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Diskussion – Kapitel 5.3.<br />

Kollektivs darstellen. Durch den Mangel an oraler Hygiene sowie qualitativ schlechterer<br />

Nahrung traten Karies, Zahnstein und Zahnverlust in deutlich erhöhtem Maße<br />

als heutzutage auf. Ein Vergleich mit dem Massengrab aus Vilnius zeigt ähnliche<br />

Frequenzen in allen Zahnpathologien (Palubeckaite et al. 2006). Auch das Auftreten<br />

der Schmelzhypoplasien, die Hinweise auf Stress oder Mangelernährung in der frühen<br />

Kindheit liefern, waren in historischen Bevölkerungen häufig vertreten (Eickhoff<br />

und Schopper 2012).<br />

Eine weitere Besonderheit stellen die vertieften Ansatzstellen der Ligamenta<br />

costaclavicularia der Claviculae dar, die bei vielen Individuen auftraten. Weiterhin<br />

fanden sich arthrotischen Veränderungen an Wirbelansatzstellen der Rippen und degenerativen<br />

Veränderungen an der Wirbelsäule, welche z.B. durch schweres Lastentragen<br />

hervorgerufen werden kann. Zu napoleonischer Zeit wurde die gesamte Ausrüstung<br />

eines (einfachen) Soldaten in Tornistern auf dem Rücken transportiert, die<br />

dadurch entsprechend schwer waren; historische Quellen geben das durchschnittliche<br />

Gewicht eines Tornisters mit 33 Pfund 12 Unzen (etwa 17kg) an (von Segur 1835).<br />

Diese Dauerbelastung könnte somit die gefundenen Auffälligkeiten und deren Häufigkeit<br />

im Kollektiv erklären. Die Anwesenheit von Cribra orbitalia ist ein deutliches<br />

Zeichen für eine Mangelernährung, wobei nur etwa 10% der Individuen eine Cribra<br />

aufwiesen. Die ectocranialen Porösitäten an vielen Schädeln könnten ein Hinweis auf<br />

einen chronischen Läusebefall sein, der mit schlechten hygienischen Bedingungen<br />

einhergeht. In Europa war der Läusebefall bis ins 19. Jahrhundert hinein extrem häufig<br />

und konnte auch für das Massengrab aus Vilnius gezeigt werden (Araujo et al.<br />

2000, Raoult et al. 2006).<br />

Weitere Auffälligkeiten betreffen zwei verheilte Brüche, zwei Trepanationen sowie<br />

zwei radioulnare Synostosen, die Hinweise auf eine rudimentäre ärztliche Versorgung<br />

liefern. Gerade die Trepanation war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch weit<br />

verbreitet und ein häufig angewandtes Mittel, das auch ohne primäre Verletzungen<br />

des Schädels angewandt wurde. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine<br />

kritischere Sicht auf das Verfahren (Povacz 2007). Die Synostosen der Unterarmknochen,<br />

einmal in Pronations- und einmal in Supinationsstellung, wurden wahrscheinlich<br />

durch ein Trauma und anschließende Arretierung hervorgerufen. Die gefundenen<br />

Auffälligkeiten könnten zu Individuen gehören, die verwundet worden<br />

sind, das Lazarett aber „geheilt“ verlassen konnten (sog. Rekonvaleszente).<br />

Alle Abweichungen von der Regelanatomie stehen in Konkordanz mit der Theorie<br />

eines militärischen Kontexts aus dem frühen 19. Jahrhundert. Da alle Individuen sich<br />

in Geschlecht und Alter ähneln, können die Belastungserscheinungen (z.B. der Wirbelsäule)<br />

trotz unsicherer Zuordnung aufgrund ihrer Häufung als überwiegend pathologisch<br />

identifiziert werden. Die Individuen waren folglich erheblicher physischer<br />

Belastung, Mangelernährung und vermutlich schlechten hygienischen Bedingungen<br />

ausgesetzt gewesen. Die Parallelen zu ähnlichen Massengräbern, ganz besonders<br />

dem napoleonischer Soldaten in Vilnius, und den historischen Überlieferungen (vgl.<br />

Kap. 1.2.) sind unverkennbar.<br />

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