A. Lerndaten 10. Teil: Rechtswidrigkeit B. Inhaltsübersicht 10. Teil C ...
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Lernprogramm Strafrecht <strong>10.</strong> <strong>Teil</strong><br />
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A. <strong>Lerndaten</strong> <strong>10.</strong> <strong>Teil</strong>: <strong>Rechtswidrigkeit</strong><br />
Seiten: 31 (251 insgesamt)<br />
! ca. 100 Minuten (1005 = 16h 45 Min. insgesamt)<br />
B. <strong>Inhaltsübersicht</strong> <strong>10.</strong> <strong>Teil</strong><br />
136 Allgemeines zur <strong>Rechtswidrigkeit</strong><br />
137 Rechtfertigungsgründe (Übersicht)<br />
138 Rechtfertigende Notstände (Übersicht)<br />
139 Der zivilrechtliche Notstand (§§ 228, 904 BGB)<br />
140 Der allgemeine rechtfertigende Notstand (§ 34)<br />
141 § 34: Rechtsprechung<br />
142 Notwehr - Grundgedanken<br />
143 Notwehr (§ 32)<br />
144 § 32: „Angriff“<br />
145 § 32: „Gegenwärtigkeit“<br />
146 § 32: „<strong>Rechtswidrigkeit</strong>“<br />
147 § 32: "Notwehrfähigkeit"<br />
148 § 32: Notwehrhandlung (Grundsätze)<br />
149 § 32: „Erforderlichkeit“<br />
150 § 32: „Gebotensein“<br />
151 § 32: Grenzen der Notwehr (Zusammenfassung)<br />
152 § 32: Rechtsprechung<br />
153 Festnahmerechte<br />
154 Rechtfertigungsgründe bei Fahrlässigkeitsdelikten<br />
155 Einverständnis und Einwilligung<br />
156 Das Züchtigungsrecht<br />
C. Lernkontrolle <strong>10.</strong> <strong>Teil</strong><br />
1. Durcharbeiten am: ...............<br />
2. Durcharbeiten am: ...............<br />
3. Durcharbeiten am: ...............<br />
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<strong>10.</strong> <strong>Teil</strong>: <strong>Rechtswidrigkeit</strong><br />
136 Allgemeines zur <strong>Rechtswidrigkeit</strong><br />
υ Merke: Eine Handlung ist rechtswidrig, wenn sie einen Unrechtstatbestand<br />
verwirklicht und nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt<br />
ist.<br />
a) Den Unrechtstatbeständen stehen sog. Erlaubnistatbestände<br />
gegenüber, die das rechtsgutsverletzende Verhalten ausnahmsweise<br />
gestatten.<br />
Rechtfertigungsgründe bedürfen nicht notwendigerweise einer<br />
gesetzlichen Regelung (s. z.B. die "rechtfertigende Pflichtenkollision").<br />
b) Das Problem des subjektiven Rechtfertigungselementes<br />
aa)<br />
Nach h.M. wird eine tatbestandsmäßige Handlung nur gerechtfertigt,<br />
wenn<br />
• die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vorliegen<br />
und<br />
• der Täter in Kenntnis der rechtfertigenden Sachlage und aufgrund der<br />
ihm dadurch verliehenen Befugnis gehandelt hat (Lehre von den subjektiven<br />
Rechtfertigungselementen) - str. (z.B. BGH NStZ 1996, 29;<br />
BayObLG NStZ-RR 1999, 9); für letztere streiten der Wortlaut der<br />
Norm (z.B. § 32: " ... um ... zu ...") und die notwendige Kompensation<br />
von Erfolgs- und Handlungsunwert<br />
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BGH NStZ 1996, 29, 30: Eine Tat kann auch dann durch Notwehr gerechtfertigt<br />
sein, wenn der Täter neben der Abwehr noch andere Ziele<br />
verfolgt, solange sie den Verteidigungszweck nicht völlig in den Hintergrund<br />
drängen; dies gilt auch dann, wenn Wut bei der Tat eine Rolle<br />
spielt (s. auch BayObLG NStZ-RR 1999, 9 und BGH NStZ 2000, 356,<br />
366).<br />
bb)<br />
Konsequenzen des Fehlens eines subjektiven Rechtfertigungselementes<br />
(1) Grds.: Tat ist rechtswidrig - im Übrigen gilt:<br />
(2) 1. Auffassung: Vollendete rechtswidrige Tat (so z.B. BGHSt 3,<br />
194; NStZ 1996, 29, 30)<br />
(3) 2. Auffassung: Versuchsregeln direkt bzw. analog - Arg.: Der<br />
Unwertgehalt der Tat beschränkt sich wie bei einem untauglichen<br />
Versuch auf den subjektiven Handlungsunwert, der im Willen zur<br />
Rechtsverletzung zum Ausdruck kommt (so u.a. W/B, AT, RN<br />
278 f. – zum Prüfungsaufbau s. W/B, a.a.O., RN 280)<br />
Anmerkung: Der umgekehrte Fall führt zum Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
(= irrige Annahme einer rechtfertigenden Sachlage) oder zu einem<br />
Erlaubnisirrtum (z.B. bei Fehlvorstellungen über die rechtlichen Grenzen<br />
der Notwehr, vgl. W/B, a.a.O., RN 280).<br />
137 Rechtfertigungsgründe (Übersicht 19)<br />
Übersicht 19: Rechtfertigungsgründe (Auswahl)<br />
(1) Notwehr (§§ 32 StGB; 227 BGB)<br />
(2) Erlaubte Selbsthilfe (§§ 229, 561, 859, 1029 BGB)<br />
(3) Zivilrechtlicher Notstand (§§ 228, 904 BGB)<br />
(4) Allgemeiner rechtfertigender Notstand (§§ 34 StGB, 16 OWiG)<br />
(5) Rechtfertigende Pflichtenkollision<br />
(6) Rechtfertigende Einwilligung/mutmaßliche Einwilligung<br />
(7) Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193)<br />
(8) Festnahmerecht (§§ 127 I, II StPO)<br />
(9) Amtsbefugnisse / Dienstrechte / besondere Rechtspflichten von<br />
Amtsträgern (z.B. §§ 81 ff. StPO)<br />
(10) Politisches Widerstandsrecht gem. Art. 20 IV GG<br />
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Anmerkungen:<br />
a) Soweit der einschlägige Rechtfertigungsgrund zugleich mit der<br />
Handlungserlaubnis eine Eingriffsbefugnis gewährt, folgt daraus<br />
die Duldungspflicht dessen, der die gerechtfertigte Handlung<br />
mit ihren Eingriffsfolgen hinzunehmen hat.<br />
b) Strafbare <strong>Teil</strong>nahme (§§ 26, 27) ist nur an einer rechtswidrigen<br />
Tat möglich (s.o.).<br />
c) Problem: Mehrere Rechtfertigungsgründe, die auf denselben<br />
Sachverhalt zutreffen<br />
aa)<br />
bb)<br />
Grundsatz: Unabhängig voneinander und ggf. nebeneinander anwendbar<br />
(z.B. §§ 859, 229 BGB neben § 32)<br />
Ausnahme: Verdrängung (insbesondere bei § 34) - gegenüber<br />
der speziellen Regelung beim rechtfertigenden Notstand gem.<br />
§§ 228, 904 BGB und § 218 a, tritt § 34 als ultima ratio für Konfliktlagen<br />
außergewöhnlicher Art regelmäßig zurück<br />
d) §§ 32, 34 gelten auch für Amtsträger im Bereich hoheitlichen<br />
Handelns, soweit dort engere oder speziellere Sonderregeln fehlen<br />
(z.B. polizeilicher Schusswaffengebrauch - W/B, AT, RN<br />
289 - str.)<br />
Zur Androhung von Folter durch Vernehmungsbeamte s. W/B,<br />
a.a.O.: §§ 32, 34 finden auch auf Polizeibeamte Anwendung, problematisch<br />
sind aber das Gebotensein bei § 32 bzw. die Angemessenheitsprüfung<br />
bei § 34 (s. auch LG Frankfurt a. M. NStZ 2005, 276 =<br />
NJW 2005, 693); nach S/S-Lenckner/Perron (§ 32 RN 62 a) stehen der<br />
Anwendung von Folter bei § 32 nicht der gegenwärtige und rechtswidrige<br />
Angriff sowie die notwendige Gegenwärtigkeit entgegen, wohl aber<br />
zwingendes Verfassungs- und Völkerrecht, so z.B. Art. 104 I 2 i.V.m. 1<br />
I 1 GG und Art. 3 EMRK i.V.m. Art. 15 II EMRK (i.E. ebenso zu § 34, s.<br />
dort RN 41 e); s. auch Joecks, § 32, RN 39 f. m.w.N.<br />
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138 Rechtfertigende Notstände (Übersicht)<br />
a) Begrifflichkeiten<br />
Notstand = Zustand gegenwärtiger Gefahr für rechtlich geschützte<br />
Interessen, dessen Abwendung nur auf Kosten fremder<br />
Interessen möglich ist. Unterscheiden Sie bitte zwischen dem<br />
rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand (zu ersterem<br />
s. §§ 34 StGB; 228, 904 BGB) - weiter s. nachfolgende<br />
Übersicht<br />
b) Unterscheide (Übersicht)<br />
Notstände<br />
Fälle des rechtfertigenden<br />
Notstandes (§§ 228, 904<br />
BGB, § 34 StGB, § 16 OWiG)<br />
Fälle des entschuldigenden<br />
Notstandes (§ 35 StGB) - Kollision<br />
gleichwertiger Interessen<br />
Prinzip des überwiegenden<br />
Interesses<br />
Unzumutbarkeit normgemäßen<br />
Verhaltens<br />
139 Der zivilrechtliche Notstand (§§ 228, 904 BGB)<br />
a) § 228 BGB (Sachwehr im defensiven Notstand): Die Rechtfertigung<br />
geht auf den Grundgedanken zurück, dass die Schutzinteressen<br />
des Bedrohten höher zu bewerten sind als das Interesse<br />
des Eigentümers an der Erhaltung einer Sache, deren Zustand<br />
andere gefährdet und zu Abwehrmaßnahmen zwingt.<br />
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aa)<br />
Prüfungsaufbau<br />
Prüfschema 21: § 228 BGB<br />
1. Drohen einer Gefahr durch fremde Sache für den Handelnden oder<br />
einen Dritten<br />
2. Einwirkung erforderlich zur Abwendung der Gefahr (mildestes Mittel,<br />
vgl. § 32)<br />
3. Schaden an der Sache nicht außer Verhältnis zu der Gefahr (kein<br />
wertmäßiges Überwiegen verlangt!)<br />
4. Verteidigungswille<br />
bb)<br />
Anmerkungen<br />
• Bei einer Gefährdung durch Tiere oder leblose Gegenstände tritt § 228<br />
BGB an die Stelle des § 32 StGB<br />
• § 228 S. 2 BGB lässt die Rechtmäßigkeit der Abwehr unberührt<br />
• Bei herrenlosen Sachen: § 228 BGB analog<br />
b) Im Gegensatz zu § 228 BGB erlaubt das Recht im Falle des aggressiven<br />
Notstandes (§ 904 BGB) die Einwirkung auf solche<br />
Sachen, die zu der Gefahrenquelle in keinerlei Beziehung stehen.<br />
Prüfungsaufbau:<br />
Prüfschema 22: § 904 BGB<br />
1. Gegenwärtige Gefahr, die für ein Rechtsgut droht<br />
2. Einwirkung ist zur Abwehr der Gefahr notwendig<br />
3. Drohender Schaden muss unverhältnismäßig größer sein als der<br />
dem Eigentümer durch den Eingriff in sein Eigentum entstehende<br />
Schaden<br />
4. Notstandswille<br />
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140 Der allgemeine rechtfertigende Notstand (§ 34)<br />
a) Prüfungsaufbau:<br />
Prüfschema 23: § 34<br />
1. Gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut<br />
2. Nicht anders abwendbare Gefahr<br />
3. Objektive Erforderlichkeit der Abwehrhandlung<br />
a) Geeignetes Mittel<br />
b) Mildestes Mittel<br />
4. Interessenabwägung<br />
5. Angemessenheit<br />
6. Rettungswille<br />
b) Erläuterungen<br />
aa)<br />
Notstandslage: Gegenwärtige Gefahr für geschützte Rechtsgüter,<br />
die nicht anders abgewendet werden kann als durch Einwirkung<br />
auf ebenfalls geschützte bzw. rechtlich anerkannte Interessen:<br />
(1) Die Notstandsfähigkeit von Rechtsgütern setzt eine Schutzbedürftigkeit<br />
und eine Schutzwürdigkeit voraus<br />
(2) Gegenwärtige Gefahr = Zustand, dessen Weiterentwicklung<br />
den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernstlich befürchten<br />
lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen<br />
werden:<br />
• Die Bejahung einer solchen Gefahr ergibt sich jeweils aus einem<br />
Wahrscheinlichkeitsurteil, das an die im Handlungszeitpunkt vorliegenden<br />
Umstände anknüpft und die zu erwartende Geschehensentwicklung<br />
prognostiziert<br />
• Maßgebend für die Einschätzung der konkreten Situation und die daraus<br />
resultierende Gefahr ist das ex ante zu bestimmende Urteil eines<br />
sachkundigen Beobachters, dem neben dem einschlägigen gene-<br />
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rellen Erfahrungswissen auch ein etwaiges Sonderwissen des Notstandstäters<br />
zugrunde zu legen ist<br />
• Gefahr kann auch eine Dauergefahr sein (= gefahrdrohender Zustand,<br />
der jederzeit in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann);<br />
Gegenwärtigkeit (+), wenn die Dauergefahr so dringend ist, dass sie<br />
nur durch unverzügliches Handeln wirksam abgewendet werden kann<br />
(and. der Begriff "Angriff" in § 32!)<br />
bb)<br />
Notstandshandlung<br />
(1) Objektive Erforderlichkeit der Notstandshandlung<br />
• Erforderlich = was zur Abwendung der Gefahr geeignet ist und unter<br />
Berücksichtigung aller ex ante erkennbaren Umstände aus der Sicht<br />
eines sachkundigen objektiven Beobachters als der sicherste Weg<br />
zur Erhaltung des gefährdeten Rechtsgutes erscheint<br />
• Unter mehreren geeigneten Mitteln ist das relativ mildeste zu wählen<br />
• Von einer Ausweichmöglichkeit ist Gebrauch zu machen (grds. and.<br />
§ 32!).<br />
(2) Subjektiv vom Rettungswillen getragen<br />
cc)<br />
Rechtfertigung der Notstandshandlung<br />
(1) Rechtfertigung, wenn<br />
• bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen<br />
Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren,<br />
das vom Täter geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich<br />
überwiegt - Interessenabwägung (§ 34 S. 1) und<br />
• die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden (Angemessenheitsklausel)<br />
- § 34 S. 2.<br />
(2) Im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen sind<br />
insbesondere zu berücksichtigen:<br />
• Art und Ursprung<br />
• Intensität und<br />
• Nähe der Gefahr<br />
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• Art und Umfang der drohenden Werteinbußen<br />
• Rang- und Wertverhältnis der betroffenen bzw. kollidierenden Rechtsgüter<br />
• Besondere Gefahrtragungspflichten (z.B. Polizeibeamte)<br />
• Spezielle Schutzpflichten (z.B. Garantenstellung)<br />
• Der vom Täter verfolgte Endzweck<br />
• Etwaige Unersetzlichkeit des eintretenden Schadens<br />
• Größe der Rettungschancen usw.<br />
• Kein Ausschluss des § 34 bei Verschulden (and. § 35!) - aber hier im<br />
Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen<br />
• Beim Defensivnotstand sind qualitativ und quantitativ weitergehende<br />
Beeinträchtigungen zulässig als beim aggressiven Notstand (Grundgedanke<br />
des § 228 BGB)<br />
• Die Tötung eines Menschen ist allenfalls nach § 35 entschuldigungsfähig<br />
(Grundsatz des absoluten Lebensschutzes)<br />
Zusammenfassung: Wert- und Interessenabwägung bei § 34<br />
Eine Rechtfertigung unter Notstandsgesichtspunkten wird am<br />
ehesten bei der Verletzung formaler Ordnungsfragen oder ähnlich<br />
geringfügigen Beeinträchtigungen zu bejahen sein (z.B. Geschwindigkeitsüberschreitung;<br />
§ 316 in entsprechenden Fällen).<br />
Demgegenüber sind an die Rechtfertigung des Verhaltens um so<br />
höhere Anforderungen zu stellen, je persönlichkeitsnäher das betroffene<br />
Rechtsgut ist und je nachhaltiger die Notstandshandlung<br />
in die Freiheit der personalen Selbstbestimmung eingreift.<br />
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(3) Sonderproblem der Angemessenheitsprüfung: Unfreiwillige<br />
Blutspende:<br />
• Abwägung zwischen dem Recht des Menschen auf freie Selbstbestimmung<br />
und dem Solidaritätsprinzip<br />
• Ob das persönliche Opfer einer Blutspende erbracht wird oder nicht,<br />
muss in einem freiheitlichen Rechtsstaat grundsätzlich der eigenen<br />
sittlichen Entscheidung des einzelnen überlassen bleiben, kann also<br />
nicht Gegenstand einer "allgemeinen Hilfspflicht" (vgl. § 323 c) sein.<br />
Unterscheide insoweit auch Blutspende und Blutprobe!<br />
• Aber: Rechtspflicht innerhalb engster Schutz- und Beistandspflichten<br />
(Ehegatten, Eltern, Kinder usw.)!<br />
141 § 34: Rechtsprechung<br />
BGHSt 39, 133, 137 [kein Notstand bei Abwendbarkeit der Gefahr<br />
durch obrigkeitliche Hilfe]: § 34 setzt voraus, dass die Gefahr nicht<br />
anders abgewendet werden kann, liegt also nicht vor, wenn obrigkeitliche<br />
Hilfe rechtzeitig herbeigerufen werden kann.<br />
OLG Frankfurt, NStZ-RR 1996, 136: Nach Auffassung des Gerichts<br />
kommt die Rechtfertigung einer Körperverletzung nach § 34 in Betracht,<br />
wenn einem betrunkenen Autofahrer zum Zwecke der Verhinderung<br />
einer Weiterfahrt die Fahrzeugschlüssel abgenommen werden<br />
und anschließend ein Wiedererlangen der Schlüssel durch Festhalten<br />
vereitelt wird.<br />
OLG Frankfurt NStZ 2001, 149 [zu §§ 34, 203 I]: Besteht für den Arzt<br />
Anlass, an der Bereitschaft seines HIV-infizierten Patienten am Infektionsschutz<br />
des Lebenspartners zu zweifeln, ist der Arzt zur Unterrichtung<br />
des Partners verpflichtet. Anlass für entsprechende Zweifel besteht<br />
bereits dann, wenn der HIV-infizierte Patient ausdrücklich um<br />
Geheimhaltung seiner Erkrankung bittet.<br />
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142 Notwehr - Grundgedanken<br />
Die Notwehr beruht auf dem Grundsatz, dass das Recht dem<br />
Unrecht nicht zu weichen braucht. Die Verteidigung gilt daher<br />
nicht nur dem angegriffenen Rechtsgut selbst (Schutzprinzip),<br />
sondern zugleich der Bewährung der Rechtsordnung (Rechtsbewährungsgedanke).<br />
143 Notwehr (§ 32)<br />
a) Prüfungsaufbau<br />
Prüfschema 24: Notwehr (§ 32)<br />
I. Notwehrlage<br />
1. Angriff<br />
2. Gegenwärtigkeit<br />
3. <strong>Rechtswidrigkeit</strong><br />
4. Notwehrfähigkeit<br />
II. Notwehrhandlung<br />
1. Geeignetheit<br />
2. Objektiv erforderlich<br />
3. Gebotensein<br />
III. Verteidigungswille<br />
b) Details: Definitionen<br />
aa)<br />
Notwehrlage: Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff gegen ein<br />
notwehrfähiges Rechtsgut - das "Ob" der Notwehr:<br />
(1) Angriff = jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung<br />
rechtlich geschützter Güter oder Interessen; u.U. auch ein Unterlassen<br />
- Garantenpflicht i.S.v. § 13 vorausgesetzt.<br />
(2) Gegenwärtig = Angriff, der unmittelbar bevorsteht, begonnen hat oder<br />
noch fortdauert. Beendet ist der Angriff, wenn er fehlgeschlagen, endgültig<br />
aufgegeben oder vollständig durchgeführt ist, so dass die<br />
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Rechtsgutsverletzung durch Gegenwehr nicht mehr abgewendet werden<br />
kann.<br />
(3) <strong>Rechtswidrigkeit</strong> des Angriffs = jeder Angriff, der den Bewertungsnormen<br />
des Rechts objektiv zuwiderläuft und nicht durch einen Erlaubnissatz<br />
gedeckt ist (str. - s. weiter u. RN 146).<br />
(4) Notwehrfähig ist jedes dem Angegriffenen oder Dritten zustehende<br />
Gut und jedes rechtlich anerkannte Interesse.<br />
bb)<br />
Notwehrhandlung: Sie muss objektiv erforderlich, normativ geboten<br />
und von einem Verteidigungswillen getragen sein - das<br />
"Wie" der Notwehr:<br />
(1) Geeignetheit = jede Abwehrmaßnahme, die nach dem Grundgedanken<br />
des Notwehrrechts sinnvoll ist und dem Angriff wenigstens ein<br />
Hindernis in den Weg legt.<br />
(2) Objektiv erforderlich = alles, was zu einer wirksamen Verteidigung<br />
gehört, eine möglichst sofortige Beendigung des Angriffs erwarten<br />
lässt und die endgültige Beseitigung der Gefahr am besten gewährleistet<br />
-<br />
Achtung: Unter mehreren gleich wirksamen Verteidigungsmöglichkeiten<br />
ist diejenige zu wählen, die den geringsten Schaden anrichtet<br />
(Zurückhaltung bei Schusswaffen!) - näher u. RN 149.<br />
(3) Gebotensein der Verteidigungshandlung (allgemeines Verbot des<br />
Rechtsmissbrauchs): Eine Handlung ist nicht geboten, wenn dem Angegriffenen<br />
ein anderes Verhalten zuzumuten ist, insbesondere die<br />
Verteidigung einen Rechtsmissbrauch darstellen würde.<br />
(4) Verteidigungswille (s.o. RN 136 c))<br />
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144 § 32: "Angriff"<br />
a) Das Verhalten muss "Handlungsqualität" (s.o. RN 7) besitzen<br />
(h.M.) - ansonsten kommt nur § 34 in Betracht; bloße Zudringlichkeiten<br />
oder Belästigungen – z.B. das Öffnen eines verkehrsbedingt<br />
stehenden Pkw (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1994, 1232) -<br />
sind kein Angriff!<br />
b) Nach h.M. ist im Bereich des § 32 ein schuldhaftes Angriffsverhalten<br />
keine Voraussetzung des Rechtfertigungsgrundes - Notwehr<br />
oder Nothilfe gegen Geisteskranke ist möglich.<br />
145 § 32: "Gegenwärtigkeit"<br />
a) Ob ein gegenwärtiger Angriff i.S.d. § 32 vorliegt, richtet sich nach<br />
der objektiven Sachlage zur Zeit der Tat, nicht nach der Vorstellung<br />
dessen, der sich bedroht fühlt oder andere für bedroht<br />
hält.<br />
b) Präventivmaßnahmen gegen künftige, noch nicht gegenwärtige<br />
Angriffe sind nicht durch § 32 gedeckt; denkbar ist hier eine<br />
Rechtfertigung nach § 34 (vgl. o.), sofern die vorbeugende Abwehr<br />
die Grenzen der Verhältnismäßigkeit wahrt und schwere<br />
Verletzungen des Betroffenen vermeidet. Voraussetzung ist aber<br />
stets,<br />
• dass andere Abhilfe nicht möglich ist und<br />
• die spätere Notwehrhandlung keinen Erfolg verspricht oder den Angreifer<br />
wesentlich härter treffen würde!<br />
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c) Weitere Probleme<br />
υ<br />
Problem 1: Vorbereitende Notwehr (z.B. Selbstschussanlage zur Abwehr<br />
von Dieben)<br />
§ 32 grds. denkbar (u. U. sind Erforderlichkeit oder Gebotensein zu<br />
verneinen!); § 32 in jedem Fall (-), wenn durch vorbereitende Maßnahme<br />
ein unbeteiligter Dritter verletzt wird (Joecks, § 32, RN 38 f.)<br />
υ<br />
Problem 2: „Rüstung für Angriff“/„Abwehrprovokation“ – „immer ein<br />
Messer dabei“: Beschränkung des Notwehrrechts unterhalb des für<br />
Provokationsfälle – dazu s. u. - geltenden Niveaus (Küper, JA 2001,<br />
440)<br />
υ Problem 3: Präventive Notwehr (dazu Joecks, § 32, RN 40-42)<br />
Zum <strong>Teil</strong> wird vertreten, dass § 32 auch das Stadium der Vorbereitung<br />
des Angriffes erfasse, nach h.M. kann aber grds. nur über § 34 zu einer<br />
Rechtfertigung gelangt werden.<br />
146 § 32: "<strong>Rechtswidrigkeit</strong>"<br />
Die h.M. lässt zur Bejahung der <strong>Rechtswidrigkeit</strong> des Angriffs<br />
den bevorstehenden Eintritt einer Rechtsgutsverletzung in Gestalt<br />
des Erfolgsunwertes genügen - nach der Gegenauffassung<br />
soll es maßgeblich auf den Handlungsunwert ankommen, so<br />
dass nach dieser Ansicht zumindest ein objektiv sorgfaltspflichtwidriges<br />
Verhalten zu verlangen ist. Mithin kommt nach der Minderauffassung<br />
nur Notstand (§ 34), nicht aber Notwehr (§ 32) in<br />
Betracht, wenn beispielsweise ein PKW-Fahrer trotz Einhaltung<br />
der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt andere Personen zu verletzen<br />
droht (Beispiel nach W/B, AT, RN 331).<br />
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147 § 32: "Notwehrfähigkeit" (Beispiele)<br />
(+) bzgl. Hausfrieden und geordnetem Zusammenleben von Hausbewohnern<br />
einer Wohngemeinschaft;<br />
(-) bzgl. Abwehr von Angriffen auf die öffentliche Ordnung oder die<br />
Rechtsordnung als solche<br />
148 § 32: Notwehrhandlung (Grundsätze)<br />
a) Die Verteidigung darf sich nur gegen den Angreifer, nicht gegen<br />
Dritte wenden.<br />
b) Art und Maß der Verteidigung richten sich nach<br />
• der Stärke des Angriffs,<br />
• der Gefährlichkeit des Angreifers und nach<br />
• den zur Verfügung stehenden Abwehrmitteln.<br />
c) Sozialethisch begründete Einschränkungen unter dem Blickwinkel<br />
der Angemessenheit und des "Gebotenseins" der Abwehrmaßnahme<br />
kommen nur in besonderen Ausnahmefällen in<br />
Betracht (s. weiter u. RN 150).<br />
d) Aufdrängen von Nothilfe ist grundsätzlich nicht zulässig.<br />
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Lernprogramm Strafrecht <strong>10.</strong> <strong>Teil</strong><br />
236<br />
____________________________________________________<br />
149 § 32: "Erforderlichkeit"<br />
a) Es ist grundsätzlich das mildeste Gegenmittel zu wählen:<br />
BGH NStZ 1996, 29 f.: Der Verteidigende hat, wenn ihm mehrere<br />
wirksame Mittel oder Einsatzmöglichkeiten eines Mittels zur Verfügung<br />
stehen und er Zeit zur Auswahl und zur Einschätzung der Gefährlichkeit<br />
hat, dasjenige Mittel zu wählen, das dem Angreifer am wenigsten<br />
gefährlich ist. Deshalb ist von ihm, wenn der Angreifer selbst unbewaffnet<br />
und ihm die Existenz einer Waffe beim Täter unbekannt ist,<br />
je nach Kampflage regelmäßig zu verlangen, dass er die Verwendung<br />
der Waffe androht, ehe er sie lebensgefährlich einsetzt.<br />
BGH NStZ 1998, 508: Ob die Verteidigungshandlung erforderlich ist,<br />
hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Dabei darf<br />
sich der Angegriffene grds. des Abwehrmittels bedienen, das er zur<br />
Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr<br />
erwarten lässt. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht<br />
sich der Angegriffene nicht einzulassen (s. auch BGH NStZ 2000,<br />
365).<br />
BGH NStZ-RR 1999, 40, 41 [zur Verteidigung unter lebensgefährlichem<br />
Einsatz eins Messers]: Ob die Verteidigungshandlung i.S.d. § 32<br />
II erforderlich ist oder nicht, hängt im Wesentlichen von Art und Maß<br />
des Angriffs ab. Dabei darf sich der Angegriffene grundsätzlich des<br />
Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige<br />
und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Das schließt<br />
auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel ein. Zwar kann dies nur in<br />
Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf nur das letzte Mittel der<br />
Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf die Anwendung<br />
weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen,<br />
wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf<br />
mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen (s. auch<br />
BGH NStZ 2002, 140).<br />
b) Ein gezielter tödlicher Schuss kann nur letztes Mittel sein:<br />
BGH NStZ 1989, 230 [zum Schusswaffengebrauch eines Vollzugsbeamten<br />
gegenüber einem auf einem Motorrad Flüchtenden]: Der Beamte<br />
muss vor dem Einsatz der Schusswaffe die in der jeweiligen Situation<br />
auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit<br />
und der körperlichen Unversehrtheit des Fliehenden unter sorgfältiger<br />
Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abwägen.<br />
Je gefährlicher der Schuss ist, desto höher muss die Gefahr<br />
sein, deren Abwehr er begegnen soll.<br />
BGH NStZ 1989, 474: Grundsätzlich darf der Angegriffene das für ihn<br />
erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige<br />
Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Dem lebensgefährlichen Einsatz<br />
einer Schusswaffe sind allerdings Grenzen gesetzt. Er ist zwar<br />
nicht von vornherein verboten, darf aber nur das letzte Mittel der Verteidigung<br />
sein. Das Notwehrrecht des Angreifers ist eingeschränkt,<br />
wenn er selbst durch ein ihm von Rechts wegen vorwerfbares Verhalten<br />
zu der für ihn entstandenen Notwehrlage beigetragen hat.<br />
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237<br />
____________________________________________________<br />
BGH NStZ 1994, 538: Zwar darf ein Notwehrberechtigter grundsätzlich<br />
das für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und<br />
endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Dies gilt auch für die<br />
Verwendung einer Schusswaffe, die ohne Erlaubnis geführt wird;<br />
gleichwohl sind dem lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe<br />
Grenzen gesetzt. Es kann nur das letzte Mittel der Verteidigung sein.<br />
BGH NStZ 1994, 582 [Notwehr mittels eines Messers - vgl. auch o.<br />
BGH NStZ-RR 1999, 40, 41]: Grundsätzlich darf der Angegriffene das<br />
für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige<br />
Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Allerdings kann gegen<br />
einen unbewaffnet vorgehenden Gegner der Einsatz eines lebensgefährlichen<br />
Werkzeugs [hier Messer] nur in Ausnahmefällen und nur das<br />
letzte Mittel zur Verteidigung sein. Häufig reicht gegen unbewaffnete<br />
Angreifer die Drohung mit der lebensgefährlichen Waffe aus. Deshalb<br />
ist es, wenn dem Angreifer die Existenz der lebensgefährlichen Waffe<br />
bis dahin unbekannt war, je nach Kampflage vom Verteidiger regelmäßig<br />
zu verlangen, dass er die Verwendung der Waffe androht, ehe er<br />
sie lebensgefährlich einsetzt [der BGH bejaht im konkreten Fall die Erforderlichkeit<br />
mit Hinweis auf das unterschiedliche Kräfteverhältnis<br />
zwischen Angreifer und Verteidiger und der Gefahr einer massiven<br />
Steigerung der Gefährdung des Verteidigers im Falle der vorherigen<br />
Drohung].<br />
BGH, Urt. v. 30.06.2004, Az.: 2 StR 82/04: Zur Entbehrlichkeit der<br />
Abgabe eines Warnschusses im Einzelfall bei einem Angriff auf einen<br />
Polizisten; zugleich verweist der BGH darauf, dass der fahrlässig herbeigeführte<br />
(Todes-)Erfolg von der Rechtfertigung mit umfasst werde.<br />
S. auch u. RN 152!<br />
c) Auf das Risiko einer unzureichenden Abwehrhandlung und<br />
des Eintritts eines mehr als nur belanglosen Schadens an seinen<br />
Rechtsgütern braucht sich der Angegriffene nicht einzulassen.<br />
d) In Zweifelsfällen gilt zugunsten des Angegriffenen der Grundsatz<br />
in dubio pro reo.<br />
e) Ungewollte Auswirkungen wegen typischer Gefährlichkeit des<br />
Abwehrmittels hindern die Rechtmäßigkeit nicht.<br />
f) Es handelt sich bei der Beurteilung der Erforderlichkeit um eine<br />
ex-ante-Betrachtung objektiver Natur.<br />
g) Es ist keine Güterproportionalität notwendig („das Recht<br />
braucht dem Unrecht nicht zu weichen“; gegebenenfalls Korrektur<br />
über das Merkmal „geboten“, dazu nachfolgend RN 150).<br />
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150 § 32: "Gebotensein"<br />
a) Sozialethische Einschränkungen der Notwehr (Fallgruppen)<br />
aa)<br />
bb)<br />
Abwehr steht in einem krassen Missverhältnis zum drohenden<br />
Schaden (Fall des Rechtsmissbrauchs) - Arg.: Schutzprinzip und<br />
Rechtsbewährungsgedanke (s.o. RN 142) werden nicht berührt -<br />
u.U. § 17 prüfen!<br />
Wenn dem Angegriffenen aus besonderen Gründen anstelle rigoroser<br />
Trutzwehr ein anderes Verhalten ohne Preisgabe berechtigter<br />
Interessen zuzumuten ist und die Rechtsordnung der<br />
Bewährung durch ein nachdrückliches Niederschlagen des Angriffs<br />
nicht bedarf (kein Verstoß gegen Art. 103 II GG - str.); u.U.<br />
von defensiver Schutzwehr zur zurückschlagenden Trutzwehr<br />
als ultima ratio - möglichst Schonung des Angreifers (insbesondere<br />
bei Angriffen von Kindern, ersichtlich Irrenden usw).<br />
BayObLG NStZ-RR 1999, 9: Bei Proportionalität von Angriffs- und<br />
Verteidigungsmittel und einer Alkoholisierung des Angreifers unterhalb<br />
der Grenze der verminderten Zurechnungsfähigkeit kommt die Annahme<br />
einer Überschreitung des Notwehrrechts nur in Ausnahmefällen<br />
in Betracht.<br />
cc)<br />
Sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts auch unter<br />
Personen mit engen familienrechtlichen Beziehungen (Garantenstellung!).<br />
b) Grds. kein Schutz bei Notwehrprovokation (h.M.) - in Wirklichkeit<br />
ist der Angegriffene der Angreifer – dazu weiter nachfolgend<br />
d).<br />
c) Bei sonst vorwerfbaren Verhaltensweisen: Pflicht, tunlichst<br />
auszuweichen - bis zur Grenze des noch Zumutbaren Beschränkung<br />
auf defensive Verteidigungshandlungen!<br />
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239<br />
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d) Übersicht provozierter Angriff:<br />
Übersicht provozierter Angriff<br />
(vgl. S/S-Lenckner/Perron, § 32, RN 55 ff.)<br />
Absichtsprovokation<br />
Auf andere Weise verschuldeter<br />
Angriff<br />
Ergebnis: Rechtfertigung grds.<br />
(-)<br />
Schutzwehr vor Trutzwehr<br />
Ausweichen unmöglich/erhebliche Risiken - Verweis<br />
auf milderes, weniger sicheres Mittel<br />
Ausweichen ist möglich/es besteht die Möglichkeit,<br />
den Angriff gegenstandslos zu machen - § 32 (-) wg.<br />
Rechtsmissbrauchs<br />
BGH NStZ-RR 1997, 194 [fahrlässige Notwehrprovokation]: Hat ein<br />
Täter den Angriff auf sich zumindest leichtfertig verursacht, so darf er<br />
nicht ohne weiteres von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen, er<br />
darf insbes. nicht sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er<br />
muss dem Angriff ausweichen und soweit dies nicht mögl. ist, sich zunächst<br />
mit milderen Abwehrhandlungen begnügen, bevor er ein u.U.<br />
lebensgefährliches Mittel zur Anwendung bringt.<br />
BGH NStZ 2001, 143: Wer durch ein rechtswidriges Vorverhalten die<br />
Gefahr einer tätlichen Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang<br />
herbeigeführt hat, kann auch dann wegen fahrlässiger Tötung bestraft<br />
werden, wenn er den zum Tode führenden Schuss in Notwehr abgibt<br />
(dazu nachfolgend – Stichworte actio illicita in causa).<br />
BGH NStZ-RR 1996, 130 [Notwehrprovokation]: Bei schuldhafter Provokation<br />
eines Angriffs hängt die Einschränkung des Notwehrrechts<br />
davon ab, ob der Täter dem Angriff ausweichen kann oder ob er über<br />
ein Ausweichen zum Einsatz eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels<br />
gelangen kann. Ist das nicht mögl., so ist ihm auch bei<br />
verschuldeter Angriffsprovokation die Ausübung des Notwehrrechts<br />
grundsätzlich gestattet.<br />
BGH NStZ 1996, 380 ["Jamba" - Einschränkung der Notwehr in einem<br />
Fall sozialethisch zu beanstandenden Vorverhaltens]: Ein für den<br />
Umfang des Notwehrrechts bedeutsames Vorverhalten, das "von<br />
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240<br />
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Rechts wegen vorwerfbar" ist, liegt auch dann vor, wenn dieses Vorverhalten<br />
seinem Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt.<br />
BGH NStZ 2002, 425: Allein aus dem Umstand, dass der Angegriffene<br />
seine Lage (mit-)verschuldet hat, lässt sich keine allgemeine Aussage<br />
ableiten, in welchem Maße er sich im Vergleich zu einem schuldlos in<br />
eine Notwehrsituation geratenen bei der Abwehr des Angriffs zurückzuhalten<br />
hat. Dies hängt vielmehr von den Umständen des konkreten<br />
Einzelfalles ab. Je schwerer einerseits die rechtswidrige und vorwerfbare<br />
Verursachung der Notwehrlage durch den Angegriffenen wiegt,<br />
um so mehr Zurückhaltung ist ihm bei der Abwehr zuzumuten; andererseits<br />
sind die Beschränkungen des Notwehrrechts umso geringer, je<br />
schwerer das durch den Angriff drohende Übel einzustufen ist.<br />
Exkurs: Actio illicita in causa<br />
A. Allgemeines<br />
Mit der Rechtsfigur der a.i.i.c. versucht eine Mindermeinung die strafrechtliche<br />
Verantwortlichkeit dessen zu begründen, der in vorwerfbarer Weise eine Notwehr-<br />
oder Notstandslage herbeigeführt hat (Schaffung der Rechtfertigungslage<br />
bereits als möglicher Beginn der Tatbestandsverwirklichung – sowohl<br />
vorsätzlich wie auch fahrlässig möglich). Unterschied zur a.l.i.c. liegt in der<br />
Zwangsläufigkeit des weiteren Geschehens. Die a.i.i.c. soll nicht zulässig sein<br />
bei Taten mit einer speziellen „Handlungstypisierung“; bei reinen Erfolgsdelikten<br />
auch nur dann, wenn der durch die Provokation verursachte Erfolg nach<br />
allgemeinen Grundsätzen zurechenbar ist (S/S-Lenckner, Vorbem §§ 32 ff.,<br />
RN 23).<br />
Die Gegenauffassung verweist darauf, dass derjenige, der in einer schuldhaft<br />
herbeigeführten Notwehrlage zulässigerweise Trutzwehr übt, auch nicht auf<br />
Grund des Vorverhaltens wegen fahrlässiger Tat bestraft werden kann.<br />
υ Merke: Die sog. actio illicita in causa knüpft ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit<br />
der eigentlichen Verteidigungshandlung an die vorausgegangene<br />
Provokation an (Abstellen auf die „pflichtwidrige Schaffung der Kollisionslage“,<br />
vgl. S/S-Lenckner, a.a.O.). Die Gegenauffassung (u.a. BGH NJW 1983, 2267,<br />
NStZ 1989, 113 und h.L.) verweist v.a. auf den fehlenden Zurechnungszusammenhang<br />
(s. Eisele, NStZ 2001, 416, 417).<br />
BGH NStZ 2001, 143: „Wer durch ein rechtswidriges Vorverhalten die Gefahr<br />
einer Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang herbeigeführt hat, kann<br />
auch dann wegen fahrlässiger Tötung bestraft werden, wenn er den zum Tode<br />
führenden Schuss in Notwehr abgibt“.<br />
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241<br />
____________________________________________________<br />
Nach Einschätzung von Eisele, a.a.O., S. 416 ergibt sich aus der zuletzt zitierten<br />
Auffassung kein Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des<br />
BGH, da im konkreten Fall zwischen zwei unterschiedlichen Angriffsakten des<br />
Täters zu unterscheiden sei (bitte nachlesen!).<br />
B. Beispiel für Prüfungsabfolge (nach BGH, a.a.O.)<br />
I. § 212 I (-) wegen fehlenden Vorsatzes; i.Ü. (-) wegen Notwehr nach § 32<br />
(hier Probleme der Notwehrprovokation und etwaig sonstige Probleme von<br />
§ 32 erörtern)<br />
II. § 227 (-) wegen § 32 (vgl. o. I.)<br />
Anm.: a.i.i.c. scheidet schon wegen des Charakters des erfolgsqualifizierten<br />
Delikts aus (Verursachung der schweren Folge muss spezifische Gefahr des<br />
Grunddelikts sein – hier für pflichtwidrige Herbeiführung der Notwehrlage zu<br />
verneinen)<br />
III. §§ 227, 22, 23 I (-) jedenfalls mangels Unmittelbarkeitszusammenhangs<br />
(i.Ü. ist schon der Versuch bei § 227 an sich umstr.)<br />
IV. §§ 212, 22, 23 I (-) – Problem Tatentschluss<br />
V. §§ 226, 22, 23 I (+) – für den Versuch der Tatbestandsverwirklichung reicht<br />
aus, das der mit Vorsatz hinsichtlich der schweren Folge Handelnde die Ausführung<br />
der Körperverletzung begonnen hat (hier: dauernde Gebrauchsunfähigkeit<br />
eines wichtigen Körpergliedes als schwere Folge); die Gegenauffassung<br />
(Eisele, a.a.O., S. 418) sieht in der Körperverletzung (Faustschlag) noch<br />
kein unmittelbares Ansetzen zu § 226 (insoweit nur § 30 II i.V.m. § 226 I Nr. 2,<br />
II; § 223 I, II)<br />
VI. § 222 (+) – für den Fahrlässigkeitsvorwurf ist auf ein vor der gerechtfertigten<br />
Handlung liegendes rechtswidriges Verhalten abzustellen (Ursachenzusammenhang<br />
zwischen dem Locken in einsame Gegend sowie Beginn der<br />
Körperverletzung und dem späteren Tod wird nicht durch neu eintretende<br />
Umstände – Erwehren des Opfers mit anschließender Notwehrsituation für<br />
Angreifer – unterbrochen); Gegenauffassung verweist auf fehlende Zurechenbarkeit<br />
wegen eigenverantwortlichen Handelns des Angreifers (Eisele, a.a.O.,<br />
S. 417)<br />
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242<br />
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e) Sonderfall: Opfer weiß von bevorstehenden Angriff, wartet aber<br />
solange, bis es sich nur noch mit einer Pistole verteidigen kann -<br />
h.M.: Opfer darf sich entscheiden, wann es beginnt, sich zu verteidigen.<br />
151 § 32: Grenzen der Notwehr (Zusammenfassung)<br />
Zusammenfassung: Grenzen der Notwehr<br />
1. Ebene der Erforderlichkeit<br />
2. Bagatellangriffe<br />
3. Gebotensein<br />
a) Krasses Missverhältnis zwischen geschütztem Rechtsgut und bedrohtem<br />
Rechtsgut (Apfelbaumfall).<br />
b) Angriff geht von bestimmten Personen aus:<br />
(1) Kinder<br />
(2) Geisteskranke<br />
(3) Betrunkene<br />
(4) Schuldlos Irrende<br />
c) Eheliche/quasieheliche Lebensgemeinschaft<br />
d) Notwehrlage wurde vom Täter verschuldet (erst Schutz-, dann<br />
Trutzwehr)<br />
4. Notwehrprovokation (Absichtsprovokation) – s. nachfolgend Achtung<br />
1 und 2!<br />
υ Achtung 1: Bei bewusster oder unbewusster Überschreitung der<br />
Grenzen der Notwehr, ist die <strong>Rechtswidrigkeit</strong> des Handelns zu bejahen,<br />
es ist jedoch § 33 (Entschuldigungsgrund) zu prüfen.<br />
υ Achtung 2: Im Falle der Putativnotwehr (= Abwehr eines vermeintlichen<br />
Angriffs), bleibt es nach ganz h.M. ebenfalls bei der <strong>Rechtswidrigkeit</strong><br />
des Handelns - dies führt zu den Irrtumsregeln (Erlaubnistatbestandsirrtum).<br />
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243<br />
____________________________________________________<br />
152 § 32: Rechtsprechung<br />
υ Lernhinweis: Die Rechtsprechung zu § 32 ist unüberschaubar.<br />
"Rechtsprechung" heißt daher hier, dass sich das Lernprogramm auf<br />
examenstypische Themenfelder konzentriert.<br />
BGH NStZ 1988, 450 [Notwehreinschränkung bei provoziertem Angriff<br />
- keine Absichtsprovokation]: Zwar darf ein Täter, der leichtfertig einen<br />
Angriff auf sich provoziert hat, auch wenn er ihn nicht in Rechnung gestellt<br />
haben sollte oder gar beabsichtigt hat, nicht bedenkenlos von<br />
seinem Notwehrrecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches<br />
Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach<br />
Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen<br />
Waffe erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten<br />
der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit<br />
nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt. Kann der<br />
Täter dem Angriff aber nicht ausweichen oder auch nicht über ein Ausweichen<br />
zum Einsatz eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels<br />
gelangen, so liegt auch im Fall der verschuldeten Provokation eine<br />
rechtsmissbräuchliche Verteidigung nicht vor.<br />
BGH NStZ-RR 1996, 130 - [Notwehrprovokation]: Bei schuldhafter<br />
Provokation eines Angriffs hängt die Einschränkung des Notwehrrechts<br />
davon ab, ob der Täter dem Angriff ausweichen kann oder ob er über<br />
ein Ausweichen zum Einsatz eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels<br />
gelangen kann. Ist das nicht möglich, so ist ihm auch bei<br />
verschuldeter Angriffsprovokation die Ausübung des Notwehrrechts in<br />
dem auch sonst zulässigen Rahmen grundsätzlich gestattet.<br />
BGH NStZ 1994, 277, 278 [zur Einschränkung des Notwehrrechts bei<br />
einem bedingt vorsätzlich herbeigeführten Schusswechsel]: Der BGH<br />
hält daran fest, dass die rechtswidrige und schuldhafte, auch vorsätzliche<br />
Provokation der Notwehrlage dem Betroffenen das Notwehrrecht<br />
nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt nimmt. Doch werden<br />
an den Täter, der sich auf Notwehr berufen will, um so höhere Anforderungen<br />
im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt,<br />
je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der<br />
Notwehrlage wiegt. Wer unter erschwerenden Umständen die Notwehrlage<br />
provoziert hat, muss unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende<br />
Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen,<br />
dass ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen<br />
hat.<br />
BGH NStZ-RR 1997, 194: Hat ein Täter den Angriff auf sich zumindest<br />
leichtfertig verursacht, so darf er nicht ohne weiteres von seinem Notwehrrecht<br />
Gebrauch machen, er darf insbesondere nicht sofort ein lebensgefährliches<br />
Mittel einsetzen. Er muss dem Angriff ausweichen<br />
und soweit dies nicht möglich ist, sich zunächst mit milderen Abwehrhandlungen<br />
begnügen, bevor er ein unter Umständen lebensgefährliches<br />
Mittel zur Anwendung bringt.<br />
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244<br />
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BGH NStZ 2001, 143: Wer durch ein rechtswidriges Vorverhalten die<br />
Gefahr einer tätlichen Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang herbeigeführt<br />
hat, kann auch dann wegen fahrlässiger Tötung bestraft<br />
werden, wenn er den zum Tode führenden Schuss in Notwehr abgibt.<br />
OLG Stuttgart NJW 1992, 850 [Notwehr bei einverständlicher<br />
Schlägerei]: Hatte sich der A zu einer Schlägerei bereitgefunden, kann<br />
er sich nicht auf Notwehr berufen. Bei einer einverständlichen Prügelei,<br />
in der sich Angriff und Abwehrhandlungen aneinander reihen, sind beide<br />
Seiten gleichermaßen Angreifer und Verteidiger und können sich<br />
deshalb nicht auf Notwehr berufen. Hinsichtlich eines möglicherweise<br />
fehlenden Verteidigungswillens stellt das OLG, a.a.O., fest: "Jedenfalls<br />
reicht aus, dass der Täter auch aus dem Motiv heraus agiert, nicht<br />
selbst verprügelt zu werden, mögen andere Motive wie Wut, Hass und<br />
Kampfeseifer hinzutreten.<br />
BGH NStZ 1990, 435: Wer bei einer einverständlichen Prügelei, in<br />
deren Verlauf sich beiderseits Angriffe und Abwehrhandlungen aneinander<br />
reihen, zu unterliegen droht, daraufhin zum Messer greift und<br />
auf den Gegner einsticht, handelt nicht in Notwehr.<br />
υ Beachte: Bei einer einverständlichen Schlägerei fehlt es an einer<br />
Notwehrlage, wenn der Angriff durch Einwilligung gerechtfertigt ist.<br />
Darüber hinaus kann es an einer Verteidigung i.S.d. § 32 II bzw. am<br />
Verteidigungswillen fehlen. Schließlich ist die Gebotenheit der Verteidigung<br />
infolge vorwerfbar herbeigeführter Notwehrlage problematisch<br />
(erst Schutz-, dann Trutzwehr).<br />
LG München NJW 1988, 1860 [Schusswaffengebrauch gegenüber<br />
flüchtendem Dieb] - die Entscheidung bitte nachlesen!<br />
BGH NStZ 1996, 29 f.: Allerdings hat der Verteidigende, wenn ihm<br />
mehrere wirksame Mittel oder Einsatzmöglichkeiten eines Mittels zur<br />
Verfügung stehen und er Zeit zur Auswahl und zur Einschätzung der<br />
Gefährlichkeit hat, dasjenige Mittel zu wählen, das dem Angreifer am<br />
wenigsten gefährlich ist. Deshalb ist von ihm, wenn der Angreifer<br />
selbst unbewaffnet und ihm die Existenz einer Waffe beim Täter unbekannt<br />
ist, je nach Kampflage regelmäßig zu verlangen, dass er die<br />
Verwendung der Waffe androht, ehe er sie lebensgefährlich einsetzt.<br />
Eine Tat kann auch dann durch Notwehr gerechtfertigt sein, wenn der<br />
Täter neben der Abwehr noch andere Ziele verfolgt, solange sie den<br />
Verteidigungszweck nicht völlig in den Hintergrund drängen; dies gilt<br />
auch dann, wenn Wut bei der Tat eine Rolle spielt.<br />
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245<br />
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S. zum Abschluss auch BGH NJW 2003, 1955: Die Entscheidung betrifft<br />
zahlreiche Einzelfragen zur Notwehr. So macht der BGH darauf<br />
aufmerksam, dass die Notwehr nicht darauf beschränkt ist, die Verwirklichung<br />
der gesetzlichen Merkmale des Tatbestands abzuwenden;<br />
sie sei zum Schutz gegen jeden Angriff auf ein bestimmtes Rechtsgut<br />
zugelassen. Dieser Angriff könne trotz Vollendung des Delikts noch<br />
fortdauern und deshalb noch gegenwärtig sein, solange die Gefahr,<br />
die daraus für das bedrohte Rechtsgut erwächst, entweder doch noch<br />
abgewendet werden kann oder bis sie umgekehrt endgültig in den Verlust<br />
umgeschlagen ist. Nur im Falle des endgültigen Verlusts handele<br />
es sich etwa bei einem Angriff auf Eigentum und Besitz beweglicher<br />
Sachen für den Berechtigten nicht mehr um die Erhaltung der Sachherrschaft,<br />
sondern um deren Wiedererlangung, für die die Gewaltanwendung<br />
jedenfalls nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Notwehr<br />
zugelassen sei. Des Weiteren bestätigt der BGH seine bisherige<br />
Rechtsprechung, wonach der Angegriffene zur Schonung des rechtswidrig<br />
Angreifenden nicht ein Risiko, dass ein milderes Verteidigungsmittel<br />
fehlschlägt und dann keine Gelegenheit mehr für den Einsatz eines<br />
stärkeren Verteidigungsmittels bleibt, einzugehen braucht; auf einen<br />
Kampf mit ungewissem Ausgang müsse sich der Angegriffene<br />
nicht einlassen. Allerdings habe der Verteidigende grundsätzlich, wenn<br />
ihm mehrere wirksame Mittel zur Verfügung stehen und er Zeit zur<br />
Auswahl und zur Einschätzung der Gefährlichkeit hat, dasjenige Mittel<br />
zu wählen, das dem Angreifer am wenigsten gefährlich ist. Ist der Angreifer<br />
unbewaffnet und ihm die Bewaffnung des Verteidigers unbekannt,<br />
so ist je nach der Auseinandersetzungslage grundsätzlich zu<br />
verlangen, dass er den Einsatz der Waffe androht, ehe er sie lebensgefährlich<br />
oder gar gezielt tödlich einsetzt. Mit Blick auf den notwendigen<br />
Verteidigungswillen – die Vorinstanz hatte diesen mit Hinweis auf<br />
„Selbstjustiz“ verneint – macht der BGH noch einmal deutlich, dass<br />
hinzutretende andere Tatmotive den Verteidigungswillen nicht ausschließen;<br />
eine Rechtfertigung komme auch dann in Betracht, wenn<br />
neben der Abwehr eines Angriffs andere Ziele verfolgt werden, so lange<br />
sie den Verteidigungszweck nicht völlig in den Hintergrund drängen.<br />
Zur Frage der Einschränkung des Notwehrrechts wegen Vorliegens<br />
einer Provokation verweist der BGH auf das Erfordernis, wonach<br />
das Vorverhalten des Provokateurs rechtswidrig oder wenigstens sozialethisch<br />
zu missbilligen sein muss; zudem müsse zwischen der Provokation<br />
und dem anschließenden Angriff des Provozierten ein enger<br />
zeitlicher und räumlicher Zusammenhang bestehen.<br />
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246<br />
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153 Festnahmerechte<br />
a) § 127 StPO<br />
Problem: Genügt auch bei der Festnahme durch Privatpersonen<br />
(§ 127 I StPO) der dringende Tatverdacht (vgl. § 127 II<br />
StPO) oder ist die Festnahme nur zulässig, wenn wirklich eine<br />
Straftat begangen wurde?<br />
• BGH NJW 1981, 745 (Zivilsenat) und wohl h.L.: Ja - Arg. u.a.:<br />
Der Private nimmt Aufgaben der öffentlichen Hand wahr, vgl.<br />
§ 127 II StPO)<br />
OLG Hamm NStZ 1998, 370: Für das Merkmal "auf frischer Tat betroffen"<br />
in § 127 I StPO reicht es aus, wenn die Zusammenschau aller erkennbaren<br />
äußeren Umstände im Tatzeitpunkt nach der Lebenserfahrung<br />
im Urteil des Festnehmenden ohne vernünftige Zweifel den<br />
Schluss auf ein rechtswidrige Tat zulässt.<br />
• a.A.: Es bedarf stets einer tatsächlich begangenen Straftat<br />
(Verweis auf Erlaubnistatbestandsirrtum!).<br />
S. auch BGHSt 45, 378 [„Schwitzkasten“]: § 127 I 1 StPO gilt unabhängig<br />
von der Gewichtigkeit der Tat und vom Wert der Beute bei allen<br />
Verbrechen oder Vergehen. Allerdings muss das angewendete Mittel<br />
zum Festnahmezweck in einem angemessenen Verhältnis stehen. Unzulässig<br />
ist es daher regelmäßig, die Flucht eines Straftäters durch<br />
Handlungen zu verhindern, die zu einer ernsthaften Beschädigung seiner<br />
Gesundheit oder zu einer unmittelbaren Gefährdung seines Lebens<br />
führen. Derartige Handlungen können dem Festnehmenden unter<br />
Umständen jedoch durch das Recht zur Notwehr erlaubt sein. Ein etwaig<br />
vorliegender Erlaubnistatbestandsirrtum ist wie ein den Vorsatz<br />
ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 I 1 zu bewerten.<br />
Das Festnahmerecht nach § 127 StPO rechtfertigt bei einer Festnahme<br />
zum Zwecke der Zuführung des Festgenommenen zu seiner Strafverfolgung<br />
nicht nur die mit der Festnahme regelmäßig verbundene<br />
Nötigung nach § 240 und Freiheitsberaubung nach § 239, sondern<br />
auch leichte Körperverletzungen, sofern der Einsatz des Mittels der<br />
Festnahme verhältnismäßig zum Festnahmezweck ist [eine sehr wichtige<br />
Entscheidung, falls nicht bekannt, bitte nachlesen!].<br />
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BGHSt 45, 378 - Kurzzusammenfassung<br />
" § 127 I 1 StPO gilt bei allen Verbrechen und Vergehen<br />
" Angewendetes Mittel muss zum Festnahmezweck in angemessenem<br />
Verhältnis stehen<br />
" § 127 I StPO rechtfertigt auch leichte Körperverletzungen, sofern<br />
der Einsatz des Mittels verhältnismäßig zum Festnahmezweck<br />
ist.<br />
" U.U. Notwehr nach § 32<br />
" U.U. Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
b) § 164 StPO (Störung von Amtshandlungen) - v.a. bei der Durchsuchung,<br />
Beschlagnahme, Einnahme des Augenscheins usw.<br />
c) § 229 i.V.m. § 230 BGB i.V.m. §§ 916, 918 ZPO (Selbsthilfe unter<br />
den Voraussetzungen des persönlichen Sicherheitsarrests)<br />
154 Rechtfertigungsgründe bei Fahrlässigkeitsdelikten<br />
Prüfungsvorgehen:<br />
a) 1. Schritt: Hypothese: Was wäre, wenn der Täter vorsätzlich gehandelt<br />
hätte?<br />
b) 2. Schritt: Wenn die Vorsatztat gerechtfertigt wäre, dann kann im<br />
Wege eines Erst-Recht-Schlusses auch auf die Rechtfertigung<br />
der Fahrlässigkeitstat geschlossen werden!<br />
u.U.:<br />
c) 3. Schritt: Wenn die Gegenprobe nicht aufgeht, ist die Gefahrenträchtigkeit<br />
des Verteidigungsmittels zu überprüfen:<br />
• Wenn das Risiko des Verteidigungsmittels in vorwerfbarer Weise nicht<br />
gemildert worden ist, bleibt der Täter wegen des Fahrlässigkeitsdelikts<br />
strafbar (z.B. Zuschlagen mit einer nicht gesicherten Pistole).<br />
• Wenn die Gefahrenträchtigkeit des Verteidigungsmittels zulässigerweise<br />
hingenommen werden durfte, ist die Tat gerechtfertigt (z.B. Zuschlagen<br />
mit einer gesicherten Pistole, aus der sich gleichwohl ein<br />
Schuss löst).<br />
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155 Einverständnis und Einwilligung<br />
a) Tatbestandsausschließendes Einverständnis - dieses kommt<br />
bei allen Tathandlungen in Betracht, deren deliktischer Charakter<br />
gerade darauf beruht, dass sie gegen den Willen oder ohne<br />
Zustimmung des Betroffenen vorgenommen werden (z.B.<br />
§§ 239, 240, 249, 252, 253, 255, 248 b, 123, 242).<br />
aa)<br />
bb)<br />
Wirksamkeit des tatbestandsausschließenden Einverständnisses:<br />
Grds. (+) bei faktischem, d.h. rein tatsächlichem Vorhandensein<br />
im Zeitpunkt der Tatbegehung.<br />
Einzelheiten<br />
• Es reicht natürliche Willensfähigkeit des Betroffenen.<br />
• Entscheidend ist die Tatsache des Vorliegens des Einverständnisses<br />
bei Beginn der Tatausführung.<br />
• Irrtum über das Vorliegen des Einverständnisses führt zu § 16 I 1.<br />
• Auch bei Willensmängeln ist das Einverständnis beachtlich.<br />
b) Rechtfertigende Einwilligung als Verzicht auf Rechtsschutz:<br />
Bedeutung als Rechtfertigungsgrund - Wirksamkeit beurteilt sich<br />
hier nach der Verstandesreife des Einwilligenden; etwaige Willensmängel<br />
führen zur Unwirksamkeit der Einwilligung.<br />
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aa)<br />
Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung (Prüfschema<br />
25)<br />
Prüfschema 25: Rechtfertigende Einwilligung<br />
(1) Rechtliche Zulässigkeit des Verzichts (s. z.B. §§ 216, 228).<br />
(2) Der Einwilligende muss verfügungsberechtigt, d.h. alleiniger Träger<br />
des geschützten Interesses oder als Vertreter zur Disposition<br />
über das Rechtsgut befugt sein.<br />
(3) Der Zustimmende muss einwilligungsfähig, d.h. nach seiner geistigen<br />
und sittlichen Reife imstande sein, Bedeutung und Tragweite<br />
des Rechtsgutsverzichts zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen.<br />
Volle Geschäftsfähigkeit ist nicht erforderlich (str.).<br />
(4) Die Einwilligung darf nicht an wesentlichen Willensmängeln leiden<br />
(Bedeutung v.a. für die ärztliche Aufklärungspflicht).<br />
(5) Bei § 228 darf „die Tat" (nicht die Einwilligung selbst und deren<br />
Motive!) nicht gegen die guten Sitten verstoßen.<br />
(6) Die Einwilligung muss vor der Tat entweder ausdrücklich erklärt<br />
oder konkludent zum Ausdruck gebracht worden sein.<br />
(7) Subjektiv: Der Täter muss in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung<br />
gehandelt haben.<br />
OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325: Die Einwilligung der bei dem<br />
sog. Autosurfen auf dem Dach eines Pkw liegenden Person in die sich<br />
bei der Fahrt ergebende Gefährdung seiner körperlichen Unversehrtheit<br />
kann gegen die guten Sitten verstoßen und lässt dann die<br />
<strong>Rechtswidrigkeit</strong> der fahrlässigen Körperverletzung nach § 226 a a.F.<br />
(= § 228 n.F.) nicht entfallen [hier Sittenwidrigkeit bejaht - das gleiche<br />
gilt nach h.M. für das Sportlerdoping].<br />
BayObLG NJW 1999, 372: Erklärt ein 15jähriger die Einwilligung, sich<br />
von drei Jugendlichen zusammenschlagen zu lassen, so bedarf die<br />
Feststellung der Einwilligungsfähigkeit eingehender Prüfung. Von mehreren<br />
gemeinschaftlich und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung<br />
zugefügte Körperverletzungen als Voraussetzung für die Aufnahme<br />
in eine Jugendgang verstoßen trotz Einwilligung des Aufnahmebewerbers<br />
gegen die guten Sitten.<br />
BGH, Beschl. v. 26.03.2003, Az. 1 StR 549/02, [zur Frage der Einwilligung<br />
bei der Inbrandsetzung von Sachen einer juristischen Person]:<br />
Der BGH weist darauf hin, dass bei der Inbrandsetzung von Sachen juristischer<br />
Personen die Erteilung der Einwilligung demjenigen Verfügungsorgan<br />
obliegt, zu dessen Geschäftsbefugnissen die Verfügung<br />
über die Sachen gehört. Die Einwilligung sei allerdings dann unwirksam,<br />
wenn der Vertreter damit seine Vertretungsmacht offensichtlich<br />
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missbraucht; dies gelte auch dann, wenn die Beschränkung der Vertretungsmacht<br />
im Außenverhältnis unbeachtlich ist.<br />
bb)<br />
Beachte: Die Einwilligung kann ausdrücklich oder auch konkludent<br />
erteilt werden - bei rechtlich zulässiger, aber aus tatsächlichen<br />
Gründen fehlender Einwilligung bleibt auch Raum für<br />
eine sog. mutmaßliche Einwilligung - Fallgruppen:<br />
• Handeln im materiellen Interesse des Betroffenen - Bedeutung v.a.<br />
im Arztrecht: Entscheidend ist hier das Wahrscheinlichkeitsurteil über<br />
den wahren Willen des Rechtsgutsinhabers im Tatzeitpunkt; insoweit<br />
ausschlaggebend sind die individuellen Interessen, Bedürfnisse, Wünsche<br />
und Wertvorstellungen des Betroffenen; objektive Kriterien haben<br />
nur indizielle Bedeutung.<br />
• Prinzip des mangelnden Interesses - wo es an einem schutzwürdigen<br />
Erhaltungsinteresse des Betroffenen fehlt und bei Respektierung<br />
seiner persönlichen Einstellung nach den oben dargestellten<br />
Grundsätzen von seiner mutmaßlichen Einwilligung auszugehen ist.<br />
156 Das Züchtigungsrecht<br />
a) Grundsätze: Ob und inwieweit es ein Züchtigungsrecht geben<br />
kann, ist nicht zuletzt wegen der Änderung von § 1631 II BGB<br />
umstritten.<br />
• Die h.M. hat ein Züchtigungsrecht in bestimmten Grenzen (s. dazu<br />
nachfolgend Prüfungsschema 26) als Rechtfertigungsgrund anerkannt.<br />
• Im Zuge der genannten Gesetzesänderung von § 1631 II BGB (zum<br />
08.11.2000) mehren sich die Stimmen, die ein Züchtigungsrecht als<br />
Rechtfertigungsgrund ablehnen (z.B. Joecks, § 223, RN 19).<br />
• Die Gegenauffassung hält an der bisherigen Position der h.M. im<br />
Grundsatz fest. Argumentiert wird u.a. mit Hinweis auf Art. 6 GG: „Eine<br />
verfassungskonforme Auslegung des § 223 ist dadurch erzielbar, dass<br />
die maßvolle und im konkreten Fall angemessene körperliche Züchtigung<br />
der eigenen Kinder nicht als „üble unangemessene Behandlung“<br />
und somit nicht als körperliche Misshandlung eingestuft wird“ – W/B,<br />
AT, RN 387. Letzteres führt dazu, dass das Züchtigungsrecht nicht<br />
länger als Rechtfertigungsgrund wirkt, sondern vielmehr zu Korrekturen<br />
auf der Tatbestandsebene führt (W/B, a.a.O.).<br />
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• Für Lehrer wird ein Züchtigungsrecht heute ganz überwiegend –<br />
z.T. auch gesetzlich geregelt - abgelehnt.<br />
b) Voraussetzungen (Prüfschema 26 )<br />
Prüfschema 26: Voraussetzungen des Züchtigungsrechts<br />
(1) Züchtigung nur bei einem hinreichenden Züchtigungsanlass<br />
(2) Objektiv zur Erreichung des Erziehungszwecks geboten und<br />
(3) Subjektiv vom Erziehungsgedanken beherrscht.<br />
(4) Art und Maß der körperlichen Züchtigung müssen in einem angemessenen<br />
Verhältnis zur Verfehlung und zum Lebensalter des<br />
Kindes stehen, wobei dessen körperliche Verfassung und seelische<br />
Entwicklung in die Abwägung einzubeziehen sind. Mitschwingen<br />
von Zorn und Ärger ist unerheblich.<br />
c) Das Züchtigungsrecht als solches ist ebenso wie das Erziehungsrecht<br />
unübertragbar.<br />
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