Öffnen - eDiss - Georg-August-Universität Göttingen
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Einleitung – Kapitel 1.1.<br />
Nachforschungen in der Historie des Fundorts sowie Analysen des Physikalischen<br />
Instituts der <strong>Universität</strong> Nürnberg-Erlangen konnten erste Spekulationen über die<br />
Identität der Toten als Zwangsarbeiter aus der NS-Zeit verwerfen: Die Individuen<br />
lagen unter Fundamenten von Gebäuden, die 1860 errichtet worden sind. Außerdem<br />
folgt die Anordnung der Skelette dem Verlauf eines Gebäudes, das im Jahr 1800<br />
errichtet wurde und Ende der 1820er Jahre wieder abgerissen worden ist. Damit<br />
übereinstimmend konnte mit Hilfe von C14-Analysen das Alter der Individuen auf<br />
195 ± 41 Jahre datiert werden. Das ermittelte Todesdatum liegt somit in beiden Analysen<br />
zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Pressemitteilung des Präsidiums Nordhessen,<br />
http://www.presseportal.de/polizeipresse/pm/44143/1253528/polizeipraesidium_nordhessen_ kassel.).<br />
Der postulierte militärische Hintergrund in Verbindung mit dem ermittelten Todeszeitpunkt<br />
lässt einen Zusammenhang zu napoleonischen Truppen plausibel erscheinen.<br />
Die Stadt Kassel wurde am 1. November 1806 von französischen Truppen besetzt<br />
und war von 1807 bis 1813 Hauptstadt des Königreichs Westphalen, das von<br />
Napoleons Bruder Jérôme regiert wurde. Nach der verlorenen Völkerschlacht bei<br />
Leipzig im Oktober 1813 und dem Rückzug Napoleons wurde Kassel noch im selben<br />
Monat von russischen Truppen befreit. Ab dem 21. November 1813 regierte Kurfürst<br />
Wilhelm I. wieder in der Stadt, in den folgenden Monaten kam es zu großen Truppenbewegungen<br />
der Nordarmee unter dem schwedischen Kronprinzen und der<br />
Schlesischen Armee durch die Stadt (z.B. Piderit 1844). In der Stadtgeschichte Kassels<br />
ist im fraglichen Zeitraum kein größeres Seuchengeschehen dokumentiert, allerdings<br />
sind viele Unterlagen im Laufe der Zeit (insbesondere auch durch die Bombardierungen<br />
im Zweiten Weltkrieg) verloren gegangen.<br />
Bereits vor Abschluss der Recherchen bzgl. des geschichtlichen Hintergrunds wurden<br />
die Individuen des Massengrabs von Polizeischülern geborgen und auf sechs<br />
große Särge verteilt. Es fand weder eine wissenschaftliche Dokumentation der Auffindesituation<br />
statt noch eine detaillierte Katalogisierung der Funde. Dies resultierte<br />
beispielsweise in der Aussage der Polizei, dass es sich „um mehr als 60 Individuen“<br />
handelt, ohne dass es Kenntnis von der genauen Anzahl der gefundenen Individuen<br />
gab. Die Bergung sowie Verteilung auf sechs Särge geschah darüber hinaus nicht<br />
individuenweise, sondern rein willkürlich. Nach einem ökumenischen Gottesdienst<br />
am 08.02.2008 wurden die Särge auf dem Hauptfriedhof wieder bestattet. Jedoch<br />
gelang es dem Leiter des Naturkundemuseums im Ottoneum, Dr. Kai Füldner, einen<br />
der Särge für umfangreichere Untersuchungen zu exhumieren und an die Abteilung<br />
Historische Anthropologie der <strong>Georg</strong>-<strong>August</strong>-<strong>Universität</strong> <strong>Göttingen</strong> zu überführen.<br />
Im Rahmen von zwei Diplomarbeiten wurden morphologische (Diplomarbeit von<br />
Anna Zipp, Zipp 2010) und molekulargenetische (Diplomarbeit von Philipp v.<br />
Grumbkow, Grumbkow 2010) Analysen durchgeführt. Diese hatten die Überprüfung<br />
der Hypothese über die Identität der Toten als französische Seuchenopfer zum Ziele.<br />
Insgesamt konnten Skelettelemente von mindestens 18 Individuen morphologisch<br />
ermittelt werden. Dabei bestätigten sich auf morphologischer Ebene die Ergebnisse<br />
der Untersuchungen der Rechtsmediziner aus dem Jahr 2008, dass es sich um Män-<br />
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