03.04.2014 Aufrufe

PDF (1,6 MB) - Mohr Siebeck Verlag

PDF (1,6 MB) - Mohr Siebeck Verlag

PDF (1,6 MB) - Mohr Siebeck Verlag

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

EMRK/GG<br />

Konkordanzkommentar<br />

zum europäischen und deutschen<br />

Grundrechtsschutz<br />

2. Auflage<br />

Herausgegeben von<br />

Oliver Dörr, Rainer Grote und Thilo Marauhn<br />

Gesamtredaktion:<br />

Stephanie Rupprecht und Judith Thorn<br />

Band I<br />

Kapitel 1–19<br />

<strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong>


Autoren<br />

Prof. Dr. jur. Ralf Alleweldt, LL.M., Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg, Oranienburg<br />

Dr. jur. Roland Bank, United Nations High Commissioner for Refugees, Branch Office Berlin<br />

Prof. Dr. jur. Jürgen Bröhmer, Murdoch University, Australien<br />

Prof. Dr. jur. utr. Hans-Joachim Cremer, Universität Mannheim<br />

Prof. Dr. jur. Oliver Dörr, LL.M., Universität Osnabrück<br />

Dr. jur. Björn Elberling, Rechtsanwalt, Kiel<br />

Prof. Dr. jur. Thomas Giegerich, LL.M., Universität des Saarlandes, Saarbrücken<br />

Prof. Dr. jur. Dr. rer. soc. oec. Christoph Grabenwarter, Wirtschaftsuniversität Wien,<br />

Prof. Dr. jur. Rainer Grote, LL.M., Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und<br />

Völkerrecht, Heidelberg<br />

Prof. Dr. jur. Stefan Kadelbach, LL.M., Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt am Main<br />

Prof. Dr. jur. Doris König, Bucerius Law School, Hamburg<br />

Dr. jur. Dieter Kraus, LL.M., Gerichtshof der Europäischen Union, Luxemburg<br />

Prof. Dr. jur. Heike Krieger, Freie Universität Berlin, Richterin am Verfassungsgerichtshof des<br />

Landes Berlin<br />

Prof. Dr. jur. Christine Langenfeld, Georg-August-Universität Göttingen<br />

Prof. Dr. jur. utr. Thilo Marauhn, M.Phil., Justus-Liebig-Universität Gießen<br />

Dr. jur. Katrin Merhof, Justus-Liebig-Universität Gießen<br />

Prof. Dr. jur. Katharina Pabel, Johannes-Kepler-Universität Linz<br />

Prof. Dr. jur. Anne Peters, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht,<br />

Heidelberg<br />

Prof. Dr. jur. Dagmar Richter, Institut der Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der<br />

Wissenschaften, Warschau<br />

Prof. Dr. jur. Volker Röben, Swansea University, Wales, Vereinigtes Königreich<br />

Ref. jur. Judith Thorn, Justus-Liebig-Universität Gießen<br />

Dr. jur. Nicola Wenzel, LL.M., Bundesministerium der Justiz, Berlin<br />

Prof. Dr. jur. utr. Christian Walter, Ludwig-Maximilians-Universität München<br />

Prof. Dr. jur. utr. Andreas Zimmermann, LL.M., Universität Potsdam<br />

Zitiervorschlag<br />

Ch. Langenfeld, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG 2 , 2013, Kap. 23 Rn. 12.<br />

ISBN 3-16-149397-3<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;<br />

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

© 2013 <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> Tübingen.<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb<br />

der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>Verlag</strong>s unzulässig und strafbar.<br />

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Rotation gesetzt, auf alterungsbeständiges<br />

Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.


Inhaltsverzeichnis<br />

Band I<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

V<br />

IX<br />

Einleitung (Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn) . . . . . . . . . . 1<br />

Teil I – Vergleichende Darstellung der Strukturen<br />

des europäischen und deutschen Grundrechtsschutzes . . . . . . 7<br />

Kapitel 1: Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der EMRK<br />

(Rainer Grote) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Kapitel 2: Wirkung und Rang der EMRK in den Rechtsordnungen<br />

der Mitgliedstaaten (Thomas Giegerich) . . . . . . . . . . . 57<br />

Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der Europäischen Union (Dieter Kraus) 99<br />

Kapitel 4: Regeln der Konventionsinterpretation (Hans-Joachim Cremer) 162<br />

Kapitel 5: Grundrechtsberechtigte und -verpflichtete,<br />

Grundrechtsgeltung (Volker Röben) . . . . . . . . . . . . . 253<br />

Kapitel 6: Funktionen von Grund- und Menschenrechten (Heike Krieger) 287<br />

Kapitel 7: Grundrechtseingriff und -schranken (Thilo Marauhn/<br />

Katrin Merhof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366<br />

Kapitel 8: Notstand (Heike Krieger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417<br />

Kapitel 9: Lücken der EMRK und lückenloser Grundrechtsschutz<br />

(Dagmar Richter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444<br />

Teil II – Kommentierung der einzelnen Gewährleistungen . . . 489<br />

Kapitel 10: Recht auf Leben (Ralf Alleweldt) . . . . . . . . . . . . . . . 491<br />

Kapitel 11: Das Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender<br />

Behandlung oder Strafe (Roland Bank) . . . . . . . . . . . 537<br />

Kapitel 12: Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Thilo Marauhn) 607<br />

Kapitel 13: Freiheit der Person (Oliver Dörr) . . . . . . . . . . . . . . . 632<br />

Kapitel 14: Der Grundsatz des fairen Verfahrens<br />

(Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel) . . . . . . . . . 742<br />

Kapitel 15: Keine Strafe ohne Gesetz (Stefan Kadelbach) . . . . . . . . 839<br />

Kapitel 16: Privat- und Familienleben (Thilo Marauhn/Judith Thorn) . . 868<br />

Kapitel 17: Religions- und Gewissensfreiheit (Christian Walter) . . . . . 957<br />

Kapitel 18: Meinungsfreiheit (Rainer Grote/Nicola Wenzel) . . . . . . . 1050<br />

Kapitel 19: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Jürgen Bröhmer) . 1161<br />

VII


Inhaltsverzeichnis<br />

Band II<br />

Kapitel 20: Das Recht auf wirksame Beschwerde (Dagmar Richter) . . . 1233<br />

Kapitel 21: Das Diskriminierungsverbot (Anne Peters/Doris König) . . 1301<br />

Kapitel 22: Eigentumsschutz (Hans-Joachim Cremer) . . . . . . . . . . 1466<br />

Kapitel 23: Das Recht auf Bildung (Christine Langenfeld) . . . . . . . . 1612<br />

Kapitel 24: Das Elternrecht im Schulwesen (Christine Langenfeld) . . . 1647<br />

Kapitel 25: Das Recht auf freie Wahlen (Dagmar Richter) . . . . . . . . 1670<br />

Kapitel 26: Freizügigkeit (Thomas Giegerich) . . . . . . . . . . . . . . 1723<br />

Kapitel 27: Ausweisungsschutz (Andreas Zimmermann/Björn Elberling) 1799<br />

Kapitel 28: Abschaffung der Todesstrafe (Ralf Alleweldt) . . . . . . . . 1862<br />

Kapitel 29: Verbot der Mehrfachbestrafung (Stefan Kadelbach) . . . . . 1869<br />

Teil III – Durchsetzungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . 1891<br />

Kapitel 30: Internationale Durchsetzung (Stefan Kadelbach) . . . . . . 1893<br />

Kapitel 31: Nationale Durchsetzung (Christian Walter) . . . . . . . . . 2002<br />

Kapitel 32: Entscheidung und Entscheidungswirkung<br />

(Hans-Joachim Cremer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2053<br />

Kapitel 33: Entschädigung und Schadensersatz (Oliver Dörr) . . . . . . 2148<br />

Ratifikationstabelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2217<br />

Register der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs<br />

für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2219<br />

Register der Entscheidungen der Europäischen Kommission<br />

für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2302<br />

Register der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) . 2324<br />

Register der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (gesamt) . . 2350<br />

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2385<br />

VIII


Einleitung<br />

1 Mit dem Konkordanzkommentar EMRK/GG wird eine umfassende vergleichende<br />

Kommentierung zu den dogmatischen Grundlagen des europäischen Grundrechtsschutzes,<br />

zu dessen Einzelgewährleistungen und zu den für ihre Durchsetzung zur<br />

Verfügung stehenden Verfahren auf nationaler und europäischer Ebene vorgelegt. Der<br />

europäische Grundrechtsschutz hat einen Entwicklungsstand erreicht, der eine systematisch<br />

aufbereitete Querschnittsanalyse, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />

der in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Zielsetzungen entstandenen<br />

nationalen und europäischen Grundrechtsordnungen sichtbar macht, dringend<br />

geboten erscheinen lässt.<br />

1<br />

2 Sechzig Jahre nach ihrem Inkrafttreten hat sich die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

als Kernstück der europäischen Grundrechtsverfassung fest etabliert.<br />

Dies zeigt sich an formalen Indikatoren, wie der Inkorporation der Konvention in die<br />

innerstaatliche Rechtsordnung sämtlicher Mitgliedstaaten, ebenso wie an der Spruchpraxis<br />

der Konventionsorgane, die mittlerweile zu einzelnen Garantien an Umfang<br />

und Gewicht derjenigen der nationalen Verfassungsgerichte in nichts nachsteht, ja sie<br />

zum Teil übertrifft. Zwar hält auch der EGMR, wie insbesondere seine Rechtsprechung<br />

zum einzelstaatlichen Beurteilungsspielraum bei Grundrechtseingriffen zeigt, nach<br />

wie vor an dem u. a. in Art. 13, 34 und 53 EMRK zum Ausdruck kommenden Subsidiaritätsgedanken<br />

fest, wonach effektiver Grundrechtsschutz vorrangig auf der Ebene<br />

der Mitgliedstaaten verwirklicht werden muss. Der Gerichtshof und früher auch die<br />

Kommission haben die Idee eines europäischen Grundrechtsmindeststandards jedoch<br />

von Anfang an als ein normatives und dynamisches Konzept verstanden, das sich nicht<br />

darin erschöpft, den in den Konventionsstaaten tatsächlich praktizierten kleinsten gemeinsamen<br />

Nenner zum Maßstab des europäischen Grundrechtsschutzes zu erheben,<br />

sondern auf die Identifizierung autonomer Schutzstandards abzielt, die auch der<br />

Grundrechtsentwicklung in Staaten mit einer bereits gefestigten rechtsstaatlichen und<br />

grundrechtlichen Ordnung neue Impulse geben können. Es liegt auf der Hand, dass<br />

diese Funktion mit dem Beitritt zahlreicher mittel- und osteuropäischer Staaten zur<br />

EMRK, die bei der Bewältigung der mit dem Übergang von der Einparteiendiktatur<br />

zur Demokratie verbundenen Fragen nicht auf eine gesicherte eigene Grundrechtsüberlieferung<br />

zurückgreifen konnten, noch stärker in den Mittelpunkt gerückt ist. Die<br />

daraus resultierende Notwendigkeit, verallgemeinerungsfähige Standards zu formulieren,<br />

die nicht nur den staatlichen Behörden und Gerichten, sondern gegebenenfalls<br />

auch dem nationalen Gesetzgeber über den entschiedenen Einzelfall hinaus als verlässlicher<br />

Orientierungsrahmen dienen können, wirkt auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs<br />

zurück und zwingt ihn dazu, seine zuvor regelmäßig an den Besonderheiten<br />

des jeweiligen Einzelfalls ausgerichtete, kasuistische Spruchpraxis zu überdenken.<br />

Diese Entwicklung nähert die Rolle des EGMR – trotz der nach wie vor eingeschränkten<br />

formalen Bindungswirkung seiner Entscheidungen – an diejenige eines »klassischen«<br />

Verfassungsgerichts an.<br />

2<br />

3 Zugleich wird es immer schwieriger, das enorme Fallmaterial, das in Straßburg aufgrund<br />

der den Gerichtshof schon zahlenmäßig an die Grenze der Belastbarkeit führenden<br />

Beschwerden jedes Jahr produziert wird, systematisch aufzubereiten. Zwar greift<br />

3<br />

Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn 1


Einleitung<br />

auch der EGMR immer wieder auf allgemeine grundrechtsdogmatische Figuren und<br />

Konzepte wie »positive Verpflichtungen« oder die »margin of appreciation« zurück,<br />

doch weisen sie regelmäßig eine größere Unschärfe auf als die entsprechenden Topoi<br />

der allgemeinen Grundrechtsdogmatik in der deutschen Verfassungsrechtsprechung.<br />

Der Schwerpunkt der EGMR-Rechtsprechung liegt – vom Sonderfall des Art. 3 EMRK<br />

abgesehen – bei großzügiger Bestimmung des Schutzbereichs zumeist auf der Abwägung<br />

zwischen den mit dem Eingriff verfolgten öffentlichen Zwecken und den grundrechtlich<br />

geschützten Interessen des Beschwerdeführers, der Gerichtshof sucht diese<br />

Abwägung durch die Identifizierung der für die einschlägige Fallgruppe relevanten<br />

Abwägungsgesichtspunkte zu strukturieren. Dies erschwert es, in der Fülle des Fallmaterials<br />

Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der europäischen und deutschen Grundrechtsdogmatik<br />

aufzuspüren und sichtbar zu machen. Erkennbar werden Unterschiede<br />

und Gemeinsamkeiten vor allem dort, wo Schutzstandards unvermittelt aufeinanderprallen.<br />

Die letzten Jahre haben in dieser Hinsicht mit divergierenden Straßburger und<br />

Karlsruher Entscheidungen zu den Grenzen der Presseberichterstattung aus dem Privatleben<br />

Prominenter, zum Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters mit seinem Kind<br />

und zur Sicherungsverwahrung reichliches Anschauungsmaterial geliefert.<br />

4 In den Jahren zuvor hatten die Entscheidungen der Straßburger Organe in Deutschland<br />

im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten meist nur geringe Aufmerksamkeit gefunden.<br />

Mit dem unterverfassungsrechtlichen Rang der Konventionsgewährleistungen,<br />

die formell nur einfaches Bundesrecht darstellen und daher mit dem Instrument<br />

der (Bundes-)Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar eingeklagt werden können, ist<br />

die geringe Beachtung, die dem konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz von Gerichten<br />

und Fachwelt lange Zeit entgegengebracht wurde, nur unzureichend erklärt.<br />

Auch in anderen bedeutenden Mitgliedstaaten, wie Frankreich und Großbritannien,<br />

genießt die EMRK keinen (über)verfassungsrechtlichen Rang und hat doch tiefgreifende<br />

Auswirkungen auf die Weiterentwicklung des öffentlichen Rechts dieser Staaten<br />

entfaltet. Vielmehr dürfte der Hauptgrund für die Zurückhaltung gegenüber der<br />

EMRK darin zu finden sein, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland auf dem<br />

Boden des Grundgesetzes eine überaus (ausstrahlungs-)kräftige nationale Grundrechtskultur<br />

entwickelt hat, die dem wirksamen Schutz der Rechte des Einzelnen in<br />

materiell-rechtlicher wie in prozessualer Hinsicht einen hohen Stellenwert einräumt.<br />

Dies hat die weit verbreitete, mitunter auch offen ausgesprochene Überzeugung genährt,<br />

dass von der europäischen Ebene keine Verbesserung, sondern allenfalls eine<br />

Verwässerung der eigenen hohen Grundrechtsstandards zu erwarten sei. Dabei droht<br />

allerdings aus dem Blick zu geraten, dass der Grundrechtsschutz in einem politisch<br />

integrierten Europa nicht mehr nur ein nationales, sondern auch und vor allem ein<br />

europäisches Anliegen sein muss. Die Funktionsfähigkeit eines solchen grundrechtlichen<br />

Mehrebenensystems hängt von der systematischen Verknüpfung nationaler und<br />

europäischer Grundrechtsschutzmechanismen ab, die freilich nur auf der Grundlage<br />

eines systematischen und detaillierten Vergleichs der Gewährleistungsgehalte und der<br />

zu ihrer Durchsetzung zur Verfügung stehenden Mechanismen gelingen kann. Angestoßen<br />

durch die Caroline-Rechtsprechung des EGMR und den in Reaktion hierauf<br />

ergangenen Görgülü-Beschluss des BVerfG, der mittlerweile durch die Entscheidungen<br />

des BVerfG zur Sicherungsverwahrung präzisiert, zum Teil auch relativiert worden<br />

ist, hat in diesem Punkt mittlerweile auch in Deutschland ein Bewusstseinswandel<br />

4<br />

2<br />

Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn


Einleitung<br />

eingesetzt, der allerdings noch nicht zu einem allgemein konsentierten Grundverständnis<br />

des Verhältnisses von EMRK und GG, von EGMR und BVerfG im System des<br />

mehrstufigen europäischen Grundrechtsschutzes geführt hat.<br />

5 Das Verhältnis der Gewährleistungsebenen des europäischen und des deutschen<br />

Grundrechtsschutzes steht daher im Mittelpunkt des vorliegenden Kommentars. Die<br />

Kommentierungen analysieren die Entwicklung der verschiedenen materiell-rechtlichen<br />

Gewährleistungen der EMRK in der Entscheidungspraxis des Gerichtshofs und<br />

der früheren Kommission für Menschenrechte und setzten sie systematisch in Beziehung<br />

zu den Parallelgewährleistungen des Grundgesetzes und ihrer Konkretisierung<br />

durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dabei werden auch die einschlägigen<br />

Gewährleistungsgehalte des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes in die<br />

Betrachtung mit einbezogen. Da sich weder der europäische noch der nationale<br />

Grundrechtsschutz in einem Vakuum entwickeln, sondern ihrerseits als integrale Bestandteile<br />

der Bemühungen um einen wirksamen universellen Schutz der Menschenrechte<br />

gesehen werden müssen, werden auch immer wieder Querbeziehungen zu den<br />

relevanten Menschenrechtsverbürgungen auf UN-Ebene, und hier insbesondere zu<br />

den Garantien des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte hergestellt,<br />

die in der Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschusses und seiner »General<br />

Comments« eine nähere inhaltliche Konturierung erfahren haben.<br />

5<br />

6 Im ersten Teil des Kommentars werden neben der Entstehungsgeschichte der EMRK<br />

und der Rolle des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes zwischen EMRK und nationaler<br />

Grundrechtsordnung die allgemeinen Strukturen des Grundrechtsschutzes nach<br />

europäischem und deutschem Recht herausgearbeitet. Die sich aus dem unterschiedlichem<br />

Geltungsgrund der Grundrechte – völkerrechtlicher Vertrag hier, staatliche Verfassung<br />

dort – ergebenden Probleme sind Gegenstand eines zentralen Beitrags über die<br />

Regeln der Konventionsinterpretation. In den weiteren Beiträgen des ersten Teils werden<br />

dann die EMRK und die Grundrechte des Grundgesetzes vergleichend anhand der<br />

allgemeinen Grundrechtslehren analysiert. Die hier eingeführten dogmatischen Kategorien<br />

stellen zugleich das übergreifende analytische Raster für die synoptische Kommentierung<br />

der materiell-rechtlichen Gewährleistungen im zweiten Teil des Kommentars<br />

dar. Erkenntnisleitend ist hierbei die Einsicht, dass die in der Wissenschaft zu den<br />

Grundrechten des Grundgesetzes entwickelten allgemeinen Lehren nicht im Maßstab<br />

1 : 1 auf die europäische Ebene übertragen werden können. Die europäischen und die<br />

deutschen Grundrechte fließen aus verschiedenen Rechtsquellen und sind in einen jeweils<br />

eigenen institutionellen und politischen Kontext eingebettet, der ihre schematische<br />

Gleichordnung ausschließt. Hinzu kommt, dass der EGMR und auch der EuGH<br />

ihre Grundrechtsinterpretation weitgehend an der Problematik des Einzelfalles ausrichten<br />

und mit allgemeinen Aussagen zu übergreifenden Strukturfragen des Grundrechtsschutzes<br />

deutlich zurückhaltender sind als das BVerfG. So lehnt etwa der EGMR<br />

eine allgemeine Festlegung in der Frage der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte<br />

bislang ausdrücklich ab.<br />

6<br />

7 So stellt sich dem rechtswissenschaftlichen Betrachter die systematische Behandlung<br />

von Fragen der allgemeinen Grundrechtstheorie auf europäischer Ebene herkömmlicherweise<br />

als tendenziell defizitär dar, während umgekehrt die deutsche<br />

Grundrechtsdogmatik wenigstens in Teilen überkomplex erscheint. Dies liegt an der<br />

unterschiedlichen Ausdifferenzierung der Grundrechtsordnungen und vor allem an<br />

7<br />

Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn 3


Einleitung<br />

der in Deutschland unter besonderen historischen Umständen sehr weit vorangetriebenen<br />

und daher andernorts nicht beliebig reproduzierbaren Durchdringung des gesamten<br />

einfachen Rechts durch das Verfassungsrecht, und das bedeutet im deutschen<br />

Fall vor allem: Durch die Grundrechte. Mit der Konsolidierung des Grundrechtsschutzes<br />

auf europäischer Ebene und angesichts der in den neuen Mitgliedstaaten des Europarats<br />

vielfach bestehenden strukturellen Probleme bei der Durchsetzung effektiver<br />

Grundrechtsstandards sieht sich allerdings auch die europäische Grundrechtsrechtsprechung<br />

zunehmend mit der Aufgabe konfrontiert, allgemeine Maßstäbe für die<br />

konventionskonforme Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu formulieren.<br />

In dieser Situation erscheint eine Bilanzierung und Aufbereitung der Grundrechtspraxis<br />

der EMRK-Organe unter übergeordneten Fragestellungen und Kriterien<br />

nicht nur möglich, sondern unumgänglich, solange dabei das Bewusstsein für die eigenständige<br />

Funktion des konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes nicht verloren<br />

geht und mit der Begrifflichkeit nicht zugleich auch die entsprechenden grundrechtsdogmatischen<br />

Inhalte auf die europäische Ebene transponiert werden. Mit dieser Einschränkung<br />

können die Bemühungen um die Identifizierung bereichsübergreifender<br />

»allgemeiner« Strukturen in der europäischen Grundrechtsentwicklung wichtige<br />

Bausteine für die Entstehung eines genuin europäischen Grundrechtsverständnisses<br />

liefern und damit zugleich die Voraussetzungen für eine verbesserte Kommunikation<br />

zwischen nationaler und europäischer Ebene in diesem Bereich schaffen.<br />

8 Die Kommentierungen des zweiten Teils folgen zu diesem Zweck einem einheitlichen<br />

Grundmuster, das den analytischen Rahmen abgibt für die Identifizierung der<br />

zwischen den europäischen und den grundgesetzlichen Gewährleistungen bestehenden<br />

Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Unter dem Gliederungspunkt »Strukturvergleich«<br />

werden dabei jeweils die allgemeinen Grundrechtsfunktionen bzw. -wirkungen<br />

miteinander verglichen, die den korrespondierenden Einzelgewährleistungen in<br />

EMRK und GG von der Rechtsprechung zugeschrieben werden. Die Erörterungen<br />

zum »Gewährleistungsumfang« nehmen eine detaillierte Gegenüberstellung der sachlichen<br />

und persönlichen Reichweite der einschlägigen Parallelgewährleistungen vor.<br />

Die Ausführungen zu den »Grundrechtseingriffen« unternehmen im Anschluss daran<br />

den Versuch, die von der Rechtsprechung im Hinblick auf die konkrete konventionsrechtliche<br />

bzw. verfassungsrechtliche Garantie anerkannten Eingriffsformen zu systematisieren.<br />

Schließlich analysiert der Abschnitt »Rechtfertigung« die von der Rechtsprechung<br />

auf der Grundlage der einschlägigen Grundrechtsnormen entwickelten<br />

Ansätze zur Prüfung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Beeinträchtigung<br />

der grundrechtlich geschützten Güter im Einzelfall rechtens (verfassungsmäßig)<br />

sein kann. Es liegt auf der Hand, dass dieses Schema nicht starr und schematisch<br />

angewendet werden kann, sondern im Hinblick auf die Struktur der jeweiligen<br />

Einzelgewährleistung flexibel zu handhaben ist. So gibt es Grundrechtsgarantien, wie<br />

den Schutz der Menschenwürde oder das Verbot der Folter, die absolut eingriffsfeindlich<br />

sind. Andere Gewährleistungen, wie namentlich die Prozessgrundrechte, schließen<br />

Eingriffe und Beschränkungen nicht von vornherein aus, stellen jedoch keine<br />

spezifischen Anforderungen an die Begründung solcher Beschränkungen im Einzelfall.<br />

Eine dritte Gruppe von Grundrechten wiederum, wie z. B. die Kommunikationsgrundrechte,<br />

ist dagegen ganz überwiegend nach dem klassischen Eingriffs-Rechtfertigungs-Schema<br />

aufgebaut. Die insoweit bestehenden Unterschiede zwischen den<br />

8<br />

4<br />

Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn


Einleitung<br />

konventionsrechtlichen und den grundgesetzlichen Gewährleistungen werden jeweils<br />

in dem vorangestellten Strukturvergleich thematisiert. Die Erörterung von Gewährleistung,<br />

Eingriffsarten und Rechtfertigung folgt dann im Grundsatz der Struktur des<br />

jeweiligen EMRK-Rechts, wobei zugleich auf das funktionelle Äquivalent in der einschlägigen<br />

Parallelgewährleistung des Grundgesetzes eingegangen wird.<br />

9 Der dritte und letzte Teil des Kommentars befasst sich mit den in der Rechtspraxis<br />

zur Durchsetzung der europäischen und internationalen Grundrechte zur Verfügung<br />

stehenden verfahrensrechtlichen Instrumenten und Mechanismen. Die Kommentierungen<br />

in diesem Teil beruhen auf der – auch dem Artikel 13 EMRK zugrundeliegenden<br />

– Prämisse, dass für die Wahrung und Verwirklichung der internationalen Grundund<br />

Menschenrechte zunächst die innerstaatlichen Organe, und hier wiederum in<br />

besonderem Maße die nationalen Gerichte zuständig sind. Der EGMR soll die Kontrolle<br />

und gegebenenfalls die punktuelle Korrektur der mitgliedstaatlichen Grundrechtspraxis<br />

im Lichte der Konventionsgarantien sicherstellen, keinesfalls jedoch einen<br />

funktionierenden innerstaatlichen Grundrechtsschutz durch die nationalen Gerichte<br />

ersetzen. Der dritte Teil wird daher mit einer überblicksartigen Darstellung des in der<br />

deutschen Rechtsordnung für die innerstaatliche Durchsetzung der Garantien der<br />

EMRK zur Verfügung stehenden Instrumentariums und einer eingehenden Analyse<br />

der von BVerfG und Fachgerichtsbarkeit in dieser zentralen Frage verfolgten Linie<br />

eingeleitet. Daran schließt sich eine detaillierte Erörterung der vor dem EGMR nach<br />

Art. 34 EMRK bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten an, die allerdings nicht isoliert<br />

erfolgt, sondern in Beziehung gesetzt wird zu der verwirrenden Vielfalt von rechtsförmigen<br />

und nicht-rechtsförmigen Kontrollmechanismen, die heute auf der europäischen<br />

und auf UN-Ebene zur Durchsetzung übernationaler menschenrechtlicher Gewährleistungen<br />

existieren. Die umfassende Analyse der Wirkungen von Sachentscheidungen<br />

des EGMR, die Umfang und Ausmaß der Einwirkung der EMRK auf die Ausgestaltung<br />

der innerstaatlichen Rechtsordnung maßgeblich mitbestimmen, sowie der<br />

Voraussetzungen und Parameter der vom Gerichtshof zur Sanktionierung festgestellter<br />

Konventionsverletzungen zugesprochenen Entschädigungsleistungen runden die<br />

Kommentierung des vielfältig verzweigten Systems der Rechtsbehelfe zum Schutz der<br />

Konventionsrechte ab.<br />

9<br />

Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn 5


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

27 Der Gewährleistungsgehalt des persönlichen Freiheitsrechts wird neben der Bedeutung<br />

von »Freiheit« und »Sicherheit« vor allem durch die speziellen verfahrensrechtlichen<br />

Sicherungen bestimmt, die sowohl Art. 5 EMRK als auch Art. 104 GG für Freiheitsbeschränkungen<br />

(i. w. S.) vorsehen. Während die Konventionsnorm diese Verfahrensrechte<br />

im Einzelnen aufführt, fasst die Grundgesetzbestimmung wesentliche Teile<br />

der angestrebten Sicherungsfunktion im Richtervorbehalt des Art. 104 II GG zusammen.<br />

27<br />

I. »Freiheit«<br />

28 »Freiheit« in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK meint genau wie »Freiheit der Person« in Art. 2<br />

Abs. 2 Satz 2 GG die körperliche (Fort)Bewegungsfreiheit im Raum, also die Freiheit,<br />

einen beliebigen Ort aufzusuchen oder zu verlassen (»liberté d’aller et de venir«) sowie<br />

sich dort aufzuhalten. 105 Nicht gemeint ist also jeweils eine umfassende personale Freiheit<br />

von jedem staatlichen Zwang, sondern die freie Wahl des Aufenthaltsortes. Die<br />

Beschränkung auf die räumliche Fortbewegung ergibt sich für beide Normen vor allem<br />

aus dem systematischen Zusammenhang der Gewährleistung mit den ausdrücklich<br />

geregelten Formen ihrer Beschränkung: Sowohl Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a – f EMRK als<br />

auch Art. 104 GG betreffen ausschließlich die Freiheit der körperlichen Fortbewegung<br />

und fangen damit die sprachliche Weite des Freiheitsbegriffs ein.<br />

28<br />

29 Die genaue Reichweite der garantierten Bewegungsfreiheit ergibt sich im Rückschluss<br />

daraus, was als ihre Einschränkung durch die jeweilige Grundrechtsnorm erfasst<br />

und daher an ihrem Maßstab zu rechtfertigen ist. Hier gehen EMRK und GG<br />

auseinander und offenbaren damit einen unterschiedlichen Gewährleistungsumfang:<br />

Wenn Art. 5 EMRK ausschließlich gegen Eingriffe schützt, welche die Qualität von<br />

Festnahme (»arrest«) oder Haft (»detention«) erreichen, so gewährt er nur Schutz gegen<br />

veritable Freiheitsentziehungen. Das Eingriffskonzept des grundgesetzlichen Freiheitsrechts<br />

geht darüber hinaus und erfasst, wie vor allem Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG<br />

belegt, auch Beschränkungen im Vorfeld von Freiheitsentziehungen. Die genaue tatbestandliche<br />

Abgrenzung dieser Freiheitsbeschränkungen im engeren Sinne ist allerdings<br />

nicht unproblematisch (→ Rn. 127–131). Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass aufgrund<br />

des engeren Eingriffsbegriffs die »Freiheit« des Art. 5 Abs. 1 EMRK sich in der<br />

Freiheit von Festnahme und Haft erschöpft, während die »Freiheit der Person« des<br />

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darüber hinausgeht und die körperliche Bewegungsfreiheit in<br />

einem umfassenden Sinne schützt.<br />

29<br />

30 Allerdings beschränkt das BVerfG den Schutzbereich der Bewegungsfreiheit nach<br />

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG von vornherein auf Orte, welche dem Einzelnen an sich tatsächlich<br />

und rechtlich zugänglich sind. 106 Danach besteht die grundrechtliche Fortbe-<br />

30<br />

105<br />

Statt aller Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 74; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2<br />

II Rn. 26; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 II Rn. 196; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG,<br />

Art. 2 II Rn. 99. Für Art. 5 EMRK z. B. EGMR No. 28046/95, § 1 – Poniñski (2000); No. 44955/98,<br />

Rep. 2001-IX, § 16 – Mancini; No. 58442/00, § 62 – Lavents (2002); früher schon R. Herzog, Das<br />

Grundrecht auf Freiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention, AöR 86 (1961), 194 (203).<br />

106<br />

BVerfGE 94, 166 (198); 96, 10 (21); 105, 239 (248). Zustimmend Murswiek, in: Sachs, GG,<br />

Oliver Dörr 649


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

wegungsfreiheit bereits tatbestandlich nur im Rahmen der geltenden allgemeinen<br />

Rechtsordnung. 107 Den Schutzbereich des Grundrechts berühren daher solche (gesetzlichen)<br />

Beschränkungen nicht, die bestimmte Räume (z. B. Privatwohnungen, öffentliches<br />

Straßenland, Naturschutzgebiete) für die ungehinderte Fortbewegung Einzelner<br />

verschließen, sich aber nicht gegen die Fortbewegungsfreiheit bestimmter Personen<br />

oder Personengruppen richten. Daher stellt z. B. das Festhalten von Asylbewerbern im<br />

Transitbereich des Flughafens keine Freiheitsbeschränkung dar, da die Freiheit der<br />

Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht die Einreise in das Staatsgebiet gewährleistet.<br />

Auf diese Weise wird Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG jedenfalls in Randbereichen der<br />

Ausgestaltung durch das einfache Gesetz überantwortet, der Grundrechtsschutz gegenüber<br />

dem Gesetzgeber mithin reduziert.<br />

31 Die Gewährleistung der Freiheit der Person betrifft nur die Zulässigkeit und Fortdauer<br />

(das »Ob«) einer Freiheitsentziehung oder -beschränkung, nicht hingegen Form<br />

und Umstände ihres Vollzuges (das »Wie«). 109 Daher enthält das Grundrecht grundsätzlich<br />

keine besonderen Rechte des Festgenommenen in Bezug auf seine Behandlung<br />

während der Freiheitsentziehung. 110 So berühren z. B. Arrestmaßnahmen gegen einen<br />

Strafgefangenen als solche nicht die grundrechtliche Freiheitsgarantie. 111 Allerdings<br />

knüpft der EGMR die »Rechtmäßigkeit« einer Freiheitsentziehung auf Konventionsebene<br />

daran, dass der Ort und die Umstände ihres Vollzuges dem Grund ihrer Anordnung<br />

entsprechen: 112 So müssen z. B. Minderjährige, psychisch und Suchtkranke<br />

grundsätzlich in einer für ihre Situation geeigneten Einrichtung untergebracht werden<br />

(→ Rn. 187, 194, 203). Im Übrigen kann durch die Art der Behandlung der Schutzbereich<br />

anderer Individualrechte berührt sein: Neben Art. 5 EMRK tritt insoweit das<br />

Folterverbot aus Art. 3 EMRK, die Freiheitsgarantie des GG wird durch das ausdrückliche<br />

Misshandlungsverbot in Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG und die allgemeine Handlungsfreiheit<br />

(Art. 2 Abs. 1 GG) abgerundet. Auf diese Weise sollen die Umstände einer<br />

Freiheitsentziehung ihre Rechtmäßigkeit nach innerstaatlichem Recht in Frage stellen<br />

und so – mittelbar 113 – einen Verstoß gegen Art. 5 EMRK begründen können. 114<br />

31<br />

II. »Sicherheit«<br />

32 Der im Text des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK als zweites Schutzgut genannten »Sicherheit«<br />

32<br />

kommt keine erkennbare eigenständige Bedeutung zu. Dies legt schon der<br />

wei-<br />

Art. 2 Rn. 235a; kritisch Wittreck, Rn. 8; G. Lübbe-Wolff, Das Asylgrundrecht nach den Entscheidungen<br />

des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996, DVBl. 1996, 825 (837).<br />

107<br />

So z. B. BVerfG (K) 2 BvR 447/05, NVwZ 2006, 579 Abs. 34; (K) 2 BvR 1206/04, NVwZ 2007,<br />

1044 (1045); 2 BvR 2367/07, NVwZ 2009, 1033; 2 BvR 1608/07, EuGRZ 2011, 90, Abs. 21.<br />

108<br />

BVerfGE 94, 166 (198 f.).<br />

109<br />

Grabitz (Fn. 1), Rn. 22; Grabenwarter/Pabel, § 21 Rn. 2.<br />

110<br />

EGMR No. 42117/98, Rep. 2000-V, 367 (379 f.) – Bollan; No. 44955/98, Rep 2001-IX, § 16 –<br />

Mancini; No. 58442/00, § 64 – Lavents (2002).<br />

111<br />

BVerfG (K) 2 BvR 213/93, NJW 1994, 1339; → auch Rn. 126, 127.<br />

112<br />

EGMR No. 22126/93, Rep. 1996-V, § 31 – Bizzotto; No. 39474/98, Rep. 2002-III, § 75 – D. G. v.<br />

Irland; No. 73281/01, § 69 – Gulub Atanasov (2008); No. 3455/05, § 164 – A u. a. v. Vereinigtes Königreich<br />

(GK) (2009); No. 34806/04, § 147 – X v. Finnland (2012).<br />

113<br />

Zur vermittelten »Rechtmäßigkeit« im Rahmen von Art. 5 EMRK → Rn. 141 und 211.<br />

114<br />

So jedenfalls BGH III ZR 3/92 v. 29. 4. 1993, BGHZ 122, 268 (270).<br />

650<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

tere Wortlaut des Art. 5 EMRK nahe, der ausschließlich von Einschränkungen der<br />

persönlichen Freiheit handelt. Auch die Straßburger Rechtsprechung misst der »Sicherheit«<br />

bislang keinen normativen Eigenwert zu. 115 Aus den kursorischen Erwähnungen<br />

durch Kommission und Gerichtshof ist zu schließen, dass »Sicherheit« lediglich<br />

im Zusammenhang mit »Freiheit« zu verstehen ist und den Schutz vor willkürlichen<br />

Freiheitsbeschränkungen meint. 116 »Sicherheit« in diesem Sinne ist also die Rechtssicherheit,<br />

welche durch die Wahrung der verfahrensmäßigen Beschränkung von Eingriffen<br />

in die »Freiheit« erreicht wird. Der Begriff reflektiert somit den übrigen Gewährleistungsgehalt<br />

des Art. 5 EMRK, so dass ihm eine selbstständige Garantiewirkung<br />

nicht zu entnehmen ist. 117<br />

33 Einen normativen Eigenwert des »Rechts auf Sicherheit« hat der EGMR allerdings<br />

im Fall Bozano angedeutet, in dem es um die verdeckte Vorbereitung und gewaltsame<br />

Durchführung einer de-facto-Auslieferung durch französische Behörden ging, die zudem<br />

einer französischen Gerichtsentscheidung, welche die Auslieferung untersagt hatte,<br />

widersprach. Hier stellte der EGMR das »Recht auf Sicherheit der Person« ausdrücklich<br />

neben das Freiheitsrecht, 118 augenscheinlich um zu suggerieren, dass »Sicherheit«<br />

einen besonderen Schutz gegen den Missbrauch der in Art. 5 Abs. 1 EMRK<br />

genannten Beschränkungsgründe gewährt. Der überschießende Schutzgehalt von<br />

»Sicherheit«, der nicht schon in der Garantie von »Freiheit« enthalten ist, bleibt damit<br />

allerdings weiter unklar, zumal die ausdrückliche Erwähnung in Bozano, soweit ersichtlich,<br />

lange Zeit ein Einzelfall blieb. In der Hauptsacheentscheidung Öcalan verfuhr<br />

der Gerichtshof ebenso, auch hier führte er das »Recht auf Sicherheit« augenscheinlich<br />

nur zur Affirmation des Willkürschutzes an. 119 In Giorgi Nikolaishvili unterstrich<br />

er angesichts eines staatlichen Handelns, das die Freiheitsentziehung auf der<br />

Grundlage von Täuschung als Druckmittel einsetzte, das Prinzip der Rechtssicherheit<br />

als Kern des »Rechts auf Sicherheit«. 120<br />

33<br />

34 Auch für das GG war im Parlamentarischen Rat ein »Recht auf Sicherheit« erörtert,<br />

letztlich jedoch verworfen worden, weil der Inhalt eines solchen rechtsunklar blieb<br />

und – ähnlich wie zu Art. 5 EMRK – »Sicherheit« nur als Funktion von »Freiheit«<br />

galt. 121 Wenn dennoch für die deutsche Verfassungsordnung gelegentlich ein Grundrecht<br />

auf Sicherheit diskutiert wird, 122 so ist damit in der Sache nur die Ableitung von<br />

Schutzansprüchen des Einzelnen gegen den Staat gemeint, um die Integrität individu-<br />

34<br />

115<br />

So ausdrücklich EGMR No. 24561/94, § 57 – Altun (2004).<br />

116<br />

Vgl. z. B. EGMR No. 24276/94, Rep. 1998-III, § 123 – Kurt; No. 31365/96, Rep. 2000-X, § 58 –<br />

Varbanov; No. 30469/96, unter 2a) – Kleis (1998), No. 543/03, Rep. 2006-X, § 30 – McKay (GK);<br />

No. 37048/05, § 52 – Giorgi Nikolaishvili (2009); No. 36760/06, § 170 – Stanev (GK) (2012). EKMR<br />

No. 7729/76, DR 7, 164, § 12 – Agee (Pl.); No. 7050/75, DR 19, 5, § 64 – Arrowsmith (Pl.).<br />

117<br />

Ebenso die ganz h. M., z. B. Trechsel, in: European System, 277 (284 f.); Villiger, Rn. 313;<br />

Meyer-Ladewig, Art. 5 Rn. 2; Grabenwarter/Pabel, § 21 Rn. 2; Elberling, in: Karpenstein/Mayer,<br />

Art. 5 Rn. 5; Baldus, in: Heselhaus/Nowak, § 14 Rn. 7 f.<br />

118<br />

EGMR No. 9990/82, A 111, §§ 54, 60 – Bozano.<br />

119<br />

EGMR No. 46221/99, § 86 – Öcalan (2003); No. 46221/99, Rep. 2005-IV, § 83 – Öcalan (GK).<br />

120<br />

EGMR No. 37048/05, § 53 – Giorgi Nikolaishvili (2009).<br />

121<br />

Vgl. JöR N. F. 1 (1951), 59 und 62.<br />

122<br />

Vgl. z. B. J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht,<br />

1987; M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, 84–<br />

118.<br />

Oliver Dörr 651


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

eller Rechtsgüter auch vor Beeinträchtigungen von nichtstaatlicher Seite zu bewahren.<br />

123 Es geht daher nicht wirklich um ein sachlich eigenständiges Grundrecht, sondern<br />

um die bekannte 124 Schutzpflichtfunktion bestimmter einzelgrundrechtlicher<br />

Gewährleistungen: Das sog. Grundrecht auf Sicherheit bezeichnet die Gesamtheit der<br />

grundrechtlichen Schutzpflichten. 125 Angesprochen ist also die Gewährleistungsstruktur,<br />

nicht der sachliche Gewährleistungsumfang der Freiheit der Person.<br />

III. Recht auf Unterrichtung<br />

35 Art. 5 Abs. 2 EMRK gewährt jedem Festgenommen das Recht, unverzüglich über die<br />

Gründe seiner Festnahme und über die ggf. gegen ihn erhobenen Beschuldigungen<br />

unterrichtet zu werden. Dieses Informationsrecht ist trotz der darin enthaltenen Bezugnahme<br />

auf ein Strafverfahren und des engen Wortlauts des Abs. 2 126 bei allen<br />

Freiheitsentziehungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK zu beachten. 127 Dies gilt auch<br />

für den Widerruf einer erfolgten Haftentlassung, wenn also die Grundlage der Maßnahme<br />

dieselbe wie bei einer früheren Freiheitsentziehung ist. 128 Die Unterrichtung<br />

soll es dem Betroffenen vor allem ermöglichen, die Rechtmäßigkeit seiner Festnahme<br />

einzuschätzen, um ggf. sein Recht auf gerichtliche Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4<br />

EMRK wirksam in Anspruch nehmen zu können. 129 Darüber hinaus aber wird man<br />

dem Wissen über das eigene Schicksal auch einen eigenständigen humanitären Wert<br />

zubilligen müssen. 130<br />

35<br />

36 Die Anforderungen an die Art und Weise der Unterrichtung sind von ihrem vorrangigen<br />

Zweck, dem Einzelnen die gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen, bestimmt.<br />

In Bezug auf die Form der Unterrichtung enthält Art. 5 Abs. 2 EMRK nur das – eigentlich<br />

überflüssige – Gebot einer dem Betroffenen verständlichen Sprache. Daraus folgt<br />

jedoch nicht – wie nach Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK – das Recht, von Dolmetscherkosten<br />

verschont zu bleiben. 131 Im Übrigen ist keine bestimmte Form vorgeschrieben, 132 es<br />

genügt also eine mündliche Unterrichtung, 133 ggf. unter mündlicher Übersetzung eines<br />

vorliegenden Haftbefehls. Ebenso reicht die Aushändigung des mit Gründen ver-<br />

36<br />

123<br />

Vgl. Robbers (Fn. 122), 121.<br />

124<br />

→ Funktionen von Grund- und Menschenrechten, Kap. 6 Rn. 21 ff., und für die Freiheit der<br />

Person → Rn. 17.<br />

125<br />

Isensee (Fn. 122), 33; Möstl (Fn. 122), 90.<br />

126<br />

Dessen Originalwortlaut bezieht sich nur auf »everyone who is arrested«/»toute personne<br />

arrêtée«, während die Beschränkungsgründe in Abs. 1 alle (auch) von »detention«/»détention« sprechen.<br />

127<br />

EGMR No. 11509/85, A 170-A, §§ 27 f. – Van der Leer; No. 49491/99, § 55 – Bordovskiy (2005);<br />

No. 30471/08, § 136 - Abdolkhani u. Karimnia (2009).<br />

128<br />

Vgl. EGMR No. 7215/75, A 46, § 66 – X v. Vereinigtes Königreich.<br />

129<br />

EGMR No. 11509/85, A 170-A, § 28 – Van der Leer; Nos. 12244/86 u. a., A 182, § 40 – Fox u. a.;<br />

No. 26889/95, § 47 – H. B. v. Schweiz (2001); No. 51564/99, Rep. 2002-I, § 50 – Eonka; No. 49491/99,<br />

§ 55 – Bordovskiy (2005).<br />

130<br />

Ebenso Trechsel, in: European System, 277 (315).<br />

131<br />

Trechsel, in: European System, 277 (318). Zu Art. 6 Abs. 3 EMRK → Grundsatz des fairen<br />

Verfahrens, Kap. 14 Rn. 137 ff.<br />

132<br />

EGMR No. 49491/99, § 56 – Bordovskiy (2005).<br />

133<br />

EKMR No. 8098/77, DR 16, 111 (113) – X v. Deutschland (Pl.).<br />

652<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

sehenen Haftbefehls 134 oder auch die Gewissheit, dass der Betroffene über die Gründe<br />

seiner Festnahme durch einen weithin publizierten (internationalen) Haftbefehl informiert<br />

ist 135 . Die Information muss in sprachlich einfacher und dem Betroffenen verständlicher<br />

Weise erfolgen. 136 Allerdings soll es zulässig sein, wenn die Haftgründe<br />

nicht ausdrücklich benannt werden, sondern sich nur aus dem Zusammenhang der<br />

ersten Vernehmung ergeben. 137 Dagegen genügt es nicht, wenn der Betroffene von<br />

seiner zwangsweisen Unterbringung erst aus der schlichten Tatsache seiner Isolierung<br />

erfährt. 138 Die Unterrichtung des Betroffenen selbst steht naturgemäß im Vordergrund<br />

der staatlichen Verpflichtung. Ist er jedoch z. B. wegen Geisteskrankheit nicht in der<br />

Lage, sie zu verstehen und darauf sachgerecht zu reagieren, so wird der gesetzliche<br />

oder anwaltliche Vertreter zu informieren sein. 139<br />

37 Der genaue Umfang der Unterrichtung ist in Abs. 2 nicht weiter festgelegt. Ein Vergleich<br />

mit der ähnlichen Informationspflicht in Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK ergibt immerhin,<br />

dass die Information hier weniger detailliert sein kann. Insgesamt ist die Unterrichtung<br />

dann ausreichend, wenn der Betroffene auf ihrer Grundlage die Rechtmäßigkeit<br />

der Maßnahme einschätzen und Schritte zu ihrer Anfechtung unternehmen<br />

kann. 140 Die bloße Angabe der Rechtsgrundlage für die Verhaftung genügt jedenfalls<br />

ebensowenig 141 wie die pauschale Bezugnahme auf eine staatliche Notstandsgesetzgebung<br />

oder eine allgemeine parlamentarische Bekanntmachung 143 . Vielmehr muss<br />

sich die Unterrichtung auf den konkreten Fall beziehen und auf diejenigen Gründe<br />

erstrecken, die nach der gesetzlichen Regelung Voraussetzung für die Freiheitsentziehung<br />

sind. Abschiebungshäftlingen muss dagegen nur die Tatsache der Ausweisung<br />

mitgeteilt werden, nicht aber ihre genauen Gründe, 144 während im Fall der Auslieferungshaft<br />

wenigstens das Zielland zu nennen ist 145 .<br />

37<br />

38 Die zeitliche Gewährleistung ist für die Erfüllung des Normzwecks von Art. 5 Abs. 2<br />

EMRK, die wirksame Inanspruchnahme von Rechtsmitteln, von entscheidender Bedeutung.<br />

Der Wortlaut verlangt die Unterrichtung »promptly« bzw. »dans le plus court<br />

délai« und meint damit, dem französischen Wortlaut nach zu urteilen, eine sehr viel<br />

38<br />

134<br />

EGMR No. 10444/83, A 151, § 32 – Lamy.<br />

135<br />

Vgl. EGMR No. 46221/99, unter IV. B. – Öcalan (Zul.) (2000).<br />

136<br />

EGMR No. 12244/86 u.a, A 182, § 40 – Fox u. a.; No. 26889/95, § 47 – H. B. v. Schweiz (2001);<br />

No. 51564/99, Rep. 2002-I, § 50 – Eonka; No. 49491/99, § 55 – Bordovskiy (2005); No. 11036/03, § 63<br />

– Ladent (2008); No. 30471/08, § 136 - Abdolkhani u. Karimnia (2009); No. 13472/06, § 67 – Liuiza<br />

(2012).<br />

137<br />

EGMR No. 12244/86 u.a, A 182, § 41 – Fox u. a.; No. 14310/88, A 300-A, § 77 – Murray;<br />

No. 20869/92, Rep. 2000-VIII, § 56 – Dikme; No. 13472/06, § 69 – Liuiza (2012).<br />

138<br />

EGMR No. 11509/85, A 170-A, § 31 – Van der Leer.<br />

139<br />

Meyer-Ladewig, Art. 5 Rn. 60; Elberling, in: Karpenstein/Mayer, Art. 5 Rn. 98.<br />

140<br />

EGMR No. 26889/95, § 49 – H. B. v. Schweiz (2001); No. 30471/08, § 136 – Abdolkhani u.<br />

Karimnia (2009). EKMR No. 8022/77 u. a., DR 25, 15, § 208 – McVeigh, O’Neill u. Evans; No. 9614/81,<br />

DR 34, 119, § 3 – G, S u. M v. Österreich. Jacobs/White, 87.<br />

141<br />

EGMR No. 12244/86 u.a, A 182, § 41 – Fox u. a.; No. 14310/88, A 300-A, § 76 – Murray;<br />

No. 13472/06, § 68 – Liuiza (2012).<br />

142<br />

EGMR No. 5310/71, A 25, § 198 – Irland v. Vereinigtes Königreich (Pl.).<br />

143<br />

EGMR No. 13229/03, § 53 – Saadi v. Vereinigtes Königreich (2006).<br />

144<br />

EKMR No. 6871/75, EuGRZ 1979, 74 (78) – Caprino (Pl.) (insoweit nicht abgedruckt in DR 12,<br />

14).<br />

145<br />

Vgl. EGMR No. 49491/99, §§ 57 f. – Bordovskiy (2005).<br />

Oliver Dörr 653


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

kürzere Frist als etwa Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK. Die Spruchpraxis legt hier zwar<br />

keine konkreten Fristen fest. Da die Festnahme aber faktisch nicht erfolgen kann, ohne<br />

dass zuvor Gründe dafür entstanden sind, die dem festnehmenden Staatsorgan bekannt<br />

sind, muss die Unterrichtung, wenn nicht unmittelbar bei der Festnahme, so<br />

doch spätestens bei der ersten Vernehmung erfolgen, wenn diese innerhalb weniger<br />

Stunden stattfindet. 146 Eine gewisse Verzögerung ist dann nicht zu beanstanden, wenn<br />

der Betroffene sie z. B. durch die Verschleierung seiner Identität verursacht hat. 147 Eine<br />

Verzögerung von zehn Tagen ist jedoch in keinem Fall akzeptabel, 148 auch eine Unterrichtung<br />

erst nach 76 Stunden Gewahrsam genügt den Anforderungen von Art. 5<br />

Abs. 2 EMRK nicht 149 .<br />

39 Im Text des GG findet sich kein entsprechendes allgemeines Informationsrecht. Nur<br />

für den Fall der vorläufigen Festnahme schreibt die Spezialregelung des Art. 104 Abs. 3<br />

Satz 1 GG die Unterrichtung des Festgenommenen im Rahmen der richterlichen Vorführung<br />

vor, welche spätestens am folgenden Tag stattzufinden hat. Der Richter hat<br />

dem Betroffenen die Gründe für seine Verhaftung bekanntzugeben und ihm Gelegenheit<br />

zu Einwendungen zu geben. Seine Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung<br />

darf sich grundsätzlich nicht auf Tatsachen stützen, welche dem Betroffenen<br />

nicht mitgeteilt wurden. 150 Auch im Fall der nachträglichen richterlichen Entscheidung<br />

gemäß Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG ist der Betroffene im Rahmen der regelmäßig<br />

gebotenen persönlichen Anhörung über die Gründe, die zu der Freiheitsentziehung<br />

geführt haben, zu informieren. 151<br />

39<br />

40 Darüber hinaus gewährt Art. 104 Abs. 4 GG im Falle der Freiheitsentziehung ausdrücklich<br />

ein subjektives Recht 152 auf Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer<br />

Vertrauensperson. Es handelt sich um eine ergänzende Gewährleistung, die ein spurloses<br />

Verschwinden von Personen verhindern soll. Sie wird durch jede richterliche<br />

Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung ausgelöst,<br />

auch durch solche im Beschwerdeverfahren 153 oder zur Anordnung der Haftfortdauer<br />

. Nicht erfasst ist dagegen die vorläufige Freiheitsentziehung durch die Exekuti-<br />

40<br />

ve. 155<br />

41 Die Benachrichtigung gemäß Art. 104 Abs. 4 GG muss zwingend und von Amts 41<br />

wegen erfolgen. Sie ist durch den Richter zu veranlassen, welcher die Freiheitsentzie-<br />

146<br />

In EGMR No. 12244/86 u.a, A 182, § 42 – Fox u. a. – akzeptierte der EGMR Unterrichtungen<br />

als »prompt«, die innerhalb von drei bis fünf Stunden nach der Festnahme stattfanden, in No. 14310/88,<br />

A 300-A, §§ 78 ff. – Murray solche innerhalb von ca. zwei Stunden.<br />

147<br />

EGMR No. 20869/92, Rep. 2000-VIII, § 56 a. E. – Dikme.<br />

148<br />

EGMR No. 11509/85, A 170-A, §§ 30 f. – Van der Leer.<br />

149<br />

EGMR No. 13229/03, § 55 – Saadi v. Vereinigtes Königreich (2006); No. 13229/03, § 85 – Saadi<br />

v. Vereinigtes Königreich (GK) (2008).<br />

150<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 53.<br />

151<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 53 unter Verweis auf die Rechtsprechung<br />

zu Art. 103 I GG.<br />

152<br />

BVerfGE 16, 119 (122).<br />

153<br />

BVerfGE 16, 119 (123).<br />

154<br />

BVerfGE 38, 32 (34).<br />

155<br />

Dennoch enthalten auch für diesen Fall fast alle Polizeigesetze eine Benachrichtigungspflicht,<br />

vgl. z. B. § 41 Abs. 2 BPolG, Art. 19 Abs. 2 BayPAG, § 32 Abs. 2 BlnASOG, § 20 Abs. 2 NSOG, § 37<br />

Abs. 2 PolGNW, § 16 Abs. 2 RhPfPOG.<br />

654<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

hung oder ihre Fortdauer anordnet. 156 Mangels in der Verfassung zugelassener Ausnahme<br />

kann die Benachrichtigung auch nicht etwa wegen einer möglichen Gefährdung<br />

des Untersuchungszwecks unterbleiben. 157 Da sie jedoch vorrangig dem Individualinteresse<br />

des Betroffenen dient, dürfte dieser in begründeten Fällen auf eine<br />

Benachrichtigung überhaupt verzichten können. 158 Insbesondere kann der durch eine<br />

Benachrichtigung zu erwartende Schaden für die persönlichen Beziehungen des Betroffenen<br />

angesichts der kurzen Dauer einer Freiheitsentziehung unverhältnismäßig<br />

sein. Angesichts des auch objektiv-rechtlichen Gehalts der Norm wird der Richter im<br />

Verzichtsfall das Diskretionsinteresse des Betroffenen gegen die staatliche Informationspflicht<br />

abzuwägen haben. 159<br />

42 Der über die (Fortdauer der) Freiheitsentziehung entscheidende Richter hat auch für<br />

die Unverzüglichkeit der Benachrichtigung zu sorgen. Erfolgt diese im üblichen Geschäftsgang<br />

erst nach über zwei Wochen, so ist Art. 104 Abs. 4 GG verletzt. 160<br />

42<br />

43 Durch die Benachrichtigung soll ein unabhängiger Dritter über den Verbleib des<br />

Betroffenen in Kenntnis gesetzt werden. Der zuständige Richter wählt die in Betracht<br />

kommende Person nach pflichtgemäßem Ermessen aus, und zwar grundsätzlich – soweit<br />

dem nicht sachliche Gründe entgegenstehen – im Einvernehmen mit dem Betroffenen.<br />

Art. 104 Abs. 4 GG stellt auf das tatsächliche Nähe- oder Vertrauensverhältnis<br />

zum Betroffenen ab, nicht auf ein staatlicherseits begründetes Betreuungs- oder Vertretungsrecht.<br />

Dann kann Vertrauensperson in diesem Sinne auch ein Pflichtverteidiger<br />

sein, wenn er auf Antrag des Betroffenen bestellt wurde. 162 Der Dritte hat aus<br />

Art. 104 Abs. 4 GG selbst keinen Anspruch auf Benachrichtigung. 163<br />

43<br />

44 Ist von der Freiheitsentziehung ein Ausländer betroffen, so tritt neben die verfassungsrechtliche<br />

Benachrichtigungspflicht diejenige nach Völkervertragsrecht: Gemäß<br />

Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK ist in einem solchen Fall auf Verlangen des Betroffenen unverzüglich<br />

die konsularische Vertretung seines Heimatstaates zu unterrichten. Außerdem<br />

müssen die staatlichen Behörden den Betroffenen selbst über seine Rechte aus der<br />

Norm, d. h. vor allem auf konsularische Betreuung, informieren. In seiner Entscheidung<br />

im Fall La Grand hat der IGH klargestellt, dass es sich hierbei (auch) um subjektive<br />

Rechte des Einzelnen handelt. 164 Die unmittelbare Wirksamkeit der Bestimmung<br />

44<br />

156<br />

BVerfGE 16, 119 (123).<br />

157<br />

Grabitz (Fn. 1), Rn. 29; Wittreck, Rn. 39; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 43; Degenhart,<br />

in: Sachs, GG, Art. 104 Rn. 28.<br />

158<br />

Ebenso Grabitz (Fn. 1), Rn. 29; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 104 Rn. 39 m. w. N.; einschränkend<br />

Wittreck, Rn. 39. A. A. Hantel, Begriff, 52 m. w. N.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104<br />

Rn. 26.<br />

159<br />

Ebenso Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 74.<br />

160<br />

BVerfGE 38, 32 (34).<br />

161<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 73.<br />

162<br />

BVerfGE 16, 119 (124); 38, 32 (34).<br />

163<br />

BVerwG 1 C 155/79 v. 10. 7. 1984, DVBl. 1984, 1080; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG,<br />

Art. 104 Rn. 71; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 104 Rn. 36.<br />

164<br />

LaGrand Case (Germany v. United States of America), ICJ Reports 2001, 466, § 77. Zu diesem<br />

Aspekt des Falles z. B. K. Oellers-Frahm, Die Entscheidung des IGH im Fall LaGrand: Eine Stärkung<br />

der internationalen Gerichtsbarkeit und der Rolle des Individuums im Völkerrecht, EuGRZ 2001, 265<br />

(267 f.); O. Spiermann, The LaGrand Case and the Individual as a Subject of International Law, ZöR<br />

2003, 197 (206–215); B. Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht, AVR 43 (2005), 312.<br />

Oliver Dörr 655


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

unterstellt, wären somit auch die Gewährleistungen aus Art. 36 Abs. 1 WÜK als völkerrechtliche<br />

Individualrechte vor deutschen Gerichten durchzusetzen.<br />

IV. Recht auf richterliche Vorführung<br />

45 Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 1. Halbs. 165 EMRK gewährleistet den gemäß Abs. 1 lit. c Festgehaltenen<br />

das Recht, umgehend einem Richter oder einer vergleichbaren Amtsperson vorgeführt<br />

zu werden. Der hohe Rang der Freiheitsgarantie kommt hierin insoweit zur<br />

Geltung, als die staatliche Exekutive sie nur vorläufig und vorübergehend beschränken<br />

kann und der Betroffene innerhalb kürzester Zeit dem Schutz der richterlichen Gewalt<br />

zu unterstellen ist. Das deutsche Grundgesetz bringt dies durch den umfassenden<br />

Richtervorbehalt in Art. 104 Abs. 2 GG (→ Rn. 147–149) zum Ausdruck, der zudem für<br />

Untersuchungshäftlinge um das Recht auf richterliche Vorführung (Art. 104 Abs. 3<br />

Satz 1 GG) ergänzt ist. Die EMRK gewährt das sofortige Recht auf einen Richter zunächst<br />

nur Untersuchungshäftlingen und Personen im Präventivgewahrsam. Dagegen<br />

findet Art. 5 Abs. 3 EMRK – wie auch Art. 104 Abs. 3 GG 166 – keine Anwendung in<br />

Fällen der Auslieferungs- oder Abschiebungshaft 167 sowie erst recht nicht auf Konstellationen,<br />

die überhaupt nicht von Art. 5 Abs. 1 EMRK erfasst sind. 168<br />

45<br />

46 Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK verbürgt eine erste richterliche Vorführung, nicht dagegen<br />

ihre (regelmäßige) Wiederholung. 169 Allerdings ist diese erste Vorführung von<br />

Amts wegen einzuleiten und darf – im Unterschied zum Verfahren nach Abs. 4 – nicht<br />

etwa von einem Antrag des Betroffenen abhängen. 170 Daher kann dem Betroffenen<br />

auch eine möglicherweise fehlerhafte Antragstellung nicht entgegengehalten werden.<br />

46<br />

47 Die durch Art. 5 Abs. 3 EMRK gebotene Vorführung meint zunächst dem Wortlaut<br />

(»before a judge«/»devant un juge«) entsprechend die unmittelbare physische Konfrontation<br />

des Betroffenen mit dem Richter. Die persönliche Inaugenscheinnahme<br />

durch den Richter dient dem Nebenzweck der Vorschrift, den Einzelnen vor Misshandlungen<br />

in staatlichem Gewahrsam zu schützen, weil sie im Rahmen der unverzüglich<br />

durchzuführenden Vorführung bemerkt werden könnten. 171<br />

47<br />

48 Weiter garantiert die Vorschrift ein jedenfalls ansatzweise justizförmiges Verfahren,<br />

das zwar nicht in jedem Fall dem Standard des Art. 6 Abs. 1 EMRK genügen, aber<br />

minimale Verfahrensgarantien beachten muss; im Wesentlichen gilt der nach Art. 5<br />

48<br />

165<br />

Nach der überarbeiteten offiziellen Übersetzung von Art. 5 EMRK (BGBl. 2010 II 1199 [1201])<br />

sind nunmehr auch in der deutschen Sprachfassung das Recht auf richterliche Vorführung und auf<br />

eine angemessene Haftdauer in einem Satz zusammengefasst. Dies entspricht dem englischen und<br />

französischen Originalwortlaut.<br />

166<br />

BGH 1 ARs 49/51 v. 6. 12. 1951, BGHSt 2, 44 (47–50).<br />

167<br />

EGMR No. 18580/91, A 311, § 53 – Quinn; EKMR No. 7317/75, DR 6, 141 (153) – Lynas (Pl.).<br />

168<br />

EGMR No. 34578/97, Rep. 2000-IX, § 75 – Ječius.<br />

169<br />

EGMR No. 34578/97, Rep. 2000-IX, § 86 – Ječius; No. 37975/97, § 25 – Graužinis (2000).<br />

170<br />

EGMR No. 3394/03, § 122 – Medvedyev (GK) (2010); No. 11036/03, § 74 – Ladent (2008);<br />

No. 33065/03, § 48 – Samoila u. Cionca (2008); No. 543/03, Rep. 2006-X, § 34 – McKay (GK);<br />

No. 27915/95, § 50 – Niedbala (2000); No. 25642/94, Rep. 1999-III, § 49 – Aquilina (GK); No. 9362/81<br />

u. a., A 78, § 46 – Van der Sluijs u. a.; No. 9626/81 u. a., A 79, § 36 – Duinhof u. Duijf.<br />

171<br />

Vgl. EGMR No. 21987/93, Rep. 1996-VI, § 76 – Aksoy; No. 25642/94, Rep. 1999-III, § 49 – Aquilina<br />

(GK); No. 20869/92, Rep. 2000-VIII, § 66 – Dikme; No. 22279/93, § 65 – Altay (2001); No. 543/03,<br />

Rep. 2006-X, § 33 – McKay (GK); No. 11036/03, § 72 – Ladent (2008); No. 39630/09, § 231 – El-Masri<br />

(GK) (2012).<br />

656<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

Abs. 4 EMRK gebotene Verfahrensstandard (→ Rn. 80–88) auch hier. 172 Insbesondere<br />

hat der Richter den Betroffenen tatsächlich persönlich anzuhören, bei seiner Entscheidung<br />

die für und wider die Freiheitsentziehung sprechenden Umstände zu berücksichtigen<br />

und nach Maßgabe rechtlicher Kriterien über ihre Fortdauer zu entscheiden. 173<br />

Diese Prüfung muss von Amts wegen umfassend sein und darf sich nicht auf einen<br />

einzelnen Aspekt, wie z. B. die Rechtmäßigkeit der Haft, beschränken. 174 Die Anwesenheit<br />

eines Rechtsbeistands des Betroffenen ist in diesem Verfahren nicht zwingend<br />

geboten, 175 ein solches Erfordernis kann sich aber aus den Umständen des Einzelfalls<br />

ergeben 176 . Auch muss die Anhörung grundsätzlich nicht öffentlich sein. 177 In der<br />

Haftentscheidung sind die tatsächlichen Grundlagen, auf denen sie beruht, anzugeben.<br />

Dabei muss die Begründung sich auf den konkreten Einzelfall beziehen und<br />

darf sich nicht in abstrakten, vorgefertigten Formulierungen erschöpfen. 179 Liegen<br />

nach Auffassung des Richters keine Gründe vor, welche die Haft rechtfertigen, so hat<br />

er die Haftentlassung anzuordnen. 180<br />

49 Der quasi-judizielle Charakter des Vorführungsverfahrens und sein Zweck, der<br />

Schutz des Einzelnen vor der Exekutive, bestimmen die Anforderungen des Art. 5<br />

Abs. 3 Satz 1 EMRK an die Amtsperson, welcher der Betroffene vorzuführen ist. Der<br />

Normtext nennt neben dem Richter auch richterähnliche Amtspersonen (»other officer<br />

authorised by law to exercise judicial power«), die wenigstens die Kernelemente<br />

der richterlichen Stellung aufweisen müssen. Die Amtsperson muss von der Exekutive<br />

und den Verfahrensbeteiligten unabhängig sein und darf hinsichtlich der Haftkontrolle<br />

nur den Weisungen ebenso unabhängiger Amtsträger unterliegen. 181 Es darf keine<br />

»objektiv gerechtfertigten Zweifel« an der Unparteilichkeit der Amtsperson geben,<br />

allein der »objektive Anschein« der Parteilichkeit zum Zeitpunkt der Haftentscheidung<br />

schließt sie von der Funktion nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK aus. 182 Eine solche<br />

Unparteilichkeit ist z. B. nicht gewährleistet, wenn der Beamte im selben Fall die Funk-<br />

49<br />

172<br />

So EGMR No. 4493/04, § 76 – Lebedev (2007).<br />

173<br />

EGMR No. 7710/76, A 34, § 31 – Schiesser; No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 146 – Assenov u. a.;<br />

No. 27267/95, Rep. 1999-I, § 60 – Hood (GK); No. 31195/96, Rep. 1999-II, § 49 – Nikolova (GK);<br />

No. 25642/94, Rep. 1999-III, § 47 – Aquilina (GK); No. 26889/95, § 55 – H. B. v. Schweiz (2001);<br />

No. 7064/05, § 81 – Mamedova (2006); No. 33065/03, § 49 – Samoila u. Cionca (2008).<br />

174<br />

EGMR No. 25642/94, Rep. 1999-III, § 52 – Aquilina (GK).<br />

175<br />

EGMR No. 7710/76, A 34, § 36 – Schiesser.<br />

176<br />

Vgl. z. B. EGMR No. 4493/04, §§ 84–91 – Lebedev (2007).<br />

177<br />

EGMR No. 67175/01, Rep. 2005-XII, §§ 34–41 – Reinprecht; No. 4493/04, § 82 – Lebedev<br />

(2007); No. 5829/04, § 154 – Khodorkovskiy (2011).<br />

178<br />

EGMR No. 27267/95, Rep. 1999-I, § 60 – Hood (GK); No. 7064/05, § 81 – Mamedova (2006).<br />

179<br />

Vgl. EGMR No. 37048/05, § 73 – Giorgi Nikolaishvili (2009).<br />

180<br />

EGMR No. 7710/76, A 34, § 31 – Schiesser; No. 25642/94, Rep. 1999-III, § 47 – Aquilina (GK);<br />

No. 33065/03, § 49 – Samoila u. Cionca (2008).<br />

181<br />

EGMR No. 7710/76, A 34, § 31 – Schiesser; No. 37104/06, § 57 – Moulin (2010) m. w. N.<br />

182<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 13867/88, A 249-A, § 21 – Brincat; No. 24760/94, Rep. 1998-VIII,<br />

§ 146 – Assenov u.a.; No. 27915/95, § 49 – Niedbala (2000); No. 26889/95, § 55 – H. B. v. Schweiz<br />

(2001); No. 3394/03, § 61 – Medvedyev u. a. (2008). Für die gleichgelagerte Rechtsprechung zu Art. 6<br />

Abs. 1 EMRK → Grundsatz des fairen Verfahrens, Kap. 14 Rn. 58.<br />

Oliver Dörr 657


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

tion der Strafverfolgungsbehörde ausübt oder ausüben könnte 183 oder wenn seine Entscheidung<br />

von der Anklagebehörde revidiert werden kann 184 .<br />

50 Der Zweck des Verfahrens gebietet eine entsprechende Zuständigkeit und Entscheidungsbefugnis<br />

des Richters oder der richterähnlichen Amtsperson. Diese/r muss für<br />

eine Kontrolle der bestehenden Freiheitsentziehung zuständig sein und die Kompetenz<br />

haben, ggf. die Freilassung des Betroffenen anzuordnen. 185 Die Vorführung vor ein<br />

Gericht, das nur über die Zulassung der Anklage o. ä. entscheidet, genügt also nicht.<br />

Die Befugnis der Amtsperson zur verbindlichen Entscheidung muss sich aus dem Gesetz<br />

und nicht nur aus der tatsächlichen Verfahrenspraxis ergeben. 186 Demgegenüber<br />

muss der Richer in diesem Verfahrensstadium nicht zwingend schon zur Haftaussetzung<br />

gegen Kaution befugt sein. 187<br />

50<br />

51 Schließlich hat die richterliche Vorführung »unverzüglich« (»promptly«/»aussitôt«)<br />

zu erfolgen. Daraus ergibt sich auch im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 EMRK keine für<br />

jeden Fall exakt bestimmbare Frist. Als allgemeine Leitlinie zeigt immerhin die Wortwahl<br />

der Norm, dass die Zeitangabe hier sehr viel strikter zu verstehen ist als etwa in<br />

Abs. 3 Satz 2 oder in Abs. 4, 188 dagegen wohl weniger strikt als in Abs. 2. Allerdings<br />

behält sich der EGMR auch hier vor, jeden Einzelfall nach seinen besonderen Umständen<br />

zu beurteilen. 189 So können etwa die besonderen Schwierigkeiten der Terrorismusbekämpfung<br />

geeignet sein, die nach Abs. 3 Satz 1 zulässige Frist zu verlängern.<br />

Selbst in diesem Zusammenhang aber hält der Gerichtshof eine Frist von vier Tagen<br />

ohne richterliche Vorführung für zu lang und daher für einen Verstoß gegen Art. 5<br />

Abs. 3 EMRK. 190 Eine Vorführung zwei Tage nach der Festnahme akzeptiert er dagegen<br />

ohne nähere Begründung als »unverzüglich«. 191 Es ist also davon auszugehen,<br />

51<br />

183<br />

EGMR No. 37104/06, § 58 – Moulin (2010); No. 3394/03, § 124 – Medvedyev (GK) (2010);<br />

No. 27915/95, § 49 – Niedbala (2000); No. 31195/96, Rep. 1999-II, § 49 – Nikolova (GK); No. 27267/95,<br />

Rep. 1999-I, § 57 – Hood (GK); No. 13867/88, A 249-A, §§ 20 f. – Brincat; No. 12794/87, A 188, § 43<br />

– Huber; No. 8805/79 u. a., A 77, § 49 – De Jong u. a.; No. 9362/81 u. a., A 78, § 44 – Van der Sluijs<br />

u. a.; No. 9626/81 u. a., A 79, § 38 – Duinhof u. Duijf.<br />

184<br />

EGMR No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 148 – Assenov u. a.<br />

185<br />

EGMR No. 5310/71, A 25, § 199 – Irland v. Vereinigtes Königreich (Pl.); No. 9362/81 u. a., A<br />

78, § 48 – Van der Sluijs u. a.; No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 146 – Assenov u.a.; No. 31195/96,<br />

Rep. 1999-II, § 49 – Nikolova (GK); No. 26889/95, § 55 – H. B. v. Schweiz (2001); No. 543/03,<br />

Rep. 2006-X, § 35 – McKay (GK); No. 3394/03, § 124 – Medvedyev (GK) (2010).<br />

186<br />

EGMR No. 8805/79 u. a., A 77, § 48 – De Jong u. a.; No. 9362/81 u. a., A 78, § 43 – Van der<br />

Sluijs u. a..<br />

187<br />

EGMR No. 543/03, Rep. 2006-X, §§ 36, 47 – McKay (GK); No. 18837/06, § 50 – Allen (2010).<br />

188<br />

EGMR No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 59 – Brogan u. a. (Pl.); No. 11701/85, A 181-A, § 64 – E<br />

v. Norwegen.<br />

189<br />

EGMR No. 8805/79 u. a., A 77, § 52 – De Jong u. a.; No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 59 – Brogan<br />

u. a. (Pl.); No. 12843/87, A 221, § 24 – Koster; No. 25642/94, Rep. 1999-III, § 48 – Aquilina (GK);<br />

Nos. 17019/02 u. 30070/02, § 35 – I·pek u. a. (2009).<br />

190<br />

Ausdrücklich als Höchstfrist bezeichnet in EGMR Nos. 11209/84 u. a., A 145-B, § 61 f. – Brogan<br />

u. a. (Pl.); No. 543/03, Rep. 2006-X, § 47 a. E. – McKay (GK); Nos. 17019/02 u. 30070/02, § 36 – I·pek<br />

u. a. (2009). Ebenso z. B. EGMR No. 21987/93, Rep. 1996-VI, § 66 – Aksoy; No. 20869/92, Rep. 2000-<br />

VIII, §§ 63 f. – Dikme; No. 22279/93, §§ 63 f. – Altay (2001); No. 56003/00, § 108 – Aş an (2007);<br />

No. 33065/03, §§ 50–52 – Samoila u. Cionca (2008). In No. 46221/99, §§ 107–110 – Öcalan (2003)<br />

waren sieben Tage, in No. 8805/79 u. a., A 77, § 53 – De Jong u. a. sechs Tage und in No. 12843/87,<br />

A 221, § 25 – Koster fünf Tage zu lang.<br />

191<br />

EGMR No. 25642/94, Rep. 1999-III, § 51 – Aquilina (GK); No. 37975/97, § 25 – Graužinis<br />

(2000).<br />

658<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

dass in »normalen« Ermittlungsverfahren nur eine Frist von unter vier Tagen konventionskonform<br />

ist. Geht es um die Inhaftierung von Minderjährigen, kann auch bereits<br />

eine kürzere Frist konventionswidrig sein, 192 während unter außergewöhnlichen Umständen,<br />

wie z. B. bei einer Festnahme auf See, auch eine längere Zeitspanne noch<br />

»unverzüglich« sein kann, z. B. wenn diese notwendig ist, um einen Hafen des Heimatstaates<br />

für die richterliche Vorführung zu erreichen; dabei kommt es dann entscheidend<br />

darauf an, dass es im Einzelfall unmöglich war (»materially impossible«), den<br />

Betroffenen früher einem Richter vorzuführen. 193<br />

52 Das Recht aus Art. 5 Abs. 3 EMRK ist auch ohne richterliche Vorführung nicht verletzt,<br />

wenn der Betroffene ohne gerichtliche Kontrolle »unverzüglich« wieder freigelassen<br />

wird, bevor eine richterliche Kontrolle der Inhaftierung tunlich erscheint. 194<br />

Garantiert ist im Ergebnis also ein Recht auf »unverzügliche« Freilassung oder Vorführung.<br />

52<br />

53 Auch im GG ist die richterliche Vorführung nur als Sonderregelung für den Fall, dass<br />

jemand unter dem Verdacht einer Straftat vorläufig festgenommen wird, ausdrücklich<br />

vorgesehen (Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG). Es handelt sich um einen speziellen Richtervorbehalt,<br />

welcher die Regelungen des Art. 104 Abs. 2 Satz 2, 3 GG ergänzt und modifiziert.<br />

Er ist Ausdruck der ebenfalls verfassungsrechtlich verankerten Unschuldsvermutung,<br />

die bei einer Festnahme unter Straftatverdacht in Frage steht. Art. 104<br />

Abs. 3 Satz 1 GG ordnet die Vorführung immer dann an, wenn eine Person aus strafprozessualen<br />

Gründen festgenommen wurde, und zwar ohne Rücksicht darauf, durch<br />

wen und ob dies aufgrund eines richterlichen Haftbefehls geschah oder nicht. 196 Für<br />

diese und die übrigen Formen der Freiheitsentziehung ergibt sich ein entsprechender<br />

Schutz des Einzelnen gegen willkürliches Handeln der Exekutive aus dem allgemeinen<br />

Richtervorbehalt des GG (→ Rn. 147–149).<br />

53<br />

54 Die Pflicht zur Vorführung nach Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG setzt mit dem Zeitpunkt<br />

der Festnahme ein, sie endet mit Ablauf des auf die Freiheitsentziehung folgenden<br />

Tages. Das GG ist hier also deutlich konkreter als Art. 5 Abs. 3 EMRK. Ist der Festgenommene<br />

bis zum Ablauf dieser verfassungsrechtlichen Höchstfrist nicht vorgeführt,<br />

so ist er zu entlassen. 197 Dagegen kann die richterliche Entscheidung über die Fortdauer<br />

der Haft – anders als bei der präventiven Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2<br />

Satz 2 GG – auch nach Ablauf dieser Frist ergehen, 198 solange dies »unverzüglich«<br />

nach der Vernehmung geschieht (Art. 104 Abs. 3 Satz 2 GG). Gesetzgeber und Justiz<br />

haben die richterliche Vorführung so auszugestalten, dass eine rechtzeitige Vorführung<br />

möglich ist.<br />

54<br />

192<br />

Vgl. EGMR Nos. 17019/02 u. 30070/02, § 36 – I·pek u. a. (2009): drei Tage und neun Stunden.<br />

193<br />

In EGMR No. 37388/97, Rep. 1999-II, 435 (447) – Rigopoulos (Zul.) waren 16 Tage noch unverzüglich;<br />

13 Tage in No. 3394/03, §§ 67 f. – Medvedyev u. a. (2008); No. 3394/03, §§ 127–133 – Medvedyev<br />

(GK) (2010).<br />

194<br />

EGMR No. 8805/79 u. a., A 77, § 52 – De Jong u. a.; No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 58 – Brogan<br />

u.a. (Pl.).<br />

195<br />

Zu dieser BVerfGE 82, 106 (114 f.).<br />

196<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 67.<br />

197<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 67.<br />

198<br />

Grabitz (Fn. 1), Rn. 28; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 42; Gusy, in: v. Mangoldt/<br />

Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 69.<br />

Oliver Dörr 659


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

55 Das Verfahren der richterlichen Vorführung konkretisiert für den Sonderfall der<br />

vorläufigen Festnahme die Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und<br />

geht dabei in Einzelheiten über dessen allgemeine Anforderungen hinaus. So hat der<br />

Richter den Betroffenen grundsätzlich persönlich zu vernehmen, ebenso wie im Rahmen<br />

von Art. 5 Abs. 3 EMRK ist also die unmittelbare Gegenüberstellung gefordert. 199<br />

Die bloße Kenntnisnahme des Richters von der Festnahme genügt nicht, wie sich aus<br />

den im Relativsatz des Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG festgeschriebenen richterlichen<br />

Handlungspflichten zwangsläufig ergibt. Nur ganz ausnahmsweise, etwa wenn der<br />

Festgenommene infolge Krankheit vernehmungsunfähig ist, soll die sog. symbolische<br />

Vorführung durch Vorlage der Akten ausreichen. 200 Im Rahmen der Vorführung muss<br />

der Richter den Betroffenen anhören und ihm Gelegenheit zu Einwendungen geben.<br />

Ein effektiver Grundrechtsschutz setzt insoweit voraus, dass der Betroffene weiß, dass<br />

er Einwendungen tatsächlicher und rechtlicher Art gegen die Festnahme erheben<br />

kann. 201 Auch wird bei der Vorführung fremdsprachiger Festgenommener die Hinzuziehung<br />

eines Dolmetschers unverzichtbar sein. 202<br />

55<br />

56 Die vom Richter zu treffende Entscheidung ist in Form und Inhalt durch die Verfassung<br />

selbst determiniert. Gemäß Art. 104 Abs. 3 Satz 2 GG kann sie nur auf Erlass<br />

eines Haftbefehls oder auf Freilassung lauten. Ergeht ein Haftbefehl, so bildet er ex<br />

nunc den Rechtsgrund für die weitere Freiheitsentziehung in Form der Untersuchungshaft.<br />

Er muss nach der Verfassungsnorm schriftlich ergehen und mit – ebenfalls schriftlichen<br />

– Gründen versehen sein. Aus der Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergeben<br />

sich insoweit spezifische Begründungsanforderungen (→ Rn. 23), denen mit generellen,<br />

formularmäßigen Floskeln nicht genügt ist. Die Annahme eines Haftgrundes<br />

muss detailliert und auf den Einzelfall bezogen begründet werden.<br />

56<br />

V. Recht auf angemessene Haftdauer<br />

57 Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbs. 203 EMRK verbürgt dem Untersuchungshäftling ein Recht<br />

auf eine angemessene Dauer seiner Untersuchungshaft: Entweder ist er innerhalb dieser<br />

Frist abzuurteilen oder aber aus der Haft zu entlassen. Obwohl sich Abs. 3 pauschal<br />

auf die gemäß Abs. 1 lit. c Festgehaltenen bezieht, ergibt die Vorschrift für den ebenfalls<br />

in Abs. 1 lit. c geregelten Präventivgewahrsam keinen Sinn, da dort den Betroffenen<br />

eine Deliktsbegehung ja gar nicht vorgeworfen wird und sie deshalb auch kein<br />

strafgerichtliches Verfahren zu erwarten haben.<br />

57<br />

58 Der hier behandelte Anspruch weist deutliche Parallelen auf zum Recht auf eine<br />

angemessene Verfahrensdauer gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK (→ Der Grundsatz des fairen<br />

Verfahrens, Kap. 14 Rn. 113 ff.). In Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK allerdings geht es<br />

um den Beschleunigungsanspruch des Inhaftierten, so dass die »Angemessenheit« der<br />

58<br />

199<br />

Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 104 Rn. 29; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG,<br />

Art. 104 Rn. 68; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 104 Rn. 43; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG,<br />

Art. 104 Rn. 42; Grabitz (Fn. 1), Rn. 28.<br />

200<br />

Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 104 Rn. 29; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 42.<br />

201<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 68.<br />

202<br />

Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 104 Rn. 30; vgl. zum Recht auf ein faires Verfahren<br />

BVerfGE 64, 135 (145–149).<br />

203<br />

→ Fn. 165.<br />

660<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

Verfahrensdauer hier regelmäßig kürzer zu bemessen ist: 204 Strafverfahren, in denen<br />

der Angeklagte in Untersuchungshaft sitzt, sind grundsätzlich vorrangig und beschleunigt<br />

zu bearbeiten. Wird der Angeklagte aus der Untersuchungshaft entlassen, so findet<br />

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK keine Anwendung mehr, und sein Recht auf eine angemessene<br />

Verfahrensdauer bestimmt sich (nur noch) nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. 205<br />

59 Die im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbs. EMRK maßgebliche Zeitspanne<br />

beginnt grundsätzlich mit der Festnahme des Betroffenen. Erfolgte diese jedoch im<br />

Ausland – etwa aufgrund des Auslieferungsersuchens eines Konventionsstaates – so<br />

setzt der Fristlauf erst mit der Überstellung an die inländischen Behörden ein, da der<br />

Konventionsstaat für die Inhaftierung in einem anderen Staat nicht verantwortlich<br />

ist. 206 Die Frist endet mit der Haftentlassung 207 oder, wenn die Haft andauert, mit dem<br />

Erlass des erstinstanzlichen Urteils 208 . Sie kann durch eine zwischenzeitliche Freilassung<br />

oder durch eine zwischendurch verbüßte Strafhaft 210 unterbrochen sein. Wurde<br />

der Betroffene wegen derselben Sache mehrmals festgenommen oder schloss sich<br />

eine andere Form der Freiheitsentziehung an die Untersuchungshaft an, so sollten nach<br />

der Rechtsprechung bis 2012 alle diese Zeitabschnitte zu berücksichtigen sein, 211 wie<br />

auch die fortdauernde Haft nach Aufhebung einer erstinstanzlichen Verurteilung in<br />

die Berechnung miteinzubeziehen war 212 . Eine Freiheitsentziehung zwischen erstinstanzlicher<br />

Verurteilung und deren Aufhebung unterfällt hingegen nicht Art. 5 Abs. 3,<br />

sondern den Anforderungen aus Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK (→ Rn. 153). In der Entscheidung<br />

Idalov hat der EGMR nun im Hinblick auf die Beschwerdefrist des Art. 35 Abs. 1<br />

EMRK seine Sichtweise verändert und bezieht grundsätzlich nur diejenigen Haftzeiträume<br />

in die Betrachtung ein, die innerhalb dieser Sechsmonatsfrist beim EGMR geltend<br />

gemacht wurden; bei der Würdigung am Maßstab von Art. 5 Abs. 3 EMRK kann<br />

der Gerichtshof aber berücksichtigen, dass der Betroffene in derselben Sache mehrere<br />

Freiheitsentziehungen erlitten hat. 213<br />

59<br />

204<br />

EKMR No. 7412/76, DR 11, 78, § 120 – Haase (Pl.).<br />

205<br />

Jacobs/White, 92.<br />

206<br />

EGMR No. 65655/01, Rep. 2006-XI, § 33 – Chraidi; No. 71092/01, § 70 – Zandbergs (2011).<br />

Ebenso schon EKMR No. 5078/71, CD 46, 35 (40) – X v. Italien u. Deutschland (1972); Peukert, in:<br />

Frowein/Peukert, Art. 5 Rn. 112.<br />

207<br />

EGMR No. 11894/85, A 224, § 66 – Toth; No. 12850/87, A 241-A, § 83 – Tomasi; No. 19382/92,<br />

A 321, § 58 – Van der Tang; No. 25792/94, §§ 55 f. – Trzaska (2000); No. 27504/95, § 52 – Ilowiecki<br />

(2001); No. 7064/05, § 72 – Mamedova (2006).<br />

208<br />

EGMR No. 2122/64, A 7, § 9 – Wemhoff; No. 11968/86, A 175, §§ 35–40 – B v. Österreich;<br />

No. 14379/88, A 254-A, § 29 – W v. Schweiz; No. 26772/95, Rep. 2000-IV, § 147 – Labita (GK);<br />

No. 94052/96, § 67 – Olstowski (2001); No. 58442/00, § 66 – Lavents (2002); No. 49476/99, unter 2.<br />

– Krč a (2003); No. 49746/99, § 34 – Č evizović (2004); No. 62936/00, § 149 – Moiseyev (2008);<br />

No. 5826/03, § 112 – Idalov (GK) (2012).<br />

209<br />

S. z. B. EGMR No. 12369/86, A 207, § 34 – Letellier; No. 49476/99, unter 2. – Krč a (2003).<br />

210<br />

EGMR No. 11894/85, A 224, § 66 – Toth; No. 25792/94, § 56 – Trzaska (2000).<br />

211<br />

Vgl. z. B. EGMR No. 12325/86 u. a., A 218, § 44 – Kemmache; No. 10533/83, A 244, § 71 – Herczegfalvy;<br />

No. 40063/98, § 102 – Mitev (2004); No. 73281/01, § 48 – Gulub Atanasov (2008).<br />

212<br />

EGMR No. 31315/96, § 70 – Punzelt (2000); No. 30210/96, Rep. 2000-XI, §§ 104 f. – Kudła<br />

(GK); No. 41852/ 98, §§ 32 f. – Vaccaro (2000); No. 47679/99, § 81 – Stasaitis (2002); No. 46082/99,<br />

§ 59 – Klyakhin (2004); No. 62936/00, § 149 – Moiseyev (2008).<br />

213<br />

EGMR No. 5826/03, §§ 127–135 – Idalov (GK) (2012) mit einer ausführlichen Aufarbeitung<br />

der vorangegangenen Rechtsprechung.<br />

Oliver Dörr 661


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

60 Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbs. EMRK umschreibt die zulässige Dauer der Untersuchungshaft<br />

mit der Vokabel angemessen (»reasonable«/»raisonnable«) und setzt damit<br />

keine absolute zeitliche Begrenzung. Ebenso wie etwa im Rahmen von Art. 6<br />

Abs. 1 EMRK (→ Der Grundsatz des fairen Verfahrens, Kap. 14 Rn. 114) ist die Zulässigkeit<br />

anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. 214 Darin einzubeziehen<br />

sind z. B. die Schwierigkeiten der Aufklärung des Falles, die Art und Weise<br />

seiner Bearbeitung durch die nationalen Behörden sowie das Verhalten des Betroffenen<br />

im Verfahren. Bei der Durchführung des Strafverfahrens ist der Beschuldigte<br />

zwar nicht zur Kooperation mit den Strafbehörden verpflichtet, aber Verzögerungen,<br />

die durch sein unkooperatives Verhalten verursacht werden, können die Untersuchungshaft<br />

rechtmäßig verlängern. 215 Das bloße Schweigen des Beschuldigten kann<br />

insoweit jedoch nicht ins Gewicht fallen, 216 und die Inanspruchnahme gesetzlich vorgesehener<br />

Rechtsbehelfe sicherlich nur im Missbrauchsfalle. Im Falle von Minderjährigen<br />

darf Untersuchungshaft nur eine ultima ratio sein, sie muss in diesen Fällen so<br />

kurz wie irgend möglich sein, wobei Minderjährige grundsätzlich getrennt von Erwachsenen<br />

festgehalten werden sollen. 217 In Würdigung des jeweiligen Einzelfalles hat<br />

der Gerichtshof eine Inhaftierungsdauer von bis zu vier Jahren als noch zulässig, andererseits<br />

aber bereits eine solche von gut einem Jahr, im Falle von Minderjährigen<br />

sogar von nur 48 Tagen, als Konventionsverstoß angesehen. 218 Im Kontext eines besonders<br />

komplexen Strafverfahrens wegen internationaler Terrordelikte akzeptierte<br />

der EGMR sogar eine Untersuchungshaft von fünfeinhalb Jahren als noch angemessen.<br />

Die Staaten sind nicht verpflichtet, eine im Ausland erlittene Untersuchungshaft<br />

des Betroffenen zu berücksichtigen. 220<br />

60<br />

61 Der EGMR beschränkt sich im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK jedoch nicht<br />

auf eine Kontrolle des reinen Zeitablaufs, sondern ergänzt die Angemessenheitsprüfung<br />

um zusätzliche Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft, deren<br />

Verletzung ebenfalls einen Konventionsverstoß begründen kann. Das betrifft vor allem<br />

die sachlichen Gründe für die andauernde Untersuchungshaft. Denn das Fortbestehen<br />

des hinreichenden Tatverdachts ist für eine Fortdauer der Untersuchungshaft<br />

zwar zwingende Voraussetzung, kann diese aber nach Ablauf einer gewissen Zeit allein<br />

nicht mehr rechtfertigen. 221 Vielmehr müssen sonstige Haftgründe wie Flucht-,<br />

61<br />

214<br />

Grundlegend EGMR No. 2122/64, A 7, § 10 – Wemhoff.<br />

215<br />

EGMR No. 14379/88, A 254-A, § 42 – W v. Schweiz; No. 34947/97, § 67 – Richet (2001).<br />

216<br />

EGMR No. 7064/05, § 83 – Mamedova (2006).<br />

217<br />

EGMR No. 20817/04, § 31 – Nart (2008).<br />

218<br />

Vgl. z. B. EGMR No. 26772/95, Rep. 2000-IV, § 164 – Labita (GK): zwei Jahre sieben Monate<br />

rechtswidrig; No. 35776/97, § 53 – Grisez (2002): zwei Jahre drei Monate rechtmäßig; No. 38884/97,<br />

§ 75 – Nikolov (2003): fünfeinhalb Monate rechtswidrig; No. 49476/99, unter 1. – Krč a (2003): 17<br />

Monate rechtmäßig; No. 73281/01, § 54 – Gulub Atanasov (2008): gut zwei Jahre rechtmäßig;<br />

No. 20817/04, §§ 30–34 – Nart (2008): 48 Tage bei einem Minderjährigen rechtswidrig; No. 5826/03,<br />

§§ 142 ff. – Idalov (GK) (2012): ein Jahr ein Monat rechtswidrig. Ältere Nachweise bei Trechsel, in:<br />

European System, 277 (340 f.).<br />

219<br />

EGMR No. 65655/01, Rep. 2006-XI, §§ 47 f. – Chraidi.<br />

220<br />

EGMR No. 71092/01, § 63 – Zandbergs (2011).<br />

221<br />

St.Rspr. seit EGMR No. 1602/62, A 9, § 4 – Stögmüller, z. B. No. 11968/86, A 175, § 42 –<br />

B v. Österreich; No. 12369/86, A 207, § 35 Letellier; No. 12325/86 u. a., A 218, § 45 – Kemmache;<br />

No. 11894/85, A 224, § 67 – Toth; No. 12850/87, A 241-A, § 84 – Tomasi; No. 14379/88, A 254-A, § 30<br />

– W v. Schweiz; No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 154 – Assenov u. a.; No. 25792/94, § 63 – Trzaska<br />

662<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

Wiederholungs- oder Verdunklungsgefahr hinzukommen, die, um die andauernde<br />

Freiheitsentziehung rechtfertigen zu können, im konkreten Fall einschlägig (»relevant«)<br />

und hinreichend (»sufficient«) sein müssen. Der lapidare Hinweis auf die Schwere<br />

der Tat 222 oder die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen 223 kann eine Fortdauer der<br />

Untersuchungshaft jedenfalls nicht begründen. Im Übrigen sind die staatlichen Behörden<br />

aus Gründen der Verhältnismäßigkeit laufend verpflichtet, andere, weniger einschneidende<br />

Maßnahmen in Betracht zu ziehen, um das Erscheinen des Betroffenen<br />

vor Gericht sicherzustellen. 224 Unterbleiben solche Erwägungen ohne nachvollziehbaren<br />

Grund, so ist die Untersuchungshaft nicht länger angemessen. 225 Dasselbe gilt per<br />

se für ein System der obligatorischen Untersuchungshaft, das von den Tatsachen des<br />

Einzelfalls praktisch absieht. 226 Entfällt die Angemessenheit der Untersuchungshaft,<br />

so ist diese zu beenden und der Betroffene zu entlassen. 227<br />

62 Der Haftgrund der Fluchtgefahr darf nicht ausschließlich mit der Schwere der zu<br />

erwartenden Strafe begründet sein, 228 zu berücksichtigen sind vielmehr auch die persönlichen<br />

Verhältnisse des Betroffenen wie sein Charakter, Beruf, Vermögen, seine<br />

familiären Bindungen, Beziehungen ins Ausland etc. 229 Das Verhalten eines Mitbeschuldigten<br />

kann für die Einschätzung der Fluchtgefahr nicht maßgeblich sein, 230 auch<br />

ergibt sich diese nicht automatisch aus dem Fehlen eines festen Wohnsitzes 231 . Im<br />

Übrigen rechtfertigt Fluchtgefahr allein die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht,<br />

wenn der Betroffene angemessene Sicherheit für sein Erscheinen vor Gericht leistet<br />

(→ Rn. 70).<br />

62<br />

(2000); No. 94052/96, § 76 – Olstowski (2001); No. 35776/97, § 49 – Grisez (2002); No. 49746/99, § 38<br />

– Č evizović (2004); No. 7064/05, § 73 – Mamedova (2006); Nos. 15667/03 u. 2929/04, § 86 – Wolf<br />

(2007); No. 73281/01, § 49 – Gulub Atanasov (2008); No. 43376/06, § 74 – Prencipe (2009);<br />

No. 5826/03, § 140 – Idalov (GK) (2012).<br />

222<br />

EGMR No. 33977/96, § 81 – Ilijkov (2001); No. 94052/96, § 78 – Olstowski (2001); No. 38884/97,<br />

§ 70 – Nikolov (2003); No. 46082/99, § 66 – Klyakhin (2004); Nos. 15667/03 u. 2929/04, § 88 – Wolf<br />

(2007); No. 62936/00, § 152 – Moiseyev (2008); No. 5826/03, § 145 – Idalov (GK) (2012). Ebenso<br />

BVerfG (K), NJW 2006, 1336 (1338); (K) 2 BvR 388/09, EuGRZ 2009, 414, Abs. 30.<br />

223<br />

EGMR No. 12718/87, A 225, § 44 – Clooth.<br />

224<br />

EGMR No. 33492/96, § 83 – Jabloñski (2000); No. 27504/95, § 63 – Ilowiecki (2001);<br />

No. 7064/05, § 77 – Mamedova (2006); Nos. 15667/03 u. 2929/04, § 91 – Wolf (2007); No. 5826/03,<br />

§ 140 – Idalov (GK) (2012).<br />

225<br />

EGMR No. 33492/96, § 84 – Jabloñski (2000); No. 27504/95, § 64 – Ilowiecki (2001);<br />

No. 34097/96, § 43 – Kreps (2001); Nos. 15667/03 u. 2929/04, § 92 – Wolf (2007).<br />

226<br />

EGMR No. 62936/00, § 154 – Moiseyev (2008).<br />

227<br />

Grundlegend EGMR No. 1936/63, A 8, § 4 – Neumeister; seitdem st.Rspr., z. B. in EGMR<br />

No. 543/03, Rep. 2006-X, § 41 – McKay (GK); No. 23393/05, § 30 – Castravet (2007); No. 62936/00,<br />

§ 148 – Moiseyev (2008).<br />

228<br />

St.Rspr., EGMR No. 2122/64, A 7, § 14 – Wemhoff; No. 2178/64, A 10, § 11 – Matznetter;<br />

No. 11968/86, A 175, § 44 – B v. Österreich; No. 12850/87, A 241-A, § 98 – Tomasi; No. 16419/90,<br />

A 319-A, § 52 – Yaci u. Sargin; No. 21802/93, Rep. 1997-II, § 43 – Muller; No. 34947/97, § 63 – Richet<br />

(2001); Nos. 46133/99 u. 48183/99, Rep. 2003-IX, § 60 – Smirnova; No. 49746/99, § 41 – Č evizović<br />

(2004); No. 7064/05, § 74 – Mamedova (2006); No. 5829/04, § 185 – Khodorkovskiy (2011).<br />

229<br />

EGMR No. 1936/63, A 8, § 10 – Neumeister; No. 1602/62, A 9, § 15 – Stögmüller; No. 14379/88,<br />

A 254-A, § 33 – W v. Schweiz; No. 38321/97, Rep. 2001-VII, § 44 – Erdem; Nos. 46133/99 u. 48183/99,<br />

§ 60 – Smirnova (2003); No. 5829/04, § 185 – Khodorkovskiy (2011).<br />

230<br />

EGMR No. 7064/05, § 76 – Mamedova (2006).<br />

231<br />

EGMR No. 36988/07, § 83 – Ignatenco (2011).<br />

Oliver Dörr 663


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

63 Wird die Fortdauer der Untersuchungshaft auf die Gefahr erneuter Straftaten gestützt,<br />

so muss diese nicht nur plausibel begründet sein (die Bezugnahme auf vorangegangene<br />

Straftaten genügt allein nicht 232 ), sondern die Inhaftierung muss auch dem<br />

Charakter der Bedrohung Rechnung tragen, also z. B. von einer psychotherapeutischen<br />

Behandlung begleitet sein. 233 Im Regelfall kann die bloße Wiederholungsgefahr<br />

nicht eine Untersuchungshaft von mehr als drei Jahren Dauer rechtfertigen. 234 Eine<br />

Verdunklungsgefahr, z. B. die Gefahr einer Beeinflussung von Zeugen oder der Vernichtung<br />

von Beweisen, ist nicht länger relevant, wenn praktisch alle für ein Strafverfahren<br />

wichtigen Zeugen bereits ihre Aussage gemacht haben bzw. alle verfügbaren<br />

Beweise gesichert wurden. 235 Auch kann dieser Haftgrund nicht zulässigerweise damit<br />

begründet werden, dass der Inhaftierte noch kein Geständnis abgelegt hat. 236<br />

63<br />

64 Ausnahmsweise kann auch eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung (»public order«)<br />

die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen, wenn die Schwere einer<br />

Straftat und die durch sie ausgelösten öffentlichen Reaktionen geeignet sind, die Bevölkerung<br />

dauerhaft zu beunruhigen (»social disturbance«). Dafür bedarf es jedoch<br />

konkreter Anhaltspunkte, die eine tatsächliche Gefährdung dieser Art nahelegen und<br />

über die Schwere der Tat hinausgehen müssen. 237 Auch kann dieser Haftgrund keine<br />

Untersuchungshaft von mehr als vier Jahren Dauer rechtfertigen. 238<br />

64<br />

65 Liegen im Einzelfall ausreichende Haftgründe vor, müssen die zuständigen nationalen<br />

Behörden außerdem die in Fällen der Untersuchungshaft gebotene besondere Eilbedürftigkeit<br />

beachtet und das Verfahren mit besonderer Sorgfalt (»special diligence«)<br />

betrieben haben. 239 In diesem Zusammenhang prüft der Gerichtshof den gesamten<br />

innerstaatlichen Verfahrensablauf und hinterfragt jede den staatlichen Behörden zurechenbare<br />

Verzögerung auf ihre sachliche Rechtfertigung. So verstößt es z. B. gegen<br />

Art. 5 Abs. 3 EMRK, wenn die Ermittlungen während eines längeren Zeitraums<br />

schlicht geruht haben, ohne dass dafür ein sachlicher Grund ersichtlich ist. 240 Auch<br />

wird die häufige Versendung der Originalakten 241 dem für Haftfällen geltenden Beschleunigungsgebot<br />

ebensowenig gerecht wie eine Frist von über zehn Monaten, nur<br />

um die örtliche Zuständigkeit des Gerichts abzulehnen, 242 oder eine solche von einem<br />

65<br />

232<br />

EGMR No. 21802/93, Rep. 1997-II, § 44 – Muller.<br />

233<br />

EGMR No. 12718/87, A 225, § 40 – Clooth.<br />

234<br />

EGMR No. 94052/96, § 80 – Olstowski (2001).<br />

235<br />

EGMR No. 33079/96, § 93 – Szeloch (2001); No. 7064/05, § 79 – Mamedova (2006).<br />

236<br />

EGMR Nos. 15667/03 u. 2929/04, § 93 – Wolf (2007).<br />

237<br />

EGMR No. 12369/86, A 207, § 51 – Letellier; No. 12325/86 u. a., A 218, § 52 – Kemmache;<br />

No. 12850/87, A 241-A, § 91 – Tomasi; No. 34947/97, § 61 – Richet (2001).<br />

238<br />

EGMR No. 34947/97, § 62 – Richet (2001).<br />

239<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 1602/62, A 9, § 5 – Stögmüller; No. 2178/64, A 10, § 12 – Matznetter;<br />

No. 11968/86, A 175, § 42 – B v. Österreich; No. 12369/86, A 207, § 35 – Letellier; No. 12325/86 u. a.,<br />

A 218, § 45 – Kemmache; No. 11894/85, A 224, § 67 – Toth; No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 154 –<br />

Assenov u.a.; No. 25792/94, § 63 – Trzaska (2000); No. 49476/99, unter 2. – Krč a (2003); No. 40063/98,<br />

104 – Mitev (2004); No. 7064/05, § 73 – Mamedova (2006); Nos. 15667/03 u. 2929/04, § 86 – Wolf<br />

(2007); No. 73281/01, § 49 – Gulub Atanasov (2008); No. 43376/06, § 74 – Prencipe (2009);<br />

No. 5826/03, § 140 – Idalov (GK) (2012).<br />

240<br />

Z. B. EGMR No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 157 – Assenov u.a.; No. 25792/94, § 68 – Trzaska<br />

(2000); No. 35848/97, §§ 71 f. – Barfuss (2000).<br />

241<br />

EGMR No. 11894/85, A 224, § 77 – Toth.<br />

242<br />

EGMR No. 41852/98, § 43 – Vaccaro (2000).<br />

664<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

ganzen Jahr, um den Prozesstermin festzusetzen 243 . Auch die Anberaumung von nur<br />

vier Verhandlungsterminen im Monat zeugt nicht von einem Bemühen um ein zügiges<br />

Verfahren. 244 Auf der anderen Seite soll die Notwendigkeit einer wiederholten Vertagung<br />

der mündlichen Verhandlung wegen des Ausbleibens von Zeugen den Strafverfolgungsbehörden<br />

nicht anzulasten sein. 245<br />

66 Weiter müssen die gerichtlichen Entscheidungen, welche über die Fortdauer der<br />

Untersuchungshaft befinden, mit einer Begründung versehen sein, die, insbesondere<br />

wenn eine Haftentlassung abgelehnt wird, dem Einzelfall hinreichend Rechnung tragen<br />

muss und sich nicht in stereotypen Phrasen 246 oder wörtlicher Wiederholung vorangegangener<br />

Entscheidungen 247 erschöpfen darf. Auch ist in der Begründung auf die<br />

gesetzlichen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung Bezug zu nehmen, 248 doch<br />

darf jene sich nicht auf die Wiedergabe der gesetzlichen Voraussetzungen beschränken.<br />

Denn es sind vor allem diese gerichtlichen Erwägungen, die der EGMR bei<br />

seiner Prüfung, ob die Fortdauer der Untersuchungshaft noch gerechtfertigt war, berücksichtigt.<br />

In den nationalen Entscheidungen nicht genannte Gründe können einen<br />

Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK daher grundsätzlich nicht verhindern. 251<br />

66<br />

67 Ein Verstoß gegen die Garantie angemessener Haftdauer kann nicht dadurch geheilt<br />

werden, dass bei einer späteren Verurteilung die (unangemessene) Dauer der Untersuchungshaft<br />

auf das Strafmaß angerechnet wird. 252 Wohl aber kann dadurch die Verurteilung<br />

zum Ausgleich eines entstandenen finanziellen 253 oder immateriellen Schadens<br />

vermieden werden.<br />

67<br />

68 Unter Geltung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist es vor allem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,<br />

welcher die Dauer der Untersuchungshaft begrenzt. Zum einen darf<br />

diese nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. 255<br />

Zum anderen vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Einzelnen regelmäßig<br />

mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft gegenüber dem staatlichen Interesse<br />

an einer wirksamen Strafverfolgung: 256 Mit der Dauer der Untersuchungshaft<br />

68<br />

243<br />

EGMR No. 34097/96, § 44 – Kreps (2001).<br />

244<br />

EGMR No. 49746/99, §§ 50 f. – Č evizović (2004).<br />

245<br />

EGMR No. 49476/99, unter 2. – Krč a (2003).<br />

246<br />

Vgl. EGMR No. 12369/86, A 207, §§ 35 u. 52 – Letellier; No. 16419/90, A 319-A, § 52 – Yaci u.<br />

Sargin; Nos. 46133/99 u. 48183/99, § 63 – Smirnova (2003); No. 7064/05, § 80 – Mamedova (2006).<br />

247<br />

Vgl. EGMR No. 38321/97, Rep. 2001-VII, § 45 – Erdem; No. 33079/96, § 91 – Szeloch (2001).<br />

248<br />

EGMR No. 38884/97, § 69 – Nikolov (2003).<br />

249<br />

EGMR No. 71092/01, § 72 – Zandbergs (2011).<br />

250<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 12369/86, A 207, § 42 – Letellier; No. 12325/86 u. a., A 218, § 45 –<br />

Kemmache; No. 11894/85, A 224, § 67 – Toth; No. 12718/87, A 225, § 36 – Clooth; No. 12850/87,<br />

A 241-A, § 84 – Tomasi; No. 25792/94, § 63 – Trzaska (2000); No. 33492/96, § 79 – Jabloñski (2000);<br />

Nos. 46133/99 u. 48183/99, § 62 – Smirnova (2003); No. 543/03, Rep. 2006-X, § 43 – McKay (GK);<br />

Nos. 15667/03 u. 2929/04, § 85 – Wolf (2007); No. 43376/06, § 73 – Prencipe (2009); No. 5829/04,<br />

§ 193 – Khodorkovskiy (2011).<br />

251<br />

EGMR No. 25792/94, § 66 – Trzaska (2000); No. 33977/96, §§ 86 f. – Ilijkov (2001).<br />

252<br />

EGMR No. 2614/65, A 15, § 21 – Ringeisen (Art. 50).<br />

253<br />

So z. B. in EGMR No. 12369/86, A 207, § 62 – Letellier; No. 11894/85, A 224, § 91 – Toth.<br />

254<br />

So z. B. in EGMR No. 1936/63, A 17, § 41 – Neumeister (Art. 50); No. 49746/99, § 67 – Č evizović<br />

(2004).<br />

255<br />

St.Rspr., z. B. BVerfGE 20, 45 (49); 20, 144 (148); BVerfG (K) 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336,<br />

Abs. 24; (K) 2 BvR 388/09, EuGRZ 2009, 414, Abs. 20; (K) 2 BvR 1113/10, EuGRZ 2010, 674, Abs. 20.<br />

256<br />

St.Rspr., z. B. BVerfGE 36, 264 (270); 53, 152 (159); BVerfG (K) 2 BvR 1315/05, NJW 2005,<br />

Oliver Dörr 665


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

steigen nicht nur die Anforderungen an den sachlichen Grund für die Haftfortdauer,<br />

sondern auch an die Zügigkeit der Verfahrensgestaltung. 257 Dies gilt nicht nur für den<br />

vollstreckten, sondern – wegen des über die Freiheitsentziehung hinausgehenden<br />

Schutzgehalts von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG – auch für den außer Vollzug gesetzten<br />

Haftbefehl. 258<br />

69 Die nach diesen Vorgaben verfassungsrechtlich zulässige Dauer der Untersuchungshaft<br />

hängt von den konkreten Umständen des einzelnen Verfahrens ab, wozu z. B. die<br />

Art der mutmaßlichen Straftaten, die Komplexität des Falles und der Verlauf der Ermittlungen<br />

zählen. So kann eine Untersuchungshaft von mehr als fünf Jahren durchaus<br />

gerechtfertigt sein, wenn es sich nicht nur um ein außergewöhnlich umfangreiches<br />

und schwieriges Ermittlungsverfahren wegen besonders schwerer Straftaten handelt,<br />

sondern die Strafverfolgungsbehörden auch alles in ihrer Macht stehende getan haben,<br />

um die Ermittlungen zügig abzuschließen. 259 Eine derart lange Untersuchungshaft ist<br />

andererseits dann unverhältnismäßig, wenn die Behörden das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2<br />

GG folgende Beschleunigungsgebot (→ Rn. 21) nicht beachtet haben und die Fortdauer<br />

der Untersuchungshaft daher maßgeblich durch vermeidbare Verzögerungen der Ermittlungen<br />

verursacht ist. 260 Auch eine Überlastung des zuständigen Strafgerichts<br />

kann eine Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, da der Staat unter<br />

Geltung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG alle notwendigen Maßnahmen treffen muss, um<br />

einer solchen Überlastung vorzubeugen bzw. ihr rechtzeitig abzuhelfen. 261<br />

69<br />

VI. Recht auf Haftentlassung gegen Sicherheit<br />

70 Die Möglichkeit, die Freilassung eines Untersuchungsgefangenen von einer Sicherheit<br />

abhängig zu machen, formuliert Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK als eine dem Staat offenstehene<br />

Beschränkungsmöglichkeit, deren Gebrauch in sein Ermessen gestellt ist. In<br />

der Praxis des Gerichtshofs wird daraus jedoch unter dem Einfluss von Verhältnismäßigkeitserwägungen<br />

eine echte zusätzliche Gewährleistung zugunsten des Einzelnen:<br />

Denn nach der Rechtsprechung hat der Einzelne, wenn seine Untersuchungshaft nur<br />

noch mit Fluchtgefahr begründet ist, ein Recht darauf, gegen Stellung einer angemessenen<br />

Sicherheit, die sein Erscheinen vor Gericht sicherstellt, aus der Haft entlassen zu<br />

werden. 262 Die vom Gerichtshof entwickelte Pflicht der Staaten, stets mildere Mittel zu<br />

prüfen, um die Anwesenheit des Betroffenen vor Gericht sicherzustellen (→ Rn. 61),<br />

setzt voraus, dass eine Haftverschonung gegen Auflagen jederzeit möglich ist. Somit<br />

verstößt eine nationale Regelung, die eine solche für einzelne Delikte kategorisch aus-<br />

70<br />

3485 (3486); (K) 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, Abs. 24; (K) 2 BvR 1113/10, EuGRZ 2010, 674,<br />

Abs. 20.<br />

257<br />

BVerfG (K) 2 BvR 1113/10, EuGRZ 2010, 674, Abs. 20.<br />

258<br />

BVerfGE 53, 152 (159 f.).<br />

259<br />

BVerfGE 21, 220 (222).<br />

260<br />

BVerfGE 20, 45 (50); 20, 144 (148 f.); 21, 223 (226); BVerfG (K) 2 BvR 388/09, EuGRZ 2009,<br />

414, Abs. 21.<br />

261<br />

BVerfGE 36, 264 (273–275).<br />

262<br />

EGMR No. 2122/64, A 7, § 15 – Wemhoff; No. 12369/86, A 207, § 46 – Letellier; No. 543/03,<br />

Rep. 2006-X, § 41 – McKay (GK); No. 12050/04, § 79 – Mangouras (GK) (2010).<br />

666<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

schließt, gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK. 263 Auf der anderen Seite ist der EGMR offensichtlich<br />

bereit anzuerkennen, dass in bestimmten Fällen (z. B. von gewaltsamer Bandenkriminalität<br />

oder Terrorismus) eine Haftverschonung gegen Kaution offensichtlich<br />

nicht in Betracht kommt. 264<br />

71 Die Höhe einer Kaution ist anhand der Vermögensverhältnisse des Betroffenen und<br />

ggf. seiner Beziehung zu der Person, welche die Kaution stellen soll, zu bemessen,<br />

grundsätzlich nicht nach dem durch die Straftat entstandenen Schaden. 265 Allerdings<br />

hat der EGMR kürzlich bei Straftaten gegen die Meeresumwelt u. a. ausdrücklich auch<br />

auf die Schwere der Tat und ihre gravierenden Folgen abgestellt und damit die erhebliche<br />

Kautionshöhe gerechtfertigt. 266 Entscheidend ist stets, welche Abschreckungswirkung<br />

der mögliche Vermögensverlust bei Nichterscheinen nach den persönlichen<br />

Verhältnissen des Betroffenen haben kann. 267 Zum Zwecke dieser Prüfung muss der<br />

Betroffene hinreichend überprüfbare Informationen liefern. 268 Statt einer Kaution<br />

kommen auch andere Sicherungsmaßnahmen gegen den Betroffenen in Betracht, wie<br />

z. B. Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit. 269 Das Verfahren der Festsetzung<br />

einer Sicherheitsleistung müssen die staatlichen Behörden so zügig und sorgfältig betreiben<br />

wie jedes Verfahren in Haftsachen. 270 Die Höhe der Kaution muss in der Kautionsentscheidung<br />

angemessen begründet werden, und zwar auch unter Bezugnahme<br />

auf die Vermögensverhältnisse des Betroffenen. 271<br />

71<br />

VII. Recht auf gerichtliche Haftprüfung<br />

72 Art. 5 Abs. 4 EMRK schreibt das eigentliche »habeas-corpus«-Verfahren fest, den Anspruch<br />

des Einzelnen auf eine gerichtliche Überprüfung seiner Freiheitsentziehung.<br />

Dies stellt sicher, dass die Wahrung der persönlichen Freiheit letztlich der Kontrolle<br />

durch die Judikative unterliegt und erfüllt damit eine Grundanforderung moderner<br />

Rechtsstaatlichkeit. Im Regelungsgefüge der EMRK verdrängt dieser spezielle Rechtsschutzanspruch<br />

des Inhaftierten den allgemeinen aus Art. 6 und 13 EMRK. 272 Art. 5<br />

Abs. 4 EMRK findet jedoch neben dem Anhörungsverfahren gemäß Art. 5 Abs. 3<br />

72<br />

263<br />

Vgl. EGMR No. 32819/96, Rep. 2000-II, §§ 18–21 – Caballero; Nos. 39298/04 u. 8723/05, § 100<br />

– Krejčí ř (2009).<br />

264<br />

Vgl. EGMR No. 5829/04, § 196 – Khodorkovskiy (2011): »the unavailability of bail can be<br />

self-evident«.<br />

265<br />

EGMR No. 1936/63, A 8, § 14 – Neumeister; vgl. auch EGMR No. 31315/96, § 86 – Punzelt<br />

(2000).<br />

266<br />

EGMR No. 12050/04, §§ 39 ff. – Mangouras (2009); No. 12050/04, §§ 83–92 – Mangouras<br />

(GK) (2010), bezogen auf eine Kaution von 3 Mio. Euro für einen Schiffskapitän.<br />

267<br />

EGMR No. 25196/94, § 66 – Iwañczuk (2001); No. 12050/04, § 37 – Mangouras (2009).<br />

268<br />

EGMR No. 25196/94, § 66 – Iwañczuk (2001).<br />

269<br />

Vgl. EKMR No. 10670/83, DR 44, 195 (196 f.) – Schmid (Pl.).<br />

270<br />

EGMR No. 25196/94, §§ 66–70 – Iwañczuk (2001); No. 12050/04, § 79 – Mangouras (GK)<br />

(2010).<br />

271<br />

EGMR No. 12050/04, § 80 – Mangouras (GK) (2010).<br />

272<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 22414/93, Rep. 1996-V, § 126 – Chahal (GK); No. 31195/96, Rep. 1999-<br />

II, § 69 – Nikolova (GK); No. 13178/03, Rep. 2006-XI, § 110 – Mubilanzila Mayeka u. Kaniki Mitunga;<br />

No. 16074/07, § 71 – Shchebet (2008); No. 21519/02, § 162 – Khadisov u. Tsechoyev (2009);<br />

No. 11956/07, § 99 – Stephens (No. 1) (2009), No. 3455/05, § 202 – A v. Vereinigtes Königreich (GK)<br />

(2009); No. 277/05, § 59 – S. T. S. v. Niederlande (2011).<br />

Oliver Dörr 667


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

Satz 1 EMRK Anwendung. 273 Im GG ist die richterliche Verantwortung für Anordnung<br />

und Kontrolle von Freiheitsentziehungen vor allem durch den umfassenden Richtervorbehalt<br />

des Art. 104 Abs. 2 GG gewährleistet, der nicht nur eine Eingriffs-, sondern<br />

vor allem auch eine (präventive) Rechtsschutzfunktion besitzt. 274 Er sichert dem<br />

Betroffenen gerichtlichen Rechtsschutz und rechtliches Gehör. 275<br />

1. Anwendungsbereich<br />

73 Der Anwendungsbereich des Rechtsschutzanspruchs wird zunächst von seinem<br />

Hauptzweck, der gerichtlichen Kontrolle der Exekutive bestimmt. Er greift vor allem<br />

dann ein, wenn die Freiheitsentziehung von einer Verwaltungsbehörde verfügt wurde.<br />

Beruht die Freiheitsentziehung dagegen auf einem gerichtlichen Verfahren (z. B. die<br />

Freiheitsstrafe), so ist dadurch dem Kontrollanspruch des Abs. 4 zunächst Genüge getan:<br />

Die von der Norm geforderte Aufsicht durch ein Gericht ist in die gerichtliche<br />

Verhängung der Freiheitsentziehung inkorporiert. 276<br />

73<br />

74 Da sich aber auch bei gerichtlich verhängten Freiheitsentziehungen die Umstände,<br />

die zu ihrer Anordnung führten, ändern können, kommt insoweit dem Anspruch aus<br />

Art. 5 Abs. 4 EMRK eine weitergehende Bedeutung zu: Er sichert die fortdauernde<br />

Rechtmäßigkeit der andauernden Grundrechtsbeschränkung. Nach mittlerweile ständiger<br />

Rechtsprechung muss daher auch im Falle einer gerichtlichen Anordnung die<br />

Möglichkeit bestehen, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung, deren Voraussetzungen<br />

sich ändern können, in angemessenen Abständen durch ein Gericht überprüfen<br />

zu lassen. 277 Anderes gilt nur für die ausschließlich zur Bestrafung vergangenen<br />

Verhaltens verhängte Freiheitsentziehung (Freiheitsstrafe). Hier kann eine Neubewertung<br />

der Umstände – mithin eine periodische gerichtliche Kontrolle – nur unter besonderen<br />

Umständen relevant werden, z. B. wenn der Freiheitsentziehung auch Verwahrungs-,<br />

Erziehungs- oder Präventionscharakter zukommt. 278<br />

74<br />

75 Die nähere Ausformung wie auch die gebotenen zeitlichen Abstände dieser wiederholten<br />

gerichtlichen Kontrolle können dabei nach der Art der Freiheitsentziehung sowie<br />

den sonstigen Umständen des Einzelfalls variieren. Ein gesetzlich vorgeschriebenes<br />

Intervall von drei Jahren hielt der Gerichtshof ganz allgemein für nicht mehr an-<br />

75<br />

273<br />

EGMR No. 8805/79 u. a., A 77, § 57 – De Jong u. a.<br />

274<br />

Hantel, Begriff, 31.<br />

275<br />

Gusy, 461.<br />

276<br />

Grundlegend EGMR No. 2832/66 u. a., A 12, § 76 – De Wilde u. a. (Pl.); in jüngerer Zeit z. B.<br />

EGMR No. 16462/90, A 325-C, § 30 – Iribarne Pérez; No. 31365/96, Rep. 2000-X, § 58 – Varbanov;<br />

No. 53236/99, § 56 – Waite (2002); No. 44672/98, § 64 – Herz (2003); No. 4691/06, § 93 – Jusic (2010).<br />

277<br />

EGMR No. 6301/73, A 33, § 55 – Winterwerp; No. 7215/75, A 46, § 52 – X v. Vereinigtes Königreich;<br />

No. 7906/77, A 50, § 48 – Van Droogenbroeck (Pl.); No. 9019/80, A 75, § 31 – Luberti;<br />

No. 9787/82, A 114, § 58 – Weeks (Pl.); No. 13770/88, A 237-A, § 22 – Megyeri; No. 24760/94,<br />

Rep. 1998-VIII, § 162 – Assenov u. a.; No. 32605/96, § 50 – Rutten (2001); No. 44872/98, Rep. 2002-I,<br />

§ 40 – Magalhaes Pereira; No. 59512/00, § 42 – Blackstock (2005); No. 12788/04, S. 8 – Homann<br />

(Zul.) (2007).<br />

278<br />

Vgl. EGMR No. 11787/85 u. a., A 190, §§ 71–78 – Thynne u. a. (Pl.); No. 15484/89, A 294-A,<br />

§§ 33–36 – Wynne; No. 21928/93, Rep. 1996-I, §§ 52–54 – Hussain; No. 36273/97, Rep. 2000-X, § 34<br />

– Oldham; No. 46295/99, Rep. 2002-IV, § 87 – Stafford (GK); No. 12788/04, S. 8 – Homann (Zul.)<br />

(2007).<br />

668<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

gemessen. 279 Gleiches gilt, wenn die Entscheidungen des nationalen Gerichts tatsächlich<br />

erst im Abstand von 15 Monaten oder zwei Jahren ergehen. 280 Dagegen ist ein Abstand<br />

von einem Monat bei andauernder Untersuchungshaft jedenfalls angemessen. 281<br />

Das in Art. 5 Abs. 4 vorgeschriebene Verfahren ist unabhängig davon geboten, ob die<br />

gerichtliche Prüfung vom Betroffenen als Haftprüfung oder von der Behörde zur Haftverlängerung<br />

eingeleitet wurde. 282<br />

76 Nach dem scheinbar klaren englischen Wortlaut der Norm (»Everyone who is deprived<br />

of his liberty ...«) besteht der Rechtsschutzanspruch nur in Fällen gegenwärtiger<br />

Freiheitsentziehung. Daraus zog schon die EKMR die Konsequenz, dass er mit der<br />

bedingungslosen Haftentlassung entfällt. 283 Eine nachträgliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit<br />

könnte dann nur durch Art. 13 EMRK garantiert sein. Grundsätzlich übernimmt<br />

der EGMR diesen Standpunkt und begrenzt den Anwendungsbereich der Norm<br />

auf die andauernde Freiheitsentziehung. 284 Teilweise aber geht der Gerichtshof weiter<br />

und – wiederum – über den Normwortlaut hinaus: Danach soll Art. 5 Abs. 4 EMRK<br />

jedenfalls in Unterbringungsfällen auch die nachträgliche gerichtliche Kontrolle garantieren,<br />

wenn die Freiheitsentziehung bereits beendet, das ursprüngliche Rechtsschutzinteresse<br />

also durch prozessuale Überholung erloschen ist. 285 Der Gerichtshof<br />

verweist zur Begründung auf die Schwere des Eingriffs, der mit der Einweisung in eine<br />

psychiatrische Anstalt verbunden ist, und auf die Effektivität des durch Art. 5 Abs. 4<br />

EMRK garantierten Rechtsschutzes. Diese Sichtweise entspricht im Ergebnis der veränderten<br />

Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 19 Abs. 4 GG in Fällen prozessualer<br />

Überholung, 286 auf die sich der EGMR auch ausdrücklich bezieht. 287<br />

76<br />

2. »Gericht«<br />

77 Art. 5 Abs. 4 EMRK garantiert dem Festgehaltenen Zugang zu einem Gericht. Zur<br />

Beschreibung einer solchen Instanz hat sich mittlerweile ein allgemeiner rechtsstaatlicher<br />

Grundstandard in Europa herausgebildet, der die Gewährleistungen der EMRK<br />

insgesamt prägt (→ Der Grundsatz des fairen Verfahrens, Kap. 14 Rn. 38 ff.; → Beschwerderecht,<br />

Kap. 20 Rn. 63 f.; außerdem → Rn. 49 und 156). Zunächst muss es sich<br />

um ein staatliches Organ handeln, das durch Gesetz eingerichtet ist und auf ihm be-<br />

77<br />

279<br />

EGMR No. 7906/77, A 50, § 53 – Van Droogenbroeck (Pl.).<br />

280<br />

EGMR No. 10533/83, A 244, § 77 – Herczegfalvy; No. 36273/97, Rep. 2000-X, §§ 31 ff. – Oldham;<br />

No. 40787/98, § 44 – Hirst (2001); No. 44872/98, Rep. 2002-I, §§ 44 f. – Magalhaes Pereira;<br />

No. 59512/00, § 48 – Blackstock (2005). Der EGMR vermengt hier zum Teil die Frage der zeitlichen<br />

Abstände gerichtlicher Prüfungsverfahren mit der Verfahrensmaxime eines zügigen Prüfungsverfahrens.<br />

281<br />

EGMR No. 11400/85, A 164, § 21 – Bezicheri.<br />

282<br />

EGMR No. 4493/04, § 72 – Lebedev (2007).<br />

283<br />

EKMR, Kommissionsbericht, No. 6871/75, DR 22, 5, § 63 – Caprino (Pl.); No. 9403/81, DR 28,<br />

235, § 16 – X v. Vereinigtes Königreich; No. 10230/82, DR 32, 303 (304) – X v. Schweden.<br />

284<br />

Vgl. EGMR No. 48321/99, Rep. 2003-X, § 158 – Slivenko (GK) für eine Abschiebehaft von max.<br />

30 Stunden; No. 59334/00, § 177 – Chitayev u. Chitayev (2007); No. 11956/07, § 102 – Stephens<br />

(No. 1) (2009).<br />

285<br />

EGMR No. 44672/98, § 68 – Herz (2003); No. 277/05, § 61 – S. T. S. v. Niederlande (2011).<br />

286<br />

Grundlegend BVerfGE 96, 27 (39 f.); fortgeführt in BVerfGE 104, 220 (232–236). → Rn. 24.<br />

287<br />

EGMR No. 44672/98, § 67 – Herz (2003).<br />

Oliver Dörr 669


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

ruht. 288 Weiter kommen nur Gremien in Betracht, die sowohl von der Exekutive als<br />

auch von den anderen Streitparteien unabhängig sind und unparteiisch agieren. 289 In<br />

objektiver Hinsicht muss hierfür in Bezug auf alle Mitglieder des Spruchkörpers jeder<br />

vernünftige Zweifel an ihrer Unparteilichkeit ausgeschlossen sein. 290 Solche Zweifel<br />

bestehen aber z. B., wenn an der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Unterbringung<br />

auch ein Richter mitwirkt, welcher den Betroffenen zuvor als Sachverständiger<br />

untersucht hatte. 291 Das Recht auf Zugang zu einem Gericht darf beschränkt werden,<br />

sofern berechtigte Ziele verfolgt werden, die Beschränkung verhältnismäßig ist<br />

und den Wesensgehalt des Rechtes nicht antastet. 292<br />

78 Weiter hat das Gericht die Gewähr für ein justizförmiges Verfahren zu bieten, dessen<br />

Einzelheiten allerdings der zur Verhandlung stehenden Art der Freiheitsentziehung<br />

angepasst sein können. 293 In jedem Fall aber muss das »Gericht« für die Zwecke<br />

des Art. 5 Abs. 4 EMRK die Kompetenz haben, über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung<br />

verbindlich zu befinden und ggf. die Entlassung des Betroffenen anzuordnen.<br />

Eine nur empfehlende oder beratende Funktion genügt insoweit nicht 295 – selbst<br />

dann nicht, wenn die Exekutive entsprechenden Empfehlungen regelmäßig folgt. 296<br />

Ebenso unzureichend ist die Befugnis, nachträglich eine Entschädigung zuzusprechen.<br />

Die gerichtliche Prüfungsbefugnis muss sich grundsätzlich auf alle formellen<br />

und materiellen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung erstrecken.<br />

78<br />

79 Im GG ist die Entscheidung über »Zulässigkeit und Fortdauer« der Freiheitsentziehung<br />

dem »Richter« vorbehalten (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG). Wenngleich die Ausübung<br />

dieses Richtervorbehalts funktional eher eine Justizverwaltungs- denn rechtsprechende<br />

Tätigkeit darstellt, 299 geht es um die Ausübung richterlicher Gewalt im<br />

Sinne von Art. 92 GG, und zwar durch den gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101<br />

Abs. 1 Satz 2 GG. 300 Zum Wesen richterlicher Gewalt nach dem GG gehört vor allem,<br />

79<br />

288<br />

EGMR No. 58442/00, § 81 – Lavents (2002).<br />

289<br />

EGMR No. 2832/66 u. a., A 12, § 78 – De Wilde u. a. (Pl.); No. 27154/95, Rep. 2001-III, § 42 –<br />

D. N. v. Schweiz (GK); No. 28212/95, § 33 – Benjamin u. Wilson (2002).<br />

290<br />

EGMR No. 27154/95, Rep. 2001-III, § 44 – D. N. v. Schweiz (GK).<br />

291<br />

EGMR No. 27154/95, Rep. 2001-III, §§ 50–56 – D. N. v. Schweiz (GK).<br />

292<br />

EGMR No. 12788/04, S. 7 – Homann (Zul.) (2007).<br />

293<br />

EGMR No. 6301/73, A 33, § 57 – Winterwerp; No. 7215/75, A 46, § 53 – X v. Vereinigtes Königreich;<br />

No. 7906/77, A 50, § 50 – Van Droogenbroeck (Pl.); No. 9787/82, A 114, § 61 – Weeks (Pl.);<br />

No. 24530/94, § 33 – Vodeniarov (2000).<br />

294<br />

EGMR No. 7906/77, A 50, § 50 – Van Droogenbroeck (Pl.); No. 9787/82, A 114, § 61 – Weeks<br />

(Pl.); No. 21928/93, Rep. 1996-I, § 57 – Hussain; No. 28212/95, § 34 – Benjamin u. Wilson (2002);<br />

No. 46221/99, Rep. 2005-IV, § 66 – Öcalan (GK); No. 3455/05, § 202 – A v. Vereinigtes Königreich<br />

(GK) (2009); No. 36760/06, § 168 – Stanev (GK) (2012).<br />

295<br />

EGMR No. 7215/75, A 46, § 61 – X v. Vereinigtes Königreich; No. 9787/82, A 114, § 64 – Weeks<br />

(Pl.); No. 22414/93, Rep. 1996-V, § 130 – Chahal (GK).<br />

296<br />

EGMR No. 28212/95, § 36 – Benjamin u. Wilson (2002).<br />

297<br />

EGMR No. 46221/99, § 75 – Öcalan (2003); No. 46221/99, Rep. 2005-IV, § 71 – Öcalan (GK).<br />

298<br />

EGMR No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 65 – Brogan u. a. (Pl.); No. 31195/96, Rep. 1999-II, § 58<br />

– Nikolova (GK); No. 73281/01, § 81 – Gulub Atanasov (2008).<br />

299<br />

Ausführlich dazu M. Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht,<br />

2001, 109–268 m. w. N. Pauschal für den Rechtsprechungscharakter des Richtervorbehalts dagegen<br />

z. B. BVerfGE 22, 49 (76 f.); 49, 329 (341).<br />

300<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 41.<br />

670<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

dass sie durch einen unbeteiligten Dritten in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit<br />

ausgeübt wird. 301 Sachlich zuständig ist im Regelfall das Amtsgericht (vgl. § 23a<br />

Abs. 2 Nr. 1 und 6 GVG; § 40 Abs. 2 BPolG, Polizeigesetze der Länder).<br />

3. Prüfungsverfahren<br />

80 Art. 5 Abs. 4 EMRK enthält nach der Rechtsprechung des EGMR zunächst eine Anforderung<br />

an den innerstaatlichen Verfahrensgesetzgeber. Denn das darin gebotene gerichtliche<br />

Kontrollverfahren muss dem Einzelnen nach nationalem Recht mit hinreichender<br />

Sicherheit zur Verfügung stehen, eine insoweit unklare oder offene Rechtslage<br />

genügt dem von Abs. 4 geforderten Effektivitätsmaßstab nicht. 302 Auch muss das<br />

Verfahren nicht nur formalrechtlich, sondern auch in der Praxis tatsächlich zur Verfügung<br />

stehen: Der Inhaftierte muss sich nicht auf von vornherein aussichtslose Rechtsbehelfe<br />

verweisen lassen. 303 Sind minderjährige Kinder mit ihren Eltern von einer<br />

Freiheitsentziehung betroffen (z. B. im Rahmen eines Ausweisungsverfahrens), so<br />

muss auch ihnen selbst ein gerichtliches Prüfungsverfahren offenstehen. 304<br />

80<br />

81 Da die Norm nur auf die andauernde Freiheitsentziehung zielt (→ Rn. 76), muss das<br />

von ihr garantierte Prüfungsverfahren auf Primärrechtsschutz gerichtet sein, ein bloßer<br />

Sekundärrechtsschutz zur Erlangung von Schadensersatz oder Entschädigung genügt<br />

im Rahmen von Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht. 305 Das gerichtliche Verfahren selbst<br />

muss der jeweiligen Art der Freiheitsentziehung angepasst sein und dem Betroffenen<br />

angemessene rechtsstaatliche Garantien gewährleisten, wobei der volle rechtsstaatliche<br />

Standard des Art. 6 EMRK nicht in jedem Fall erforderlich sein soll. 306 Im Übrigen<br />

ist das innerstaatliche Verfahren insgesamt zu betrachten, so dass Verfahrensdefizite<br />

einer Prüfungsinstanz unter Umständen im Rahmen eines zur Verfügung stehenden<br />

gerichtlichen Rechtsbehelfs geheilt werden können. 307 Grundsätzlich gilt auch hier –<br />

wie für Art. 6 Abs. 1 EMRK –, dass der Staat nicht verpflichtet ist, dem Inhaftierten<br />

eine zweite Instanz zur Verfügung zu stellen; tut er dies aber, so muss auch das Rechtsbehelfsverfahren<br />

dem Standard des Art. 5 Abs. 4 EMRK genügen. 308<br />

81<br />

82 Aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 4 EMRK ergibt sich zunächst ein Antragsrecht<br />

des Betroffenen, um ein gerichtliches Prüfungsverfahren einzuleiten. Dazu genügt es,<br />

82<br />

301<br />

BVerfGE 4, 331 (346); 27, 312 (322); 87, 68 (85); 103, 111 (140).<br />

302<br />

EGMR No. 7906/77, A 50, § 54 – Van Droogenbroeck (Pl.); No. 11701/85, A 181-A, § 60 – E v.<br />

Norwegen; No. 24530/94, § 44 – Vodeniarov (2000); No. 16074/07, § 75 – Shchebet (2008).<br />

303<br />

EGMR No. 46221/99, §§ 69 f. – Öcalan (2003). Kann die Regierung keinen einzigen Fall benennen,<br />

in dem der fragliche Rechtsbehelf für zulässig gehalten worden wäre, so besteht kein effektives<br />

Kontrollverfahren, vgl. EGMR No. 21207/03, §§ 65–67 – C. B. v. Rumänien (2010).<br />

304<br />

EGMR Nos. 39472/07 u. 39474/07, § 124 – Popov (2012).<br />

305<br />

EGMR No. 46221/99, § 75 – Öcalan (2003).<br />

306<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 6301/73, A 33, § 57 – Winterwerp; No. 13770/88, A 237-A, § 22 –<br />

Megyeri; No. 27915/95, § 66 – Niedbala (2000); No. 27785/95, Rep. 2000-XI, § 125 – Włoch;<br />

No. 46082/99, § 72 – Klyakhin (2004); No. 12788/04, S. 7 – Homann (Zul.) (2007); No. 11956/07, § 95<br />

– Stephens (No. 1) (2009).<br />

307<br />

EGMR No. 7215/75, A 46, § 60 – X v. Vereinigtes Königreich; No. 9787/82, A 114, § 69 – Weeks<br />

(Pl.); No. 9106/80, A 129, § 61 – Bouamar; No. 45012/98, § 2 – Kamantauskas (2000).<br />

308<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 24430/94, § 42 – Lanz (2002); No. 12788/04, S. 7 – Homann (Zul.)<br />

(2007); No. 4493/04, § 73 – Lebedev (2007); No. 11956/07, § 95 – Stephens (No. 1) (2009),<br />

No. 18837/06, § 39 – Allen (2010), No. 277/05, § 43 – S. T. S. v. Niederlande (2011).<br />

Oliver Dörr 671


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

dass die Haftprüfung zwingend von Amts wegen einzuleiten ist, es sei denn, der Betroffene<br />

erhebt keine Einwendungen gegen die Haft. 309 Das Antragsrecht darf in Fällen,<br />

in denen die betroffene Person in der Lage ist, einen eigenen Willen zu bilden und<br />

zum Ausdruck zu bringen, nicht ausschließlich einer Betreuungsperson vorbehalten<br />

sein. 310 Der Zugang zum Gericht darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass der<br />

Betroffene zunächst die Unrechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung darlegt, denn genau<br />

darüber soll ja das Gericht entscheiden. 311<br />

83 Von entscheidender Bedeutung ist die Gewährung eines kontradiktorischen Verfahrens<br />

unter Wahrung prozessualer Waffengleichheit zwischen dem Betroffenen und<br />

den Vertretern der staatlichen Behörde, welche die Freiheitsentziehung betreibt. Dies<br />

bedingt zunächst eine Anhörung des Betroffenen sowie seine Möglichkeit, sich zum<br />

Vortrag der Behörde vor Gericht schriftlich oder mündlich zu äußern. 312 Dieses Recht<br />

zur erwidernden Stellungnahme wird nicht dadurch überflüssig, dass der Betroffene<br />

unter Umständen bereits in einem Freilassungsgesuch oder Haftprüfungsantrag seine<br />

Sicht der Dinge dargelegt hat. Die Anhörung kann persönlich oder, wenn notwendig,<br />

über einen Vertreter des Betroffenen erfolgen; 313 die persönliche Abwesenheit des<br />

Betroffenen kann also unter Umständen durch die Anwesenheit eines bevollmächtigten<br />

Vertreters kompensiert werden. Gegebenenfalls kann auch eine schriftliche Anhörung,<br />

im Eilfalle sogar eine Anhörung des Verfahrensbevollmächtigten am Telefon<br />

genügen. In Fällen der Freiheitsentziehung nach Abs. 1 lit. c (Untersuchungshaft)<br />

allerdings hält der Gerichtshof eine mündliche Verhandlung in jedem Fall für geboten.<br />

Auch ist die persönliche Anwesenheit des Betroffenen stets notwendig, wenn<br />

es seine Persönlichkeit, seinen Geisteszustand oder seine Gefährlichkeit zu beurteilen<br />

gilt. 317 Die Anhörung muss grundsätzlich nicht öffentlich stattfinden, 318 aber ihre äußeren<br />

Umstände müssen den Grundsätzes eines »fair hearing« genügen: Insbesondere<br />

darf der Betroffene bei dieser Gelegenheit nicht gedemütigt oder eingeschüchtert werden,<br />

der Richter muss stets den Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilich-<br />

83<br />

309<br />

EGMR No. 9787/82, A 114, § 65 – Weeks (Pl.). Für eine periodische Überprüfung von Amts<br />

wegen auch EGMR No. 32605/96, §§ 50 f. – Rutten (2001). Strikter hingegen EGMR No. 16074/07,<br />

§§ 77 f. – Shchebet (2008), wonach das Fehlen eines individuellen Intiativ- oder Antragsrechts den<br />

Konventionsverstoß begründet.<br />

310<br />

EGMR No. 13469/06, § 166 – D. D. v. Litauen (2012).<br />

311<br />

EGMR No. 6301/73, A 33, § 66 – Winterwerp.<br />

312<br />

EGMR No. 9862/82, A 107, § 51 – Sanchez-Reisse; No. 11894/85, A 224, § 84 – Toth;<br />

No. 21928/93, Rep. 1996-I, § 59 – Hussain; No. 25792/94, § 78 – Trzaska (2000); No. 24430/94, § 41<br />

– Lanz (2002); No. 37048/05, § 94 – Giorgi Nikolaishvili (2009); No. 18837/06, § 38 – Allen (2010).<br />

313<br />

EGMR No. 6301/73, A 33, § 60 – Winterwerp; No. 13770/88, A 237-A, § 22 – Megyeri;<br />

No. 46082/99, § 72 – Klaykhin (2004).<br />

314<br />

EGMR No. 9862/82, A 107, § 51 – Sanchez-Reisse.<br />

315<br />

EGMR No. 12535/86, A 185-A, § 33 – Wassink.<br />

316<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 162 – Assenov u. a.; No. 31195/96,<br />

Rep. 1999-II, § 58 – Nikolova (GK); No. 27915/95, § 66 – Niedbala (2000); No. 25792/94, § 74 –<br />

Trzaska (2000); No. 27785/95, Rep. 2000-XI, § 126 – Włoch; No. 37975/97, § 31 – Graužinis (2000);<br />

No. 24479/94, Rep. 2001-I, § 44 – Lietzow; No. 41293/98, unter 3. – Salonen u. Ståhl (2003);<br />

No. 46221/99, Rep. 2005-IV, § 68 – Öcalan (GK); No. 37048/05, § 91 – Giorgi Nikolaishvili (2009);<br />

No. 11956/07, § 95 – Stephens (No. 1) (2009); No. 5826/03, § 161 – Idalov (GK) (2012).<br />

317<br />

EGMR No. 53236/99, § 59 – Waite (2002); No. 4493/04, § 113 – Lebedev (2007).<br />

318<br />

EGMR No. 67175/01, Rep. 2005-XII, §§ 34–41 – Reinprecht; No. 4493/04, § 82 – Lebedev<br />

(2007); No. 5829/04, § 154 – Khodorkovskiy (2011).<br />

672<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

keit entsprechen. 319 Aus Gründen der »Fairness« hielt es der EGMR für geboten, dass<br />

die Betroffene bei der Rechtsmittelverhandlung über ihre Freilassung gegen Kaution<br />

persönlich anwesend sein darf. 320<br />

84 Eine wirksame Wahrnehmung des Anhörungsrechts kann in bestimmten Fällen<br />

eine anwaltliche Vertretung des Betroffenen gebieten. 321 Dies gilt vor allem, wenn der<br />

Betroffene wegen seines jugendlichen Alters oder geistigen Unvermögens zu einer eigenverantwortlichen<br />

Wahrnehmung seiner Rechte nicht imstande ist. In solchen Fällen<br />

ist dem kontradiktorischen Charakter des Verfahrens mit der persönlichen Anhörung<br />

des Betroffenen allein nicht genügt. Selbst in anderen Fällen kann das Fehlen rechtlichen<br />

Beistands einer von mehreren Anhaltspunkten sein, um die Konventionswidrigkeit<br />

des Prüfungsverfahrens zu begründen. 322 Der ungestörte Kontakt zwischen Häftling<br />

und Anwalt ist Voraussetzung für ein effektives, justizförmiges Haftprüfungsverfahren,<br />

daher ist die Beziehung zwischen Anwalt und Häftling grundsätzlich auch in<br />

diesem Zusammenhang als vertraulich zu respektieren (legal privilege). 323 Unterlagen<br />

aus diesem Verhältnis dürfen nur ganz ausnahmsweise aus gewichtigen Gründen eingesehen,<br />

beschlagnahmt oder gar in das Verfahren eingeführt werden. 324 Die wirksame<br />

Prozessvertretung darf nicht durch unangemessen kurzfristige Terminansetzungen<br />

oder Ladungsfristen behindert werden. 325 Auf der anderen Seite gibt Art. 5 Abs. 4<br />

EMRK keinen Anspruch darauf, seine Vertretung vor Gericht selbst, d. h. ohne Beiziehung<br />

eines Anwalts, zu übernehmen. 326<br />

84<br />

85 Der kontradiktorische Charakter des gerichtlichen Prüfungsverfahren sowie die gebotene<br />

Waffengleichheit zwischen den Parteien impliziert für den Betroffenen weiter<br />

ein Recht auf Akteneinsicht: Er oder sein Vertreter muss nach Art. 5 Abs. 4 EMRK<br />

tatsächlichen Zugang zu den für die Freiheitsentziehung relevanten Unterlagen haben,<br />

welche dem Gericht im Rahmen des Verfahrens vorliegen, vor allem wenn sie auch der<br />

Behördenseite zugänglich sind oder wenn diese sich auf sie bezieht. 327 Damit er in der<br />

Lage ist, seinen Rechtsschutzanspruch wirksam geltend zu machen, sind dem Betroffenen<br />

alle Informationen, die für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlich<br />

sind, in geeigneter Weise zugänglich zu machen. 328 Die im Ermittlungsverfahren<br />

gemäß § 147 Abs. 2 StPO bestehende Möglichkeit, die Akteneinsicht wegen einer mög-<br />

85<br />

319<br />

Vgl. EGMR No. 1704/06, §§ 129–136 – Ramishvili u. Kokhreidze (2009).<br />

320<br />

EGMR No. 18837/06, § 47 – Allen (2010).<br />

321<br />

EGMR No. 9106/80, A 129, § 60 – Bouamar; No. 13770/88, A 237-A, § 23 – Megyeri;<br />

No. 46221/99, § 72 – Öcalan (2003); No. 4493/04, §§ 84–91 – Lebedev (2007); No. 30471/08, § 141<br />

– Abdolkhani u. Karimnia (2009); No. 13469/06, § 163 – D. D. v. Litauen (2012).<br />

322<br />

Vgl. EGMR No. 22414/93, Rep. 1996-V, § 130 – Chahal (GK).<br />

323<br />

EGMR No. 23393/05, §§ 47–50 – Castravet (2007); No. 5829/04, §§ 198, 232 – Khodorkovskiy<br />

(2011).<br />

324<br />

EGMR No. 5829/04, § 198 – Khodorkovskiy (2011).<br />

325<br />

EGMR No. 33065/03, §§ 75–78 – Samoila u. Cionca (2008).<br />

326<br />

EGMR No. 9862/82, A 107, § 47 – Sanchez-Reisse.<br />

327<br />

EGMR No. 9787/82, A 114, § 66 – Weeks (Pl.); No. 10444/83, A 151, § 29 – Lamy; No. 31195/96,<br />

Rep. 1999-II, § 58 – Nikolova (GK); No. 27785/95, Rep. 2000-XI, § 127 – Włoch; No. 11364/03, § 124<br />

– Mooren (GK) (2009) m. w. N.<br />

328<br />

EGMR No. 24479/94, Rep. 2001-I, § 47 – Lietzow; No. 23541/94, § 42 – Garcia Alva (2001);<br />

No. 24244/94, § 80 – Migon (2002); No. 38884/97, § 97 – Nikolov (2003); No. 1704/06, § 124 – Ramishvili<br />

u. Kokhreidze (2009); Nos. 39298/04 u. 8723/05, § 116 – Krejčíř (2009); No. 5829/04, § 226 –<br />

Khodorkovskiy (2011).<br />

Oliver Dörr 673


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

lichen Gefährdung des Untersuchungszwecks zu verweigern, kann somit, wenn der<br />

Beschuldigte in Untersuchungshaft sitzt, gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK verstoßen. 329 Der<br />

EGMR scheint insoweit einen deutlich strengeren Maßstab als das BVerfG anzulegen.<br />

Auf das Akteneinsichtsrecht kann der Betroffene verzichten, allerdings muss<br />

ein solcher Verzicht, um wirksam sein zu können, eindeutig festgestellt sein. 331 Für die<br />

Zwecke der wirksamen Terrorbekämpfung kann das Recht auf Akteneinsicht eingeschränkt<br />

werden, z. B. durch ein Verfahren mit besonderen, staatlich ernannten Prozessbevollmächtigten,<br />

das allerdings nur dann den Anforderungen von Art. 5 Abs. 4<br />

entsprechen kann, wenn der Beschuldigte hinreichend über die Vorwürfe gegen ihn<br />

informiert wird. 332<br />

86 Eine wesentliche Gewährleistung im habeas-corpus-Verfahren ist der Anspruch auf<br />

eine zügige Entscheidung durch das Gericht. Auch Art. 5 Abs. 4 EMRK enthält eine<br />

entsprechende Garantie, deren zeitliches Element in der neuen amtlichen deutschen<br />

Übersetzung mit »innerhalb kurzer Frist« umschrieben ist. Sie gilt auch für Haftprüfungen,<br />

die von Amts wegen in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden. 333 Die<br />

zu beurteilende Zeitspanne beginnt regelmäßig mit der Antragstellung durch den Betroffenen<br />

bzw. – wenn die Haftprüfung von Amts wegen eingeleitet wird – mit den<br />

ersten Verfahrensschritten der zuständigen Behörde. 335 Sie endet grundsätzlich mit<br />

der Haftentscheidung des zuständigen Gerichts, 336 und zwar auch dann, wenn der<br />

Betroffene zu diesem Zeitpunkt nicht mehr festgehalten wird. 337<br />

86<br />

87 Die nach Abs. 4 zulässige Verfahrensdauer ist im Normtext mit »speedily«/»à bref<br />

délai« beschrieben, was sprachlich weniger strikt ist als »promptly«/»aussitôt« in<br />

Abs. 3 und erst recht als »promptly«/»dans le plus court délai« in Abs. 2. 338 Daher ist<br />

für die Haftprüfungsentscheidungen nach Art. 5 Abs. 4 EMRK als generelle Tendenz<br />

weniger Eile geboten. Wie bei anderen auf die Verfahrensdauer bezogenen Garantien<br />

auch 339 beurteilt der Gerichtshof die Einhaltung des konventionsrechtlichen Standards<br />

nicht anhand einer abstrakten Festlegung, sondern nach den Umständen des Einzelfalls<br />

und berücksichtigt dabei z. B. die Komplexität des Falles, die Art der Freiheitsentziehung,<br />

die für die Entscheidung notwendigen Ermittlungen und die Art und Weise,<br />

wie das Verfahren betrieben wurde. 340 Auch können Verzögerungen, die der Betroffene<br />

selbst zu verantworten hat, in diesem Zusammenhang nicht dem Staat zur Last<br />

87<br />

329<br />

Vgl. EGMR No. 24479/94, Rep. 2001-I, §§ 44 ff. – Lietzow; dazu O. Kieschke/B. Osterwald,<br />

Art. 5 IV EMRK contra § 147 II StPO, NJW 2002, 2003.<br />

330<br />

Kühne/Esser, 391; Kieschke/Osterwald (Fn. 329), 2004.<br />

331<br />

EGMR No. 25116/94, Rep. 2001-I, § 48 – Schöps.<br />

332<br />

EGMR No. 3455/05, §§ 217–223 – A. u. a. v. Vereinigtes Königreich (GK) (2009).<br />

333<br />

EGMR No. 32605/96, § 52 – Rutten (2001).<br />

334<br />

Und zwar auch, wenn sie zunächst bei der unzuständigen Stelle erfolgt, von dort aber an die<br />

zuständige weitergeleitet wird, vgl. EGMR No. 43191/98, § 24 – Laidin (2002).<br />

335<br />

EGMR No. 9862/82, A 107, § 54 – Sanchez-Reisse; No. 11487/85, A 185-B, § 28 – Koendjbiharie;<br />

No. 33492/96, § 88 – Jabloñski (2000).<br />

336<br />

Vgl. EGMR No. 11400/85, A 164, § 22 – Bezicheri; No. 9106/80, A 129, § 63 – Bouamar.<br />

337<br />

EGMR No. 11509/85, A 170-A, § 35 – Van der Leer. Anders, nämlich auf den Zeitpunkt der<br />

tatsächlichen Entlassung abstellend EGMR No. 43191/98, § 26 – Laidin (2002).<br />

338<br />

EGMR No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 59 – Brogan u. a. (Pl.); No. 11701/85, A 181-A, § 64 – E<br />

v. Norwegen. → auch Rn. 51.<br />

339<br />

Zu Art. 6 Abs. 1 EMRK → Grundsatz des fairen Verfahrens, Kap. 14 Rn. 114.<br />

340<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 9862/82, A 107, § 55 – Sanchez-Reisse; No. 29462/95, Rep. 2000-XII,<br />

674<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

gelegt werden. 341 Eine Arbeitsüberlastung des zuständigen Richters oder ein allgemein<br />

schleppender Verwaltungsablauf kann den langen Zeitablauf nicht rechtfertigen, da<br />

die Konventionsstaaten verpflichtet sind, ihr Justizsystem funktionsadäquat zu organisieren.<br />

In der Beschwerde- oder Rechtsmittelinstanz wird das Erfordernis der<br />

Zügigkeit grundsätzlich weniger strikt beurteilt. 343<br />

88 Als zu lang bewertete der Gerichtshof z. B. eine Dauer von sechs Monaten nach<br />

Widerruf der bedingten Entlassung aus der Sicherungsverwahrung, 344 von zwei und<br />

fünf Monaten, 345 ja sogar von 38–44 Tagen 346 im Rahmen der Untersuchungshaft, von<br />

zwei bis fünf Monaten bei einer zwangsweisen Unterbringung, 347 von über 30 Tagen<br />

bei bestehender Auslieferungshaft 348 . Dagegen ließ er Verfahrensfristen zwischen<br />

fünf und 20 Tagen bei andauernder Untersuchungshaft unbeanstandet. 349 Als generelle<br />

Faustregel wird eine Verfahrensdauer von mehr als drei Wochen für eine Instanz für<br />

problematisch gehalten, 350 was sich in mehreren Entscheidungen des EGMR vor allem<br />

zu Fällen mit bestehender Untersuchungshaft widerspiegelt. 351 War den Betroffenen<br />

bereits die richterliche Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK vorenthalten<br />

worden, so kann sogar eine Haft von sechs bis elf Tagen ohne Rechtsbehelf eine Verletzung<br />

auch von Art. 5 Abs. 4 EMRK begründen. 352<br />

88<br />

89 Schließlich verbürgt Art. 5 Abs. 4 EMRK dem Betroffenen für den Fall, dass die<br />

Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung festgestellt wird, ein Recht auf Freilassung<br />

und gibt damit den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung vor: Das Gericht muss die<br />

Entlassung anordnen, wenn es die Freiheitsentziehung als rechtswidrig erkannt hat.<br />

Unter Berücksichtigung der verwaltungstechnischen Notwendigkeiten ist die Freilassung<br />

umgehend zu vollziehen, die dafür notwendigen Formalitäten können allenfalls<br />

89<br />

§ 84 – Rehbock; No. 11364/03, § 106 – Mooren (GK) (2009) m. w. N.; No. 4691/06, § 92 – Jusic (2010);<br />

No. 277/05, § 43 – S. T. S. v. Niederlande (2011).<br />

341<br />

EGMR No. 9019/80, A 75, § 34 – Luberti; No. 11613/85, A 235-C, § 46 – Kolompar.<br />

342<br />

EGMR No. 11400/85, A 164, § 25 – Bezicheri; No. 11701/85, A 181-A, § 66 – E v. Norwegen;<br />

No. 277/05, § 48 – S. T. S. v. Niederlande (2011). → auch Grundsatz des fairen Verfahrens, Kap. 14<br />

Rn. 118.<br />

343<br />

EGMR No. 4493/04, § 96 – Lebedev (2007). In No. 277/05, §§ 45 f. – S. T. S. v. Niederlande<br />

(2011) hielt der EGMR eine Dauer von 55 Tagen in der Beschwerdeinstanz als solche für unproblematisch.<br />

344<br />

EGMR No. 7906/77, A 50, § 53 a. E. – Van Droogenbroeck (Pl.).<br />

345<br />

EGMR No. 11400/85, A 164, §§ 22–26 – Bezicheri; No. 27785/95, Rep. 2000-XI, § 135 – Włoch;<br />

No. 5826/03, §§ 157 f. – Idalov (GK) (2012).<br />

346<br />

EGMR No. 33492/96, § 94 – Jabloñski (2000); No. 38884/97, §§ 93–95 – Nikolov (2003);<br />

No. 40063/98, §§ 124 f. – Mitev (2004); No. 1704/06, §§ 137 f. – Ramishvili u. Kokhreidze (2009).<br />

347<br />

EGMR No. 11509/85, A 170-A, § 36 – Van der Leer; No. 11701/85, A 181-A, §§ 64–67 – E v.<br />

Norwegen; No. 11487/85, A 185-B, §§ 29 f. – Koendjbiharie; No. 32605/96, §§ 54 f. – Rutten (2001);<br />

No. 41376/98, § 31 – D. M. v. Frankreich (2002); No. 43191/98, § 30 – Laidin (2002): fünf Wochen.<br />

348<br />

EGMR No. 9862/82, A 107, §§ 56–61 – Sanchez-Reisse.<br />

349<br />

EGMR No. 12369/86, A 207, § 56 – Letellier; No. 4691/06, §§ 95 f. – Jusic (2010): 16 Tage;<br />

No. 5829/04, § 1247 – Khodorkovskiy (2011).<br />

350<br />

Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 5 Rn. 145; ähnlich EGMR No. 4493/04, § 97 – Lebedev<br />

(2007) mit Nachweisen aus der Rspr.<br />

351<br />

Vgl. EGMR No. 27426/95, §§ 28 ff. – G. B. v. Schweiz (2000) (32 Tage); No. 29462/95, Rep. 2000-<br />

XII, §§ 85 f. – Rehbock (23 Tage); No. 7064/05, § 96 – Mamedova (2006) (zwischen 26 und 36 Tagen);<br />

No. 1704/06, §§ 137 f. – Ramishvili u. Kokhreidze (2009) (38 Tage).<br />

352<br />

Vgl. EGMR No. 8805/79 u. a., A 77, § 58 – De Jong u. a.<br />

Oliver Dörr 675


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

eine Verzögerung von wenigen Stunden rechtfertigen. 353 Die von der Norm geforderte<br />

Freilassung muss allerdings nicht bedingungslos sein, sondern kann auch unter Auferlegung<br />

einer Kaution erfolgen. 354<br />

90 Auch unter dem GG soll die durch den Richtervorbehalt (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG)<br />

gebotene richterliche Kontrolle dem Betroffenen grundsätzlich vor dem Freiheitsentzug<br />

alle rechtsstaatlichen Sicherungen eines justizförmigen Verfahrens zuteil werden<br />

lassen. 355 Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber gemäß Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG ein<br />

Verfahren zu regeln, welches auf den jeweils zur Entscheidung stehenden Freiheitsentzug<br />

abgestimmt ist. Die Eilbedürftigkeit der Entscheidung kann eine Vereinfachung<br />

des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigen, dadurch darf aber die unabhängige richterliche<br />

Entscheidungsfindung nicht gefährdet sein. 356<br />

90<br />

91 Das Verfahren der richterlichen Entscheidung ist von Amts wegen einzuleiten. 357<br />

Der Richter entscheidet auf Antrag der zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde<br />

(vgl. § 417 Abs. 1 FamFG), eine Klage oder Beschwerde des Betroffenen ist – anders als<br />

nach Art. 5 Abs. 4 EMRK – nicht erforderlich. Der nicht formgebundene Antrag der<br />

Behörde muss auf eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit oder Fortdauer der<br />

Freiheitsentziehung gerichtet sein.<br />

91<br />

92 In Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur eigenen Sachverhaltsaufklärung<br />

muss sich der mit einer Freiheitsentziehung befasste Richter eine der Bedeutung<br />

der Freiheitsgarantie entsprechende tatsächliche Informationsgrundlage für seine Entscheidung<br />

verschaffen (→ Rn. 22). Dabei verlangt die grundrechtssichernde Funktion<br />

des Richtervorbehalts (und Art. 103 Abs. 1 GG), dass dem Betroffenen rechtliches,<br />

genauer: gerichtliches Gehör gewährt wird (vgl. § 420 FamFG), jedenfalls wenn die<br />

richterliche Entscheidung der Freiheitsentziehung nachfolgt. Dies wird regelmäßig<br />

eine persönliche Anhörung des Betroffenen gebieten (§ 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG). 358<br />

Vor allem im Verfahren der zwangsweisen Unterbringung psychisch Kranker hat der<br />

(erstinstanzliche) Richter sich einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen und<br />

seiner Erkrankung zu verschaffen, um den ärztlichen Gutachten die notwendige richterliche<br />

Kontrolle entgegensetzen zu können. 359 In dringenden Fällen ist die persönliche<br />

Anhörung unverzüglich nachzuholen. 360 Dagegen kann ein Rechtsmittelgericht<br />

von einer weiteren Anhörung absehen, wenn hiervon keine zusätzliche Sachaufklärung<br />

zu erwarten ist. 361 Vorneweg hat das zuständige Gericht zu prüfen, ob eine vorherige<br />

richterliche Entscheidung, die eigentlich von Verfassungs wegen geboten ist<br />

(→ Rn. 94), den Zweck der Freiheitsentziehung vereiteln würde und daher ausnahmsweise<br />

nachgeholt werden kann (→ Rn. 95). 362<br />

92<br />

353<br />

EGMR No. 11036/03, § 81 – Ladent (2008).<br />

354<br />

EGMR No. 11956/07, § 102 – Stephens (No. 1) (2009).<br />

355<br />

BVerfGE 83, 24 (32).<br />

356<br />

BVerfGE 83, 24 (32).<br />

357<br />

Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 27; Hartlaub, 111.<br />

358<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 50; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104<br />

Rn. 22 f.; Hartlaub, 111 f.<br />

359<br />

BVerfGE 58, 208 (222 f.); BVerfG (K) 1 BvR 338/07, NJW 2007, 3560 (3561).<br />

360<br />

BVerfGE 66, 191 (196 f.).<br />

361<br />

BVerfGE 65, 317 (323 f.).<br />

362<br />

BVerfG (K) 2 BvR 2367/07, NVwZ 2009, 1033 (1034).<br />

676<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

93 Die richterliche Entscheidung über eine Freiheitsentziehung bedarf einer einzelfallbezogenen<br />

Begründung, welche ihre rechtliche Nachprüfung ermöglicht. Das Ausfüllen<br />

eines vorgedruckten Formulars allein genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />

nicht. 363 Vielmehr muss der Richter die tatsächlichen und rechtlichen Eigenheiten<br />

des konkretes Falles benennen, so dass eine Subsumtion unter das angewandte<br />

Gesetz möglich ist. 364<br />

93<br />

94 Art. 104 Abs. 2, 3 GG regeln auch den Zeitpunkt der richerlichen Entscheidung. Die<br />

Norm geht davon aus, dass die dem Richtervorbehalt immanente Rechtsschutzfunktion<br />

grundsätzlich durch eine vorherige richterliche Kontrolle 365 erfüllt wird: Freiheitsentziehungen<br />

müssen grundsätzlich »auf richterlicher Anordnung« beruhen, d. h. der<br />

richterlichen Entscheidung nachfolgen.<br />

94<br />

95 Allerdings kann die konstitutive Entscheidung des Richters gemäß Art. 104 Abs. 2<br />

Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG ausnahmsweise auch nachträglich ergehen. Dieser Ausnahmefall<br />

ist nur im Falle einer besonderen Dringlichkeit (wenn bei vorgängiger richterlicher<br />

Entscheidung der Zweck der Freiheitsentziehung verfehlt würde, 366 was der Richter<br />

ausdrücklich zu prüfen hat [→ Rn. 92]) und zudem nur für eine kurze Zeitspanne<br />

zulässig: Im Anschluss an die Festnahme muss die konstitutive richterliche Entscheidung<br />

»unverzüglich« herbeigeführt werden, d. h. ohne jede Verzögerung, die sich nicht<br />

aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt. 367 Unter normalen Umständen gelten jedenfalls<br />

im Rahmen der Gefahrenabwehr zwei bis drei Stunden ab Festnahme als<br />

ausreichend. 368 Diese Verpflichtung besteht allerdings nicht, wenn der Grund für die<br />

Freiheitsentziehung entfällt, bevor eine richterliche Entscheidung möglich ist. 369 In<br />

diesen Fällen (vor allem des kurzfristigen Polizeigewahrsams) ist der Betroffene ohne<br />

richterliche Entscheidung freizulassen. Wegen des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abgeleiteten<br />

Beschleunigungsgebots (→ Rn. 21) muss auch die weitere Sachbehandlung durch<br />

den Richter dem Gebot der Unverzüglichkeit entsprechen; 370 insbesondere ist die Anhörung<br />

Festgenommener im gerichtlichen Dienstbetrieb mit Vorrang vor anderen<br />

Dienstgeschäften durchzuführen. 371 Unvermeidbare Verzögerungen sind von den an<br />

der Freiheitsentziehung beteiligten staatlichen Organen zu dokumentieren, da nur so<br />

eine spätere gerichtliche Überprüfung möglich ist. 372<br />

95<br />

96 Für den Fall des Exekutivgewahrsams 373 ohne richterliche Anordnung legt Art. 104<br />

Abs. 2 Satz 3 GG eine absolute Höchstdauer der Freiheitsentziehung fest: Der Betrof-<br />

96<br />

363<br />

BVerfGE 83, 24 (35). Zu den aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abgeleiteten Begründungsanforderungen<br />

→ Rn. 23.<br />

364<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 44.<br />

365<br />

BVerfGE 10, 302 (321); 105, 239 (248).<br />

366<br />

StRspr, z. B. BVerfGE 22, 311 (317 f.); 105, 239 (248 f.); BVerfG (K) 2 BvR 447/05, NVwZ 2006,<br />

579, Abs. 37; (K) 2 BvR 2367/07, NVwZ 2009, 1033; (K) 2 BvR 1608/07, EuGRZ 2011, 90, Abs. 23.<br />

367<br />

St.Rspr., z. B. BVerfGE 105, 239 (249); BVerfG (K) 2 BvR 447/05, NVwZ 2006, 579, Abs. 37; (K)<br />

2 BvR 1206/04, NVwZ 2007, 1044 (1045); (K) 2 BvR 2367/07, NVwZ 2009, 1033; BVerwG I C 31.72<br />

v. 26. 2. 1974, BVerwGE 45, 51 (63).<br />

368<br />

Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104 Rn. 33; Hartlaub, 113 m. w. N.<br />

369<br />

Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 104 Rn. 55; Hantel, Begriff, 182 f.<br />

370<br />

BVerfG (K) 2 BvR 447/05, NVwZ 2006, 579, Abs. 38.<br />

371<br />

Vgl. BVerfG (K) 2 BvR 1592/88, NJW 1990, 2309 (2310).<br />

372<br />

BVerfG (K) 2 BvR 1206/04, NVwZ 2007, 1044 (1045).<br />

373<br />

Zur Auslegung von »Polizei« i.S.v. Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG z. B. Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/<br />

Starck, GG, Art. 104 Rn. 56.<br />

Oliver Dörr 677


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

fene ist spätestens am Ende des Tages nach seiner Festnahme, also nach längstens 48<br />

Stunden, wieder freizulassen, wenn nicht ein Richter die Fortdauer der Freiheitsentziehung<br />

anordnet. Auch innerhalb dieser Frist aber unterliegt die staatliche Gewalt der<br />

Verpflichtung aus Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG, so dass die Nachholung der richterlichen<br />

Entscheidung auch dann verfassungsrechtlich geboten ist, wenn die Freiheitsentziehung<br />

vor Ablauf von 48 Stunden endet. 374<br />

4. Prüfungsumfang<br />

97 Als Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung nennt Art. 5 Abs. 4 EMRK die »Rechtmäßigkeit«<br />

der Freiheitsentziehung. Dies meint hier dasselbe wie in Art. 5 Abs. 1<br />

EMRK (→ Rn. 210–215), ihre Prüfung muss daher nicht nur das einschlägige nationale<br />

Recht erfassen, sondern auch den Text und die Prinzipien der Konvention berücksichtigen.<br />

Damit hat das Gericht über das innerstaatliche Haftrecht hinaus den materiell-rechtlichen<br />

Maßstab der Konvention, jedenfalls also das Art. 5 EMRK zugrundeliegende<br />

Willkürverbot, in Rechnung zu stellen (näher → Rn. 145 und 213).<br />

97<br />

98 Um seinen Kontrollauftrag erfüllen und das Handeln der Behörde wirksam überprüfen<br />

zu können, muss das Gericht Zugang zu den relevanten Unterlagen erhalten.<br />

Es verstößt daher gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK, wenn die einschlägigen Akten etwa unter<br />

Berufung auf die nationale Sicherheit vollständig vorenthalten werden. 376<br />

98<br />

99 Die gerichtliche Prüfung muss sich jedenfalls auf diejenigen Voraussetzungen erstrecken,<br />

die – nach nationalem und nach Konventionsrecht – für die Rechtmäßigkeit der<br />

Haft wesentlich sind. 377 Dies bezieht sich auf formelle wie materielle Haftvoraussetzungen,<br />

die allerdings je nach Art der Freiheitsentziehung variieren können. Im Falle<br />

einer Untersuchungshaft nach Abs. 1 lit. c muss die Prüfung nicht nur die Einhaltung<br />

des vorgeschriebenen Verfahrens, sondern auch den die Haft begründenden Tatverdacht<br />

und den legitimen Zweck der (andauernden) Haft umfassen. 378 Eine Unterbringung<br />

wegen Geisteskrankheit nach Abs. 1 lit. e muss daraufhin geprüft werden können,<br />

ob der Krankheitszustand fortbesteht und die Unterbringung weiterhin notwendig<br />

ist. 379 Die nachfolgende Kontrolle genügt den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4<br />

99<br />

374<br />

BVerfGE 105, 239 (249). Vorher schon z. B. Hantel, Begriff, 40 f. m. w. N.<br />

375<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 7906/77, A 50, § 48 – Van Droogenbroeck (Pl.); No. 9787/82, A 114,<br />

§ 57 – Weeks (Pl.); No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 65 – Brogan u. a. (Pl.); No. 11701/85, A 181-A, § 49<br />

– E v. Norwegen; No. 11787/85 u. a., A 190, § 68 – Thynne u. a. (Pl.); No. 22414/93, Rep. 1996-V, § 127<br />

– Chahal (GK); No. 40907/98, Rep. 2001-II, § 61 – Dougoz; No. 53541/07, § 72 – S. D. v. Griechenland<br />

(2009); No. 8687/08, § 113 – Rahimi (2011); Nos. 39472/07 u. 39474/07, § 122 – Popov (2012).<br />

376<br />

EGMR No. 22414/93, Rep. 1996-V, §§ 131 f. – Chahal (GK).<br />

377<br />

St.Rspr., z. B. EGMR No. 7906/77, A 50, § 49 – Van Droogenbroeck (Pl.); No. 8225/78, A 93,<br />

§ 52 – Ashingdane; No. 9787/82, A 114, § 59 – Weeks (Pl.); No. 11701/85, A 181-A, § 50 – E v. Norwegen;<br />

No. 11787/85 u. a., A 190, § 79 – Thynne u. a. (Pl.); No. 22414/93, Rep. 1996-V, § 127 – Chahal<br />

(GK); No. 24760/94, Rep. 1998-VIII, § 162 – Assenov u. a.; No. 40907/98, Rep. 2001-II, § 61 – Dougoz;<br />

No. 33977/96, § 94 – Ilijkov (2001); No. 53541/07, § 72 – S. D. v. Griechenland (2009); No. 8687/08,<br />

§ 113 – Rahimi (2011); No. 36760/06, § 168 – Stanev (GK) (2012).<br />

378<br />

EGMR No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 65 – Brogan u. a. (Pl.); No. 31195/96, Rep. 1999-II, § 58<br />

– Nikolova (GK); No. 34578/97, Rep. 2000-IX, § 100 – Ječius; No. 24479/94, Rep. 2001-I, § 44 – Lietzow;<br />

No. 33977/96, § 94 – Ilijkov (2001); No. 47679/99, § 90 – Stasaitis (2002); No. 46082/99, § 75 –<br />

Klyakhin (2004); No. 37048/05, § 92 – Giorgi Nikolaishvili (2009); No. 49872/11, § 276 – Tymoshenko<br />

(2013).<br />

379<br />

EGMR No. 7215/75, A 46, § 58 – X v. Vereinigtes Königreich.<br />

678<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

EMRK nicht, wenn sie sich auf eine medizinische Untersuchung stützt, die bereits 20<br />

Monate zurückliegt. 380<br />

100 Ist der Exekutive nach innerstaatlichem Recht allerdings ein Einschätzungs- oder<br />

Ermessenspielraum eingeräumt, so kann sich die gerichtliche Kontrolle darauf beschränken,<br />

die zugrunde gelegten Tatsachen sowie die Einhaltung der gesetzlichen<br />

Voraussetzungen zu überprüfen. 381 Eine reine Willkürkontrolle dürfte jedoch dem<br />

Rechtsschutzanspruch des Abs. 4 prinzipiell nicht genügen. 382 Auch in Bezug auf den<br />

gebotenen Kontrollumfang können Defizite eines Prüfungsorgans unter Umständen<br />

im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs geheilt werden. 383<br />

100<br />

101 Der Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG setzt voraus, dass der Richter<br />

mit seiner für die Freiheitsentziehung konstitutiven Entscheidung die volle Verantwortung<br />

für die Maßnahme übernimmt. 384 Dementsprechend hat sich der zuständige<br />

Richter ein eigenes Urteil darüber zu bilden, ob die Freiheitsentziehung im Einzelfall<br />

gesetzlich zulässig ist. Er muss sich – ggf. unter Heranziehung unabhängiger Sachverständiger<br />

– selbst davon überzeugen, dass die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen<br />

der Freiheitsentziehung vorliegen. Den Anforderungen des Art. 104 GG ist<br />

daher nicht genügt, wenn der Richter die Entscheidung über eine Unterbringung praktisch<br />

einem Sachverständigen überlässt 385 oder sich auf die Prüfung beschränkt, ob die<br />

für einen polizeilichen Gewahrsam vorgetragenen Gründe plausibel erscheinen. 386<br />

Insbesondere die Erforderlichkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme ist von Verfassungs<br />

wegen eingehend zu prüfen. 387<br />

101<br />

VIII. Recht auf Schadensersatz<br />

102 Art. 5 Abs. 5 EMRK garantiert dem Einzelnen, der eine Freiheitsentziehung unter Verstoß<br />

gegen Art. 5 EMRK erlitten hat, einen Anspruch auf Schadensersatz. Die Norm,<br />

welche im Rahmen des europäischen Schutzsystems in Art. 3 ZP 7 eine Parallele<br />

findet, 388 erfüllt zwei unterschiedliche Funktionen, die mit der innerstaatlichen Wirkungsweise<br />

der Konvention insgesamt zusammenhängen. Es handelt sich zunächst um<br />

ein an die Konventionsstaaten gerichtetes Normsetzungs- und -umsetzungsgebot. Die<br />

Staaten sind verpflichtet, einen entsprechenden Ersatzanspruch im nationalen Recht<br />

zur Verfügung zu stellen und für seine wirksame innerstaatliche Durchsetzung zu<br />

sorgen. Art. 5 Abs. 5 EMRK ist daher verletzt, wenn das innerstaatliche Recht einen<br />

solchen Anspruch nicht eröffnet, die nationalen Rechtsanwendungsorgane seine<br />

Durchsetzung verweigern oder aber die Möglichkeit seiner tatsächlichen Durchset-<br />

102<br />

380<br />

EGMR No. 44872/98, Rep. 2002-I, § 49 – Magalhaes Pereira; No. 44672/98, § 50 – Herz (2003).<br />

381<br />

EGMR No. 7215/75, A 46, § 56 – X v. Vereinigtes Königreich.<br />

382<br />

So wohl EGMR No. 5310/71, A 25, § 200 – Irland v. Vereinigtes Königreich (Pl.); großzügiger<br />

wohl No. 11701/85, A 181-A, § 60 – E v. Norwegen.<br />

383<br />

EGMR No. 9787/82, A 114, § 69 – Weeks (Pl.).<br />

384<br />

BVerfGE 10, 302 (310); 22, 311 (318).<br />

385<br />

BVerfGE 70, 297 (310).<br />

386<br />

BVerfGE 83, 24 (33).<br />

387<br />

BVerfGE 83, 24 (33 f.).<br />

388<br />

Die allerdings – wie das 7. Protokoll insgesamt – für Deutschland nicht in Kraft ist.<br />

Oliver Dörr 679


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

zung auch nur unsicher ist. 389 Für den Konventionsverstoß genügt es, dass der gebotene<br />

Schadensersatzanspruch der nationalen Rechtsordnung nicht mit hinreichender<br />

Sicherheit zu entnehmen ist. 390 Ebenso ist Art. 5 Abs. 5 EMRK verletzt, wenn das nationale<br />

Recht einen Ersatzanspruch zwar kennt, dieser aber nicht alle Verstöße gegen<br />

Art. 5 EMRK erfasst, 391 oder wenn das nationale Verfahrensrecht überhaupt keine<br />

Möglichkeit vorsieht, den formal gewährleisteten Anspruch geltend zu machen. 392 Dagegen<br />

ist dem Normsetzungsaspekt der Vorschrift in der Regel Rechnung getragen,<br />

wenn ihr selbst innerstaatliche Geltung zukommt und die staatlichen Organe dies beachten.<br />

Die Normanwendung ist konventionswidrig, wenn dem Betroffenen eine<br />

Geltendmachung des Anspruchs unmöglich gemacht wird, z. B. indem ein dafür notwendiger<br />

Abschluss eines Strafverfahrens unangemessen verzögert wird. 394<br />

103 Darüber hinaus ist Art. 5 Abs. 5 EMRK als konkrete und vollständige Gewährleistung<br />

formuliert, so dass er in Konventionsstaaten, in denen die Konventionsrechte<br />

innerstaatlich unmittelbar geltendes Recht sind (wie in Deutschland [→ Wirkung und<br />

Rang oder EMRK, Kap. 2 Rn. 45]), als eigenständige Anspruchsgrundlage unmittelbare<br />

Wirkung entfaltet. 395 Es handelt sich also um einen völkerrechtlichen Wiedergutmachungsanspruch,<br />

der als individueller Zahlungsanspruch vor innerstaatlichen Instanzen<br />

nach Maßgabe nationalen Verfahrensrechts geltend zu machen ist. Dieser Anspruch<br />

aus Art. 5 Abs. 5 EMRK tritt selbstständig neben das Verfahren gemäß Art. 41<br />

EMRK, wonach der EGMR dem Einzelnen auf der völkerrechtlichen Ebene einen<br />

Entschädigungsanspruch wegen Verstoßes gegen die Konvention zusprechen kann<br />

(→ Entschädigung und Schadensersatz, Kap. 33 Rn. 4). Dort allerdings geht es um<br />

einen gerechten Ausgleich (»just satisfaction«/»satisfaction équitable«), bei Art. 5<br />

Abs. 5 EMRK dagegen um eine echte Schadlosstellung (»compensation«/»réparation«)<br />

.<br />

103<br />

104 Voraussetzung für das Gebot der Anspruchseröffnung bzw. für den unmittelbar<br />

wirksamen Anspruch ist eine Verletzung der Rechte aus Art. 5 Abs. 1–4 EMRK. Soweit<br />

dort auf das nationale Recht verwiesen und dessen Einhaltung damit Voraussetzung<br />

für die Konventionsmäßigkeit ist, löst auch der Verstoß gegen innerstaatliche<br />

Vorschriften die Rechtsfolge des Art. 5 Abs. 5 EMRK aus. Dies gilt selbst dann, wenn<br />

das nationale Recht insoweit über die Anforderungen der Konvention hinausgeht. 397<br />

104<br />

389<br />

Für letzteres EGMR No. 11152/84, A 148, § 44 – Ciulla; No. 33343/96, §§ 268–270 – Pantea<br />

(2003).<br />

390<br />

EGMR No. 29462/95, Rep. 2000-XII, § 92 – Rehbock; No. 73281/01, § 85 – Gulub Atanasov<br />

(2008).<br />

391<br />

EGMR No. 40063/98, §§ 133–138 – Mitev (2004).<br />

392<br />

EGMR No. 49872/11, § 286 – Tymoshenko (2013).<br />

393<br />

Daher kommt ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 5 EMRK vor allem dann in Betracht, wenn die<br />

Konvention nicht Bestandteil des nationalen Rechts ist, vgl. z. B. EGMR No. 39474/98, Rep. 2002-III,<br />

§ 88 – D. G. v. Irland.<br />

394<br />

EGMR No. 59334/00, § 195 – Chitayev u. Chitayev (2007).<br />

395<br />

BGH III ZR 212/63 v. 10. 1. 1966, BGHZ 45, 46 (49–52); III ZR 118/64 v. 31. 1. 1966, BGHZ<br />

45, 58 (65); III ZR 3/92 v. 29. 4. 1993, BGHZ 122, 268 (269 f.); OLG Frankfurt/Main 1 W 10/09 v. 4. 5.<br />

2009, BeckRS 2009, 13811, unter II.2; LG Karlsruhe 2 O 278/11 v. 24. 4. 2012, EuGRZ 2012, 260,<br />

Rn. 24; F. Ossenbühl/M. Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, 631 und 634; Herzog (Fn. 105),<br />

235.<br />

396<br />

Für diese Unterscheidung schon Herzog (Fn. 105), 239 in Fn. 143.<br />

397<br />

Trechsel (Fn. 20), 266; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 5 Rn. 149. Vgl. aus der deutschen<br />

680<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

Die Verletzung von Art. 5 EMRK, ohne dass gleichzeitig auch gegen nationales Recht<br />

verstoßen wird, genügt jedoch, 398 so dass ein nationales Entschädigungsrecht, welches<br />

ausschließlich an die Verletzung nationalen Rechts anknüpft, den Anforderungen des<br />

Abs. 5 nicht entspricht. 399 Ein Kausalzusammenhang zwischen der Konventionsverletzung<br />

und dem Andauern der Freiheitsentziehung muss nicht bewiesen sein, 400 wohl<br />

aber kann das nationale Recht die Verursachung eines materiellen oder immateriellen<br />

Schadens zur Anspruchsvoraussetzung machen. 401 Ein Verschulden ist von Art. 5<br />

Abs. 5 EMRK nicht gefordert. 402 In Deutschland findet zudem § 839 Abs. 3 BGB auf<br />

den Anspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK Anwendung. 403<br />

105 Der Umfang der Ersatzpflicht bestimmt sich zunächst nach dem innerstaatlichen<br />

Recht. Als Vorgabe ergibt sich immerhin aus der Rechtsprechung zu Art. 41 EMRK<br />

(→ Entschädigung und Schadensersatz, Kap. 33 Rn. 19–27), dass dabei materielle wie<br />

immaterielle Schäden zu berücksichtigen sind. Dementsprechend können Betroffene<br />

vor deutschen Gerichten unter Berufung auf Art. 5 Abs. 5 EMRK auch Schmerzensgeld<br />

beanspruchen. 404 Die Höhe der Entschädigung muss im Ergebnis der Bedeutung des<br />

verletzten Rechts und den konkreten Umständen seiner Verletzung angemessen sein,<br />

sie unterliegt einer reinen Missbrauchskontrolle des Gerichtshofs. 405 Hierbei zieht der<br />

EGMR in jüngerer Zeit seine eigene Entschädigungspraxis gemäß Art. 41 EMRK als<br />

Vergleichsmaßstab heran und beurteilt innerstaatliche Entschädigungssummen, die<br />

erheblich dahinter zurück bleiben, als unzureichend. 406<br />

105<br />

106 Der Schadensersatzanspruch ist – gestützt auf eine nationale Norm oder auf Art. 5<br />

Abs. 5 EMRK selbst – vor innerstaatlichen Instanzen nach Maßgabe nationalen Verfahrensrechts<br />

geltend zu machen. Dabei kann die erforderliche Verletzung des Art. 5<br />

Abs. 1–4 EMRK ausdrücklich oder implizit durch das nationale Gericht selbst festgestellt<br />

werden, 407 oder aber der Anspruchssteller bezieht sich auf ein vorangegangenes<br />

106<br />

Praxis z. B. BGH III ZR 181/69 v. 14. 7. 1971, BGHZ 57, 33 (38); III ZR 3/92 v. 29. 4. 1993, BGHZ 122,<br />

268 (270); BGH III ZR 183/05 v. 18. 5. 2006, NVwZ 2006, 960, Rn. 11.<br />

398<br />

Vgl. die Beispielsfälle EGMR No. 11209/84 u. a., A 145-B, § 67 – Brogan u. a. (Pl.); No. 12244/86<br />

u. a., A 182, § 46 – Fox u. a.; No. 27267/95, Rep. 1999-I, § 69 – Hood (GK); No. 53236/99, § 73 – Waite<br />

(2002). S. auch BGH III ZR 118/64 v. 31. 1. 1966, BGHZ 45, 58 (64). Ebenso schon Herzog (Fn. 105),<br />

237.<br />

399<br />

Vgl. EGMR No. 29462/95, Rep. 2000-XII, § 91 f. – Rehbock; No. 37555/97, Rep. 2001-X, § 51 –<br />

O’Hara; No. 56003/00, §§ 119 f. – Aşan (2007); Nos. 17019/02 u. 30070/02, § 46 – I·pek u. a. (2009).<br />

400<br />

Vgl. EGMR No. 59512/00, § 51 – Blackstock (2005).<br />

401<br />

EGMR No. 12535/86, A 185-A, § 38 – Wassink; No. 9647/02, § 20 – Shilyayev (2005).<br />

402<br />

BGH III ZR 118/64 v. 31. 1. 1966, BGHZ 45, 58 (65–68); III ZR 3/92 v. 29. 4. 1993, BGHZ 122,<br />

268 (278); BGH III ZR 183/05 v. 18. 5. 2006, NVwZ 2006, 960, Rn. 12; OLG Schleswig 11 W 23/01<br />

v. 26. 11. 2001, NVwZ-Beil I/2002, 118.<br />

403<br />

OLG München 1 W 1314/06 v. 10. 8. 2006, NJW 2007, 1986 (1987); OLG Naumburg 4 W 20/04<br />

v. 3. 8. 2004, NJW 2005, 514 (515).<br />

404<br />

BGH III ZR 3/92 v. 29. 4. 1993, BGHZ 122, 268 (279–282); OLG Schleswig 11 W 23/01 v.<br />

26. 11. 2001, NVwZ-Beil I/2002, 118 (119); LG Karlsruhe 2 O 278/11 v. 24. 4. 2012, EuGRZ 2012,<br />

260, Rn. 50.<br />

405<br />

Vgl. z. B. EGMR No. 46750/99 – Attard (2000); No. 9647/02, § 21 – Shilyayev (2005).<br />

406<br />

Vgl. z. B. EGMR No. 2474/06, §§ 22, 30 – Ganea (2011): umgerechnet 63 Euro für drei Tage<br />

unzulässige Untersuchungshaft.<br />

407<br />

Vgl. EGMR No. 24952/94, §§ 32, 61 – N. C. v. Italien (2001); No. 9411/05, § 30 – Danev (2010);<br />

BGH III ZR 118/64 v. 31. 1. 1966, BGHZ 45, 58 (64); OLG Frankfurt/Main 1 W 10/09 v. 4. 5. 2009,<br />

BeckRS 2009, 13811, unter II.2.<br />

Oliver Dörr 681


Kap. 13<br />

Freiheit der Person<br />

Verfahren vor dem EGMR. Die Gestaltung des innerstaatliche Klageverfahrens überprüft<br />

der EGMR ebenfalls am Maßstab von Art. 5 Abs. 5: So dürfen z. B. die Beweisanforderungen<br />

in Bezug auf einen vom Betroffenen erlittenen immateriellen Schaden<br />

nicht übermäßig formalistisch gehandhabt werden, um die Wirksamkeit des Entschädigungsanspruchs<br />

nicht zu untergraben. 408<br />

106a In Deutschland ist der Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1<br />

VwGO vor den ordentlichen Gerichten zu erheben, und zwar gegen denjenigen Hoheitsträger,<br />

dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt<br />

wurde. 409 Die sachliche Zuständigkeit liegt ausschließlich beim Landgericht analog<br />

§ 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG. 410 Die Gerichte der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind, selbst<br />

wenn sie über die Rechtmäßigkeit der Abschiebungshaft zu befinden haben, ebensowenig<br />

zuständig wie die Strafvollstreckungskammern. 411 Für die Verjährung gelten<br />

die allgemeinen deliktsrechtlichen Regeln, jetzt also § 199 Abs. 2 und 3 BGB. 412 Da er<br />

rechtswidriges staatliches Handeln, aber kein Verschulden erfordert, ähnelt der Anspruch<br />

im System des deutschen Staatshaftungsrechts typologisch dem aufopferungsgleichen<br />

Eingriff. 413<br />

106a<br />

107 Der Text des GG kennt eine vergleichbare Schadensersatzgewährleistung nicht,<br />

wenngleich in den Beratungen des Parlamentarischen Rats noch an eine Staatshaftungsnorm<br />

mit Grundrechtscharakter gedacht war. 414 Allerdings geht die Verfassung<br />

in Art. 34 GG davon aus, dass auf der Ebene des einfachen Gesetzes ein Haftungsanspruch<br />

des Einzelnen für schuldhaftes Fehlverhalten von Amtsträgern besteht. In diesem<br />

Sinne enthält die Norm auch eine institutionelle Garantie der Staatshaftung. 415<br />

Von dieser verfassungsrechtlich vorausgesetzten, jedoch nicht näher ausgeformten<br />

Haftung sind auch Verstöße gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 GG umfasst.<br />

107<br />

108 Daneben tritt der ungeschriebene allgemeine Aufopferungsanspruch, der dem Einzelnen<br />

für – auch rechtswidrige 416 – Eingriffe in die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG<br />

eine angemessene Entschädigung bringt. Der im Richterrecht entwickelte Anspruch<br />

greift – im vorliegenden Zusammenhang – ein, wenn in die Freiheit der Person durch<br />

hoheitlichen Zwang zum Wohle der Allgemeinheit eingegriffen wird. 417 Das außerdem<br />

vom Einzelnen zu erbringende »Sonderopfer« ist durch die Rechtswidrigkeit des Ein-<br />

108<br />

408<br />

EGMR No. 9411/05, §§ 34 f. – Danev (2010).<br />

409<br />

OLG Hamm 15 W 313/02 v. 21. 10. 2002, NVwZ-Beil. I/2003, 40.<br />

410<br />

OLG Schleswig 11 W 23/01 v. 26. 11. 2001, NVwZ-Beil I/2002, 118 (119).<br />

411<br />

OLG Hamm 15 W 313/02 v. 21. 10. 2002, NVwZ-Beil. I/2003, 40; OLG München 1 Ws 289/95<br />

v. 5. 7. 2005, NStZ-RR 1996, 125 (126).<br />

412<br />

Früher § 852 BGB, vgl. BGH III ZR 118/64 v. 31. 1. 1966, BGHZ 45, 58 (75 f.), gebilligt durch<br />

BVerfG (K) 1 BvR 414/04, NJW 2005, 1567 f.<br />

413<br />

Ossenbühl/Cornils (Fn. 395), 634; R. Streinz, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen<br />

Recht, in: VVDStRL 61 (2002), 300 (312 f.).<br />

414<br />

Vgl. JöR NF 1 (1951), 324–328.<br />

415<br />

Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 34 Rn. 13 und 87; v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck,<br />

GG, Art. 34 Rn. 43.<br />

416<br />

Ossenbühl/Cornils (Fn. 395), 135 f.; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 674 und Art. 34<br />

Rn. 56; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 28 Rn. 4; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck,<br />

GG, Art. 14 Rn. 486.<br />

417<br />

Im Einzelnen Ossenbühl (Fn. 395), 134–136.<br />

682<br />

Oliver Dörr


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 13<br />

griffs indiziert. 418 Der Aufopferungsanspruch umfasst eine angemessene Entschädigung<br />

für die erlittenen Vermögensschäden, dagegen werden immaterielle Schäden<br />

nicht ausgeglichen. 419 Er wird durch gesetzlich geregelte Ansprüche, darunter jenem<br />

aus Art. 5 Abs. 5 EMRK und solchen nach dem Gesetz über die Entschädigung für<br />

Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG), verdrängt. 420 Allerdings handelt es sich beim<br />

allgemeinen Aufopferungsanspruch nicht wirklich um einen verfassungskräftigen Anspruch.<br />

Zwar wird seine theoretische Grundlage, der Aufopferungsgedanke als solcher,<br />

häufig auf der Verfassungsebene gesehen, 421 der konkrete Entschädigungsanspruch<br />

aber erhält seine – richterrechtliche – Ausformung als Institut des einfachen<br />

Rechts 422 und wird als solches in der Praxis geltend gemacht. 423<br />

109 Dem materiellen Grundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) selbst ist ein Entschädigungsanspruch<br />

nicht zu entnehmen, da die (noch) herrschende Grundrechtsdogmatik<br />

den grundrechtlichen Abwehranspruch auf Unterlassung und Beseitigung des Eingriffs<br />

beschränkt 424 und einen allgemeinen Haftungsanspruch bei rechtswidrigen<br />

Grundrechtseingriffen ablehnt. 425 Ein kompensatorischer Entschädigungsanspruch<br />

wird den Grundrechten dann nur als »mittelbare Grundrechtsberechtigung« entnommen,<br />

die erst in Gestalt ergänzender Normen des einfachen Rechts konkrete Rechtswirkungen<br />

entfalten kann. 426 Immerhin aber ist der Schutzauftrag des Freiheitsgrundrechts<br />

bei der Auslegung und Anwendung der einfachgesetzlichen Vorschriften über<br />

Schadensersatz und Schmerzensgeld hinreichend zu berücksichtigen und angemessen<br />

zu gewichten: Das wird die Zuerkennung von Schmerzensgeld als Ausgleich der immateriellen<br />

Schäden regelmäßig dann erfordern, wenn es für die freiheitsentziehende<br />

Maßnahme bereits an einer passenden Rechtsgrundlage fehlte. 427<br />

109<br />

418<br />

Ossenbühl/Cornils (Fn. 395), 136; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14<br />

Rn. 486.<br />

419<br />

Maurer (Fn. 416), § 28 Rn. 15; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 677 und Art. 34 Rn. 58;<br />

kritisch dazu z. B. Ossenbühl/Cornils (Fn. 395), 147 f.<br />

420<br />

Ossenbühl/Cornils (Fn. 395), 149; kritisch Maurer (Fn. 416), § 28 Rn. 6; OLG Frankfurt/Main<br />

1 W 10/09 v. 4. 5. 2009, BeckRS 2009, 13811, unter II.4a.<br />

421<br />

Z. B. von Ossenbühl/Cornils (Fn. 395), 130; Maurer (Fn. 416), § 28 Rn. 1.<br />

422<br />

Ebenso Ossenbühl/Cornils (Fn. 395), 131; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 34 Rn. 40.<br />

423<br />

Grundlegend BGH III ZR 208/51 v. 19. 2. 1953, BGHZ 9, 83.<br />

424<br />

M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, 671–682; W. Höfling, Primär- und Sekundärrechtsschutz<br />

im Öffentlichen Recht, in: VVDStRL 61 (2002), 260 (269–273).<br />

425<br />

Deutlich BVerfG (K) 1 BvR 2068/93, NVwZ 1998, 271 (272); (K) 1 BvR 1359/05, NJW 2006,<br />

1580; Bonk, in: Sachs, GG, Art. 34 Rn. 43 m. w. N.; A. Gromotisaris, Die staathaftungsrechtliche Dimension<br />

der Grundrechte, DÖV 2006, 288 (294); M. Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht,<br />

2011, 127–143. Für einen grundrechtlichen Haftungsanspruch demgegenüber z. B. F. Schoch, Folgenbeseitigung<br />

und Wiedergutmachung im Öffentlichen Recht, VerwArch. 79 (1988), 1 (44–49): negatorischer<br />

und restitutorischer Beseitigungsanspruch; ders., Effektuierung des Sekundärrechtsschutzes.<br />

Zur Überwindung des Entwicklungsrückstands des deutschen Staatshaftungsrechts, Die Verwaltung<br />

34 (2001), 261 (274 f.); U. Hösch, Staatshaftung und Aufopferung, DÖV 1999, 192 (193–197); D. Röder,<br />

Die Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002, insbes. 199–318; Stelkens, Staatshaftungsreform<br />

im Mehrebenensystem, DÖV 2006, 770 (773). Offener auch BVerfG (K) 1 BvR 414/04, NJW 2005,<br />

1567.<br />

426<br />

Höfling (Fn. 424), 273; ders., in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen<br />

des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2009, § 51 Rn. 87. Zum Konzept der »mittelbaren Grundrechtsberechtigungen«<br />

auch Sachs (Fn. 424), 597 ff.<br />

427<br />

Vgl. BVerfG (K) 1 BvR 2853/08, NJW 2010, 433, Abs. 21–25.<br />

Oliver Dörr 683


B. Strukturvergleich<br />

Kap. 16<br />

B. Strukturvergleich<br />

I. Verortung der Gewährleistungen<br />

15 Der Schutz des Privat- und Familienlebens wird in der EMRK in einem einheitlichen<br />

Grundrecht zusammengefasst. Art. 8 EMRK gewährleistet ausdrücklich einen Anspruch<br />

auf Achtung des Privatlebens, des Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs,<br />

wobei sich diese vier Bereiche nicht in jeder Hinsicht eindeutig voneinander<br />

abgrenzen lassen und Überschneidungen aufweisen. 113 Demgegenüber erfasst das GG<br />

den Schutz des Privat- und Familienlebens durch eine Reihe unterschiedlicher Grundrechte.<br />

Dabei finden Ehe und Familie einen besonderen Schutz in Art. 6 GG. Darüber<br />

hinaus sind die Unverletzlichkeit der Wohnung in Art. 13 GG und das Brief-, Post- und<br />

Fernmeldegeheimnis in Art. 10 GG garantiert. Einen ausdrücklichen grundrechtlichen<br />

Schutz der »Privatsphäre« kennt das GG ebensowenig wie zahlreiche andere mitgliedstaatliche<br />

Verfassungen. 114 Insoweit bemüht die Rechtsprechung des BVerfG Art. 2<br />

Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, denen sie nicht nur ein so genanntes allgemeines Persönlichkeitsrecht<br />

entnimmt, sondern durch die sie einen umfassender angelegten<br />

unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung geschützt sieht, der der Einwirkung<br />

der öffentlichen Gewalt grundsätzlich entzogen ist. 116 Damit ist grundgesetzlich der<br />

Schutz der Privatsphäre des Einzelnen gewährleistet. Die jeweils andere textuelle Verortung<br />

der Gewährleistungen in EMRK und GG bringt unterschiedliche Wahrnehmungen<br />

der Gefährdung grundrechtlich geschützter Güter zum Ausdruck. Sie entfaltet<br />

darüber hinaus auch Bedeutung für Inhalt und Gewicht der jeweiligen Grund- und<br />

Menschenrechte, insbesondere im Hinblick auf die zwischen ausdrücklich formulierten<br />

und interpretatorisch abgeleiteten Gewährleistungen bestehenden Unterschiede.<br />

15<br />

II. Stellenwert der Gewährleistungen innerhalb der Grundrechtskataloge<br />

16 Das GG stellt vom Wortlaut her spezifische Ausprägungen der Privatsphäre in den<br />

Vordergrund und verwendet den (Ober-) Begriff der Privatsphäre selbst nicht. Gelegentlich<br />

findet sich dieser Begriff allerdings in der Rechtsprechung des BVerfG. 117 Dies<br />

gilt besonders für den Schutz der »räumlichen Privatsphäre« 118 , der nach seiner geschichtlichen<br />

Entwicklung 119 in engem Zusammenhang mit der freien Entfaltung der<br />

Persönlichkeit steht. 120 Nach Auffassung des BVerfG soll Art. 13 GG dem Einzelnen<br />

einen »elementaren Lebensraum« 121 gewährleisten, innerhalb dessen er das Recht hat,<br />

16<br />

113<br />

Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 1; Wildhaber/Breitenmoser, in: IK-EMRK, Art. 8<br />

Rn. 1; A. W. Heringa/L. Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, 664 f.; Harris/O’Boyle/<br />

Warbrick, 303; Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 1.<br />

114<br />

Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 2.<br />

115<br />

Vgl. dazu statt aller Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 68 f.<br />

116<br />

BVerfGE 35, 202 (219); 72, 155 (170); 82, 236 (269); 90, 263 (270).<br />

117<br />

BVerfGE 101, 361 (382).<br />

118<br />

BVerfGE 65, 1 (40).<br />

119<br />

Herdegen, in: BK GG, Art. 13 Rn. 4 ff.<br />

120<br />

Pieroth/Schlink, Rn. 945.<br />

121<br />

BVerfGE 42, 212 (219); 51, 97 (110).<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn 885


Kap. 16<br />

Privat- und Familienleben<br />

»in Ruhe gelassen zu werden« 122 . Während der Begriff der »Privatsphäre« kaum in<br />

Zusammenhang mit dem Schutz der Individualkommunikation nach Art. 10 GG verwendet<br />

wird, hat die Rechtsprechung auf der Grundlage des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />

ein relativ weitreichendes Recht des Einzelnen entwickelt, sich »zurückzuziehen,<br />

abzuschirmen, für sich und allein zu bleiben« 123 . Dabei unterscheidet das<br />

BVerfG zwischen der dem staatlichen Zugriff vollständig entzogenen Intimsphäre 124<br />

und der (übrigen) Privatsphäre, in die unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />

eingegriffen werden darf. 125 Verfassungspolitisch fällt auf, dass die gesellschaftliche<br />

Sensibilität – gemessen an einschlägigen Debatten in den Medien – im<br />

Hinblick auf den (verfassungsrechtlichen) Schutz der Privatsphäre jenseits der Art. 10<br />

und 13 GG sowie des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung weniger ausgeprägt<br />

zu sein scheint als beispielsweise in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien.<br />

Dadurch werden bestimmte Bedrohungsszenarien weniger intensiv wahrgenommen<br />

und weniger plakativ in der öffentlichen Auseinandersetzung problematisiert.<br />

Das mag auch mit der uneinheitlichen Positivierung des Schutzes der<br />

Privatsphäre im GG zusammenhängen. Selbst die Verfassungsrechtler scheinen sich<br />

der Komplexität und der Sensibilität der Privatsphäre nicht immer vollumfänglich bewusst<br />

zu sein, erörtern doch nur wenige verfassungsrechtliche Lehrbücher die einschlägigen<br />

Grundrechte insgesamt aus dieser Perspektive. 128 Demgegenüber besitzt<br />

die EMRK mit dem zwar knapp, aber doch plakativ formulierten Art. 8 EMRK jedenfalls<br />

das Potenzial, die »Botschaft« eines umfassenden Schutzes privater Lebensgestaltung<br />

gegenüber dem Staat auch nach außen zu »transportieren«. Die deutsche<br />

Debatte könnte gegebenenfalls von der umfassenderen Perspektive der EMRK und<br />

daraus resultierenden Impulsen profitieren.<br />

17 Der umfassenden Gewährleistung der Privatsphäre durch Art. 8 EMRK kommt darüber<br />

hinaus eine lückenfüllende Funktion zu (vgl. → Lücken der EMRK, Kap. 9<br />

Rn. 82 ff.). So sind einige Kommentatoren in Ermangelung einer ausdrücklichen Gewährleistung<br />

der körperlichen Unversehrtheit in der EMRK der Ansicht, dass das<br />

Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über seinen Körper notwendiger Bestandteil<br />

des Privatlebens sei. Schutzgut soll insoweit die physische und psychische Integrität<br />

des Einzelnen sein. 129 Damit kann Art. 8 EMRK in denjenigen Fällen einer Beeinträchtigung<br />

der körperlichen Integrität Bedeutung erlangen, 130 die nicht die für Art. 3<br />

17<br />

122<br />

BVerfGE 27, 1 (6); 103, 142 (150).<br />

123<br />

Pieroth/Schlink, Rn. 394.<br />

124<br />

BVerfGE 38, 312 (320). Zur Intimsphäre als Wesensgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />

vgl. BVerfGE 80, 367 (373 f.).<br />

125<br />

Pieroth/Schlink, Rn. 396.<br />

126<br />

Zur intensiven Debatte über die Integration biometrischer Daten in Ausweispapiere vgl. B. Roy,<br />

A Case against Biometric National Identification Systems (NIDS) – »trading-off« Privacy without<br />

getting Security, WRLSI 19 (2005), 45 und F. Dumortier, L’utilisation de la biométrie et des RFIDs<br />

dans le cadre de l’espace européen de liberté, de sécurité et de justice, ERA-Forum 9 (2009), 543.<br />

127<br />

Für die dt. Debatte vgl. statt aller G. Saeltzer, Sind diese Daten personenbezogen oder nicht?,<br />

DuD 2004, 218 und G. Hornung, Der Personenbezug biometrischer Daten, DuD 2004, 429.<br />

128<br />

Besonders deutlich J. Ipsen, Staatsrecht II, Grundrechte, 15. Aufl. 2012, 73 ff. (§ 6 ist überschrieben<br />

mit »Der Schutz der Privatsphäre«).<br />

129<br />

K. Reid, A Practitioner’s Guide to the ECHR, 1998, 323.; s. a. Pätzold, in: Karpenstein/Mayer,<br />

Art. 8 Rn. 7.<br />

130<br />

Vgl. auch Art. 2 EMRK.<br />

886<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn


B. Strukturvergleich<br />

Kap. 16<br />

EMRK erforderliche Schwere erreichen und/oder gleichzeitig die Missachtung der betroffenen<br />

Person zum Ausdruck bringen (→ Das Verbot von Folter, Kap. 11 Rn. 143). 131<br />

Auf der Ebene des GG wird demgegenüber der Schutz der körperlichen Unversehrtheit<br />

umfassend durch Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistet. 132 Zwei Besonderheiten verdienen<br />

besondere Beachtung: zum einen das Problem der sexuellen Selbstbestimmung,<br />

das der EGMR Art. 8 EMRK zuordnet und das BVerfG in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1<br />

GG verortet; 133 zum anderen kommt Art. 8 EMRK auch in den Abtreibungsfällen<br />

Bedeutung zu, soweit es um das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über ihrer eigenen<br />

Körper geht, 134 eine Rechtsfrage, die das BVerfG zunächst der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />

(Art. 2 Abs. 1 GG) zugeordnet hatte, 135 in der zweiten Abtreibungsentscheidung<br />

dann allerdings mit dem Persönlichkeitsrecht der Frau in Verbindung brachte<br />

(Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). 136<br />

18 Ganz anders gelagerte strukturelle Unterschiede lassen sich beim Schutz des Familienlebens<br />

ausmachen. Das GG schützt zunächst Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG.<br />

Demgegenüber unterscheidet die EMRK zwischen dem in Art. 8 EMRK gewährleisteten<br />

Familienleben, das damit dezidiert in den (freiheits- und abwehrrechtlichen) Kontext<br />

des Privatlebens gestellt wird, und dem in Art. 12 EMRK enthaltenen Recht auf<br />

Eheschließung. Auch im Übrigen fällt auf, dass Art. 6 GG umfassender angelegt ist als<br />

Art. 8 EMRK. So ist das Elternrecht, das in Art. 2 ZP im Zusammenhang mit dem<br />

Recht auf Bildung gewährleistet wird, in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG enthalten. Auch stellt<br />

Art. 6 GG den Aspekt positiver Verpflichtungen des Staates viel stärker in den Vordergrund<br />

als Art. 8 EMRK dies tut. Art. 6 Abs. 4 und 5 GG mit dem Anspruch der Mutter<br />

auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft und Art. 6 Abs. 5 GG mit dem Anspruch<br />

des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern auf Verbesserung der Bedingungen<br />

für seine leibliche und seelische Entwicklung und gesellschaftliche Stellung normieren<br />

Schutz- und Teilhaberechte, die sich mit einem vergleichbaren Inhalt nicht ohne Weiteres<br />

aus Art. 8 EMRK herleiten lassen. Jenseits dessen lassen sich Art. 6 Abs. 4 und 5<br />

GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG als besondere Gleichheitssätze lesen. Die unterschiedliche<br />

Reichweite von Art. 6 GG und dem Schutz des Familienlebens in Art. 8 EMRK erklärt<br />

18<br />

131<br />

Vgl. auch Naismith, Privat and Family Life, Home and Correspondence, in: M. de Salvia/M. E.<br />

Villiger, The Birth of European Human Rights Law, 1998, 150.<br />

132<br />

Grundlegend G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987.<br />

133<br />

BVerfGE 47, 46 (73); 96, 56 (61); 101, 361 (382); differenzierend Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I<br />

Rn. 25.<br />

134<br />

Zur Frage, ob das ungeborene Leben durch Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK geschützt ist und ob den<br />

Staat eine entsprechende Schutzpflicht trifft, vgl. ablehnend H. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskommission,<br />

1968, Art. 2 Z iff. 2; aus neuerer Zeit P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen<br />

Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, 734 ff. Ablehnend dazu, ob Art. 8<br />

EMRK für Abtreibungsfälle relevant ist EKMR No. 6959/75, DR 5, 103 – Brüggemann u. Scheuten<br />

(Pl.); differenzierend EGMR No. 5410/03, Rep. 2007-I, §§ 104, 112, 117–118 – Tysią c.<br />

135<br />

BVerfGE 39, 1 (43): »Bei einer Orientierung an Art. 1 Abs. 1 GG muss die Entscheidung zugunsten<br />

des Vorrangs des Lebensschutzes für die Leibesfrucht vor dem Selbstbestimmungsrecht der<br />

Schwangeren fallen. Diese kann durch Schwangerschaft, Geburt und Kindeserziehung in manchen<br />

persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt sein.«<br />

136<br />

BVerfGE 88, 203 (254): »Als vom Lebensrecht des Ungeborenen berührte Rechtsgüter kommen<br />

dabei – ausgehend vom Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde<br />

(Art. 1 Abs. 1 GG) – vor allem ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2<br />

Abs. 2 GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in Betracht.«<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn 887


Kap. 16<br />

Privat- und Familienleben<br />

sich u. a. daraus, dass auf der Ebene der EMRK keine »Familienpolitik« im eigentlichen<br />

Sinne betrieben werden kann, was für die grundgesetzliche Ebene natürlich anders zu<br />

beurteilen ist. Der grundgesetzliche Gesetzgeber kann schützend und fördernd eingreifen<br />

und insbesondere haushaltswirksame Maßnahmen zugunsten der Familie beschließen.<br />

Den familienpolitischen Implikationen von Gemeinschaftsrechtsakten entspricht<br />

es auch, dass die GRC – im Unterschied zur EMRK – den sozioökonomischen<br />

Aspekten des Familienlebens Rechnung trägt (Art. 33 GRC). So kritisch mancher<br />

Kommentator das gesamte Kapitel über Solidarität und damit auch den hier zu erörternden<br />

besonderen sozioökonomischen Schutz des Familienlebens aus grundrechtlicher<br />

Perspektive bewerten mag, 137 die Thematik liegt der EU nicht zuletzt wegen ihrer<br />

nach wie vor wesentlichen wirtschaftspolitischen Ausrichtung näher als die in Anlehnung<br />

an Art. 8 und 12 EMRK formulierten überkommenen Gewährleistungen der<br />

Art. 7 und 9 GRC.<br />

19 In Anbetracht des Wortlauts von Art. 8 EMRK, insbesondere der vier einander überlappenden<br />

Garantiebereiche, aber auch der damit verbundenen umfassenden Gewährleistung<br />

eines Freiheitsraums des Einzelnen als Grundlage der freien Persönlichkeitsentfaltung,<br />

ist diese Bestimmung der EMRK besonders geeignet, neuen Gefährdungslagen<br />

durch eine entsprechende Interpretation des Schutzbereichs Rechnung zu tragen.<br />

Dies war schon der Kommission und ist heute dem Gerichtshof intensiv bewusst und<br />

wurde und wird von beiden genutzt. Zu den prägnantesten Beispielen gehört insoweit<br />

sicherlich die grund- und menschenrechtliche Dimension des Umweltschutzes<br />

(→ Rn. 32). Es lassen sich aber auch weitere Bereiche nennen, in Anlehnung an die<br />

schon erläuterten neueren Bedrohungen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung,<br />

des Internet, der technischen Möglichkeiten der Wohnraumüberwachung und<br />

zahlreicher weiterer staatlicher Begehrlichkeiten im Hinblick auf die Privatsphäre des<br />

Einzelnen (→ Rn. 30 f.). Allerdings ist Art. 8 EMRK weder nach der systematischen<br />

Stellung noch nach seinem Inhalt ein oder gar »das« Auffanggrundrecht der EMRK<br />

(→ Lücken der EMRK, Kap. 9 Rn. 82). Anders als das GG, dessen Art. 2 Abs. 1 GG<br />

eine – wenn auch nicht unumstrittene 138 – durch das BVerfG entwickelte Grundlage<br />

zur Entwicklung eines lückenlosen Grundrechtsschutzes bietet, gewährleistet die<br />

EMRK keinen umfassenden Grund- und Menschenrechtsschutz. Trotzdem ist und<br />

bleibt die dem Art. 8 EMRK innewohnende Dynamik bemerkenswert 139 und verspricht<br />

auch für die Zukunft, dass die EMRK jedenfalls im Hinblick auf den Schutz der<br />

Privatsphäre anpassungsfähig bleiben wird. Der Auffangcharakter wird von der<br />

Rechtsprechung vor allem dadurch vermieden, dass stets ein möglichst direkter Bezug<br />

zu den einschlägigen Gewährleistungen hergestellt werden muss. Im Umweltschutz<br />

19<br />

137<br />

Vgl. etwa R. Knöll, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Inhalte, Bewertung<br />

und Ausblick, NVwZ 2001, 392 (394).<br />

138<br />

S. dazu Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 42 ff. m. w. N.<br />

139<br />

Instruktiv J. Frowein, Die evolutive Auslegung der EMRK, in: T. Marauhn (Hrsg.), Recht, Politik<br />

und Rechtspolitik in den internationalen Beziehungen, 2005, 1 (6 ff.).<br />

888<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn


B. Strukturvergleich<br />

Kap. 16<br />

war dies zunächst die ausdrücklich durch Art. 8 EMRK geschützte Wohnung, 140 später<br />

allgemeiner das Privatleben. 141<br />

III. Grundrechtsdimensionen<br />

20 Art. 8 EMRK ist nicht nur wegen der auf den Schutzbereich bezogenen Dynamik bemerkenswert.<br />

Auch in Bezug auf die Grundrechtsdimensionen hat die Auslegung dieser<br />

Vorschrift in der Straßburger Spruchpraxis eine beachtliche Entwicklung erfahren.<br />

Ausgangspunkt ist der Wortlaut der Vorschrift. Es ist dort nicht nur vom »Recht auf«<br />

die genannten Garantiebereiche die Rede, sondern vom »Recht auf Achtung« (»right<br />

to respect«/»droit au respect«) des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung und<br />

des Briefwechsels (zur Entstehungsgeschichte → Rn. 6). Diese Formulierung kann man<br />

zwar als »umständlich« charakterisieren. 142 Abgesehen davon kann sie jedoch auch<br />

den Ausgangspunkt 143 für eine über die abwehrrechtliche Dimension hinausgehende<br />

Auslegung des Art. 8 EMRK bilden. Eine solche Auslegung ändert jedenfalls grundsätzlich<br />

nichts daran, dass der »wesentliche Zweck des Artikels« 144 darin besteht, den<br />

Einzelnen gegenüber willkürlichen Eingriffen in sein Privat- und Familienleben zu<br />

schützen, also in der abwehrrechtlichen Dimension und der darauf beruhenden negativen<br />

Verpflichtung. 145 Daneben tritt jedoch – heute unstreitig – eine positive Verpflichtung<br />

der Konventionsstaaten. 146 Aufbauend auf der vom EGMR dem Art. 8<br />

EMRK entnommenen allgemeinen Verpflichtung, sinnvolle und angemessene Maßnahmen<br />

zur Sicherung der durch diese Vorschrift gewährleisteten Rechte des Einzelnen<br />

zu ergreifen, 147 hat der Gerichtshof Leistungspflichten des Staates beispielsweise<br />

zur Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern 148 und zur Anerkennung<br />

von Geschlechtsänderungen 149 abgeleitet. Nicht anerkannt hat der EGMR dagegen das<br />

20<br />

140<br />

EGMR No. 16798/90, A 303-C, § 58 – López Ostra. In No. 9310/81, A 172, § 40 – Powell u.<br />

Rayner heißt es: »the quality of [each] applicant’s private life and the scope for enjoying the amenities<br />

of his home [had] been adversely affected«. Vgl. hierzu aber auch den Text von Art. 1 ZP: »peaceful<br />

enjoyment of his possessions«.<br />

141<br />

In EGMR Nos. 21825/93 u. 23414/94, Rep. 1998-III, § 96 – McGinley u. Egan ging es um Belastungen<br />

am Arbeitsplatz durch Atomversuche.<br />

142<br />

So etwa Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 1; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 1. Vgl. aber<br />

auch EGMR No. 9532/81, A 106, § 37 – Rees (Pl.).<br />

143<br />

Zur Bedeutung des Wortlauts für die Gewährleistungsdimensionen vgl. auch Wildhaber/Breitenmoser,<br />

in: IK-EMRK, Art. 8 Rn. 1 u. 35; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 1; s. a. EGMR<br />

No. 9532/81, A 106, § 37 – Rees (Pl.).<br />

144<br />

Deutlich Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 1.<br />

145<br />

Das betont etwa EGMR No. 6833/74, A 31, § 31 – Marckx (Pl.).<br />

146<br />

Schon im Fall Marckx greift der EGMR diese Verpflichtung auf, No. 6833/74, A 31, § 31 –<br />

Marckx (Pl.). Zu den Einzelheiten → Rn. 103.<br />

147<br />

EGMR No. 9532/81, A 106, § 37 – Rees (Pl.); No. 9310/81, A 172, § 41 – Powell u. Rayner;<br />

No. 14967/89, Rep. 1998-I, § 58 – Guerra u. a. (GK).<br />

148<br />

Hierzu und zu vergleichbaren dem Recht auf Achtung des Familienlebens entnommenen Pflichten<br />

vgl. EGMR No. 6833/74, A 31, § 45 – Marckx (Pl.); No. 9697/82, A 112, § 74 – Johnston u. a. (Pl.);<br />

No. 31871/96, Rep. 2003-VIII, § 86 – Sommerfeld (GK); zu Fragen der erbrechtlichen Gleichstellung<br />

nichtehelicher Kinder vgl. EGMR No. 3545/04 – Brauer (2009).<br />

149<br />

Einschlägig ist insoweit das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung; vgl. EGMR No. 25680/94,<br />

§§ 51 ff. – I v. Vereinigtes Königreich (GK) (2002); No. 28957/95, Rep. 2002-VI, §§ 71 ff. – Goodwin<br />

(GK).<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn 889


Kap. 16<br />

Privat- und Familienleben<br />

Recht eines anonym geborenen Kindes auf Kenntnis der persönlichen Herkunft. 150<br />

Daneben treten vom Gerichtshof ebenfalls anerkannte Schutzpflichten, einerseits im<br />

Zusammenhang mit Umweltbelastungen (→ Rn. 32, 103), 151 andererseits aber auch das<br />

Recht am eigenen Bild gegenüber Veröffentlichungen in der Presse und in anderen<br />

Medien. 152 Schließlich entnimmt der EGMR dem Recht auf Achtung des Familienlebens<br />

eine Reihe von Verfahrensgarantien, 153 um die häufig zu irreversiblen Entscheidungen<br />

führenden Verfahren fair zu gestalten. 154<br />

21 Die deutsche Rechtsprechung zu den einschlägigen grundgesetzlichen Garantien<br />

stellt ebenfalls – mit gewissen Abweichungen im Hinblick auf Art. 6 GG (zur Institutsgarantie<br />

sogleich → Rn. 22) 155 – die abwehrrechtliche Dimension in den Vordergrund.<br />

Dies gilt offensichtlich für das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis des<br />

Art. 10 GG. Allerdings ist hier auch eine staatliche Pflicht zum Schutz vor Übergriffen<br />

nichtstaatlicher Dritter anerkannt, welcher der Gesetzgeber durch den entsprechenden<br />

Einsatz straf-, zivil- oder verwaltungsrechtlicher Instrumente Rechnung tragen<br />

kann. 157 Dabei kommt dieser Schutzpflichtdimension insbesondere nach der Privatisierung<br />

der Deutschen Bundespost und der Liberalisierung des Post- und Telekommunikationssektors<br />

besondere Bedeutung zu. 158 Die Schutzpflicht ist auch im Rahmen<br />

der so genannten Kryptokontroverse nicht zu unterschätzen. 159 Das GG selbst sieht<br />

verfahrensrechtliche Sicherungen vor. Teilweise gehen die einfachgesetzlich vorgesehenen<br />

Richtervorbehalte bei der Post- und Fernmeldeüberwachung aber auch darüber<br />

hinaus. 160 Während sich im Fall von Art. 13 GG eine Reihe verfahrensrechtlicher Anforderungen<br />

an Durchsuchungen und sonstige Eingriffe aus dem GG ergeben, ist die<br />

Schutzpflicht eher nachrangig, wenngleich sie grundsätzlich anerkannt ist. 161 Auch im<br />

Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist eine grundrechtliche Schutzpflicht<br />

anerkannt, 162 wobei sich die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur ausführlich mit<br />

dem presse- bzw. medienrechtlichen Gegendarstellungsanspruch auseinandergesetzt<br />

21<br />

150<br />

EGMR No. 42326/98, Rep. 2003-III, §§ 44 ff. – Odièvre (GK).<br />

151<br />

Grundlegend EGMR No. 9310/81, A 172, §§ 41, 45 – Powell u. Rayner.<br />

152<br />

Statt aller EGMR No. 59320/00, Rep. 2004-VI, §§ 76 ff. – von Hannover (No. 1); krit. dazu Grabenwarter,<br />

Medienfreiheit und Bildnisschutz nach der Menschenrechtskonvention, in: J. Bröhmer<br />

u. a. (Hrsg.), FS Georg Ress, 979. Vgl. auch die neue Rspr. des EGMR Nos. 40660/08 u. 60641/08,<br />

Rep. 2012, §§ 124 ff – von Hannover (No. 2) (GK).<br />

153<br />

Zu diesem Problem schon Brötel, 163 ff.; s. dazu a. EGMR No. 8978/80, A 91, § 27 – X u. Y v.<br />

Niederlande und No. 66746/01, §§ 83, 92–95 – Connors (2004).<br />

154<br />

Statt aller EGMR No. 28867/03, A 290, § 55 – Keegan; No. 16424/90, A 307-B, § 87 – McMichael.<br />

155<br />

Vgl. auch Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 30 ff.<br />

156<br />

Für Art. 6 Abs. 1 GG ist die abwehrrechtliche Dimension mit zahlreichen Problemen vor allem<br />

beim Eingriffsbegriff behaftet; vgl. BVerfGE 80, 81 (92) sowie Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 6<br />

Rn. 123 ff. Bei Art. 10 GG ist die abwehrrechtliche Dimension unstr.: Hermes, in: Dreier, GG, Art. 10<br />

Rn. 47; ebenso bei Art. 13 GG: Hermes, in: Dreier, GG, Art. 13 Rn. 29 ff. Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht<br />

vgl. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 83 ff.<br />

157<br />

BVerfGE 106, 28; T. Groß, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 10 Rn. 52 ff.<br />

158<br />

Vgl. nur T. Groß, Die Schutzwirkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses nach der<br />

Privatisierung der Post, JZ 1999, 326 (327).<br />

159<br />

Marauhn (Fn. 96), 82.<br />

160<br />

S. nur §§ 100, 100b StPO und § 23 a ZFdG.<br />

161<br />

BVerfGE 97, 228 (265 f.).<br />

162<br />

Zum einfachgesetzlichen Schutzinstrumentarium vgl. H. Forkel, JuS 1988, 869 u. JuS 1989,<br />

721.<br />

890<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn


B. Strukturvergleich<br />

Kap. 16<br />

hat. 163 Diesen beurteilte das Gericht als adäquat und räumte – anders als der EGMR 164<br />

– der Pressefreiheit erhebliches Gewicht im Abwägungsvorgang ein. 165 Obwohl die<br />

unterschiedliche Bewertung des Caroline (No. 1)-Falles für erhebliches Aufsehen gesorgt<br />

hat, 166 stimmten beide Gerichte im Ausgangspunkt, nämlich in der schutzrechtlichen<br />

Dimension des Persönlichkeitsrechts (und des Privatlebens), überein. Im Folgenden<br />

haben die deutschen Gerichte ihre Rechtsprechung an die Vorgaben des EGMR<br />

angepasst. 167 Letzterer anerkennt in neuer Rechtsprechung die sorgfältige Abwägung<br />

zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Achtung des<br />

Privatlebens durch die nationalen Gerichte. 168<br />

22 Obwohl somit grundsätzlich deutliche strukturelle Parallelen zwischen den Grundrechtsdimensionen<br />

des Art. 8 EMRK und der einschlägigen Gewährleistungen des GG<br />

(Art. 6, Art. 10, Art. 13 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) auszumachen sind,<br />

gibt es doch in zweierlei Hinsicht Unterschiede von erheblichem Gewicht. Dies gilt<br />

zunächst für die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Institutsgarantien von Ehe und Familie,<br />

durch welche die gesetzgeberische Gestaltungsmacht bei der Regelung ehelicher<br />

und familiärer Rechtsbeziehungen tendenziell stärker beschränkt wird als dies nach<br />

der EMRK der Fall ist. Unabhängig davon, ob sie unter der Weimarer Reichsverfassung<br />

vom Bürgertum strukturkonservativ gegen den potentiell nicht den gleichen Wertvorstellungen<br />

verpflichteten parlamentarischen Gesetzgeber instrumentalisiert wurde<br />

oder Ausgangspunkt der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte (wie sie in<br />

Art. 1 Abs. 3 GG positiviert wurde) ist, 169 liefert die Lehre von den Institutsgarantien<br />

Maßstäbe zur Konkretisierung normativ auszugestaltender Schutzbereiche. Danach<br />

ist der Gesetzgeber gehalten, nur solche Konkretisierungen vorzunehmen, die auch<br />

dessen Bezeichnung verdienen. 170 Vor diesem Hintergrund ergeben sich nicht zuletzt<br />

unterschiedliche Schlussfolgerungen (zwischen EMRK und GG) für den Ehebegriff,<br />

der jedenfalls unter Rückgriff auf die Lehre von den Institutsgarantien auf der Grundlage<br />

des GG für gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht zur Verfügung steht. 171<br />

Weitere Besonderheiten ergeben sich sowohl aus dem teilhaberechtlichen als auch aus<br />

dem gleichheitsrechtlichen Charakter weiterer Gewährleistungen des Art. 6 GG. 172<br />

22<br />

163<br />

BVerfGE 63, 131 (142 f.); 73, 118 (199, 201).<br />

164<br />

EGMR No. 59320/00, Rep. 2004-VI, §§ 76 ff. – von Hannover (No. 1).<br />

165<br />

BVerfGE 97, 125 (146 ff.) – Caroline von Monaco I.<br />

166<br />

S. dazu nur F. A. Z. v. 2. 9. 2004, Schwarzer Mittwoch – Das Bundeskabinett schließt sich dem<br />

»Caroline-Urteil« an, 38.<br />

167<br />

BVerfG 1 BvR 1602/07 u. a., www.bverfg.de; Anm. W. Hoffmann-Riem, Die Caroline II-Entscheidung<br />

des BVerfG, Ein Zwischenschritt bei der Konkretisierung des Kooperationsverhältnisses<br />

zwischen den verschiedenen betroffenen Gerichten, NJW 2009, 20; D. Heckmann, Bildberichterstattung<br />

über das Privat- und Alltagsleben prominenter Personen, jurisPR-ITR 8/2008 Anm. 2.<br />

168<br />

EGMR Nos. 40660/08 u. 60641/08, Rep. 2012, §§ 124 ff. – von Hannover (No. 2) (GK) Anm.<br />

S. Engels/V. Haisch, EGMR stärkt Pressefreiheit mit öffentlichem Interesse, GRUR-Prax 2012, 81<br />

sowie M. Lehr, GRUR 2012, 750; s. a. EGMR No. 39954/08 – Axel Springer AG (GK) (2012).<br />

169<br />

Einen Überblick über die historischen und dogmengeschichtlichen Grundlagen der Lehre von<br />

den Einrichtungsgarantien gibt Mager (Fn. 36), 12 ff.<br />

170<br />

Ipsen (Fn. 128), Rn. 153, auf M. Wolff, Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner<br />

Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl, 1923, IV-1 (6) verweisend.<br />

171<br />

Statt aller BVerfGE 105, 313 (351). Diese Unterschiede zwischen EMRK und GG relativiert<br />

Wolff, 727 f.<br />

172<br />

Vgl. dazu nur Pieroth/Schlink, Rn. 720 ff.<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn 891


Kap. 16<br />

Privat- und Familienleben<br />

Ein zweiter, nicht ganz so gravierender Strukturunterschied hängt mit der unterschiedlichen<br />

Verankerung von Privatleben (Art. 8 EMRK) und allgemeinem Persönlichkeitsrecht<br />

(Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) zusammen. Der grundgesetzliche<br />

Bezug zur Menschenwürde ist nicht eine bloße Verstärkung des Persönlichkeitsrechts.<br />

Vielmehr stellt sich die Frage, ob das Moment der Menschenwürde eine Grundrechtsträgerschaft<br />

von juristischen Personen grundsätzlich ausschließt. 173 Dies würde<br />

dann – insbesondere in Zusammenhang mit der Schutzpflichtdimension – auf der<br />

grundgesetzlichen Ebene den Schutz des guten Rufes juristischer Personen jedenfalls<br />

relativieren.<br />

IV. Ausdifferenzierung von Schutzbereich und Schrankensystematik<br />

23 Aus der grundgesetzlichen Verortung der verschiedenen, den Inhalten des Art. 8<br />

EMRK vergleichbaren Schutzbereiche in unterschiedlichen Grundrechten ergibt sich<br />

zwangsläufig auf dieser Ebene ein differenziertes Schrankenmodell. Dieses ist aufgrund<br />

der Besonderheiten der normativen Verankerung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />

nochmals komplexer als die ohnehin schon aus dem Text fließenden Differenzierungen.<br />

Die grundgesetzliche Gewährleistung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses<br />

in Art. 10 GG unterliegt als Abwehrrecht zwei unterschiedlichen<br />

Schranken: zum einen dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 10 Abs. 2 Satz 1<br />

GG, zum anderen dem besonderen Vorbehalt zu Zwecken des Staats- und Verfassungsschutzes<br />

nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG. Dass der allgemeine Gesetzesvorbehalt<br />

ausnahmslos gilt, hat das BVerfG auch für sogenannte Sonderstatusverhältnisse klargestellt.<br />

Auf der Grundlage des Vorbehalts des Parlamentsgesetzes lässt sich die<br />

Schlussfolgerung ziehen, dass die materiellen Eingriffsvoraussetzungen ebenso wie<br />

die grundlegenden Modalitäten eines Eingriffs vom parlamentarischen Gesetzgeber<br />

selbst festgelegt werden müssen. 175 Die Staatsschutzklausel des Art. 10 Abs. 2 Satz 2<br />

GG hat das BVerfG vor allem wegen ihrer wenig präzisen Kriterien dazu veranlasst,<br />

im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG eine »verfassungskonforme Verfassungsauslegung«<br />

vorzunehmen 176 und insbesondere den Begriff des »Schutzes« insoweit restriktiv auszulegen,<br />

als sich die Gefährdungen der Verfassungsordnung oder des Staates aus nachprüfbaren<br />

tatsächlichen Anhaltspunkten 177 ergeben müssen. Die Grenzen der Einschränkbarkeit<br />

ergeben sich insbesondere aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, aus<br />

dem auch eine Pflicht zur Erfolgskontrolle der gesetzgeberischen Maßnahmen (insbesondere<br />

bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität) fließt. 178 Zudem sind gerade<br />

im Hinblick auf den Ausschluss von Benachrichtigung und Rechtsweg organisa-<br />

23<br />

173<br />

Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 82.<br />

174<br />

BVerfGE 33, 1 (11 f.).<br />

175<br />

Zur Frage, ob § 88 Abs. 2 Satz 2 TKG eine hinreichende Verordnungsermächtigung für die<br />

TKÜV darstellt, vgl. R. P. Schenke, Exekutive Rechtssetzung bei der strafprozessualen Überwachung<br />

der Telekommunikation – Ein Verstoß gegen den strafprozessualen Vorbehalt des Gesetzes?, MMR<br />

2002, 8 (9).<br />

176<br />

Vgl. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 10 Rn. 60.<br />

177<br />

BVerfGE 67, 157 (179); vgl. auch BVerfGE 100, 313 (361 f.).<br />

178<br />

Dies betont zu Recht Hermes, in: Dreier, GG, Art. 10 Rn. 65; vgl. zum Kontext auch J. Bizer,<br />

Praxis der TK-Überwachung, DuD 2002, 216.<br />

892<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn


B. Strukturvergleich<br />

Kap. 16<br />

tions- und verfahrensrechtliche Sicherungen unabdingbar. 179 Art. 13 GG enthält ein<br />

differenziertes Schrankensystem in den Abs. 2 bis 7, das primär an Art und Intensität<br />

des Eingriffs anknüpft. 180 Je nach Eingriffsintensität legt das GG Anforderungen an<br />

die Form und das Verfahren des Eingriffs sowie an die jeweils erforderlichen materiellen<br />

Gründe fest. Auch wenn die Schrankensystematik des Art. 13 GG insgesamt nicht<br />

besonders überzeugend ist, verdienen die – allerdings unterschiedlich ausgestalteten<br />

– Richtervorbehalte der Absätze 2 bis 5 Beachtung. 181 Danach ist jedenfalls sowohl bei<br />

der Durchsuchung als auch beim Lausch- und Spähangriff die richterliche Anordnung<br />

die Regel. Besondere Probleme werfen auch die Schranken des verfassungsrechtlichen<br />

Schutzes von Ehe und Familie auf. Dabei ist zunächst festzustellen, dass Ehe und Familie<br />

in Art. 6 Abs. 1 GG vorbehaltlos gewährleistet werden. 182 Beim Elternrecht dagegen<br />

findet sich in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt, zu<br />

dem Art. 6 Abs. 3 GG eine ausdrückliche Schranken-Schranke normiert. Im Übrigen<br />

(zu einschlägigen ausländerrechtlichen Fragestellungen → Rn. 48) ist auf kollidierendes<br />

Verfassungsrecht abzustellen, soweit staatliche Eingriffe – jenseits der Ehe und<br />

Familie definierenden Regelungen 183 – der Rechtfertigung bedürfen. Was schließlich<br />

das Zusammenspiel von Schutzbereich und Schranken beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht<br />

betrifft, so greift zwar vom Grundsatz her die Schrankentrias des Art. 2<br />

Abs. 1 GG. 184 Sie wird aber wegen des Zusammenspiels mit Art. 1 Abs. 1 GG erheblich<br />

modifiziert, sodass das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Ergebnis weniger weitreichenden<br />

Schranken unterliegt als die allgemeine Handlungsfreiheit. 185 Nicht durchgesetzt<br />

haben sich Versuche, das allgemeine Persönlichkeitsrecht ganz an Art. 1 Abs. 1<br />

GG heranzuführen und seine Uneinschränkbarkeit zu konstruieren. 186 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

wird allerdings beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht grundsätzlich<br />

streng angewendet und markiert dadurch deutliche Grenzen der Einschränkbarkeit.<br />

187 Auf der Grundlage einer sogenannten Sphärentheorie 188 gibt es in diesem<br />

Zusammenhang Bemühungen der Rechtsprechung, den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts,<br />

der gelegentlich als Intimsphäre gekennzeichnet wird, absolut zu schützen.<br />

189<br />

179<br />

So auch BVerfGE 100, 313 (359 ff. u. 385 ff.).<br />

180<br />

Vgl. dazu Hermes, in: Dreier, GG, Art. 13 Rn. 29.<br />

181<br />

Hermes, in: Dreier, GG, Art. 13 Rn. 31.<br />

182<br />

Dies betonen Pieroth/Schlink, Rn. 707.<br />

183<br />

Hierbei wiederum ist die Lehre von der Institutsgarantie zu berücksichtigen; vgl. dazu Mager<br />

(Fn. 36), 195 ff.<br />

184<br />

Dies ist auch nach wie vor der vom BVerfG gewählte Ausgangspunkt; vgl. BVerfGE 65, 1 (44);<br />

78, 77 (85). Es legt dann aber strengere Maßstäbe bei der Auslegung der »verfassungsmäßigen Ordnung«<br />

an; vgl. dazu Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 86.<br />

185<br />

Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 86; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 30; Jarass<br />

(Fn. 57), NJW 1989, 857 (860 f.).<br />

186<br />

So aber etwa P. Tiedemann, Von den Schranken des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, DÖV<br />

2003, 74 (76 f.). Für eine Beschränkbarkeit nur durch Grundrechte anderer J. Lücke, Die spezifischen<br />

Schranken des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihre Geltung für die vorbehaltlosen Grundrechte,<br />

DÖV 2002, 93 (94 ff.).<br />

187<br />

Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 87.<br />

188<br />

Vgl. beispielsweise BVerfGE 32, 373 (378 f.); zur Sphärentheorie insgesamt R. Alexy, Theorie<br />

der Grundrechte, 1985, 327 ff.<br />

189<br />

Krit. zur Tauglichkeit dieser Konstruktion Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 87 f.<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn 893


Kap. 16<br />

Privat- und Familienleben<br />

24 Auf der Ebene von Art. 8 EMRK wird der Ausdifferenzierung von Schutzbereich<br />

und Schranken vor allem im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung<br />

getragen. Unbeschadet der generellen Anwendbarkeit von Art. 8 Abs. 2 EMRK als<br />

einheitlicher Schrankenregelung hat die Straßburger Spruchpraxis im Laufe der Jahre<br />

eine Reihe von Fallgruppen entwickelt, 190 für die nicht nur unterschiedliche Spielräume<br />

der Mitgliedstaaten bestehen, 191 sondern auch unterschiedliche Gewichtungen bei<br />

der Verhältnismäßigkeitskontrolle greifen. Diese Fallgruppen orientieren sich an den<br />

Teilbereichen des Art. 8 EMRK. Bei Eingriffen in das Privatleben geht der EGMR von<br />

einem weiten Entscheidungsspielraum des jeweils betroffenen Staates aus. 192 Dabei<br />

wird allerdings innerhalb dieser Fallgruppe differenziert – mit einer geringeren Kontrolldichte<br />

bei Maßnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit 193 und einer intensiveren<br />

Kontrolle durch den EGMR, wenn Daten Bedeutung für den Kernbereich der<br />

Persönlichkeit des Betroffenen entfalten. 194 Im Fall Klass u. a. lehnte der Gerichtshof<br />

eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch das G 10-Gesetz ab und befand, dass die<br />

Kontrolle geheimer Überwachungsmaßnahmen durch ein parlamentarisches Gremium<br />

den Anforderungen an eine nachträgliche Kontrolle der Überwachung genügte. 195<br />

Ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung hatte die EKMR grundsätzlich ebenso<br />

anerkannt wie das BVerfG, hielt eine Volkszählung aber im Interesse des wirtschaftlichen<br />

Wohls des jeweiligen Landes für zulässig, wenn sorgfältig und vertraulich vorgegangen<br />

wird. 196 Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens werden wegen<br />

der unterschiedlichen Wertvorstellungen in den Konventionsstaaten und wegen<br />

der größeren Nähe der nationalen Behörden zu allen Beteiligten jedenfalls bei vorübergehenden<br />

sorge- und umgangsrechtlichen Entscheidungen vom EGMR nur in engen<br />

Grenzen überprüft. 197 Je intensiver der staatliche Eingriff dann allerdings ist, insbesondere<br />

wenn die Beziehung zwischen Eltern und (jungem) Kind stark beeinträchtigt<br />

oder endgültig abgeschnitten wird, 198 um so strenger kontrolliert der Gerichtshof die<br />

jeweilige Maßnahme. 199 Dabei spielt das Kindeswohl eine zentrale Rolle. 200 Wohl am<br />

schwierigsten gestaltet sich die Bewertung öffentlicher Fürsorgemaßnahmen, hinsichtlich<br />

derer zwischen den Konventionsstaaten weit auseinanderliegende Einschätzungen<br />

24<br />

190<br />

Vgl. dazu die Übersicht bei Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 38 ff.<br />

191<br />

Zum »margin of appreciation« (und damit zur Kontrolldichte) → Grundrechtseingriff und<br />

-schranken, Kap. 7 Rn. 58 f.<br />

192<br />

S. dazu nur EGMR No. 19823/92, A 299-A, § 55 – Hokkanen u. No. 18131/91, A 299-B, § 39 –<br />

Stjerna.<br />

193<br />

So EGMR No. 9248/81, A 116, § 59 – Leander; ähnlich EGMR Nos. 33985/96 u. 33986/96,<br />

Rep. 1999-VI, §§ 89 ff. – Smith u. Grady.<br />

194<br />

Dies gilt etwa für medizinische Daten, insbesondere für Informationen über eine HIV-Infektion;<br />

vgl. EGMR No. 22009/93, Rep. 1997-I, §§ 95 ff. – Z v. Finnland. Vgl. auch EGMR No. 44647/98,<br />

Rep. 2003-I, § 79 – Peck.<br />

195<br />

EGMR No. 5029/71, A 28, §§ 48 ff. – Klass u. a. (Pl.); vgl. auch No. 11801/85, A 176-A, §§ 24 f.<br />

– Kruslin.<br />

196<br />

EKMR No. 9702/82, DR 30, 239 (241) – X v. Vereinigtes Königreich (Pl.).<br />

197<br />

Eingehend dazu Fahrenhorst, 286 ff. Aus der Rspr. z. B. EGMR No. 17383/90, Rep. 1996-III,<br />

§ 78 – Johansen; s. a. No. 25735/94, Rep. 2000-VIII, § 49 – Elsholz (GK).<br />

198<br />

Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 41.<br />

199<br />

S. dazu EGMR No. 25735/94, Rep. 2000-VIII, § 49 – Elsholz (GK).<br />

200<br />

EGMR No. 17383/90, Rep. 1996-III, § 78 – Johansen; zuvor schon No. 12963/87, A 226, § 95 –<br />

Andersson. Vgl. auch Breitenmoser, 121 f.<br />

894<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn


C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />

Kap. 16<br />

bestehen. Der EGMR hält sich hier aus guten Gründen partiell zurück, hat aber auch<br />

zu prüfen, ob die für die Einmischung des Staates in Familienangelegenheiten angeführten<br />

Gründe relevant und ausreichend sind. 201 Im Hinblick auf das Recht auf Achtung<br />

der Wohnung ist festzustellen, dass die konventionsrechtliche Garantie im Gegensatz<br />

zu Art. 13 Abs. 2 GG keinen ausdrücklichen Richtervorbehalt enthält und ein<br />

solcher auch nicht richterrechtlich entwickelt worden ist. 202 Allerdings verlangt der<br />

EGMR verfahrensrechtliche Sicherungen 203 und prüft dort, wo es auf nationaler Ebene<br />

an einem Richtervorbehalt fehlt, besonders intensiv die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.<br />

Ganz ähnlich fordert der Gerichtshof bei Eingriffen in das Recht auf Achtung<br />

der Korrespondenz wirksame und effektive Kontrollmöglichkeiten auf nationaler<br />

Ebene. 205 Intensiv hat sich der Gerichtshof gerade auch mit der Verhältnismäßigkeit<br />

entsprechender Eingriffe auseinander gesetzt und relativ hohe Maßstäbe gesetzt. So<br />

darf der Briefverkehr zwischen einem Gefangenen und dessen Anwalt nicht gelesen,<br />

sondern nur zur Kontrolle dessen, was im Umschlag steckt, geöffnet werden. 206<br />

25 Auch wenn das grundgesetzliche System von der Schrankensystematik der EMRK<br />

im Bereich des Privat- und Familienlebens strukturell abweicht, so lassen sich doch<br />

aufgrund der von der Straßburger Spruchpraxis zu Art. 8 EMRK im Rahmen der Verhältnismäßigkeitskontrolle<br />

entwickelten Fallgruppen zahlreiche Parallelen ausmachen.<br />

Dies gilt insbesondere für die Gewichtung der einzelnen Abwägungsbelange.<br />

Gleichwohl bleiben einige zentrale Unterschiede bestehen. Dies gilt zunächst für den<br />

Schutz von Ehe und Familie, in den Eingriffe nach der grundgesetzlichen Systematik<br />

nur zulässig sind, wenn sie auf verfassungsunmittelbaren Schranken beruhen. 207<br />

Auch wenn dies häufig der Fall sein dürfte, ist die besondere Wertigkeit von Art. 6<br />

Abs. 1 GG nicht zu verkennen, zumal die Lehre von der Institutsgarantie auch wie eine<br />

Schranken-Schranke wirken kann. 208 Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen<br />

beiden Grundrechtskatalogen besteht darin, dass das GG sowohl bei Eingriffen<br />

in die Individualkommunikation (Art. 10 Abs. 2 GG) wie auch bei Durchsuchungen<br />

und dem sogenannten Lausch- und Spähangriff (Art. 13 Abs. 2 GG) explizit einen<br />

Richtervorbehalt normiert. Beides findet sich in der EMRK weder ausdrücklich noch<br />

auf der Grundlage der Spruchpraxis der Straßburger Organe (→ Rn. 101). Einen dritten<br />

strukturellen Unterschied kann man in der vom EGMR häufig zurückgenommenen<br />

Kontrolldichte sehen, die allerdings ganz wesentlich damit zusammenhängt, dass der<br />

Gerichtshof die unterschiedlichen Wertvorstellungen (→ Rn. 97, 105) in den Konventionsstaaten<br />

nicht durchweg »harmonisieren« will, sondern zumeist Mindeststandards<br />

und diese absichernde Verfahrensregeln einfordert. Dies ist ein klassisches Problem<br />

regionaler wie auch internationaler Gerichtsbarkeit und konterkariert das beiden<br />

Grundrechtskatalogen zugrunde liegende menschenrechtliche Grundanliegen nicht.<br />

25<br />

201<br />

EGMR Nos. 39221/98 u. 41963/98, Rep. 2000-VIII, § 148 – Scozzari u. Giunta (GK);<br />

No. 25702/94, Rep. 2001-VII, § 168 – K. u. T. v. Finnland (GK).<br />

202<br />

Dies betont Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 45.<br />

203<br />

EGMR No. 11471/85, A 256-B, § 39 – Crémieux.<br />

204<br />

EGMR No. 21353/93, Rep. 1997-VIII, § 45 – Camenzind.<br />

205<br />

EGMR No. 13710/88, A 251-B, § 37 – Niemietz.<br />

206<br />

EGMR No. 13590/88, A 233, § 48 – Campbell.<br />

207<br />

Pieroth/Schlink, Rn. 707 f.<br />

208<br />

Pieroth/Schlink, Rn. 718.<br />

Thilo Marauhn/Judith Thorn 895

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!