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ZLB ZUKUNFTSWERKSTATT LINKE BILDUNGSPOLITIK - Die Linke

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Mehrzahl der Lehrenden und Lernenden meist klaglos (Ausnahme waren die Proteste gegen die<br />

Studiengebühren) erduldet, hingenommen, ertragen. Und rosig waren die Berufsaussichten der<br />

Universitätsabgänger schon längst nicht mehr. <strong>Die</strong> Universität vor Bologna war längst gescheitert, ehe<br />

sich die Politik fälschlicherweise als Retter aufspielen konnte, und es war - gerade unter uns<br />

Professoren - das Zusammenspiel von opportunistischem, bisweilen elitärem Wegschauen und auf<br />

kurzen Vorteil bedachtem strammem Modernisierungsstreben, das die Universität zu dem gemacht<br />

hat, was sie heute ist: zu einer höheren Berufsschule, einer „Kampfmaschine für den internationalen<br />

Wettbewerb“ eben. Angesichts des Bologna-Prozesses haben Lehrende und Lernende an der<br />

Universität versagt, ja ihr geduldiges Schweigen konnten Politiker als Ermutigung missverstehen.<br />

Reiser sieht das eigentlich. "<strong>Die</strong> Ungeheuerlichkeit der staatlichen Zumutungen an die Studierenden<br />

und Professoren", schreibt er, "wird nur noch übertroffen von der Bereitwilligkeit, mit der sich die<br />

Betroffenen alles gefallen lassen. Ohne diese Bereitwilligkeit der Betroffenen wäre die Umwandlung<br />

der Universität in eine Tretmühle und Lernfabrik gar nicht möglich. Widerstand? Demonstrationen?<br />

Boykott? Der berühmte ‚Aufschrei’? Nichts oder fast nichts von alledem. Man versichert mir von<br />

verschiedener Seite, gegen das Hochschulestablishment und die Bildungsbürokratie seien die<br />

Hochschullehrer praktisch machtlos. Leben wir denn in einer Diktatur? Nun können Hochschullehrer<br />

als Beamte nicht streiken. Und ihre persönliche Unabhängigkeit und Freiheit wird schon seit Jahren<br />

immer mehr beschnitten durch Drittmittelabhängigkeit, leistungsorientierte Besoldung und<br />

fragwürdige Evaluationen. Aber nicht einmal die immer noch gegebenen Möglichkeiten des<br />

Widerstands sind wirklich ausgeschöpft worden."<br />

Widerstand? Professoren und Widerstand? Es ist, und daran führt kein Weg der Erkenntnis vorbei,<br />

eben die Universität im Geiste und in der Tradition Humboldts gewesen - und jetzt komme ich zu<br />

einem gravierenden, ja dramatischen Einwand gegen den vorschnellen allzu blinden Rückgriff auf die<br />

Humboldtsche Tradition - die die deutschen Professoren in ihrer Mehrheit gesellschaftlich<br />

verantwortungslos und politisch korrumpierbar gemacht hat, zu Duldern, bisweilen zu Komplizen<br />

schließlich von Völkermord und Barbarei in der Zeit des Nationalsozialismus. Schon 1945, als das<br />

faschistische Deutschland, das einen Weltbrand verursacht und den "Zivilisationsbruch Auschwitz"<br />

(Dan Diner) zu verantworten hatte, selbst besiegt und in Trümmern gelegt war, hätte man, wenn man<br />

nur gewollt hätte, bilanzieren und innehalten können: Es war gerade die (scheinbare) Zweckferne<br />

"reinen“ wissenschaftlichen Strebens, die der politischen Instrumentalisierung Tür und Tor geöffnet<br />

hat. Ungefähr zwei Drittel der Professoren, mehr als in fast allen anderen Berufsgruppen, waren im<br />

Jahr 1945 Mitglied der der NSDAP, ein alles in allem eher noch harmloser Befund. Gravierender<br />

waren da die schrecklichen Gräueltaten, Menschenversuche und Euthanasie, Verbrechen einer<br />

„Medizin ohne Menschlichkeit“ (Alexander Mitscherlich), die Untaten von Ingenieuren und<br />

Managern, ihre Beihilfe zum Mord bei der Vernichtung durch Arbeit nicht nur in der<br />

Rüstungsforschung, die lange unterschätzte Volkstumsforschung, eine der Vorläuferinnen der<br />

bundesrepublikanischen Soziologie, die die Vertreibung und Vernichtung von Juden, Polen und<br />

anderen im Rücken der Ostfront akribisch wissenschaftlich vorbereitet und begleitet hat, ganz zu<br />

schweigen von den allenthalben wirkenden „furchtbaren Juristen“ (Rolf Hochhuth). Das und vieles<br />

andere fiel nach dem Kriegsende einer intellektuellen Amnesie anheim. Da ist es schon erstaunlich,<br />

wenn Reiser reichlich verharmlosend feststellt: "So vergingen 200 Jahre", offenbar, so muss man<br />

lesen, gute Jahre, bis das „Unwetter Bologna“ über die Universitäten hereinbrach.<br />

So mutig der Schritt von Reiser auch war, so konsequent er erscheinen mag, im beschwörenden<br />

Rückgriff auf das Humboldtsche Bildungsideal, der bei vielen, ja bei fast allen Bologna-Kritikern zu<br />

beobachten ist, steckt doppelte Ideologie. Solcher Rückgriff verklärt nicht nur die Universität der<br />

letzten fast 200 Jahre und der jüngsten zwei Jahrzehnte als voll und ganz gelungene, unbedingt<br />

erhaltenswerte Institution, er verkennt auch, das macht Ideologien eben aus, die gesellschaftliche<br />

Realität, er verdrängt die gesellschaftlichen Herausforderungen und Aufgaben von Wissenschaft und<br />

Universität in zweifacher Weise.<br />

Erstens: <strong>Die</strong> Studenten, die Studentinnen (die es ja trotz Aufklärung und neuhumanistischem<br />

Bildungsideal noch gar nicht so lange gibt, erst seit gut 100 Jahren), Studierende also, die sich über<br />

Jahre und ohne Zwang fast ausschließlich und leidenschaftlich dem puren Erkenntnisgewinn, der<br />

Wissenschaft, dem wissenschaftlichen Eros hingeben können und dann auch noch, wie<br />

selbstverständlich, einen Beruf, neuer: einen Job finden, sind, wenn es diese wirklich je gegeben hat,<br />

länger schon Geschichte. Der Widerspruch zwischen humanistischer Bildungsidee und<br />

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