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Kleine (Buch-) - Die Berliner Literaturkritik

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Rezensionen im Internet<br />

MICHAEL WINTERHOFF: Tyrannen<br />

müssen nicht sein. Warum Erziehung allein<br />

nicht reicht. Auswege. Gütersloher<br />

Verlagshaus, Gütersloh 2009. 192 Seiten.<br />

•<br />

JOHN GRIESEMER: Herzschlag. Arche<br />

Verlag, Zürich/Hamburg 2009. 427 Seiten.<br />

•<br />

MICHAEL BIRBÅK: Nele & Paul.<br />

Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach<br />

2009. 397 Seiten.<br />

•<br />

ANNA SAM: <strong>Die</strong> Leiden einer jungen<br />

Kassiererin. Riemann Verlag, München<br />

2009, 180 Seiten.<br />

•<br />

PETER SCHOLL-LATOUR: Der Weg in<br />

den neuen Kalten Krieg. Propyläen /<br />

Ullstein <strong>Buch</strong>verlag, Berlin 2008.<br />

352 Seiten.<br />

•<br />

ALAN BENNETT: <strong>Die</strong> souveräne<br />

Leserin. Aus dem Englischen von Ingo<br />

Herzke. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin<br />

2008. 115 Seiten.<br />

•<br />

NOJOUD ALI: Ich, Nojoud, zehn Jahre,<br />

geschieden. Knaur Verlag, München 2009.<br />

200 Seiten.<br />

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www.berlinerliteraturkritik.de<br />

Doch wie in jeder guten Seifenoper, verbergen<br />

sich Leichen im Keller, die plötzlich<br />

zum Vorschein kommen – so absurd die Um -<br />

stände auch sein mögen. Blue Gene erfährt<br />

also, dass sein Bruder in Wahrheit sein Vater<br />

ist. Seine wahre Mutter, die bei seiner Geburt<br />

starb, war ein 12-jähriges Stubenmädchen,<br />

das damals der ebenso alte John geschwängert<br />

hatte. Und das Kindermädchen von Blue<br />

Gene ist in Wirklichkeit seine Großmutter.<br />

Lü ge, Verrat, Missgunst. Freilich darf auch<br />

eine nichterfüllte Liebesgeschichte nicht fehlen!<br />

Blue Gene verliebt sich in die Band -<br />

leaderin der Punkrockband „Uncle Sam’s<br />

Finger“, Jackie Stepchild, die gegen die miefige<br />

Moralvorstellung der Kleinstadt wettert.<br />

Doch damit immer noch nicht genug. Zu lesen<br />

sind noch ungefähr ein Drittel des<br />

Romans, bis der Leser zum Showdown gelangt:<br />

der Wahltag.<br />

Als Blue Gene erfährt, dass er sein Leben<br />

lang belogen worden ist, steigt er aus dem<br />

Wahlkampf aus und verlangt von seinem<br />

Adoptivvater die Auszahlung seines Erb -<br />

anteiles von 400 Millionen Dollar. Dafür verpflichtet<br />

er sich, niemandem zu verraten, dass<br />

er der Sohn seines vermeintlichen Bruders<br />

John ist.<br />

Da die Band „Uncle Sam’s Finger“ keine<br />

coole Location hat um aufzutreten und Blue<br />

Gene in Jackie verliebt ist, kauft er das ehemalige<br />

Wal-Mart-Center am Highway 81 und<br />

macht daraus ein Commonwealth-Center.<br />

Zunächst als Ort gedacht, wo viele Bands<br />

auftreten sollen, entwickelt es sich immer<br />

mehr zu einem Begegnungszentrum, wo man<br />

nicht nur kostenlos Mahlzeiten oder einen<br />

Schlafplatz finden, sondern auch künstlerisch<br />

tätig sein kann. So gibt es Theater auf füh -<br />

rungen, Straßenmusikanten spielen und Fil -<br />

me werden gezeigt. Für jede Tätigkeit zahlt<br />

Blue Gene mehr als den Mindestlohn. Als<br />

Blue Gene Ärzte einstellen will, um kostenlos<br />

Patienten zu behandeln, greift allerdings<br />

Patriarch Henry Mapother ein und lässt das<br />

Center kurzerhand schließen. Denn das Cen -<br />

ter schadete Johns Wahlkampf: dessen Kon -<br />

trahent hatte die ganze Sache als „unamerikanisch“<br />

gebrandmarkt und so in den Umfragen<br />

an Boden gegenüber John gutgemacht.<br />

Blue Gene beugt sich seinem Adoptiv va -<br />

ter aber nicht. Gemeinsam mit Jackie gründet<br />

er die „Partei der Habenichtse“. Kandidatin<br />

wird Jackie, die sich zu Halloween ein<br />

Rededuell mit John liefert. Der jedoch erleidet<br />

einen Nervenzusammenbruch. Aus<br />

Schmach erteilt John seinem Fahrer den<br />

Auftrag, Jackie zu ermorden. Als der Fahrer<br />

von Johns Anwesen fährt, trifft er mit seinem<br />

Wagen jedoch Johns fünfjährigen Sohn, der<br />

in den darauffolgenden Tagen – und somit<br />

auch am Wahltag – im Koma liegt.<br />

Doch was wären Seifenopern ohne ein zu<br />

Tränen rührendes Happyend? In der Klinik<br />

erfährt John, dass er gewonnen hat. Sein<br />

Sohn erwacht aus dem Koma, als John und<br />

Blue Gene miteinander Frieden geschlossen<br />

und sich geschworen haben, sich niemals<br />

wie der zu belügen. Ach, wie herzig: <strong>Die</strong><br />

Familie Mapother wieder vereint.<br />

Zu würdigen ist, dass Joey Goebel in seinem<br />

Roman aufzeigt, wie die politischen<br />

Eliten der USA, die meist wohlhabenden<br />

Familien- bzw. Unternehmerdynastien entstammen,<br />

die Unterschicht ausnutzen, um ihre<br />

persönlichen Interessen durchzusetzen. Er<br />

zeigt die Bigotterie des angehenden Kon -<br />

gress mannes, der öffentlich von Wahrheit<br />

spricht, während sein Familienleben selbst<br />

auf Lebenslügen aufbaut. Gelungen ist zudem,<br />

wie in „Heartland“ – ein anderes Wort<br />

für den Mittleren Westen – der Alltag einer<br />

Kleinstadt aufgezeigt wird, einschließlich der<br />

konservativen und religiösen Moralvor stel -<br />

lung der meist weißen Bevölkerung, so z. B.<br />

Homophobie oder Frauenfeindlichkeit. So<br />

muss sich Blue Gene immer wieder die Frage<br />

stellen, ob er sich auch männlich genug gibt<br />

oder nicht.<br />

Der Roman liest sich gut und flüssig – auch<br />

dank der Übersetzung von Hans M. Herzog.<br />

Autor Goebel verwendet viele Dia lo ge, die<br />

die 700 Seiten wohltuend lockern. Je nach sozialem<br />

Status der Figur bedient Goebel sich<br />

unterschiedlicher Sprachen mit all ihren<br />

Floskeln bzw. ihrem Slang. Goebels allwissender<br />

Erzähler beschreibt Situationen und<br />

Figuren sehr genau, auch was sie denken und<br />

wie sie gerne gehandelt hätten. Zudem wendet<br />

er für Situationsperspektiven filmische<br />

Mittel an – beinahe so, als ob der Roman ursprünglich<br />

ein Drehbuch gewesen wäre, bzw.<br />

die Vorlage für einen Film darstellt.<br />

Ärgerlich jedoch, dass Goebel im letzten<br />

Drittel des <strong>Buch</strong>es die Figuren und die<br />

Situationen nicht mehr im Griff hat. Nach der<br />

dramatischen Wendung der wahren Identität<br />

Blue Genes erwartet man ein baldiges Ende,<br />

doch zieht und zieht der Text sich weiter in<br />

die Länge. Einige Handlungsstränge hätten<br />

hier ruhig wegfallen oder zumindest gestrafft<br />

werden können – der Leser muss nicht ständig<br />

wissen, warum oder weshalb diese oder<br />

jene Figur sich so oder so verhalten hat. Hin -<br />

zu kommt, dass Goebel offenbar eine Per si -<br />

flage auf die amerikanische Gesellschaft des<br />

Mittleren Westens schreiben wollte, die jedoch<br />

leider nicht konsequent und kohärent<br />

durchgezogen wird. Man fragt sich mitunter,<br />

was das Ganze nun darstellen soll.<br />

Dass die amerikanischen Politiker Bigot -<br />

te rie betreiben, das wussten wir schon vor<br />

dem Werk von Joey Goebel. Da war man in<br />

den Vereinigten Staaten bereits vor 25 Jahren<br />

und in den eingangs genannten Fernsehserien<br />

viel weiter, was die Thematisierung sozialer<br />

Spaltung in Ober- und Unterschicht, korrupter<br />

Machenschaften in Wirtschaft und Politik<br />

oder des Dauerreizthemas Homosexualität<br />

an geht. <strong>Die</strong> Originalfernsehserien übertrafen<br />

in ihrer Themensetzung bei weitem diese<br />

Möch tegern-Persiflage. �<br />

10 <strong>Die</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Literaturkritik</strong>

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