationalität und temporärer Solidarität jener Freundschaft der fidelen Mönche des Klosters<br />

Saint-Marie-des-Bois , auch wenn diese weniger hochfliegenden Neigungen nachhängen: "Der<br />

Zusammenhalt unserer Vereinigung sichert deren Fortbestand, und hierfür erbringen wir gerne<br />

einige Opfer, denn die an dieser Stätte in Hülle und Fülle zur Verfügung stehenden Mittel, Böses zu<br />

wirken, entschädigen uns reichlich. Bilde dir nicht ein, daß wir uns diesethalben innig lieben; wir<br />

leben Tag für Tag allzu eng beieinander, um uns lieben zu können; doch sind wir dazu gezwungen<br />

zusammenzubleiben; und diesem Zwang fügen wir uns aus Berechnung, ähnlich jenen Räubern,<br />

denen sich zum Schutz ihrer Vereinigung keine andere Grundlage bietet als das Laster und der<br />

Trieb, ihm zu frönen." (Sade 1990ff.; 2,195)<br />

296


Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat." 981 Auch hier<br />

ist es in philosophischer Unkenntnis der marxschen Denkweise möglich, in den Kommunisten<br />

selbstlose Werkzeuge einer abstrakten Idee zu sehen, jedoch verhält es sich nach meinem<br />

Dafürhalten gerade andersherum: <strong>Die</strong> Individuen werden Mitglieder der Solidargemeinschaft<br />

der Kommunisten, um die für sie allein unerreichbaren Bedürfnisse der Weltveränderung<br />

durchzusetzen. Somit ist die Partei der Kommunisten auch nicht jene moralische Anstalt, die<br />

der junge Georg Lukács in ihr zu erkennen glaubt, sondern ein zweckrationales, temporäres<br />

Bündnis von Subjekten, die ein Bedürfnis nach Veränderung haben, wobei die von Marx<br />

beschriebenen Zwecke als Wegsteine verstanden werden sollten, die die Gemeinschaft<br />

solidarisch durchficht, bevor nach dem Sieg der kommunistischen <strong>Revolution</strong> sowohl die Partei<br />

der Kommunisten wie die Solidarität ihrer Mitglieder einerseits erlischt, andererseits auf der<br />

Basis des gemeinsam Erlebten neu konstruiert wird, wenn das einzelne Individuum daran<br />

Interesse hat. 982 Wenn Marx fordert, "daß die Arbeiter der verschiedenen Länder sich nicht<br />

nur als Brüder und Kameraden der Emanzipationsarmee fühlen, sondern auch als solche<br />

handeln", 983 dann besteht zwar die Möglichkeit, daß Mitglieder der Internationalen<br />

Arbeiterassoziation dieses als normativen Appell zur Praxis verstanden haben, aber<br />

<strong>Revolution</strong>äre, die sich aus eigenem Interesse temporär mit anderen zur Transformation<br />

zusammengeschlossen haben, dürften in den Ausführungen nichts anderes gesehen haben als<br />

ein Postulat von Marx - welches sie teilen konnten oder nicht -, da die Solidaritätsbeziehung<br />

der Kommunisten gerade nicht die Herrschaftsstrukturen der alten Welt auf neuen<br />

ideologischen Boden übertragen wollte. <strong>Die</strong>s wird um so deutlicher, wenn Engels hervorhebt,<br />

daß gerade nicht die organische Form, welche die kommunistische Solidarität im Flusse der<br />

Bewegung angenommen hat, von Wichtigkeit ist, sondern daß "das Werk jener großen<br />

proletarischen Organisation (1877 – KSS) nicht nur völlig erfüllt (ist), sie selbst setzt ihr Leben<br />

981 MEW 4,474. "Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen. Sie<br />

scheinen dies begriffen zu haben, denn in England, Frankreich, Deutschland und Italien zeigt sich<br />

ein gleichzeitiges Wiederaufleben und finden gleichzeitige Versuche zur Reorganisation der<br />

Arbeiterparteien statt. Ein Element des Erfolges besitzt sie, die Zahl. Aber Zahlen fallen nur in die<br />

Waagschale, wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet. <strong>Die</strong> vergangene Erfahrung hat<br />

gezeigt, wie Mißachtung des Bandes der Brüderlichkeit, welches die Arbeiter der verschiedenen<br />

Länder verbinden und sie anfeuern sollte, in allen ihren Kämpfen für Emanzipation fest<br />

beieinanderzustehen, stets gezüchtigt wird durch die gemeinschaftliche Vereitelung ihrer<br />

zusammenhanglosen Versuche. Es war dies Bewußtsein, daß die Arbeiter verschiedener Länder,<br />

versammelt am 28.September 1864 in dem öffentlichen Meeting zu St. Martin’s Hall, London,<br />

anspornte zur Stiftung der Internationalen Arbeiterassoziation. (...) Der Kampf für eine auswärtige<br />

Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterkasse." (MEW<br />

16,12/13)<br />

982 Schon in seiner Frühschrift "Lage der arbeitenden Klasse in England" hatte Engels dabei deutlich<br />

gemacht, daß der Kampf des Proletariats weniger mit der Erfüllung der konkreten Forderungen der<br />

Arbeiterbewegung zu tun hat als vielmehr mit der "Sache der Menschenheit!" (MEW 2,231)<br />

983 MEW 16,191. "Bürger, denken wir an jenes Grundprinzip der Internationale: die Solidarität. Nur<br />

wenn wir dieses lebenspendende Prinzip unter sämtlichen Arbeitern aller Länder auf sichere<br />

Grundlage stellen, werden wir das große Endziel erreichen, das wir uns gesteckt haben. <strong>Die</strong><br />

Umwälzung muß solidarisch sein, das lehrt uns das große Beispiel der Pariser Kommune, die<br />

deswegen gefallen ist, weil es in allen Zentren, in Berlin, in Madrid etc. zu keinerlei großen<br />

revolutionären Bewegungen gekommen war, die dieser machtvollsten Erhebung des Pariser<br />

Proletariats ebenbürtig wären." (MEW 18,161)<br />

297


fort, mächtiger als je in dem weit stärkeren Bund der Einigkeit und Solidarität, in der<br />

Gemeinsamkeit der Aktion und der Politik". 984 Solidarität ist so verstanden niemals<br />

Selbstzweck, sondern temporärer Ausdruck der scheinbar notwendigen Zusammenarbeit der<br />

an Veränderung interessierten Menschen, wobei Solidarität vorübergehendes Mittel zum<br />

Zweck jener Veränderung wird, an deren Ende Freiheit und Gleichheit zumindest möglich<br />

werden könnten. Wenn Marx in der "Deutschen Ideologie" davon spricht, daß auch "innerhalb<br />

der kommunistischen Gesellschaft, der einzigen, worin die originelle und freie Entwicklung der<br />

Individuen keine Phrase ist, sie bedingt (ist) eben durch den Zusammenhang der Individuen,<br />

ein Zusammenhang, der teils in den ökonomischen Voraussetzungen besteht, teils in der<br />

notwendigen Solidarität der freien Entwicklung Aller, und endlich in der universellen<br />

Betätigungsweise der Individuen auf der Basis der vorhandenen Produktivkräfte" 985 , dann<br />

heißt dies weder, daß diese Solidarität sich in der alten, partiellen Solidarität der revolutionären<br />

Bewegung präsentiert, noch daß Solidarität in dieser Gesellschaftsform zu einem statischen<br />

Moment einer normativen Konstruktion wird, sondern daß unter den neuen Umständen das<br />

konkrete Individuum genau dann mit anderen zusammenarbeitet, wenn diese erstens seine<br />

eigene freie Entwicklung nicht einschränken und sie zum anderen genau dieser Entwicklung<br />

nützlich sind. Gerade wenn der Einzelne die freie Entwicklung seiner selbst zum Ziele erhebt,<br />

wird diese Form der Solidarität "daher ebensowenig das 'Liebesprinzip' oder das Dévoûment<br />

wie der Egoismus sein" 986 , da selbst unter idealen Umständen - wie gezeigt – das Individuum<br />

seine Freiheit, trotz aller Probleme, die daraus entspringen, nicht verwirklichen kann, ohne im<br />

Austausch mit anderen zu leben, wobei der positive Mythos der Vernunft dazu beitragen<br />

könnte, daß dies trotz aller Hemmnisse in konkreter Gleichheit und temporärer Solidarität<br />

geschieht.<br />

Aller Unkenrufe zum Trotz wird dieser Austausch in Kommunismusverständnis von Marx<br />

weder durch ökonomische Notwendigkeiten determiniert noch durch abstrakte<br />

Vernunftsprinzipien eines zum Ideal erhobenen Individualismus bestimmt, sondern Marx hebt<br />

hervor, daß es "Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziation (ist), die spontanen<br />

Bewegungen der Arbeiterklasse zu vereinigen und zu verallgemeinern, doch nicht, ihnen<br />

irgendein doktrinäres System zu diktieren oder aufzudrängen." 987 "Der Kongreß sollte deshalb<br />

kein besonderes System der Kooperation verkünden, sondern sich auf die Darlegung einiger<br />

allgemeiner Prinzipien beschränken" 988 , wobei das Ziel in der Verwandlung der<br />

"gesellschaftlichen Produktion in ein umfassendes und harmonisches System freier<br />

Kooperativarbeit" 989 gesehen wird, welches letztlich "die bisherige Art der Tätigkeit (...), die<br />

Arbeit beseitigt". 990 Dabei sollte allen Beteiligten klar sein, daß dies "nicht nur eine<br />

Veränderung der Verteilung erfordert, sondern auch eine neue Organisation der Produktion,<br />

oder besser die Befreiung (Freisetzung) der gesellschaftlichen Formen der Produktion in der<br />

984 MEW 19,124.<br />

985 MEW 3,424/425.<br />

986 MEW 3,425.<br />

987 MEW 16,195.<br />

988 MEW 16,195.<br />

989 MEW 16,195.<br />

990 MEW 3,69/70.<br />

298


gegenwärtigen organisierten Arbeit (...) von den Fesseln der Sklaverei, (...) und ihre<br />

harmonische nationale und internationale Koordinierung." 991 Wer hier mutmaßt, daß die<br />

Kommunisten über die Funktion der Koordinierung der Produktion Herrschaft über die<br />

Individuen erlangen wollen, liegt erneut falsch, denn selbst im oft zum Programm des<br />

despotischen Sozialismus stilisierten 'Antidühring' vertritt Engels die These, daß "die<br />

Gesellschaft sich selbstredend nicht befreien (kann), ohne daß jeder einzelne befreit wird. <strong>Die</strong><br />

alte Produktionsweise muß also von Grund aus umgewälzt werden, und namentlich muß die<br />

alte Teilung der Arbeit verschwinden. An ihre Stelle muß eine Organisation der Produktion<br />

treten, in der einerseits kein einzelner seinen Anteil an der produktiven Arbeit, dieser<br />

Naturbedingung der menschlichen Existenz, auf andre abwälzen kann; in der andrerseits die<br />

produktive Arbeit, statt Mittel der Knechtung, Mittel der Befreiung der Menschen wird, indem<br />

sie jedem einzelnen die Gelegenheit bietet, seine sämtlichen Fähigkeiten, körperliche wie<br />

geistige, nach allen Richtungen hin auszubilden und zu betätigen, und in der sie so aus einer<br />

Last zu einer Lust wird." 992 <strong>Die</strong>se Koordinierung und Organisation reduziert sich nach Marx‘<br />

Auffassung im Kommunismus darauf "daß die Gesellschaft im voraus berechnen muß, wieviel<br />

Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel sie ohne irgendwelchen Abbruch auf<br />

Geschäftszweige verwenden kann, die, wie Bau von Eisenbahnen z.B., für längere Zeit, ein<br />

Jahr oder mehr, weder Produktionsmittel noch Lebensmittel, noch irgendeinen Nutzeffekt<br />

liefern, aber wohl Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel der jährlichen Gesamtproduktion<br />

entziehen." 993 Wenn also die Gemeinschaft der Individuen, oder auch nur Teile von ihr darin<br />

übereinstimmen, daß sie ein Leben im Kommunismus trotz aller negativen Implikationen eines<br />

gewissen Maßes an Luxus, jenseits der individuell bewirtschafteten Parzelle Land, ihre<br />

Bedürfnisse mehr befriedigt als das archaische Leben von universell-freien Jägern, Sammlern<br />

und Bauern der postkapitalistischen Ära, dann läßt es sich nicht verhindern, daß sie sich zu<br />

diesem Zweck und nur zu diesem Zweck mit Anderen, die dieses Interesse teilen, kooperativ<br />

zusammenschließen. Daraus folgt weder ein Verlust ihrer Freiheit, da sie freiwillig an solchen<br />

Projekten partizipieren, noch ihrer konkreten Gleichheit, weil alle Teilnehmer das Interesse an<br />

der Überwindung auftretender konkreter Ungleichheiten, angesichts der Freiwilligkeit und der<br />

temporären Beschränkung des Projektes, die Nachteile vergessen läßt, bzw. wenn das<br />

Gleichheitsbedürfnis eines Kommunarden beeinträchtigt wird, kann er mittels des <strong>apathische</strong>n<br />

Methodenkanons dagegen vorgehen. Solidarität würde hier durch die beschränkte<br />

Gemeinsamkeit der Interessen und Bedürfnisse temporär generiert und könnte bei allgemeiner<br />

Zufriedenheit zum Modellfall erhoben werden, jedoch kann jedes Individuum anschließend<br />

genauso gut zu der Auffassung gelangen, daß diese Form der zweckrationalen, koordinierten<br />

Interaktion den eigenen Bedürfnissen zuwiderläuft und es folglich dieser Art von Entäußerung<br />

seiner selbst für den Rest seiner begrenzten Existenz lieber aus dem Weg geht.<br />

Während Marx ein recht einleuchtendes Bild der Solidarität und Kooperation im<br />

Kommunismus hinterlassen hat, bleiben seine Ausführungen zur Solidarität derjenigen, die<br />

dieses Alternativmodell der gesellschaftlichen Interaktion zu ihrem Interesse erklären, recht<br />

991 MEW 17,546.<br />

992 MEW 20,273/274.<br />

993 MEW 24,317.<br />

299


nebulös. So gelang es den Arbeiterbewegungsphilosophen auch ohne große Probleme, den<br />

Gegensatz zwischen der von Marx analytisch extrahierten Solidargemeinschaft und seinem<br />

theoretisch entwickelten Modell einer emanzipativen Solidarität mit einem Rekurs auf die<br />

kantsche Konstruktion des Dings an sich und des Dings für sich zu harmonisieren, wobei die<br />

Protagonisten der Weltrevolution den Arbeitern helfen sollten, von einer Klasse an sich zu<br />

einer Klasse für sich zu werden – ein Prozeß, der auch als Weckung des Klassenbewußtseins<br />

verstanden wurde. <strong>Die</strong> vom Marxismus vorgenommene Beschränkung des Subjektes auf die<br />

Gruppe der unmittelbar produzierenden Menschen, die bei Marx, wie in der Einleitung gezeigt,<br />

nur taktisches Moment war, bringt unzweifelhaft den Vorteil, daß so die emanzipatorische<br />

Solidarität idealtypisch dem Individuum nicht als Gedanke jenseits seines eigenen<br />

Erkenntnishorizontes entgegentritt, sondern - immer idealtypisch – als die zum Bewußtsein<br />

gewordene Reflexion seines eigenen Seins. Eine andere Solidargemeinschaft, deren kognitive<br />

Entdeckung dem Individuum neue Horizonte eröffnet, auch wenn es in der Diskussion zumeist<br />

Gegenstand nichtiger Moralpredigten bleibt, scheint die universelle Gemeinschaft der<br />

Menschen zu sein, wobei diese Gruppe einerseits den Vorteil hat, daß ihr nicht der Makel<br />

einer Begrenzung anhaftet, während andererseits problematisch ist, daß die unbefriedigten<br />

Gleichheitsbedürfnisse genauso wie der Traum von Freiheit in dieser Solidargemeinschaft<br />

sowohl seinen Ausgang als auch seine Begrenzung erfährt, daß also – anknüpfend an das<br />

Gleichheitskapitel – die Faktoren, die Gemeinschaftlichkeit als unreflektierte Solidarität<br />

produzieren, in der Mehrheit der Subjekte den Faktoren unterlegen zu sein scheinen, die den<br />

Menschen an seinen Artgenossen verzweifeln lassen.<br />

Wenn man sich das Gesagte vergegenwärtigt, dann scheint es so zu sein, daß weniger die<br />

äußere Form noch der unbestreitbare Vorteil einer realen Existenz Gemeinschaften mit<br />

Solidarbeziehungen eine Funktion in den vorerst theoretischen Möglichkeiten einer allgemeinmenschlichen<br />

Emanzipation zukommen läßt, als vielmehr der individuelle Zugang der<br />

Solidarsubjekte zu dieser Interaktionsgemeinschaft. Vor diesem Hintergrund erscheinen<br />

abstrakte Interaktionsbeziehungen - wie etwa die Menschheit - als ungeeignete Aktionsorte<br />

des nach Freiheit und Gleichheit strebenden Subjektes, da in dieser Sphäre das<br />

unüberschaubare Individuumgemenge den Einzelnen mehr Aufopferung abverlangt als es<br />

konkret-individuellen Nutzen bringt. Wenn man George Bataille folgen wollte, dürften nur<br />

Interaktionsgemeinschaften unterstützt werden, in denen „die orgiastische Partizipation an allen<br />

Formen der Erregung das einbringt, was Solidarität, was Brüderlichkeit eigentlich heißt, erst<br />

die maßlose Erregung kann zeigen, was Kommunikation einmal war und was sie wieder sein<br />

kann: das Fest der Erotik, des Todes und jener namenlosen Verwirrung, in der sich die Welt<br />

erneuert.“ 994 In einfacheren Worten könnte man auch sagen, daß emanzipative Solidarität sich<br />

994 Bergfleth 1985,30. Ausnahmsweise wird hier ein Sekundärtext einer Primärquelle vorgezogen, da<br />

Batailles Buch (Bataille 1985) diesen Teil der Trias nur indirekt berührt. Sein Modell der anderen<br />

beiden Elemente soll hier jedoch nachgereicht werden, da so die Solidarität Form und Richtung<br />

erhält: "Wir haben natürlich nichts gegen Gerechtigkeit, dennoch halten wir es für legitim, darauf<br />

hinzuweisen, daß dieses Wort hier die grundlegende Wahrheit ihres Gegenteils verdeckt, nämlich<br />

der Freiheit. Unter der Marke der Gerechtigkeit nimmt die allgemeine Freiheit allerdings das öde<br />

und graue Aussehen der den Notwendigkeiten unterworfenen Existenz an: es ist eher eine<br />

Reduktion ihrer Grenzen auf das rechte Maß, nicht die gefährliche Entfesselung – eine Bedeutung,<br />

300


dort konstituiert, wo Individuen zusammenkommen, die nicht nur ganz unmittelbare Interessen<br />

und Bedürfnisse durch Zweckbündnisse befriedigen wollen, sondern wo Visionen und<br />

universelle Lebenskonzepte dem Individuum als unmittelbares Bedürfnis Richtschnur und Ziel<br />

sind.<br />

Von dieser abstrakteren Ebene aus kann Fredric Jameson zugestimmt werden, der die<br />

<strong>Revolution</strong>äre auffordert, "jenen Ort lebendig (zu) erhalten, von dem das - unerwartete -<br />

Entstehen des Neuen erwartet werden kann" 995 , wobei ich bezweifeln möchte, daß dieser Ort<br />

jenseits der Sphäre der unmittelbaren Apathie der Individuen bzw. jenseits deren Willen zur<br />

Veränderung gesucht und gefunden werden kann. Wenn aber der Einzelne selbst, lange bevor<br />

er mit temporären, transformatorischen Solidargemeinschaften in Kontakt kommt, Ursprung<br />

und Springquelle des ersten Schrittes der Veränderung ist, dann reduziert sich real die Aufgabe<br />

und Funktion von Organisationen jedweder Art eben auf jene Funktionalität, die nicht selten<br />

als unsolidarisch, antiegalitär und menschenverachtend denunziert wird. Jedoch wenn das<br />

Subjekt der Veränderung erkennt, daß die Totalität des gegenwärtigen gesellschaftlichen Seins<br />

einem Zwecke dient, dessen Partizipation weder seine individuellen Bedürfnisse nach Freiheit<br />

noch seine Interessen an konkreter Gleichheit befriedigt noch befriedigen kann, dann sollte es<br />

offensichtlich sein, daß Werturteile dieses Seins eben jener Funktionalität entspringen, die nicht<br />

seine ist. In diesem Sinne gleicht der Einzelne auch in der Diskussion mit Gleichgesinnten jenen<br />

Ironikern und Zynikern, die mit permanentem Mißtrauen alle Prozesse betrachten, die Einfluß<br />

auf die unmittelbare Sphäre ihres Seins gewinnen wollen, wobei sie selbst entscheiden, ob sie<br />

sie als nichtige Reproduktion des realen Seins verlachen oder als notwendiges Übel temporär<br />

billigen, solange sie ihren Visionen und Zielen dienlich zu sein scheinen. Solidarität ist im Sinne<br />

dieser Studie weder eine überzeitliche Tugend, noch ein universelles Lebenskonzept, weder<br />

eine anthropologische Konstante, noch ein erstrebenswertes Ziel der gesellschaftlichen<br />

Veränderung, weder Voraussetzung einer alternativen Interaktionsweise der Individuen, noch<br />

Ideal einer illusorischen Philosophie der Praxis, sondern eine temporäre Form der Ausdehnung<br />

und Kombination der individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse auf Ebenen, die zumindest<br />

theoretisch in der Lage sind, die individuellen Interessen zu befriedigen, wobei ein<br />

wechselhaftes Mißtrauen und ein positiver Egoismus als Strukturmerkmale das Gegengewicht<br />

bilden, um jedweden unerwünschten Einfluß auf die individuellen Freiheitsideale und<br />

Gleichheitsvorstellungen im Keim zu bekämpfen. Dem selbstbewußten Individuum steht dabei<br />

ein ganzer Möglichkeitskatalog zu Verfügung, denn alle Waffen die im Laufe des Kampfes<br />

gegen die absurde Totalität ersonnen wurden - aktive Gegenwehr, <strong>apathische</strong> Unterminierung,<br />

die der Begriff verloren hat. Es ist ein Schutz gegen das Risiko der Knechtschaft, nicht die<br />

Entschlossenheit, die Risiken einzugehen, ohne die es keine Freiheit gibt." (Bataille 1985,65)<br />

995 Jameson 1996,181. "Das Leben in der Marginalität, das unverantwortlich und frivol erscheinen mag,<br />

befreit davon, sich stets vorsichtig verhalten zu müssen, aus Angst, anderer Leute Pläne zu<br />

durchkreuzen oder Kollegen des eigenen Fachs in die Quere zu kommen. (...) Ich behaupte jedoch,<br />

daß sich der Intellektuelle, der die Marginalität und Unbehaustheit eines wirklichen Exilanten<br />

anstrebt, dem Reisenden öffnen muß und nicht dem Potentaten, dem Provisorischen und Riskanten<br />

und nicht dem Gewöhnlichen, der Innovation und dem Experiment und nicht dem verordneten<br />

Status quo. Der exilierte Intellektuelle folgt nicht der Logik des Konventionellen, sondern dem Mut<br />

zur frechen Tat, er verkörpert Veränderung, Bewegung, nicht Stillstand." (Said, Edward W.; Götter<br />

die keine sind – Der Ort des Intellektuellen; Berlin 1997; S.71/72)<br />

301


Austritt und Auflösung – können auch gegen jene neue Interaktionsform der Solidarität, deren<br />

Existenz für gegenwärtige Subjekte eher einer Traumgestalt gleicht als einer realen Dinglichkeit,<br />

ins Feld geführt werden. Abschließend bleibt zu sagen, daß das Individuum der Solidarität<br />

teilhaftig werden kann, wenn es ihrer bedarf, daß aber, wenn es seine Interessen mittels dieser<br />

Solidarität auf die eine oder andere Weise befriedigt hat, sich diese gewordene Form im<br />

Flusse der Bewegung wieder in der Dunkelheit des Vergessens verlieren wird.<br />

302


"Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält –<br />

ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt<br />

–, oder die nicht als gegenwärtig sind. <strong>Die</strong>s ist die Nacht, das Innere der Natur, das<br />

hier existiert – reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um<br />

Nacht, hier schießt dann ein blutiger Kopf, – dort eine andere weiße Gestalt plötzlich<br />

hervor, und verschwinden ebenso – <strong>Die</strong>se Nacht erblickt man, wenn man dem<br />

Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die<br />

Nacht der Welt hier einem entgegen."<br />

Georg Wilhelm Friedrich Hegel 996<br />

"<strong>Die</strong> Welt des Subjekts ist die Nacht: die erregende, unendlich suspekte Nacht, die,<br />

wenn die Vernunft schläft, Ungeheuer hervorbringt. Ich behaupte, daß sogar der<br />

Wahnsinn nur eine schwache Vorstellung von dem vermittelt, was das freie,<br />

überhaupt nicht der realen Ordnung unterworfene, nur vom Augenblick erfüllte,<br />

Subjekt wäre." Georges Bataille 997<br />

4. Praktische Philosophie nach Marx und das neue Jahrtausend<br />

An den beiden vorangestellten Zitaten wird ersichtlich, daß selbst am Ende einer umfassenden<br />

Untersuchung über individuelle Praxismöglichkeiten die Frage nach dem Ursprung der<br />

Selbstsouveränität der Subjekte offen bleibt – ja offen bleiben muß. Ob die Umnachtung – also<br />

die Ausschaltung der Vernunft – oder die mythisch-rationale Auseinandersetzung mit dem<br />

allnächtlichen Alp den guten alten Traum von Freiheit, Gleichheit und Solidarität gebiert, darf<br />

offen gelassen werden, solange es noch Menschen gibt, die genug Chaos in sich tragen, um<br />

tanzende Sterne bei Tag oder Nacht hervorzubringen. 998 <strong>Die</strong>se Phänomene am Seinshorizont<br />

des Ichs weisen uns zwar nicht den Weg zum Ziel unserer Träume, wie ein beliebter Mythos<br />

Glauben machen will, sondern offenbaren dem Verzweifelten lediglich jene Existenz von einem<br />

subversiven, unsichtbaren Netz von Menschen in Auseinandersetzung mit der Absurdität des<br />

Seins, die anzeigt, daß das individuelle Bedürfnis nach Freiheit und Gleichheit mehr ist als<br />

Ausdruck eines individuellen Wahnsinns. Auch wenn einerseits vom Standpunkt eines<br />

kritischen Individualismus die Faktizität solcher Himmelsbilder selbst nach<br />

hunderttausendjähriger Geistesgeschichte durch und durch ungewiß bleibt, da die Frage, ob es<br />

996 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Jenaer Systementwürfe III: Naturphilosophie und Philosophie des<br />

Geistes; Hamburg 1987; S.172.<br />

997 Bataille 1985,88/89.<br />

998 "Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu<br />

können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch<br />

keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich<br />

selbst nicht mehr verachten kann." (Nietzsche 1988; 4,19) Der späte Engels vermutete den Ursprung<br />

der Selbstsouveränität in jenem Leidensdruck, der scheinbar spontan in Aktionismus umschlägt,<br />

wenn er eine spezifische, individuelle Grenze überschreitet: "Aber die Geschichte ist nun einmal die<br />

grausamste aller Göttinnen, und sie führt ihren Triumphwagen über Haufen von Leichen, nicht nur<br />

im Krieg, sondern auch in Zeiten ‚friedlicher‘ ökonomischer Entwicklung. Und wir Männer und<br />

Frauen sind unglücklicherweise so stupide, daß wir nie den Mut zu einem wirklichen Fortschritt<br />

aufbringen können, es sei denn, wir werden dazu durch Leiden angetrieben, die beinahe jedes Maß<br />

übersteigen." (MEW 39,38)<br />

303


eine den eigenen Horizont überschreitende Realität gibt oder ob die anderen als irreale<br />

Komparsen meines eigenen, vielleicht selbst nur geträumten Seins Wunschbilder einer in<br />

Langeweile versinkenden Kreatur sind, mit Gewißheit nie geklärt werden kann, spricht<br />

andererseits auch nichts dagegen, sich temporär mit anderen zu solidarisieren, wenn dies<br />

meinen eigenen Bedürfnissen unmittelbar entspricht, bzw. wenn ich der anderen – oder nur der<br />

Illusion der anderen – bedarf, um mein Ziel zu verwirklichen. <strong>Die</strong> Verwirklichung individueller<br />

Gleichheitsideale allerdings würde sich in einer solipsistischen Egoblase dahingehend verlagern,<br />

daß ich nur noch gleich meinen Träumen werden muß, damit universelle Zufriedenheit mein<br />

Sein beglückt und ich werden kann, was ich bin. 999 Wenn jedoch selbst in Zeiten, da glühende<br />

Kohlen als Theatrum mundi das eitle Sein umschmeicheln, von fliegenden Menschen, freien<br />

Sklaven und gleichen Gesellen jede Spur fehlt, liegt es zumindest nahe, daß entweder der<br />

individuelle Wille zu schwach ist, Schlaraffia zu schaffen, oder daß den anderen auf die eine<br />

oder andere Weise doch Existenz zukommt – und sei dies nur als ungewollte Gäste in den<br />

verschlungenen Pfaden des eigenen Wahnsinns.<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Untersuchung hat gezeigt, daß Freiheit im Gegensatz zur gängigen<br />

marxistischen Theorie schon bei Marx weniger als ein Problem der Anderen, als ein Problem<br />

der Interaktion und der individuellen Einstellung angelegt war und daß ausgehend von dieser<br />

Prämisse Apathie als ein Praxiskonzept verstanden werden kann, welches Individuen eben<br />

diese Freiheit und konkrete Gleichheit nahebringt. Während Marx jedoch noch optimistisch<br />

postulierte, daß "die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das<br />

Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen" 1000 , offenbart die hier vorgenommene<br />

Analyse der Verfaßtheit utopischen Denkens jenseits des Warenhorizontes des Seins lediglich<br />

die gewendeten Charaktermasken ebenjenen Seins, welches Visionen als Flucht in ständigen<br />

Zirkelschlüssen nur produziert, um sie gebrochen zu instrumentalisieren. Erst<br />

nichtpositivistische Visionen, denen allein der Mangel an Verwirklichung Lebensgrundlage und<br />

Nahrung ist, scheinen geeignet, Individuen jene geistige Sphären zu öffnen, in denen sich wildes<br />

Denken auch praktisch manifestiert. Das Bewußtsein über den individuellen Verlust der<br />

Freiheit, welches sich ungefragt einstellt, sobald die mehr oder weniger strahlende Nichtigkeit<br />

des unreflektierten Handelns auf ihre individuelle Begründbarkeit durchleuchtet wird, wird erst<br />

dann zur materiellen Gewalt, wenn sie gerade nicht verwirklicht wird. Erst wenn der Traum<br />

von Freiheit und Gleichheit seine temporäre Gestalt ablegt, um als unmittelbares Bedürfnis des<br />

Menschen real wirksam zu werden, eröffnet sich dem Individuum der Handlungshorizont einer<br />

<strong>apathische</strong>n Praxis. Während die vielschichtigen individuellen Freiheitsideale – Ausdruck und<br />

Gegenstand einer autozentrierten Selbstentäußerung – unvereinbar sind mit jener abstrakt<br />

arbeitsteiligen und warenproduzierenden Gesellschaftsordnung, in der den Menschen nur eine<br />

Objektrolle zukommt, ist es zumindest theoretisch möglich, dort konkrete Gleichheit<br />

herzustellen. <strong>Die</strong>se konkrete, temporär begrenzte Gleichheit markiert als Ergebnis der<br />

vorliegenden Untersuchung den Möglichkeitshorizont der individuellen und gesellschaftlichen<br />

Gleichheitsforderungen, weil umfassende, ebenso wie formale Gleichheit – oder anders gefaßt<br />

Negierungen von wie auch immer gearteten Differenzierungen – innerhalb von menschlichen<br />

999 "Ecce homo. Wie man wird, was man ist." (Nietzsche 1988; 6,255)<br />

1000 MEW 1,346.<br />

304


Interaktionsformen die Freiheitsbedürfnisse der Individuen untergräbt. Im Gegensatz zur<br />

philosophischen Moderne, die Freiheit und Gleichheit als widersprechende Extrempositionen<br />

dem Pantheon der unrealisierbaren Ideale überantwortet, eröffnet die Aufgliederung der<br />

individuellen Gleichheitsforderungen in konkrete Beziehungsgeflechte einerseits die Bedeutung<br />

ebendieser Forderungen für den Gesamtprozeß der Emanzipation des Menschen und<br />

andererseits die Möglichkeiten einer Nutzbarmachung sozialer Differenzierungen im Sinne einer<br />

dynamischen Interaktion, in der das konkrete Individuum als Herr der Bedingungen seiner<br />

Interaktion Freiheit erfährt, indem es konkrete Gleichheit herstellt, auch wenn es weiß, daß<br />

Harmonie immer temporär begrenzt bleibt. Mit einem Rekurs auf Stirners Modell eines<br />

Vereins freier Individuen wurde gezeigt, daß im Gegensatz zum anarchistischen Ideal und<br />

hegemonialen Vorurteil auch stark differenzierte und hochindustrialisierte Gesellschaften ohne<br />

autoritär-abstrakte Verkehrsformen denkbar sind, wenn die individuellen Bedürfnisse und<br />

Interessen hinter die oberflächliche Begrenzung der wertvermittelten Ordnung zurückgehen.<br />

Wenn der individuelle Selbstgenuß zum Fixstern des Planetensystem der menschlicher<br />

Lebensweise wird, dann obliegt es dem Einzelnen, ob er Interaktionsformen zur Maximierung<br />

des Selbstgenusses und zur Durchsetzung konkreter Gleichheitsforderungen instrumentalisiert,<br />

oder ob diese zu neuen Zwingburgen der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen<br />

werden. Solidarität wird erst dann zu einer wechselseitigen Interaktionsform der Freiheit, wenn<br />

die Menschen die Solidarität mit sich selbst an die erste Stelle setzen.<br />

Selbst wenn die These von Sartre geteilt wird, daß die Absurdität der Welt darin begründet<br />

liegt, daß das alltägliche Grauen der Menschen selbstgewähltes Schicksal ihrer freien Existenz<br />

ist, so bleibt doch die Einschränkung wirksam, daß der Einzelne scheinbar erst seine eigene<br />

Vergesellschaftungssphäre autozentriert in Besitz nehmen kann, um diese gegen die Hölle, die<br />

er in den Anderen zu erkennen glaubt, zu verteidigen, bis er schließlich erkennt, daß der<br />

Teufelskreis in ihm, als einem vergesellschafteten Wesen und einem Gesellschaften schaffenden<br />

Wesen, in all seinen Elementen enthalten ist. 1001 Wenn ich aber zugleich Himmel und Hölle<br />

meiner Selbst bin, erweist sich die Kritik der Anderen als unzureichende Annäherung an die<br />

Probleme einer glücklosen Existenz und der Rekurs auf die eigene Seinsverfaßtheit der<br />

individuellen Bedürfnisse offenbart sich als Ouvertüre eines immer ungewiß bleibenden<br />

Prozesses der Transformation. Menschen, die die Suche nach Freiheit und Gleichheit<br />

entweder als unerreichbares Ideal verwerfen, oder aus Furcht vor den Leiden eines<br />

wahrscheinlichen Verlierens vermeiden, entgehen zwar den Mühen der solidarischen Apathiker<br />

auf ihrem Weg zu den individuellen Gipfeln der eigenen Selbstverwirklichung, jedoch können<br />

nur sehr einfältige Gesellen behaupten, daß sie im Besitz des Wissens darüber sind, ob die<br />

revolutionären Ideale für immer leere Träume bleiben, oder ob sie als Utopien auf einen<br />

zukünftigen Zustand hindeuten.<br />

1001 "In welchem Teufelskreis wir auch immer sind, ich denke wir sind frei, ihn zu durchbrechen. Und<br />

wenn die Menschen ihn nicht durchbrechen, dann bleiben sie, wiederum aus freien Stücken, in<br />

diesem Teufelskreis. Also begeben sie sich aus freien Stücken in die Hölle. (...) <strong>Die</strong> Hölle, das sind<br />

die andern." (Sartre, Jean-Paul; Geschlossene Gesellschaft; in: ders.; Gesammelte Werke:<br />

Theaterstücke; Reinbek 1991; Bd.2.1, S.62)<br />

305


Trotz aller Vernunftkritik steht das Projekt der Emanzipation in jener Traditionslinie der<br />

Aufklärung, die an ihren Anfängen optimistisch postulierte, daß "Aufklärung der Ausgang des<br />

Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit (ist)." 1002 <strong>Die</strong> emanzipatorischen<br />

Bemühungen der vergangenen acht Generationen offenbaren neben der negativen Dialektik<br />

dieser These – daß die Menschen, als prinzipiell freie Subjekte, ihre Unmündigkeit nicht nur<br />

selbst 'verschuldet' haben, sondern diese partiell aus freien Stücken selbst wollen – , auch die<br />

Tatsache, daß ein Ausgang immer auch ein Eingang in etwas Neues ist, dessen Gestalt man<br />

beim Austritt aus dem Alten nicht in all seinen Verästelungen kennen kann, so daß man immer<br />

Gefahr läuft, daß das Neue sich nur als neue Form des Alten offenbart. <strong>Die</strong> kollektivistischen<br />

Auslegungsformen der Aufklärung haben gezeigt, daß die <strong>Dr</strong>ehtür der Unmündigkeit, die den<br />

Menschen von der selbstbewußten Entfaltung seiner individuellen Bedürfnisse und Interessen<br />

trennt, nur Einzeln durchschritten werden kann, wobei die Irrungen der aktivistischrevolutionären<br />

Kräfte zeigt, daß ein zu schwungvolles Eintreten dazu führt, daß der Ausgang<br />

das Subjekt in jenes ursprüngliche Sein entläßt, welches in seiner erfahrbaren Negativität<br />

Motiv und Handlungsrahmen der Aufklärung markiert. <strong>Die</strong> selbstbewußte Gelassenheit der<br />

praktischen Apathiker eröffneten Ihnen jene Distanz zu den Dingen, die notwendig scheint, um<br />

den Ausgang aus der wertvermittelten Kindheit des Menschen zu finden, hinter dem gerade die<br />

Bedürfnisse entwickelt und befriedigt werden können, die den Ursprung der traumatischen<br />

Verklärung des anderen Seins im individuellen Bewußtsein kennzeichnen. Während die Gefahr<br />

der Aufklärung in ihrer Tendenz zur Schaffung neuer Zwingburgen liegt, läuft die <strong>apathische</strong><br />

Emanzipation immer Gefahr, daß sie in ihrer Negierung konkreter, fremdbestimmter Praxis<br />

jene Lokomotiven der Weltgeschichte unerkannt ziehen läßt, von denen gesagt wird, daß sie<br />

nach einigen Umwegen doch das Ziel der Emanzipation erreichen. Aber wie es fraglich bleibt,<br />

ob gesellschaftlichen Prozessen mehr Evidenz zukommt als individuellen Wünschen und<br />

Träumen, so kann niemand mit Bestimmtheit sagen, ob nicht erst der ängstigende Schatten<br />

einer in Dunkelheit versinkenden Welt die Voraussetzungen schafft, eine Morgenröte der<br />

Freiheit zu erleben. Es mag sein, daß man Freiheit, Gleichheit und Solidarität nur im<br />

temporären Bündnis mit anderen errichten kann, gewiß ist jedoch, daß dies ohne die<br />

Eskalierung der individuellen Willen zur Veränderung auf ewig der Wahnsinn einer<br />

marginalisierten Minderheit bleibt. Warum sollte aber der nicht alles wagen, dem nichts droht<br />

als das Nichts?<br />

"The wind, the wind is blowing,<br />

Through the graves the wind is blowing<br />

Freedom soon will come.<br />

Then we’ll come from the shadow." 1003<br />

1002 Kant 1978; 9,53.<br />

1003 Cohen, Leonard; The Partisan; in: ders.; Greatest Hits; Montreal 1975.<br />

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ders.; Gesammelte Werke - Romane und Erzählungen; Reinbek 1987.<br />

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ders.; "Dann muß man sich eben in die Philosophie flüchten, wenn man Gott erkennen will" -<br />

Anmerkungen zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte; Münster<br />

1992.<br />

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Senft, Gerhard; Der Schatten des Einzigen – <strong>Die</strong> Geschichte des Stirnerschen Individual-<br />

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Sigrist, Christian; Regulierte Anarchie - Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung<br />

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Tönnies, Ferdinand; Gemeinschaft und Gesellschaft - Abhandlung des Communismus und des<br />

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Traut, Heinrich; Bedürfnis; in: HKWM.<br />

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Trotzki, Leo; Schriften; Hamburg 1988ff.<br />

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Tuchman, Barbara; Der ferne Spiegel – Das dramatische 14.Jahrhundert; München 1996.<br />

Tucker, Benjamin; Staatssozialismus und Anarchismus; Treptow 1922.<br />

ders.; Der Staat in seiner Beziehung zum Individuum; o.O. 1899.<br />

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Veccio, Giorgio del; Gleichheit und Ungleichheit im Verhältnis zur Gerechtigkeit; in: Bracher<br />

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Vester, Michael (Hrg.); <strong>Die</strong> Frühsozialisten 1789-1848; Reinbek 1970.<br />

ders.; Solidarisierung als historischer Lernprozeß – Zukunftsperspektiven<br />

systemverändernder Praxis im neuen Kapitalismus; in: Krebs 1971.<br />

Vidoni, Ferdinando; Das Laboratorium von Marx: <strong>Die</strong> Bedeutung der Naturwissenschaften<br />

für das Marxsche Werk; in: Internationale Marx-Forschung - Marxistische Studien,<br />

Jahrbuch des IMFS Nr.12; Frankfurt/Main 1987.<br />

Vierkandt, Alfred; Solidarität; in: Bernsdorf 1969.<br />

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Walzer, Michael; Sphären der Gerechtigkeit - Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit;<br />

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glauben? Beiträge zum Konstruktivismus; München 1981.<br />

Weber, Max; Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Tübingen 1988.<br />

ders.; Wirtschaft und Gesellschaft; Köln 1964.<br />

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Weil, Simone; Cahiers - Aufzeichnungen; München 1991ff.<br />

Weingarten, Michael; Bemerkungen über Wissenschaft und Krise; in: Topos Nr.4/1994.<br />

Weiss, Peter; <strong>Die</strong> Ästhetik des Widerstands; Frankfurt/Main 1988.<br />

Weitling, Wilhelm; Garantien der Harmonie und der Freiheit; Berlin/DDR 1950.<br />

Wells, Herbert George; A Modern Utopia; Lincoln 1967.<br />

Welzel, Hans; Naturrecht und materiale Gerechtigkeit; Göttingen 1962.<br />

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Wildt, Andreas; Gerechtigkeit in Marx' 'Kapital'; in: Angehrn/ Lohmann 1986.<br />

ders.; Solidarität; in: Ritter/Gründer 1971ff.<br />

ders.; Bemerkungen zur Begriffs- und Ideengeschichte von Solidarität und ein<br />

Definitionsvorschlag für diesen Begriff heute; in: Rechtsphilosophische Hefte<br />

Nr.4/1995.<br />

Wills, Christopher; Das vorauseilende Gehirn - <strong>Die</strong> Evolution der menschlichen<br />

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Winstanley, Gerrard; Gleichheit im Reiche der Freiheit - Sozialphilosophische Pamphlete und<br />

Traktate; Leipzig 1983.<br />

Wittgenstein, Ludwig; Briefwechsel; Frankfurt/Main 1980.<br />

Wittich, <strong>Die</strong>ter; Marxismus und Apriorismus; Berlin/DDR 1977.<br />

Wittkopp, Justus Franz; Unter der schwarzen Fahne - Gestalten und Aktionen des<br />

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ders.; Bakunin; Reinbek 1987.<br />

Xenophon; Erinnerungen an Sokrates; Leipzig 1973.<br />

Yun, Hyong-Sik; Scientific Materialism; in: EE.<br />

Zelený, Jindrich; <strong>Die</strong> Wissenschaftslogik und 'das Kapital'; Frankfurt/Main 1978.<br />

Ziebis, Willibald; Der Begriff Philia bei Platon; Phil.Diss. Breslau 1927.<br />

Zimmermann, Robert (Hrg.); Leibniz’ Monadologie - Deutsch mit einer Abhandlung<br />

über Leibniz’ und Herbarts Theorien des wirklichen Geschehens; Wien 1847.<br />

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DZfPh<br />

EE<br />

Deutsche Zeitschrift für Philosophie; Berlin/DDR 1953ff., ab 1990 mit dem<br />

Untertitel 'Monatszeitschrift der internationalen philosophischen Forschung' Berlin.<br />

Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften; hrg. von Hans<br />

Jörg Sandkühler; Hamburg 1990.<br />

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HKWM Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus; hrg. von Wolfgang Fritz Haug;<br />

Berlin 1994ff.<br />

LB Lenin, Wladimir I.; Briefe; Berlin/DDR 1967-1976.<br />

LW Lenin, Wladimir I.; Werke; Berlin/DDR 1953ff.<br />

Mao AW Mao Tse-Tung; Ausgewählte Werke; Peking 1968-1978.<br />

MEGA Marx/ Engels; Gesamtausgabe; Berlin/DDR und Moskau 1975-1989; Berlin und<br />

Amsterdam 1992ff.<br />

MEW Marx, Karl/ Engels, Friedrich; Werke: Bd.1-42, Berlin/DDR 1957ff.; Bd.43,<br />

Berlin 1990.<br />

RLW Luxemburg, Rosa; Gesammelte Werke; Berlin/DDR 1970-1975.<br />

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