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Antisemitismus und Demokratiefeindschaft in ... - Die Linke

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<strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Demokratiefe<strong>in</strong>dschaft</strong><br />

<strong>in</strong> Deutschland im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Festschrift zum 60. Geburtstag von Dr. Horst Helas


<strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Demokratiefe<strong>in</strong>dschaft</strong><br />

<strong>in</strong> Deutschland<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Festschrift zum 60. Geburtstag<br />

von Dr. Horst Helas<br />

Herausgeber: Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

Rechtsextremismus/Antifaschismus<br />

beim Parteivorstand der L<strong>in</strong>kspartei.PDS


Impressum<br />

Berl<strong>in</strong> 2007<br />

Herausgeber: Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Rechtsextremismus/Antifaschismus<br />

beim Parteivorstand der L<strong>in</strong>kspartei.PDS<br />

Redaktion: Re<strong>in</strong>er Zilkenat<br />

Umschlag <strong>und</strong> Satz: Viktoria Osterman<br />

Druck <strong>und</strong> Verarbeitung: MediaService GmbH BärenDruck <strong>und</strong> Werbung


Inhaltsverzeichnis<br />

Dr. Re<strong>in</strong>er Zilkenat 7<br />

Vorwort<br />

Professor Dr. Rolf Richter 9<br />

Laudatio<br />

Professor Dr. He<strong>in</strong>z Engelstädter 12<br />

<strong>Antisemitismus</strong>, <strong>Demokratiefe<strong>in</strong>dschaft</strong> <strong>und</strong> Charakter der Epoche<br />

Dr. Horst Helas 28<br />

„E<strong>in</strong> Ghetto mit offenen Toren“ –<br />

das Berl<strong>in</strong>er Scheunenviertel <strong>in</strong> der NS-Zeit<br />

Oliver Reschke M. A. 36<br />

Berl<strong>in</strong>er Nationalsozialisten <strong>und</strong> <strong>Antisemitismus</strong><br />

<strong>in</strong> der Endphase der Weimarer Republik<br />

Renate Berger 43<br />

Schwarze Roben <strong>und</strong> brauner Geist –<br />

Begegnungen im Leipziger Reichsgericht 1930<br />

Professor Dr. Mario Keßler 48<br />

<strong>Die</strong> KPD <strong>und</strong> der <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> der Weimarer Republik<br />

Dr. Re<strong>in</strong>er Zilkenat 60<br />

Papst Pius XII. <strong>und</strong> der Holocaust<br />

Dr. Günter Wehner 71<br />

Jüdische Widerstandskämpfer <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

Auswahlbibliographie Dr. Horst Helas 77


Dr. Re<strong>in</strong>er Zilkenat<br />

Vorwort<br />

Am 2. September 2006 veranstaltete die Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Rechtsextremismus/Antifaschismus<br />

beim Parteivorstand der L<strong>in</strong>kspartei.PDS e<strong>in</strong> Colloquium zur Thematik<br />

„<strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Demokratiefe<strong>in</strong>dschaft</strong> <strong>in</strong> Deutschland im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert“.<br />

Den Anlass dieser Veranstaltung bildete der 60. Geburtstag von Dr. Horst Helas. Seit<br />

2002 gehört er dem Sprecherrat der AG an <strong>und</strong> darf mit Fug <strong>und</strong> Recht als deren<br />

„guter Geist“ bezeichnet werden. Ob es sich um politisch-<strong>in</strong>haltliche Probleme, Kontroversen<br />

um historische Ereignisse oder organisatorische Fragen handelt – der Jubilar<br />

ist dafür stets e<strong>in</strong>e gute Adresse.<br />

<strong>Die</strong> Vielzahl se<strong>in</strong>er Interessen widerspiegelt auch die Themenvielfalt se<strong>in</strong>er Publikationen.<br />

Ausgehend von se<strong>in</strong>er an der Karl-Marx-Universität verteidigten Diplomarbeit<br />

über den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Ludwig Frank, der als<br />

Kriegsfreiwilliger bei e<strong>in</strong>em Gefecht am 3. September 1914 <strong>in</strong> Nosso<strong>in</strong>court zu Tode<br />

kam, über se<strong>in</strong>e Dissertation zur Historiographiegeschichte der DDR <strong>in</strong> den fünfziger<br />

Jahren, die Studien zur Sozialpolitik der KPD <strong>in</strong> der Weimarer Republik – <strong>in</strong>sbesondere<br />

zu ihrer Mieter- <strong>und</strong> Wohnungsbaupolitik –, die Beiträge zur Geschichte der<br />

KPD <strong>und</strong> des Stal<strong>in</strong>ismus, spannt sich der Bogen bis zu se<strong>in</strong>en Veröffentlichungen<br />

über die Geschichte der Juden <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte. Daneben beschäftigen ihn aktuelle<br />

Probleme des Rechtsextremismus, unter besonderer Berücksichtigung neuer Ersche<strong>in</strong>ungsformen<br />

des <strong>Antisemitismus</strong>, aber auch die Analyse der von der NPD <strong>und</strong> der<br />

DVU erzielten Wahlergebnisse.<br />

<strong>Die</strong>s alles verdient besonders hervorgehoben zu werden, da – wie man es <strong>in</strong> „studentenbewegten“<br />

Zeiten <strong>in</strong> der alten BRD <strong>und</strong> <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong> zu nennen pfl egte – das<br />

„Fachidiotentum“ <strong>in</strong> den Geistes- <strong>und</strong> Gesellschaftswissenschaften, nicht zuletzt <strong>in</strong><br />

der Geschichtswissenschaft, nach wie vor ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e seltene Ausnahme darstellt.<br />

Ungeachtet dessen hat sich Horst Helas zuletzt besonders auf die jüdische Geschichte<br />

<strong>und</strong> die Geschichte sowie Aktualität des <strong>Antisemitismus</strong> spezialisiert. Deshalb entstand<br />

auch der Gedanke, das zu se<strong>in</strong>en Ehren veranstaltete Colloquium dieser Thematik<br />

zu widmen.<br />

<strong>Die</strong> im Folgenden abgedruckten, zum Teil überarbeiteten bzw. erweiterten Beiträge<br />

wurden während dieses Colloquiums zur – mitunter sehr lebhaften – Diskussion gestellt.<br />

Der Sprach-Duktus wurde zumeist beibehalten, der e<strong>in</strong>e oder andere Autor hat<br />

auch auf e<strong>in</strong>en ausführlichen Anmerkungsapparat verzichtet.<br />

Abschließend sei besonders herzlich dem Direktor der Gedenkstätte „Haus der<br />

Wannsee-Konferenz“, Herrn Dr. Norbert Kampe, gedankt. Er stellte die Räumlichkeiten<br />

für das Colloquium zur Verfügung <strong>und</strong> hatte die Fre<strong>und</strong>lichkeit, die ca.<br />

40 Teilnehmer zu Beg<strong>in</strong>n durch die neu gestaltete Ausstellung zu führen.<br />

7


Professor Dr. Rolf Richter<br />

Laudatio<br />

Me<strong>in</strong>e Damen <strong>und</strong> Herren,<br />

liebe Genoss<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Genossen,<br />

lieber Horst,<br />

liebe Jutta, verehrte Familie Helas,<br />

die Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte bestärken uns <strong>in</strong> der Auffassung,<br />

dass e<strong>in</strong> sich ständig neu bewährender Antifaschismus e<strong>in</strong>e politische, wissenschaftliche<br />

<strong>und</strong> kulturelle Lebensnotwendigkeit für diese Republik darstellt.<br />

Wir stehen <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>es Prozesses, <strong>in</strong> dem nicht nur die Rechtsextremisten <strong>und</strong><br />

Neofaschisten, sondern viel mächtigere konservative Kräfte versuchen, die politische<br />

Atmosphäre unerträglich zu verschärfen, die Achse der Geschichtspolitik deutlich<br />

nach rechts zu rücken <strong>und</strong> im Massenbewusstse<strong>in</strong> (rechts)konservatives Gedankengut<br />

dauerhaft zu befestigen: etwa mit der aufmunitionierten Totalitarismus- <strong>und</strong> Extremismusdoktr<strong>in</strong>,<br />

mit der Hervorstellung des deutschen Volkes als Opfer alliierter<br />

Bombenkraft oder Vertreibungspolitik oder mit <strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> anderen Rassismen.<br />

Menschliches Leid ist stets zu bedauern <strong>und</strong> sollte von uns <strong>und</strong> von niemandem<br />

kle<strong>in</strong> geredet werden. Desto wichtiger ist es, immer wieder neu die Kausalketten im<br />

historischen Prozess herauszuarbeiten <strong>und</strong> zu betonen, wer wofür verantwortlich ist.<br />

<strong>Die</strong> Wege führen, verkürzt, aber e<strong>in</strong>deutig formuliert, immer wieder <strong>in</strong> das Deutschland<br />

des Jahres 1933.<br />

Ende 1932 beendete Fritz Sternberg se<strong>in</strong> Buch „Der Niedergang des deutschen<br />

Kapitalismus“ mit dem Satz „<strong>Die</strong> Weltgeschichte hat augenblicklich ihr Zentrum <strong>in</strong><br />

Deutschland.“ 1 Was damals den Antifaschisten nicht gelang, musste hart zu Buche<br />

schlagen. Was danach kam, überstieg jedwede menschliche Vorstellungskraft …<br />

Beim <strong>Antisemitismus</strong> s<strong>in</strong>d wir heute weltweit mit neuen Ersche<strong>in</strong>ungsformen konfrontiert.<br />

Und auch im Inneren <strong>und</strong> nicht nur bei der extremen Rechten, sondern<br />

auch <strong>in</strong> der so genannten Mitte der Gesellschaft fi nden wir viel Unbegriffenes, harte<br />

Vorurteile <strong>und</strong> verdeckte wie offene Formen von <strong>Antisemitismus</strong>.<br />

Anerkennung <strong>und</strong> Unterstützung jenen, die sich dem widersetzen. Wir er<strong>in</strong>nern<br />

uns an das Wort von Johannes R. Becher vom Dezember 1945: „Was den Juden angetan<br />

wurde, wurde uns angetan. <strong>Die</strong> Judenverfolgung <strong>und</strong> die systematische Ausrottung<br />

unserer jüdischen Mitbürger hat uns solch e<strong>in</strong>e Bürde von Schmach aufgeladen,<br />

dass wir daran noch zu tragen haben werden, wenn der Staub der Naziverbrecher<br />

längst <strong>in</strong> alle W<strong>in</strong>de verweht se<strong>in</strong> wird …“ 2<br />

1 Fritz Sternberg, Der Niedergang des deutschen Kapitalismus, Berl<strong>in</strong> 1932, S. 400.<br />

2 Johannes R. Becher, Deutschland klagt an!, <strong>in</strong>: Deutsches Bekenntnis, 3., erweiterte Aufl ., Berl<strong>in</strong> 1946, S. 51f.<br />

9


Liebe Kolleg<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Kollegen, das heutige historische Colloquium, das sich mit<br />

dem <strong>Antisemitismus</strong> vor 1945 ause<strong>in</strong>andersetzt, ist unserem Fre<strong>und</strong> Dr. Horst Helas<br />

zu se<strong>in</strong>em 60. Geburtstag gewidmet. Se<strong>in</strong>e Arbeit steht <strong>in</strong> der Pfl icht des Becher-<br />

Wortes.<br />

Wir wollen uns bei e<strong>in</strong>em geradl<strong>in</strong>igen, ges<strong>in</strong>nungsfesten <strong>und</strong> verlässlichen Mitstreiter<br />

bedanken; jedes Team kann froh se<strong>in</strong>, das ihn zu se<strong>in</strong>en Mitgliedern zählt.<br />

Horst Helas wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kommunistischen, e<strong>in</strong>er antifaschistischen Familie geboren.<br />

Se<strong>in</strong> Vater, Mart<strong>in</strong> Helas, wurde als Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes<br />

Deutschlands von den Nazis <strong>in</strong> dem Prozess „Sparschuh <strong>und</strong> Genossen“<br />

verurteilt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>gekerkert.<br />

Der Antifaschismus gehörte im Hause Helas zur Selbstverständlichkeit. Ihn aber<br />

zum Besitz zu machen, zur aktiven Lebensgestaltung zu nutzen <strong>und</strong> gar vielleicht zu<br />

bereichern, – denn jede Generation ist gehalten, etwas Eigenes e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen – dazu<br />

bedarf es der eigenen Anstrengung, des eigenen Krafte<strong>in</strong>satzes.<br />

Es s<strong>in</strong>d wohl vier Leistungen von Horst Helas, die hier Würdigung verdienen: Er<br />

hat als Angehöriger des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung nach 1990<br />

geholfen, den Antifaschismus vom Stal<strong>in</strong>ismus zu befreien, <strong>in</strong>dem er die Biographien<br />

deutscher Antifaschisten, darunter vieler Juden, die auch Opfer des Stal<strong>in</strong>ismus geworden<br />

waren, aufdeckte. Er untersuchte die Verwerfungen, die der Stal<strong>in</strong>ismus für<br />

die deutsche Arbeiterbewegung gebracht hat <strong>und</strong> die heute noch spürbar s<strong>in</strong>d. Er trug<br />

dazu bei, das verhärtete Geschichtsbild, das <strong>in</strong> der DDR existent war <strong>und</strong> das viele<br />

Menschen unheilvoll geprägt hatte, zu entstal<strong>in</strong>isieren, Verkrustungen aufzubrechen,<br />

Verfälschtes geradezurücken, Verschwiegenes auszusprechen. 3<br />

Sage bitte niemand aus der Sicht des Jahres 2006, dass sei alles selbstverständlich!<br />

Horst Helas leistete wertvolle pädagogische Anstrengungen, besonders <strong>in</strong> der außerschulischen<br />

historischen Jugendbildungsarbeit. Der diplomierte Lehrer <strong>und</strong> erfahrene<br />

Jugendarbeiter <strong>und</strong> Funktionär diskutierte mit Jugendlichen über alles nur Denkbare,<br />

besonders aber über <strong>Antisemitismus</strong>. So entstand das Projekt Stolperste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Friedrichsha<strong>in</strong>.<br />

Aus den lebhaften Gesprächen im Fürstenwalder „Club im Park“<br />

wuchs mit der Hilfe von Birgit Gregor, Wolfgang Friedler <strong>und</strong> Carsten Hiller sowie des<br />

Berl<strong>in</strong>-Brandenburger Bildungswerkes e. V. der „Jugendbestseller“ „Davidstern <strong>und</strong><br />

Synagoge“. 4 Dr. Helas beantwortete dar<strong>in</strong> nicht nur viele Fragen der Jugendlichen,<br />

die ihm gestellt worden waren, sondern er verdeutlichte ihnen auch die Lebenswege<br />

Fürstenwalder Juden, also von Menschen, die e<strong>in</strong>st „ganz normal“ <strong>in</strong> dieser Stadt gelebt<br />

hatten, <strong>und</strong> holte das jüdische Landwerk Neuendorf im Sande aus der Vergessenheit.<br />

Mit Recht fand diese Arbeit großen Zuspruch. Sie half, elementare Unwissenheit<br />

zu tilgen <strong>und</strong> antisemitische Vorbehalte abzubauen <strong>und</strong> vielleicht gar zu beseitigen.<br />

3 Vgl. Horst Helas, Wladislaw Hedeler u. <strong>Die</strong>tmar Wulff, Stal<strong>in</strong>s Erbe. Der Stal<strong>in</strong>ismus <strong>und</strong> die deutsche Arbeiterbewegung,<br />

Berl<strong>in</strong> 1990; Horst Helas, PDS <strong>und</strong> Stal<strong>in</strong>ismus, Berl<strong>in</strong> 1995; Wladislaw Hedeler, Horst Helas, Klaus<br />

K<strong>in</strong>ner u. Elke Reuter, Luxemburg oder Stal<strong>in</strong>. Schaltjahr 1928. <strong>Die</strong> KPD am Scheideweg, Berl<strong>in</strong> 2003.<br />

4 Vgl. Horst Helas (unter Mitarbeit von Birgit Gregor), Davidstern <strong>und</strong> Synagoge, Berl<strong>in</strong> 1999.<br />

10


Weiterh<strong>in</strong> setzt sich Horst Helas als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

<strong>und</strong> als Mitglied des Sprecherrates der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Antifaschismus/Rechtsextremismus<br />

beim Parteivorstand der L<strong>in</strong>kspartei kont<strong>in</strong>uierlich mit dem<br />

Nazismus <strong>und</strong> der heutigen extremen Rechten sowie mit neuen Formen des <strong>Antisemitismus</strong><br />

ause<strong>in</strong>ander, verfolgt die <strong>in</strong>ternationale Debatte, steht im Diskussionskont<strong>in</strong>uum<br />

mit anderen, stets bedacht, alte Fre<strong>und</strong>e zu halten <strong>und</strong> Brücken zu anderen zu<br />

bauen. Davon zeugen etwa se<strong>in</strong>e Beiträge im „R<strong>und</strong>brief“ 5 , <strong>in</strong>terne Verständigungspapiere<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Mitarbeit an der Ausstellung über Zwangsarbeiter <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 6 .<br />

Schließlich muss endlich se<strong>in</strong> Buch „Juden <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte“ genannt werden. 7 Er<br />

hat es als Mitarbeiter des Vere<strong>in</strong>s zur Vorbereitung e<strong>in</strong>er Stiftung Scheunenviertel 8<br />

Berl<strong>in</strong> e. V. verfasst. Mit außerordentlichem Fleiß, mit unermesslicher Fe<strong>in</strong>arbeit <strong>und</strong><br />

mit Ideenreichtum hat Horst Helas die Lebensläufe von Juden, manchmal auch nur<br />

e<strong>in</strong>en Lebensabschnitt, rekonstruiert, die von den anderen Deutschen verfolgt <strong>und</strong><br />

vernichtet wurden oder werden sollten. Man liest sich fest <strong>in</strong> diesem Buch- nicht<br />

zuletzt wenn man bedenkt, was hier <strong>in</strong> diesem Hause am Wannsee e<strong>in</strong>st besprochen<br />

wurde. W<strong>und</strong>erbar, wie Horst Helas den Alltag <strong>in</strong> der Grenadierstraße vor 1933 e<strong>in</strong>fängt.<br />

Horst Helas hat das Leben dieser Menschen, das auf ewig ausgelöscht werden<br />

sollte, vor dem Vergessen gerettet. Er ist dem Alltag von Horst Senger, Reg<strong>in</strong>a Schuldenfrei,<br />

Günter W. Cohn, Jürgen Löwenste<strong>in</strong>, Otto Weiß, Zeev Rebhun <strong>und</strong> anderen<br />

nachgegangen <strong>und</strong> hat ihre Lebensweise rekonstruiert.<br />

Es wurde deutlich, wie sich jüdisches Leben im Berl<strong>in</strong> vor 1933 entwickelte <strong>und</strong><br />

wie es sich gefestigt hatte – <strong>und</strong> wie es ab 1933 zerstört wurde.<br />

Ich halte es für richtig <strong>und</strong> heilsam, dass Horst Helas auch e<strong>in</strong>en Brief von Herrn<br />

Sommerfeld abgedruckt hat, der ihn 1995 aus Haifa erreichte <strong>und</strong> der die Schwierigkeit<br />

des Unterfangens noch e<strong>in</strong>mal vor Augen führt – <strong>und</strong> zwar aus den Augen der<br />

Opfer, die sich er<strong>in</strong>nern. Solche Briefe schützen uns vor vere<strong>in</strong>fachten Sichtweisen,<br />

die uns Antifaschisten ja nicht fremd s<strong>in</strong>d.<br />

Liebe Fre<strong>und</strong><strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e, Horst Helas hatte bei se<strong>in</strong>en Arbeiten stets gute<br />

Helfer zur Seite.<br />

Spätestens an dieser Stelle ist von Jutta Helas zu sprechen, der Ehefrau von Horst.<br />

Über Jahrzehnte an Horsts Seite, vermittelte sie ihm Kraft <strong>und</strong> Ansporn, machte sie<br />

Mut <strong>und</strong> nicht zuletzt sicherte sie durch den eigenen selbstbewussten berufl ichen<br />

Weg nach 1990 die fi nanzielle Basis für die Familie. Liebe Jutta, unseren Respekt.<br />

Lieber Horst, wir danken Dir für De<strong>in</strong>e Arbeit.<br />

Mögen Dir fürderh<strong>in</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Kraft, Mut <strong>und</strong> Kreativität gegeben se<strong>in</strong>;<br />

Euch beiden von Herzen weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en guten geme<strong>in</strong>samen Lebensweg.<br />

5 Vgl. R<strong>und</strong>brief, hrsg. v. der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Parteivorstand der<br />

L<strong>in</strong>kspartei.PDS; der „R<strong>und</strong>brief“ ersche<strong>in</strong>t seit 1997.<br />

6 Vgl. Horst Helas u. Henn<strong>in</strong>g Müller, Das KZ-Außenlager <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Re<strong>in</strong>ickendorf, <strong>in</strong>: Zwangsarbeiter <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

1938–1945, Berl<strong>in</strong> 2003.<br />

7 Vgl. Horst Helas, Juden <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte. Biografi en-Orte-Begegnungen, Berl<strong>in</strong> 2000.<br />

8 Vgl. Horst Helas u. <strong>Die</strong>ter Weigert, Scheunenviertel Berl<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Stadtteilführer, Berl<strong>in</strong> 1993.<br />

11


Professor Dr. He<strong>in</strong>z Engelstädter<br />

<strong>Antisemitismus</strong>, <strong>Demokratiefe<strong>in</strong>dschaft</strong><br />

<strong>und</strong> Charakter der Epoche<br />

Antifaschismus kann se<strong>in</strong>e Aufgabe nicht mehr bewältigen wie bisher! Am Beg<strong>in</strong>n<br />

des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts wird e<strong>in</strong>e Art von Faschisierung erkennbar, die der Menschheit<br />

bisher unbekannt ist. Unterschiedliche Akteure üben sie aus, die sich sche<strong>in</strong>bar als<br />

kulturell-religiöse Todfe<strong>in</strong>de bekämpfen.<br />

Wissenschaft, Politik <strong>und</strong> Medien haben den faschistoiden Charakter dieser globalen<br />

Konstellation offensichtlich noch nicht erfasst. Ihre Polemik gegen Faschismus ist<br />

auf Gewalt konzentriert, die e<strong>in</strong>zelne politische Gruppierungen, fanatisierte Cliquen<br />

junger Menschen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>zeltäter erfasst. Zu Recht widersteht die Öffentlichkeit dieser<br />

offenen Gewalt <strong>und</strong> psychischem Terror gegen Menschen anderer Rasse, anderen<br />

Denkens <strong>und</strong> Glaubens.<br />

<strong>Die</strong>se Ersche<strong>in</strong>ungen treffen jedoch nicht das Wesen <strong>und</strong> die Dimensionen des<br />

neuartigen Faschisierungsprozesses, von dem die eigentliche Gefahr für den Bestand<br />

von Freiheit <strong>und</strong> Demokratie <strong>in</strong> der Welt ausgeht: Militante Kräfte der Weltfi nanz<br />

<strong>und</strong> Weltpolitik schaffen neue Global-Konfrontationen. Über Ideologien <strong>und</strong> Gewalt<br />

transformieren sie politische Bed<strong>in</strong>gungen, die ungestörten F<strong>in</strong>anztransfer <strong>und</strong><br />

Höchstgew<strong>in</strong>n garantieren. Mit Rüstung <strong>und</strong> Krieg erlangen sie höchste Gew<strong>in</strong>ne<br />

<strong>und</strong> arrangieren deshalb <strong>in</strong> den Überbauten <strong>und</strong> Kulturen der Menschheit Gewaltbereitschaft,<br />

die sich gegene<strong>in</strong>ander ausspielen lässt. <strong>Die</strong> bisherige Art der Globalisierung<br />

tendiert zu globaler Faschisierung <strong>und</strong> erzeugt gesellschaftliche Kräfte dafür.<br />

Bisheriger Faschismus, der sich gegen die Menschen e<strong>in</strong>zelner Rassen <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>schaften<br />

richtete, wurde von der Weltgeme<strong>in</strong>schaft geächtet <strong>und</strong> militärisch ausgeschaltet.<br />

Heutige globale Faschisierung hetzt <strong>in</strong>ternationalen Terror <strong>und</strong> westliche<br />

Demokratien gegene<strong>in</strong>ander, <strong>in</strong>szeniert von alten <strong>und</strong> neuen Gruppen der Weltfi nanz<br />

<strong>und</strong> Weltpolitik. <strong>Die</strong>ses Bedrohungspotential gefährdet jedes Individuum. Im Unterschied<br />

zu bisherigen Faschismen stehen Vernichtungsmitteln bereit, deren E<strong>in</strong>satz<br />

unvorhersehbar ist. Es spielt ke<strong>in</strong>e Rolle, welcher Kultur oder Wertegeme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong><br />

Mensch sich verb<strong>und</strong>en fühlt. Affi nität zu offenen <strong>und</strong> schleichenden Faschisierungsprozessen<br />

ist für jeden lebensgefährlich!<br />

Auf neue Weise s<strong>in</strong>d <strong>Antisemitismus</strong>, Demokratiefe<strong>in</strong>dlichkeit <strong>und</strong> mögliche Faschismen<br />

mite<strong>in</strong>ander verfl ochten. Der nazistische <strong>Antisemitismus</strong> galt dem Kommunismus<br />

<strong>und</strong> verbal der so genannten Plutokratie. Jetzt bekämpft islamistischer <strong>Antisemitismus</strong><br />

den Staat Israel <strong>und</strong> westliche Demokratien mit ihren Werten. Dagegen<br />

setzen Israelis <strong>und</strong> demokratische Rechtsstaaten ihre Machtmittel <strong>und</strong> legitimieren<br />

sie als Antiterrormaßnahmen. Mit dieser Begründung werden demokratische Gr<strong>und</strong>rechte<br />

auch im eigenen Land beschnitten <strong>und</strong> Verfassungsänderungen angestrebt.<br />

12


Fazit: Freiheit <strong>und</strong> Demokratie werden geschädigt, weil dr<strong>in</strong>gende soziale Aufgaben<br />

<strong>in</strong> der Welt ungelöst bleiben. Der massenpsychologische <strong>und</strong> <strong>in</strong>tellektuelle Boden<br />

von Faschismen wird geebnet – Globalisierung tendiert zu offener <strong>und</strong> verdeckter<br />

Faschisierung!<br />

Der faschistoide Charakter militanter Gefährdung von Freiheit <strong>und</strong> Demokratie<br />

muss jedem durchschaubar werden, um e<strong>in</strong>e Phalanx faschistischer Kräfte <strong>in</strong> der Welt<br />

zu verh<strong>in</strong>dern. <strong>Die</strong>se Aufgabe obliegt allen verantwortungsbewussten Akteuren, besonders<br />

Politikern, der Wirtschaft, Juristen, Medien, Künstlern <strong>und</strong> vor allen den<br />

Wissenschaftlern. Nicht nur Antifaschisten aller sozialen Gruppen <strong>und</strong> Schichten<br />

müssen diese veränderte Lebenssituation bewältigen, sondern jeder e<strong>in</strong>zelne.<br />

Weltweit verb<strong>in</strong>det das Interesse, Frieden zu sichern <strong>und</strong> die freiheitliche Demokratie<br />

sozial weiter zu entwickeln, damit sie ihre nationale <strong>und</strong> transnationale Wirkung<br />

für die Zukunft jedes Menschen gewährleisten kann.<br />

Hätte der Antifaschismus für das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert e<strong>in</strong> Manifest zu entwerfen, dann<br />

müsste er sich folglich auf e<strong>in</strong>en globalen Faschisierungsvorgang beziehen, der nicht<br />

nur e<strong>in</strong>zelne Länder oder Regionen umfasst. E<strong>in</strong>e genauere Analyse ist erforderlich,<br />

die Faschisierung nicht nur als menschenfe<strong>in</strong>dlichen Gegensatz zum Antifaschismus<br />

versteht, sondern deren <strong>in</strong>nere Widersprüchlichkeit <strong>und</strong> historische Eigendynamik<br />

begreift, die sie <strong>in</strong> der globalen Welt hervorruft <strong>und</strong> am Leben erhält. Das schließt<br />

ebenso e<strong>in</strong> dialektisches Verständnis des globalen Antifaschismus e<strong>in</strong>, der <strong>in</strong>zwischen<br />

herangereift ist.<br />

Erst mit dem Blick auf die <strong>in</strong>nere Dynamik jedes dieser sozialen Phänomene wird<br />

die kulturell-geistige Überlegenheit nachweisbar, die Antifaschismus für alle Lebensfragen<br />

besitzt, die Menschen unserer Epoche geme<strong>in</strong>schaftlich lösen müssen! Neue<br />

Fragen zu Faschismus, <strong>Antisemitismus</strong>, Demokratiefe<strong>in</strong>dlichkeit <strong>und</strong> folglich zum<br />

Antifaschismus s<strong>in</strong>d zu beantworten. Sie münden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Theorie dieser beiden<br />

sozialen Phänomene, die <strong>in</strong> der gegenwärtigen Epoche auftreten, die den Beg<strong>in</strong>n globaler<br />

sozialer Evolution der Menschheit darstellt. Vor allem zum Folgenden werden<br />

Antworten benötigt, die global zutreffen:<br />

Warum treten Faschismen <strong>und</strong> Antifaschismen historisch auf <strong>und</strong> erneuern sich?<br />

Was kennzeichnet den gegenwärtigen Faschisierungsprozess <strong>in</strong>tellektuell?<br />

Wie kann weiterer Faschisierung kulturell-geistig begegnet werden?<br />

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich, um soziale Aufgaben menschlich zu lösen?<br />

1. Warum treten Faschismen <strong>und</strong> Antifaschismen<br />

historisch auf <strong>und</strong> erneuern sich?<br />

<strong>Die</strong> gegenwärtige Epoche setzt um 1900 e<strong>in</strong> <strong>und</strong> ist e<strong>in</strong> offener Prozess. Vorher existierten<br />

zwar globale soziale Probleme wie der Kolonialismus, aber es bestehen noch<br />

ke<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>samen globalen Aufgaben für jeden Menschen. <strong>Die</strong>se Situation tritt erst<br />

e<strong>in</strong>, nachdem alle Ereignisfelder der sozialen Evolution ihre globale Dimension erreichen.<br />

Das ist um 1900 der Fall, <strong>und</strong> Bemühungen um weltweit menschenwürdige<br />

13


Lösungen setzen e<strong>in</strong>, vor allem um Frieden zu sichern. Gewaltsames Herrschaftsstreben<br />

führt jedoch <strong>in</strong> den Ersten Weltkrieg. In der Nachkriegskrise gelangt <strong>in</strong> Italien<br />

1922 erstmalig e<strong>in</strong>e faschistische Bewegung an die Macht.<br />

Genauer nachgefragt, leiten sich jedoch weder Faschismus noch Antifaschismus aus<br />

äußeren Anlässen her. Ihre wahre Ursache ist e<strong>in</strong> tiefgreifender Wandel <strong>in</strong> der sozialen<br />

Reproduktion der Menschheit, der im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert wirksam wird. Faschistisches<br />

wie antifaschistisches Denken <strong>und</strong> Handeln gründen <strong>in</strong> diesem widersprüchlichen<br />

Vorgang <strong>und</strong> können auf ihn unterschiedliche Antworten geben.<br />

Bisher s<strong>in</strong>d sich weder Wissenschaft noch Politik, Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur dieses geme<strong>in</strong>samen<br />

Gr<strong>und</strong>es von Faschismen <strong>und</strong> Antifaschismen bewusst, obwohl er deren<br />

gegensätzlichen Funktionen <strong>in</strong> der globalen Welt erkennen lässt:<br />

<strong>Die</strong> Welt war ökonomisch <strong>und</strong> politisch aufgeteilt <strong>und</strong> dieser Zustand konnte nur<br />

mit Gewalt verändert werden. Der Weltkrieg drohte, <strong>und</strong> es entstand die erste <strong>und</strong><br />

wichtigste soziale Aufgabe, globalen Frieden zu sichern. Bis <strong>in</strong> die Gegenwart ist sie<br />

nicht zuverlässig gelöst. H<strong>in</strong>zugekommen s<strong>in</strong>d weitere solcher neuartigen sozialen<br />

Aufgaben wie Ökologie, transnationale Migration <strong>und</strong> die Entstehung <strong>und</strong> Ausprägung<br />

e<strong>in</strong>es Weltarbeitsmarktes auch h<strong>in</strong>sichtlich entwickelter Länder. Für ke<strong>in</strong>es dieser<br />

geme<strong>in</strong>samen Weltprobleme besteht e<strong>in</strong> Denkrahmen, der transnational zufrieden<br />

stellen könnte. Der Gr<strong>und</strong> ist deutlich zu erkennen:<br />

Fortan ist die soziale Reproduktion der Menschheit zu gewährleisten, nicht nur<br />

die e<strong>in</strong>er bestimmten Gesellschaft, sei sie kapitalistisch, sozialistisch oder anders bezeichnet.<br />

<strong>Die</strong>ser <strong>in</strong>nere Widerspruch der globalen sozialen Evolution bestimmt die<br />

Dynamik der neuen historischen Epoche!<br />

Wie sie sich jedoch gestaltet, hängt vom Charakter ihrer Menschen ab. Sie entscheiden,<br />

ob materielle <strong>und</strong> geistige Güter menschenwürdig erzeugt <strong>und</strong> verwendet werden.<br />

Davon ist jeder e<strong>in</strong>zelne betroffen <strong>und</strong> veranlasst, durch menschenwürdige Entwicklung<br />

se<strong>in</strong>er Persönlichkeit zu der jedes anderen beizutragen. Menschenbilder <strong>und</strong><br />

Handlungen, die konfrontativ ideologisiert s<strong>in</strong>d, stehen dem entgegen. Infolgedessen<br />

entsteht e<strong>in</strong>e freie <strong>und</strong> gerechte Menschheit anders als angenommen: <strong>Die</strong> Epoche erweist<br />

sich nicht als „1 000-jähriges Reich“, anhaltendes Kolonialsystem, gewaltsamer<br />

Übergang zum Sozialismus oder Konstrukt neuer Vorherrschaftsansprüche <strong>in</strong> der Welt.<br />

Entscheidend wird die Erkenntnis, dass sich soziale Aufgaben nicht mehr gewaltsam<br />

lösen lassen, sondern Dialog <strong>und</strong> Kooperation <strong>in</strong> Menschenwürde erfordern!<br />

Nazis <strong>und</strong> Faschismen br<strong>in</strong>gen statt dessen <strong>in</strong> den Überbauten <strong>und</strong> Kulturen der<br />

Menschheit <strong>in</strong>nen- <strong>und</strong> außenpolitische Konfrontationen hervor, die den Interessen<br />

der militanten Weltfi nanz <strong>und</strong> Weltpolitik entgegenkommen. Globale Gewalt herbeizuführen<br />

– dar<strong>in</strong> besteht die reale soziale Funktion von Nazis <strong>und</strong> Faschisten! Dagegen<br />

wandte sich der Antifaschismus des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschiedenen<br />

politischen, sozialen, religiösen <strong>und</strong> anderen kulturellen Formen. Im Zweiten Weltkrieg<br />

musste er zum geme<strong>in</strong>samen militärischen Kampf gegen Nazis <strong>und</strong> Faschisten<br />

fi nden.<br />

14


Zu Beg<strong>in</strong>n des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts sieht sich jede Form des Antifaschismus e<strong>in</strong>er veränderten<br />

Situation gegenüber. Zur rechtsextremistischen Gewalt im Alltag ist e<strong>in</strong>e<br />

weltweit schleichende Faschisierung getreten: Nazis, Faschisten <strong>und</strong> faschistoide Kräfte<br />

erzeugen erneut Konfrontationen, die historisch längst s<strong>in</strong>nlos s<strong>in</strong>d. Jede Unzufriedenheit<br />

von Menschen wird dafür missbraucht.<br />

Offen oder sche<strong>in</strong>demokratisch legitimiert können neue Faschismen entstehen.<br />

<strong>Die</strong> militanten Konfrontationen seit dem Ende des Kalten Krieges deuten darauf<br />

h<strong>in</strong>. Mit ihnen erlangen <strong>Antisemitismus</strong>, <strong>Demokratiefe<strong>in</strong>dschaft</strong> <strong>und</strong> Faschismus<br />

e<strong>in</strong>e neue globale Funktion. Stets dienten sie Machtkämpfen <strong>in</strong> der Geschichte.<br />

Aber gegenwärtig überfl ügelt ihre Eigendynamik den bisherigen Faschismus: Sie<br />

dienen nicht nur faschistoidem Machtstreben, sondern sie s<strong>in</strong>d bereits Instrumente<br />

globaler Machtausübung! Fälschlicherweise kulturell-geistig legitimiert, begleiten<br />

deshalb neue Verbrechen an Menschen <strong>und</strong> Wertegeme<strong>in</strong>schaften unser aller Leben.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts wird es deswegen unerlässlich, dass sich alle Formen<br />

des Antifaschismus gegen e<strong>in</strong>e weitere Faschisierung der globalen Welt wappnen,<br />

vor allem, weil Wege sozialer Konfl iktlösung realisierbar werden, die tendenziell gewaltfrei<br />

s<strong>in</strong>d. Aber im Charakter der Menschen, von denen die Epoche gestaltet wird,<br />

fi nden sie noch ke<strong>in</strong>en befriedigenden Ausdruck.<br />

Von Antifaschisten der verschiedensten Richtungen sollte deshalb nicht vergessen<br />

werden, dass der Sieg des Nationalsozialismus bei demokratischen Wahlen im Jahre<br />

1932 nicht alle<strong>in</strong> offener Gewalt geschuldet war.<br />

Der Nationalsozialismus gebrauchte e<strong>in</strong> komplexes Instrumentarium auf se<strong>in</strong>em<br />

neuartigen Weg zur Macht, das von offener Gewalt <strong>und</strong> Gewaltandrohung bis zur<br />

rechtsstaatlichen Nutzung der Weimarer Verfassung reichte. Angesichts der Massenstimmung<br />

konzentrierten sich die Nazis rechtzeitig auf massenpsychologische Infi ltration,<br />

die geistig-kulturelle Vorherrschaft <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>schloss. Sie nahm die<br />

politische Macht voraus. Im Ulmer Reichswehrprozess 1930 vor dem Reichsgericht<br />

<strong>in</strong> Leipzig wurde auch Hitler als Zeuge vernommen. Der Nationalsozialismus, erklärte<br />

er, brauche künftig ke<strong>in</strong>en Putsch mehr: Bei dem wachsenden Verständnis, das<br />

Deutschland der völkischen Freiheitsbewegung entgegenbr<strong>in</strong>ge, falle ihm die Gewalt<br />

mit der Zeit auf legalem Wege von selbst zu! 1<br />

Gegen Bolschewismus <strong>und</strong> „Plutokratie“ agierend – das sicherte ihnen Unterstützung<br />

<strong>in</strong> Kreisen der Hochfi nanz, die nicht geneigt waren, den Frieden für alle<br />

Menschen zu gewährleisten. <strong>Die</strong> Nazis rüsteten zum Krieg <strong>und</strong> zentralisierten dafür<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />

Der Vertrauensmann <strong>in</strong>ternationaler Hochfi nanz <strong>in</strong> Deutschland, Hjalmar Schacht,<br />

hatte sich bereits als Reichswährungskommissar <strong>und</strong> Reichsbankpräsident <strong>in</strong> der Weimarer<br />

Republik „bewährt“. Noch vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 be-<br />

1 Vgl hierzu den Beitrag von Renate Berger <strong>in</strong> diesem Band.<br />

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teiligte er sich an e<strong>in</strong>er Initiative der Londoner City, um <strong>in</strong> der Schweiz e<strong>in</strong>e Bank<br />

für Internationalen Zahlungsausgleich e<strong>in</strong>zurichten. Selbst bei mehreren Millionen<br />

Arbeitslosen sollten die Reparationszahlungen Deutschlands laut Versailler Vertrag<br />

ungeh<strong>in</strong>dert fl ießen. Im Falle e<strong>in</strong>er Machtübernahme sicherte Hitler das <strong>in</strong>sgeheim<br />

zu, obwohl er öffentlich nicht nachließ, Hass gegen das „Schanddiktat“ von Versailles<br />

zu säen.<br />

Schacht entschied sich 1930/31 endgültig für Hitler. Bis auf Schweden gewährte die<br />

<strong>in</strong>ternationale Hochfi nanz der maroden Weimarer Republik ke<strong>in</strong>erlei Kredite mehr,<br />

aber Nazis wurden fi nanziert. Als Reichsfi nanzm<strong>in</strong>ister Hitlers fungierte Schacht<br />

dann bis 1944 <strong>in</strong> der Naziregierung. Nach 1945 wurde er von größerer Schuld freigesprochen<br />

<strong>und</strong> lebte bis zu se<strong>in</strong>em Tode 1970 als freier Mann <strong>in</strong> der damaligen<br />

B<strong>und</strong>esrepublik!<br />

Der Weg der Nazis, der sich auch der Eroberung demokratischer Institutionen bediente,<br />

hatte sich mit den Wahlsiegen von 1932, als die NSDAP zur stärksten Partei<br />

im Reichstag <strong>und</strong> im Preußischen Landtag avancierte, als erfolgreich erwiesen.<br />

<strong>Die</strong> Nazis konnten das erreichen, weil sie Jahre zuvor auf e<strong>in</strong>e faschistoide Massenstimmung<br />

setzten, die <strong>in</strong> der Bevölkerung unterschwellig gärte. Taktisch wurden<br />

lebenswichtige Ereignisfelder mit populistischen Forderungen belegt, auf die e<strong>in</strong>e<br />

demokratische Regierung früher oder später reagieren musste. Schrittweise gehörte<br />

die strategisch entscheidende emotionelle <strong>und</strong> geistige Vorherrschaft <strong>in</strong> Deutschland<br />

daher bald dem Nationalsozialismus.<br />

Der kommunistische Antifaschismus, Hauptgegner der Nazis, blieb auf den Sturz<br />

des Kapitalismus für e<strong>in</strong> Sowjetdeutschland gerichtet <strong>und</strong> wurde nicht auf die militanten<br />

Kräfte der Weltfi nanz <strong>und</strong> Politik konzentriert. <strong>Die</strong> Sozialdemokratie <strong>und</strong><br />

speziell ihr l<strong>in</strong>ker Flügel galten im damaligen Verständnis der Kommunistischen Internationale<br />

<strong>und</strong> der KPD als entscheidendes H<strong>in</strong>dernis, das dem E<strong>in</strong>fl uss der Kommunisten<br />

auf die Arbeiterklasse entgegenstand. Stal<strong>in</strong>istisch verordneter Antifaschismus<br />

blieb mit bürgerlicher Demokratie konfrontiert. Se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Dynamik wurde<br />

der neuartigen sozialen Evolution nicht gerecht <strong>und</strong> richtete sich daher letztlich gegen<br />

die Kommunisten selbst. <strong>Die</strong> Ablehnung des Sowjetkommunismus <strong>in</strong> der Bevölkerung<br />

besiegelte ihre Niederlagen bei demokratischen Wahlen <strong>und</strong> setzte sie <strong>und</strong> ganz<br />

Deutschland totalitärer Nazigewalt aus. Erst im Zweiten Weltkrieg entstand e<strong>in</strong> ant<strong>in</strong>azistisches<br />

Bündnis, das Menschen aller Klassen, Schichten <strong>und</strong> Überzeugungen<br />

vere<strong>in</strong>te. Nationalsozialismus <strong>und</strong> italienischer Faschismus wurden militärisch besiegt<br />

<strong>und</strong> politisch entmachtet; später verloren auch andere Faschismen ihre Macht, zum<br />

Beispiel <strong>in</strong> Portugal <strong>und</strong> Spanien.<br />

Aber die <strong>in</strong>nere Dynamik <strong>und</strong> soziale Funktion von Faschisierungsprozessen <strong>in</strong> der<br />

globalen Welt war trotz des Infernos von Nazigewalt nicht gebrochen. Selbst hohe<br />

Nazi-Funktionsträger wurden <strong>in</strong> Staat, Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur wieder tätig. Neofaschistische<br />

Kräfte wagten sich hervor, strebten nach Öffentlichkeit <strong>und</strong> stellten sich<br />

rechtsstaatlichen Wahlen.<br />

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In den 60er Jahren – <strong>in</strong> den Zeiten der ersten Großen Koalition unter B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Kurt Georg Kies<strong>in</strong>ger – erreichte die NPD zeitweilig Wahlerfolge, verlor aber bald<br />

wieder öffentlichen E<strong>in</strong>fl uss. Noch war sie der fi nanzoligarchischen Globalisierung<br />

nicht angepasst, die <strong>in</strong> Deutschland vom Erfolg der sozialen Marktwirtschaft verdeckt<br />

wurde.<br />

2. Was kennzeichnet den gegenwärtigen Faschisierungsprozess <strong>in</strong>tellektuell?<br />

In Frankreich war das nicht <strong>in</strong> gleichem Maße der Fall. Mitte der 60er Jahre überschreitet<br />

die Neue Rechte den nationalen <strong>und</strong> regionalen Rahmen bisheriger Faschisierung<br />

<strong>und</strong> modifi zieren ihn für globale Zwecke. In der französischen <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternationalen<br />

Öffentlichkeit wird diese kle<strong>in</strong>e Gruppe Intellektueller, die sich parteipolitisch<br />

nicht arrangiert, kaum wahrgenommen, auch nicht vom Antifaschismus <strong>in</strong> Deutschland.<br />

In Wirklichkeit handelt es sich um Vordenker e<strong>in</strong>er transnationalen rechten<br />

Strategie <strong>und</strong> Taktik, die globales faschistoides Potential <strong>in</strong> sich birgt. 2<br />

Schon am Ausgangspunkt neurechten Denkens wird dies deutlich. Im Namen<br />

von Universalismen ist Schreckliches geschehen <strong>und</strong> deswegen ist der Anspruch auf<br />

Universalität <strong>und</strong> generelles Menschenrecht verwirkt. Das Recht auf S<strong>in</strong>gularität der<br />

Menschen <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>schaften sei zu erheben. Als Pr<strong>in</strong>zip der globalen Welt stehe<br />

es jedem Universalitätsanspruch abstrakter Menschenrechte entgegen, der Verschiedenheit<br />

nicht achte.<br />

In Zeiten wirtschaftlicher, technologischer <strong>und</strong> fi nanzgeschäftlicher Globalisierung<br />

gerate der Nationalstaat <strong>in</strong> die Krise <strong>und</strong> mit ihm Schulen, Kirchen, Parteien, Armeen<br />

<strong>und</strong> sämtliche Strukturen, die als Träger kollektiver Identität fungierten. Klassenkampf<br />

<strong>und</strong> Revolutionen seien im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht mehr geschichtsbildend, sondern<br />

transnationale Bewegungen <strong>und</strong> die Tat e<strong>in</strong>zelner Revolutionäre. Im Unterschied zu<br />

Nazis <strong>und</strong> Faschisten könne e<strong>in</strong>e neue rechte Bewegung <strong>in</strong> der Welt kulturell-geistigen<br />

Vorrang <strong>und</strong> politische Vorherrschaft erlangen. Ihre E<strong>in</strong>zelkämpfer wären nicht<br />

mehr als politische Parteien organisiert <strong>und</strong> könnten daher <strong>in</strong> allen gesellschaftlichen<br />

Institutionen global wirksam se<strong>in</strong>. Geme<strong>in</strong>schaften fremden Ursprungs müssten ihre<br />

unverwechselbare Persönlichkeit behalten dürfen, nicht um sich vone<strong>in</strong>ander zu isolieren,<br />

sondern um zu dialogisieren <strong>und</strong> sich an ihren Unterschieden gegenseitig zu<br />

bereichern. Dialog mit dem Anderen setze jedoch voraus, dass dieser Andere <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Verschiedenheit existiert <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Identität sich nicht auf allgeme<strong>in</strong> Gleiches reduzieren<br />

lässt. Deshalb sei e<strong>in</strong> gemäßigter Multikulturalismus anzustreben, der, vom<br />

Kommunitarismus <strong>in</strong>spiriert, Assimilation wie Apartheid zurückweise.<br />

Der demokratiefe<strong>in</strong>dliche Charakter dieses Konzeptes ist nicht e<strong>in</strong>fach zu erkennen.<br />

Aber wie schon gesagt: Auch die Nazis benutzten den Rechtsstaat, um ihn zu<br />

vernichten. <strong>Die</strong> neurechte Theorie, Strategie <strong>und</strong> Taktik setzt das auf globaler Ebene<br />

2 Vgl. Alla<strong>in</strong> de Benoist, Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert, erweiterte Aufl .<br />

Berl<strong>in</strong> 2002 (die Erweiterung betrifft Globalisierung, Geschichte der Fortschrittslehre <strong>und</strong> Wiederkehr des Politischen).<br />

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fort. Gegenüber den Nazis, die Demokratie durch e<strong>in</strong>en totalitären Führerstaat ersetzten,<br />

wird e<strong>in</strong> ansche<strong>in</strong>end republikanisches Demokratiemodell verfolgt. Demokratie<br />

soll nicht totalitär beseitigt werden, sondern der repräsentative Parlamentarismus<br />

<strong>und</strong> folglich se<strong>in</strong>e gesetzgebende Gewalt. Weltweit soll e<strong>in</strong>e Basisdemokratie der<br />

S<strong>in</strong>gularitäten entstehen, die im alltäglichen Leben <strong>und</strong> Volkstum wurzelt <strong>und</strong> dessen<br />

<strong>in</strong>formelle Maßstäbe setzt. Rechtsstaatlichkeit wird von der Basis her unwirksam; die<br />

sog. befreiten Gebiete s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e der Folgen. Ohne diese antidemokratische Massenstimmung<br />

hätte sich auch der Nationalsozialismus <strong>in</strong> Deutschland nicht bis 1945 an<br />

der Macht gehalten.<br />

<strong>Die</strong> Idee der Menschheit <strong>und</strong> ihres geme<strong>in</strong>samen humanen Fortschritts bildet folglich<br />

nur sehr partiell den Inhalt globaler S<strong>in</strong>gularität. Das ist Folge ausschließenden<br />

Denkens, das die jeweilige <strong>in</strong>nere Widersprüchlichkeit sowohl des S<strong>in</strong>gulären als auch<br />

des Universellen nicht <strong>in</strong> Betracht zieht. Zu Recht versteht S<strong>in</strong>gularität Menschen,<br />

Völker <strong>und</strong> Wertegeme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> ihrer jeweiligen natürlichen, sozialen <strong>und</strong> kulturell-geistigen<br />

Prägung. Aber diese E<strong>in</strong>maligkeit ist historische Tatsache! Sie kann<br />

nur von e<strong>in</strong>em „Universalismus“ missachtet werden, der auf offene oder strukturelle<br />

Gewalt orientiert ist. H<strong>in</strong>gegen verträgt sich Universalismus, der <strong>in</strong> der Tendenz gewaltfrei<br />

ist, durchaus mit e<strong>in</strong>em Recht des Individuums <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaften<br />

auf historische E<strong>in</strong>maligkeit. S<strong>in</strong>gularität ist dann Element universellen Rechts auf<br />

Wahrung der Würde jedes Menschen.<br />

Neurechtes Denken identifi ziert diesen Sachverhalt nicht. Statt dessen wird e<strong>in</strong>e<br />

„S<strong>in</strong>gularität“ begründet, die <strong>in</strong> den Augen ihrer Urheber universelle Menschenbetrachtung<br />

<strong>und</strong> Menschenrechte ausschließt. Als Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zip globaler Problemlösung<br />

ist S<strong>in</strong>gularität widerspruchsfrei begründbar, aber die globale Situation des<br />

Menschen wird damit erst <strong>in</strong> äußeren Widersprüchen erfasst. Logisch richtige Identifi<br />

zierung schließt e<strong>in</strong>en Widerspruch <strong>in</strong> der Sache selbst aus. Nach e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren<br />

Widersprüchlichkeit s<strong>in</strong>gulären wie universellen Denkens <strong>und</strong> Handelns wird nicht<br />

gefragt.<br />

<strong>Die</strong> Folge ist, dass Menschen, Völker <strong>und</strong> Wertegeme<strong>in</strong>schaften lediglich s<strong>in</strong>gulär<br />

verstanden werden. Unterschiedliche natürliche, soziale <strong>und</strong> kulturelle Prägungen<br />

bestimmen den Wahrnehmungshorizont, d. h. äußere Widersprüche. S<strong>in</strong>gularität als<br />

maßgebendes Pr<strong>in</strong>zip der globalen Welt ist daher geeignet, verschiedenen Ideologien<br />

zu dienen, die sich gegen Menschenwürde <strong>und</strong> freiheitliche Demokratie richten. Gegensätzliche<br />

Wertungen entstehen, die Menschen konfrontieren. Ihre Eigendynamik<br />

treibt zu Gewaltanwendung, die nicht Resultat äußerer Bedrohung se<strong>in</strong> muss.<br />

E<strong>in</strong>seitige <strong>und</strong> konfrontative „S<strong>in</strong>gularität“ widerspricht folglich dem geme<strong>in</strong>samen<br />

Fortschritt, den die Menschheit benötigt, um ihre drängenden sozialen Aufgaben e<strong>in</strong>vernehmlich<br />

zu lösen.<br />

Es darf nicht übersehen werden, dass S<strong>in</strong>guläre ihren Beitrag zu möglichst friedlicher<br />

Konfl iktbearbeitung <strong>in</strong> der Welt auch verweigern können, wie das gegenwärtig<br />

der Fall ist. <strong>Die</strong> Idee der E<strong>in</strong>maligkeit kann immer auch konfrontativ <strong>und</strong> rassistisch<br />

18


missbraucht werden. Jede Art von Faschisierung bleibt demzufolge das größte H<strong>in</strong>dernis<br />

für Freiheit <strong>und</strong> Selbstbestimmung des Menschen.<br />

Trotzdem erlangen neurechte Ideen seit vier Jahrzehnten E<strong>in</strong>fl uss <strong>in</strong> verschiedensten<br />

rechten <strong>und</strong> rechtsextremen Szenen. In Deutschland erreichten sie vor allem die<br />

NPD <strong>und</strong> Gruppen gewaltbereiter Jugendlicher, die zu dieser Partei tendieren oder<br />

ihr <strong>in</strong>zwischen angehören.<br />

In der öffentlichen Wahrnehmung täuscht die Gewalt von ganz rechts <strong>und</strong> auch<br />

anderer Kräfte darüber h<strong>in</strong>weg, dass „S<strong>in</strong>gularität“ jeden Anspruch auf Vorherrschaft<br />

<strong>in</strong> der Welt legitimieren kann. Mitte der 60er Jahre – zeitgleich mit den neuen Rechten<br />

<strong>in</strong> Frankreich – konzipierten die militanten Kreise der USA ihre endgültige Vorherrschaft<br />

über Rohstoffe <strong>und</strong> Menschen <strong>in</strong> der Welt. Gegenwärtig bestimmt die<br />

„Theorie“ e<strong>in</strong>es sche<strong>in</strong>bar unaufl öslichen Zusammenpralls der Kulturen <strong>und</strong> Streit<br />

der Werte noch ihr Handeln.<br />

In den USA <strong>und</strong> weltweit stellen sich dem Kräfte entgegen. Anderer Herrschaftsanspruch<br />

auf die Welt kann die Ursache se<strong>in</strong>, z. B. der des Islamismus <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternationalen<br />

Terrorismus.<br />

Wiederum drängt sich e<strong>in</strong>e Parallele zur Weimarer Republik auf. Internationaler<br />

Kommunismus <strong>und</strong> rassistischer Nationalsozialismus standen sich als Todfe<strong>in</strong>de gegenüber,<br />

aber beide wandten sich gegen die Weimarer Demokratie. Zu Beg<strong>in</strong>n des<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>erts vollziehen neue Kräfte diesen demokratiefe<strong>in</strong>dlichen Vorgang im<br />

globalen Rahmen. In vielen Ländern kommen gegenwärtig unbeschränkte Gewalt<br />

<strong>und</strong> ihre Ideologien den Globalisierungs<strong>in</strong>teressen militanter Hochfi nanz <strong>und</strong> Politik<br />

entgegen. Globalisierung tendiert wie <strong>in</strong> der Weimarer Republik zu globalem<br />

Faschismus.<br />

Nicht nur Antifaschisten aller Gruppen <strong>und</strong> Schichten sehen sich dieser schleichenden<br />

<strong>und</strong> offenen Gefahr <strong>in</strong> den Überbauten <strong>und</strong> Kulturen gegenüber. Jedes Individuum<br />

ist betroffen <strong>und</strong> veranlasst, Konsequenzen zu ziehen. Es ist die Idee der<br />

Menschheit <strong>und</strong> des Schicksals jedes e<strong>in</strong>zelnen, die weltweit verb<strong>in</strong>den.<br />

Sie verlangt, überall Frieden zu sichern <strong>und</strong> die freiheitliche Demokratie <strong>in</strong> globaler<br />

sozialer H<strong>in</strong>sicht weiter zu entwickeln, damit sie auch <strong>in</strong> Zukunft humane Wirkungen<br />

gewährleistet. Niemand zweifelt an der Langfristigkeit dieses Weges, um allmählich<br />

offene <strong>und</strong> strukturelle Gewalt aus dem Leben der Menschen zu verdrängen.<br />

<strong>Die</strong> hier angedeutete neue Theorie von Faschismus <strong>und</strong> Antifaschismus <strong>in</strong> der globalen<br />

Welt muss daher wissenschaftlich dr<strong>in</strong>gend erweitert werden, damit möglichst<br />

jeder erkennt: Antifaschismus steht nirgendwo <strong>in</strong> der Welt mehr Menschenwürde<br />

<strong>und</strong> freiheitlicher Demokratie entgegen, sondern ist deren sicherster Garant.<br />

3. Wie kann weiterer Faschisierung kulturell-geistig begegnet werden?<br />

Welche Gestalt der Antifaschismus historisch auch annahm, stets musste er sich zuerst<br />

kulturell-geistig gegen <strong>Antisemitismus</strong>, Demokratiefe<strong>in</strong>dlichkeit <strong>und</strong> Faschismus zur<br />

Wehr setzen. Wenn die bisherigen Aussagen zutreffen, dann ist es vor allem nötig, die<br />

19


kulturell-geistige Überlegenheit antifaschistischen Denkens <strong>und</strong> Handelns mit neuen<br />

Argumenten zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Kunst, Medien <strong>und</strong> Politik leisten dafür noch e<strong>in</strong>en zu ger<strong>in</strong>gen<br />

Beitrag. Wenn man von ideologischen <strong>und</strong> politischen Vorbehalten absieht, dann<br />

bee<strong>in</strong>trächtigt e<strong>in</strong> Sachverhalt Menschen <strong>und</strong> Zeitgeist am Erkennen der historischen<br />

Wahrheit, der im menschlichen Erkenntnisprozess selbst begründet liegt.<br />

Menschen können ihre Wirklichkeit auf mehreren Abstraktionsebenen aneignen:<br />

Durch sogenannten ges<strong>und</strong>en Menschenverstand, logisch folgerichtiges Denken<br />

<strong>und</strong> dialektische Refl exion von konkreten Ereignissen <strong>und</strong> Prozessen. <strong>Die</strong> letztere<br />

Gedankenebene berücksichtigt nicht nur äußere Widersprüche des Wahrnehmbaren,<br />

sondern geht dem <strong>in</strong>neren Widerspruch nach, der das historische Auftreten <strong>und</strong> die<br />

eigenständige Entwicklung von Ersche<strong>in</strong>ungen bed<strong>in</strong>gt. <strong>Die</strong>ses dialektisch orientierte<br />

Denken <strong>und</strong> Handeln wird für den Antifaschismus des 21. Jahrh<strong>und</strong>ert unabd<strong>in</strong>gbar,<br />

um Faschisierungsvorgängen nicht nur <strong>in</strong> ständiger Abwehr zu begegnen. Antifaschismus<br />

ist dann nicht aus aktuellen äußeren oder freiwilligen moralischen Gründen<br />

hergeleitet, sondern <strong>in</strong> Erkenntnis der <strong>in</strong>neren Dynamik des faschistischen Denkens<br />

<strong>und</strong> Handelns selbst. Faschismen stehen dann ganzheitlich im Mittelpunkt wissenschaftlicher<br />

Analyse <strong>und</strong> die öffentliche Aufmerksamkeit ist nicht hauptsächlich auf<br />

Täter <strong>und</strong> Opfer konzentriert. wie das gegenwärtig der Fall ist. Dasselbe gilt für Antifachismen<br />

<strong>und</strong> ihre <strong>in</strong>nere Dynamik. <strong>Die</strong> unablässigen Geschichtsdebatten zeigen,<br />

dass der Denkrahmen von Faschismus <strong>und</strong> Antifaschismus präziser werden muss, um<br />

ihre wahre soziale Funktion zu begreifen, die sie <strong>in</strong> der gegenwärtigen Epoche des<br />

Übergangs zu e<strong>in</strong>er menschenwürdigen Welt ausüben.<br />

„Denken heißt überschreiten!“ Das h<strong>in</strong>terließ uns Lebenden der marxistische Philosoph<br />

<strong>und</strong> Antifaschist Ernst Bloch. In diesem S<strong>in</strong>ne steht Antifaschismus im 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts vor der schwierigen Aufgabe, den alltäglichen Wahrnehmungshorizont<br />

des Nationalsozialismus oder Faschismus zu erweitern:<br />

<strong>Die</strong> elementare Abstraktionsstufe ist ges<strong>und</strong>er Menschenverstand. Jeder Mensch<br />

braucht ihn, um zu überleben. Ohne lange zu überlegen nimmt er Ereignisse wahr<br />

<strong>und</strong> äußert sich bis an die Grenze zu <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Reaktionen. Aber selbst bei <strong>in</strong>tensivem<br />

Nachdenken kann ges<strong>und</strong>er Menschenverstand täuschen <strong>und</strong> völlig andere<br />

Ergebnisse zeitigen, als erwartet wurden.<br />

Das trifft auch auf die nächste Gedankenebene zu, das elementare logische Denken.<br />

Das ist schwieriger zu begreifen: Jeder biologisch ges<strong>und</strong>e Mensch verfügt über<br />

logisches Denken. Es unterscheidet ihn vom Tier. Wahrnehmbare Ereignisse werden<br />

folgerichtig identifi ziert, Schlussfolgerungen, Theorien oder Hypothesen gewonnen<br />

<strong>und</strong> danach Entscheidungen getroffen. Letztlich überschreitet logisches Denken aber<br />

nie den Gedankenhorizont der s<strong>in</strong>nlichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Erfahrung. <strong>Die</strong> Wahrheit<br />

von Fakten wird aus diesem Gr<strong>und</strong>e erst logisch folgerichtig erschlossen. Jede<br />

Interessengeme<strong>in</strong>schaft kann Tatsachen auf ihre Weise <strong>in</strong>terpretieren <strong>und</strong> regulative<br />

Pr<strong>in</strong>zipien festlegen, <strong>in</strong> denen sie denkt <strong>und</strong> handelt. Kommunikative Vernunft <strong>und</strong><br />

20


selbst e<strong>in</strong>e ideale Diskursgeme<strong>in</strong>schaft, die ohne Vorbehalte nach Wahrheit strebt,<br />

können sich irren – obwohl sie wahrheitsgemäß denken!<br />

Gr<strong>und</strong> dafür ist e<strong>in</strong>e Differenz, die zwischen der logisch richtigen Wahrheit e<strong>in</strong>es<br />

Ereignisses <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er historischen Wahrheit besteht. <strong>Die</strong>se Differenz begegnet im<br />

Leben immer wieder, wird aber theoretisch <strong>und</strong> praktisch so gut wie nicht beachtet.<br />

Unzeitgemäße Resultate des Handelns s<strong>in</strong>d die Folge: Das gewohnte logische Denken<br />

gibt über den jeweiligen konkret-historischen Inhalt se<strong>in</strong>er Urteile noch ke<strong>in</strong>en Aufschluss.<br />

Fakten werden identifi ziert, aber ohne ihre widersprüchliche Eigendynamik<br />

<strong>in</strong> der Geschichte zu berücksichtigen.<br />

In diesem Unterschied zwischen formell richtiger <strong>und</strong> historischer Wahrheit besteht<br />

der <strong>in</strong>nere Widerspruch im menschlichen Erkenntnisprozess, der bei jeder Aneignung<br />

von Wirklichkeit auftritt. <strong>Die</strong> Anziehungskraft logisch richtiger Ideen ist zwar Allgeme<strong>in</strong>gut,<br />

aber e<strong>in</strong> beliebiger Zeitgeist, der logisch folgerichtig aus Fakten begründbar<br />

ist, stimmt mit deren historischer Wahrheit noch ke<strong>in</strong>eswegs übere<strong>in</strong> – e<strong>in</strong>e für jeden<br />

schicksalhafte Diskrepanz!<br />

Selbst jene Nazis, die hier am Wannsee detailliert die „Endlösung der Judenfrage“<br />

festlegten, sahen sich, wie ihre Auftraggeber Hitler <strong>und</strong> Gör<strong>in</strong>g, historisch absolut<br />

nicht als Verbrecher, sondern als Verfechter e<strong>in</strong>er richtigen Sache, die sich logisch<br />

begründen <strong>und</strong> vermitteln ließ. L<strong>in</strong>ear ausschließendes Denken entstand, das äußerst<br />

geradl<strong>in</strong>ig ersche<strong>in</strong>t, weil es <strong>in</strong>neren Widerspruch <strong>in</strong> Ereignissen ausschließt,<br />

auch den im Denken <strong>und</strong> Handeln von Tätern <strong>und</strong> Opfern. Irrtum, Verdächtigung<br />

<strong>und</strong> Mord s<strong>in</strong>d dann jederzeit zu legitimieren; es genügt, nach äußerem Ansche<strong>in</strong><br />

zu urteilen. Wenn man folglich nach der <strong>in</strong>tellektuellen Quelle fragt, die Individuen<br />

<strong>in</strong> die Irre <strong>und</strong> zu politischen Verbrechen treibt, dann liegt sie überraschenderweise<br />

auch im elementaren logischen Denken begründet. Es ist für jeden notwendig, kann<br />

aber jederzeit für manipulative Zwecke missbraucht werden – von persönlichen bis zu<br />

weltweiten Konfrontationen.<br />

Auf diese Weise konnten selbst im bisherigen Antifaschismus verbrecherische Maßnahmen<br />

logisch legitimiert werden. Antifaschisten <strong>und</strong> Kommunisten, Menschen<br />

<strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>schaften wurden vor, während <strong>und</strong> nach dem Zweiten Weltkrieg Opfer<br />

politischer Kampagnen. Unmenschliche Gewalt wurde formell richtig begründet, e<strong>in</strong><br />

Vorgang, der die Geschichte jeder gewaltsamen Konfrontationen durchzieht.<br />

Erst dialektisch orientiertes Denken <strong>und</strong> Handeln kann diese Situation verändern,<br />

denn se<strong>in</strong>e Wahrheitssuche ist komplexer Natur. Ganzheitlich fußt sie auf den Erkenntnissen<br />

exakten logischen Denkens, begreift darüber h<strong>in</strong>aus aber die konkreten<br />

Ereignisse <strong>und</strong> Prozesse <strong>in</strong> ihrer eigenständigen dynamischen Entwicklung. Innerer<br />

Widerspruch wird akzeptiert, nicht nur im Denken <strong>und</strong> Handeln anderer, sondern<br />

auch im eigenen. Faschismus <strong>und</strong> Antifaschismus können dann <strong>in</strong>haltlich <strong>in</strong> ihrer<br />

historischen Entstehung, aktuellen Wirkung <strong>und</strong> erkennbaren Perspektive verstanden<br />

werden, nicht nur als formell richtig Antibegriffe, die <strong>in</strong> der politischen Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

unabd<strong>in</strong>gbar s<strong>in</strong>d.<br />

21


In Zeiten von Globalisierung wird Dialektik demnach zur maßgebenden <strong>in</strong>tellektuellen<br />

Gedankenebene, um Wirklichkeit anzueignen <strong>und</strong> menschenwürdig zu verändern.<br />

Sie ist das wichtigste Mittel, um Faschisierungsvorgänge <strong>in</strong> ihrer sozialen<br />

Widersprüchlichkeit rechtzeitig zu erkennen, um sie zu verh<strong>in</strong>dern. Aus dialektischer<br />

Sicht erweist sich jedes Handeln als <strong>in</strong> sich widersprüchlich. Es ist konkrete Tat, die<br />

wahrnehmbar ist. Mit ihr erzeugt Handeln zugleich soziale Verhältnisse des Handelnden<br />

zu anderen Menschen – <strong>und</strong> damit auch zu sich selbst. Jede Tat ist als Fakt<br />

formell logisch exakt bestimmbar.<br />

<strong>Die</strong> mit ihr erzeugten Verhältnisse s<strong>in</strong>d es nicht, ebenso wie alle anderen Verhältnisse<br />

<strong>in</strong> der Natur <strong>und</strong> im gesellschaftlichen Leben. Erst das widersprüchliche Verständnis<br />

des jeweiligen konkreten Ereignisses kann sie erschließen. Dialektisches Denken ist<br />

daher <strong>in</strong> der Lage, Effektives <strong>und</strong> Humanes im Selbstbewusstse<strong>in</strong> von Menschen <strong>und</strong><br />

Geme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen. An diesem Sachverhalt ist die <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Schwierigkeit deutlich, die Denken <strong>und</strong> Handel nach dem <strong>in</strong>neren Widerspruch der<br />

Fakten bereitet. Es folgt nicht mehr alle<strong>in</strong> äußerem Ansche<strong>in</strong>, äußeren Widersprüchen,<br />

die <strong>in</strong> Gegensätzen <strong>und</strong> Konfrontationen enden, auch solchen, die ihren historischen<br />

S<strong>in</strong>n für die Menschheit bereits e<strong>in</strong>gebüßt haben.<br />

Trotzdem ist dialektische Denkweise, die dem konket-historischen Inhalt von Ereignissen<br />

<strong>und</strong> Prozessen nachgeht, nahezu <strong>in</strong> Vergessenheit geraten. Dialektisch orientiertes<br />

Handeln spielt im aktuellen Zeitgeist ke<strong>in</strong>e Rolle. Schnellen Erfolg br<strong>in</strong>gt<br />

das formell richtige Denken. Solch l<strong>in</strong>eares Denken ist es, das Gew<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>treibt,<br />

e<strong>in</strong>en gewissen sozialen Fortschritt erreicht – <strong>und</strong> Unmenschliches zulässt. Kapitalistische<br />

Konkurrenz benötigt es für wirtschaftliche, politisch-ideologische <strong>und</strong><br />

militärische Aktionen. Wie sehr dialektisches Denken <strong>und</strong> Handeln fehlt, zeigen<br />

militärische Gewaltakte, die sich wie im Irak unendlich multiplizieren <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nlos<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Gegenwärtig herrscht dieser deduktiv-l<strong>in</strong>eare Denkstil <strong>in</strong> Wissenschaft, Wirtschaft,<br />

Politik <strong>und</strong> <strong>in</strong> kulturellen Lebensäußerungen der Menschen vor. An Immanuel Kants<br />

Erkenntnistheorie orientiert, wird der Rahmen des s<strong>in</strong>nlich Wahrnehmbaren nicht<br />

zu dialektischer Refl exion überschritten, die vom Widerspruch <strong>in</strong> Ereignissen <strong>und</strong><br />

Prozessen ausgeht. Deshalb können sich auch die antisemitischen <strong>und</strong> demokratiefe<strong>in</strong>dlichen<br />

Konfrontationen <strong>in</strong> der Welt des formell-logisch richtigen, aber l<strong>in</strong>ear ausschließenden<br />

Denkens bedienen.<br />

Dem humanen Bestreben Immanuel Kants widerspricht das völlig. Alle Kulturen<br />

kennen die Lebensweisheit: „ Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg’ auch ke<strong>in</strong>em<br />

andern zu!“ Kant verallgeme<strong>in</strong>erte sie zu e<strong>in</strong>em kategorischen Imperativ, der für<br />

jedes humane Denken <strong>und</strong> Handeln zutrifft. In diesem S<strong>in</strong>ne begründet er Pr<strong>in</strong>zipien<br />

für ewigen Frieden <strong>in</strong> der Welt. Aber er lässt, se<strong>in</strong>er apriorischen Erkenntnistheorie<br />

folgend, den jeweiligen konkret-historischen Inhalt se<strong>in</strong>er logisch exakt hergeleiteten<br />

Pr<strong>in</strong>zipien offen. Bis <strong>in</strong> die Gegenwart gilt das für alle regulativen Ideen, nach denen<br />

über Fakten <strong>und</strong> veränderte äußere Bed<strong>in</strong>gungen geurteilt wird, ohne zu berücksich-<br />

22


tigen, welche eigenständige dynamische Entwicklung sie <strong>in</strong> der Geschichte annehmen.<br />

Für die regulativen Ideen selbst ist das ebenso gültig.<br />

Nicht nur humane, sondern auch <strong>in</strong>humane Denk- <strong>und</strong> Handlungsweisen s<strong>in</strong>d<br />

Folgen l<strong>in</strong>earer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Als Dialektik der Aufklärung wurde<br />

das zu Recht erkannt. Auch e<strong>in</strong>e „neue“ Aufklärung kann Menschen deshalb nicht<br />

ganzheitlich orientieren, solange sie nicht von der <strong>in</strong>neren Widersprüchlichkeit konkreter<br />

Ereignisse <strong>und</strong> damit ihrer historischen Wahrheit ausgeht. Aufklärerisches<br />

Denken ist deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung für Dialog <strong>und</strong> menschenwürdige Kooperation<br />

ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>geschränkt. Aber dialektische Aneignung der Wirklichkeit ist<br />

die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, um den Missbrauch menschlichen Erkenntnisvermögens für<br />

<strong>in</strong>humane Zwecke auf geistig-kultureller <strong>und</strong> praktischer Ebene zu bekämpfen.<br />

4. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich,<br />

um soziale Aufgaben menschlich zu lösen?<br />

<strong>Die</strong> wichtigste Schlussfolgerung für Antifaschismus im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert besteht im<br />

Wiedergew<strong>in</strong>n dialektischen Denkens. <strong>Antisemitismus</strong>, Demokratiefe<strong>in</strong>dlichkeit <strong>und</strong><br />

Faschismus s<strong>in</strong>d Ideologien <strong>und</strong> Handlungsweisen, die <strong>in</strong> der Geschichte offener <strong>und</strong><br />

struktureller Gewalt dienen. Sie zielen auch gegenwärtig als erstes auf geistig-kulturelle<br />

Vorherrschaft <strong>in</strong> der Bevölkerung. <strong>Die</strong>ser E<strong>in</strong>fl uss nimmt zu <strong>und</strong> erneut drohen<br />

se<strong>in</strong>e persönlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Tragödien.<br />

Aber anstelle geistiger Arbeit gegen ideologisierte Haltungen <strong>und</strong> Begriffe werden<br />

antifaschistische Aktionen <strong>und</strong> Empörung zu schnell durch andere Ereignisse aus der<br />

Öffentlichkeit verdrängt. Zu wenig wird deutlich, was ideologisierte Begriffe im wahren<br />

Geschichtsverlauf bedeuten, auch die des aktuellen Zeitgeistes. Emotionell <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong>tellektuell gew<strong>in</strong>nen daher <strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> Antidemokratismus <strong>in</strong> der Bevölkerung<br />

an E<strong>in</strong>fl uss. <strong>Die</strong> schleichende Faschisierung <strong>in</strong> der Welt wird nicht erkannt, die<br />

Menschen mit neuen Schagworten manipuliert. Ihnen zu begegnen, ist ohne dialektische<br />

Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht möglich. Sie kann aus dem reichen Erbe<br />

dialektischen Denkens erschlossen werden, das die Menschheit hervorgebracht hat.<br />

Neue Argumente gegen Gewaltbereitschaft <strong>und</strong> faschistoide Kräfte s<strong>in</strong>d zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

<strong>Die</strong> klassische deutsche Literatur <strong>und</strong> Philosophie erbrachte Höhepunkte der dialektischen<br />

Sicht von Ereignissen <strong>und</strong> Prozessen: Goethe lässt se<strong>in</strong>en „Faust“ von Mephisto<br />

durch die Welt geleiten, erst als er erbl<strong>in</strong>det, ihren äußeren Sche<strong>in</strong> nicht mehr<br />

wahrnehmen kann, gelangt se<strong>in</strong> Erkenntnisdrang zu mehr Wahrheit.<br />

Se<strong>in</strong> Zeitgenosse Hegel, ließ zwar völlig <strong>und</strong>ialektisch Denken <strong>und</strong> Geschichte <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em System enden, was von den Nazis <strong>und</strong> anderen missbraucht wurde. Trotzdem<br />

zeigt se<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Kant, wie sich beliebiger Zeitgeist der historischen<br />

Wahrheit nähert, dem kulturell-geistigen Hauptproblem des Menschen auch <strong>in</strong> der<br />

globalen Welt.<br />

Hegel wandte sich gegen die häufi gen Vorurteile <strong>und</strong> Missverständnisse der Dialektik,<br />

vor allem aber gegen sche<strong>in</strong>dialektisches Denken, das äußere Widersprüche als<br />

23


dialektisch ausgibt. Dialektik verstand er „… nicht <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass sie e<strong>in</strong>em dem<br />

Gefühl, dem unmittelbaren Bewusstse<strong>in</strong> überhaupt gegebenen Gegenstand, Satz usf.<br />

aufl öst, verwirrt, herüber <strong>und</strong> h<strong>in</strong>über führt … <strong>und</strong> es nur mit dem Herleiten se<strong>in</strong>es<br />

Gegenteils zu tun hat, – e<strong>in</strong>e negative Weise, wie sie häufi g auch bei Plato ersche<strong>in</strong>t<br />

…<br />

<strong>Die</strong> höhere Dialektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloß als Schranke <strong>und</strong><br />

Gegenteil, sondern aus ihr den positiven Inhalt <strong>und</strong> Resultat hervorzubr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong><br />

aufzufassen, als wodurch sie alle<strong>in</strong> Entwicklung <strong>und</strong> immanantes Fortschreiten ist.<br />

<strong>Die</strong> Dialektik ist dann nicht äußeres Tun e<strong>in</strong>es subjektiven Denkens, sondern die<br />

eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige <strong>und</strong> Früchte hervortreibt …<br />

Etwas als vernünftig betrachten heißt, nicht an den Gegenstand von außen her e<strong>in</strong>e<br />

Vernunft h<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> ihn dadurch zu bearbeiten, sondern der Gegenstand ist<br />

für sich selbst vernünftig; hier ist es der Geist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Freiheit, die höchste Spitze<br />

der selbstbewussten Vernunft, die sich Wirklichkeit gibt <strong>und</strong> als existierende Welt<br />

erzeugt; die Wissenschaft hat dann nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft<br />

der Sache zum Bewusstse<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen.“<br />

Nicht von außen her an den Gegenstand herangehen, sondern se<strong>in</strong>e eigene dialektische<br />

Entwicklung ermitteln, so kennzeichnet Hegel dialektischen Wahrheitsgew<strong>in</strong>n.<br />

Für das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert s<strong>in</strong>d solche neuen theoretischen <strong>und</strong> strategischen Antworten<br />

unausweichlich. Im Ensemble der Weltwissenschaft <strong>und</strong> aller Kulturen können<br />

sie gef<strong>und</strong>en werden. Dialektische Wahrheitssuche wird <strong>in</strong> der globalen Welt geme<strong>in</strong>sames<br />

Anliegen der Menschheit, das ane<strong>in</strong>ander b<strong>in</strong>det <strong>und</strong> <strong>in</strong> allen Lebenssphären<br />

menschenwürdiges Handeln ermöglicht. Im Zeitgeist der Globalisierung muss deshalb<br />

die Diskrepanz von historisch-<strong>in</strong>haltlicher <strong>und</strong> formell-richtiger Wahrheitssuche<br />

aufgehoben werden. Beide können an jedem Ort <strong>und</strong> zu jeder Zeit zusammenwirken,<br />

um <strong>in</strong>nere humane Menschenkräfte frei zu entfalten, von denen zukünftiges Leben<br />

<strong>und</strong> sozialer Fortschritt abhängen. Jene realistische Vernunft wird möglich, die Menschen<br />

<strong>und</strong> Wertegeme<strong>in</strong>schaften der globalen Welt dr<strong>in</strong>gend benötigen.<br />

Denn e<strong>in</strong>e Selbstgefährdung der „offenen“ Gesellschaft ist spürbar, auf die selbst<br />

konservative Denker besorgt reagieren. Diktatorische Gewalten <strong>und</strong> Terror bilden die<br />

größte Gefahr für die Menschheit, weil sie auch bei formell demokratischen Verhältnissen<br />

funktionieren. Darauf hat schon Pier Pasol<strong>in</strong>i aufmerksam gemacht, der 1975<br />

ermordete italienische Regisseur <strong>und</strong> Sozialkritiker: Ke<strong>in</strong> Goebbels hätte erreichen<br />

können, was modische Massenbedarfsgüter auf dem ganzen Erdball suggerieren.<br />

In der naturwissenschaftlichen Forschung entsteht der Gedanke, die „verlorene Dialektik“<br />

wiederzugew<strong>in</strong>nen. E<strong>in</strong>zelne Sozial- <strong>und</strong> Geisteswissenschaftler fordern, die<br />

bisherige Gesellschaftstheorie generell zu überdenken. <strong>Die</strong> Ereignisfelder der globalen<br />

Wirklichkeit drängen zu dialektischer Wahrheitssuche.<br />

Deshalb steht bevor, das Konzept e<strong>in</strong>er Dialektik zu erarbeiten, die wissenschaftliche<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Diskurse – soweit sie stattfi nden – nicht <strong>in</strong> die Form dualer Be-<br />

24


schreibungen <strong>und</strong> konfrontativer Entscheidungen abgleiten lässt. Ganzheitlich differenzierendes<br />

Erkennen wird benötigt, um die wahren Verhältnisse von Ereignissen <strong>und</strong><br />

historischen Fakten zu ermitteln, die deren eigenständige Dynamik kennzeichnen.<br />

<strong>Die</strong> Wirklichkeit der Epoche erweist die Richtigkeit dieses Standpunktes immer<br />

wieder aufs Neue. Zum Friedensproblem bildet sich allmählich e<strong>in</strong> vernünftiger <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>vernehmlich realisierbarer Denkansatz heraus: Frieden entsteht noch nicht aus<br />

Waffenruhe, die den ersten Schritt bildet. Danach müssen im praktischen Umgang<br />

aller Beteiligten <strong>und</strong> Betroffenen reale humane Verhältnisse Gestalt annehmen, um<br />

Frieden dauerhaft zu sichern.<br />

Gleicher Wertsicht bedürfen die politische Programme der nächsten Zeit. Für soziale<br />

Balance <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>wohl s<strong>in</strong>d demokratische Gr<strong>und</strong>werte unverbrüchlich. Aber<br />

Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit werden <strong>in</strong> ihrem sozialen Inhalt ständig der<br />

fi nanzoligarchischen Globalisierung angepasst. Freiheit wurde mit Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Solidarität verwoben. Auch die aktuelle Parole „Mehr Gerechtigkeit durch Freiheit“<br />

offenbart die historische Wahrheit: Es handelt sich um Werte der Zirkulation! Ihr<br />

sozialer Inhalt folgt dem F<strong>in</strong>anzgeschehen, statt der Produktion. Humane Wertverhältnisse<br />

aller sozialen Gruppen <strong>und</strong> Generationen wären zu gestalten. Aber weder<br />

die bisherige Werttheorie noch der gegenwärtige Wertediskurs berührt diesen Sachverhalt.<br />

Als Lösung gelten e<strong>in</strong>erseits „freie“ persönliche Initiative, andererseits Zugangsgerechtigkeit,<br />

die staatlich noch fi nanzierbar ist. Ganzheitliche philosophische<br />

Arbeit an Wertfragen wird erforderlich, denn <strong>in</strong> Wirklichkeit s<strong>in</strong>d die sozialen Aufgaben<br />

<strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong> der Welt nicht zu lösen, ohne sich auf das ökonomische<br />

Wertverhältnis zu bes<strong>in</strong>nen. <strong>Die</strong>ser reale ökonomische Wert ist das elementare soziale<br />

Verhältnis <strong>in</strong> der Welt, das zwischen arbeitenden Menschen auftritt, die materielle<br />

Produkte erzeugen, <strong>in</strong> die mit der menschlichen Entwicklung e<strong>in</strong> steigender Anteil<br />

geistiger Arbeit e<strong>in</strong>geht.<br />

Ke<strong>in</strong> Mensch, ke<strong>in</strong>e Gesellschaft kann ohne diesen ökonomischen Wert leben,<br />

denn materielle <strong>und</strong> geistige Güter müssen erzeugt werden. Der reale ökonomische<br />

Wert ist daher <strong>in</strong> allen Formen der sozialen Evolution wirksam. Auch <strong>in</strong> der globalen<br />

Welt bestimmt er letztlich das ökonomische <strong>und</strong> soziale Geschehen – unabhängig<br />

vom Tauschwert, Privateigentum an Produktionsmitteln <strong>und</strong> Geld.<br />

Oft wird deshalb nach der konkreten Ersche<strong>in</strong>ungsform dieses ökonomischen Wertverhältnisses<br />

gefragt, weil es wie jedes Verhältnis nicht unmittelbar wahrnehmbar ist.<br />

Se<strong>in</strong>en wahrnehmbaren Ausdruck fi ndet dieser eigentliche ökonomische Wert <strong>in</strong> den<br />

gesellschaftlichen Arbeitsteilungen. Ursprünglich zwischen Mann <strong>und</strong> Frau, prägen<br />

sie die gesamte weitere humane Evolution der Menschheit. Wenn daher soziale Ideen,<br />

Bewegungen <strong>und</strong> Institutionen wissenschaftlich beurteilt werden sollen, dann s<strong>in</strong>d<br />

als objektiver Maßstab ihres Wirkens letztlich Arbeitsteilungen heranzuziehen, die sie<br />

herbeiführen.<br />

Im Großzyklus der sozialen Evolution ist der wahre Charakter e<strong>in</strong>er Epoche <strong>und</strong><br />

ihrer Menschen nicht zu erkennen, wenn die soziale Wirkung des elementaren öko-<br />

25


nomischen Wert nicht berücksichtigt wird. Er bildet das F<strong>und</strong>ament humaner materieller<br />

<strong>und</strong> geistiger Kultur <strong>in</strong> der Geschichte der Menschheit. Erst auf dieser Gr<strong>und</strong>lage<br />

können sich Menschen <strong>und</strong> Gesellschaften menschenwürdig wandeln <strong>und</strong> den<br />

Sche<strong>in</strong> von Manipulationen wie Utopien h<strong>in</strong>ter sich lassen. <strong>Die</strong> Missachtung des<br />

realen ökonomischen Werts besiegelte das Ende des „realen“ Sozialismus – e<strong>in</strong>e Lehre<br />

für die Menschheit, um die unselige Kluft von Ökonomie, Politik <strong>und</strong> Moral zu<br />

schließen. <strong>Die</strong> künstlich globalisierte Ökonomie <strong>und</strong> Politik <strong>in</strong> der gegenwärtigen<br />

Welt setzt diese Diskrepanz fort <strong>und</strong> verödet zusehends jede humane geistige Kultur.<br />

Nicht nur bei Jugendlichen bee<strong>in</strong>trächtigt der „Realismus“ rücksichtsloser Konkurrenz<br />

<strong>und</strong> Gewalt <strong>in</strong> den Medien jede vernünftige Menschenbetrachtung.<br />

In globalen Faschisierungsvorgängen fi ndet die Diskrepanz zwischen materieller<br />

<strong>und</strong> geistiger Kultur, um die sich Albert Schweitzer sorgte, ihren gefährlichsten Ausdruck.<br />

Sie wird <strong>in</strong> dem Maße aufhebbar, wie dialektisches Denken <strong>in</strong> allen lebenswichtigen<br />

Entscheidungsfeldern der Menschheit zurückgewonnen wird.<br />

Unter diesem Aspekt s<strong>in</strong>d viele Ereignisse <strong>und</strong> Prozesse neu zu durchdenken – dialektisch,<br />

um menschenwürdiges Denken <strong>und</strong> Handeln durchzusetzen. Besonders<br />

betrifft das die human-kreative Substanz von Wissenschaft, Bildung <strong>und</strong> Hochschulbildung.<br />

Wissenschaft ist geistige Arbeit, die potentiell von jedem vollzogen <strong>und</strong><br />

weltweit human genutzt werden kann. Entscheidend ist, wie im Individuum neue<br />

Ideen entstehen, nicht formell e<strong>in</strong>gelerntes Wissen, sondern wahre Bildung. Dar<strong>in</strong><br />

besteht das humane Anliegen <strong>und</strong> die Verantwortung des Bildungswesens, speziell<br />

der Hochschulbildung. <strong>Die</strong> klassische Idee der Universität ist dieser geistigen Kultur<br />

verpfl ichtet. In der freien geistigen Kraftentfaltung des Individuums erblickten die<br />

Humboldts, Goethe, Hegel <strong>und</strong> andere ihrer Zeitgenossen das Zentrum menschlichen<br />

Lebens, von dem humane soziale Gestaltungen ausgehen. <strong>Die</strong>se soziale Energie<br />

entscheidet über die Kont<strong>in</strong>uität der sozialen Evolution. Der kulturelle Charakter<br />

ihrer Menschen bestimmt, wie sich e<strong>in</strong>e Epoche <strong>und</strong> ihr differenzierter Zeitgeist gestalten.<br />

Das m<strong>in</strong>dert die Rolle materieller Faktoren ke<strong>in</strong>eswegs, die bestimmen, was<br />

<strong>in</strong> der jeweiligen Epoche praktisch erreicht werden kann.<br />

Dialektische Wahrheitssuche fußt auf dieser ganzheitlichen Betrachtung des Menschen<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Geschichte. Sie folgt ke<strong>in</strong>en ideologischen Menschenbildern, die<br />

dem eigentlichen Ich gegenüberstehen – der <strong>in</strong>neren humanen Entfaltung der Persönlichkeit!<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong>, das dialektisch begriffen wird, achtet deshalb jeden Menschen,<br />

wahrt se<strong>in</strong>e Würde <strong>und</strong> <strong>in</strong>tegriert ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en freien <strong>und</strong> demokratischen Gestaltungsprozess<br />

zur Ganzheitswerdung der Menschheit. Werden die genannten Sachverhalte<br />

im Menschenbild e<strong>in</strong>es Zeitgeistes vernachlässigt, treten irreparable Schäden<br />

e<strong>in</strong>. Offene <strong>und</strong> strukturelle Gewalten zersetzen dann humane Menschenbildung <strong>und</strong><br />

verh<strong>in</strong>dern, dass menschliche Kreativität sich effektiv <strong>und</strong> human gestaltet.<br />

<strong>Die</strong> Entscheidung darüber ist stets <strong>in</strong>dividueller Natur <strong>und</strong> die Verantwortung dafür<br />

kann nicht äußeren Zwängen zugewiesen werden. <strong>Die</strong> <strong>in</strong>nere Widersprüchlichkeit<br />

26


des persönlichen Handelns bildet den Ausgangspunkt dialektischer Betrachtung des<br />

Menschen auch der gegenwärtigen Epoche!<br />

Antifaschistisches wie nationalsozialistisches, faschistisches <strong>und</strong> faschistoides Handeln<br />

s<strong>in</strong>d ebenso zu beurteilen – <strong>in</strong> sich widersprüchlich <strong>und</strong> damit <strong>in</strong> ihrer historischen<br />

Wahrheit.<br />

Gegen elitäre Macht, Herrschaft <strong>und</strong> Gewalt <strong>in</strong> der Welt wird dialektische Wahrnehmung<br />

menschlichen Denkens <strong>und</strong> Handeln unerlässlich. Auf diese Weise kann<br />

Antifaschismus <strong>in</strong> allen Kulturen se<strong>in</strong>e universelle Aufgabe gegen Faschisierung <strong>und</strong><br />

Faschismen erfüllen.<br />

27


Dr. Horst Helas<br />

„E<strong>in</strong> Ghetto mit offenen Toren“ –<br />

das Berl<strong>in</strong>er Scheunenviertel <strong>in</strong> der NS-Zeit<br />

Spaziergänge auf den Spuren früheren jüdischen Lebens <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte, durch das so<br />

genannte Scheunenviertel <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Umgebung, die ich auch heute noch gelegentlich<br />

durchführe, beg<strong>in</strong>nen zumeist auf den Stufen der Volksbühne am Luxemburg-Platz.<br />

Das fängt dann zumeist so an: „Guten Tag, me<strong>in</strong>e Damen <strong>und</strong> Herren, unser heutiger<br />

Spaziergang durch das Scheunenviertel wird sehr kurz ausfallen, jeder dreht sich<br />

e<strong>in</strong>mal um se<strong>in</strong>e eigene Achse <strong>und</strong> geht nach Hause.“<br />

<strong>Die</strong>se E<strong>in</strong>führung hat e<strong>in</strong>en realen geschichtlichen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, denn das im Jahre<br />

1913 fertiggestellte Theater am damaligen Bülowplatz wurde genau auf jenem Areal<br />

errichtet, dass zu Zeiten des Großen Kurfürsten seit 1642 durch e<strong>in</strong>e von höchster<br />

Stelle erlassene Feuerordnung als jener Platz bestimmt wurde, auf dem die Berl<strong>in</strong>er<br />

Ackerbürger künftig ihre Scheunen zu errichten hatten, um <strong>in</strong> der Doppelstadt Berl<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> Cölln die Brandgefahr zu m<strong>in</strong>dern. <strong>Die</strong>s war die Geburtsst<strong>und</strong>e des so genannten<br />

Scheunenviertels.<br />

Es ist eher e<strong>in</strong> Zufall, dass nahezu gleichzeitig, im Jahre 1671, e<strong>in</strong> weiteres Edikt<br />

erlassen wurde. Fünfzig gerade aus Wien vertriebene, vermögende jüdische Familien<br />

erhielten e<strong>in</strong>en Schutzbrief <strong>und</strong> begründeten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Brandenburg die jüdische<br />

Geme<strong>in</strong>de neu. Und schon s<strong>in</strong>d wir bei unserem Thema, wenn auch noch nicht im<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Im Laufe der rasanten Stadterweiterung Berl<strong>in</strong>s verschwanden die<br />

Scheunen recht schnell.<br />

Ohne ausführlicher darauf e<strong>in</strong>gehen zu wollen: Das erste zusammenhängende<br />

straßenbauliche Konzept für die Stadt, von August Orth 1871 konzipiert, endete <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Desaster 1 mit zwei für unser Thema wichtigen Effekten:<br />

1. <strong>Die</strong> Straßenführung der neuen Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Karl-Liebknecht-<br />

Straße) nach Norden wurde nur bis zum Alexanderplatz Wirklichkeit. Alle weiteren<br />

Konzepte <strong>und</strong> praktischen Maßnahmen scheiterten bis 1926 an Fehlplanungen der<br />

Berl<strong>in</strong>er Stadtverwaltung sowie an fehlgegangenen Bauspekulationen privater wie<br />

kommunaler Institutionen. Das bis heute erkennbare Dreieck hatte se<strong>in</strong>e Spitze an<br />

der späteren Volksbühne <strong>und</strong> die beiden Schenkel des geometrischen Gebildes bestanden<br />

aus eher kle<strong>in</strong>eren Straßen, die erst im Übergang zur Prenzlauer Allee bzw.<br />

Schönhauser Allee entstanden.<br />

2. Als die KPD 1926 ihre Zentrale vom Hackeschen Markt an den Bülowplatz verlegte,<br />

war dieses Dreieck e<strong>in</strong>e Bauwüste, nur die Volksbühne mittendr<strong>in</strong> ragte hervor.<br />

1 Vgl. Renate Schmidt, August Orth <strong>und</strong> die Anlage der Kaiser-Wilhelm-Straße, <strong>in</strong>: Das Scheuneviertel. Spuren<br />

e<strong>in</strong>es verlorenen Berl<strong>in</strong>s, Berl<strong>in</strong> 1994, S. 37–42.<br />

28


Anhänger der KPD konnten das Karl-Liebknecht-Haus wohl zunächst nur mühsam<br />

erreichen. Theaterbesucher hatten vielleicht Gummistiefel im Gepäck?<br />

Seit 1871 hatte das Areal nördlich des Alexanderplatzes, h<strong>in</strong> zur Volksbühne, für<br />

Jahrzehnte se<strong>in</strong>en besonders schlechten Ruf erlangt <strong>und</strong> behalten – als Wohngegend<br />

für die Ärmsten <strong>und</strong> Aufenthaltsort für „zwielichtige Gestalten“. Kle<strong>in</strong>krim<strong>in</strong>elle <strong>und</strong><br />

so genannte „Damen, die im öffentlichen Leben stehen“ sowie deren Zuhälter fühlten<br />

sich hier wohl. Auch die ärmsten Berl<strong>in</strong>er, Arbeitslose <strong>und</strong> Tagelöhner, fanden hier<br />

e<strong>in</strong>e Bleibe <strong>und</strong> bevölkerten tagsüber die Straßen.<br />

Schließlich: Besonders viele Juden waren dort zu sehen, Juden vor allem, die auch<br />

äußerlich mit Peijeslocken <strong>und</strong> Scheitel, die Männer <strong>in</strong> langen dunklen Mänteln<br />

<strong>und</strong> mit auffallenden Bärten, immer mit Hut, das Straßenbild prägten. Mit dem Jiddischen<br />

war e<strong>in</strong> besonderes Kauderwelsch zu vernehmen, das für e<strong>in</strong>heimische Ohren<br />

ungewohnt fremd klang.<br />

<strong>Die</strong> Gegend h<strong>in</strong>ter dem Alexanderplatz wurde zu e<strong>in</strong>em Lebenszentrum der so<br />

genannten Ostjuden – mit Privatsynagogen, kle<strong>in</strong>en Gasthäusern <strong>und</strong> Kramläden<br />

mit koscheren Lebensmitteln <strong>und</strong> We<strong>in</strong>en, mit Buchhändlern, die Gebetsbücher <strong>und</strong><br />

andere Utensilien feilboten, die man für die E<strong>in</strong>haltung der religiösen Vorschriften<br />

brauchte. Nur angemerkt sei, dass die Begriffe „Scheunenviertel“ oder auch „jüdische<br />

Schweiz“ schon <strong>in</strong> der Kaiserzeit <strong>in</strong> Zeitungen <strong>und</strong> Dokumenten zu lesen waren, also<br />

ke<strong>in</strong>e Erfi ndungen des seit 1926 für Groß-Berl<strong>in</strong> zuständigen Gauleiters der NSDAP<br />

Joseph Goebbels darstellen, der durch se<strong>in</strong>e üble antisemitische Hetze am Ende der<br />

Weimarer Republik täglich von sich Reden machte.<br />

<strong>Die</strong> Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) wurde <strong>und</strong> wird <strong>in</strong> diesen Zusammenhängen<br />

als Adresse e<strong>in</strong>es Stadtquartiers, <strong>in</strong> dem viele Juden lebten <strong>und</strong> arbeiteten,<br />

besonders häufi g genannt.<br />

Als wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en ABM-Team am Beg<strong>in</strong>n der Recherchen für das im Jahre<br />

2000 erschienene Buch „Juden <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte“ 2 viele Briefe schrieben <strong>und</strong> neugierige<br />

Fragen stellten, waren wir überrascht über die große, positive Resonanz auf unseren<br />

Appell, sich an jenen Ort zu er<strong>in</strong>nern, von dem Frauen, Männer <strong>und</strong> K<strong>in</strong>der ab 1933<br />

vertrieben worden waren.<br />

So schrieb zum Beispiel Naftali Nebenzahl, der früher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Parallelstraße der<br />

Grenadierstraße, der Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße), wohnte <strong>und</strong> heute <strong>in</strong><br />

Israel lebt: „<strong>Die</strong> Grenadierstraße, das war die Straße, <strong>in</strong> der wir faktisch lebten. In<br />

dieser Straße war das Zentrum der polnischen Juden <strong>und</strong> sie war hauptsächlich von<br />

Juden bewohnt. Dort war e<strong>in</strong> Lebensmittelgeschäft Tennenbaum <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Fleischgeschäft<br />

Sussmann, es gab e<strong>in</strong> Gefl ügelgeschäft – Szydlow, e<strong>in</strong> rituelles Tauchbad, e<strong>in</strong><br />

Restaurant, e<strong>in</strong>e jüdische Nachmittagsschule für ausschließlich jüdische Fächer, um<br />

zu ergänzen, was am Vormittag nicht gelernt wurde. <strong>Die</strong> Synagogen der polnischen<br />

2 Vgl. Horst Helas: Juden <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte. Biografi en Orte Begegnungen, Berl<strong>in</strong> 2000 (Im folgenden: Juden <strong>in</strong><br />

Mitte).<br />

29


Juden waren dort, Stibbelek wurden sie genannt, das heißt kle<strong>in</strong>e Stuben, <strong>in</strong> denen<br />

man betete, jede hatte ihren eigenen Ritus. Nummer 43, Nummer 42, Nummer 36,<br />

Nummer 37, unten <strong>und</strong> oben, Nummer 6a <strong>und</strong> noch weitere. <strong>Die</strong>se Betstuben waren<br />

<strong>in</strong> den Häusern h<strong>in</strong>ten stationiert, nach außen unkenntlich <strong>und</strong> deswegen wurden<br />

sie <strong>in</strong> der „Kristallnacht“ verschont. Am Samstag war die Straße ruhig, kaum fuhr e<strong>in</strong><br />

Auto durch, <strong>und</strong> es ist zu bew<strong>und</strong>ern, dass so e<strong>in</strong>e Straße se<strong>in</strong> konnte, im Zentrum<br />

Berl<strong>in</strong>s, nicht weit vom Alexanderplatz. Ich habe damals gehört, dass es e<strong>in</strong>e Absicht<br />

war, noch vor Hitler e<strong>in</strong>en Überfall auf die Straße zu machen, denn sie war e<strong>in</strong> Dorn<br />

<strong>in</strong> den Augen der Nichtjuden, aber dies wurde vereitelt. So e<strong>in</strong>e Straße passte nach<br />

Jerusalem, <strong>und</strong> man nannte die Straße e<strong>in</strong> Ghetto mit offenen Toren.“<br />

Auf zwei Zeiträume, 1933 bis 1935 <strong>und</strong> 1938/39 will ich mich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en weiteren<br />

Ausführungen beschränken.<br />

Erstens. 1933 bis 1935.<br />

Aus den Anfangsjahren der NS-Herrschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d zwei besondere Aktivitäten<br />

zu nennen, die mit dem so genannten Scheunenviertel zu tun hatten: Spezialrazzia im<br />

Scheunenviertel.<br />

Am 1. April 1933 fand <strong>in</strong> ganz Deutschland e<strong>in</strong> Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen<br />

<strong>und</strong> Anwaltskanzleien statt. Banken jüdischer Besitzer wurden strikt ausgeschlossen,<br />

noch brauchte man dr<strong>in</strong>gend die <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzverb<strong>in</strong>dungen <strong>und</strong><br />

die dazugehörigen Devisen. Auch Unternehmen wie die Nähmasch<strong>in</strong>enfabrik SIN-<br />

GER wurden von den vorbereiteten Listen wieder gestrichen. Man war sich unsicher,<br />

ob dies wirklich e<strong>in</strong> jüdisches Unternehmen war oder nicht etwa e<strong>in</strong> spendenfreudiger<br />

„Volksgenosse“ zu Unrecht betroffen se<strong>in</strong> <strong>und</strong> sich lauthals beschweren könnte.<br />

E<strong>in</strong> speziell gebildetes „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- <strong>und</strong> Boykotthetze“<br />

schickte Anordnung um Anordnung <strong>in</strong> jeden Ort Deutschlands. Im „Völkischen<br />

Beobachter“ waren sie alle abgedruckt. Von München aus wurde die Kampagne<br />

von Julius Streicher geleitet, der 1923 das Hetzblatt „Der Stürmer“ gegründet<br />

hatte. Im Oktober 1946 wurde er im Ergebnis des Nürnberger Prozesses gegen die<br />

Hauptkriegsverbrecher Deutschlands verurteilt <strong>und</strong> gehenkt.<br />

In Streichers 1. Anordnung wird unter Punkt 12 genau vorgeschrieben, welche Losungen<br />

überall auf den Plakaten zu stehen hatten: „Zur Abwehr der jüdischen Greuel-<br />

<strong>und</strong> Boykotthetze“; „Boykottiert alle jüdischen Geschäfte“; „Kauft nicht <strong>in</strong> jüdischen<br />

Warenhäusern“; „Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten“; „Meidet jüdische Ärzte“;<br />

„<strong>Die</strong> Juden s<strong>in</strong>d unser Unglück“. 3<br />

Am 5. April 1933 wurde im „Völkischen Beobachter“ erklärt, warum der e<strong>in</strong>tägige<br />

Boykott vom 1. April nicht fortgesetzt wurde, wie es eigentlich geplant worden war.<br />

„Berl<strong>in</strong>, 4. April. <strong>Die</strong> Reichsregierung hat mit Befriedigung davon Kenntnis genommen,<br />

dass der Abwehrboykott deutschfe<strong>in</strong>dliche Hetze se<strong>in</strong>e Wirkung im Ausland<br />

3 Vgl. Völkischer Beobachter, 29.3.1933, S. 1.<br />

30


nicht verfehlt hat. Abgesehen von kle<strong>in</strong>eren Überbleibseln der Gewalthetze gegen<br />

Deutschland ist im übrigen die Hetze vollkommen abgestellt worden. <strong>Die</strong> Reichsregierung<br />

steht auf dem Standpunkt, dass es ke<strong>in</strong>en Zweck hat gegen diese Überbleibsel<br />

im Wege des Boykotts weiter vorzugehen, zumal es sich hier um e<strong>in</strong>e Hetze handelt,<br />

die ihren Ursprung bei den Kommunisten hat. Der deutsche Abwehrboykott wird<br />

also am Mittwoch Vormittag nicht wieder aufgenommen, da er überfl üssig geworden<br />

ist. <strong>Die</strong> Reichsregierung betont jedoch, dass die Abwehrorganisation der NSDAP<br />

noch aufrechterhalten bleibe, so dass für den Fall des Wiederaufl ebens der Hetze der<br />

Abwehrkampf jederzeit wieder e<strong>in</strong>setzen könne.“ 4 Wie mehrmals zuvor <strong>und</strong> später<br />

schon viel rout<strong>in</strong>ierter, bedienten sich die Nationalsozialisten der Methode, sich nicht<br />

als Täter, sondern Opfer missgünstiger Politik anderer darzustellen.<br />

Am 4. April 1933, war aus bislang nicht bekannten Gründen der antijüdische Straßenterror<br />

fortgesetzt worden, <strong>und</strong> zwar nur im Berl<strong>in</strong>er Scheunenviertel. Der „Völkische<br />

Beobachter“ berichtete ausführlich von dem Große<strong>in</strong>satz von 500 Leuten.<br />

Auch e<strong>in</strong>e Radioreportage über die Hausdurchsuchungen, Razzien <strong>und</strong> Polizeiverhöre<br />

auf offener Straße hat sich erhalten. Im Unterschied zu Schilderungen über das<br />

Geschehen am 1. April 1933, konnten wir über die Sonderrazzia im Scheunenviertel<br />

drei Tage später bislang ke<strong>in</strong>e authentischen E<strong>in</strong>zelheiten erfahren.<br />

Was <strong>in</strong> den Zeitungen zu lesen war, muss nicht näher kommentiert werden. <strong>Die</strong><br />

Sonderrazzia im Scheunenviertel wurde <strong>in</strong> dem nationalsozialistischen Machwerk<br />

„Der ewige Jude“ dokumentiert. Eike Geisel hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Im Scheunenviertel“<br />

daran er<strong>in</strong>nert. 5<br />

Auch der österreichische Schriftsteller Joseph Roth, der diese Gegend sehr gut<br />

kannte, hat diese Episode <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Im Sp<strong>in</strong>nenetz“ beschrieben, sie allerd<strong>in</strong>gs<br />

<strong>in</strong> die Zeit des weißen Terrors nach der Novemberrevolution Anfang der 20er Jahre<br />

verlegt. Bernhard Wicki hat den Roman verfi lmt – mit zwei sehr bekannten Schauspielern,<br />

Klaus Maria Brandauer <strong>und</strong> Ullrich Mühe.<br />

Nach dem Boykott vom April 1933 verschärfte sich der judenfe<strong>in</strong>dliche Kurs der<br />

Nationalsozialisten nur allmählich. Viele Menschen <strong>in</strong> Deutschland wie auch im Ausland<br />

– nicht nur Juden – beruhigten sich wieder <strong>und</strong> me<strong>in</strong>ten, es werde schon nicht so<br />

schlimm kommen, die Regierung Hitler werde, wie zuvor die Regierungen Brün<strong>in</strong>g,<br />

Papen <strong>und</strong> Schleicher, bald wieder abdanken.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gab es von dieser sche<strong>in</strong>baren Beruhigung e<strong>in</strong>e Ausnahme, das war die<br />

Schule. In den e<strong>in</strong>zelnen Er<strong>in</strong>nerungen tauchen immer wieder unverhoffte Angriffe<br />

von Mitschülern oder Lehrern auf. Gerade junge Menschen mussten von e<strong>in</strong>em Tag<br />

zum anderen erleben, dass sie von nun an geächtet waren, fremd unter früher Gleichen<br />

<strong>in</strong> jeder Klasse.<br />

4 Völkischer Beobachter, 5.4.1933, S. 1.<br />

5 Vgl. Eike Geisel, Im Scheunenviertel. Bilder, Texte <strong>und</strong> Dokumente, Berl<strong>in</strong> 1981, S. 138–141.<br />

31


Beispielhafte Altstadtsanierung am Bülowplatz 1934/35.<br />

H<strong>in</strong>ter der Volksbühne werden 1934/35 ganze Straßenzüge abgerissen <strong>und</strong> die damals<br />

höchst moderne, heute graue Häuserzeile <strong>in</strong> der L<strong>in</strong>ienstraße, gegenüber dem<br />

Bühnene<strong>in</strong>gang der Volksbühne, entstand. <strong>Die</strong> Neubauwohnungen wurden bevorzugt<br />

an Mitglieder der NSDAP oder ihr angeschlossener Organisationen vergeben.<br />

<strong>Die</strong> zumeist jüdischen Mieter der abgerissenen Häuser werden vertrieben <strong>und</strong> die<br />

ebenfalls zumeist jüdischen Eigentümer um die ihnen rechtlich zustehenden Abfi ndungen<br />

mit allen Tricks betrogen. Das Ganze wird als Musterbeispiel von Altstadtsanierung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Großstadt von den neuen Machthabern auf e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternationalen<br />

Architektenkongress präsentiert. Kommunalbeamte, die das Ganze stabsmäßig<br />

vorbereiten <strong>und</strong> ausführen lassen, erwägen sogar, die nun wohnungslosen Juden <strong>in</strong><br />

Barackenlagern am Rande Berl<strong>in</strong>s unterzubr<strong>in</strong>gen.<br />

Zweitens. 1938/39<br />

In diesen beiden Jahren verschärfte sich die Situation der noch <strong>in</strong> Deutschland lebenden<br />

Juden erheblich.<br />

Immer neue Beschränkungen wurden den Juden <strong>in</strong> Deutschland auferlegt. Gezwungenermaßen<br />

lernte viele Menschen, die Deutschland als ihr Zuhause betrachtet<br />

hatten, das Ausland kennen. Familien wurden ause<strong>in</strong>andergerissen, Abschied wurde<br />

genommen – manchmal für immer.<br />

Der Novemberpogrom 1938 war der vorläufi ge Tiefpunkt. Als die Synagogen geschändet<br />

wurden oder brannten, Menschen willkürlich verhaftet <strong>und</strong> <strong>in</strong> KZs gebracht<br />

wurden, war es auch <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte ke<strong>in</strong>eswegs ruhig. Nur: Bislang kennen wir noch<br />

ke<strong>in</strong>en authentischen Bericht über das Geschehen <strong>in</strong> der Grenadierstraße. Hier ist<br />

noch Aufklärungsbedarf.<br />

E<strong>in</strong>ige E<strong>in</strong>zelschicksale, wie sich das Leben Berl<strong>in</strong>er Juden 1938/39 rapide veränderte:<br />

Isaak Bergbaum 6 , der geme<strong>in</strong>sam mit se<strong>in</strong>em Bruder Sally <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Fre<strong>und</strong> Otto<br />

Weiß als Angehöriger des K<strong>in</strong>derheims AHAWAH nach Paläst<strong>in</strong>a entkommen konnte<br />

(e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Tat der Heimleiter<strong>in</strong> Beate Berge <strong>und</strong> ihrer Helfer<strong>in</strong>nen,<br />

Reg<strong>in</strong>a Scheer hat darüber e<strong>in</strong> Buch veröffentlicht 7 ), schrieb se<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gebliebenen<br />

Schwester Fanny Briefe – zunächst nach Polen, woh<strong>in</strong> sie als staatenlose Jüd<strong>in</strong><br />

abgeschoben worden war. Später schickte er aus Ägypten, wo er (nun als Angehöriger<br />

der englischen Armee) se<strong>in</strong>er Schwester mit den Transportzügen der Alliierten Lebensmittelpakete<br />

nach Fergana, wo sie Zwangsarbeit leisten musste.<br />

Emanuel Spira 8 , mit se<strong>in</strong>er Familie nach Polen abgeschoben, wurde nach dem<br />

Hitler-Stal<strong>in</strong>-Pakt im September 1939 mit Weltkriegsbeg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Lager für polnische<br />

Kriegsgefangene nach Sibirien gesteckt. 1941 kamen die Gefangenen alle frei<br />

<strong>und</strong> durften – nunmehr als Verbündete der Sowjetunion, nach dem Überfall Hitler-<br />

6 Vgl. Juden <strong>in</strong> Mitte, a. a. O., S. 121–128.<br />

7 Vgl. Reg<strong>in</strong>a Scheer, AHAWAH. Das vergessene Haus, Berl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Weimar 1992.<br />

8 Vgl. Juden <strong>in</strong> Mitte, a. a. O., S. 84–91.<br />

32


deutschlands auf Polen – sogar e<strong>in</strong>e eigene polnische Armee aufbauen, die Anders-<br />

Armee, die dann an der Seite der westlichen Alliierten kämpfte. Emanuel Spira wurde<br />

zunächst die Aufnahme verweigert, mit den Worten: „Wir nehmen ke<strong>in</strong>e Juden, nur<br />

Polen.“ <strong>Die</strong> Intervention e<strong>in</strong>es Mithäftl<strong>in</strong>gs, dem Spira im Lager das Leben gerettet<br />

hatte <strong>und</strong> der nun die Uniform e<strong>in</strong>es Obersten trug, erlaubte ihm dann den E<strong>in</strong>tritt<br />

<strong>in</strong> die Truppe.<br />

Norbert Lachman 9 , der heute <strong>in</strong> Houston <strong>in</strong> Texas lebt, wurde im November 1938<br />

von der Gestapo <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, im K<strong>in</strong>derheim AHAWAH, das zu diesem Zeitpunkt u. a.<br />

e<strong>in</strong> Lehrl<strong>in</strong>gswohnheim war, nur deshalb nicht verhaftet, weil er Bürger der Freien<br />

Reichsstadt Danzig war <strong>und</strong> Ausreisepapiere für die USA besaß.<br />

Max Drimmer <strong>und</strong> Moshe Sche<strong>in</strong>gesicht 10 (der heute Herman Sh<strong>in</strong>e heißt) gelangten<br />

als staatenlose Juden mit Kriegsbeg<strong>in</strong>n im September 1939 <strong>in</strong> das KZ Sachsenhausen.<br />

Bei dieser wenig bekannten Aktion wurden <strong>in</strong> ganz Deutschland jüdische, aus Polen<br />

stammende Männer („Staatenlose“) verhaftet <strong>und</strong> die die KZs Stutthof, Sachsenhausen<br />

<strong>und</strong> Buchenwald gebracht.<br />

<strong>Die</strong> beiden Berl<strong>in</strong>er überlebten <strong>in</strong> Sachsenhausen den Aufenthalt <strong>in</strong> den neu errichteten<br />

„Judenbaracken“. 11 Viele ihrer Mithäftl<strong>in</strong>ge starben nach wenigen Tagen. <strong>Die</strong><br />

beiden g<strong>in</strong>gen auf Transport nach Auschwitz <strong>und</strong> überlebten die Flucht von dort, bei<br />

denen ihnen e<strong>in</strong> Pole geholfen hatte. Beide leben heute <strong>in</strong> den USA.<br />

So viele Wege, so verschiedene Schicksale …<br />

An dieser Stelle möchte ich e<strong>in</strong>e B<strong>in</strong>senweisheit, die ich beim Umgang mit Geschichte<br />

gelernt habe <strong>und</strong> die mir bei me<strong>in</strong>en Forschungen zur Geschichte der antijüdischen<br />

Politik im Deutschland der NS-Zeit wie bei der Analyse historischer <strong>und</strong><br />

aktueller Ersche<strong>in</strong>ungen von <strong>Antisemitismus</strong> heute, stets wichtig war, formulieren:<br />

In früheren Zeiten vollzogene Grenzziehungen <strong>und</strong> Staatsgründungen, auf welcher<br />

Basis sie auch zustande gekommen se<strong>in</strong> mögen, kann man nicht später <strong>in</strong> Frage stellen,<br />

ohne e<strong>in</strong>em Dauerkonfl ikt das Wort zu reden.<br />

Das gilt auch für den 1948 gegründeten Staat Israel. So verschieden man die Schuld<br />

der e<strong>in</strong>zelnen kämpfenden Parteien im jüngsten Nahostkrieg auch e<strong>in</strong>schätzen mag,<br />

am Existenzrecht Israels sollte man nicht rütteln lassen. Ebenso an der E<strong>in</strong>maligkeit<br />

des Holocaust.<br />

Zur Vorstellung e<strong>in</strong>es neuen Buches mit dem Titel: „Neu-alter Judenhass. <strong>Antisemitismus</strong>,<br />

arabisch-israelischer Konfl ikt <strong>und</strong> europäische Politik“, am 4. Juli 2006 im<br />

Centrum Judaicum <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, hatten die Herausgeber Arno Lustiger dafür gew<strong>in</strong>nen<br />

können, teilzunehmen <strong>und</strong> sich zu äußern. Der Holocaust-Überlebende Arno Lustiger,<br />

der im des Deutschen B<strong>und</strong>estages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des<br />

Nationalsozialismus am 27. Januar 2005 Politikern, Historikern, Publizisten wie allen<br />

9 Vgl. Juden <strong>in</strong> Mitte, a. a. O., S. 46–49.<br />

10 Vgl. ebenda, S. 199–205.<br />

11 Vgl. Leon Szalet, Baracke 38. 237 Tage <strong>in</strong> den „Judenblocks“ des KZ Sachsenhausen, bearbeitet, mit Anmerkungen<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Nachwort versehen von W<strong>in</strong>fried Meyer, Berl<strong>in</strong> 2006.<br />

33


Bürgern <strong>in</strong> Deutschland Bedenkenswertes <strong>und</strong> Kritisches über den derzeitigen <strong>und</strong><br />

künftigen Umgang mit der NS-Zeit ans Herz gelegt hatte, fand auch diesmal eher<br />

nüchterne, nicht gerade optimistisch stimmende Worte.<br />

In Deutschland lebende Juden s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>er Auffassung nach beunruhigt über den<br />

grassierenden <strong>Antisemitismus</strong>. Sie s<strong>in</strong>d nicht überrascht, dass sich uralte Klischees<br />

über „die Juden“ so zählebig <strong>in</strong>mitten der Gesellschaft <strong>und</strong> bei Menschen verschiedener<br />

Generationen halten. Eher bescheiden, aber mit vollem Recht wird von ihnen<br />

jedoch hartnäckig e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>gefordert – <strong>und</strong> nicht nur weil der Völkermord an den<br />

europäischen Juden von Deutschland aus geplant, organisiert <strong>und</strong> durchgeführt worden<br />

ist: Honestly, Respekt. Das können Juden <strong>in</strong> Deutschland wie überall <strong>in</strong> der Welt<br />

erwarten.<br />

Als wir vor Jahren an dem mehrfach genannten Buch arbeiteten, bekamen wir auch<br />

e<strong>in</strong>en Brief aus Haifa:<br />

„Haifa, 27. März 1995. Sehr geehrter Herr Dr. Helas. Sie wünschen historische<br />

Kenntnisse zu erlangen, die an die kulturellen Traditionen <strong>und</strong> an die religiöse Toleranz<br />

e<strong>in</strong>er Ortschaft er<strong>in</strong>nern. Das bedeutet die Geschichte der Vertreibung <strong>und</strong><br />

Vernichtung deutsch-jüdischer Familien aus Berl<strong>in</strong>. Nur die Zeitzeugen beider Seiten,<br />

die Opfer dieser Epoche, wissen, wie es war. <strong>Die</strong> e<strong>in</strong>en wollen vergessen, die<br />

anderen können es nicht. <strong>Die</strong> e<strong>in</strong>en wollen ke<strong>in</strong> Denkmal, die anderen brauchen<br />

es nicht. Also – wozu?! Kultur schützt nicht vor Bosheit. Heute, 27. März 1995,<br />

würde me<strong>in</strong>e Schwester 72 Jahre alt se<strong>in</strong>. Sie wurde nur 19 Jahre. Ihr ist dieser Brief<br />

gewidmet.“<br />

Zum Schluss.<br />

Ich möchte mich auch bei unseren Gastgebern, vor allem dem Direktor der Gedenkstätte<br />

„Haus der Wannsee-Konferenz“, Herrn Dr. Norbert Kampe, für die großzügige<br />

<strong>und</strong> fre<strong>und</strong>liche Unterstützung herzlich bedanken.<br />

<strong>Die</strong> Gedenk- <strong>und</strong> Bildungsstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ hat für das Thema:<br />

„Berl<strong>in</strong>er Scheunenviertel <strong>in</strong> der NS-Zeit“ mehrere direkte <strong>und</strong> <strong>in</strong>direkte Bezüge.<br />

Vier davon, mit denen ich persönlich konfrontiert war, will ich nennen.<br />

1. <strong>Die</strong> auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 gefällte Entscheidung, so genannte<br />

Mischl<strong>in</strong>ge zweiten Grades weitgehend noch unbehelligt zu lassen. Menschen<br />

wie Horst Gessner <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Mutter, rettete diese Entscheidung das Leben. 12<br />

2. Stichwort „Schwarzer Haufen“. Hier im Hause wurde im September 2002 e<strong>in</strong>e<br />

Ausstellung über e<strong>in</strong>e jüdische Jugendgruppe im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert präsentiert, die <strong>in</strong><br />

den Jahren der Weimarer Republik <strong>in</strong> der Nähe des Scheunenviertels ihre Veranstaltungsräume<br />

hatte. Und e<strong>in</strong>ige ihrer prägenden Persönlichkeiten wohnten oder arbeiteten<br />

im Zentrum Berl<strong>in</strong>s: Margot <strong>und</strong> Max Fürst sowie ihr Fre<strong>und</strong> der bekannte<br />

mutige Rechtsanwalt Hans Litten. Nathan Ste<strong>in</strong>berger, der <strong>in</strong> der Großen Hambur-<br />

12 Vgl. Juden <strong>in</strong> Mitte, a. a. O., S. 256–266.<br />

34


ger Straße zur Schule g<strong>in</strong>g, gehörte dem „Schwarzen Haufen an“ auch e<strong>in</strong>e weitere<br />

Bekannte von mir, Herta Rehder-Lew<strong>in</strong>. 13<br />

3. Der Bildungsort Haus der Wannsee-Konferenz. Re<strong>in</strong>er Zilkenat <strong>und</strong> ich schätzen<br />

die Bibliothek des Hauses sehr <strong>und</strong> haben außerdem mit Schülern des Erich-Fried-<br />

Gymnasiums an Projekttagen hier sehr professionelle <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fühlsame pädagogische<br />

Arbeit kennen- <strong>und</strong> schätzen gelernt.<br />

4. Schließlich e<strong>in</strong> Letztes. Mit Frau Rosa Sachar<strong>in</strong> 14 <strong>und</strong> ihrem Mann besuchte ich<br />

auf deren dr<strong>in</strong>genden Wunsch h<strong>in</strong> dieses Haus. Ich hatte ihr abgeraten, ohne Erfolg.<br />

Frau Sachar<strong>in</strong>, die heute <strong>in</strong> Glasgow lebt, gehört zu jenen K<strong>in</strong>dern, die <strong>in</strong> Großbritannien<br />

e<strong>in</strong> deutsches Wort e<strong>in</strong>bürgern halfen, das Wort „K<strong>in</strong>dertransporte“. Ihre<br />

Mutter überlebte als sogenanntes U-Boot illegal <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Ihr Bruder ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Lager im polnischen Rzeszów verschollen, seither sucht sie nach ihm. <strong>Die</strong> frühere<br />

Dauerausstellung hier im Haus präsentierte unter anderem Sequenzen aus Dokumentarfi<br />

lmen, die H<strong>und</strong>erte Menschen zeigten, als sie noch lebten. Frau Sachar<strong>in</strong> g<strong>in</strong>g im<br />

Abschnitt „Polen“ der Ausstellung von Foto zu Foto, von Gesicht zu Gesicht, ihren<br />

Bruder fand sie nicht abgebildet …<br />

Beim H<strong>in</strong>ausgehen aus diesem Haus fragte sie mich: „Warum, warum das alles?“<br />

13 Vgl. Knut Bergbauer u. Stefanie Schüler-Spr<strong>in</strong>gorium, Hrsg. „Wir s<strong>in</strong>d jung, die Welt ist offen …“. E<strong>in</strong>e jüdische<br />

Jugendgruppe im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, Berl<strong>in</strong> 2002.<br />

14 Vgl. Juden <strong>in</strong> Mitte, a. a. O., S. 171–175.<br />

35


Oliver Reschke M. A.<br />

Berl<strong>in</strong>er Nationalsozialisten<br />

<strong>und</strong> <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> der Endphase<br />

der Weimarer Republik<br />

<strong>Die</strong>ser Beitrag ist so aufgebaut, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>leitenden ersten Teil das Thema<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich umrissen wird <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Teil e<strong>in</strong>ige Beispiele zur Thematik<br />

aufgeführt werden, auf die der Verfasser im Rahmen se<strong>in</strong>er Forschungen zur Geschichte<br />

der NSDAP <strong>in</strong> den Berl<strong>in</strong>er Stadtbezirken Friedrichsha<strong>in</strong> <strong>und</strong> Prenzlauer<br />

Berg gestoßen ist.<br />

1. Stellenwert des <strong>Antisemitismus</strong> bei den Berl<strong>in</strong>er Nationalsozialisten<br />

Etwa ab der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts begann man <strong>in</strong> den judenfe<strong>in</strong>dlich e<strong>in</strong>gestellten<br />

Kreisen der nationalistischen Bewegungen Europas <strong>in</strong> rassischen Kategorien<br />

zu denken. Juden wurden fortan unter pseudowissenschaftlichen Begründungen als<br />

„Rasse“ defi niert. Im Deutschen Kaiserreich entwickelte sich daraus e<strong>in</strong>e politische<br />

Ideologie. E<strong>in</strong> Konglomerat rechtsgerichteter Gruppen machte die Bekämpfung,<br />

Isolierung, Vertreibung <strong>und</strong> schließlich Vernichtung alles „Semitischen“ zu se<strong>in</strong>em<br />

Programm. <strong>Die</strong>s bereitete dem Nationalsozialismus den Boden. Der <strong>Antisemitismus</strong><br />

wurde zu e<strong>in</strong>er der Gr<strong>und</strong>lagen der nationalsozialistischen Ideologie. Das<br />

Judentum fungierte <strong>in</strong> ihr als Drahtzieher h<strong>in</strong>ter allen Ersche<strong>in</strong>ungen (wie z. B.<br />

Marxismus, Liberalismus, Demokratie), denen die NSDAP den Kampf angesagt<br />

hatte. <strong>Die</strong> Nationalsozialisten unterschieden zwischen e<strong>in</strong>em positiv gewerteten<br />

„schaffenden“ Kapital <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em negativ gesehenen „raffenden“ Kapital. <strong>Die</strong>ses<br />

negative Kapital, wahlweise auch „jüdisches F<strong>in</strong>anz-, Groß- oder Welt-Kapital“ genannt,<br />

wurde im Verständnis der Nationalsozialisten mit dem Judentum identifi -<br />

ziert, das mit se<strong>in</strong>en unerschöpfl ichen Geldmitteln Stütze des „Weimarer Systems“<br />

gewesen wäre. 1 <strong>Die</strong> Entstehung der NSDAP gründete auf der Ablehnung des 1918<br />

entstandenen demokratischen Staates <strong>und</strong> sie hatte den Sturz der Weimarer Republik<br />

zum Ziel. <strong>Die</strong> Nationalsozialisten waren sich darüber im Klaren, dass bei<br />

der Eroberung der Macht <strong>in</strong> Deutschland der Hauptstadt, als dem Sitz fast aller<br />

Reichsm<strong>in</strong>isterien <strong>und</strong> Preußischen Staatsbehörden, e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung zukommen<br />

würde. <strong>Die</strong> im öffentlichen Bewusstse<strong>in</strong> als l<strong>in</strong>ks <strong>und</strong> liberal e<strong>in</strong>gestufte<br />

Großstadt Berl<strong>in</strong> galt den Nationalsozialisten zudem als Kristallisationspunkt der<br />

modernen Zivilisation westlicher Prägung <strong>und</strong> damit als S<strong>in</strong>nbild der von ihnen<br />

gehassten „Judenrepublik“.<br />

1 Vgl. hierzu auch Mart<strong>in</strong> Schuster, <strong>Die</strong> SA <strong>in</strong> der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Brandenburg<br />

1926–1934, Phil. Diss. Berl<strong>in</strong> (Technische Universität) 2005, S. 146.<br />

36


Da Berl<strong>in</strong> aber auch e<strong>in</strong>e Hochburg der Arbeiterbewegung war <strong>und</strong> die Nationalsozialisten<br />

wussten, dass sie nur dann die politische Mehrheit <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> erlangen konnten,<br />

wenn es ihnen gelang, e<strong>in</strong>en bedeutenden Teil der Berl<strong>in</strong>er Arbeiterbevölkerung<br />

zu gew<strong>in</strong>nen, stand die am 17. Februar 1925 gegründete Berl<strong>in</strong>er Ortsgruppe der<br />

NSDAP <strong>in</strong> ihrer Anfangszeit unter dem E<strong>in</strong>fl uss des „sozialrevolutionären Konzeptes“<br />

der Brüder Gregor <strong>und</strong> Otto Strasser. Der <strong>Antisemitismus</strong> spielte <strong>in</strong> der nationalsozialistischen<br />

Propaganda zunächst e<strong>in</strong>e eher untergeordnete Rolle.<br />

Der Strasser-Flügel vertrat, <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er anders gearteten Sozialstruktur <strong>in</strong> den<br />

nord- <strong>und</strong> westdeutschen Gauen der NSDAP, andere Auffassungen über die Methoden<br />

der Ausbreitung <strong>und</strong> Massenbee<strong>in</strong>fl ussung als die Münchener Parteiführung.<br />

Anders als <strong>in</strong> Bayern stand ihnen e<strong>in</strong>e starke, gut organisierte Arbeiterbewegung<br />

(z. B. im Ruhrgebiet <strong>und</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>) gegenüber. Ihrer Me<strong>in</strong>ung nach musste die Agitation<br />

<strong>und</strong> Propaganda mehr sozialistisch <strong>und</strong> antikapitalistisch ausgerichtet werden.<br />

Man setzte hier auf das so genannte „Konzept der Arbeitermission“. <strong>Die</strong> Münchner<br />

Parteiführung h<strong>in</strong>gegen stellte den „Volksgeme<strong>in</strong>schaftsgedanken“ höher <strong>und</strong> setzte<br />

auf die Wirkung revanchistischer Anti-Versailles-Propaganda <strong>und</strong> auf antisemitische<br />

Hetze.<br />

Mit der Ernennung von Dr. Joseph Goebbels zum Gauleiter von Berl<strong>in</strong> am 1. November<br />

1926 setzte sich die Münchener Parteil<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> der Berl<strong>in</strong>er NSDAP durch. Er<br />

entwickelte e<strong>in</strong>en spezifi schen Propagandastil für die Berl<strong>in</strong>er Verhältnisse. So betrieb<br />

er sche<strong>in</strong>revolutionäre Propaganda, um Arbeiterwähler zu gew<strong>in</strong>nen, versuchte aber<br />

gleichzeitig die Kernwähler aus dem Mittelstand weiterh<strong>in</strong> an die NSDAP zu b<strong>in</strong>den.<br />

Da im unteren Mittelstand der <strong>Antisemitismus</strong> weit verbreitet war, wurde er nun zu<br />

e<strong>in</strong>em festen Bestandteil der NS-Propaganda <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Dem wurde z. B. durch Propaganda<br />

gegen jüdische Warenhäuser Rechnung getragen.<br />

<strong>Die</strong> sche<strong>in</strong>revolutionäre Propaganda betreffend wird allgeme<strong>in</strong> angenommen, dass<br />

sich vor allem junge Männer, die zur SA stießen, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von sozialistischen<br />

Ideologemen angezogen fühlten <strong>und</strong> erst durch den E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die SA an den <strong>Antisemitismus</strong><br />

herangeführt wurden. <strong>Die</strong> SA hätte somit e<strong>in</strong>e große Rolle bei der Verbreitung<br />

des <strong>Antisemitismus</strong> gespielt. Aber auch <strong>in</strong> den Schichten, aus denen sich die<br />

SA vorwiegend rekrutierte, waren antisemitische Überzeugungen schon vorher latent<br />

vorhanden <strong>und</strong> mussten nur aktiviert <strong>und</strong> radikalisiert werden. 2<br />

2. Ersche<strong>in</strong>ungsformen des <strong>Antisemitismus</strong><br />

<strong>in</strong> der Endphase der Weimarer Republik <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

Propaganda <strong>und</strong> Polemik<br />

Ab dem 4. Juli 1927 gab Goebbels e<strong>in</strong> eigenes Gauorgan, Der Angriff, heraus. <strong>Die</strong>se<br />

Zeitung sollte die Parteimitglieder auf Goebbels neue Parteil<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>schwören <strong>und</strong><br />

2 Vgl. ebenda, S. 148f.<br />

37


erschien <strong>in</strong> Konkurrenz zur Berl<strong>in</strong>er Arbeiterzeitung (BAZ), die vom Kampf-Verlag<br />

der Gebrüder Strasser herausgegeben wurde <strong>und</strong> ebenfalls offi zielles Gauorgan war.<br />

Schließlich wurde die BAZ niederkonkurriert. Mit dem Ersche<strong>in</strong>en des „Angriffs“<br />

begann auch die jahrelange Diffamierungskampagne gegen den Berl<strong>in</strong>er Polizeivizepräsidenten<br />

Dr. Bernhard Weiß, der von Goebbels wegen se<strong>in</strong>er jüdischen Herkunft<br />

ständig als „Isidor“ verspottet wurde.<br />

Der <strong>Antisemitismus</strong> musste nicht „von oben aufoktroyiert“ werden. Auch <strong>in</strong> den<br />

unteren Chargen der NSDAP wer er weit verbreitet. So richtete der seit den Stadt-<br />

<strong>und</strong> Bezirksverordnetenwahlen vom 17. November 1929 e<strong>in</strong>zige nationalsozialistische<br />

Bezirksverordnete <strong>in</strong> Friedrichsha<strong>in</strong>, Kurt Krischer, der gleichzeitig Sektionsführer<br />

der Friedrichsha<strong>in</strong>er Sektion Andreasplatz war, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben an den<br />

damaligen Preußischen M<strong>in</strong>ister des Innern vom 1. Oktober 1930 polemische Fragen<br />

<strong>und</strong> Forderungen.<br />

In diesem Schreiben hieß es u. a.: „… stimmt die öffentlich allgeme<strong>in</strong> gehegte Auffassung,<br />

dass der Rassejude <strong>und</strong> Vizepolizeipräsident Herr Dr. Bernhard Weiß im<br />

Vere<strong>in</strong> mit anderen Polizeistellen e<strong>in</strong>en Rachefeldzug gegen die ihm ja naturgemäß<br />

als Juden vielgehassten, damaligen nationalsozialistischen Wähler durchführen musste.“<br />

Weiterh<strong>in</strong> stellte er die Frage, ob, <strong>in</strong> Anbetracht der Wahlergebnisse der Reichstagswahlen<br />

vom 14. September 1930 <strong>und</strong> dem damit verb<strong>und</strong>enen weiteren Anstieg<br />

der Antisemiten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> jüdischer Polizeivizepräsident für die Hauptstadt noch<br />

tragbar wäre. 3<br />

Auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zuschrift von e<strong>in</strong>em offensichtlich mit dem Nationalsozialismus<br />

sympathisierenden Angestellten des Pfl egepersonals im Hufeland-Hospital im Bezirk<br />

Prenzlauer Berg an den „Angriff“ über Kündigungen von Personal kl<strong>in</strong>gt <strong>Antisemitismus</strong><br />

an. Der dortige Betriebsrat hatte sich alle Mühe gegeben, besondere Härten zu<br />

vermeiden. <strong>Die</strong>s wurde vom Schreiber noch anerkannt. Dann regte er jedoch an, dass<br />

es „vernünftiger“ gewesen wäre, überfl üssige jüdische Ärzte abzubauen, von denen<br />

z. B. e<strong>in</strong>e Krankenhausfürsorger<strong>in</strong> das „jüdische Aussehen“ vor dem Abbau schützen<br />

würde. Der „Angriff“ antwortete auf die Zuschrift, dass der „jüdische Marxismus“<br />

gar nicht daran denken würde, dem deutschen Arbeiter <strong>und</strong> Angestellten zu helfen,<br />

Hauptsache „der Jude“ sei versorgt. Am Ende des Beitrages wurden die „Volksgenossen<br />

<strong>in</strong> den Ges<strong>und</strong>heitsbetrieben“ aufgefordert, den Betriebszellen der NSBO-Fachgruppe<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen beizutreten. 4<br />

Symbolische Aktionen<br />

Im Dezember 1930 unterrichtete der Berl<strong>in</strong>er Polizeipräsident den Preußischen Innenm<strong>in</strong>ister<br />

über e<strong>in</strong> Vergehen gegen das „Republikschutzgesetz“. Das NSDAP-Mitglied<br />

Oskar Legler, Leiter der NSBO-Fachgruppe Kellner <strong>und</strong> Köche, hatte auf dem<br />

3 Geheimes Staatsarchiv PK Berl<strong>in</strong> (im folgenden: GStA), I. HA Rep. 77 M<strong>in</strong>isterium des Innern, Tit. 4043 Politische<br />

Polizei, Nr. 302 Betätigung der NSDAP <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1929–1932, Bl. 129.<br />

4 Der Angriff, Nr. 43, 25.2.1932.<br />

38


Arbeitsnachweis der Gasthausangestellten im Bezirk Mitte wiederholt Reden gegen<br />

das Judentum, das Großkapital <strong>und</strong> die Regierung gehalten. 5<br />

Auf e<strong>in</strong>em „Deutschen Abend“ der Friedrichsha<strong>in</strong>er Sektion Andreasplatz am 28.<br />

Mai 1932 <strong>in</strong> den „Andreasfestsälen“ <strong>in</strong> der Andreasstraße im Bezirk Friedrichsha<strong>in</strong><br />

wurde auf Anregung des Sektionsführers e<strong>in</strong>e bildliche Gegenüberstellung „deutscher<br />

Kunst“ <strong>und</strong> „jüdischen Kitsches“ veranstaltet. 6<br />

Sachbeschädigungen an jüdischen E<strong>in</strong>richtungen<br />

Genau wie heute kam es schon damals im Zuge des Erstarkens des Rechtsradikalismus<br />

zu Friedhofs- <strong>und</strong> Synagogenschändungen. An dieser Stelle sei dafür e<strong>in</strong> Beispiel<br />

genannt: Ende März 1930 wurde die Orthodoxe jüdische Synagoge am Kottbusser<br />

Ufer (heute Fraenkelufer) im Bezirk Kreuzberg, die später <strong>in</strong> der sogenannten Reichskristallnacht<br />

am 9. November 1938 schwer beschädigt wurde, von NSDAP-Mitgliedern<br />

mit z<strong>in</strong>noberroter Anil<strong>in</strong>farbe beschmiert. Der Polizei gelang es <strong>in</strong> diesem Fall,<br />

die Täter festzustellen, die sämtlich auch dem Kreuzberger Sturm 27 – Südost angehörten.<br />

7<br />

Propagandamärsche<br />

<strong>Die</strong> Propagandamärsche der Berl<strong>in</strong>er Nationalsozialisten führten bevorzugt zum<br />

Scheunenviertel e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> andererseits <strong>in</strong> den Berl<strong>in</strong>er Westen zur Kurfürstendammgegend.<br />

8 Beide Gegenden waren schon Anfang November 1923 Ziel von Attacken<br />

e<strong>in</strong>es von Rechtsradikalen aufgeputschten Mobs gegen jüdische Geschäfte geworden:<br />

Das erste Judenpogrom im Berl<strong>in</strong> der Weimarer Zeit. 9<br />

Zunächst veranstaltete die Berl<strong>in</strong>er SA ihre Propagandamärsche <strong>in</strong> der Gegend um<br />

die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die schon seit 1919 bei Berl<strong>in</strong>er Rechtsradikalen<br />

beliebtes Ziel für Aufzüge war, welche regelmäßig <strong>in</strong> Pöbeleien <strong>und</strong> Prügeleien<br />

gegenüber unbeteiligten Passanten ausarteten. 10 So unternahm Ende Juni 1926 die<br />

gesamte Berl<strong>in</strong>er SA e<strong>in</strong>en Demonstrationszug durch den Westen Berl<strong>in</strong>s, dem im NS-<br />

Sprachgebrauch sogenannten „vornehmen Judenghetto“. 11 Während dieser Propagandamarsch<br />

ausnahmsweise friedlich verlief, wurden während e<strong>in</strong>es Propagandamarsches<br />

am 20. März 1927 vom Bahnhof Lichterfelde-Ost im Bezirk Steglitz zum Wittenbergplatz<br />

im Bezirk Schöneberg für Juden gehaltene Straßenpassanten verprügelt. 12<br />

5 GStA, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 302, Bl. 160.<br />

6 Der Angriff, Nr. 110, 30.5.1932.<br />

7 Vgl. Gewalttaten der Nationalsozialisten. Terror- <strong>und</strong> Mordfälle aus zwei Jahren, hrsg. von der SPD, Berl<strong>in</strong> 1931,<br />

S. 5; Berl<strong>in</strong>er Bezirkslexikon Friedrichsha<strong>in</strong>-Kreuzberg, hrsg. v. Hans-Jürgen Mende <strong>und</strong> Kurt Wernicke, Berl<strong>in</strong><br />

2003, S. 363.<br />

8 Vgl. Schuster, a. a. O., S. 147.<br />

9 Vgl. Bernd Kruppa, Rechtsradikalismus <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1918–1928, Berl<strong>in</strong> 1988, S. 242ff.<br />

10 Vgl. Ebenda, S. 310 u. 315.<br />

11 Vgl. Mart<strong>in</strong> Broszat, <strong>Die</strong> Anfänge der Berl<strong>in</strong>er NSDAP 1926/27, <strong>in</strong>: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 8. Jg.,<br />

1960, S. 93.<br />

12 Vgl. Ebenda, S. 118.<br />

39


Da direkt am Scheunenviertel das Karl-Liebknecht-Haus, seit 1926 Parteizentrale<br />

der KPD, gelegen war <strong>und</strong> diese Gegend <strong>in</strong>sgesamt auch als Hochburg der KPD galt,<br />

wagten sich die Nationalsozialisten erst hierher, als sie sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise<br />

von 1929 an zur Massenbewegung entwickelten <strong>und</strong> zeitgleich auch die<br />

SA erstarkt war. So veranstaltete die Berl<strong>in</strong>er SA ihren ersten Marsch über den Bülowplatz<br />

(heute Rosa-Luxemburg-Platz) am Karl-Liebknecht-Haus <strong>und</strong> damit auch am<br />

Scheunenviertel vorbei am 24. März 1929. 13<br />

An dieser Stelle s<strong>in</strong>d wir beim spezifi schen Antikommunismus der NSDAP angelangt.<br />

Juden wurden häufi g „mit Kommunisten <strong>und</strong> Kommunismus wiederum mit<br />

Krim<strong>in</strong>alität <strong>und</strong> Unterwelt gleichgesetzt.“ 14 Da die Gegend h<strong>in</strong>ter dem Alexanderplatz<br />

auch noch e<strong>in</strong>e der anrüchigsten Gegenden der Stadt war, verschmolzen die drei<br />

Fe<strong>in</strong>dbilder: Juden, Kommunisten <strong>und</strong> Unterwelt am Bülowplatz mite<strong>in</strong>ander.<br />

Seit 1929 führten dann die Propagandamärsche der Berl<strong>in</strong>er Nationalsozialisten,<br />

die man me<strong>in</strong>es Erachtens zutreffender als „Provokationsmärsche“ bezeichnen sollte,<br />

immer wieder zum Bülowplatz. Der größte Aufmarsch <strong>in</strong> der Weimarer Zeit fand<br />

am 22. Januar 1933 im Rahmen e<strong>in</strong>er „Horst-Wessel-Gedenkfeier“ statt. Nachdem<br />

am Nachmittag die „Weihe“ e<strong>in</strong>es Grabste<strong>in</strong>s Wessels auf dem St.-Nikolai-Friedhof<br />

im Bezirk Prenzlauer Berg durch Hitler erfolgt war, wurde e<strong>in</strong> Vorbeimarsch von<br />

SA-, SS- <strong>und</strong> HJ-Verbänden am Friedhof durchgeführt. Als Sammelpunkt für den<br />

Aufmarsch wählten die Nationalsozialisten den Bülowplatz. Der Aufmarsch wurde<br />

so organisiert, dass SA- <strong>und</strong> SS-Kolonnen aus allen Gegenden der Stadt zum Bülowplatz<br />

anmarschierten, um dann von dort aus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er festgelegten Reihenfolge (zuerst<br />

SA-, dann SS- <strong>und</strong> zuletzt HJ-Formationen) <strong>in</strong> Richtung Friedhof abzumarschieren.<br />

Gleich h<strong>in</strong>ter dem Karl-Liebknecht-Haus nahm SA-Stabschef Ernst Röhm den Vorbeimarsch<br />

ab. 15 An dem Marsch sollen, der nationalsozialistischen Literatur zufolge,<br />

etwa 20 000 Mann teilgenommen haben. 16<br />

Versammlungen<br />

E<strong>in</strong>e der ersten Massenversammlungen nach Goebbels Amtsantritt wurde von der Sektion<br />

Bötzow (Prenzlauer Berg) am 18. Februar 1927 im „Saalbau Friedrichsha<strong>in</strong>“ <strong>in</strong> der<br />

Straße Am Friedrichsha<strong>in</strong> durchgeführt. E<strong>in</strong> Gauredner sprach zum Thema: „Jüdischmarxistischer<br />

Betrug am deutschen Arbeiter“. 17 Auf e<strong>in</strong>er „großen Warenhausk<strong>und</strong>gebung“<br />

am 14. Dezember 1928 im „Saalbau Friedrichsha<strong>in</strong>“ bezeichnete Goebbels<br />

jüdische Warenhausbesitzer als „Vernichter unseres gewerblichen Mittelstandes“. 18<br />

13 Vgl. Julius K. v. Engelbrechten u. Hans Volz, Wir wandern durch das nationalsozialistische Berl<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Führer<br />

durch die Gedenkstätten des Kampfes um die Reichshauptstadt, München 1937, S. 89; Julius K. v. Engelbrechten,<br />

E<strong>in</strong>e braune Armee entsteht. <strong>Die</strong> Geschichte der Berl<strong>in</strong>-Brandenburger SA, München u. Berl<strong>in</strong> 1937, S. 90.<br />

14 Schuster, a. a. O., S. 146.<br />

15 Vgl. Der Angriff, Nr. 19, 23.1.1933.<br />

16 Vgl. Engelbrechten, a. a. O., S. 254.<br />

17 Vgl. BAZ, Folge 10, 6.3.1927, zum Thema vgl. auch Folge 8, 20.2.1927, Anz.<br />

18 Vgl. Der Angriff, Nr. 51, 17.12.1928.<br />

40


Auch <strong>in</strong> der Werbung für e<strong>in</strong>e „Mittelstands-Protestk<strong>und</strong>gebung“ der Ortsgruppe<br />

Nordost der NSDAP im Prenzlauer Berg <strong>und</strong> der gleichnamigen Ortsgruppe der<br />

NS-Berufsverb<strong>in</strong>dung gegen die Eröffnung neuer Epa-Läden (E<strong>in</strong>heitspreis-Ladenkette,<br />

die das Billigsegment bediente) am 23. Oktober 1932 <strong>in</strong> den „Schönhauser<br />

Festsälen“ <strong>in</strong> der Schönhauser Allee im Bezirk Prenzlauer Berg kl<strong>in</strong>gt <strong>Antisemitismus</strong><br />

an: „Es konnte gar ke<strong>in</strong> besserer Beweis dafür erbracht werden, dass alle übrigen<br />

Parteien unter dem E<strong>in</strong>fl uss des jüdischen Großkapitals stehen als der, dass eben<br />

e<strong>in</strong>zig <strong>und</strong> alle<strong>in</strong> die NSDAP <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere deren Mittelstandsorganisation, die<br />

NS. Berufs-Verb<strong>in</strong>dung, die e<strong>in</strong>zige ist, welche unbee<strong>in</strong>fl usst durch materielle Zuwendungen<br />

den Kampf für den Mittelstand <strong>und</strong> gegen das Großkapital machtvoll<br />

aufnimmt.“ 19<br />

Versammlungssprengungen<br />

Der unabhängige „Untersuchungsausschuß gegen den Hakenkreuzterror Felseneck“,<br />

der sich aus namhaften Intellektuellen <strong>und</strong> kommunistischen Funktionären zusammensetzte,<br />

wollte am 26. Januar 1932 e<strong>in</strong>e öffentliche Versammlung <strong>in</strong> den „Prachtsälen<br />

am Märchenbrunnen“ <strong>in</strong> der Straße Am Friedrichsha<strong>in</strong> im Bezirk Prenzlauer<br />

Berg wegen des SA-Überfalls auf die Laubenkolonie „Felseneck“ im Bezirk Re<strong>in</strong>ickendorf<br />

abhalten. In der Nacht zum 19. Januar 1932 waren etwa 150 SA-Leute<br />

des Sturmbanns III – Re<strong>in</strong>ickendorf der Standarte 4 <strong>in</strong> die Kle<strong>in</strong>gartenanlage „Felseneck“<br />

e<strong>in</strong>gedrungen <strong>und</strong> hatten e<strong>in</strong>en kommunistischen Bewohner getötet. Im<br />

nachfolgenden Handgemenge zwischen Anwohnern <strong>und</strong> SA kam auch e<strong>in</strong> SA-Mann<br />

ums Leben.<br />

Auf besagter Versammlung erschien e<strong>in</strong>e Kolonne von 250 bis 300 SA-Leuten der<br />

Standarte 6 frühzeitig <strong>und</strong> besetzte den Saal. Als der Redner im Namen des überparteilichen<br />

Ausschusses die Versammlung eröffnete, schrieen die Nationalsozialisten sofort<br />

„Juda verrecke!“ <strong>und</strong> „Saujude“. Daraufh<strong>in</strong> warfen sie mit Biergläsern <strong>und</strong> g<strong>in</strong>gen<br />

mit Stühlen <strong>und</strong> Tischen auf die Anwesenden los. Auf diese Weise provozierten sie<br />

e<strong>in</strong>e Saalschlacht, weswegen die Versammlung von der Polizei aufgelöst wurde. 20<br />

Pogromartige Ausschreitungen<br />

Zu den schwersten antisemitischen Ausschreitungen seitens der Berl<strong>in</strong>er SA vor 1933<br />

kam es am Abend des 12. September 1931 <strong>in</strong> Charlottenburg. An diesen pogromartigen<br />

Ausschreitungen am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes waren <strong>in</strong>sgesamt<br />

ca. 1 000 SA-Männer beteiligt. E<strong>in</strong>zelne Trupps zu je fünf bis acht Mann zogen unter<br />

den Rufen „Deutschland erwache!“, „Juda verrecke!“ <strong>und</strong> „Schlagt die Juden tot!“<br />

durch die Leibniz-, Uhland- <strong>und</strong> Knesebeckstraße sowie über den Kurfürstendamm.<br />

E<strong>in</strong>ige Dutzend Passanten – Juden <strong>und</strong> solche, die die SA-Männer für Juden hiel-<br />

19 Der Angriff, Nr. 216, 21.10.1932, vgl. auch Nr. 217, 22.10.1932, Anz.<br />

20 Vgl. <strong>Die</strong> Rote Fahne, Nr. 21, 27.1.1932; Der Angriff, Nr. 18 vom 27.1.1932; Engelbrechten u. Volz, a. a. O.,<br />

S. 107; Engelbrechten, a. a. O., S. 199.<br />

41


ten – wurden geschlagen, das Café Reimann demoliert <strong>und</strong> Gäste verprügelt. Der<br />

Berl<strong>in</strong>er SA-Führer Graf Helldorf patrouillierte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em offenen Wagen durch die<br />

Straßen <strong>und</strong> lenkte von dort die Aktionen se<strong>in</strong>er Untergebenen. Gruppen von je ca.<br />

50 SA-Männern zogen skandierend <strong>und</strong> prügelnd über den Kurfürstendamm. <strong>Die</strong><br />

Verständigung der Gruppen untere<strong>in</strong>ander geschah durch W<strong>in</strong>k- <strong>und</strong> Pfeifsignale.<br />

Über e<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>e dauerten die Ausschreitungen an, bevor sie von der Polizei beendet<br />

werden konnten. <strong>Die</strong> Aktion war nach Erkenntnissen des Gerichts generalstabsmäßig<br />

geplant <strong>und</strong> durchgeführt worden. 21<br />

Insgesamt darf man zusammenfassen: Der <strong>Antisemitismus</strong> war <strong>in</strong>nerhalb der Berl<strong>in</strong>er<br />

NSDAP <strong>und</strong> der SA nicht nur als e<strong>in</strong>e menschenverachtende Ideologie verbreitet,<br />

die vor allem vom „Angriff“ systematisch <strong>und</strong> kont<strong>in</strong>uierlich propagiert wurde,<br />

sondern <strong>in</strong> wachsendem Maße g<strong>in</strong>g es hier um die Anwendung physischer Gewalt<br />

gegen Juden, die sich am Ende der Weimarer Republik vor aller Augen auf Straßen<br />

<strong>und</strong> Plätzen vollzog. Welcher Zeitgenosse wollte da glaubwürdig behaupten, von der<br />

aggressiven Judenfe<strong>in</strong>dschaft der Nazis erst nach dem 30. Januar 1933 „überrascht“<br />

worden zu se<strong>in</strong>?<br />

21 Vgl. Schuster, a. a. O., S. 147.<br />

42


Renate Berger<br />

Schwarze Roben <strong>und</strong> brauner Geist –<br />

Begegnungen im Leipziger Reichsgericht 1930<br />

Das Gewalt-Dilemma begleitete die Weimarer Republik <strong>in</strong> unterschiedlicher Gestalt<br />

<strong>in</strong> allen Jahren ihrer Existenz.<br />

Ich möchte den Blick auf die Mitte der Gesellschaft richten, auf die Innenausstattung,<br />

das Innenleben zentraler Institutionen zur Zeit der Weltwirtschaftskrise.<br />

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, <strong>in</strong>wieweit das politische System der<br />

Weimarer Republik <strong>in</strong> dieser Zeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Institutionen den Bedrohungsszenarien<br />

rechter Kräfte gegen die Demokratie gewachsen war. Ich möchte die Aufmerksamkeit<br />

auf die Justiz als „3. Gewalt“ im Staate lenken, die den Schutz von Verfassung,<br />

Rechtsstaatlichkeit <strong>und</strong> Demokratie sichern muss. Akzeptanzverlust auf dieser Ebene<br />

wiegt besonders schwer, da er e<strong>in</strong>e zerstörerische Funktion auf das gesellschaftliche<br />

F<strong>und</strong>ament ausüben kann.<br />

Der Hochverratsprozess gegen Scher<strong>in</strong>ger, Lud<strong>in</strong> <strong>und</strong> Wend<br />

Vor dem Leipziger Reichsgericht fand vom 23. September bis zum 4. Oktober 1930<br />

e<strong>in</strong> Hochverratsprozess gegen die Reichswehroffi ziere Scher<strong>in</strong>ger, Lud<strong>in</strong> <strong>und</strong> Wend<br />

vom 5. Ulmer Artillerieregiment statt. <strong>Die</strong> Anklage wurde erhoben wegen:<br />

1. Im Dezember 1929 <strong>in</strong> Ulm, Hannover, Berl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Eisenach Versuche zur gewaltsamen<br />

Veränderung der Verfassung des deutschen Reiches unternommen zu haben;<br />

2. Den Versuch gemacht zu haben, Soldaten aufzufordern, ihren Vorgesetzten den<br />

Gehorsam zu verweigern oder sich zu widersetzen;<br />

3. Durch mündliche Äußerungen Missvergnügen <strong>in</strong> Bezug auf den <strong>Die</strong>nst unter<br />

den Kameraden zu erregen;<br />

4. Vorsätzlich e<strong>in</strong>en Befehl im <strong>Die</strong>nst nicht befolgt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Gefahr für die Schlagkraft<br />

der Truppe herbeigeführt zu haben.<br />

Vor ihren Aktivitäten hatten die Offi ziere Verb<strong>in</strong>dung zur Reichsleitung der NSDAP<br />

<strong>in</strong> München aufgenommen, um die Unterstützung der Partei bei der Organisierung<br />

e<strong>in</strong>er nationalsozialistischen Bewegung im Heer zu erwirken. <strong>Die</strong>se Bewegung zielte<br />

darauf, dass im Falle e<strong>in</strong>es nationalsozialistischen Putsches die Reichswehr nicht auf<br />

die Putschisten schießt. <strong>Die</strong> Reichsleitung der NSDAP hatte sich bereit erklärt, die<br />

Offi ziere zu unterstützen. Durch e<strong>in</strong>e Anzeige aus dem Offi zierskorps war das Unternehmen<br />

Prozessgegenstand geworden.<br />

Wie verfuhr das Reichsgericht <strong>in</strong> diesem Prozess? Nutzte es die Chance, als Wahrer<br />

von Verfassung <strong>und</strong> Demokratie die braune Bewegung als Staatsfe<strong>in</strong>de zu entlarven<br />

<strong>und</strong> zu verurteilen, um damit <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong> Signal zu setzen? Hätte sich das<br />

Reichsgericht dieser Aufgabe gestellt, dann wäre Staatssekretär Erich Zweigert vom<br />

43


Reichsm<strong>in</strong>isterium des Inneren nicht daran geh<strong>in</strong>dert worden, anhand e<strong>in</strong>er Denkschrift<br />

se<strong>in</strong>er Behörde die Verfassungsfe<strong>in</strong>dlichkeit der NSDAP nachzuweisen.<br />

<strong>Die</strong> Denkschrift wurde am 5. September 1930 unter dem Titel „Das hochverräterische<br />

Unternehmen der NSDAP“ vom Reichsm<strong>in</strong>isterium herausgegeben. Im<br />

Absatz 3 wurden Ausführungen über das hochverräterische Unternehmen, die Organisiertheit<br />

(Partei, Sturmabteilungen, Wehrfragen, militärische Ausbildung) <strong>und</strong><br />

die Vorbereitung des Hochverrats im e<strong>in</strong>zelnen gemacht (Eroberung der Straße, E<strong>in</strong>wirkung<br />

auf die Massen, staatsfe<strong>in</strong>dliche Politik <strong>und</strong> Zermürbung der Machtmittel<br />

des Staates).<br />

<strong>Die</strong> Denkschrift wurde vom Reichsm<strong>in</strong>isterium u. a. auch Oberreichsanwalt Dr.<br />

Werner zugeleitet. Wahrheitswidrig erklärte Reichsanwalt Dr. Nagel jedoch, dass sich<br />

das Material nicht rechtzeitig herbeischaffen <strong>und</strong> bearbeiten lasse, um e<strong>in</strong>en ungestörten<br />

Fortgang des Prozesses zu gewährleisten. Er stellte daher für den Fall der Verwertung<br />

des Materials Antrag auf Vertagung.<br />

Staatssekretär Zweigert sagte vor Gericht lediglich aus, dass bisher jeder Versuch,<br />

die Nazi-Führer gerichtlich zu belangen, im Büro des Oberreichsanwalts steckengeblieben<br />

war. Reichsjustizm<strong>in</strong>ister Dr. Johann Viktor Bredt (Wirtschaftspartei-Reichspartei<br />

des deutschen Mittelstandes) legte sogar Wert auf die Feststellung, dass er sich<br />

jeder Stellungnahme zu Aussagen von Staatssekretär Zweigert enthalte. Er habe lediglich<br />

den Oberreichsanwalt angewiesen, ihn als Zeugen zu vernehmen.<br />

<strong>Die</strong>se Erklärung erschien im Auftrage Bredts <strong>in</strong> der Presse, nachdem bekannt geworden<br />

war, dass er, Justizm<strong>in</strong>ister Bredt, mit Rücktritt gedroht habe, falls Zweigert<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Aussagen weiteres belastendes Material gegen e<strong>in</strong>e Regierungsfähigkeit<br />

der Nazi-Partei vorlegen würde. <strong>Die</strong> M<strong>in</strong>isterialräte Schönner vom Preußischen <strong>und</strong><br />

Häntzschel vom Reichsm<strong>in</strong>isterium des Innern wurden <strong>in</strong> Leipzig nicht vernommen.<br />

Dagegen entlasteten die nationalsozialistischen Zeugen Dr. Wagner, von Pfeffer <strong>und</strong><br />

Weiss die Partei von jedem Vorwurf e<strong>in</strong>er Tatbeteiligung am hochverräterischen Unternehmen<br />

der angeklagten Offi ziere.<br />

Es war offensichtlich: Justizm<strong>in</strong>isterium, Oberreichsanwalt sowie Leipziger Reichsgericht<br />

mühten sich geme<strong>in</strong>sam, jede Beweisführung für die Verfassungsfe<strong>in</strong>dlichkeit<br />

der Nationalsozialisten zu unterb<strong>in</strong>den. In der Urteilsbegründung wurde zur Frage<br />

des Nachweises der illegalen verfassungsfe<strong>in</strong>dlichen Praktiken der Nationalsozialisten<br />

folgende Stellung bezogen: „In e<strong>in</strong>e Beweiserhebung über die Frage (gewaltsamer<br />

nationalsozialistischer Umsturz, R. B.) e<strong>in</strong>zutreten, hat der Senat abgelehnt, da diese<br />

Frage für die Urteilsbegründung im vorliegenden Falle nicht von entscheidender Bedeutung<br />

ist.“<br />

Nach Ansicht des Reichsgerichts sollte es <strong>in</strong> diesem Prozess nur darauf ankommen,<br />

ob die Angeklagten an e<strong>in</strong>en Putsch geglaubt haben. Im Widerspruch zu dieser Behauptung<br />

heißt es an anderer Stelle der Urteilsbegründung allerd<strong>in</strong>gs:„Dem Senat erschien<br />

es deshalb von Bedeutung, aufzuklären, welche Stellung der Führer der NSDAP<br />

zu dieser Frage e<strong>in</strong>nahm, ob von der Partei e<strong>in</strong> solcher Umsturz beabsichtigt sei.“<br />

44


<strong>Die</strong> Aussagen Hitlers vor dem Reichsgericht<br />

Bereits am 3. Prozesstag wurde deshalb Adolf Hitler als Zeuge vernommen. Es ist<br />

bezeichnend für die <strong>in</strong>nere Verfasstheit der Justiz, dass sie se<strong>in</strong>en Aussagen mehr vertraute<br />

als der Denkschrift des M<strong>in</strong>isteriums des Inneren, dem zuständigen Staatssekretär<br />

<strong>und</strong> den mit dieser Problematik befassten M<strong>in</strong>isterialräten. Hitler wurde auf<br />

Beschluss des Gerichts sogar vereidigt, obwohl gegen ihn e<strong>in</strong> Verfahren schwebte.<br />

In der Urteilsbegründung heißt es zur Vernehmung des „Führers“ der NSDAP:<br />

„Adolf Hitler hat die Frage (Umsturzpläne betreffend – R. B.) unter Eid auf das entschiedenste<br />

verne<strong>in</strong>t, er hat mit unzweideutigen Worten erklärt, dass er se<strong>in</strong>e Ziele<br />

nur noch auf legalem Wege verfolge, dass er den Weg <strong>in</strong> München im November<br />

1923 nur ‚unter Zwang‘ gegangen sei <strong>und</strong> diesen Weg schon deshalb nicht mehr<br />

beschreite, weil er bei dem wachsenden Verständnis, das Deutschland der völkischen<br />

Freiheitsbewegung entgegenbr<strong>in</strong>ge, e<strong>in</strong> illegales Vorgehen gar nicht nötig habe; die<br />

Gewalt falle ihm mit der Zeit auf legalem Wege von selbst zu; das Wort ‚Revolution‘,<br />

das auch von Hitler öfter gebraucht werde, bedeute die geistige Revolutionierung<br />

Deutschlands, die zur Gesamterhebung des deutschen Volkes führen solle. Wenn vom<br />

Kampf die Rede sei, so me<strong>in</strong>e er damit den Selbstschutz se<strong>in</strong>er Partei gegen den Terror<br />

der Straße <strong>und</strong> gegen die Störung von Versammlungen.“<br />

Bei aller Demagogie, deren sich Hitler <strong>in</strong> Leipzig bediente, ließ er ke<strong>in</strong>en Zweifel<br />

darüber, dass, sofern die Nazis die Macht im Staate übernommen haben, mit den<br />

„Novemberverbrechern“ Abrechnung gehalten werde <strong>und</strong> die allseitige Bekämpfung<br />

des „ marxistischen Übels“ erfolgen würde. Beide Begriffe enthalten Gewaltandrohungen<br />

vor dem höchsten deutschen Gericht, die jedoch ke<strong>in</strong>erlei strafrechtliche<br />

Konsequenzen für Hitler hatten. Se<strong>in</strong>e Lügen, er habe dafür Sorge getragen, dass die<br />

Schutzabteilungen den Charakter waffenloser <strong>und</strong> unmilitärischer Verbände tragen,<br />

alle illegalen Waffenbesitzer würden aus der Partei ausgeschlossen, akzeptierte das Gericht<br />

unwidersprochen. Hitler bek<strong>und</strong>ete ferner, die nationalsozialistische Regierung<br />

werde mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln gegen die Friedensverträge vorgehen,<br />

die sie als etwas mit Gewalt Deutschland Aufgezwungenes ansehe. Nach se<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>stellung zur Reichswehr befragt, erklärte Hitler, dass er <strong>in</strong> der deutschen Reichswehr<br />

das wichtigste Instrument zur „Wiederaufrichtung des deutschen Staates <strong>und</strong><br />

des deutschen Volkes erkannt habe“ <strong>und</strong> deshalb der Versuch ihrer Zersetzung e<strong>in</strong>em<br />

Verbrechen gleichkomme. Geheime Beziehungen zur Reichwehr dulde er nicht. Der<br />

Nationalsozialismus suche vor allem Verb<strong>in</strong>dung zum Geist des Heeres. Er äußerte die<br />

Hoffnung, dass sich im deutschen Heer e<strong>in</strong> vaterländischer wehrhafter Geist durchsetzen<br />

möge <strong>und</strong> forderte die Erziehung der Nation zum absoluten Kampfeswillen.<br />

Das Urteil <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Echo <strong>in</strong> der Öffentlichkeit<br />

Dass den Nazis dieser Vorsatz auch außerhalb des Heeres gelungen war, bewiesen der<br />

Urteilsspruch <strong>und</strong> dessen Begründung durch das Leipziger Reichsgericht. Es besche<strong>in</strong>igte<br />

den Angeklagten unter Berufung auf das Urteil von Vorgesetzten der Offi ziere<br />

45


e<strong>in</strong>e ideale Berufsauffassung, Gradheit, Wehrhaftigkeit, echte Kameradschaft <strong>und</strong><br />

warmes Nationalgefühl. Das Gericht verwahrte sich dagegen, dass <strong>in</strong> der Öffentlichkeit<br />

der Prozess vielfach so dargestellt wird, als ob das Gericht die „vaterländischen<br />

Bestrebungen“ der Angeklagten als Zersetzung bezeichne.<br />

Das Gericht zog e<strong>in</strong>e Verurteilung zu Zuchthausstrafen nicht <strong>in</strong> Betracht, da die<br />

Angeklagten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sicht nicht aus ehrloser Ges<strong>in</strong>nung, sondern aus edlen Beweggründen<br />

gehandelt hatten. <strong>Die</strong> Lasten des Versailler Vertrags <strong>und</strong> der „furchtbare<br />

Zusammenbruch“ habe den Angehörigen des kle<strong>in</strong>en Heeres besondere Sorgen auferlegt.<br />

<strong>Die</strong> tadellose Vergangenheit <strong>und</strong> die edlen Motive der Angeklagten wurden <strong>in</strong><br />

der Urteilsbegründung mehrfach betont, wirkten strafm<strong>in</strong>dernd.<br />

<strong>Die</strong> Zeugenaussagen bestätigten allerd<strong>in</strong>gs, das alle drei Angeklagten radikale Maßnahmen<br />

zur Änderung der Verhältnisse im Heer durch e<strong>in</strong>e Bewegung „von unten“ <strong>in</strong><br />

Betracht zogen, mit dem Ziel, e<strong>in</strong>e Besserung durch gewaltsamen Sturz der Regierung<br />

zu erreichen. Das Reichsgericht sah den Tatbestand der Vorbereitung zum Hochverrat<br />

als erwiesen <strong>und</strong> verurteilte die Offi ziere zu e<strong>in</strong>em Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten Festungshaft<br />

unter Anrechnung der Untersuchungshaft. Lud<strong>in</strong> <strong>und</strong> Scher<strong>in</strong>ger wurden aus der<br />

Reichswehr ausgestoßen.<br />

<strong>Die</strong> Verfahrensweise im Prozess bezeugt: Fe<strong>in</strong>de der Demokratie wirkten <strong>in</strong> Institutionen<br />

des Reiches. Der Prozess diente als Propagandaveranstaltung für die Nationalsozialisten<br />

auf Kosten der Republik. Unter der Überschrift „E<strong>in</strong> sachliches Urteil“<br />

hieß es <strong>in</strong> der „Berl<strong>in</strong>er Börsen-Zeitung“ vom 4. Oktober 1930: „ E<strong>in</strong>e Sache, über<br />

die <strong>in</strong> Leipzig gerichtet wurde, hat gewiss e<strong>in</strong>en weiten H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>; e<strong>in</strong>en viel weiteren,<br />

als das Prozessverfahren haben konnte <strong>und</strong> durfte.“<br />

<strong>Die</strong> „Denkschrift zum Programm e<strong>in</strong>er bürgerlich-nationalen Organisation“, verfasst<br />

im Namen des Präsidiums des Reichsbürgerrats (Reichsb<strong>und</strong> der Beamten <strong>und</strong><br />

Angestellten <strong>in</strong> öffentlichen Betrieben <strong>und</strong> Verwaltungen) von se<strong>in</strong>em Präsidenten v.<br />

Loebell, formulierte: „Es zeigt sich, dass das deutsche Staatsgefüge e<strong>in</strong> sehr kompliziertes<br />

politisches <strong>und</strong> wirtschaftliches Gebilde ist, dass man die Macht nur <strong>in</strong> langer<br />

politischer Arbeit für das allgeme<strong>in</strong>e Wohl, nicht aber alle<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>en Glauben an<br />

Deutschlands Zukunft <strong>und</strong> mit starker nationaler Begeisterung erobern kann.“<br />

<strong>Die</strong> „Deutsche Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung“ vom 5. Oktober schrieb unter der Überschrift<br />

„Deutschland oder die Verfassung“:„Wie kann man an der Szylla („e<strong>in</strong>gedeutscht!“-<br />

R. B) des Parlamentarismus vorbeikommen, ohne von der Charybdis des Bolschewismus<br />

verschlungen zu werden?“ In der Morgenausgabe der gleichen Zeitung vom<br />

10. Oktober fand sich unter der Fragestellung „Wer ist Adolf Hitler ?“ folgende rhetorische<br />

Frage: „Sollte es nicht doch gel<strong>in</strong>gen können, diesen Mann zu nutzbr<strong>in</strong>gender<br />

Mitarbeit im Staate heranzuziehen <strong>und</strong> die Energie <strong>und</strong> die nationale Begeisterung<br />

… <strong>in</strong> vernünftige Bahnen zu lenken <strong>und</strong> für die Besserung unserer Verhältnisse e<strong>in</strong>zuspannen?“<br />

Nur <strong>in</strong> der „Weltbühne“ vom 1. Oktober 1930 las man, dass es e<strong>in</strong> Charakteristikum<br />

dieses Prozesses gewesen sei, dass die Zeugen, die Vorgesetzten der Angeklag-<br />

46


ten <strong>und</strong> die Kameraden der Offi ziere kaum anders redeten als die Angeklagten. Den<br />

Unterschied zwischen den Loyalen <strong>und</strong> den Verschwörern müsste man schon mit<br />

der Lupe suchen. Durch die weltanschauliche Identifi zierung von Kadern aus dem<br />

Offi zierskorps mit der Ideologie der Nationalsozialisten wurde der Prozess auch zum<br />

Spiegel des antidemokratischen Geistes <strong>in</strong> der Reichswehr.<br />

In der ganzen deutschen Rechtsgeschichte fi ndet sich so schnell ke<strong>in</strong> Beispiel dafür,<br />

dass der Führer e<strong>in</strong>er Partei über die Verfassungsmäßigkeit se<strong>in</strong>es politischen Handelns<br />

eidesstattliche Erklärungen abgab <strong>und</strong> damit auf dem Wege über e<strong>in</strong> Gericht<br />

der gesamten nationalsozialistischen Bewegung Absolution für alle verbrecherischen<br />

Taten der Vergangenheit erteilt wurde – der Nazibewegung also lediglich rechtliche<br />

B<strong>in</strong>dungen auferlegt werden sollten, ihr terroristischer Geist aber ke<strong>in</strong>erlei Ahndung<br />

erfuhr.<br />

Insgesamt fungiert der Prozess als S<strong>in</strong>nbild der geistig-kulturellen Unterlegenheit<br />

republikanischer Kräfte, als Meilenste<strong>in</strong> auf dem Wege zur Beseitigung der Demokratie.<br />

Er ist Ausdruck fehlender Identifi zierung der Justiz mit den Pr<strong>in</strong>zipien demokratischen<br />

Geistes, se<strong>in</strong>er Verfassungstreue <strong>und</strong> se<strong>in</strong>es Staatswesens.<br />

Quellen- <strong>und</strong> Literaturh<strong>in</strong>weise:<br />

Ehemaliges Zentrales Staatsarchiv der DDR, Potsdam: Akten des Oberreichsanwalts,<br />

Urteilsbegründung im Fall Scher<strong>in</strong>ger, Lud<strong>in</strong> <strong>und</strong> Wend.<br />

G. Zarnow, Gefesselte Justiz. Politische Bilder aus deutscher Gegenwart, 11. Aufl .,<br />

München 1932, Bd, 1.<br />

Rudolf Scher<strong>in</strong>ger, Das große Los, Berl<strong>in</strong>, 1961.<br />

Wilhelm Hoegner, <strong>Die</strong> verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution,<br />

München 1958 u. ö.<br />

47


Professor Dr. Mario Keßler<br />

<strong>Die</strong> KPD <strong>und</strong> der <strong>Antisemitismus</strong><br />

<strong>in</strong> der Weimarer Republik 1<br />

„Der Kaiser g<strong>in</strong>g, die Generäle blieben“, heißt e<strong>in</strong> bekannter Roman von Theodor<br />

Plivier, der damit e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>problem der Weimarer Republik beschrieb. Nicht nur<br />

viele Generäle, die das vierjährige Massenmorden des Weltkrieges mit zu verantworten<br />

hatten, behielten nach der steckengebliebenen bürgerlichen Revolution von 1918<br />

ihre Posten <strong>und</strong> Privilegien. Auch Industrie- <strong>und</strong> Agrarkapitalisten, Kirchen- wie<br />

Kathederfürsten konnten die Verantwortung für den Krieg mitsamt der Niederlage<br />

von sich abwälzen. Damit blieben auch chauv<strong>in</strong>istischer Dünkel <strong>und</strong> der irrationale<br />

Glaube an die Höherwertigkeit des Deutschtums als politische Faktoren auf dem<br />

Marktplatz der Ideen hoch im Kurs.<br />

Der politische <strong>Antisemitismus</strong>, e<strong>in</strong>e Begleit- aber ke<strong>in</strong>eswegs nur Randersche<strong>in</strong>ung<br />

der nationalistischen Propaganda, erreichte am Beg<strong>in</strong>n der ungeliebten Republik von<br />

Weimar e<strong>in</strong>e neue, fragwürdige Blüte. <strong>Die</strong> herrschende Propaganda, so der im Jahre<br />

2000 verstorbene Historiker Walter Grab, „behauptete, dass Marxisten <strong>und</strong> Juden den<br />

Sieg des tapferen deutschen Soldaten durch e<strong>in</strong>en feigen Dolchstoß <strong>in</strong> den Rücken<br />

vereitelt hätten. <strong>Die</strong>se Legende, die die Verantwortung von den wahren Urhebern<br />

der nationalen Katastrophe auf Demokraten <strong>und</strong> Sozialisten abwälzte, verschmolz<br />

mit der Propagandakampagne gegen die sogenannte Kriegsschuldlüge. Das Märchen<br />

von der E<strong>in</strong>kreisung Deutschlands durch böse Fe<strong>in</strong>de, die dem eigenen Heldenvolk<br />

se<strong>in</strong>en rechtmäßigen Platz an der Sonne mißgönnt <strong>und</strong> geraubt hätten, wurde <strong>in</strong> den<br />

Massenmedien, <strong>in</strong> zahllosen Versammlungen <strong>und</strong> offi ziellen Veranstaltungen immer<br />

wieder e<strong>in</strong>gehämmert <strong>und</strong> von breiten Kreisen geglaubt.“ 2<br />

In der Novemberrevolution vermochte es die deutsche Arbeiterbewegung nicht,<br />

die herrschenden Klassen, die für diese Art der Propaganda verantwortlich zeichneten,<br />

aus ihren Machtstellungen zu verdrängen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e umfassende Demokratisierung<br />

e<strong>in</strong>zuleiten. Vielmehr nahm die vor 1914 sich abzeichnende <strong>und</strong> im<br />

Weltkrieg manifest gewordene Spaltung zwischen revolutionärer <strong>und</strong> gemäßigt-reformerischer<br />

Arbeiterbewegung die Form e<strong>in</strong>es tiefen <strong>und</strong> letztlich unüberbrückbaren<br />

Gegensatzes an. Als mächtige l<strong>in</strong>ke Flügelpartei des politischen Spektrums<br />

der Weimarer Republik etablierte sich die KPD. Von e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en, alsbald brutal<br />

verfolgten Gruppe, dem Spartakusb<strong>und</strong>, wurde sie zur drittstärksten politischen<br />

Kraft, der am Ende der Republik be<strong>in</strong>ahe jeder sechste Wähler <strong>in</strong> Reichstagswahlen<br />

die Stimme gab.<br />

1 <strong>Die</strong>ser Beitrag erschien zuerst <strong>in</strong>: Utopie kreativ, Nr. 173, März 2005, S. 223–232.<br />

2 Walter Grab, Gefahren des deutschen Nationalismus, <strong>in</strong>: Europäische Ideen, Heft 82, 1992, S. 23.<br />

48


Da die KPD aus der Vorkriegssozialdemokratie hervorg<strong>in</strong>g, die sich als entschiedene<br />

Gegner<strong>in</strong> des <strong>Antisemitismus</strong> ausgezeichnet hatte, <strong>und</strong> da die Rechtspropaganda die<br />

Schimäre vom „jüdischen Bolschewismus“ als bösartige Kampfparole gebrauchte, ist<br />

die E<strong>in</strong>stellung der KPD zum <strong>Antisemitismus</strong> alle<strong>in</strong> aus diesen Gründen von Interesse.<br />

H<strong>in</strong>zu kam, daß e<strong>in</strong>ige ihrer maßgeblichen Politiker, darunter die Parteigründer Rosa<br />

Luxemburg <strong>und</strong> Paul Levi, Juden waren <strong>und</strong> als solche ebenso wie wegen ihrer politischen<br />

E<strong>in</strong>stellung zu Hassobjekten für die reaktionäre Rechte wurden. <strong>Antisemitismus</strong><br />

<strong>und</strong> Antikommunismus waren die Verb<strong>in</strong>dungsglieder zwischen der geschlagenen<br />

monarchistischen Reaktion <strong>und</strong> der neuen völkischen, alsbald nazistischen Rechten.<br />

„Im Mord an Rosa Luxemburg“, schrieb Isaac Deutscher, „feierte Hohenzollern-<br />

Deutschland se<strong>in</strong>en letzten, Nazi-Deutschland h<strong>in</strong>gegen se<strong>in</strong>en ersten Triumph.“ 3<br />

Wie reagierte die KPD auf den <strong>Antisemitismus</strong>, wor<strong>in</strong> sah sie dessen Ursachen, welche<br />

Angebote zur Integration unterbreitete sie ihren jüdischen Mitgliedern? Der folgende<br />

Überblick sucht diese drei mite<strong>in</strong>ander zusammenhängenden Fragen zu beleuchten.<br />

Erstens<br />

Gegen den Rat Paul Levis <strong>und</strong> Rosa Luxemburgs boykottierte die soeben gegründete<br />

KPD die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919. Sie attackierte die im<br />

August jenes Jahres verabschiedete Verfassung als Instrument bürgerlicher Klassenherrschaft<br />

<strong>und</strong> setzte dem die Losung e<strong>in</strong>es Rätedeutschland entgegen. Doch verteidigten<br />

die deutschen Kommunisten das <strong>in</strong> der Verfassung fi xierte Pr<strong>in</strong>zip der Rechtsgleichheit,<br />

das die (ursprünglich konfessionelle) Benachteiligung der Juden aus der<br />

Zeit des Kaiserreiches aufhob. <strong>Die</strong>se Haltung, aber weit mehr noch der revolutionäre<br />

Radikalismus der Partei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, die dem Kapitalismus das Totenglöckchen zu<br />

läuten schien, führte <strong>in</strong> den Jahren 1918 bis 1920 zu e<strong>in</strong>en Zustrom vor allem junger,<br />

akademisch gebildeter Juden <strong>in</strong> die Partei oder zum<strong>in</strong>dest zur Annäherung an<br />

diese. So wurden damals Ernst Bloch <strong>und</strong> Georg Lukács, Egon Erw<strong>in</strong> Kisch <strong>und</strong> Arthur<br />

Hollitscher, Felix Boenheim <strong>und</strong> Arthur Rosenberg, Felix Halle <strong>und</strong> Iwan Katz,<br />

Werner Scholem <strong>und</strong> Fritz Wolffheim, Josef W<strong>in</strong>ternitz <strong>und</strong> Werner Hirsch, Edda<br />

Tennenbaum, Rosi Wolfste<strong>in</strong> <strong>und</strong> Ruth Fischer oder ihre beiden Brüder Hanns <strong>und</strong><br />

Gerhart Eisler für die Sache der Partei gewonnen. Fast alle der Genannten machten<br />

sich bald als Politiker oder Theoretiker der KPD bemerkbar. Ihre Altersgenossen Paul<br />

Levi <strong>und</strong> August Thalheimer waren schon vor dem Ersten Weltkrieg <strong>in</strong> der Sozialdemokratie<br />

aktiv gewesen, lassen sich aber „habituell“ dieser Gruppe zuordnen.<br />

Natürlich war dies ke<strong>in</strong>e differentia specifi ca von Juden: Nichtjüdische L<strong>in</strong>ke wie<br />

Karl August Wittfogel, Paul Mass<strong>in</strong>g oder Karl Korsch gehören ebenfalls hierher. Aber<br />

die Hoffnung, die bolschewistische Revolution werde den <strong>Antisemitismus</strong> e<strong>in</strong> für allemal<br />

beseitigen, die starke Präsenz jüdischer Intellektueller <strong>in</strong> Politik <strong>und</strong> Kultur des<br />

3 Isaac Deutscher, <strong>Die</strong> ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von <strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> Zionismus, Berl<strong>in</strong> [West] 1977,<br />

S. 13.<br />

49


frühen Sowjetrußland, vor allem aber die neuartige Qualität des deutschen wie des<br />

russischen Judenhasses sorgten unter jüdischen Deutschen für e<strong>in</strong>en deutlichen Ruck<br />

nach l<strong>in</strong>ks. Das sichtbare B<strong>in</strong>deglied zwischen deutschen <strong>und</strong> russischen Antisemiten<br />

waren die „Protokolle der Weisen von Zion“, die ab 1919 <strong>in</strong> deutscher Übersetzung<br />

vieltausendfach verbreitet wurden. 4<br />

<strong>Die</strong>ser L<strong>in</strong>ksruck kam zunächst vor allem der SPD <strong>und</strong> der USPD zugute, doch<br />

auch bislang konservativ oder sche<strong>in</strong>bar unpolitisch e<strong>in</strong>gestellte Juden bekannten<br />

sich nun zur Weimarer Republik, zumeist zur Deutschen Demokratischen Partei,<br />

die e<strong>in</strong>en nennenswerten Anteil jüdischer Wählerstimmen aufwies. <strong>Die</strong> KPD führte,<br />

ebensowenig wie andere Parteien, e<strong>in</strong>e Statistik ihrer jüdischen Mitglieder. E<strong>in</strong>e gut<br />

vierzig Jahre später entstandene Arbeit wollte für das Jahr 1927 unter 143 000 Parteimitgliedern<br />

etwa 1 000 solcher jüdischer Herkunft ausmachen. 5 Im Reichstag waren<br />

im Mai 1914 von den 62 kommunistischen Abgeordneten sechs Juden, <strong>in</strong> späteren<br />

Jahren waren es jedoch nur e<strong>in</strong> bis drei, <strong>in</strong> der letzten Legislaturperiode gab es ke<strong>in</strong>en<br />

jüdischen KPD-Abgeordneten. Im preußischen Landtag gab es mehrere Juden <strong>in</strong> der<br />

KPD-Fraktion, zuletzt jedoch ebenfalls ke<strong>in</strong>en mehr. 6<br />

Es gab ke<strong>in</strong>e „jüdische Frage“ <strong>in</strong>nerhalb der KPD, wohl aber gab es e<strong>in</strong>e „jüdische<br />

Frage“ <strong>in</strong> Deutschland: nämlich das, trotz verfassungsmäßiger Gleichheit, ungelöste<br />

Problem der gleichberechtigten Teilhabe jüdischer Bürger am gesellschaftlichen Leben<br />

ohne Furcht vor Diskrim<strong>in</strong>ierung. <strong>Die</strong> deutschen Kommunisten mußte sich mit<br />

dem <strong>Antisemitismus</strong> als e<strong>in</strong>er immer wichtigeren Frage ause<strong>in</strong>andersetzen.<br />

Bereits der USPD-Parteitag 1919 hatte dazu aufgefordert, den <strong>Antisemitismus</strong> auf<br />

das Schärfste zu bekämpfen. 7 Als im Oktober 1920 beträchtliche Teile der USPD-<br />

Mitgliedschaft zur KPD stießen, behielten sie diese Haltung pr<strong>in</strong>zipiell bei, doch es<br />

traten bald Probleme auf:<br />

In der deutschen Staatskrise von 1923 nahm die KPD den virulenten <strong>Antisemitismus</strong><br />

als eigenständige Größe <strong>in</strong>nerhalb der deutschen Gesellschaft nur unzureichend<br />

wahr. H<strong>in</strong>gegen suchte sie sich als nationale Kraft im Widerstand gegen Frankreich<br />

zu präsentieren. So mahnte Paul Böttcher, ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Ultradikaler, auf dem Plenum<br />

des Exekutivkomitess der Kommunistischen Internationale im Juni, angesichts<br />

der französischen Besetzung des Ruhrgebietes „ke<strong>in</strong>en Nihilismus <strong>in</strong> der nationalen<br />

Frage“ zuzulassen. 8 Karl Radek pries den von französischen Truppen h<strong>in</strong>gerichteten<br />

4 Vgl. zu ihrer Entstehungs- <strong>und</strong> Verbreitungsgeschichte Stephen Eric Bronner, E<strong>in</strong> Gerücht über die Juden. <strong>Die</strong><br />

„Protokolle der Weisen von Zion“ <strong>und</strong> der alltägliche <strong>Antisemitismus</strong>, Berl<strong>in</strong> 1999.<br />

5 Hans-Helmuth Knütter, <strong>Die</strong> Juden <strong>und</strong> die deutsche L<strong>in</strong>ke <strong>in</strong> der Weimarer Republik 1918–1931, Düsseldorf<br />

1971, S. 203f. Knütter vertrat damals, im Unterschied zu späteren Jahren, ke<strong>in</strong>e rechtslastigen Auffassungen,<br />

neigte jedoch dazu, den Juden bestimmte Charakterzüge pauschal zuzuschreiben.<br />

6 Vgl. Edm<strong>und</strong> Silberner, Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie <strong>und</strong> Praxis des Kommunismus,<br />

Opladen 1983, S. 265.<br />

7 USPD. Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitags <strong>in</strong> Leipzig vom 30. November bis 6.<br />

Dezember 1919, Berl<strong>in</strong> o. J., S. 539.<br />

8 Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 12.–23. Juni<br />

1923, Hamburg 1923, S. 134.<br />

50


echtsradikalen Untergr<strong>und</strong>kämpfer Leo Schlageter als „mutige(n) Soldat(en) der<br />

Konterrevolution“, der von den Soldaten der Revolution zu würdigen sei. Zwar habe<br />

er gegen die revolutionäre Arbeiterklasse gekämpft, doch sei er überzeugt gewesen,<br />

dem deutschen Volke zu dienen. Genau dies wolle auch die KPD. 9<br />

Daran anschließend öffnete „<strong>Die</strong> Rote Fahne“, das KPD-Organ, ihre Spalten<br />

für zwei Beiträge des völkischen Nationalisten Ernst Graf Reventlow, die auch als<br />

Broschüre erschienen – geme<strong>in</strong>sam mit Radeks Rede sowie Aufsätzen des Kommunisten<br />

Paul Frölich <strong>und</strong> des neokonservativen Nationalisten Arthur Möller van den<br />

Bruck. Das Heft trug den Titel „Hakenkreuz oder Sowjetstern. Deutschlands Weg –<br />

Deutschlands Rettung“. 10 <strong>Die</strong>s leitete e<strong>in</strong>e Reihe von Versammlungen e<strong>in</strong>, auf denen<br />

kommunistische <strong>und</strong> völkische Redner auftraten. Besonders tat sich der KPD-Reichstagsabgeordnete<br />

Hermann Remmele hervor, der sich nicht scheute, am 2. August<br />

1923 auf e<strong>in</strong>er Versammlung der NSDAP zu sprechen. 11 <strong>Die</strong> KPD-Presse verwendete<br />

den Begriff des „Volkes“ als Schlüsselkategorie, um die Zustände <strong>in</strong> Deutschland zu<br />

kennzeichnen beziehungsweise anzuprangern. 12<br />

Der „Völkische Beobachter“, das Blatt der Nazis, warnte <strong>in</strong>des vor „diesen neuen<br />

Verführern“, die „unter der Maske des Maske des Vaterlandsfre<strong>und</strong>es die völkische<br />

Bewegung unter die nationalbolschewistische, jüdische Führung zu br<strong>in</strong>gen“ versuchten.<br />

13 Der e<strong>in</strong>zige Effekt der KPD-Propaganda war somit die Desorientierung<br />

der eigenen Genossen, während die nationalistische Rechte nur höhnisch oder ablehnend<br />

reagierte. 14<br />

Dabei wurde jedoch der <strong>Antisemitismus</strong> von der Partei weiterh<strong>in</strong> verurteilt. Dessen<br />

Stoßtrupps bestünden aus deklassierten Offi zieren, Studenten, Sek<strong>und</strong>anern, Lockspitzeln<br />

<strong>und</strong> sonstigem Ges<strong>in</strong>del, schrieb die „Neue Zeitung“, das Münchner KPD-Blatt.<br />

<strong>Die</strong> F<strong>in</strong>anzierung der antisemitischen Hetze besorgten größtenteils das <strong>in</strong>dustrielle<br />

<strong>und</strong> agrarische Großkapital, das <strong>in</strong> ihm e<strong>in</strong>en Schutz gegen die soziale Revolution sehe.<br />

15 In anderen KPD-Regionalzeitungen fi nden sich jedoch antijüdische Stereotype. 16<br />

In München selbst „schlugen die Wogen der kommenden Hitlerbewegung auch bis <strong>in</strong><br />

die Reihen der Kommunistischen Jugend“, vermeldete die „Neue Zeitung“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

kritischen Rückblick. Doch sei diese Tendenz überw<strong>und</strong>en worden. 17<br />

Im Sommer 1923 konnte von e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung der Probleme jedoch ke<strong>in</strong>eswegs<br />

die Rede sei. Ruth Fischer, die Wortführer<strong>in</strong> der selbst ernannten Parteil<strong>in</strong>ken,<br />

9 Ebenda, S. 240f.<br />

10 Hakenkreuz oder Sowjetstern? Deutschlands Weg – Deutschlands Rettung, Berl<strong>in</strong> 1923.<br />

11 Vgl. ebenda sowie <strong>Die</strong> Rote Fahne, 10. August 1923.<br />

12 Zahlreiche Beispiele bei Thomas Khaury, <strong>Antisemitismus</strong> von l<strong>in</strong>ks. Kommunistische Ideologie, Nationalismus<br />

<strong>und</strong> Antizionismus <strong>in</strong> der frühen DDR, Hamburg 2002, S. 266f.<br />

13 Zit. nach Hakenkreuz oder Sowjetstern?, a. a. O., S. 3.<br />

14 Vgl. Louis Dupeux, Nationalbolschewismus <strong>in</strong> Deutschland 1919–1933. Kommunistische Strategie <strong>und</strong> konservative<br />

Dynamik, Frankfurt a. M. 1985, S. 201f.<br />

15 Neue Zeitung, 23. Dezember 1922.<br />

16 Beispiele bei Silberner, Kommunisten zur Judenfrage, a. a. O., S. 270f.<br />

17 Neue Zeitung, 24. November 1928.<br />

51


machte auf ihrem Weg an die Spitze der KPD vor populistischer Stimmungsmache<br />

nicht Halt, <strong>in</strong> der sie ungeniert antisemitische Klischees e<strong>in</strong>setzte. In e<strong>in</strong>er Rede, der<br />

kommunistische wie völkische Studenten zuhörten, stellte sie am 25. Juli 1923 die<br />

demagogische Frage: „Sie rufen auf gegen das Judenkapital, me<strong>in</strong>e Herren?“ Ihre Antwort<br />

lautete: „Wer gegen das Judenkapital aufruft, me<strong>in</strong>e Herren, ist schon Klassenkämpfer,<br />

auch wenn er es nicht weiß. Sie s<strong>in</strong>d gegen das Judenkapital <strong>und</strong> wollen die<br />

Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie<br />

an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, me<strong>in</strong>e Herren, wie stehen sie zu den Großkapitalisten,<br />

den St<strong>in</strong>nes, Klöckner …?“ <strong>Die</strong> SPD-Zeitung „Vorwärts“ zitierte diese Rede<br />

der jüdischen Politiker<strong>in</strong> unter dem Titel „Ruth Fischer als Antisemit<strong>in</strong>“. 18 <strong>Die</strong> „Rote<br />

Fahne“ brachte ke<strong>in</strong>en Bericht, aber auch ke<strong>in</strong> Dementi.<br />

Der KPD-Vorsitzende He<strong>in</strong>rich Brandler, von se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nerparteilichen Gegnern als<br />

„Rechter“ bezeichnet, suchte dieser bedrohlichen Entwicklung entgegen zu wirken.<br />

Jahrzehnte später fand die (zeitweilig) zum radikalen Antikommunismus konvertierte<br />

Ruth Fischer dafür die Formulierung, Brandler habe sich „auf das Schreiben aggressiver<br />

Artikel gegen die Faschisten“ verlegt <strong>und</strong> entsprechende Anweisungen an die<br />

Redakteure der KPD-Zeitungen erlassen. 19<br />

Wie unkontrolliert die Emotionen im turbulenten Sommer 1923 waren, zeigte<br />

auch e<strong>in</strong> Bericht der „Roten Fahne“ aus Budapest, der die restaurativen Bestrebungen<br />

der Habsburger <strong>in</strong> Ungarn <strong>und</strong> ihr behauptetes Zusammenspiel mit dem „Reichsverweser“<br />

unter den Titel stellte: „Auch Horthy gegen rechts <strong>und</strong> l<strong>in</strong>ks. Für das jüdische<br />

Kapital <strong>und</strong> Kaiserhaus“. 20<br />

Trat der <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> den zahlreichen Fraktionskämpfen der <strong>in</strong> sich so gespaltenen<br />

KPD auf? Ende März 1924 warnte Klara Zetk<strong>in</strong> genau davor. Aus Moskau<br />

schrieb sie an den IX. Parteitag der KPD: „<strong>Die</strong> ‚l<strong>in</strong>ke‘ Parteimehrheit vere<strong>in</strong>igt brüderlich<br />

reichlichst KAPisten, 21 Syndikalisten, Antiparlamentarier, bei Lichte besehen –<br />

horrible dictu – sogar Reformisten <strong>und</strong> neuerd<strong>in</strong>gs – faschistische Antisemiten.“ 22<br />

E<strong>in</strong> nicht namentlich genannter Anhänger Brandlers erklärte auf dem Parteitag: „Wir<br />

haben vere<strong>in</strong>zelte antisemitische Unterströmungen <strong>in</strong> der Partei.“ 23 Wie recht er hatte,<br />

zeigt e<strong>in</strong> weiterer Vorfall: In der „Roten Fahne“ wurde der Berl<strong>in</strong>er (jüdische) Polizeivizepräsident<br />

Dr. Bernhard Weiß, e<strong>in</strong> Sozialdemokrat, mit dem angeblich jüdisch<br />

kl<strong>in</strong>genden Vornamen Isidor belegt. 24 <strong>Die</strong> Nazis <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere Josef Goebbels<br />

bedienten sich genau dieser Idee <strong>und</strong> suchten Weiß mit diesem Namen lächerlich zu<br />

machen, wogegen er sich mit Beleidigungsklagen zur Wehr setzte. 25<br />

18 Vorwärts, 22. August 1923. Hervorhebung im Text.<br />

19 Ruth Fischer, Stal<strong>in</strong> <strong>und</strong> der deutsche Kommunismus. Der Übergang zur Konterrevolution, Frankfurt a. M.<br />

(1950), S. 349.<br />

20 <strong>Die</strong> Rote Fahne, 29. Juli 1923.<br />

21 Anhänger der mit der KPD zeitweilig rivalisierenden Kommunistischen Arbeiterpartei (KAPD).<br />

22 Bericht über die Verhandlungen des IX. Parteitages der KPD (7.–10. April 1924), Berl<strong>in</strong> 1924, S. 93.<br />

23 Ebenda, S. 289.<br />

24 <strong>Die</strong> Rote Fahne, 5. Juli 1923.<br />

25 Vgl. <strong>Die</strong>tz Ber<strong>in</strong>g, Von der Notwendigkeit politischer Beleidigungsprozesse. Der Beg<strong>in</strong>n der Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

52


Noch während der bayerischen Landtagswahlen im April 1924 wurde diese fragwürdige<br />

Taktik der zur Parteichefi n aufgestiegenen Ruth Fischer angewandt: So beschlagnahmte<br />

die Nürnberger Polizei, e<strong>in</strong>em Bericht der örtlichen Polizeidirektion<br />

zufolge, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kommunistischen Büro nicht weniger als 70 Flugblätter mit der<br />

Aufschrift „Nieder mit der Judenrepublik“. <strong>Die</strong> KPD verfolgte sogar die abenteuerliche<br />

Taktik, die völkische Bewegung durch E<strong>in</strong>tritte zu unterwandern. 26 Doch schlug<br />

dies ebenso fehl, wie alle vorherigen Versuche der Anbiederung.<br />

Mit dem Niedergang der von Ruth Fischer angeführten Parteirichtung traten ab<br />

1925 die antisemitischen Stimmen <strong>in</strong>nerhalb der Parteipresse zurück, ohne ganz zu<br />

verstummen. Klara Zetk<strong>in</strong>s Befürchtungen bewahrheiteten sich jedoch nicht. Denn<br />

anders als <strong>in</strong> der Sowjetunion, wurde der <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong>nerhalb der KPD ke<strong>in</strong><br />

Mittel <strong>in</strong> Fraktionskämpfen. <strong>Die</strong> Probleme waren damit ke<strong>in</strong>eswegs gelöst.<br />

Zweitens<br />

<strong>Die</strong> Weltwirtschaftskrise ließ nicht nur die Weimarer Republik ökonomisch <strong>und</strong><br />

politisch ause<strong>in</strong>anderfallen. Sie sorgte auch für e<strong>in</strong>e Diskreditierung der wenigen<br />

Ideen, für die diese Republik stand. <strong>Die</strong>s waren der Demokratie-Gedanke <strong>und</strong><br />

das Pr<strong>in</strong>zip der Rechtsgleichheit aller Menschen. Hierzu gehörte die bürgerlichen<br />

Emanzipation der Juden. <strong>Die</strong> jüdische Präsenz <strong>in</strong> bestimmten Bereichen des öffentlichen<br />

Lebens, so relativ unbedeutend diese für das Leben der Republik war,<br />

wurde <strong>in</strong>s Maßlose überhöht <strong>und</strong> als Gefahr für den Bestand des „Deutschtums“<br />

gebrandmarkt.<br />

Mehr als <strong>in</strong> der kurzen Stabilisierungsphase der vergangenen Jahre galt kritischer<br />

Journalismus als „jüdischer Journalismus“, Kritik der rechtslastigen Justiz als „jüdisch<br />

zersetzend“, die Selbstbehauptung jüdischer Akademiker <strong>und</strong> sogar Gymnasiasten<br />

als „Überfremdung“ des Bildungs- <strong>und</strong> Hochschulwesens durch Juden. Jüdische<br />

Viehhändler wurden zum S<strong>in</strong>nbild e<strong>in</strong>er Beherrschung der deutschen Bauern durch<br />

„jüdisches Wuchertum“. Vor allem aber wurde sowohl von den Nazis als auch von<br />

den mit ihnen konkurrierenden völkischen wie monarchistischen Nationalisten der<br />

angeblich jüdische Marxismus als Todfe<strong>in</strong>d deutscher Existenz ausgemacht. <strong>Die</strong>s<br />

richtete sich gegen die SPD, <strong>in</strong> noch viel stärkerem Maße aber gegen die KPD, die<br />

zudem als ausländische Partei, als von Moskau gesteuerter Fremdkörper im deutschen<br />

„Volksganzen“, galt.<br />

<strong>Die</strong> nun von Ernst Thälmann geführte KPD wandte den Vorwurf der Fremdpartei<br />

<strong>in</strong>s Positive. Sie stehe für e<strong>in</strong> Deutschland nach sowjetischem Muster, betonte Thälmann<br />

e<strong>in</strong> um das andere Mal. H<strong>in</strong>gegen verhielt sich die Partei auffallend defensiv<br />

gegenüber der Behauptung, sie sei jüdisch durchsetzt <strong>und</strong> ihr Marxismus e<strong>in</strong> von<br />

Hebräern ausgeklügeltes Instrument zur Zersetzung der germanischen Rasse.<br />

zwischen Polizeivizepräsident Bernhard Weiß <strong>und</strong> der NSDAP, <strong>in</strong>: Walter Grab u. Julius H. Schoeps, Hrsg., Juden<br />

<strong>in</strong> der Weimarer Republik, Stuttgart u. Bonn 1986, S. 305–329.<br />

26 Nachweise bei Knütter, <strong>Die</strong> Juden <strong>und</strong> die deutsche L<strong>in</strong>ke, a. a. O., S. 186.<br />

53


<strong>Die</strong>s war zunächst e<strong>in</strong> Zeichen der Ignoranz gegenüber den vielschichtigen Dimensionen<br />

des Judenhasses. Am weitesten entfernt schien die Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

zwischen Juden <strong>und</strong> Arabern <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a. Der erste arabisch-jüdische Bürgerkrieg <strong>in</strong><br />

Paläst<strong>in</strong>a, der im August 1929 H<strong>und</strong>erte von Menschenleben auf beiden Seiten kostete,<br />

war für die KPD-Führung der e<strong>in</strong>zige Anlass, zum politischen Zionismus <strong>und</strong> den<br />

damit verknüpften Fragen im Nahen Osten Stellung zu nehmen. 27<br />

Am 24. <strong>und</strong> 25. Oktober 1929, zwei Monate nach dem nationalistischen Aufstand<br />

der Araber, der zu Pogromen gegen Juden <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a geführt hatte, behandelte das<br />

Zentralkomitee der KPD die Ereignisse. Im Referat zu diesem Tagesordnungspunkt<br />

gab Hermann Remmele zu, dass „<strong>in</strong>nerhalb der Partei … wenig Kenntnis (vorhanden<br />

sei), welche Rolle dort die Kom<strong>in</strong>tern, die revolutionäre Bewegung des Kommunismus<br />

spielt.“ 28<br />

„Unsere Partei“, erklärte Remmele, „hat <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a 160 Mitglieder, davon 30 Araber,<br />

die anderen 130 Zionisten. Es ist ganz klar, daß diese Partei nicht e<strong>in</strong>e solche<br />

E<strong>in</strong>stellung haben kann, wie sie dem Gesetz der Revolution entspricht. Gerade das<br />

unterdrückte Volk, jene Schicht des Volkes, die das revolutionäre Element, den Verhältnissen<br />

entsprechend, überhaupt ausmachen kann, s<strong>in</strong>d nur die Araber.“ Ganz<br />

abgesehen von der pauschalen Kategorisierung von „Juden“ <strong>und</strong> „Arabern“ ohne Verweis<br />

auf die Klassenlage, bestürzt an Remmeles Referat vor allem die Unterstellung,<br />

die jüdischen Parteimitglieder seien Zionisten. Auch ohne Kenntnis der <strong>in</strong>neren Lage<br />

der illegal arbeitenden KP Paläst<strong>in</strong>as hätte für Remmele e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> die weltweit<br />

vertriebene „Internationale Presse-Korrespondenz“ (Inprekorr) genügt, um zu sehen,<br />

dass gerade die jüdischen Kommunisten <strong>in</strong>ner- wie außerhalb Paläst<strong>in</strong>as die entschiedensten<br />

Gegner des Zionismus waren. <strong>Die</strong> Un<strong>in</strong>formiertheit, aber wohl auch<br />

das Des<strong>in</strong>teresse <strong>und</strong> die mangelnde Sensibilität der ZK-Mitglieder an dieser für die<br />

<strong>in</strong>ternationale Politik wahrlich nicht peripheren Problematik zeigte sich dar<strong>in</strong>, dass<br />

niemand diesen falschen Aussagen widersprach. „Aus Zeitgründen“ fand ke<strong>in</strong>e Diskussion<br />

darüber statt. 29<br />

<strong>Die</strong> Paläst<strong>in</strong>a-Berichte der „Roten Fahne“ waren entsprechend e<strong>in</strong>seitig. 30 <strong>Die</strong><br />

„Arbeiter-Illustrierte Zeitung“ (AIZ) vermerkte jedoch an e<strong>in</strong>er Stelle kritisch, dass<br />

die „arabische Bourgeoisie“ (geme<strong>in</strong>t waren die feudalen Führungskräfte) objektiv<br />

den Interessen der britischen Mandatsmacht, nicht denen der sozialen Revolution<br />

folgten. 31 E<strong>in</strong>e solche Äußerung blieb <strong>in</strong> der Partei jedoch die Ausnahme.<br />

27 Vgl. Mario Keßler, Der erste Bürgerkrieg <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a: Der arabisch-jüdische Konfl ikt 1929, <strong>in</strong>: Sozialismus, 31,<br />

2004, Nr. 7–8, S. 58–62. Wiederabdruck <strong>in</strong>: Derselbe, E<strong>in</strong> Funken Hoffnung. Verwicklungen: <strong>Antisemitismus</strong>,<br />

Nahost, Stal<strong>in</strong>ismus, Hamburg 2004, S. 64–74.<br />

28 Stiftung Archiv der Parteien <strong>und</strong> Massenorganisationen der DDR im B<strong>und</strong>esarchiv (im folgenden: SAPMO-<br />

BArch), RY I/2 1/74: Sitzung des ZK der KPD, 24./25. Oktober 1929. Hiernach auch die folgenden Zitate.<br />

29 Für die Debatten im <strong>in</strong>ternationalen Kommunismus wie <strong>in</strong> der Sozialdemokratie zu den Augustereignissen von<br />

1929 <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a vgl. Mario Keßler, Zionismus <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternationale Arbeiterbewegung 1897–1933, Berl<strong>in</strong> 1994, S.<br />

147ff.<br />

30 Vgl. <strong>Die</strong> Rote Fahne vom 27. <strong>und</strong> 30. August, 1., 3. bis 7. September 1929.<br />

31 Arbeiter-Illustrierte Zeitung, Nr. 39/1929, S. 4f.<br />

54


Statt dessen gab die von der KPD dom<strong>in</strong>ierte Antiimperialistische Liga die Broschüre<br />

„Tag des Fellachen“ von „L. Haddad“ heraus, <strong>in</strong> der die tragischen Zusammenstöße<br />

<strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a zu e<strong>in</strong>em nationalen Befreiungskampf der paläst<strong>in</strong>ensischen Araber<br />

<strong>und</strong> zum Vorboten der sozialen Revolution im Nahen Osten umgedeutet wurden. 32<br />

H<strong>in</strong>ter diesem Pseudonym verbarg sich ke<strong>in</strong> anderer als der damalige zweite Sekretär<br />

der KP Paläst<strong>in</strong>as, Joseph Berger, 1931 auch zweiter Sekretär der Antiimperialistischen<br />

Liga, der se<strong>in</strong>e Treue zum Kommunismus später mit jahrelanger Lagerhaft <strong>und</strong><br />

Verbannung <strong>in</strong> der stal<strong>in</strong>istischen Sowjetunion bezahlte. 33<br />

Doch auch die näher liegende deutsche Problematik wurde von den Politikern der<br />

KPD nur unzureichend erfaßt. Wie die anderen deutschen Parteien, unterschätzte<br />

die KPD die tödliche Destruktivität des Hitlerschen Judenhasses. <strong>Die</strong>s zeigte sich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er gegen den <strong>Antisemitismus</strong> gerichteten Broschüre Hermann Remmeles aus dem<br />

Jahre 1930 sehr deutlich.<br />

Remmeles Publikation er<strong>in</strong>nerte mit dem Titel „Sowjetstern oder Hakenkreuz. <strong>Die</strong><br />

Rettung Deutschlands aus der Youngsklaverei <strong>und</strong> Kapitalistenherrschaft“ an die problematische<br />

Vorläufer-Broschüre des Jahres 1923. Ihr Verfasser glaubte, der zweite<br />

Teil des Nazi-Schlachtrufes „Deutschland erwache! Juda verrecke!“ werde zunehmend<br />

verschw<strong>in</strong>den. <strong>Die</strong>s komme nicht von ungefähr. Der Berl<strong>in</strong>er NSDAP-Gauleiter Josef<br />

Goebbels habe e<strong>in</strong>en entsprechenden Parteibefehl erlassen. <strong>Die</strong>s sei im Zusammenhang<br />

mit Spenden jüdischer Großkapitalisten an die Nazipartei zu sehen. Im Gegenzug<br />

seien Nazis als Streikbrecher <strong>in</strong> bestreikten Betrieben erschien, die den jüdischen<br />

Spendern gehörten. So werde e<strong>in</strong>e Ges<strong>in</strong>nung, für die man verspreche, se<strong>in</strong> Leben zu<br />

lassen, gegen kl<strong>in</strong>gende Münze verkauft. Das sei Nationalsozialismus. 34<br />

E<strong>in</strong> Argument der KPD-Presse lautete, dass der Judenhass nur e<strong>in</strong> nazistisches Ablenkungsmanöver<br />

wäre. Hitlers <strong>Antisemitismus</strong> sei nicht genu<strong>in</strong>, sondern lediglich<br />

e<strong>in</strong> Schw<strong>in</strong>del. Goebbels habe den Nazi-Schlachtruf „Juda verrecke!“ partei<strong>in</strong>tern<br />

verboten, um jüdische Gönner der NSDAP nicht abzuschrecken, behauptete „<strong>Die</strong><br />

Rote Fahne“ im November 1929. 35 Jüdische Bankiers seien ebenso wie „arische“<br />

Unternehmer Nutznießer des Hitlerfaschismus, denn Kapital bleibe Kapital, hieß<br />

es auch im „Roten Aufbau“, e<strong>in</strong>er KPD-Zeitschrift. 36 Dort stellte der Schriftsteller<br />

Kurt Kersten, e<strong>in</strong> ansonsten eher kritischer <strong>und</strong> refl ektierender Geist, die ironisch<br />

geme<strong>in</strong>te Frage, ob Hitler an der Macht etwa Gottfried Feder <strong>und</strong> Alfred Rosenberg,<br />

zwei Exponenten der Judenhetze, aus Deutschland ausweisen werde. Zu den<br />

Geldgebern der Nazis würde „e<strong>in</strong>e große Zahl jüdischer Kapitalisten“ gehören, hielt<br />

Kersten fest. 37<br />

32 L. Haddad, Tag des Fellachen, Berl<strong>in</strong> 1930.<br />

33 Vgl. se<strong>in</strong>e bewegende Autobiographie: Joseph Berger, Shipwreck of a Generation, London 1971.<br />

34 Vgl. Hermann Remmele, Sowjetstern oder Hakenkreuz. <strong>Die</strong> Rettung Deutschlands aus der Youngsklaverei <strong>und</strong><br />

Kapitalistenherrschaft, Berl<strong>in</strong> (1930), S. 14.<br />

35 <strong>Die</strong> Rote Fahne, 17. November 1929.<br />

36 Der Rote Aufbau, 4, 1931, Nr. 3, S. 158.<br />

37 Kurt Kersten, Wird Hitler Feder <strong>und</strong> Rosenberg ausweisen lassen?, <strong>in</strong>: ebenda, 5, 1932, Nr. 1, S. 13f.<br />

55


Dafür gab es tatsächlich e<strong>in</strong>zelne Beispiele – es waren Beispiele von selbstmörderischer<br />

Bl<strong>in</strong>dheit, die <strong>in</strong> der KPD-Presse aufgelistet, aber auch verallgeme<strong>in</strong>ert wurden.<br />

38 In e<strong>in</strong>em Fall wurde der nichtjüdisch kl<strong>in</strong>gende Name e<strong>in</strong>es Bankiers „demaskiert“<br />

<strong>und</strong> auf se<strong>in</strong>en jüdischen Ursprung zurückgeführt: „Großbankier Solmsson<br />

(Salomonssohn)“, hieß es im entsprechenden Artikel der „Roten Fahne“. 39 E<strong>in</strong> so<br />

klarsichtiger Mann wie Hermann Duncker me<strong>in</strong>te zu wissen: „<strong>Die</strong> Kapitalistenklasse<br />

opfert zu ihrer Selbsterhaltung schließlich auch e<strong>in</strong>ige jüdische Mitläufer <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>verdiener<br />

– die jüdischen Großverdiener fi nanzieren, wenn nötig, selbst den Hitlerfaschismus<br />

–, um als faschistische ‚Schutzjuden‘ ihr Kompaniegeschäft mit dem christlichen<br />

Kapital ungestört weitertreiben zu können.“ 40<br />

Solche Äußerungen entsprangen nicht zuletzt der Tatsache, daß die Mehrzahl der<br />

deutschen Juden entweder dem Großbürgertum oder dem Mittelstand, oft der Intelligenz<br />

angehörte. Jüdische Proletarier, die es gleichfalls gab – hier s<strong>in</strong>d besonders die<br />

ostjüdischen Bergarbeiter zu nennen, die ab 1918 <strong>in</strong>s Ruhrgebiet zogen –, kamen <strong>in</strong><br />

der Sichtweise der KPD kaum vor, obgleich sich diese doch als Arbeiterpartei verstand<br />

<strong>und</strong> es auch war. 41 Natürlich erklärte die KPD, jüdische Werktätige seien als<br />

B<strong>und</strong>esgenossen willkommen. Nur reiche Juden würden, ebenso wie nichtjüdische<br />

Kapitalisten, als Fe<strong>in</strong>de der arbeitenden Menschen angesehen. 42<br />

<strong>Die</strong>ser Gedanke durchzog wie e<strong>in</strong> roter Faden auch Otto Hellers Buch „Der Untergang<br />

des Judentums. <strong>Die</strong> Judenfrage/Ihre Kritik/Ihre Lösung durch den Sozialismus“.<br />

<strong>Die</strong> Untersuchung des <strong>in</strong> Österreich geborenen Journalisten erschien 1931 <strong>in</strong><br />

erster, zu Jahresbeg<strong>in</strong>n 1933 <strong>in</strong> zweiter Aufl age <strong>und</strong> wurde <strong>in</strong>s Französische sowie<br />

<strong>in</strong>s Polnische übersetzt. Ohne das Werk „Rasse <strong>und</strong> Judentum“ des als „Renegaten“<br />

verfemten Karl Kautsky zu zitieren, übernahm Heller wesentliche Punkte der 1914<br />

erschienenen Abhandlung Kautskys. Hellers Buch galt als die wichtigste <strong>und</strong> öffi ziöse<br />

Stellungnahme der KPD zum Thema.<br />

<strong>Die</strong> Juden, so Heller, seien seit Beg<strong>in</strong>n ihrer Geschichte vorwiegend e<strong>in</strong> Handelsvolk<br />

gewesen (was e<strong>in</strong>ige Rezensenten, darunter Erich Fromm <strong>und</strong> sogar der KPD-<br />

Autor Paul Held, zu Recht bezweifelten). 43 <strong>Die</strong> e<strong>in</strong>heitliche ökonomische Gr<strong>und</strong>lage<br />

jüdischer Existenz bilde die Erklärung für die Erhaltung des Judentums durch die<br />

Jahrtausende. Aus e<strong>in</strong>er Nation seien sie zu e<strong>in</strong>er nicht vollständig assimilierbaren<br />

38 Vgl. <strong>Die</strong> Rote Fahne vom 3. September 1929, 17. Oktober <strong>und</strong> 15. November 1931 (Beilage), 9. <strong>und</strong> 29. April,<br />

7. September 1932.<br />

39 Ebenda, 18. Dezember 1930.<br />

40 Hermann Duncker, Rezension zu: W. I. Len<strong>in</strong>, Über die Judenfrage, <strong>in</strong>: Inprekorr vom 10. Mai 1932, S. 1184.<br />

41 Zur sozialen Gliederung der Juden <strong>in</strong> Deutschland vgl. Avraham Barkai, <strong>Die</strong> Juden als sozio-ökonomische M<strong>in</strong>derheitsgruppe<br />

<strong>in</strong> der Weimarer Republik, <strong>in</strong>: Grab u. Schoeps, Hrsg., <strong>Die</strong> Juden <strong>in</strong> der Weimarer Republik, a. a. O.,<br />

S. 330–346.<br />

42 Vgl. <strong>Die</strong> Rote Fahne, 3. Januar 1931.<br />

43 Vgl. die Rezensionen <strong>in</strong> Inprekorr, 27. November 1931, S. 2252 (Paul Held); Zeitschrift für Sozialforschung, 1,<br />

1931, Nr. 6, S. 438 (Erich Fromm); <strong>Die</strong> Gesellschaft, 9, 1932, Nr. 11, S. 461f. (Otto Maenchen-Helfen); Der<br />

Morgen, 8, 1932, Nr. 2, S. 64–72 (Eva Reichmann-Jungmann). Vgl. <strong>in</strong>sbesondere Eli Strauss, Geht das Judentum<br />

unter? E<strong>in</strong>e Erwiderung auf Otto Hellers „Untergang des Judentums“, Wien 1933, S. 11f.<br />

56


„<strong>in</strong>ternationalen Kaste“ geworden. 44 Daraus, so Heller weiter, resultierten die gesellschaftlichen<br />

Konfl ikte zwischen Juden <strong>und</strong> Nichtjuden. <strong>Die</strong> bürgerliche Emanzipation<br />

nach 1789 habe <strong>in</strong>des die Sonderstellung der Juden aufgehoben <strong>und</strong> damit auch<br />

den letzten Rest des „Privilegs“ zerstört, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em geistigen Ausdruck, se<strong>in</strong>er religiösen<br />

Form, se<strong>in</strong>er Betonung der „Auserwähltheit“ für Schmerz <strong>und</strong> Märtyrertum,<br />

für blutige Opfer <strong>und</strong> Furcht wenigstens seelisches Gleichgewicht zu den ständigen<br />

Verfolgungen geboten habe. 45 Der moderne Kapitalismus habe das Schicksal des Judentums<br />

besiegelt. <strong>Die</strong> Aufl ösung der Juden als Kaste bedeute den Untergang des<br />

Judentums, wie Helle ohne e<strong>in</strong>e Spur von Bedauern festhielt. 46<br />

<strong>Die</strong> bürgerliche Emanzipation der Juden <strong>in</strong> West- <strong>und</strong> Mitteleuropa habe die Reste<br />

ihrer Nationalität vollkommen vernichtet, schrieb Heller. Im Osten seien die Juden<br />

aber noch Träger e<strong>in</strong>er Nationalität. In der Sowjetunion seien sie e<strong>in</strong>e anerkannte<br />

nationale Gruppe. Ihre kastenmäßige Absonderung <strong>und</strong> ihr Elend würden <strong>in</strong> der<br />

Sowjetunion durch Kolonisierung <strong>und</strong> Landansiedlung sowie durch den Zuzug von<br />

Juden aus dem früheren „Schtedl“ <strong>in</strong> die neuen <strong>in</strong>dustriellen Ballungszentren aufgehoben.<br />

Damit hätten die Juden die Möglichkeit, ihre Kultur, sozialistisch ihrem<br />

Inhalt, national <strong>in</strong> ihrer Form nach, zu neuer Blüte zu br<strong>in</strong>gen. 47<br />

Der Zionismus könne h<strong>in</strong>gegen nur unter dem Schirm britischer Bajonette <strong>und</strong><br />

als Unterdrückungs<strong>in</strong>strument der Araber <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a gedeihen. Se<strong>in</strong> Scheitern sei<br />

damit letztlich vorgezeichnet. 48 Am Vorabend von Hitlers Machtübernahme schrieb<br />

Heller: „E<strong>in</strong>e wirkliche Judenfrage besteht heute nur <strong>in</strong> Ost- <strong>und</strong> Südeuropa, <strong>in</strong> den<br />

Gebieten rückständiger gesellschaftlicher Entwicklung.“ 49 Wenig später mußte Heller<br />

aus Deutschland fl üchten. Noch im März 1945 wurde der jüdische Kommunist e<strong>in</strong><br />

Opfer der Nazibarbarei. Hellers Fre<strong>und</strong> Bruno Frei schrieb über diese Zeilen: „Selten<br />

ist e<strong>in</strong>e historische Fehle<strong>in</strong>schätzung so tragisch widerlegt worden.“ 50<br />

<strong>Die</strong> Wandlung der KPD von e<strong>in</strong>er utopisch-revolutionär orientierten Partei h<strong>in</strong> zur<br />

stal<strong>in</strong>istisch geprägten Kaderorganisation kann aber ke<strong>in</strong>eswegs mit e<strong>in</strong>em Anwachsen<br />

antijüdischer Ressentiments erklärt werden. Im Gegenteil: Manche abenteuerliche<br />

Entgleisungen, wie sie Ruth Fischer nicht fremd waren, kamen bei Thälmann<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Umgebung nicht vor. Somit ist der Rückgang des E<strong>in</strong>fl usses radikaler Intellektueller<br />

<strong>und</strong> der Anstieg des E<strong>in</strong>fl usses proletarisch geprägter Führungskader (im<br />

S<strong>in</strong>ne der „Partei neuen Typus“) nicht unmittelbar mit dem Anwachsen oder Abfl auen<br />

antijüdischer Vorurteile verb<strong>und</strong>en.<br />

44 Otto Heller, Der Untergang des Judentums. <strong>Die</strong> Judenfrage/Ihre Kritik/Ihre Lösung durch den Sozialismus,<br />

2. Aufl ., Wien/Berl<strong>in</strong> 1933, S. 24.<br />

45 Ebenda, S. 152.<br />

46 Vgl. ebenda, S. 77.<br />

47 Vgl. ebenda, S. 85, 204, 208, 219.<br />

48 Vgl. ebenda, S. 155ff., 173.<br />

49 Derselbe, Kommunismus <strong>und</strong> Judenfrage, <strong>in</strong>: Klärung. 12 Autoren <strong>und</strong> Politiker über die Judenfrage, Berl<strong>in</strong> 1932,<br />

S. 91. Der Band enthielt e<strong>in</strong>en ähnlich gelagerten Beitrag des 1931 der KPD beigetretenen Schriftstellers Alfred<br />

Kantorowicz, der die Erfolge der Emanzipation der Juden <strong>in</strong> der UdSSR herausstrich.<br />

50 Bruno Frei, Marxist Interpretations of the Jewish Question, <strong>in</strong>: Wiener Library Bullet<strong>in</strong>, Nr. 35–36/1975, S. 4.<br />

57


Drittens<br />

Am Vorabend der Naziherrschaft erschien e<strong>in</strong> weiteres Dokument der KPD zum<br />

<strong>Antisemitismus</strong>. E<strong>in</strong> anonymer, aber durch das Zentralkomitee der KPD gebilligte<br />

Aufsatz wies <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Diskussionsbuch über die Judenfrage“ prononcierter, als<br />

Heller es getan hatte, auf die sozialen Ursachen für die Erfolge der faschistischen<br />

Demagogie h<strong>in</strong>. <strong>Die</strong> enorme Gefahr der massenhaften Anfälligkeit des deklassierten<br />

Kle<strong>in</strong>bürgertums <strong>und</strong> Lumpenproletariats für die antisemitische Agitation der Hitlerfaschisten<br />

wurde klar benannt; sie war auch nicht mehr zu übersehen. <strong>Die</strong>ses Dokument<br />

leugnete nicht die Tatsache e<strong>in</strong>er jüdischen Frage – genauer: der existenziellen<br />

Gefahr für die Juden – <strong>in</strong> Deutschland. <strong>Die</strong>se jüdische Frage trage e<strong>in</strong>deutig sozialen,<br />

nicht nationalen Charakter. Am Vorabend des Faschismus gab die KPD somit auch<br />

jede Anfälligkeit gegenüber Anschauungen auf, die „das Volk“ als e<strong>in</strong>e Kategorie der<br />

Gesellschaftsanalyse sahen <strong>und</strong> noch 1930 E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e entsprechende Programmerklärung<br />

gef<strong>und</strong>en hatten. 51 <strong>Die</strong> Auswanderung der Juden aus Europa <strong>und</strong> somit<br />

die Akzeptanz des Zionismus, sei <strong>in</strong>des e<strong>in</strong>e falsche Antwort. Der Zionismus sei e<strong>in</strong>e<br />

den Interessen der Juden zuwiderlaufende, reaktionäre, ausschließlich imperialistische<br />

Bewegung. Er diene den Interessen der jüdischen, <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a auch der englischen<br />

Bourgeoisie. 52<br />

Der <strong>Antisemitismus</strong> sei, <strong>und</strong> damit fasste das KPD-Dokument die Auffassung der<br />

Partei zusammen, wie sie sich seit 1919 herausgebildet hatte, e<strong>in</strong> Manöver der herrschenden<br />

Klasse, die durch Phrasen wie die „Sünde wider das Blut“ die Aufmerksamkeit<br />

des untergehenden Kle<strong>in</strong>bürgertums von den wahren Ursachen se<strong>in</strong>er Misere<br />

ablenke <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Anschluss an die Arbeiterklasse zu verh<strong>in</strong>dern suche. Zugleich<br />

aber diene der Rassenhass imperialistischen Zwecken. <strong>Die</strong> Überzeugung, der Jude<br />

sei an allem Übel <strong>in</strong> Deutschland schuld, solle e<strong>in</strong>er anderen Überzeugung den Weg<br />

bereiten: der Idee, dass ohne den Juden niemand Deutschland h<strong>in</strong>dern könne, die<br />

Ergebnisse des Weltkrieges ungeschehen zu machen <strong>und</strong> sich zur Herrschaft über die<br />

Welt aufzuschw<strong>in</strong>gen.<br />

<strong>Die</strong>ses Dokument brachte Stärken wie Schwächen der KPD-Position gegenüber<br />

dem <strong>Antisemitismus</strong> zum Ausdruck. <strong>Die</strong> neue Qualität des nazistischen Judenhasses<br />

wurde unterschätzt – aber ke<strong>in</strong>eswegs nur von den Kommunisten. <strong>Die</strong>ser Judenhass<br />

wurde lediglich als taktisches Manöver, bestenfalls als Ausdruck von Klassen<strong>in</strong>teressen<br />

begriffen, die <strong>in</strong>des jüdische Kapitalisten durchaus <strong>in</strong>tegrieren könnten. <strong>Die</strong>s<br />

stand <strong>in</strong> scharfem Gegensatz zu den hellsichtigen Urteilen, wie sie Trotzki, aber auch,<br />

namens der Kommunistischen Partei-Opposition, Albert Schre<strong>in</strong>er formulierten.<br />

51 Vgl. die „Programmerklärung zur nationalen <strong>und</strong> sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ vom 24. August 1930,<br />

abgedruckt u. a. <strong>in</strong>: Lothar Berthold u. Ernst <strong>Die</strong>hl, Hrsg., Revolutionäre deutsche Parteiprogramme. Vom Kommunistischen<br />

Manifest zum Programm des Sozialismus, Berl<strong>in</strong> [DDR] 1964, S. 119–128. Das problematische<br />

Dokument, das z. T. Anlehnungen an nationalistisches Vokabular aufwies, wurde <strong>in</strong> der offi ziellen Geschichtsschreibung<br />

der DDR une<strong>in</strong>geschränkt positiv beurteilt.<br />

52 Kommunismus <strong>und</strong> Judenfrage, <strong>in</strong>: Der Jud‘ ist schuld? Diskussionsbuch über die Judenfrage, Basel etc. 1932, S.<br />

272–286. Hiernach auch das Folgende.<br />

58


Letzterer tat dies lange bevor die Nazis ihren politischen Durchbruch <strong>in</strong> den Septemberwahlen<br />

von 1930 schafften! 53 Trotzki <strong>und</strong> Schre<strong>in</strong>er begriffen den <strong>Antisemitismus</strong><br />

als ultima ratio der Ideologie <strong>und</strong> der praktischen Politik Hitlers <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Komplizen. <strong>Die</strong> KPD bekämpfte ihre hellsichtigen Kritiker publizistisch vielleicht<br />

noch schärfer, als sie mit den Nazis <strong>in</strong>s Gericht g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> entwaffnete sich, ganz<br />

gegen ihren Willen, damit selbst – sehr zu ihrem Schaden, zum Schaden der ganzen<br />

zivilisierten Welt. Recht behielt die KPD allerd<strong>in</strong>gs mit der Ansicht, dass der <strong>Antisemitismus</strong><br />

Teil e<strong>in</strong>es Programmes sei, bei dessen Verwirklichung die der Aufklärung<br />

entstammende Zivilisation preisgegeben werden sollte. <strong>Die</strong> völlige Vernichtung der<br />

kommunistischen wie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, der bürgerlichen<br />

wie der sozialistischen Opposition gegen den Nazismus war die Voraussetzung, um<br />

die totale Ausrottung der Juden <strong>und</strong> anderer, als m<strong>in</strong>derwertig angesehener Menschen<br />

<strong>in</strong> die Wege zu leiten.<br />

53 Vgl. Albert Schre<strong>in</strong>er, Faschistische Parolen <strong>und</strong> Schlagworte, <strong>in</strong>: Gegen den Strom, Nr. 3–8, 18. Januar bis 22. Februar<br />

1930. Für Trotzki vgl. die Zusammenstellung se<strong>in</strong>er Äußerungen <strong>in</strong>: Leo Trotzki, Wie wird der Nationalsozialismus<br />

geschlagen?, hrsg. von Helmut Dahmer, e<strong>in</strong>geleitet von Ernest Mandel, Frankfurt a. M. 1971.<br />

59


Dr. Re<strong>in</strong>er Zilkenat<br />

Papst Pius XII. <strong>und</strong> der Holocaust<br />

E<strong>in</strong>ige Anmerkungen zur neueren Forschung<br />

„E<strong>in</strong> Stellvertreter, der das vor Augen hat <strong>und</strong> dennoch schweigt, e<strong>in</strong> solcher<br />

Papst ist e<strong>in</strong> Verbrecher!“<br />

Mit „das“ ist hier der millionenfache Judenmord des deutschen Faschismus geme<strong>in</strong>t,<br />

mit dem „Stellvertreter“ Papst Pius XII., die e<strong>in</strong>e solche Anklage formulierende Person<br />

ist der fi ktive Pater Riccardo Fontana. Wir haben es zu tun mit e<strong>in</strong>er Szene aus<br />

dem IV. Akt von Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“, uraufgeführt <strong>in</strong> West-<br />

Berl<strong>in</strong> am 20. Februar 1963 unter der Regie von Erw<strong>in</strong> Piscator. 1<br />

<strong>Die</strong> anklagende Metapher vom „Schweigen des Papstes“ ist seitdem e<strong>in</strong>gegangen<br />

<strong>in</strong> die Debatten der Historiker wie der Öffentlichkeit zur Politik des Vatikans, <strong>in</strong><br />

Sonderheit des seit dem 2. März 1939 amtierenden Papstes Pius XII., im Angesicht<br />

des Holocaust.<br />

In jüngster Zeit haben diese Ause<strong>in</strong>andersetzungen neue Schubkraft <strong>und</strong> wachsende<br />

öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. <strong>Die</strong> Ursache hierfür besteht nicht zuletzt<br />

<strong>in</strong> der seit e<strong>in</strong>igen Jahren sich vollziehenden, allmählichen <strong>und</strong> teilweisen Öffnung<br />

vatikanischer Archive bis zum Ende des Episkopates von Pius XI.<br />

<strong>Die</strong> Auswertung dieser endlich zugänglich gemachten Akten schlug sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Anzahl schnell publizierter Bücher <strong>und</strong> Artikel <strong>in</strong> Fachzeitschriften nieder. 2 Sie gestatten<br />

bereits e<strong>in</strong>ige wichtige H<strong>in</strong>weise auf die gr<strong>und</strong>sätzliche Haltung des unter Pius<br />

XI. als Kard<strong>in</strong>al-Staatssekretär dienenden Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius<br />

XII., zur faschistischen Diktatur <strong>in</strong> Deutschland, darunter auch zur verbrecherischen<br />

Judenpolitik der Nazis. Zu den jüngsten Forschungsergebnissen gehören ebenfalls<br />

mehrere Biographien Pius XII., die allerd<strong>in</strong>gs überwiegend noch kurz vor der Teilöffnung<br />

der vatikanischen Archive verfasst worden s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> die sich teilweise speziell<br />

mit der Politik des Papstes gegenüber Hitler-Deutschland befassen. 3<br />

1 Rolf Hochhuth, Der Stellvertreter. E<strong>in</strong> christliches Trauerspiel. Mit e<strong>in</strong>em Vorwort von Erw<strong>in</strong> Piscator <strong>und</strong> Essays<br />

von Karl Jaspers, Walter Muschg u. Golo Mann, 37. Aufl ., Re<strong>in</strong>bek bei Hamburg 2004.<br />

2 Vgl. hierzu u. a. Hubert Wolf, Pius XI. <strong>und</strong> die „Zeitirrtümer“. <strong>Die</strong> Initiativen der römischen Inquisition gegen<br />

Rassismus <strong>und</strong> Nationalismus, <strong>in</strong>: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 53. Jg., 2005, H. 1, S. 1ff.; Thomas<br />

Brechenmacher, Teufelspakt, Selbsterhaltung, universale Mission? Leitl<strong>in</strong>ien <strong>und</strong> Spielräume der Diplomatie des<br />

Heiligen Stuhls gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland (1933–1939) im Lichte neu zugänglicher<br />

vatikanischer Akten, <strong>in</strong>: Historische Zeitschrift, Bd. 280, 2005, S. 591ff.; derselbe, Der Heilige Stuhl <strong>und</strong> die europäischen<br />

Mächte im Vorfeld <strong>und</strong> während des Zweiten Weltkriegs, <strong>in</strong>: zur debatte, H. 3/2005, S. 8ff.; Christoph<br />

Ebnöther, Großes Schweigen oder stilles Wirken? Zur Debatte um das Verhalten von Papst Pius XII. im Zweiten<br />

Weltkrieg, <strong>in</strong>: Dom<strong>in</strong>ik J. Schaller u. a., Hrsg., Enteignet-Vertrieben-Ermordet. Beiträge zur Genozidforschung,<br />

Zürich 2005, S. 279ff.<br />

3 Vgl. Michael Feldkamp, Pius XII. <strong>und</strong> Deutschland, Gött<strong>in</strong>gen 2000; John Cornwell, Pius XII. Der Papst, der<br />

geschwiegen, hat, München 2001; Pierre Blet S. J., Papst Pius XII. <strong>und</strong> der Zweite Weltkrieg. Aus den Akten des<br />

Vatikans, 2., durchgesehene Aufl age, Paderborn u. a. 2001; José M Sánchez, Pius XII. <strong>und</strong> der Holocaust. Anatomie<br />

e<strong>in</strong>er Debatte, Paderborn u. a. 2003; Gerhard Besier <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Francesca Piombo, Der Heilige<br />

60


Zu e<strong>in</strong>igen dieser neueren Publikationen, fokussiert auf die Haltung des Vatikans<br />

zur Judenpolitik des deutschen Faschismus, sollen im Folgenden e<strong>in</strong>ige knappe Bemerkungen<br />

<strong>und</strong> Thesen formuliert werden.<br />

Erstens<br />

<strong>Die</strong> biographische Methode ist für die Erklärung der vatikanischen Politik gegenüber<br />

Nazideutschland <strong>in</strong>teressant, aber unzureichend. Zwar lassen sich aus der familiären<br />

Tradition, der Erziehung sowie aus e<strong>in</strong>igen im diplomatischen <strong>Die</strong>nst gewonnenen<br />

Erlebnissen <strong>und</strong> Erfahrungen Eugenio Pacellis Vermutungen ableiten, die zu e<strong>in</strong>er –<br />

vorsichtig formuliert – gewissen Reserviertheit se<strong>in</strong>es Verhältnisses zu Juden geführt<br />

haben mögen. Häufi g genannt werden <strong>in</strong> diesem Zusammenhang se<strong>in</strong>e Erlebnisse als<br />

Nuntius <strong>in</strong> München zu Zeiten der Räterepublik, deren Protagonisten er vor allem<br />

als Juden wahrgenommen habe. 4 Aufschlussreicher ist es jedoch, die Haltung des Kard<strong>in</strong>al-Staatssekretärs<br />

<strong>und</strong> späteren Papstes e<strong>in</strong>zubetten <strong>in</strong> die seit Generationen tradierten<br />

Verhaltensmuster <strong>und</strong> Lehren der katholischen Kirche gegenüber den Juden.<br />

Zum e<strong>in</strong>en waren diese geprägt von der theologisch verbrämten Anschauung, es<br />

handle sich bei ihnen um das „Volk der Gottesmörder“, die bis zum heutigen Tage<br />

„unbekehrbar“ zum „rechten Glauben“ seien. Unter anderem <strong>in</strong> der Karfreitagsfürbitte<br />

wurde vor den „perfi den“ Juden gewarnt. E<strong>in</strong>e durch die Teilöffnung der Vatikanischen<br />

Archive bekannt gewordene Initiative der Priestervere<strong>in</strong>igung „Amici Israel“<br />

vom Januar 1928, aus der katholischen Liturgie die antisemitischen Bestandteile zu<br />

entfernen – e<strong>in</strong>e Forderung, die übrigens auf die tatkräftige Unterstützung des bereits<br />

damals amtierenden Erzbischofs von München, Michael Kard<strong>in</strong>al Faulhaber, bauen<br />

konnte –, versandete rasch <strong>in</strong> der vatikanischen Bürokratie. 5 <strong>Die</strong>s geschah nicht zuletzt<br />

deshalb, weil der damalige Kard<strong>in</strong>al-Staatssekretär de Val, der Amtsvorgänger<br />

Pacellics, Pius XI. davon überzeugen konnte, dass bei der Gründung der Priestervere<strong>in</strong>igung<br />

„Amici Israel“ h<strong>in</strong>ter den Kulissen Juden ihre F<strong>in</strong>ger im Spiel gehabt hätten,<br />

ja, dass diese Bewegung sich nach wie vor unter dem manipulierenden E<strong>in</strong>fl uss von<br />

jüdischen E<strong>in</strong>fl üsterungen befi nde.<br />

Zum anderen existierte <strong>in</strong> der katholischen Kirche, im Vatikan, beim hohen wie<br />

niederen Klerus, aber auch unter den Gläubigen, die verbreitete Anschauung von<br />

„den“ Juden als Trägern e<strong>in</strong>er antichristlichen Moderne, die verantwortlich seien für<br />

die fortschreitende Säkularisierung, die Abkehr zahlreicher Gläubiger von der katholischen<br />

Kirche, ihren Glaubensvorstellungen, Riten <strong>und</strong> Geboten, verantwortlich für<br />

die wachsende Amoralität – vor allem aber für die stetige Ausbreitung von Liberalis-<br />

Stuhl <strong>und</strong> Hitler-Deutschland. <strong>Die</strong> Fasz<strong>in</strong>ation des Totalitären, München 2004; Peter Godman, Der Vatikan <strong>und</strong><br />

Hitler. <strong>Die</strong> geheimen Archive, München 2005.<br />

4 Vgl. hierzu z. B. Gerhard Besier, Der Heilige Stuhl <strong>und</strong> Hitler-Deutschland, a. a. O., S. 38, 43 u. 48 sowie John<br />

Cornwell, Der Papst, der geschwiegen hat, a. a. O., S. 109ff. u. 401ff.<br />

5 Vgl. Hubert Wolf, „Pro perfi dis Judaeis“. <strong>Die</strong> „Amici Israel“ <strong>und</strong> ihr Antrag auf e<strong>in</strong>e Reform der Karfreitagsfürbitte<br />

für die Juden (1928): Oder: Bemerkungen zum Thema katholische Kirche <strong>und</strong> <strong>Antisemitismus</strong>, <strong>in</strong>: Historische<br />

Zeitschrift, Bd. 279, 2004, S. 612ff.<br />

61


mus <strong>und</strong> Sozialismus. Der Historiker Olaf Blaschke hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em erstmals 1997 veröffentlichten<br />

Buch „Katholizismus <strong>und</strong> <strong>Antisemitismus</strong> im Deutschen Kaiserreich“,<br />

e<strong>in</strong>er bei Hans-Ulrich Wehler erarbeiteten Dissertation, den Nachweis angetreten,<br />

dass ebenso wie <strong>in</strong> der evangelischen, so auch <strong>in</strong> der katholischen Kirche sich am<br />

Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts e<strong>in</strong> stabiles judenfe<strong>in</strong>dliches Klima herausgebildet hatte,<br />

das überdies Geme<strong>in</strong>samkeiten zum rassisch defi nierten, „modernen“ <strong>Antisemitismus</strong><br />

aufwies. 6 <strong>Die</strong> Katholiken – so Blaschke – seien antisemitisch gewesen, „gerade weil sie<br />

gute Katholiken se<strong>in</strong> wollten“ 7 . E<strong>in</strong>e Beschreibung, die womöglich nicht nur auf die<br />

Mitglieder der katholischen Kirche <strong>in</strong> Deutschland, Laien wie Kleriker, zutraf.<br />

Zweitens<br />

Genau hier<strong>in</strong> – so sche<strong>in</strong>t es – liegt die tieferliegende Ursache für das „Schweigen“ der<br />

katholischen Kirche <strong>und</strong> vor allem Pius XII. angesichts der judenfe<strong>in</strong>dlichen Politik<br />

der deutschen Faschisten <strong>und</strong> schließlich des Holocaust, von dessen Umfang <strong>und</strong><br />

Begleitumständen der Papst übrigens recht genaue Informationen besaß. Der kuriale<br />

Antijudaismus, seit dem Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts angereichert durch pseudo-biologische<br />

Argumentationen, hatte bereits e<strong>in</strong>e sehr lange Tradition, als die Nazis bereits<br />

kurz nach der Machtübertragung damit begannen, den Juden ihre staatsbürgerlichen<br />

Rechte abzuerkennen, sie gesellschaftlich zu ächten <strong>und</strong> zu demütigen, ihre Emigration<br />

zu fördern, ja, Tausende von ihnen bereits – wie bei der so genannten Reichskristallnacht<br />

am 9. November 1938, aber auch schon <strong>in</strong> den Tagen <strong>und</strong> Wochen<br />

nach der Machtübertragung 8 –, willkürlich e<strong>in</strong>zusperren, physisch zu quälen <strong>und</strong> zu<br />

ermorden.<br />

<strong>Die</strong> Grenzen zwischen dem theologisch begründeten, christlichen Antijudaismus<br />

<strong>und</strong> dem „modernen“, rassisch argumentierenden <strong>Antisemitismus</strong> waren genau <strong>in</strong><br />

dem Augenblick für den Vatikan <strong>und</strong> den mächtigen Kard<strong>in</strong>al-Staatssekretär <strong>und</strong><br />

späteren Papst Pius XII. nicht mehr von ausschlaggebender Bedeutung, als der Faschismus<br />

<strong>in</strong> Deutschland die geme<strong>in</strong>samen Fe<strong>in</strong>de, Demokratie <strong>und</strong> Sozialismus, liquidierte,<br />

wenn man sich dabei auch solcher Mittel bediente, die <strong>in</strong> Rom nicht auf<br />

Zustimmung stoßen konnten. Ausschlaggebend war aber etwas anderes: <strong>Die</strong> ideologische<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung sche<strong>in</strong>t dar<strong>in</strong> bestanden zu haben, dass die gedankliche Verb<strong>in</strong>dung<br />

von „Jude“ <strong>und</strong> „Sozialist“ bzw. „Bolschewist“ („jüdischer Bolschewismus“)<br />

6 Vgl. Olaf Blaschke, Katholizismus <strong>und</strong> <strong>Antisemitismus</strong> im Deutschen Kaiserreich, 2. Aufl ., Gött<strong>in</strong>gen 1999.<br />

7 Ebenda, S. 282. Zur Thematik der katholischen Judenfe<strong>in</strong>dschaft vgl. auch Michael Hochgeschwender, Katholizismus<br />

<strong>und</strong> <strong>Antisemitismus</strong>, <strong>in</strong>: Karl-Joseph Hummel, Hrsg., Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen,<br />

Deutungen, Fragen. E<strong>in</strong>e Zwischenbilanz, Paderborn u. a. 2004, S. 31ff.; Robert S. Wistrich, Hitler <strong>und</strong> der Holocaust,<br />

Berl<strong>in</strong> 2003, S. 186ff. sowie Thomas Breuer, <strong>Die</strong> Haltung der katholischen Kirche zur Judenverfolgung im<br />

Dritten Reich (2003), <strong>in</strong>: Theophil-onl<strong>in</strong>e. <strong>Die</strong> ökomensiche Onl<strong>in</strong>e-Zeitschrift für ReligionspädagogInnen, <strong>in</strong>:<br />

http://www.theophil-onl<strong>in</strong>e.de/philosop/mfsoph6.htm.<br />

8 Vgl. Re<strong>in</strong>er Zilkenat, Daten <strong>und</strong> Materialien zur Diskrim<strong>in</strong>ierung, Entrechtung <strong>und</strong> Verfolgung der Juden <strong>in</strong><br />

Deutschland im Jahre 1933, hrsg. v. Berl<strong>in</strong>-Brandenburger Bildungswerk, Berl<strong>in</strong> 2006. In diesem Zusammenhang<br />

ist das im Anhang abgedruckte Schreiben des Erzbischofs von Breslau vom 31. März 1933, Adolf Kard<strong>in</strong>al Bertram,<br />

sicherlich e<strong>in</strong>es der schändlichsten Dokumente des Katholizismus während der Nazizeit.<br />

62


sowohl bei den vatikanischen Entscheidungsträgern, wie auch beim hohen Klerus <strong>in</strong><br />

Deutschland, als auch bei den Nazis, <strong>in</strong>s Zentrum der jeweiligen weltanschaulichen<br />

Überzeugungen gehörte. Hier existierten offenbar bedeutsame ideologische Schnittmengen.<br />

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Vatikan <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise den<br />

Holocaust gebilligt hätte, erklärt aber, dass er dort schwer verständliche Andeutungen<br />

gebrauchte, wo klare Worte notwendig gewesen wären, zögerte sich zu äußern, wo<br />

rasche Reaktionen erforderlich waren <strong>und</strong> fl üsterte, wo e<strong>in</strong> Aufschrei die e<strong>in</strong>zig angemessene<br />

Reaktion se<strong>in</strong> musste.<br />

Drittens<br />

Der Vatikan nahm für sich <strong>in</strong> Anspruch, Rassismus <strong>und</strong> Nationalismus – ebenso wie<br />

den Kommunismus – zu verurteilen, gewissermaßen e<strong>in</strong>e Äquidistanz zu diesen Weltanschauungen<br />

<strong>und</strong> politischen Bewegungen zu praktizieren. <strong>Die</strong> tatsächliche Politik<br />

unter den Päpsten Pius XI. <strong>und</strong> Pius XII. spricht jedoch e<strong>in</strong>e etwas andere Sprache.<br />

Wie wir heute aus <strong>in</strong>zwischen zugänglich gewordenen Akten wissen, existierte seit<br />

1936 der Plan, e<strong>in</strong>e Enzyklika gegen den Rassismus, unter direkter Bezugnahme auf<br />

Passagen <strong>und</strong> Aussagen <strong>in</strong> Hitlers „Me<strong>in</strong> Kampf“ zu veröffentlichen, ja, Hitler, der immer<br />

noch der katholischen Kirche angehörte, vielleicht sogar zu exkommunizieren. Es<br />

sollten klare Formulierungen gebraucht werden. <strong>Die</strong>ser Plan wurde jedoch fallen gelassen.<br />

Stattdessen wurde im April 1938 e<strong>in</strong> Syllabus, e<strong>in</strong>e päpstliche Aufl istung kirchlich<br />

verurteilter religiöser, philosophischer <strong>und</strong> politischer Lehren publiziert. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht – wie sonst zumeist üblich – vom Heiligen Offi zium der Glaubenskongregation,<br />

sondern lediglich von der weit weniger bedeutsamen Studienkongregation. 9<br />

Erst am 21. März 1937 war die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ von den deutschen<br />

Kanzeln verlesen worden, für die Michael Kard<strong>in</strong>al Faulhaber entscheidende<br />

Vorarbeiten geleistet hatte <strong>und</strong> die u. a. den folgenden Satz enthielt: „Wer die Rasse<br />

oder das Volk oder den Staat oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder<br />

andere Gr<strong>und</strong>werte menschlicher Geme<strong>in</strong>schaftsgestaltung – die <strong>in</strong>nerhalb der irdischen<br />

Ordnung e<strong>in</strong>en wesentlichen <strong>und</strong> ehrengebietenden Platz behaupten- aus<br />

dieser ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der<br />

religiösen Werte macht <strong>und</strong> sie mit Götzenkult verherrlicht, der verkehrt <strong>und</strong> fälscht<br />

die gottgeschaffene <strong>und</strong> gottbefohlene Ordnung der D<strong>in</strong>ge. E<strong>in</strong> solcher ist weit vom<br />

wahren Gottesglauben <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er solchem Glauben entsprechenden Lebensauffassung<br />

entfernt.“ 10<br />

9 Vgl. hierzu vor allem Hubert Wolf, Pius XI. <strong>und</strong> die „Zeitirrtümer“, a. a. O., S. 12ff. u. bes. 23ff. u. 27 sowie Peter<br />

Godman, Der Vatikan <strong>und</strong> Hitler, a. a. O., S. 312ff. Vgl. auch die stark apologetische Darstellung bei Michael F.<br />

Feldkamp, Pius XII. <strong>und</strong> Deutschland. a. a. O., S. 112ff.<br />

10 Über die Lage der katholischen Kirche im Deutschen Reich. Papst Pius XI. Gegeben im Vatikan, am Passionssonntag,<br />

den 14. März 1937, S. 3 (E<strong>in</strong>e Faksimile-Ausgabe der Enzyklika ist kostenlos bei der „Gedenkstätte Deutscher<br />

Widerstand“ <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Tiergarten erhältlich). Zur Entstehungsgeschichte der Enzyklika vgl. den neuesten Forschungsstand<br />

bei Hubert Wolf, Pius XI. <strong>und</strong> die „Zeitirrtümer“, a. a. O., S. 30ff.<br />

63


Wer würde behaupten, diese stark verklausulierten Formulierungen wären allen<br />

unter den Kanzeln sitzenden <strong>und</strong> den Text der Enzyklika hörenden Gläubigen verständlich<br />

gewesen? Deutlicher waren Enzykliken <strong>und</strong> andere Dokumente des Vatikans<br />

allerd<strong>in</strong>gs immer dann, wenn ihre Adressaten Kommunisten <strong>und</strong> die von ihnen<br />

vertretene Weltanschauung, der Marxismus, waren.<br />

Auch kam es vor, dass – wie im Falle Franco-Spaniens <strong>und</strong> Kroatiens – Menschenrechtsverletzungen<br />

<strong>und</strong> Pogrome großzügig toleriert, jedenfalls nicht öffentlich verurteilt<br />

wurden. 11 Schließlich g<strong>in</strong>g es gegen den geme<strong>in</strong>samen Fe<strong>in</strong>d – die L<strong>in</strong>ke <strong>und</strong><br />

die Juden.<br />

<strong>Die</strong> – wie der US-amerikanische Historiker José Sanchez schreibt – „Abschlachtung<br />

von r<strong>und</strong> 350 000 orthodoxen Serben <strong>und</strong> die Zwangsbekehrung von weiteren<br />

300 000“ 12 sowie die Deportation von etwa 9 000 Juden <strong>in</strong> die Vernichtungslager hätte<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Reaktion des Papstes hervorrufen müssen: „Hier gab es ke<strong>in</strong>e mildernden<br />

Umstände, die ihn hätten veranlassen können zu schweigen, denn er hatte es<br />

mit e<strong>in</strong>er Regierung zu tun, die sich als katholisch bezeichnete, <strong>und</strong> er musste nicht<br />

befürchten, dass e<strong>in</strong> päpstlicher Protest zu Vergeltungsmaßnahmen führen würde.“ 13<br />

Viertens<br />

Was wäre geschehen, dieses Gedankenspiel sei e<strong>in</strong>en Augenblick lang gestattet, wenn<br />

Pius XI. angesichts der judenfe<strong>in</strong>dlichen Politik der Nazis bzw. Pius XII., konfrontiert<br />

mit dem millionenfachen, systematischen Mord an den Juden Europas, <strong>in</strong> lauten <strong>und</strong><br />

unmissverständlichen Worten Stellung bezogen hätten gegen die NSDAP, den faschistischen<br />

deutschen Staat, gegen den „Führer“ Adolf Hitler, der mit se<strong>in</strong>er Exkommunikation<br />

konfrontiert worden wäre. 14 <strong>Die</strong> Antwort ist nach me<strong>in</strong>er Auffassung recht<br />

offensichtlich: Vor die Wahl gestellt, sich loyal zum Nazi-Regime oder zum Vatikan<br />

zu verhalten – die übergroße Mehrheit der katholischen Bevölkerung Deutschlands<br />

hätte sich, ungeachtet mancher Zweifel, aus <strong>in</strong>nerer Überzeugung, nicht aus Angst<br />

vor Repressionen, für Hitler <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Regime entschieden. Zu tief waren die zentralen<br />

politischen Ziele der Faschisten auch <strong>in</strong> der katholischen Bevölkerung verankert, zu<br />

sehr war man bereit, den so genannten außenpolitischen <strong>und</strong> militärischen Erfolgen<br />

des Regimes (z. B. die „Heimkehr“ der Saar im Januar 1935, die Besetzung des entmilitarisierten<br />

Rhe<strong>in</strong>landes im März 1936, der „Anschluss“ Österreichs im März 1938,<br />

11 Vgl. Gerhard Besier, Der Heilige Stuhl <strong>und</strong> Hitler-Deutschland, a. a. O., S. 248ff.<br />

12 José M. Sánchez, Pius XII. <strong>und</strong> der Holocaust, a. a. O., S. 130.<br />

13 Ebenda, S. 131. Allerd<strong>in</strong>gs berichteten die „Basler Nachrichten“ im Juli 1942, dass Radio Vatikan am 6.7.1942<br />

diese Judenverfolgungen verurteilt <strong>und</strong> zwei Hirtenbriefe zur Verlesung gebracht hätte, „die der Erzbischof von<br />

Zagreb gegen diejenigen <strong>in</strong> Kroatien richtete, die sich der Judenverfolgung schuldig machen … <strong>Die</strong> Kirche könne<br />

nicht länger Schweigen üben, während Menschen verfolgt werden für angebliche Verbrechen, die sie niemals<br />

begangen hätten.“ Basler Nachrichten, Nr. 182, 8.7.1942: Der Vatikan gegen die Judenverfolgungen, <strong>in</strong>: B<strong>und</strong>esarchiv<br />

Berl<strong>in</strong>-Lichterfelde (um folgenden: BArch), R 5101/24073, Bl. 48.<br />

14 <strong>Die</strong> Exkommunikation Hitlers spielte zeitweilig <strong>in</strong> den <strong>in</strong>ternen Beratungen des Vatikans zur Politik gegenüber<br />

Nazi-Deutschland durchaus e<strong>in</strong>e Rolle, wurde aber schließlich verworfen. Vgl. Hubert Wolf, Pius XI. <strong>und</strong> die<br />

„Zeitirrtümer“, a. a. O., S. 28f. u. Peter Godman, Der Vatikan <strong>und</strong> Hitler, a. a. O., S. 227ff.<br />

64


der E<strong>in</strong>marsch <strong>in</strong> die „Sudeten“ im Oktober des gleichen Jahres, die zunächst militärisch<br />

erfolgreich verlaufenden Aggressionen 1939–1941/42), auch wenn sie auf Kosten<br />

Dritter <strong>und</strong> unter verbrecherischen Umständen zustande gekommen se<strong>in</strong> sollten,<br />

zuzujubeln, als dass e<strong>in</strong>e Stimme aus Rom Gehör gef<strong>und</strong>en hätte, die zu Opposition<br />

oder zum offenen Widerstand aufgerufen hätte. 15<br />

Im übrigen: Pius XI. bzw. Pius XII. hätten mit dem Widerspruch des hohen Klerus<br />

<strong>in</strong> Deutschland rechnen müssen, die ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>en Konfrontationskurs gegen<br />

das faschistische Regime befürworteten – ungeachtet vieler ernsthafter Kritikpunkte,<br />

die sich vor allem gegen Beh<strong>in</strong>derungen der Seelsorge <strong>und</strong> des Religionsunterrichtes,<br />

gegen die hasserfüllten, anti-christlichen Tiraden des Nazi-„Chefi deologen“ Alfred<br />

Rosenberg, gegen die reduzierten Publikationsmöglichkeiten für katholische Presserzeugnisse,<br />

gegen Schikanen <strong>und</strong> Repressionen richteten, von denen Geistliche betroffen<br />

waren. Bis auf sehr wenige e<strong>in</strong>zelne Priester <strong>und</strong> Laien, von den Bischöfen zu<br />

schweigen, gab es jedoch niemanden, der die Legitimität des Nazi-Regimes <strong>in</strong> Frage<br />

stellte. <strong>Die</strong>s war die Angelegenheit weniger Geistlicher <strong>und</strong> engagierter Laien, die, wie<br />

der Pfarrer Alfred Delp 16 , der Jurist Josef Wirmer 17 oder der Berl<strong>in</strong>er Domkapitular<br />

Bernhard Lichtenberg 18 , von den Faschisten ermordet wurden.<br />

Um so mehr gilt es, das Andenken an diejenigen Katholiken wach zu halten, die<br />

aus <strong>in</strong>nerer christlicher Überzeugung – „Was Du dem Ger<strong>in</strong>gsten getan hast, das hast<br />

Du mir getan!“ – als Märtyrer handelten, wo andere sich von den sche<strong>in</strong>baren Erfolgen<br />

des Regimes blenden ließen oder sich selbst weltanschaulich <strong>und</strong> politisch nazifi -<br />

zierten. Unter ihnen befanden sich auch e<strong>in</strong>ige prom<strong>in</strong>ente Theologen, wie z. B. Prof.<br />

Dr. Karl Adam, der 1941 fast leitmotivisch formulierte: „Wir müssen katholisch se<strong>in</strong><br />

15 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult <strong>und</strong> Volksme<strong>in</strong>ung, München 2001,<br />

bes. S. 131ff. Der Autor schreibt auf S. 137: „Wo der Nationalsozialismus ke<strong>in</strong>e direkte Bedrohung verkörperte,<br />

konnte er von den beiden Hauptkonfessionen zum<strong>in</strong>dest toleriert werden. Angriffe auf rassische, soziale oder politische<br />

M<strong>in</strong>derheiten ließen sich ohne Zimperlichkeit h<strong>in</strong>nehmen. Der expansionistischen Außenpolitik wurde<br />

allgeme<strong>in</strong> Beifall gezollt.“ Und weiter: „<strong>Die</strong> Treue zum ‚Führer‘ wurde von den Kirchen angesichts der ‚bolschewistischen<br />

Gefahr‘ besonders stark hervorgehoben … Selbst jene, die die antikirchliche Politik des Regimes höchst<br />

kritisch sahen, waren bereit, den Kampf Hitlers gegen den Bolschewismus öffentlich zu unterstützen.“ (S. 138)<br />

Hervorhebung im Orig<strong>in</strong>al – R. Z. Vgl. auch derselbe, Hitlers Macht. Das Profi l der NS-Herrschaft, 2., durchgesehene<br />

Aufl ., München 2000, bes. S. 120ff. Kershaw formuliert hier auf S. 128: „<strong>Die</strong> katholische Kirche verteidigte<br />

zwar beharrlich ihre Institutionen, religiösen Praktiken <strong>und</strong> Überzeugungen, doch außerhalb des sie unmittelbar<br />

betreffenden Bereichs bestanden auch hier bedeutende Übere<strong>in</strong>stimmungen mit zentralen Aspekten der NS-Politik<br />

<strong>und</strong> Ideologie. So vermochten beispielsweise Bischöfe, deren Aversion gegen den Nationalsozialismus außer Frage<br />

stand, 1941 <strong>in</strong> dem E<strong>in</strong>marsch <strong>in</strong> die Sowjetunion e<strong>in</strong>en ‚Kreuzzug‘ gegen den Bolschewismus zu sehen. Weitere<br />

partielle Konsenspunkte bestanden <strong>in</strong> bezug auf den Aufbau e<strong>in</strong>es autoritären Staates (der sich natürlich nicht gegen<br />

christliche Gr<strong>und</strong>werte wenden sollte). E<strong>in</strong>e selbstbewusste Außenpolitik zur Bekräftigung der Rechte des deutschen<br />

Volkes <strong>und</strong> im H<strong>in</strong>blick auf die Bereitschaft, Hitlers Person losgelöst von den üblen Seiten des Systems zu sehen.“<br />

Methodisch anregend, wenn auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Punkten Widerspruch herausfordernd, ist der Beitrag von Cornelia<br />

Rauh-Kühne, Anpassung <strong>und</strong> Widerstand? Kritische Bemerkungen zur Erforschung des katholischen Milieus, <strong>in</strong>:<br />

Detlef Schmiechen-Ackermann, Hrsg., Anpassung – Verweigerung – Widerstand. Soziale Milieus, Politische Kultur<br />

<strong>und</strong> der Widerstand gegen den Nationalsozialismus <strong>in</strong> Deutschland im regionalen Vergleich, Berl<strong>in</strong> 1997, S. 145ff.<br />

16 Vgl. Roman Bleiste<strong>in</strong>, Alfred Delp, <strong>in</strong>: 20. Juli. Portrait des Widerstands, hrsg. v. Rudolf Lill u. He<strong>in</strong>rich Oberreuter,<br />

Düsseldorf u. Wien 1984, S. 99ff.<br />

17 Vgl. Rudolf Lill, Josef Wirmer, <strong>in</strong>: ebenda, S. 335ff.<br />

18 Vgl. Otto Ogiermann, Bis zum letzten Atemzug. Das Leben <strong>und</strong> Aufbegehren des Priesters Bernhard Lichtenberg,<br />

4., neubearb. Aufl ., Leipzig 1983. Reichhaltiges Material zum „Fall Lichtenberg“, darunter die Abschrift des Urteils<br />

sowie Unterlagen des SD <strong>und</strong> des Reichskirchenm<strong>in</strong>isteriums, fi ndet sich <strong>in</strong>: BArch, R 5101/23335.<br />

65


is zur letzten Faser unseres Herzens, aber wir müssen auch – um des Katholischen<br />

willen – deutsch se<strong>in</strong> bis aufs Mark.“ 19<br />

Im übrigen darf <strong>in</strong> diesem Zusammenhang nicht <strong>in</strong> Vergessenheit geraten, dass<br />

Katholiken <strong>in</strong> den Verfolgungsbürokratien <strong>und</strong> Morde<strong>in</strong>heiten des „3. Reiches“ ihren<br />

<strong>Die</strong>nst versahen, dass nicht wenige SS-Angehörige zur katholischen Kirche zählten.<br />

Ungeachtet all’ dessen: <strong>Die</strong> unbezweifelbare Loyalität der Masse der katholischen<br />

Deutschen zum faschistischen Regime <strong>und</strong> zur Person Adolf Hitlers 20 stellt ke<strong>in</strong><br />

entlastendes Argument für das „Schweigen“ Papst Pius XII. angesichts des Holocaust<br />

dar.<br />

Fünftens<br />

Nach der bed<strong>in</strong>gungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches dankten jüdische<br />

Organisationen dem Papst für von ihm <strong>in</strong>itiierte oder unterstützte Hilfsaktionen verschiedenster<br />

Art, die geholfen hatten, Juden vor der Ermordung zu retten. Vieles<br />

geschah im Verborgenen, jedes e<strong>in</strong>zelne Individuum, das vor dem Zugriff der faschistischen<br />

Vernichtungsmasch<strong>in</strong>erie gerettet werden konnte, wiegt schwer. 21<br />

Und dennoch: Der mit <strong>Antisemitismus</strong> angereicherte Antimodernismus <strong>und</strong> Antisozialismus<br />

des Vatikans, nicht zuletzt bei Pius XII. persönlich, die Hoffnung, den<br />

Faschismus letztlich christianisieren zu können <strong>und</strong> ihn zu <strong>in</strong>strumentalisieren im<br />

Kampf gegen die als bedrohlich empf<strong>und</strong>enen gesellschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong><br />

politischen Entwicklungen der Gegenwart – alles das begrenzte von vornhere<strong>in</strong> die<br />

Potenziale des Vatikans, wirkungsvoll gegen den Holocaust aufzutreten.<br />

„Pacellis Schweigen angesichts der Ungeheuerlichkeit des Holocaust“, urteilt der<br />

<strong>in</strong> Cambridge lehrende Historiker John Cornwell, „bedeutete nicht nur e<strong>in</strong> persönliches<br />

Versagen, sondern e<strong>in</strong> Versagen des Papsttums als Institution <strong>und</strong> der von ihm<br />

geprägten Kultur des Katholizismus. <strong>Die</strong>ses Versagen wurde durch die Gegensätze<br />

verursacht, die der Katholizismus hervorbrachte <strong>und</strong> aufrecht erhielt – zwischen dem<br />

Geheiligten <strong>und</strong> dem Profanen, dem Spirituellen <strong>und</strong> dem Weltlichen, dem Körper<br />

<strong>und</strong> der Seele, der Geistlichkeit <strong>und</strong> den Laien, der Exklusivität der Wahrheit des<br />

Katholizismus <strong>und</strong> allen anderen Konfessionen <strong>und</strong> Glaubensrichtungen.“ 22<br />

19 Prof. Dr. Karl Adam, <strong>Die</strong> geistige Lage des deutschen Katholizismus (1941), masch.-schriftl. Ms., <strong>in</strong>: BArch, R<br />

5101/24085, unfol. E<strong>in</strong> längerer Auszug aus dieser Ausarbeitung ist im Anhang dokumentiert.<br />

20 Vgl. hierzu die „Würdigungen“ der Person Hitlers <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er „Leistungen“ <strong>in</strong> katholischen Kirchenblättern anlässlich<br />

se<strong>in</strong>es 50. Geburtstages am 20. April 1939, <strong>in</strong>: B<strong>und</strong>esarchiv – Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten – ZA<br />

I 10717. In der „Münchner Katholischen Kirchenzeitung“ v. 16.4.1939 hieß es <strong>in</strong> diesem Zusammenhang bezeichnender<br />

Weise: „Der Schöpfer des Dritten Reiches hat die erschreckenden Ausmaße der ungeheueren Gefahr<br />

erkannt, die Deutschland <strong>und</strong> dem Abendland von Russland her drohten. Schon über 15 Jahre hielt der gottlose<br />

Bolschewismus Mittel- <strong>und</strong> Westeuropa <strong>in</strong> Bann … Gerade wir als gläubige Katholiken wissen, <strong>in</strong> welch furchtbare<br />

Situation auch Deutschland durch die fortschreitende Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Sittenverfall<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten war … <strong>Die</strong> göttliche Vorsehung hat uns vor dem furchtbaren Schicksal bewahrt, das uns zweie<strong>in</strong>halb<br />

Jahre für das spanische Volk bangen ließ.“ (unfol.)<br />

21 Vgl. hierzu u. a. Michael F. Feldkamp, Pius XII. <strong>und</strong> Deutschland, a. a. O., S. 139ff. u. Pierre Blet S. J., Papst Pius<br />

XII. <strong>und</strong> der Zweite Weltkrieg, a. a. O., S. 201ff.<br />

22 John Cornwell, Pius XII., a. a. O., S. 400. Hervorhebung von mir – R. Z.<br />

66


Am Ende machten nicht wenige fl üchtige Täter, die z. B. im Reichssicherheitshauptamt,<br />

<strong>in</strong> den Konzentrations- <strong>und</strong> Vernichtungslagern, bei den E<strong>in</strong>satzgruppen<br />

des SD <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Waffen-SS ihren <strong>Die</strong>nst versehen hatten, Station <strong>in</strong> Rom, um<br />

sich vom umtriebigen Bischof Hudal, Rektor der Deutschen Nationalkirche Santa<br />

Maria dell’ Anima, mit falschen Pässen <strong>und</strong> Bargeld sowie Tickets für die Überfahrt<br />

nach Late<strong>in</strong>amerika oder anderswoh<strong>in</strong> ausstatten zu lassen. 23 Unter ihnen befanden<br />

sich der Organisator des Holocaust, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann 24 , der<br />

wegen se<strong>in</strong>er beispiellos grausamen Menschenversuche berüchtigte Arzt im Vernichtungslager<br />

Auschwitz, Dr. Josef Mengele, sowie der unter dem Namen „Schlächter<br />

von Lyon“ bekannt gewordene SS-Hauptsturmführer Klaus Barbie.<br />

Der so genannte Rattenpfad für Nazi-Kriegsverbrecher führte über den Vatikan.<br />

Aber das ist schon wieder e<strong>in</strong>e andere Geschichte – vielleicht aber auch die logische<br />

Fortsetzung des soeben behandelten Themas?<br />

Anhang<br />

Aus dem Schreiben des Erzbischofs von Breslau <strong>und</strong> Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,<br />

Adolf Kard<strong>in</strong>al Bertram 25 , an die deutschen Erzbischöfe vom 31. März 1933,<br />

dem Vorabend des „Juden-Boykotts“ der Nazis:<br />

„Mit Empfehlung des Herrn Domkapitulars Monsignore Lichtenberg <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> erschien<br />

heute Hr. Dir. der Deutschen Bank Oskar Wassermann (zugleich als Präsident<br />

der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft der Konfessionen für den Frieden) mit der Bitte, der Episkopat<br />

wolle beim Herrn Reichspräsidenten <strong>und</strong> bei der Reichs-Regierung <strong>in</strong>tervenieren<br />

für Aufhebung des gegen alle jüdischen Geschäfte veranstalteten Boykotts …<br />

Auf me<strong>in</strong>e Bemerkung, dass ich als E<strong>in</strong>zelperson nicht Auftrag zu solchem Schritte<br />

vom Episkopat habe, auch die Begründung des Boykotts nicht beurteilen könne,<br />

noch weniger e<strong>in</strong>e Prognose über den Erfolg oder die Erfolglosigkeit stellen könne,<br />

war er e<strong>in</strong>verstanden mit e<strong>in</strong>er R<strong>und</strong>frage wenigstens bei den hochwürdigsten Herren<br />

Erzbischöfen … über die Frage der Opportunität e<strong>in</strong>es solchen Schrittes.<br />

Me<strong>in</strong>e Bedenken beziehen sich<br />

1. darauf, dass es sich um e<strong>in</strong>en wirtschaftlichen Kampf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em uns <strong>in</strong> kirchlicher<br />

H<strong>in</strong>sicht nicht nahe stehenden Interessenkreise handelt;<br />

2. dass der Schritt als E<strong>in</strong>mischung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Angelegenheit ersche<strong>in</strong>t, die das Aufgabengebiet<br />

des Episkopates weniger berührt, der Episkopat aber triftigen Gr<strong>und</strong> hat,<br />

sich auf se<strong>in</strong> eigenes Arbeitsgebiet zu beschränken;<br />

23 Vgl. Ernst Klee, Persilsche<strong>in</strong>e <strong>und</strong> falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen, 4. Aufl ., Frankfurt a. M. 2002<br />

u. Uki Goni, Odessa: <strong>Die</strong> wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berl<strong>in</strong> 2006. Der Vatikan als organisatorisches<br />

<strong>und</strong> logistisches Zentrum kooperierte dabei <strong>in</strong> hervorragender Weise u. a. mit dem Internationalen<br />

Komitee vom Roten Kreuz, dem Perón-Regime <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien sowie US-amerikanischen Geheimdiensten.<br />

24 Vgl. Irmtrud Wojak, Eichmanns Memoiren. E<strong>in</strong> kritischer Essay, Frankfurt a. M. 2004, S. 19ff.<br />

25 Adolf Bertram, geb. 14.3.1859, gest. 6.7.1945, amtierte von 1906 bis 1914 als Bischof von Hildesheim <strong>und</strong> von<br />

1914 bis zu se<strong>in</strong>em Tode als Erzbischof von Breslau. 1916 wurde er zum Kard<strong>in</strong>al ernannt, von 1919 bis zu se<strong>in</strong>em<br />

Tode war er – 26 Jahre lang – Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.<br />

67


3. das der Schritt ke<strong>in</strong>en Erfolg haben dürfte, weil die Gründe pro <strong>und</strong> contra den<br />

maßgebenden Stellen auch ohne unsere Vorstellung genügend bekannt s<strong>in</strong>d;<br />

4. …, dass dieser Schritt, der nicht vertraulich im engeren Kreis bleiben kann, sicher<br />

die übelste Interpretation <strong>in</strong> den weitesten Kreisen von ganz Deutschland fi nden<br />

würde, was bei der überaus diffi zilen <strong>und</strong> dunklen Gesamtlage ke<strong>in</strong>eswegs gleichgültig<br />

se<strong>in</strong> kann.<br />

Dass die überwiegend <strong>in</strong> jüdischen Händen befi ndliche Presse gegenüber den Katholikenverfolgungen<br />

<strong>in</strong> verschiedenen Ländern durchweg Schweigen beobachtet hat,<br />

sei nur nebenbei berührt.“<br />

Zitiert nach: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945, Bd. I:<br />

1933–1934, bearb. v. Bernhard Stasiewski, Ma<strong>in</strong>z 1968, S. 42f. Anmerkung 3.<br />

Artikel „Rasse“ (Auszug) aus dem „Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen“:<br />

„Weil jedes Volk für se<strong>in</strong>en glücklichen Bestand die Verantwortung selbst trägt <strong>und</strong> die<br />

Here<strong>in</strong>nahme vollkommen fremden Blutes für e<strong>in</strong> geschichtlich bewährtes Volkstum<br />

immer e<strong>in</strong> Wagnis bedeutet, so darf ke<strong>in</strong>em Volk das Recht abgesprochen werden, se<strong>in</strong>en<br />

bisherigen Rassenstand ungestört zu bewahren <strong>und</strong> zu diesem Zweck Sicherungen<br />

anzubr<strong>in</strong>gen. <strong>Die</strong> christliche Religion verlangt nur, dass die angewandten Mittel nicht<br />

gegen die sittlichen Vorschriften <strong>und</strong> die natürliche Gerechtigkeit verstoßen.<br />

<strong>Die</strong> Rassengesetzgebung der Gegenwart kann daher nur dar<strong>in</strong> ihren S<strong>in</strong>n haben,<br />

dass die Heimrassigkeit <strong>und</strong> die Heimkultur vor Entartung bewahrt <strong>und</strong> gepfl egt werden<br />

sollen. Will e<strong>in</strong> Volk se<strong>in</strong>e Eigenart behalten, so müssen die erbges<strong>und</strong>en Söhne<br />

<strong>und</strong> Töchter heimrassiger Familien <strong>in</strong> gleichwertige Familien h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>heiraten <strong>und</strong> die<br />

Ehen mit Fremdrassigen im obigen S<strong>in</strong>ne meiden.“<br />

Zitiert nach: Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen, hrsg. v. Erzbischof Dr.<br />

Conrad Gröber. Mit Empfehlung des deutschen Gesamtepiskopates, Freiburg i. Br.<br />

1937, S. 536. 26<br />

Professor Dr. Karl Adam 27 , <strong>Die</strong> geistige Lage des deutschen Katholizismus (1941), Manuskript<br />

(Auszüge):<br />

„Wo stehen wir deutschen Katholiken? Wir stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geistigen Raum, der<br />

nicht schärfer umrissen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>deutiger bestimmt werden kann, als wenn man ihn<br />

26 Der Herausgeber, Dr. Conrad Gröber, geb. 1.4.1872, gest. 14.2.1948, amtierte 1931/32 als Bischof von Meißen<br />

<strong>und</strong> von 1932 bis zu se<strong>in</strong>em Tod als Erzbischof von Freiburg im Breisgau.<br />

27 Dr. Karl Adam, geb. 22.10.1876, gest. 1.4.1966, lehrte als ordentlicher Professor an der Universität Tüb<strong>in</strong>gen<br />

Dogmatik, nachdem er bereits als Hochschullehrer <strong>in</strong> München <strong>und</strong> Straßburg gewirkt hatte. Der Theologe wurde<br />

1933 Mitglied der NSDAP. Se<strong>in</strong> Hauptwerk „Das Wesen des Katholizismus“, das 1924 erschien, erlebte bis 1957<br />

<strong>in</strong>sgesamt 13 Aufl agen <strong>und</strong> wurde u. a. <strong>in</strong>s Englische <strong>und</strong> Französische übersetzt. 1951 verlieh ihm der damalige<br />

B<strong>und</strong>espräsident, Prof. Dr. Theodor Heuß (FDP), das Große B<strong>und</strong>esverdienstkreuz. Vgl. zu se<strong>in</strong>er Biographie:<br />

Kürschner’s Deutscher Gelehrten-Kalender 1931, Berl<strong>in</strong> u. Leipzig 1931, Sp. 7f.; dass. 1935, Sp. 5; dass. 1940/41,<br />

Bd. I, Sp. 6; dass. 1950, Sp. 6f; Wer ist wer?, Berl<strong>in</strong> 1967, S. 5; Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 1,<br />

München u. a. 1995, S. 29; Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor <strong>und</strong> nach 1945,<br />

Frankfurt a. M. 2005, S. 11.<br />

68


als nationalsozialistische Weltanschauung bezeichnet. Sie ist die geistige Luft, die wir<br />

täglich atmen, die uns nicht bloß aus den Höhen der Politik <strong>und</strong> Wirtschaft entgegenströmt<br />

<strong>und</strong> unser ganzes Kulturleben durchdr<strong>in</strong>gt, sondern die auch, eben weil sie<br />

Weltanschauung ist, <strong>in</strong> unser Innerstes e<strong>in</strong>geht, die unser persönliches Denken <strong>und</strong><br />

Wollen formt <strong>und</strong> den ganzen deutschen Menschen beansprucht.<br />

<strong>Die</strong> Zeit ist endgültig vorüber, wo der Nationalsozialismus nur als e<strong>in</strong>e von den<br />

vielen politischen Parteien vor uns stand, e<strong>in</strong> viel Tieferes, e<strong>in</strong> schlechth<strong>in</strong> Neues ist <strong>in</strong><br />

ihm aufgebrochen: e<strong>in</strong>e neue Weise, die deutsche Wirklichkeit zu sehen, sie aus ihren<br />

Urgründen, aus der Eigenart des Blutes zu begreifen, sie gegen alle fremde Art abzugrenzen<br />

<strong>und</strong> die rassischen Eigenwerte <strong>und</strong> Höchstwerte zum Aufbau e<strong>in</strong>es neuen<br />

Reiches e<strong>in</strong>zusetzen. Nun steht dieses neue dritte Reich vor uns, voll heißen Lebenswillens<br />

<strong>und</strong> Leidenschaft, voll unbändiger Kraft, voll schöpferischer Fruchtbarkeit.<br />

Wir Katholiken wissen uns als Glieder dieses Reiches <strong>und</strong> erblicken unsere höchste<br />

irdische Aufgabe <strong>in</strong> unserem <strong>Die</strong>nst am Reich … Um des Gewissens willen dienen wir<br />

dem neuen Reich mit allen unseren Kräften, mag kommen, was da wolle …<br />

Es ist … durchaus s<strong>in</strong>nvoll, Weltanschauung <strong>und</strong> Christentum zu unterscheiden.<br />

Weil der deutsche Raum, der deutsche Boden, das deutsche Blut, das deutsche<br />

Schicksal sich von anderen Ausschnitten der Weltwirklichkeit bedeutsam abhebt <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e besondere Würdigung se<strong>in</strong>er Eigenart <strong>und</strong> des damit gegebenen Aufgabenbereiches<br />

gestattet, ja fordert, darf <strong>und</strong> muss man von e<strong>in</strong>er deutschen Weltanschauung<br />

reden …<br />

Indem wir mit unseren deutschen Augen die uns umgebende deutsche Wirklichkeit<br />

anschauen, werden uns jene Forderungen <strong>und</strong> Imperative e<strong>in</strong>sichtig, die der besonderen<br />

Struktur dieser konkreten Wirklichkeit gemäß s<strong>in</strong>d. Es s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

aktive, positive, werterzeugende <strong>und</strong> wertfördernde Eigenschaften, welche uns von<br />

dieser besonderen Struktur nahe gelegt <strong>und</strong> anempfohlen oder vielmehr zur Pfl icht<br />

gemacht werden: vor allem frische Initiative <strong>und</strong> Wagemut, zähe Beharrlichkeit <strong>und</strong><br />

E<strong>in</strong>satzbereitschaft, überhaupt die Pfl ege e<strong>in</strong>es herben, entschlossenen Mannestums.<br />

E<strong>in</strong>e Ethik, die diese im deutschen Blut liegenden, vom deutschen Raum geforderten<br />

Eigenschaften übersähe <strong>und</strong> etwa im Namen des Christentums nur auf passive <strong>und</strong><br />

weibliche Tugenden den Akzent legte, begäbe sich von vornhere<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es wirksamen,<br />

erzieherischen E<strong>in</strong>fl usses. Sie wäre wurzellos <strong>in</strong> der deutschen Seele …<br />

In e<strong>in</strong>er Zeit, da das heldische Ideal, das Ideal des aufrechten tapferen Mannestums,<br />

mit geradezu leidenschaftlicher Inbrunst gepfl egt wird, werden gekrümmte Rücken<br />

<strong>und</strong> verdrehte Augen die christliche Frömmigkeit nur auf das unheilvollste dikreditieren<br />

können …<br />

Das, was unser Christentum dauernd trägt, ist unsere deutsche Natur. <strong>Die</strong> menschliche<br />

Natur existiert ja nicht für sich selbst als ‚Natur an sich‘, als leeres Abstraktum,<br />

sondern als Konkretum, <strong>in</strong> jeder konkreten Prägung, die ihr Blut <strong>und</strong> Boden gegeben<br />

haben. Wir s<strong>in</strong>d also nicht Christen <strong>und</strong> Katholiken schlechth<strong>in</strong>, sondern deutsche<br />

Christen, deutsche Katholiken. <strong>Die</strong>ses ‚Deutsche‘ ist nicht etwas, was zu unserem<br />

69


Christse<strong>in</strong> re<strong>in</strong> äußerlich h<strong>in</strong>zukäme. So dass also das Christse<strong>in</strong> das Substantielle,<br />

das Tragende wäre, sondern gerade umgekehrt: das Substantielle, Bleibende, Tragende<br />

ist unsere natura germanica, <strong>und</strong> das Christentum tritt als Akzidens, als besondere<br />

Gottesgabe zu diesem Ursprünglichen <strong>und</strong> Urtümlichen h<strong>in</strong>zu … Wir müssen katholisch<br />

se<strong>in</strong> bis zur letzten Faser unseres Herzens, aber wir müssen auch – um des<br />

Katholischen willen – deutsch se<strong>in</strong> bis aufs Mark.“<br />

Quelle: BArch, R 5101/24085, unfol., masch<strong>in</strong>enschriftliches Manuskript, S. 1f.,<br />

3f., 7, 18f. u. 24. Hervorhebungen im Orig<strong>in</strong>al. Das Manuskript umfasst <strong>in</strong>sgesamt<br />

24 Seiten.<br />

Aus den „Predigttexten“, XVII. Reihe, Nr. 2/Anfang 1943, hrsg. von der Abteilung Schrifttum<br />

des Deutschen Caritasverbandes für katholische Geistliche an den Fronten:<br />

„Von Anfang an ist Christus e<strong>in</strong>e durch <strong>und</strong> durch kämpferische Persönlichkeit.<br />

Wie e<strong>in</strong> Soldat steht er e<strong>in</strong> ganzes Leben unter dem Befehl: Ich b<strong>in</strong> nicht gekommen,<br />

um me<strong>in</strong>en Willen zu tun, sondern den Willen me<strong>in</strong>es Vaters, der im Himmel ist …<br />

Er soll e<strong>in</strong>e neue Gotteserkenntnis, e<strong>in</strong>e neue Geme<strong>in</strong>schaft der Menschen mit Gott<br />

br<strong>in</strong>gen. Und steht damit gegen die Vertreter e<strong>in</strong>es entarteten Buchstabengeistes, der<br />

glaubt, mit e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> äußerlichen <strong>und</strong> verlogenen Erfüllung des Gesetzes den heiligen,<br />

lebendigen Gott bestechen zu können. Steht gegen die mächtige, herrschende<br />

Partei der Pharisäer <strong>und</strong> Schriftgelehrten ganz alle<strong>in</strong>, ohne jegliche Hilfsmittel, ohne<br />

Waffen, ohne Anhänger …<br />

Wo der jüdische Krämergeist sogar <strong>in</strong> heilige Bezirke sich e<strong>in</strong>nistet, zögert er nicht,<br />

den ganzen Haufen der Verkäufer <strong>und</strong> Geldwechsler zornentfl ammt aus dem Tempel<br />

zu peitschen.“<br />

Zitiert nach: He<strong>in</strong>rich Missalla, Für Gott, Führer <strong>und</strong> Vaterland. <strong>Die</strong> Verstrickung<br />

der katholischen Seelsorge <strong>in</strong> Hitlers Krieg, München 1999, S. 151f.<br />

Aus den „Predigttexten“, XXII. Reihe, Nr. 2/September 1943, hrsg. von der Abteilung<br />

Schrifttum des Deutschen Caritasverbandes für katholische Geistliche an den Fronten:<br />

„Man kann Christus aufnehmen, man kann ihn auch abweisen. Das Judenvolk<br />

hat ihn damals abgewiesen, sich gegen ihn verhärtet, hat Se<strong>in</strong>e Liebe mit Hohn <strong>und</strong><br />

Undank vergolten. Es geht noch heute als verfl uchtes Volk über die Erde.“<br />

Zitiert nach: Ebenda, S. 161.<br />

70


Dr. Günter Wehner<br />

Jüdische Widerstandskämpfer <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

Angesichts doppelter Verfolgung als Juden <strong>und</strong> als Antifaschisten war der jüdische Beitrag<br />

im R<strong>in</strong>gen gegen die Nazibarbarei e<strong>in</strong> wesentlicher, wenn auch bis zum heutigen<br />

Tage von der Historiographie <strong>und</strong> <strong>in</strong> der öffentlichen Wahrnehmung unterschätzter<br />

Bestandteil des Widerstandes gegen das NS-Regime. Jüdischer Widerstand muß unter<br />

den spezifi schen Bed<strong>in</strong>gungen des rassischen <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Hitlerdeutschland <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er ganzen Differenziertheit begriffen <strong>und</strong> gewertet werden. Er reichte vom Sich-<br />

Verweigern <strong>und</strong> Sich-Widersetzen, dem Nicht-Folgeleisten offi zieller Anordnungen,<br />

über die Flucht vor Verfolgung <strong>und</strong> Deportation, dem Untertauchen <strong>in</strong> die Illegalität<br />

bis zum aktiven Wirken <strong>in</strong> den unterschiedlichsten Widerstandsgruppen.<br />

In fast allen Berl<strong>in</strong>er Stadtbezirken gibt es konkrete Beispiele für den Anteil am Widerstehen.<br />

Bereits ab 30. Januar 1933 waren jüdische Antifaschisten aktiv gegen das<br />

NS-Regime tätig. E<strong>in</strong> wesentliches Merkmal des jüdischen Widerstandes <strong>in</strong> Deutschland<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> war der hohe Anteil junger Leute.<br />

Aus bisher kaum ausgewerteten Akten ist zu entnehmen, dass es e<strong>in</strong>e Gruppe junger<br />

Trotzkisten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gab, die unmittelbar nach der Machtübertragung durch den<br />

Reichspräsidenten Paul von H<strong>in</strong>denburg an Adolf Hitler <strong>in</strong> Aktion trat <strong>und</strong> <strong>in</strong> der<br />

maßgeblich junge jüdische Bürger wirksam waren. Den e<strong>in</strong>schlägigen Gestapoberichten,<br />

datiert aus dem Zeitraum Ende 1936 bis Frühjahr 1937, ist zu entnehmen, dass<br />

ab dem Frühsommer 1933 bis etwa September 1936 die trotzkistische Gruppe <strong>in</strong> unregelmäßigen<br />

Abständen <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, Magdeburg, Leipzig, Dresden <strong>und</strong> Hamburg die<br />

illegalen Druckschriften „Unser Wort“, „Informationsdienst“ <strong>und</strong> „Sowjetwirtschaft<br />

<strong>in</strong> Gefahr“ verbreiteten.<br />

„In Berl<strong>in</strong> bestand die Leitung der Gruppe aus Robert Spr<strong>in</strong>ger, Werner Müller,<br />

Hans Berger <strong>und</strong> Erna Herbig“ 1 so heißt es <strong>in</strong> der Anklageschrift.<br />

Im Erörterungsbericht der Gestapo Leipzig datiert vom 11. Februar 1937 heißt<br />

es unter anderem: „In Deutschland hat kurz nach der Machtübernahme durch die<br />

NSDAP an bis etwa Oktober 1936 e<strong>in</strong>e illegale Organisation der KPD-LO, die sich<br />

späterh<strong>in</strong>, weil sie mit der KPD <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise mehr etwas zu tun haben wollte nur<br />

noch Trotzkisten nannte, bestanden. …“ 2<br />

Reichskurier der Gruppe war Hans Berger. Er hielt den Kontakt zu den Trotzkigruppen<br />

<strong>in</strong> Leipzig, Magdeburg <strong>und</strong> Hamburg <strong>und</strong> versorgte die Kampfgefährten<br />

mit illegalen Druckschriften.<br />

In der Urteilsbegründung gegen Hans Berger geht der Vorsitzende Richter des<br />

Volksgerichtshofs <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ausführlich auf die persönlichen Verhältnisse <strong>und</strong> den Ta-<br />

1 B<strong>und</strong>esarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZC 14566, Bl. 180ff.<br />

2 Ebenda.<br />

71


tumfang des Angeklagten e<strong>in</strong>. Hervorgehoben wurde dabei se<strong>in</strong>e jüdische Herkunft:<br />

„Der Angeklagte Berger ist Sohn e<strong>in</strong>es jüdischen Schneidermeisters polnischer Staatsangehörigkeit,<br />

der <strong>in</strong> der Mariannenstr. 34 zu Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Damenkonfektionsgeschäft<br />

betreibt. Der am 17. Febr. 1916 geb. Hans Berger besuchte bis Ostern 1932 die<br />

Oberrealschule, die er mit der Obersek<strong>und</strong>arreife verließ. Anschließend wurde er <strong>in</strong><br />

dem chemischen Laboratorium Lasersohn zu Berl<strong>in</strong>, dessen Besitzer gleichfalls Jude<br />

ist, als Lehrl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>gestellt <strong>und</strong> nach se<strong>in</strong>er Verbüßung se<strong>in</strong>er ersten Strafe auch wieder<br />

aufgenommen.<br />

Im Jahre 1931 trat der Angeklagte <strong>in</strong> den Jungjüdischen Wanderb<strong>und</strong> Brith Haolim<br />

e<strong>in</strong>, der später <strong>in</strong> dem B<strong>und</strong>e Brith Habonim aufg<strong>in</strong>g. Ferner gehörte er dem<br />

jüdischen Sportvere<strong>in</strong> Bar Cochba <strong>und</strong> von Ende 1932 bis zum Frühjahr 1933 dem<br />

marxistisch e<strong>in</strong>gestellten, der Kampfgeme<strong>in</strong>schaft für Rote Sporte<strong>in</strong>heit angeschlossenem<br />

Berl<strong>in</strong>er Arbeitersportvere<strong>in</strong> ‚Fichte‘ an.<br />

Anfang Nov. 1934 übergab er e<strong>in</strong>em Schulfre<strong>und</strong>, dem polnischen Juden Alfred<br />

Brod e<strong>in</strong> hochverräterisches Flugblatt mit dem Titel ‚Der Wurm des Zweifels‘, das<br />

Brod wiederum an die jüdische Stenotypist<strong>in</strong> Ruth Warschawski weiterleitete. Für<br />

diese Tat wurde der Angeklagte mit sechs Monaten Gefängnis bestraft, die er verbüßt<br />

hat.<br />

<strong>Die</strong> erste Fühlung mit der Trotzkistenbewegung gewann der Angeklagte Ende<br />

1932 durch den arbeitslosen Juden Gustav Stern, Deckname Eduard, den er aus se<strong>in</strong>er<br />

Jugendzeit her kannte. Stern wandte sich für den Angeklagten bald danach an<br />

den Verlag der trotzkistischen Zeitschrift ‚<strong>Die</strong> permanente Revolution‘ <strong>und</strong> damit<br />

an Anton Grylewicz <strong>in</strong> Neukölln. Durch dessen Vermittlung kam der Angeklagte<br />

mit dem Trotzkisten Oskar Großmann, Deckname Otto, zusammen. Mit diesem<br />

besprach er <strong>in</strong> Gegenwart se<strong>in</strong>es Fre<strong>und</strong>es Gustav Stern die Ziele der Trotzkistenbewegung.<br />

Zu e<strong>in</strong>er erneuten Zusammenkunft mit Großmann <strong>und</strong> Stern nahm der<br />

Angeklagte den mit se<strong>in</strong>er Schwester verlobten Juden Alfred Bakalejnyk, Deckname<br />

Bert, mit. Großmann erläuterte die Ziele des Trotzkismus, besprach die politischen<br />

Tagesfragen <strong>und</strong> wies die Teilnehmer an, sich durch planmäßiges Schriftstudium <strong>und</strong><br />

regelmäßige Aussprachen möglichst wechselseitig zu schulen. <strong>Die</strong>sen Rat befolgte der<br />

Angeklagte <strong>in</strong> der Folgezeit <strong>und</strong> kam außerdem bis etwa Anfang 1934 regelmäßig <strong>in</strong><br />

Abständen von vier Wochen mit Großmann, Stern, Bakalejnyk u. a. Genossen zum<br />

Zwecke politischer Schulung <strong>und</strong> Aussprache zusammen. <strong>Die</strong>se Zusammenkünfte<br />

fanden teilweise <strong>in</strong> der Wohnung des Großmann, teilweise im Freien statt; zeitweise<br />

waren dabei auch Anhänger anderer marxistischer Richtungen wie KPD, SPD <strong>und</strong><br />

SAP anwesend …“ 3<br />

<strong>Die</strong>ser Anklagepunkt verweist auf den zu diesem Zeitpunkt von der Gestapo nicht<br />

ermittelten Kontakt zu der illegalen kommunistischen Studentengruppe um Käthe<br />

Fuchs, Wilhelm Girnus, He<strong>in</strong>z Kirchgatter <strong>und</strong> Fritz Opel. Aus der Anklageschrift<br />

3 Ebenda.<br />

72


gegen die oben genannten Antifaschisten ist zu entnehmen, dass Hans Berger unter<br />

dem Decknamen „Fred“ zwischen den beiden illegalen Gruppen ebenfalls als Kurier<br />

tätig war. Über ihn erfolgten der Austausch <strong>und</strong> die Verbreitung illegaler Schriften.<br />

Käthe Fuchs erhielt von ihm, <strong>in</strong> den Monaten Juli bis Mitte August 1934, die<br />

Schriften „Der Rote Student“ <strong>und</strong> den „Informationsdienst“ zur weiteren illegalen<br />

Verbreitung. <strong>Die</strong> genannte illegale Studentengruppe organisierte e<strong>in</strong>e umfangreiche<br />

Flugblattaktion, <strong>in</strong>dem sie mit Hilfe von Böllerschlägen im Lesesaal der Berl<strong>in</strong>er Universität<br />

Streuzettel verbreitete <strong>Die</strong> Zettel zeigten Sichel <strong>und</strong> Hammer <strong>und</strong> trugen die<br />

Inschrift: „Heute wie 1914 s<strong>in</strong>d Brandstifter am Werk …“<br />

Am 26. August 1934 brachte die Gruppe <strong>in</strong> der Halle VI der Funkausstellung <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>-Charlottenburg ebenfalls e<strong>in</strong>en Sprengkörper zur Explosion, der Streuzettel<br />

mit der Aufschrift enthielt: „Achtung! Rot-Funk <strong>und</strong> Rote Studenten schalten um auf<br />

Moskau“ Am 7. November 1934 wurden im großen Lesesaal der Staatsbibliothek <strong>und</strong><br />

im Treppenhaus der Deutschen Hochschule für Politik, wie bereits beschrieben, Flugzettel<br />

mit folgendem Inhalt verbreitet: „Heute am Jahrestag der russischen Revolution<br />

marschieren Millionen russischer Arbeiter, bereit zur Verteidigung der sozialistischen<br />

Revolution … Vere<strong>in</strong>igen wir uns zum Sturz Hitlers! Alles für den Sieg der sozialistischen<br />

Revolution! <strong>Die</strong> Hochschulgruppe der KPD“ 4<br />

Der Urteilsbegründung gegen Hans Berger ist ferner zu entnehmen, dass er Mitstreiter<br />

für die illegale Gruppe gewann, dazu gehörte se<strong>in</strong>e Schwester Hilde Berger, die<br />

wiederum durch ihre Mitgliedschaft im jüdischen Wanderb<strong>und</strong> Rudi Cohn, Gustav<br />

Stern, Deckname Eduard, Werner Schmidt, Deckname Alex <strong>und</strong> Ruth Guthmann,<br />

Deckname Jutta, zur illegalen Mitarbeit motivierte.<br />

Durch den Kontakt zu dem Zeitungshändler Kurt Noack hatte Hans Berger die<br />

unverfängliche Möglichkeit illegaler Treffs an dessen Zeitungsstand organisiert. Über<br />

Kurt Noack wurden ebenfalls Druckschriften weiter verbreitet. Bei der Strafzumessung<br />

gegen Hans Berger offenbart sich der Hass der Nazi-Justiz gegen den mutigen<br />

Widerständler. Der Vorsitzende Richter des Volksgerichtshofs betonte: „Der Angeklagte<br />

hat die Gewaltziele der Trotzkisten nicht nur erkannt, sondern, wie sich aus<br />

se<strong>in</strong>er ganzen Tätigkeit ergibt, auch gebilligt <strong>und</strong> sich somit bewußt <strong>in</strong> den <strong>Die</strong>nst<br />

ihrer Bestrebungen gestellt.<br />

Dabei war se<strong>in</strong>e Tätigkeit darauf gerichtet, die Verb<strong>in</strong>dungen der Trotzkisten sowohl<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> als auch nach Hamburg, Magdeburg <strong>und</strong> nach Frankreich aufrechtzuerhalten<br />

<strong>und</strong> auszubauen. In diesem e<strong>in</strong>mal gefassten Entschluß wurde der Angeklagte<br />

selbst dadurch nicht wankend gemacht, dass se<strong>in</strong>e Tätigkeit zwangsweise sechs<br />

Monate lang durch Verbüßung der über ihn verhängten politischen Gefängnisstrafe<br />

unterbrochen wurde; er setzte sie sofort nach se<strong>in</strong>er Entlassung fort.<br />

Für die radikalen Bestrebungen hat sich der Angeklagte sehr lange Zeit h<strong>in</strong>durch<br />

<strong>in</strong> ungewöhnlich aktiver Weise e<strong>in</strong>gesetzt. Er hat dabei der Trotzkigruppe wertvolle<br />

4 Ebenda, Bl. 121, Anklageschrift gegen He<strong>in</strong>z Kirchgatter u. a.<br />

73


<strong>Die</strong>nste geleistet, <strong>in</strong>dem er <strong>in</strong>sbesondere gegen die Zersplitterung <strong>in</strong> Deutschland<br />

tatkräftig e<strong>in</strong>getreten ist <strong>und</strong> außerdem die Verb<strong>in</strong>dung aufrechterhalten hat. Als Jude<br />

<strong>und</strong> Ausländer hatte der Angeklagte ke<strong>in</strong>erlei Veranlassung, sich <strong>in</strong> die <strong>in</strong>nerpolitischen<br />

Angelegenheiten Deutschlands e<strong>in</strong>zumischen; er hat daher das ihm gewährte<br />

Gastrecht gröblichst mißbraucht.<br />

Der Angeklagte wird wegen Vorbereitung e<strong>in</strong>es hochverräterischen Unternehmens<br />

unter erschwerten Umständen zu e<strong>in</strong>er Zuchthausstrafe von 8 Jahren verurteilt.“ 5<br />

Nach se<strong>in</strong>er Haftverbüßung im Zuchthaus Brandenburg-Görden wurde Hans<br />

Berger <strong>in</strong> das Konzentrations- <strong>und</strong> Vernichtungslager Auschwitz verschleppt <strong>und</strong> dort<br />

ermordet. 6<br />

Im Berl<strong>in</strong>er Bezirk Prenzlauer Berg waren maßgeblich die jüdischen Bürger Helena<br />

<strong>und</strong> He<strong>in</strong>z Biermann, Johann Hüttner, Erika Jakubowski <strong>und</strong> Siegfried Löwenste<strong>in</strong><br />

am antifaschistischen Widerstand beteiligt. Sie wirkten mit an der Bildung illegaler<br />

Zellen, dem Herstellen <strong>und</strong> Verbreiten von Flugblättern. Johann Hüttner war Leiter<br />

der KPD-Zelle <strong>in</strong> der Aktionsgruppe „Das Rote Sprachrohr“. Mit se<strong>in</strong>er Schwester<br />

Helena beteiligte er sich an der Verbreitung der Agitationsmünze „Versetzt ihm e<strong>in</strong>s“,<br />

die <strong>in</strong> ganz Berl<strong>in</strong> <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> anderen Städten kursierte. Er unterhielt auch die<br />

Verb<strong>in</strong>dung zum KPD-Unterbezirk Berl<strong>in</strong>-Neukölln. Johann Hüttner überlebte die<br />

Zuchthaus- <strong>und</strong> KZ-Haft. 7<br />

Erika Jakubowski <strong>und</strong> Anton Liermann gehörten zur Leitung des Unterbezirks<br />

Berl<strong>in</strong>-Prenzlauer Berg der KPD. Sie waren verantwortliche Redakteure des Unterbezirks-Organs<br />

„Roter Stern“ <strong>und</strong> kooperierten mit den Angehörigen der Roten Hilfe<br />

im Stadtbezirk. Sie sammelten unter anderem Geld für die Hilfe politischer Häftl<strong>in</strong>ge.<br />

8 Erika Jakubowski wurde nach e<strong>in</strong>er hohen Zuchthausstrafe 1944 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em KZ<br />

ermordet.<br />

Siegfried Löwenste<strong>in</strong> wirkte als Organisationsleiter <strong>und</strong> Verantwortlicher des technischen<br />

Apparates vor allem beim Druck <strong>und</strong> der Verbreitung der illegalen Flugschrift<br />

„Der Ausweg“. Er organisierte im Stadtbezirk Berl<strong>in</strong>-Prenzlauer Berg zahlreiche illegale<br />

Treffs. Am 3. Februar 1937 wurde er vom so genannten Volksgerichtshof zu 12<br />

Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch er wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konzentrationslager ermordet.<br />

<strong>Die</strong> langjährige Vertraute Rosa Luxemburgs, Mathilde Jacob aus Berl<strong>in</strong>-Moabit,<br />

beteiligte sich an antifaschistischen Aktionen mit Max Urich <strong>und</strong> Fritz W<strong>in</strong>guth. Sie<br />

wurde <strong>in</strong> das Ghetto nach Theresienstadt deportiert <strong>und</strong> kam dort 1943 um.<br />

<strong>Die</strong> Ärzt<strong>in</strong> Dr. Edith Jacobsohn aus Berl<strong>in</strong>-Wilmersdorf gehörte zu der illegalen<br />

Gruppe „Neu Beg<strong>in</strong>nen“ Sie stellte für Treffs ihre Wohnung <strong>und</strong> ihre Praxis zur Verfügung.<br />

Am 8.9.1936 wurde sie wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zweie<strong>in</strong>halb<br />

5 Ebenda, Bl. 180, Urteil gegen Hans Berger.<br />

6 Vgl. Widerstand <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gegen das NS-Regime 1933 bis 1945 – E<strong>in</strong> biographisches Lexikon. Autoren: Michele<br />

Barricelli u. René Mounajed, Bd. 1 (Buchstaben A <strong>und</strong> B), Berl<strong>in</strong> 2004, S. 137.<br />

7 Vgl. Ebenda, Autor: Günter Wehner, Bd. 3 (Buchstabe H bis J), Berl<strong>in</strong> 2004, S. 157.<br />

8 Ebenda, S. 182.<br />

74


Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie erkrankte <strong>und</strong> erhielt Hafturlaub, den sie zur Flucht<br />

nach Prag nutzte, um später <strong>in</strong> die USA zu emigrieren.<br />

Gad Beck, Deckname Gerd, aus Berl<strong>in</strong>-Weißensee schuf mit se<strong>in</strong>er Schwester Miriam,<br />

Erich Nehlhaus, Erw<strong>in</strong> Tischbauer <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Jizchak Schwersens<br />

e<strong>in</strong>e illegale Widerstandsgruppe die von 1938 bis zum April 1945 wirkte. E<strong>in</strong>e<br />

Anlaufstelle für die Gruppe errichteten sie <strong>in</strong> der Wohnung von Elly Peipe <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Wedd<strong>in</strong>g.<br />

Sie organisierten mit jüdischen Zwangsarbeitern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kartonagenfabrik,<br />

die <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Lichtenberg lag, Sabotage <strong>in</strong> der Rüstungsproduktion. Ferner<br />

bemühten sie sich um die Ausrüstung der illegalen Gruppe mit Handfeuerwaffen,<br />

um die illegal lebenden Kampfgefährten vor der Verfolgung durch die Gestapo zu<br />

schützen. Es gelang ihnen, die Brüder Amnon <strong>und</strong> Erich Wallach vor der Deportation<br />

zu bewahren. 9<br />

E<strong>in</strong>e der unbekanntesten, aber trotzdem sehr aktiven jüdischen Widerstandgruppe<br />

war die von Werner Scharff gebildete Gruppe „Geme<strong>in</strong>schaft für Frieden <strong>und</strong><br />

Aufbau“, die von Luckenwalde bei Berl<strong>in</strong> (heute Kreisstadt des Landkreises Teltow-<br />

Fläm<strong>in</strong>g) e<strong>in</strong>e Vielzahl von Flugschriften verbreitete. Werner Scharff durfte, bed<strong>in</strong>gt<br />

durch die judenfe<strong>in</strong>dliche Gesetzgebung der NS-Diktatur, nicht studieren. Er arbeitete<br />

als Elektriker bei der Firma e<strong>in</strong>es jüdischen Inhabers, die Elektro<strong>in</strong>stallationsarbeiten<br />

für die Gebäude der jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ausführte. Ab 1941 arbeitete<br />

er als Elektriker im Synagogengebäude <strong>in</strong> der Levetzow-/Ecke Jagowstraße <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>-Moabit, das als Deportations-Sammellager mißbraucht wurde.<br />

Werner Scharff war auch <strong>in</strong> den Wohnungen von Gestapobeamten tätig. Es gelang<br />

ihm, E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Deportationslisten zu nehmen. Häufi g warnte er die Betroffenen<br />

vor dem Abtransport. Er entschloss sich, <strong>in</strong> die Illegalität zu gehen. Durch se<strong>in</strong>e Frau,<br />

die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Druckerei arbeitete, beschaffte er sich Ausweispapiere. Werner Scharff<br />

fand Unterschlupf bei dem Justizangestellten Hans W<strong>in</strong>kler <strong>in</strong> Luckenwalde. Er <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>e Frau halfen seit 1942 verfolgten Juden. Sie schufen e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Widerstandgruppe,<br />

die nun durch Werner Scharff <strong>und</strong> dessen Frau verstärkt wurde. Sie beschlossen<br />

Anfang 1944 die Bevölkerung durch Flugblätter über den verbrecherischen Charakter<br />

des Nazi-Regimes aufzuklären. <strong>Die</strong> Flugblätter verteilten sie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>er Briefkästen.<br />

Im April 1944 kam die Gestapo den Antifaschisten auf die Spur. Werner Scharff<br />

wurde im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet. Gerhard <strong>und</strong> Fancia Grün,<br />

Edith <strong>und</strong> Dr. Kurt Hirschfeld sowie Stephan Scharff, Ludwig Lichtwitz, Alexander<br />

Rotholz <strong>und</strong> Hans Rosenthal überlebten, ebenso die nichtjüdischen Mitstreiter, da<br />

ihr vom „Volksgerichtshof“ anberaumter Prozess am 23. April 1945 nicht mehr stattfand.<br />

10<br />

E<strong>in</strong> prägnantes Beispiel für das langjährige jüdische Widerstehen gegen die faschistische<br />

Diktatur <strong>in</strong> Deutschland ist die „Baum-Gruppe“.<br />

9 Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 103.<br />

10 Vgl. Arno Lustiger, Zum Kampf auf Leben <strong>und</strong> Tod. Vom Widerstand der Juden 1933–1945, Köln 1994, S.<br />

66ff.<br />

75


Der Name steht für mehrere Widerstandkreise unter Leitung von Herbert Baum,<br />

die sich aus ehemaligen Mitgliedern der jüdischen, kommunistischen <strong>und</strong> sozialistischen<br />

Jugendbewegung der Weimarer Republik zusammensetzten <strong>und</strong> zeitweilig<br />

über 100 Personen umfaßten. Stellvertretend seien hier neben Marianne <strong>und</strong> Herbert<br />

Baum, Hans Adler, Herbert Ansbach, Elisabeth Attenberger, He<strong>in</strong>z Birnbaum, Johanna<br />

Brodwolf, Erna Deutsch, Ursula Ehrlich, Edith Fränkel, Gertrud Glondajewski,<br />

Alice <strong>und</strong> Helene Hirsch, Beatrice Jadamowitz, Sala Kochmann, Hildegard Loewy,<br />

Hans-Georg Mannaberg, Günter Prager, Alice Zadek <strong>und</strong> Ismar Zöllner gewürdigt.<br />

Alle genannten Antifaschisten – darauf sei abschließend h<strong>in</strong>gewiesen – erhielten übrigens<br />

<strong>in</strong> der zwölfbändigen Publikation „Widerstand <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gegen das NS-Regime<br />

1933 bis 1945 – E<strong>in</strong> biographisches Lexikon“ den ihnen gebührenden Platz.<br />

<strong>Die</strong> weitere Erforschung jüdischen Widerstandes <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> wie im faschistischen<br />

Deutschland <strong>in</strong>sgesamt, stellt nach wie vor e<strong>in</strong>es der wichtigsten Desiderate der historischen<br />

Forschung zur Geschichte des NS-Regimes dar.<br />

76


Auswahlbibliographie Dr. Horst Helas<br />

Bücher <strong>und</strong> selbständige Schriften:<br />

Zur Rolle des Autorenkollektivs für das Lehrbuch der deutschen Geschichte im Formierungsprozess<br />

der marxistisch-len<strong>in</strong>istischen Geschichtswissenschaft der DDR<br />

(Mitte 1955 bis Mitte 1958), Phil. Diss. Berl<strong>in</strong> 1985.<br />

Stal<strong>in</strong>s Erbe. Der Stal<strong>in</strong>ismus <strong>und</strong> die deutsche Arbeiterbewegung, Brandenburgisches<br />

Verlagshaus, Berl<strong>in</strong> 1990 (zusammen mit Wladislaw Hedeler u. <strong>Die</strong>tmar Wulff).<br />

Scheunenviertel Berl<strong>in</strong>. Stadtteilführer – Sieben Wandertouren, Edition Scheunenviertel,<br />

Berl<strong>in</strong> 1993; 4. Aufl . 2000 (zusammen mit <strong>Die</strong>ter Weigert).<br />

Das Scheunenviertel. Spuren e<strong>in</strong>es verlorenen Berl<strong>in</strong>s, Haude <strong>und</strong> Spener Verlag, Berl<strong>in</strong><br />

1994; 4. Aufl age 1998 (Mitherausgeber).<br />

Fünf Jahre Partei des Demokratischen Sozialismus <strong>in</strong> Deutschland: PDS <strong>und</strong> Stal<strong>in</strong>ismus<br />

– e<strong>in</strong> Beitrag zur Rekonstruktion e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Debatte, hrsg. von der<br />

Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS, Berl<strong>in</strong> 1995.<br />

Spuren jüdischen Lebens <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte (1871 bis 1945). Kolloquium am 30. Mai<br />

1995, Eigendruck des Vere<strong>in</strong>s zur Vorbereitung e<strong>in</strong>er Stiftung Scheunenviertel e. V.,<br />

Berl<strong>in</strong> 1995 (Herausgeber).<br />

Davidstern <strong>und</strong> Synagoge. Antworten auf Fragen Fürstenwalder Jugendlicher zur Geschichte<br />

der Juden <strong>in</strong> Deutschland, Berl<strong>in</strong>-Brandenburger Bildungswerk e. V., Berl<strong>in</strong><br />

1999 (unter Mitarbeit von Birgit Gregor).<br />

Juden <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte. Biografi en – Orte – Begegnungen, trafo verlag dr. wolfgang<br />

weist, Berl<strong>in</strong> 2000; 2. ergänzte <strong>und</strong> durchgesehene Aufl age 2001.<br />

Luxemburg oder Stal<strong>in</strong>. Schaltjahr 1928 – <strong>Die</strong> KPD am Scheideweg. E<strong>in</strong>e kommentierte<br />

Dokumentation, Karl <strong>Die</strong>tz Verlag, Berl<strong>in</strong> 2003 (herausgegeben zusammen mit<br />

Elke Reuter, Wladislaw Hedeler <strong>und</strong> Klaus K<strong>in</strong>ner).<br />

Rechtsextremismus <strong>in</strong> Deutschland. Analysen, Erfahrungen, Gegenstrategien, Karl<br />

<strong>Die</strong>tz Verlag, Berl<strong>in</strong> 2006 (herausgegeben zusammen mit Dagmar Rubisch).<br />

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Beiträge <strong>in</strong> Sammelbänden <strong>und</strong> Zeitschriften<br />

sowie Veröffentlichungen im Internet<br />

Revolutionär-demokratische E<strong>in</strong>igung oder junkerlich-bourgeoise Reichsgründung<br />

„von oben“ 1849 bis 1871. Debatten im Autorenkollektiv für das Lehrbuch der deutschen<br />

Geschichte (1955–1958), <strong>in</strong>:<br />

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 33. Jg., 1985, S. 794–808.<br />

Der Kampf der KPD für die Interessen der Mieter <strong>in</strong> der Weimarer Republik, <strong>in</strong>:<br />

Konsequent, Heft 1/1988, S. 104–112 (zusammen mit Hans-Joachim H<strong>in</strong>z).<br />

Über den antifaschistischen Widerstandskampf <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong>:<br />

Sozialismus <strong>in</strong> der DDR. Gesellschaftsstrategie mit dem Blick auf das Jahr 2000, hrsg.<br />

v. d. Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Berl<strong>in</strong> 1988, S. 251–268 (zusammen<br />

mit Rolf Richter u. He<strong>in</strong>z Kühnrich).<br />

Volksentscheid gegen Mietwucher <strong>und</strong> Wohnungsnot – e<strong>in</strong> Vorschlag der KPD aus<br />

dem Jahre 1925, <strong>in</strong>:<br />

Beiträge zur Geschichte der sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Kämpfe der KPD <strong>in</strong> der<br />

Weimarer Republik, H. 2, hrsg. v. d. Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Berl<strong>in</strong><br />

1989, S. 62–68.<br />

Straßengeschichten, <strong>in</strong>:<br />

Das Scheunenviertel. Spuren e<strong>in</strong>es verlorenen Berl<strong>in</strong>s, hrsg. v. Vere<strong>in</strong> zur Vorbereitung<br />

Stiftung Scheunenviertel Berl<strong>in</strong> e. V., Berl<strong>in</strong> 1994 u. ö., S. 51–54.<br />

Altstadtsanierung 1934/35, <strong>in</strong>: Ebenda, S. 128–133.<br />

<strong>Die</strong> Razzia am 4. April 1933, <strong>in</strong>: Ebenda, S. 135f.<br />

Referat zum Kolloquium Spuren jüdischen Lebens <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte: E<strong>in</strong>e Zwischenbilanz,<br />

<strong>in</strong>:<br />

Spuren jüdischen Lebens <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte (1871 bis 1945). Kolloquium am 30. Mai<br />

1995, hrsg. v. Horst Helas, Berl<strong>in</strong> 1995, S. 2–14.<br />

<strong>Die</strong> Stal<strong>in</strong>ismusdebatte <strong>in</strong> der PDS. Beitrag zur Rekonstruktion, <strong>in</strong>:<br />

<strong>Die</strong> PDS – Herkunft <strong>und</strong> Selbstverständnis. E<strong>in</strong>e politisch-historische Debatte, hrsg.<br />

v. Lothar Bisky, Jochen Cerny, Herbert Mayer u. Michael Schumann, Berl<strong>in</strong> 1996,<br />

309–324.<br />

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Berl<strong>in</strong>er Juden 1933, <strong>in</strong>:<br />

R<strong>und</strong>brief, hrsg. v. d. AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Parteivorstand<br />

der L<strong>in</strong>kspartei.PDS (im Folgenden: R<strong>und</strong>brief). H. 1–2/2003, S. 26f.<br />

Gegenwirkung durch Tun. Erfahrungen aus über zehn Jahren Jugendarbeit <strong>in</strong> Fürstenwalde,<br />

<strong>in</strong>:<br />

R<strong>und</strong>brief, H. 4/2003, S. 8–10.<br />

Das KZ-Außenlager Argus <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Re<strong>in</strong>ickendorf, <strong>in</strong>:<br />

Zwangsarbeit <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1938–1945, hrsg. v. Arbeitskreis Berl<strong>in</strong>er Regionalmuseen,<br />

Berl<strong>in</strong> 2003, (zusammen mit Henn<strong>in</strong>g Müller).<br />

Juden <strong>in</strong> Deutschland – e<strong>in</strong> geschichtlicher Überblick (o. J., 2003), <strong>in</strong>:<br />

www.rosalux.de/cms/fi leadm/rls_uploads.pdfs/Themen/Rechtsextremismus/Helas2.pdf.<br />

E<strong>in</strong> neuer Anfang? OSZE-Konferenz zum <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> – E<strong>in</strong> kritischer<br />

Bericht, <strong>in</strong>: R<strong>und</strong>brief, H. 2–3/2004, S. 52–55.<br />

Neues <strong>und</strong> Altes vom <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Europa. E<strong>in</strong>e Langzeitstudie. Erstes Diskussionsangebot,<br />

November 2004, <strong>in</strong>:<br />

www.rosalux.de/cms/fi leadm<strong>in</strong>/rls_uploads.pdfs./Themen/Rechtsextremismus/Helas3.pdf.<br />

Stolperste<strong>in</strong>e – <strong>in</strong> Archiven <strong>und</strong> im Berl<strong>in</strong>er Straßenbild. Das Beispiel Nathan <strong>und</strong><br />

Wilfried Israel, <strong>in</strong>: R<strong>und</strong>brief, H. 1–2/2005, S. 34f.<br />

Der Platz des <strong>Antisemitismus</strong> im Rechtsextremismus der Gegenwart, <strong>in</strong>:<br />

<strong>Die</strong> extreme Rechte im Osten – Gegenstrategien, hrsg. v. Klaus K<strong>in</strong>ner, Leipzig 2005,<br />

S. 49–59.<br />

Impuls-Beitrag zum Workshop: <strong>Die</strong> soziale Frage <strong>und</strong> der Rechtsextremismus (Veranstaltung<br />

der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Weltsozialforum <strong>in</strong> Erfurt, 21. bis<br />

24.7.2005), <strong>in</strong>:<br />

http://d-a-s-h.org/dossier/16/08_l<strong>in</strong>ks.htm.<br />

Soziale Frage <strong>und</strong> Rechtsextremismus, <strong>in</strong>: R<strong>und</strong>brief, H. 3/2005, S. 2–5.<br />

Fakten! Fakten! Fakten! Alltagserfahrungen mit dem Rechtsextremismus, <strong>in</strong>:<br />

R<strong>und</strong>brief, H. 4/2005, S. 22–24.<br />

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Der Platz des <strong>Antisemitismus</strong> im deutschen Rechtsextremismus der Gegenwart, <strong>in</strong>:<br />

Rechtsextremismus <strong>in</strong> Deutschland. Analysen, Erfahrungen, Gegenstrategien, hrsg. v.<br />

Horst Helas u. Dagmar Rubisch, Berl<strong>in</strong> 2006, S. 50–61.<br />

Wahlnachlese 2006 – Erster Teil, <strong>in</strong>: R<strong>und</strong>brief, H. 1–2/2006, S. 2–4.<br />

Berl<strong>in</strong>-Re<strong>in</strong>ickendorf, <strong>in</strong>:<br />

Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd.<br />

3: Sachsenhausen <strong>und</strong> Buchenwald, hrsg. v. Wolfgang Benz u. Barbara <strong>Die</strong>stel, Berl<strong>in</strong><br />

2006, S. 119–121 (zusammen mit Henn<strong>in</strong>g Müller).<br />

<strong>Die</strong> September-Wahlen 2006 s<strong>in</strong>d vorbei – alles wie gehabt?, <strong>in</strong>:<br />

R<strong>und</strong>brief, H. 4/2006, S. 2–4.<br />

E<strong>in</strong> Blick auf die Toten der Invalidenhaus-Zivilgeme<strong>in</strong>de des Jahres 1846, <strong>in</strong>:<br />

Stadtgeschichte im Fokus von Kultur- <strong>und</strong> Sozialgeschichte. Festschrift für Laurenz<br />

Demps, hrsg. v. Wolfgang Voigt u. Kurt Wernicke, Berl<strong>in</strong> 2006, S. 181–191.<br />

Neues zum <strong>Antisemitismus</strong> – Zustände <strong>in</strong> Deutschland. Nachbetrachtungen zu e<strong>in</strong>er<br />

Konferenz, <strong>in</strong>:<br />

RosaLux. Journal der Rosa-Luxemburg-Stiftung, H. 1/2007, S. 10f. (zusammen mit<br />

Re<strong>in</strong>er Zilkenat).<br />

Zu den Ergebnissen für rechtsextremistische Parteien bei den Kommunalwahlen <strong>in</strong><br />

Sachsen-Anhalt am 22. April 2007, <strong>in</strong>: R<strong>und</strong>brief, H. 1–2/2007, S. 35.<br />

„E<strong>in</strong> Ghetto mit offenen Toren“ – das Berl<strong>in</strong>er Scheunenviertel <strong>in</strong> der NS-Zeit, <strong>in</strong>:<br />

<strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Demokratiefe<strong>in</strong>dschaft</strong> <strong>in</strong> Deutschland im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Festschrift für Horst Helas zum 60. Geburtstag, hrsg. v. d. AG Rechtsextremismus/<br />

Antifaschismus beim Parteivorstand der L<strong>in</strong>kspartei.PDS, Berl<strong>in</strong> 2007, S. 28–35<br />

„Standpunkte“-Papiere der Rosa-Luxemburg-Stiftung e. V. Berl<strong>in</strong><br />

Rechtsextreme <strong>in</strong> der Mitte der Gesellschaft, standpunkte, Nr. 2/2006, 4 S.<br />

Was nun? Was tun! Wahlerfolge von Rechtsextremisten. Informationen <strong>und</strong> Vorschläge<br />

für Gegenstrategien, standpunkte, Nr. 8/2006, 6 S.<br />

(Zusammengestellt von Re<strong>in</strong>er Zilkenat)<br />

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