PDF (1,6 MB) - Mohr Siebeck Verlag
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B. Strukturvergleich<br />
Kap. 16<br />
EMRK erforderliche Schwere erreichen und/oder gleichzeitig die Missachtung der betroffenen<br />
Person zum Ausdruck bringen (→ Das Verbot von Folter, Kap. 11 Rn. 143). 131<br />
Auf der Ebene des GG wird demgegenüber der Schutz der körperlichen Unversehrtheit<br />
umfassend durch Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistet. 132 Zwei Besonderheiten verdienen<br />
besondere Beachtung: zum einen das Problem der sexuellen Selbstbestimmung,<br />
das der EGMR Art. 8 EMRK zuordnet und das BVerfG in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1<br />
GG verortet; 133 zum anderen kommt Art. 8 EMRK auch in den Abtreibungsfällen<br />
Bedeutung zu, soweit es um das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über ihrer eigenen<br />
Körper geht, 134 eine Rechtsfrage, die das BVerfG zunächst der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
(Art. 2 Abs. 1 GG) zugeordnet hatte, 135 in der zweiten Abtreibungsentscheidung<br />
dann allerdings mit dem Persönlichkeitsrecht der Frau in Verbindung brachte<br />
(Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). 136<br />
18 Ganz anders gelagerte strukturelle Unterschiede lassen sich beim Schutz des Familienlebens<br />
ausmachen. Das GG schützt zunächst Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG.<br />
Demgegenüber unterscheidet die EMRK zwischen dem in Art. 8 EMRK gewährleisteten<br />
Familienleben, das damit dezidiert in den (freiheits- und abwehrrechtlichen) Kontext<br />
des Privatlebens gestellt wird, und dem in Art. 12 EMRK enthaltenen Recht auf<br />
Eheschließung. Auch im Übrigen fällt auf, dass Art. 6 GG umfassender angelegt ist als<br />
Art. 8 EMRK. So ist das Elternrecht, das in Art. 2 ZP im Zusammenhang mit dem<br />
Recht auf Bildung gewährleistet wird, in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG enthalten. Auch stellt<br />
Art. 6 GG den Aspekt positiver Verpflichtungen des Staates viel stärker in den Vordergrund<br />
als Art. 8 EMRK dies tut. Art. 6 Abs. 4 und 5 GG mit dem Anspruch der Mutter<br />
auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft und Art. 6 Abs. 5 GG mit dem Anspruch<br />
des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern auf Verbesserung der Bedingungen<br />
für seine leibliche und seelische Entwicklung und gesellschaftliche Stellung normieren<br />
Schutz- und Teilhaberechte, die sich mit einem vergleichbaren Inhalt nicht ohne Weiteres<br />
aus Art. 8 EMRK herleiten lassen. Jenseits dessen lassen sich Art. 6 Abs. 4 und 5<br />
GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG als besondere Gleichheitssätze lesen. Die unterschiedliche<br />
Reichweite von Art. 6 GG und dem Schutz des Familienlebens in Art. 8 EMRK erklärt<br />
18<br />
131<br />
Vgl. auch Naismith, Privat and Family Life, Home and Correspondence, in: M. de Salvia/M. E.<br />
Villiger, The Birth of European Human Rights Law, 1998, 150.<br />
132<br />
Grundlegend G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987.<br />
133<br />
BVerfGE 47, 46 (73); 96, 56 (61); 101, 361 (382); differenzierend Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I<br />
Rn. 25.<br />
134<br />
Zur Frage, ob das ungeborene Leben durch Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK geschützt ist und ob den<br />
Staat eine entsprechende Schutzpflicht trifft, vgl. ablehnend H. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskommission,<br />
1968, Art. 2 Z iff. 2; aus neuerer Zeit P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen<br />
Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, 734 ff. Ablehnend dazu, ob Art. 8<br />
EMRK für Abtreibungsfälle relevant ist EKMR No. 6959/75, DR 5, 103 – Brüggemann u. Scheuten<br />
(Pl.); differenzierend EGMR No. 5410/03, Rep. 2007-I, §§ 104, 112, 117–118 – Tysią c.<br />
135<br />
BVerfGE 39, 1 (43): »Bei einer Orientierung an Art. 1 Abs. 1 GG muss die Entscheidung zugunsten<br />
des Vorrangs des Lebensschutzes für die Leibesfrucht vor dem Selbstbestimmungsrecht der<br />
Schwangeren fallen. Diese kann durch Schwangerschaft, Geburt und Kindeserziehung in manchen<br />
persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt sein.«<br />
136<br />
BVerfGE 88, 203 (254): »Als vom Lebensrecht des Ungeborenen berührte Rechtsgüter kommen<br />
dabei – ausgehend vom Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde<br />
(Art. 1 Abs. 1 GG) – vor allem ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2<br />
Abs. 2 GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in Betracht.«<br />
Thilo Marauhn/Judith Thorn 887