30.10.2012 Aufrufe

Kleine (Buch-) - Die Berliner Literaturkritik

Kleine (Buch-) - Die Berliner Literaturkritik

Kleine (Buch-) - Die Berliner Literaturkritik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Kehlmanns literarischer Hochseiltanz<br />

DANIEL KEHLMANN: Ruhm. Ein Ro -<br />

man in neun Geschichten. Rowohlt Verlag,<br />

Ham burg 2009. 203 Seiten, geb., 18,90 €.<br />

Von ROLAND H. WIEGENSTEIN<br />

Scheherazade richtet es immer so ein, dass<br />

die Geschichten, die sie dem Sultan erzählen<br />

muss, beim Schlafengehen nicht zu<br />

Ende sind, er muss am nächsten Abend<br />

weiterhören, tausend und eine Nacht<br />

lang. Bis zum guten Ende. Daniel<br />

Kehlmann erzählt seinen „Roman in<br />

neun Geschichten“ so, dass man<br />

weiterlesen muss, will man nicht düpiert<br />

werden. Was hat es, fragen wir<br />

uns gleich in der ersten Geschichte,<br />

überhaupt mit diesem Telefon tech -<br />

niker namens Ebling auf sich, der einen<br />

falschen Mobilfunk-Anschluss bekommt,<br />

über den er ständig für einen<br />

„Ralf“ gehalten wird, bis er schließlich<br />

entnervt so tut, als sei er dieser wirklich.<br />

Er verabredet sich, aber es wird<br />

nichts daraus. Er findet nur heraus,<br />

„dass er alles sagen konnte, so lange er<br />

keine Fragen stellte, die Leute aber sofort<br />

Verdacht schöpften, wenn er etwas<br />

wissen wollte“. Der geneigte<br />

Leser schöpft Ver dacht, Ebling tritt ab.<br />

Wenn jemand mit einem Roman,<br />

und sei es sein sechster, einen Welt -<br />

erfolg hat, stürzen sich Leser und<br />

Kritiker auf den nächsten. Kehlmann<br />

ist Hype. Er weiß das und spielt sogar<br />

mit seinem Ruhm. Denn anders ist<br />

wohl die Wahl des Titels für dieses<br />

neue <strong>Buch</strong> nicht erklärlich, er lautet:<br />

„Ruhm“. Andy Warhol, der jedem<br />

Men schen seine fünfzehn Minuten<br />

Ruhm versprach, lässt grüßen.<br />

Wir lesen also weiter und werden<br />

gleich in der zweiten Geschichte bekannt<br />

gemacht mit dem erfolgreichen Autor<br />

Leo Richter und dessen Freundin Elisabeth,<br />

die für „Ärzte ohne Grenzen“ arbeitet. Er will<br />

einen „Roman ohne Haupt figur“ schreiben,<br />

sie will nicht, dass sie darin vorkommt. Beide<br />

begeben sich „in Gefahr“, klappern auf seiner<br />

Lesetour obskure lateinamerikanische Länder<br />

ab, obwohl er doch eigentlich gar nichts erleben<br />

will: „Eigentlich interessiert mich das alles<br />

nicht. Ich schreibe nur. Ich erfinde.<br />

Eigentlich will ich gar nichts sehen.“<br />

Daniel Kehlmann ist nicht Leo Richter.<br />

Aber er hat die Geschichte geschrieben, die<br />

als die Richters folgt: „Rosalie geht sterben“<br />

handelt von einer alten Frau mit Bauch spei -<br />

cheldrüsenkrebs, die ihr Leben in einem<br />

Schwei zer Freitod-Institut beenden will.<br />

Rich ter will ihre letzten Tage schildern, bis<br />

hin zum tödlichen Schluck aus dem Becher.<br />

Doch Rosalie spuckt Richter, der auf ihrem<br />

Frühjahr 2009<br />

Tod besteht, weil anders seine Geschichte<br />

nicht aufgeht, in die Suppe. Es könnte sein,<br />

dass sie überlebt (wir erfahren es nicht).<br />

Auch Ralf Tanner, Eblings Ralf, kippt aus<br />

der Bahn. <strong>Die</strong> fehl geleitete Mobilfunk-Num -<br />

mer (alle Geschichten haben mit Mobil te le fo -<br />

nen zu tun) ist schuld. Aus einem bekannten<br />

Filmschauspieler wird wieder ein Nobody,<br />

Daniel Kehlmann<br />

der das ebenso akzeptiert wie Maria Rubin -<br />

stein, die statt Leo Richter zu einer Jour na lis -<br />

ten reise nach Zentralasien reist und dort verschwindet,<br />

als Magd bei Bauern.<br />

„Eine falsche Regung, und man fand nicht<br />

mehr zurück, und schon war das alte Dasein<br />

dahin und man fand nicht mehr zurück.“<br />

Solcher Weisheit kann nur eine Geschichte<br />

vom berühmten Miguel Auristos Blanco aus<br />

Rio folgen, der fatal an Paulo Coelho und<br />

des sen Lebensweisheiten erinnert. Blanco<br />

schreibt an eine Äbtissin, dass alle seine Le -<br />

bens beratung Schund sei: Es gebe gar keinen<br />

Gott. Und er greift zum Revolver. Wird er abdrücken?<br />

Es gibt noch einiges aufzuklären, die<br />

Sache mit der vertauschten Mobilfunk-Num -<br />

mer zum Beispiel, da tritt ein Internet-Freak<br />

auf, der nur im Slang der Blogger redet und<br />

sein Chef, der an einer Doppelbeziehung<br />

(Frau und Kinder hier, Geliebte dort) scheitert<br />

– so gut ist das Mobiltelefon auch wieder<br />

nicht. Und mit der letzten Geschichte schließt<br />

sich der Kreis: Richter und Elisabeth begeben<br />

sich an deren afrikanischem Einsatzort wieder<br />

in Gefahr und Richter hat wieder mit<br />

Elisabeths (wie Rosalies) Weigerung zu tun,<br />

Figur in einer Geschichte zu werden. Am<br />

Ende klingelt das Telefon. Keiner<br />

nimmt ab. „Wie merkwürdig, dass man<br />

jetzt fast jeden Menschen überall erreichen<br />

kann, ohne zu wissen, wo er ist.“<br />

Fast jeden!<br />

Kehlmann versteht sich hervorragend<br />

auf den Wechsel von Tonarten<br />

und Erzähl klimata. Mal begnügt er<br />

sich mit genauen Beschreibungen seiner<br />

Figuren, mal gibt er sich als<br />

Psychologe, mal schreibt er eine<br />

Parodie, mal appelliert er an die<br />

Bildung seiner Leser und spielt gleich<br />

zweimal auf den Un ter welts schiffer<br />

Charon an (einen Auto knacker mit<br />

wohlfeilen Weisheiten), mal wird er<br />

mitleidlos ironisch, mal macht er<br />

sprachliche Kunst stücke, mal ist er gemein,<br />

mal empfindsam. Er behandelt<br />

seinen Leo Richter ausnehmend mies,<br />

aber er lässt ihn am Leben. Er lässt<br />

(wahrscheinlich) alle weiterleben, vernichtet<br />

bloß Existenzen, je durchschnittlicher<br />

sie erfunden sind, desto<br />

gemeiner. <strong>Kleine</strong> Leute kriegen halt<br />

nur fünf Minuten Ruhm.<br />

<strong>Die</strong> neun Geschichten sind Virtu -<br />

osen-Etuden, bodenlos und verlockend<br />

leichtsinnig, man will schließlich hinter<br />

ihr Geheimnis kommen, alles noch<br />

einmal lesen, weil man denkt: Da muss<br />

noch etwas sein. Da ist aber nichts, außer<br />

einer schlackenlosen Prosa – nur<br />

bei den Liebesszenen schwitzt er<br />

manch mal ein bisschen – und außer einer<br />

stupenden Intelligenz, die Figuren als<br />

Sche renschnitte so behänd zu schnippeln<br />

weiß, dass man den Fingern kaum folgen<br />

kann. Ob das etwas mit Theologie zu tun hat<br />

(einer negativen, versteht sich), wie ein Re -<br />

zen sent meinte, mag dahingestellt bleiben.<br />

Weil ja alles dahingestellt bleibt. Wörtlich so:<br />

Er stellt seine neun Geschichten hin.<br />

Punktum. Sollen doch die Leser Me taphern<br />

erkennen, schwankende Identitäten untersuchen,<br />

Allegorien finden, Tiefsinn schür fen.<br />

Er ist nicht Blanco, nicht Richter, vielmehr<br />

ein Seiltänzer der Literatur, der allenfalls beinah<br />

vom Hochseil abstürzt. Manch mal sehnt<br />

man sich nach Gauß und Hum boldt aus seiner<br />

berühmten „Vermes sung der Welt“, weil<br />

Mathematik und Kos mos reeller sind als<br />

Mobiltelefone. Es dürfte Kehlmann kaum<br />

sche ren. Er ist schon weiter. So etwas nennt<br />

man im Jargon: Postmoderne. �<br />

11

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!