Prof. Günter Benser: Zum Umgang mit Ddr-Geschichte - Die Linke
Prof. Günter Benser: Zum Umgang mit Ddr-Geschichte - Die Linke
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<strong>Zum</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> DDR-<strong>Geschichte</strong><br />
Erweiterte Fassung der Ausführungen von <strong>Günter</strong> <strong>Benser</strong><br />
auf der Bildungsveranstaltung in Elgersburg vom 20./21.08. 2011<br />
Der seit Jahrzehnten <strong>mit</strong> Abstand am meisten genutzte Bestand im Bundesarchiv ist der<br />
Bestand DY 30/IV. <strong>Die</strong>ser enthält die Überlieferung des Politbüros des Zentralko<strong>mit</strong>ees<br />
der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Bei den regelmäßig im Lesesaal der<br />
Bibliothek des Bundesarchivs ausgelegten Neuerwerbungen steht an erster Stelle<br />
Literatur über die DDR, dann folgt Literatur über die NS-Zeit, dann kommt eine Weile<br />
nichts, und dann gibt es eine breite Palette von Themen, darunter Veröffentlichungen<br />
zur <strong>Geschichte</strong> der Bundesrepublik.<br />
<strong>Die</strong>s wirft ein bezeichnendes Licht auf die Geschichtskultur in unserem Lande.<br />
Aber natürlich muss es dafür Gründe geben. Und wenn andere sich so intensiv <strong>mit</strong> der<br />
DDR und ihrer <strong>Geschichte</strong> befassen, dann haben sich auch die <strong>Linke</strong>n zu fragen, wie<br />
sie <strong>mit</strong> dieser Thematik umzugehen.<br />
Von welcher Warte ist die DDR zu betrachten?<br />
Ich möchte meinen Ausführungen meine grundsätzliche Auffassung vorausschicken:<br />
Entscheidend ist für mich, von welcher Warte die unerlässliche kritische<br />
Auseinandersetzung erfolgt:<br />
Wird die DDR kritisiert, weil es in Ostdeutschland gewagt wurde, den Entwicklungspfad<br />
des kapitalistischen Systems zu verlassen und eine gesellschaftliche Alternative zu<br />
versuchen?<br />
Oder<br />
Wird ein kritischer <strong>Umgang</strong> nötig, weil die Verfechter dieser Alternative wesentliche<br />
Erwartungen und Verheißungen nicht erfüllt haben, weil das alternative Modell aus den<br />
Fugen geraten ist und sogar schlimme Verstöße gegen Menschenrechte, selbst<br />
verbrecherische Akte zugelassen wurden? Wird anerkannt, dass das Grundanliegen<br />
des versuchten Aufbruchs als noch nicht eingelöste Hoffnung weiterbesteht und die<br />
Option für eine gesellschaftliche Alternative zum kapitalistischen System nach wie vor<br />
unausweichlich ist, wenn die Menschheit nicht in eine den gesamten Planeten<br />
erfassende Katastrophe hineinschlittern soll?<br />
Eine <strong>Linke</strong>, die sich in der Beantwortung dieser Fragen vom gegenwärtigen Mainstream<br />
nicht grundsätzlich unterscheidet, verliert ihre unverwechselbare Identität in Bezug auf<br />
die <strong>Geschichte</strong>. Sie setzt sich der Gefahr aus, dass jedes Nachdenken über eine die<br />
kapitalistische Ordnung sprengende Alternative diskreditiert und kriminalisiert wird.<br />
1
Wenn indes in der von mir aufgeworfenen grundsätzlichen Herangehensweise Klarheit<br />
herrscht, dann lässt sich über alles ein kritischer Diskurs führen, dann liegt es im<br />
Eigeninteresse der <strong>Linke</strong>n die gesamte DDR-<strong>Geschichte</strong> – aber nicht nur diese – auf<br />
den Prüfstand zu legen. Und es wird sich zeigen, dass Gewinn und Verlust einer<br />
ausgewogenen Bilanzierung unterzogen werden können.<br />
Das erfordert letztlich eine Beschreibung und Analyse der realen Entwicklungsabläufe<br />
und ihrer Rahmenbedingungen, also das Einsteigen in die konkreten historischen<br />
Abläufe. Aber das kann in der Kürze der Zeit hier nicht geleistet werden.<br />
Verständlicherweise konzentriert sich das Interesse – gerade linker Leute – auf die<br />
Ursachen des Scheiterns der DDR. Das kulminiert in solchen Fragen wie<br />
• Handelt es sich primär um innere Ursachen (vor allem Systemfehler)<br />
oder um äußere Ursachen (um die Machenschaften des imperialistischen Feindes oder<br />
um die Preisgabe durch UdSSR)?<br />
• Sind es in erster Linie die Demokratiedefizite gewesen, oder lag es an der<br />
ökonomischen Schwäche der DDR?<br />
• Welche Verantwortung kommt einzelnen Personen zu?<br />
Werden solche Fragen auf ein Entweder-Oder zugespitzt, führt dies meines Erachtens<br />
in die Irre. Es musste sehr viel zusammenkommen, um Weltsystem entstehen zu<br />
lassen, das vom Stillen Ozean bis zur Elbe reichte. Und es musste sehr viel<br />
zusammenkommen, um dieses wieder zum Verschwinden zu bringen. Vor<br />
eindimensionalen Betrachtungen kann ich nur warnen.<br />
Was war die DDR?<br />
Sichten im Osten<br />
Eine allgemein anerkannte Klassifizierung des DDR-Systems oder gar der DDR-<br />
Gesellschaft gibt es nicht, und sie ist auch demnächst nicht zu erwarten.<br />
<strong>Die</strong> DDR-Historiografie hatte – Wertungen in offiziellen Dokumenten vor allem der SED<br />
folgend – vor allem die Entwicklungsstadien betont und diese <strong>mit</strong> den<br />
Auseinandersetzungen um die deutsche Frage in Verbindung gebracht.<br />
Entsprechend gliederten sich alle Überblickdarstellungen in folgende Etappen:<br />
• Antifaschistisch-demokratische Umwälzung (1945-1949/1950)<br />
• Errichtung der Grundlagen des Sozialismus einmündend in den „Sieg der<br />
sozialistischen Produktionsverhältnisse“ (1949/1950-1961)<br />
• Schaffung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft – in Abgrenzung von<br />
Vorstellungen eines un<strong>mit</strong>telbaren Übergangs zum Kommunismus – (ab 1961)<br />
2
Der heute oft gebrauchte Begriff „Realsozialismus“ oder „realsozialistische Länder“ ist<br />
meines Wissens in der Auseinandersetzung <strong>mit</strong> dem Eurokommunismus entstanden,<br />
als westeuropäische kommunistische Parteien ein Position kritischer Solidarität<br />
einnahmen. Mit diesem Begriff sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass eine Sache<br />
sei, Maßstäbe für eine sozialistische Gesellschaft zu setzen, und eine andere Sache,<br />
die sozialistische Gesellschaft unter realen Bedingungen und in Konfrontation <strong>mit</strong> einem<br />
gefährlichen imperialistischen Gegner vor Ort zu gestalten.<br />
Eine allgemein akzeptierte Definition der in den Staaten des Warschauer Vertrages<br />
existierenden sozialen und politischen Strukturen ist den Theoretikern der <strong>Linke</strong>n auch<br />
rückblickend nicht gelungen. Am einfachsten lässt sich eine Abgrenzung gegenüber<br />
dem Kapitalismus formulieren, aber die positive Bestimmung bereitet Schwierigkeiten.<br />
In der Frage, inwieweit diese Gesellschaften das Attribut „sozialistisch“ verdienen, ob<br />
Einschränkungen wie „früher“, „roher“ Sozialismus oder „Staatssozialismus“ der Realität<br />
gerecht werden, gehen die Meinungen auseinander.<br />
Was mich betrifft, so neige ich dazu, Entstehung und Entwicklung der DDR zu<br />
verstehen als den in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich gelungenen Versuch,<br />
eine sozialistische Gesellschaft auf dem Wege einer „Revolution von oben“ zur<br />
errichten.<br />
Sichten im Westen<br />
Es hat auch früher bereits seitens westdeutscher DDR-Forscher das Bestreben<br />
gegeben, die DDR auf den Begriff zu bringen. Das erfolgte vor allem <strong>mit</strong><br />
Charakterisierungen, die explizit auf das politische System abhoben. Das kam in<br />
Definitionen zum Ausdruck wie Erziehungsdiktatur – Fürsorgediktatur –<br />
Zustimmungsdiktatur – Konsensdiktatur – vormundschaftlicher Staat – parteigesteuerte<br />
repressive Organisationsgesellschaft – politisch-kultureller Wiedergänger des<br />
preußisch-paternalistischen Polizeistaates – totalitärer, spät- oder posttotalitärer oder<br />
autoritäre Staat – posttotalitärer Überwachungs- und Versorgungsstaat –<br />
vormundschaftlicher Staat, poststalinistischer Staat – durchherrschte Gesellschaft –<br />
Konsensgesellschaft – Nischengesellschaft – autoritärer Wohlfahrtsstaat –<br />
parteibürokratische Herrschaft – Patrimonialbürokratie neuen Typs, auch die roten<br />
Preußen fehlen nicht. 1<br />
Doch gab es unter den traditionellen westdeutschen DDR-Forschern immer auch Leute,<br />
die auf der Suche nach Definitionen waren, <strong>mit</strong> denen sie das sozialökonomische<br />
Wesen der DDR oder das hier herrschende Wechselspiel zwischen Politik und<br />
Ökonomie erfassen wollten. Wo in diese Richtung gedacht wurde, stoßen wir auf solche<br />
Attribute wie staatssozialistisch – bürokratisch-sozialistisch – protosozialistisch, auf<br />
1<br />
Siehe <strong>Die</strong>trich Staritz: Das Ende der DDR. In: 1989-1990. <strong>Die</strong> DDR zwischen Wende und Anschluß.<br />
Beiträge einer wissenschaftlichen Konferenz (= Pankower Vorträge H. 20), Berlin 2000, S. 67-72; Gerd<br />
<strong>Die</strong>trich: Rezension zu Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.): Bilanz und<br />
Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003. In: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/beitraeger/id=9364.<br />
3
arbeiterliche Gesellschaft, Land der kleinen Leute, oder auf Bezeichnungen wie<br />
Zentralverwaltungswirtschaft oder auf den rohen Kommunismus. 2<br />
Was mir vor 1990 nirgendwo begegnet ist, das ist der „Unrechtsstaat“. <strong>Die</strong>ser hatte erst<br />
Konjunktur, nachdem der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel, die Forderung<br />
ausgesprochen hatte, die DDR zu delegitimieren. Auf Anfrage der Bundesabgeordneten<br />
Gesine Lötzsch wurde ihr allerdings bestätigt, dass es den Begriff Unrechtsstaat im<br />
Völkerrecht nicht gibt. Der Wissenschaftliche <strong>Die</strong>nst des Bundestages kam nicht umhin<br />
feststellen: „Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs >Unrechtsstaat< gibt<br />
es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften.“<br />
Es gehe zumeist darum „die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat<br />
gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturierten System abzugrenzen und<br />
moralisch zu diskreditieren.“ 3 Das bedarf keines Kommentars.<br />
Wenn das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, dass der Begriff<br />
„Rechtsstaat“ weit und unbestimmt ist, so ist der Begriff „Unrechtsstaat“ geradezu<br />
grenzenlos, als Rechtsbegriff wie als historische Definition untauglich und als bloßer<br />
Kampfbegriff einzustufen. 4<br />
Tendenzen gegenwärtiger Geschichtsbetrachtung<br />
Was wir heute als Mainstream vorgeführt bekommen, ist ein in vieler Hinsicht<br />
vereinseitigtes, auf Machtstrukturen und Machtausübung eingeschrumpftes Bild der<br />
DDR. Dabei wird Macht als Selbstzweck unterstellt und nicht einmal danach gefragt, ob<br />
der Ausgestaltung und dem Gebrauch von Macht nicht auch ein gesellschaftspolitisches<br />
Konzept oder eine Vision zu Grunde lag.<br />
<strong>Die</strong>se Einseitigkeit drückt sich vor allem in folgenden Grundlinien aus:<br />
• Isolierte Betrachtung der DDR.<br />
A) Negieren, dass beide deutsche Staaten und ihre Vorläufer Kollaborateure<br />
ihrer Besatzungsmächte waren. Zwar wurde die BRD an der längeren Leine<br />
geführt, aber wirklich souverän im vollen Sinne des Völkerrechts wurde sie<br />
erst <strong>mit</strong> dem Zwei+Vier-Vertrag<br />
B) Negieren, dass die DDR meist mehr reagiert als agiert, dass viele ihrer<br />
Handlungen ausgelöst wurden, durch Ereignisse und Bedingungen, die sie<br />
nicht selbst oder allenfalls indirekt verursacht hatte.<br />
2<br />
Siehe <strong>Die</strong>trich Staritz a.a.O.; Gerd <strong>Die</strong>trich a.a.O.<br />
3<br />
Gesine Lötzsch: Unrechtsstaat. Gastkolumne in Neues Deutschland vom 6./7. Dezember 2008. Siehe<br />
auch Jürgen Schuster: Kalter Krieg gegen das Gedächtnis. Wie die Konstruktion eines<br />
>>Unrechtsstaates
• Verschweigen der antikapitalistischen Grundströmung nach der Befreiung. <strong>Die</strong>se<br />
ist aber anhand der frühen Parteiprogrammatiken und des Inhalts der sozialen<br />
und politischen Auseinandersetzungen in den ersten Nachkriegsjahren leicht<br />
nachzuweisen<br />
• Leugnen der nicht widerlegbaren Tatsache, dass bei der deutschen Teilung das<br />
Gesetz des Handelns im Westen lag. Enorme Verdrängung vorliegender<br />
kritischer Analysen der entsprechenden Schlüsselereignisse.<br />
• Fixierung auf Tiefpunkte der DDR-<strong>Geschichte</strong> 1953, 1961, 1968, 1989, wobei<br />
produktive Entwicklungen, positive Lösungen und von der Bevölkerung<br />
geschätzte Errungenschaften ausklammert werden.<br />
• Messen <strong>mit</strong> zweierlei Maß<br />
Der australische Deutschlandexperte Andrew H. Beattie charakterisiert die<br />
Tendenz folgendermaßen: „überversimplifizierte westliche Erfolgsstories“ und<br />
„östliche Horrorstories“ 5<br />
• Verletzung von Standards historischer Forschung<br />
Dazu gehören:<br />
Mangelnde Einsicht, dass die Sprache der Akten und die Wirklichkeit nicht<br />
dasselbe sind;<br />
Überhöhung von Zeitzeugen (die Situationen anschaulich machen können, aber<br />
notgedrungen eine begrenzte, subjektive eingefärbte Sichtweise bieten und die<br />
oft entsprechend ausgewählt sind).<br />
Nahezu völlige Negierung der Erträge der DDR-Historiografie und der von der<br />
ostdeutschen historischen Subkultur erbrachten Forschungsleistungen. Ein<br />
ernsthafter Diskurs zwischen der etablierten historischen community und der<br />
alternativen Geschichtskulturen findet höchstens ausnahmsweise statt.<br />
• Schieflage im Zugang zu den Quellen. Während alle archivalischen<br />
Überlieferungen der DDR offenliegen, gilt für die Bestände der Bundesrepublik<br />
eine dreißigjährige Benutzungssperre, die jedoch für sensible Bereiche<br />
(Außenministerium, Geheimdienste u.a.) auch wesentlich länger sein kann.<br />
Ereignisse und Entwicklungsprozesse der DDR-<strong>Geschichte</strong> sind bevorzugte Themen<br />
für Graduierungsarbeiten insonderheit für Dissertationen. Sie bieten mancherlei<br />
Vorteile: Es handelt sich um einen abgeschlossenen Gegenstand, bei Anpassung an<br />
den Mainstream ist der Nachwuchswissenschaftler auf der sicheren Seite;<br />
Aktenbestände <strong>mit</strong> DDR-Provenienz sind uneingeschränkt zugängig, und es bietet sich<br />
die Chance, sich als „Erstauswerter“ in Szene zu setzen; es handelt sich um Themen<br />
die institutionell gefördert werden und <strong>mit</strong> einer späteren Veröffentlichung rechnen<br />
können.<br />
5<br />
Andrew H. Beattie: Learning from the Germans. History and Memory in German and European<br />
Discurses of Integration. In: PORTAL. Journal of Multidisciplinary International Studies, 4 (2007) 2, S. 18.<br />
5
Gleichwohl bieten die so entstandenen, kaum noch übersehbaren Arbeiten ein sehr<br />
differenziertes Bild. <strong>Die</strong> Themenpalette ist geradezu unerschöpflich. Sie reicht von<br />
Kaderpolitik bis Prostitution in der DDR, von Kleingärten bis Suizid. Nicht wenige<br />
Arbeiten enthalten wertvolle Erträge empirischer Untersuchungen und bedenkenswerte<br />
Interpretationen. Aber gerade Letztere dringen am wenigsten ins öffentliche<br />
Bewusstsein.<br />
Dass eine beide deutsche Staaten ins Blickfeld nehmende ausgewogene Betrachtung<br />
kein Ding der Unmöglichkeit ist, hat ein Team von Wissenschaftlern aus Ost und West<br />
<strong>mit</strong> seinem Handbuch zur deutschen Zeitgeschichte bewiesen. 6<br />
Ein Zurück hinter frühere, objektivere Sichtweisen<br />
Vieles, was heute zur DDR-<strong>Geschichte</strong> geboten wird, geht hinter objektivere<br />
Betrachtungen zurück, die in den siebziger und achtziger Jahren auch in der damaligen<br />
Bundesrepublik um sich gegriffen hatten. <strong>Die</strong> Weichenstellung hierfür erfolgte durch<br />
eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, insbesondere durch<br />
Abschlussbericht dieser Kommission. Es bleibt zu fragen, ob es in einer Demokratie<br />
überhaupt Sache des Parlaments sein kann, derartig massiv in das geistige Leben und<br />
in die Erinnerungskultur des Landes einzugreifen. Wenn es um eine gesamtdeutsche<br />
tragfähige Geschichtsaufarbeitung <strong>mit</strong> dem Ziel der Aufklärung und der Aussöhnung<br />
(soweit so etwas überhaupt denkbar ist) gegangen wäre, hätte eine Enquete zum<br />
Thema „Deutschland im kalten Krieg und in der Zeit der deutschen Teilung“ gewiss<br />
bessere Wirkung gezeigt. <strong>Die</strong> hätte auch hinreichend Möglichkeit geboten, sich kritisch<br />
zur DDR zu äußern, aber eben nicht in der praktizierten Einseitigkeit. So aber ist –<br />
zumindest für die Ostdeutschen – eine tiefe Kluft zwischen erlebter und offiziell<br />
ver<strong>mit</strong>telter <strong>Geschichte</strong> aufgerissen worden.<br />
<strong>Die</strong> Stigmatisierung der DDR als „zweite deutsche Diktatur“ und da<strong>mit</strong> das Konstrukt<br />
einer übergreifenden Kontinuität von Faschismus und „Realsozialismus“ 7 war zwar zu<br />
Zeiten des kalten Krieges schon aufgetaucht. Aber dies war keineswegs das<br />
Erklärungsmuster par excellence, sondern eher ein von den meisten Wissenschaftlern<br />
nicht geteilte extreme Version. 8 Schließlich gab es in der BRD eine Zeit, in der eher die<br />
Nähe der BRD zum Faschismus thematisiert wurde als eine Kontinuität von Naziregime<br />
und DDR.<br />
Ende der sechziger Jahren war unter bundesdeutschen DDR-Forschern eine<br />
vehemente Kontroverse ausgebrochen. <strong>Die</strong>jenigen „De-De-Errologen“, die der<br />
normativen Methode verpflichtet waren – verständlicher ausgedrückt: für die das<br />
6<br />
Clemens Burrichter/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan: Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000.<br />
Gesellschaft - Staat - Politik. Ein Handbuch, Berlin 2006.<br />
7<br />
Siehe Wolfgang Wippermann: Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich, Berlin 2009.<br />
8<br />
Außerhalb der BRD finden sich bis heute derartige Verzerrungen der <strong>Geschichte</strong> kaum. Von der usamerikanischen<br />
Geschichtsschreibung zum Beispiel sind solche diskriminierenden Dogmen nicht<br />
übernommen worden. Siehe das Autorreferat von Mario Keßler zu seinem Vortrag <strong>Die</strong> <strong>Geschichte</strong> der<br />
DDR aus der Sicht amerikanischer Forscher. In: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken<br />
zur <strong>Geschichte</strong> der Arbeiterbewegung, Nr. 36/2009, S. 21.<br />
6
westliche System die unanfechtbare und alleinige Messlatte für die Beurteilung der<br />
DDR abgab –, hatten sich scharfer Kritik zu erwehren. <strong>Die</strong>se ging von einer neuen<br />
Generation von DDR-Forschern aus, die empirische Untersuchungen einforderten,<br />
systemimmanente Bewertungen bevorzugten und die aufkommenden<br />
Modernisierungstheorien auch in Bezug zur DDR ins Spiel brachten. Vorreiter war Peter<br />
Christian Ludz, dessen Buch „Parteielite im Wandel“ 9 seinerzeit viel Staub aufwirbelte.<br />
<strong>Die</strong> damalige Kontroverse ist neuerdings von Jens Hüttmann thematisiert worden 10 . Sie<br />
war zeitgenössisch auch von der DDR-Historikern aufmerksam verfolgt und –<br />
abgesehen von manchen ideologischen Zuspitzungen – prinzipiell zutreffend analysiert<br />
worden war. Das erfährt der Leser allerdings von Hüttmann nicht.<br />
Nach Anschluss der ostdeutschen Länder an die Bundesrepublik ließ die Revanche der<br />
seinerzeit ins Hintertreffen Geratenen nicht lange auf sich warten. Nun sah sich die bis<br />
dahin dominierende Richtung der DDR-Forschung scharfen Attacken ausgesetzt – zum<br />
einen wegen ihres „Prognosedebakels“, denn sie hatte der DDR erhebliche Stabilität<br />
bescheinigt, deren Untergang nicht vorhergesagt und das Nebeneinanderbestehen<br />
zweier deutscher Staaten auf absehbare Zeit angenommen, zum anderen, weil sie nicht<br />
derart auf Diktatur, Gewaltherrschaft und Unterdrückung fokussiert war, wie dies nun<br />
wieder üblich wurde.<br />
Vor einigen Jahren bereits hatte die etablierten DDR-Forscher Bilanz gezogen und rund<br />
8000 Titel aufgelistet, die seit 1989 erschienen waren. 11 Als der renommierte Historiker<br />
Jürgen Kocka die zur Schau gestellte Erfolgsbilanz der heute dominierenden DDR-<br />
Forschung ein wenig relativierte und die weitere extensive Ausdehnung und Förderung<br />
dieser Sparte der Geschichtsschreibung infrage stellte 12 , stieß er sofort auf massive<br />
Zurückweisung. Ein sechsköpfiges Team von DDR-Forschern verwies in einer<br />
Entgegnung auf Kocka auf eine derartige Fülle von Desideraten, dass den Angehörigen<br />
der community auf Jahrzehnte hinaus Lohn und Brot gesichert erscheinen. 13<br />
Ansprüche an einen ausgewogenen <strong>Umgang</strong><br />
<strong>mit</strong> der <strong>Geschichte</strong> der DDR<br />
9<br />
Peter Christian Ludz: Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-<br />
Führung, München 1968.<br />
10<br />
Jens Hüttmann: DDR-<strong>Geschichte</strong> und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen<br />
DDR-Forschung, gedruckt <strong>mit</strong> Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und<br />
des Deutschlandfunks, Metropol Verlag, Berlin 2008, 472 S. ISBN 978-3-938690-83-3. (Diss)<br />
11<br />
Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-<br />
Forschung, Paderborn/München/Wien/Zürich 2003. Der Band war dem 75. Geburtstag Hermann Webers<br />
gewidmet.<br />
12<br />
Jürgen Kocka: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. In: Frank Möller/Ulrich Mählert (Hrsg.):<br />
Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte, hrsg. im Auftrag<br />
der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunks, Berlin 2008, S 143-<br />
152.<br />
13<br />
Henrik Bispinck/<strong>Die</strong>rk Hoffmann/Michael Schwartz/Peter Skyba/Matthias Uhl/Hermann Wentker: DDR-<br />
Forschung in der Krise? Defizite und Zukunftschancen – Eine Entgegnung auf Jürgen Kocka. In: Ebenda,<br />
S. 153-161.<br />
7
An einen ausgewogenen <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> DDR-<strong>Geschichte</strong>, sind einige Ansprüche zu<br />
stellen, denen viele Autoren nicht oder nur bedingt nachkommen. <strong>Die</strong>se Ansprüche<br />
sollen hier abschließend in sieben Punkten angemeldet werden: 14 .<br />
1. Es steht historischem Erkenntnisgewinn entgegen, eine geschichtliche Realität wie<br />
die DDR (und übrigens auch die der alten Bundesrepublik) ausschließlich oder<br />
überwiegend von ihrem Ende her zu interpretieren, statt ihr Werden und Vergehen<br />
aus den geschichtlichen Umständen heraus zu erklären. Denn <strong>Geschichte</strong> ist ein<br />
Prozess, der aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft abläuft.<br />
2. <strong>Die</strong> DDR (und auch die BRD) kann nicht vordergründig aus sich selbst heraus<br />
erklärt werden. Es muss erwartet werden, dass sie als geschichtliche Erscheinung<br />
in den Zusammenhängen ihres Werdens und Vergehens interpretiert wird, und zwar<br />
in dreierlei Hinsicht:<br />
- in der historisch-zeitlichen Dimension, und diese reicht nicht nur hinter das Jahr<br />
1949, sondern auch hinter das Jahr 1945 zurück;<br />
- in der deutsch-deutschen Dimension, weil beide deutsche Staaten auf einander<br />
bezogen waren und die heutige BRD eine Doppelbiografie besitzt, denn in ihr<br />
sind zwei – unterschiedlich starke – Ströme deutscher <strong>Geschichte</strong><br />
zusammengeflossen;<br />
- in der internationalen Dimension, weil nur so erhellt werden kann, inwieweit sich<br />
beide deutsche Staaten als Geschöpfe und Agenten der Siegermächte durch die<br />
<strong>Geschichte</strong> bewegt haben und sie äußeren Einflüssen unterlagen.<br />
3. Es ist nicht zu akzeptieren, wenn bei der Bewertung der jüngeren deutschen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>mit</strong> zweierlei Maß gemessen wird, wenn an Entwicklungen der DDR<br />
eine andere Elle angelegt wird als an die der Bundesrepublik, wenn <strong>mit</strong> Kriterien<br />
gearbeitet wird, <strong>mit</strong> denen sich jegliches Gemeinwesen in ein schlechtes Licht<br />
rücken lässt.<br />
4. <strong>Die</strong> Forderung nach ausgewogener Bewertung ist kein Plädoyer für Duldsamkeit<br />
gegenüber Verwerfungen, Gebrechen und Schandtaten ostdeutscher <strong>Geschichte</strong>,<br />
auch nicht für ein vordergründiges gegenseitiges Aufrechnen. <strong>Die</strong> eigentliche<br />
Schwierigkeit besteht in der proportionierten Bewertung der Relationen zwischen<br />
Erfolgen der DDR und deren Akzeptanz in der Bevölkerung einerseits und den<br />
Deformationen <strong>mit</strong> ihren historisch-genetischen Ursachen, deren äußeren und<br />
inneren Rahmenbedingungen sowie individuellen Verantwortlichkeiten andererseits.<br />
5. <strong>Die</strong> DDR lässt sich nicht <strong>mit</strong> einer Sichtweise begreifen, die ausschließlich oder<br />
weitgehend auf ihr politisches System fokussiert ist. <strong>Die</strong> DDR war mehr als das<br />
politische System, mehr als Partei, Staat und Staatssicherheitsdienst. Auch<br />
Erklärungen, die darauf hinauslaufen, als ob alles, was die DDR an Akzeptablem,<br />
Bewahrungswürdigen oder gar Zukunftsweisenden hervorgebracht hat (soweit so<br />
14<br />
Ich wiederhole hier in den Punkten 1-6 von mir bereits vor Jahren zur Diskussion gestellte<br />
Gesichtspunkte. Siehe <strong>Günter</strong> <strong>Benser</strong>: Denkanstöße für den <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> DDR-<strong>Geschichte</strong>. In: Das<br />
lange, kurze Leben der DDR (Schriften des Jenaer Forums für Bildung und Wissenschaft e.V.), Jena<br />
2000, S. 8-20.<br />
8
etwas überhaupt Respektierung findet), sei den Trägern der Macht abgerungen<br />
worden oder in Nischen entstanden, in die Partei und Staat nicht hineinreichten,<br />
entsprechen nicht der Wirklichkeit. Es sollte in jedem Falle genau hingeschaut<br />
werden, wie sich Geplantes, Organisiertes, Spontanes und Widerständiges zu<br />
einander verhalten beziehungsweise ineinander gegriffen haben. Auch die<br />
Führungskräfte der DDR waren nicht jene homogene Kaste, als die sie heute meist<br />
vorgeführt werden. Sie setzten sich aus Leuten zusammen <strong>mit</strong> unterschiedlichen<br />
Charakteren, Erfahrungen und Vorstellungen, denen sie im Rahmen des DDR-<br />
Verhältnisse (zumindest partiell) Geltung zu verschaffen suchten.<br />
6. Es ist geboten, die <strong>Geschichte</strong> der DDR nicht als etwas absolut Abgeschlossenes<br />
zu betrachten, sondern über ihr Einwirken auf Gegenwart und Zukunft<br />
nachzudenken. Es trifft immer noch zu, was die PDS in ihrem Minderheitsvotum<br />
zum Abschlussbericht der ersten Enquete-Kommission bereits vor eineinhalb<br />
Jahrzehnt festgestellt hatte, nämlich „dass Ostdeutschland auf unbestimmte Zeit als<br />
eine relativ eigenständige sozialkulturelle Makroregion in diesem Deutschland<br />
fortexistieren wird“ 15 , was selbstverständlich auch Konsequenzen für den <strong>Umgang</strong><br />
<strong>mit</strong> ihrer <strong>Geschichte</strong> hat (und nicht zuletzt für die Politik der <strong>Linke</strong>n). Was die<br />
heutige BRD betrifft, so stellt sich die Frage, wodurch sie langfristig mehr verändert<br />
wurde, durch die 68er Bewegung oder durch die Folgen des Anschlusses der<br />
neuen Bundesländer, <strong>mit</strong> dem auch Überlieferungen der DDR in die Bundesrepublik<br />
eindrangen.<br />
7. Es ist an der Zeit, nun auch jene politischen Gruppierungen und Persönlichkeiten,<br />
die im letzten und spannendsten Jahr der DDR tonangebend waren, an ihren<br />
damaligen Verkündungen zu messen. Es wäre der Frage nachzugehen, wie sich in<br />
diesen Bewegungen positiver Veränderungswille, Illusionen, Demagogie,<br />
Vereinnahmungen und Anpassungen zu einander verhalten, wie es um die<br />
moralische Berechtigung mancher Leute bestellt ist, DDR-Bürgern die Loyalität<br />
gegenüber ihrem Staat vorzuwerfen, wo die hehren Losungen in der rauen<br />
Wirklichkeit der Gegenwart geblieben sind. <strong>Zum</strong>indest würde sich erweisen: Was<br />
Menschen wollen, wofür sie auch eintreten und das, was sie tatsächlich bewirken,<br />
fällt nicht automatisch zusammen. Wenn dem heute so ist, so muss dies auch für<br />
Bürger und Funktionsträger der DDR gelten.<br />
15<br />
Deutscher Bundestag. 12. Wahlperiode. Drucksache 12/7820, S. 253.<br />
9