Kirmes Spezial 2 Schausteller und Volksfeste der DDR (Vorschau)
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SONDERBAND DER KIRMES & PARK REVUE<br />
€ 9,90<br />
SCHAUSTELLER UND VOLKSFESTE DER <strong>DDR</strong>
IMPRESSUM<br />
<strong>Kirmes</strong> Special<br />
erscheint bei<br />
■ Gemi Verlags GmbH<br />
Pfaffenhofener Straße 3<br />
85293 Reichertshausen<br />
Tel.: 0 84 41/40 22-0<br />
Fax: 0 84 41/718 46<br />
Internet: www.kirmesparkrevue.de<br />
eMail: info@gemiverlag.de<br />
■ Verlagsleiter<br />
Gerd Red<strong>der</strong>sen, Rudolf Neumeier<br />
■ Redaktion<br />
Rolf Orschel<br />
■ Titel<br />
Andrea Höhne<br />
■ Lithos, Satz & Herstellung<br />
Markus Westner<br />
Grafischer Betrieb<br />
■ Druck<br />
Kössinger AG, Schierling<br />
■ Vertrieb<br />
Gerd Red<strong>der</strong>sen<br />
■ Titelfotos<br />
Archive: Franzelius, Seiferth, Winkler, Eckermann<br />
Heiko Schimanzik, Rolf Orschel<br />
■ Fotos Rückseite <strong>und</strong> unten<br />
Archiv H. Sachs, Archiv Hartmann,<br />
■ Textbeiträge<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue, Ausgaben 1 - 110.<br />
Die Originalbeiträge mit Autorenbenennung sind<br />
in den einzelnen Kapiteln jeweils unter „Quelle”<br />
genannt.<br />
■ ISBN-Nummer<br />
3-9808913-5-6
EDITORIAL<br />
Diese zweite Ausgabe des <strong>Kirmes</strong> Special<br />
widmet sich ausschließlich <strong>der</strong> <strong>Kirmes</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Schausteller</strong>szene eines Landes, das es seit nunmehr<br />
16 Jahren gar nicht mehr gibt: <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>.<br />
Regelmäßig haben wir in <strong>der</strong> <strong>Kirmes</strong> Revue über<br />
einzelne Fahrgeschäfte <strong>und</strong> Belustigungen, Beson<strong>der</strong>heiten<br />
<strong>und</strong> Kuriositäten aus <strong>der</strong> <strong>Kirmes</strong>szene<br />
des selbsternannten ehemaligen „Arbeiter<strong>und</strong><br />
Bauernstaates“ berichtet. Die interessantesten<br />
Stories sind in diesem Son<strong>der</strong>band, teilweise<br />
ergänzt <strong>und</strong> aktualisiert, noch einmal zusammengefasst.<br />
Darüber hinaus wurde eine Vielzahl von<br />
bisher unveröffentlichten Fakten <strong>und</strong> Daten, Fotos<br />
<strong>und</strong> Dokumenten zusammengetragen, die das<br />
Gesamtbild über 40 Jahre <strong>Schausteller</strong>geschichte<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> erweitern, ergänzen <strong>und</strong> bei den unmittelbar<br />
Beteiligten wohl manche Erinnerungen<br />
wecken werden.<br />
Bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>und</strong> Konzeption für diesen Son<strong>der</strong>band<br />
wurde ein Schwerpunkt auf den gesellschaftlichen<br />
Stellenwert sowie die tatsächlichen<br />
Arbeits- <strong>und</strong> Lebensbedingungen <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong><br />
innerhalb <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft <strong>und</strong><br />
des Herrschaftssystems <strong>der</strong> SED gelegt. Daneben<br />
werden neben den in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisenden „Standard“-Geschäften<br />
auch bemerkenswerte Eigenbauten<br />
vorgestellt. Weiter wird an die in den fünfziger<br />
Jahren noch in großer Vielfalt reisenden<br />
Schaubuden erinnert. Für das Kapitel „Anhang“<br />
wurden einige typische Volksfestplakate aus den<br />
fünfziger Jahren, Dias für die Kinowerbung <strong>und</strong><br />
Anzeigen von <strong>Schausteller</strong>betrieben ausgewählt,<br />
die in Verbindung mit den abgebildeten Fotos in<br />
den einzelnen Kapiteln ein möglichst realistisches<br />
Bild des <strong>Schausteller</strong>gewerbes in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vermitteln<br />
sollen.<br />
Obwohl bisher in noch keinem Medium so umfassend<br />
über dieses Thema berichtet <strong>und</strong> die Geschichte<br />
aufgearbeitet wurde, erhebt <strong>der</strong> vorliegende<br />
<strong>Kirmes</strong> Special-Band keinen Anspruch auf<br />
Vollständigkeit. Einige wichtige Aspekte konnten<br />
aus Platzgründen nur am Rande erwähnt werden.<br />
An<strong>der</strong>e, zu denen keine exakten Informationen<br />
<strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Fotos beschafft werden konnten, wurden<br />
nicht explizit erwähnt.<br />
Zu guter Letzt: Herzlichen Dank an alle <strong>Schausteller</strong>,<br />
Marktmeister <strong>und</strong> Redaktionskollegen, die mir<br />
bei meinen Recherchen halfen, Informationen <strong>und</strong><br />
Fotos zur Verfügung stellten <strong>und</strong> somit diesen Son<strong>der</strong>band<br />
erst möglich machten.<br />
Rolf Orschel<br />
3
INHALT<br />
NACHKRIEGSZEIT<br />
SOWJETISCHE BESATZUNGSZONE . . . . . . . . . . . . . . 6<br />
SPALTUNG DEUTSCHLANDS. . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
SCHAUSTELLER IN DER <strong>DDR</strong><br />
FÜNFZIGER JAHRE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
SECHZIGER JAHRE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
SIEBZIGER JAHRE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
ACHTZIGER JAHRE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
REISELEBEN<br />
GEWERBESCHEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />
ALLTAG DER SCHAUSTELLER. . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
SCHAUSTELLERGEHILFEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
LOGISTIK<br />
BAHNVERLADUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
ZUGMASCHINEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />
WOHN- UND PACKWAGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . 58<br />
SCHAUSTELLERISCHES VERGNÜGUNGSANGEBOT<br />
ÜBERSICHT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />
SCHAUBUDEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />
RAKETENFAHRT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />
SPINNE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
BERG- & TALBAHN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
WALZERFAHRT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
SCHLICKERBAHN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76<br />
4
KETTENFLIEGER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />
RIESENRÄDER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />
AUTOSKOOTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />
INHALT<br />
EIGENBAUTEN<br />
HALLE-SAALE-SCHLEIFE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
KOSMOPLANE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
DISNEY-JET. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />
VENUS CLIPPER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />
FLYER. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90<br />
WIKINGER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />
SPACE JET . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94<br />
CALYPSO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94<br />
KLIMBIM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />
SAFARI-EXOTIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />
GONDELN UND CHAISEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96<br />
DIVERSE GESCHÄFTE IM ÜBERBLICK<br />
REIHENGESCHÄFTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98<br />
LAUFGESCHÄFTE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100<br />
GEISTERBAHNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
KINDERGESCHÄFTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102<br />
VEB-GESCHÄFTE<br />
STAATSZIRKUS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104<br />
PLÄNTERWALD. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108<br />
ANHANG<br />
PLAKATE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />
WERBUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112<br />
5
NACHKRIEGSZEIT<br />
Bescheidener Neuanfang<br />
auf dem Magdeburger<br />
Domplatz nach dem Krieg<br />
FOTOS<br />
Archiv VSG Magdeburg,<br />
Archiv Orschel<br />
Inmitten von Ruinen:<br />
ein Weihnachtsmarkt in Berlin<br />
SOWJETISCHE BESATZUNGSZONE<br />
Deutschland im Mai 1945: Nach <strong>der</strong> bedingungslosen<br />
Kapitulation Hitlerdeutschlands <strong>und</strong> <strong>der</strong> Stationierung<br />
des Alliierten Kontrollrates wurde das Land<br />
in eine britische, französische, amerikanische <strong>und</strong> sowjetische<br />
Besatzungszone eingeteilt. In <strong>der</strong> sowjetischen<br />
Besatzungszone (SBZ), die aus den Län<strong>der</strong>n<br />
Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen <strong>und</strong> Thüringen<br />
sowie <strong>der</strong> Provinz Sachsen gebildet wurde, betrieben<br />
die Russen zunächst eine Politik des wirtschaftlichen<br />
Kahlschlags. Ohne einen effektiven Nutzen zu erzielen,<br />
wurden die meisten noch existierenden Betriebe<br />
<strong>und</strong> Gleise <strong>der</strong> Deutschen Reichsbahn demontiert <strong>und</strong><br />
als Reparationsleistungen in die Sowjetunion transportiert.<br />
Da bis zum Sommer 1953 komplette Betriebe,<br />
Lokomotiven, Lastkraftwagen, Unmengen von Material<br />
<strong>und</strong> wertvoller Stahlschrott im Gesamtwert von<br />
15,8 Milliarden Dollar abtransportiert wurden, betitelte<br />
die Bevölkerung damals die SBZ <strong>und</strong> spätere <strong>DDR</strong><br />
sarkastisch als „Deutsche Demontierte Republik“. Kurioserweise<br />
blieben aber die Geschäfte <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong><br />
unbehelligt, da die Russen mit den Karussells<br />
<strong>und</strong> Buden nichts anfangen konnten. Dennoch<br />
war die Situation des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
nach dem Krieg ziemlich hoffnungslos, da es sich,<br />
wie <strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> Bevölkerung, erst einmal von den<br />
schlimmsten Kriegsfolgen erholen musste. Die Zeit<br />
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war für<br />
die <strong>Schausteller</strong>betriebe durch schwierigste<br />
Aufbauarbeit gekennzeichnet, da <strong>der</strong> Krieg das<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbe bis ins Mark erschüttert hatte.<br />
Viele <strong>Schausteller</strong>, die für Führer, Volk<br />
<strong>und</strong> Vaterland in den Krieg ziehen mussten,<br />
befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft.<br />
An<strong>der</strong>e hatten als Totalkriegsgeschädigte<br />
ihre Heimat verloren <strong>und</strong> mussten<br />
sich ohne Hab <strong>und</strong> Gut irgendwie<br />
durchschlagen. Obwohl die <strong>Schausteller</strong><br />
ihre Geschäfte größtenteils versteckt hatten,<br />
wurden durch Kriegseinwirkungen viele<br />
Karussells <strong>und</strong> Frontgeschäfte zerstört.<br />
Die meisten Festplätze glichen Schlachtfel<strong>der</strong>n<br />
o<strong>der</strong> Schutthalden <strong>und</strong> konnten nicht<br />
genutzt werden. Viele waren so zerstört,<br />
dass sie erst Jahre später wie<strong>der</strong> hergerichtet<br />
werden konnten. Die <strong>Schausteller</strong><br />
mussten unter primitivsten Verhältnissen<br />
ganz von vorn anfangen <strong>und</strong> waren trotz<br />
aller Schwierigkeiten bemüht, ihr Gewerbe<br />
wie<strong>der</strong> aufzubauen. Wie sich aber <strong>der</strong> Einfluss<br />
<strong>der</strong> sowjetischen Besatzungsmacht<br />
auswirkte <strong>und</strong> wie sehr die Zeit des „Dritten<br />
Reiches“ den <strong>Schausteller</strong>n geschadet hatte,<br />
wurde ihnen bereits kurz nach dem Krieg<br />
bewusst. Mit großer Sorge verfolgten sie,<br />
wie ihr Vaterland <strong>und</strong> das Wan<strong>der</strong>gewerbe<br />
in Zonen, Sektoren <strong>und</strong> Län<strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gerissen<br />
wurde. Jeden beschäftigte deshalb damals<br />
beson<strong>der</strong>s die Frage, wie die <strong>Schausteller</strong> wie<strong>der</strong><br />
zusammenfinden können. Ihr wichtigstes Ziel war<br />
deshalb, für ein vereinigtes Wan<strong>der</strong>gewerbe in Ost<br />
<strong>und</strong> West in Einheit <strong>und</strong> Geschlossenheit zu kämpfen.<br />
Das noch zu erleben, war einer <strong>der</strong> innigsten Wünsche<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> in <strong>der</strong> SBZ. Trotz <strong>der</strong> unvorstellbaren<br />
Not führten einige <strong>Schausteller</strong> auf Befehl <strong>der</strong> sowjetischen<br />
Militäradministration bereits im Mai 1945 in<br />
Berlin-Treptow das erste Nachkriegsvolksfest durch.<br />
Schwieriger Neubeginn<br />
Auch die <strong>Schausteller</strong> auf dem Territorium <strong>der</strong> SBZ begannen<br />
so schnell wie möglich wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>ei.<br />
Sie richteten zunächst notdürftig ihre im Krieg<br />
versteckten <strong>und</strong> unversehrt gebliebenen Geschäfte<br />
wie<strong>der</strong> her. Kurz nach dem Krieg war es aber so gut<br />
wie aussichtslos, Farben, Glühlampen o<strong>der</strong> Planen-<br />
6
NACHKRIEGSZEIT<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Archiv Härtel<br />
Malfertheiners<br />
Fahrt ins Blaue 1946<br />
stoff zu beschaffen. Doch wer achtete damals schon<br />
auf den Zustand <strong>der</strong> Karussells <strong>und</strong> Buden? Wichtiger<br />
war, dass die <strong>Schausteller</strong> nach den schrecklichen<br />
Kriegsjahren endlich wie<strong>der</strong> etwas Farbe <strong>und</strong> Zerstreuung<br />
n den trostlosen Alltag <strong>der</strong> zerbombten Städte<br />
brachten <strong>und</strong> den Menschen etwas Ablenkung von<br />
ihren Sorgen <strong>und</strong> Nöten boten. Auf den Nachkriegsvolksfesten<br />
ging es aber sehr bescheiden zu, meistens<br />
konnten nur ein Karussell <strong>und</strong> ein paar Spielgeschäfte<br />
mit heißbegehrten Waren des täglichen Bedarfs,<br />
die als Gewinne ausgespielt wurden, aufgebaut<br />
werden. Für den Strom mussten die <strong>Schausteller</strong> Son<strong>der</strong>genehmigungen<br />
mit den Elektrizitätswerken <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Militärregierung aushandeln. Das dürftige Imbiss<strong>und</strong><br />
Getränkeangebot bestand lediglich aus so genannter<br />
Schaumspeise, Kaffee-Ersatz <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en,<br />
häufig <strong>und</strong>efinierbaren „Heißgetränken“.<br />
Im November 1945 wurden in Cottbus unter <strong>der</strong> Leitung<br />
des <strong>Schausteller</strong>s Franz Baer die ersten <strong>Volksfeste</strong><br />
organisiert. Dank seiner unermüdlichen Arbeit<br />
konnte sogar ein kleiner Weihnachtsmarkt durchgeführt<br />
werden. Für den ersten Nachkriegs-Frühjahrsmarkt<br />
konnten ein paar Fahrgeschäfte <strong>und</strong> Händlerstände<br />
aufgebaut werden, die auch das Schützenfest<br />
beschickten. Wie überall in <strong>der</strong> SBZ herrschte noch<br />
große Warenknappheit <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> von Waggonmangel<br />
durfte die Eisenbahn noch keine <strong>Schausteller</strong>transporte<br />
durchführen. So konnten nur <strong>Schausteller</strong>,<br />
die noch eine einsatzbereite Zugmaschine <strong>und</strong><br />
Kraftstoff besaßen, in an<strong>der</strong>e Städte reisen. Fast alle<br />
Geschäfte waren noch ohne Leinwand <strong>und</strong> Dach,<br />
ohne Aufmachung <strong>und</strong> Prunk, ohne leuchtende Farben<br />
<strong>und</strong> glitzernde Perlendekoration. Spröde <strong>und</strong> einfach,<br />
so wie <strong>der</strong> Krieg die Menschen gezeichnet hatte,<br />
boten sich die Geschäfte den Besuchern dar.<br />
Unterstützung durch die Kommandantur<br />
In Bad Freienwalde bei Berlin nahmen die <strong>Schausteller</strong><br />
im August 1945 ihre Geschäfte wie<strong>der</strong> in Betrieb.<br />
Dabei wurden sie unbürokratisch<br />
<strong>und</strong> großzügig durch die<br />
sowjetische Kommandantur<br />
unterstützt, mit <strong>der</strong>en Hilfe die<br />
Schäden, die durch die erbittert<br />
umkämpfte O<strong>der</strong>front entstanden<br />
waren, behoben werden<br />
konnten <strong>und</strong> Fehlendes<br />
ersetzt wurde. Außerdem wurden<br />
Traktoren zur Verfügung<br />
gestellt, die die Wagen zum<br />
Festplatz transportierten. Im<br />
Frühjahr 1946 konnte wie<strong>der</strong><br />
ein Frühlingsfest durchgeführt<br />
werden. Anschließend konnten<br />
die Beschicker durch die<br />
Autoskooter<br />
von Ernst Gratz nach 1945<br />
7
NACHKRIEGSZEIT<br />
Ernst Malfertheiner<br />
baute sich 1945 dieses<br />
Belustigungsgeschäft<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Malfertheiners Fahrt<br />
ins Blaue in Jena-Gries 1949<br />
Unterstützung des Landrates nach Wriezen weiter reisen.<br />
Die bereitgestellte Zugmaschine musste die circa<br />
20 Kilometer lange Strecke mehrmals fahren, da 20<br />
Pack- <strong>und</strong> Wohnwagen nach Wriezen transportiert<br />
werden mussten. In Zwickau feierte man vom 27. Juli<br />
bis 11. August 1946 das erste Friedens-Volks- <strong>und</strong><br />
Bergfest auf dem mitten in <strong>der</strong> Stadt gelegenen „Platz<br />
<strong>der</strong> Arbeit“, das groß aufgezogen werden konnte. Den<br />
Besuchern wurden 8 Fahrgeschäfte, 6 Kin<strong>der</strong>karussells,<br />
1 Auto-Steilwand <strong>und</strong> 5 Schaubuden geboten.<br />
Dazu gesellten sich 8 Ausspielungen, 7 Imbissbetriebe,<br />
1 Ausschank, 1 großes Bierzelt, 1 Hippodrom <strong>und</strong><br />
eine reisende Tanzbar. Das Fest wurde an allen Tagen<br />
von unzähligen Besuchern gestürmt, die die Kassen<br />
ordentlich klingeln ließen. Im Harz organisierte Paul<br />
Traue 1946 eine Volksfesttournee, an <strong>der</strong> sich zwölf<br />
<strong>Schausteller</strong> beteiligten. Die Geschäfte liefen an den<br />
Fahrgeschäften gut, während die Spiel- <strong>und</strong> Verkaufsgeschäfte<br />
ständige Warenengpässe hinnehmen mussten.<br />
Trotz zeitweiliger Treibstoffsperren konnten die<br />
Geschäfte nur per Achse umgesetzt werden, wodurch<br />
<strong>der</strong> Terminplan völlig durcheinan<strong>der</strong> kam. Solche o<strong>der</strong><br />
ähnliche Verhältnisse kennzeichneten die ersten<br />
Nachkriegsvolksfeste in <strong>der</strong> SBZ, wobei auf vielen<br />
Plätzen zusätzlich akuter Strommangel den <strong>Schausteller</strong>n<br />
zu schaffen machte.<br />
Pioniere <strong>der</strong> ersten St<strong>und</strong>e<br />
Im russisch besetzten Teil von Berlin gehörte unter an<strong>der</strong>em<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> Ludwig Rausch aus Treptow<br />
zu den Aktivisten <strong>der</strong> ersten St<strong>und</strong>e. Er baute bereits<br />
kurz nach dem Waffenstillstand die ersten Rummelplätze<br />
wie<strong>der</strong> auf. Mit Berufskollegen, die ihre Zugmaschinen<br />
o<strong>der</strong> Hänger freiwillig zur Verfügung stellten<br />
<strong>und</strong> uneigennützig mit anpackten, richtete er geeignete<br />
Trümmergelände für die geplanten <strong>Volksfeste</strong><br />
her. Sie füllten die Bombentrichter <strong>und</strong> Schützengräben,<br />
rissen Trümmer ab <strong>und</strong> fuhren den Schutt weg.<br />
Ludwig Rausch stellte bei Bedarf sein eigenes<br />
Stromaggregat kostenlos zur Verfügung, kümmerte<br />
sich um die Finanzen, die Werbung <strong>und</strong> vieles mehr.<br />
Durch sein großes <strong>und</strong> uneigennütziges Engagement<br />
wurde er zum „Vater“ <strong>der</strong> Rummelplätze im russisch<br />
besetzten Teil von Berlin. Später organisierte er für die<br />
„III. Weltfestspiele <strong>der</strong> Jugend <strong>und</strong> Studenten“ einen<br />
großen Vergnügungspark, auf dem allein 64 Fahrgeschäfte<br />
aufgebaut waren. Die an<strong>der</strong>en <strong>Schausteller</strong><br />
begannen im russischen Sektor mit großem Enthusiasmus<br />
ihre traditionellen Plätze in Pankow, Weißensee<br />
<strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Stadtteilen wie<strong>der</strong> herzurichten. Weitaus<br />
schwieriger war es aber, die durch Kriegseinwirkung<br />
schwer beschädigten Karussells <strong>und</strong> Buden wie<strong>der</strong><br />
einsatzbereit zu bekommen. Da dreiviertel aller Geschäfte<br />
durch den Krieg vernichtet wurden <strong>und</strong> dadurch<br />
vielen <strong>Schausteller</strong>n die Existenzgr<strong>und</strong>lage genommen<br />
wurde, herrschte nach dem Kriegsende eine<br />
starke Nachfrage nach neugebauten o<strong>der</strong> fachmännisch<br />
wie<strong>der</strong> hergerichteten Geschäften. Die noch existierenden<br />
Karussellbauer hatten alle Hände voll zu<br />
tun <strong>und</strong> hätten nach dem Krieg Tag <strong>und</strong> Nacht arbeiten<br />
können, wenn sie das erfor<strong>der</strong>liche Material gehabt<br />
hätten. Außer den Firmen Heyn <strong>und</strong> G<strong>und</strong>elwein<br />
gab es in <strong>der</strong> SBZ damals noch einige kleinere Betriebe<br />
wie die 1917 von Karl Backhaus gegründete Karussell-<br />
<strong>und</strong> Maschinenfabrik in Berlin-Hohenschönhausen.<br />
Nachdem im März 1945 das Fabrikgebäude<br />
durch Kriegseinwirkung schwer beschädigt wurde,<br />
hatte man es notdürftig wie<strong>der</strong> hergerichtet. Zwei Jahre<br />
später lagen auf dem Hof <strong>der</strong> Firma bereits wie<strong>der</strong><br />
8
iesige Zahnrä<strong>der</strong>, Wellen, schwere Stahlteile <strong>und</strong><br />
Bretter herum. Außerdem war ein halbfertiger Wohnwagen<br />
abgestellt. In <strong>der</strong> Werkstatt befand sich seit längerer<br />
Zeit ein großer Trümmerhaufen, <strong>der</strong> sich aus Gestängen,<br />
Achsen, verkohlten Gondeln, Auslegern <strong>und</strong><br />
angesengten Säulen sowie den Überresten von Fußböden<br />
<strong>und</strong> Umzäunungen zusammensetzte. Außerdem<br />
befand sich eine Spinne aus Treptow in <strong>der</strong> Werkstatt,<br />
die dort längere Zeit lagerte <strong>und</strong> 1947 generalüberholt<br />
wurde. Karl Backhaus erlernte den Beruf des<br />
Karussellbauers zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in<br />
<strong>der</strong> Karussellfabrik von Fritz Bothmann im thüringischen<br />
Gotha <strong>und</strong> spezialisierte sich auf Tischler- <strong>und</strong><br />
Schmiedearbeiten. Vor dem Krieg arbeiteten in seiner<br />
Werkstatt 27 Mitarbeiter, die hauptsächlich Toboggane,<br />
Schaukeln <strong>und</strong> elektrische Antriebe anfertigten.<br />
Nur wenige Wochen nach dem Waffenstillstand öffnete<br />
Karl Backhaus wie<strong>der</strong> seinen Berieb <strong>und</strong> führte<br />
zunächst überwiegend Reparaturen an Karussells<br />
aus. Durch die gute Auftragslage konnte er 1947 bereits<br />
wie<strong>der</strong> sieben Arbeiter beschäftigen. Die Aufträge<br />
kamen aus allen Gegenden Deutschlands, von<br />
München, Leipzig <strong>und</strong> Bremen bis Hamburg. Beson<strong>der</strong>s<br />
gefragt waren damals Kin<strong>der</strong>karussells, Kettenflieger,<br />
Shimmy-Treppen <strong>und</strong> Berg- <strong>und</strong> Talbahnen. Ein<br />
Kin<strong>der</strong>karussell mit acht Autos kostete 1947, je nach<br />
Ausstattung, bis zu 8.500 Reichsmark (RM), ein Kettenflieger<br />
12.000 RM <strong>und</strong> eine Shimmy-Treppe kostete<br />
circa 28.000 RM.<br />
Rummel in <strong>der</strong> Schönhauser Allee<br />
Kurz nach dem Kriegsende kam William Lois nach<br />
tagelangem Fußmarsch wie<strong>der</strong> nach Berlin, wo er sein<br />
Kettenkarussell notdürftig unter <strong>der</strong> Bornholmer Brücke<br />
versteckt hatte. Das Karussell hatte bis auf leichte<br />
Beschädigungen des Packwagens den Krieg unbeschadet<br />
überstanden <strong>und</strong> befand sich in einem betriebsfähigen<br />
Zustand. Als Lois hörte, dass ein Kollege<br />
einen kleinen Rummel in <strong>der</strong> Schönhauser<br />
Allee organisiert, baute er seinen<br />
Kettenflieger dort mit auf. Er erzählte<br />
später: „Ich habe mich nur hingestellt<br />
<strong>und</strong> die Hand aufgehalten. Auf dem von<br />
Ruinen gesäumten <strong>und</strong> trostlos wirkenden<br />
Platz war die Hölle los. Die ausgehungerte<br />
<strong>und</strong> nach Entspannung gierenden<br />
Menschen hatten ja keine an<strong>der</strong>e<br />
Ablenkung von ihrem Elend. Ich ließ<br />
deshalb mein Karussell bis November in<br />
<strong>der</strong> Schönhauser Allee stehen <strong>und</strong> baute<br />
es danach in <strong>der</strong> Müllerstraße auf.<br />
Dort blieb ich den ganzen Winter. Egal<br />
ob es regnete o<strong>der</strong> schneite <strong>und</strong> bitterkalt<br />
war, ich hatte jeden Tag von 15 Uhr<br />
bis 22 Uhr geöffnet. Da viele Besucher<br />
kein Geld hatten, erhielt ich Naturalien<br />
in Form von Brot, Eiern o<strong>der</strong> Zigaretten“.<br />
In Thüringen gehörten Ernst Malfertheiner<br />
<strong>und</strong> Georg Berger mit zu den aktivsten<br />
<strong>Schausteller</strong>n, die nach dem Krieg<br />
die Volksfestszene wie<strong>der</strong> aufbauten. Als Ernst Malfertheiner<br />
aus <strong>der</strong> Kriegsgefangenschaft heimkehrte,<br />
existierten nur noch ein paar Reste von <strong>der</strong> einst<br />
berühmten Tierschau, mit <strong>der</strong> sein Vater vor dem Krieg<br />
reiste. Aus den Restbeständen des elterlichen Geschäftes<br />
baute er sich mit großer Mühe das Belustigungsgeschäft<br />
„Honolulu“, mit dem er wie<strong>der</strong> auf die<br />
Reise ging. Er kümmerte sich uneigennützig um die<br />
Probleme <strong>der</strong> Kollegen <strong>und</strong> half ihnen, wo er konnte.<br />
Durch seine Verdienste wurde er 1950 zum Fachberater<br />
<strong>der</strong> Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer Gotha berufen.<br />
NACHKRIEGSZEIT<br />
Plakat für die erste Annaberger<br />
Kät nach dem Krieg<br />
FOTOS<br />
Archiv Karl Kuntz, Archiv<br />
Orschel, Archiv VSG Magdeburg<br />
Das Rudolstädter<br />
Vogelschießen auf dem<br />
Festplatz „Anger“ 1947<br />
9
NACHKRIEGSZEIT<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche,<br />
Archiv Katzschmann<br />
Frankes Atlantis Revue<br />
war nach dem Krieg legendär<br />
Toboggan von<br />
Ludwig Rausch auf einem<br />
Nachkriegs-Rummel in Berlin<br />
Später gehörte er dem Zentralen Arbeitskreis <strong>Schausteller</strong><br />
beim Ministerium für Kultur an, wo er in <strong>der</strong><br />
Arbeitsgruppe „<strong>Volksfeste</strong>“ viele neue Impulse einbrachte.<br />
Georg Berger war einer <strong>der</strong> eifrigsten Verfechter<br />
für den Wie<strong>der</strong>aufbau <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong><br />
SBZ. Durch den Aufbau eines Industriegebietes wurde<br />
ihm sein Lagerplatz in Leipzig gekündigt, worauf er<br />
mit Ernst Malfertheiners Unterstützung in Ohrdruf ein<br />
geeignetes Gr<strong>und</strong>stück erwarb <strong>und</strong> sein neues Domizil<br />
aufschlug. Bevor er wie<strong>der</strong> reisen konnte, musste<br />
er die zwei Riesenrä<strong>der</strong>, mit denen Bergers vor dem<br />
Krieg auch durch die Schweiz, Norwegen, Afrika <strong>und</strong><br />
Ägypten tourten, neu aufbauen. Durch seine Erfahrungen<br />
half er mit Rat <strong>und</strong> Tat seinen<br />
Kollegen. Nachdem er die Reise aufgab,<br />
gönnte er sich aber noch lange<br />
keine Ruhe. Die Liebe zu seinem Beruf<br />
gab ihm immer wie<strong>der</strong> Gelegenheit,<br />
seine enge Verbindung zu den<br />
<strong>Schausteller</strong>n aufrecht zu halten.<br />
In Sachsen war Heinz Müller einer<br />
<strong>der</strong> aktivsten Mitstreiter <strong>der</strong> ersten<br />
St<strong>und</strong>e. Er begann die Reise wie<strong>der</strong><br />
mit dem Riesenrad, das er 1937 als<br />
18-Jähriger mit seiner Mutter nach<br />
dem plötzlichen Tod seines Vaters<br />
neben einem Kin<strong>der</strong>karussell <strong>und</strong><br />
einer Schießbude betrieb. Dann gelang<br />
ihm 1953 mit einem Aalwürfeln<br />
<strong>der</strong> große Durchbruch. Die „Aalbude“<br />
<strong>und</strong> „Aalmüller“ wurden zu einem<br />
Begriff <strong>und</strong> für fast ein Jahrzehnt<br />
zu einem Platzmacher. Große<br />
Verdienste <strong>und</strong> Anerkennung erwarb<br />
sich Heinz Müller jedoch durch<br />
seinen engagierten Einsatz für das <strong>Schausteller</strong>gewerbe<br />
<strong>und</strong> durch sein Auftreten gegenüber den<br />
Behörden, das ihn als eine ausgeprägte Persönlichkeit<br />
mit kompetentem Fachwissen auswies.<br />
Für den komplizierten <strong>und</strong> schwierigen Neuaufbau <strong>der</strong><br />
<strong>Volksfeste</strong> gibt es heute nur noch wenige Zeitzeugen.<br />
Zu ihnen gehört <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> Kurt Münch aus Brotterode<br />
in Thüringen, <strong>der</strong> sich noch gut an diese Zeit<br />
voller Not <strong>und</strong> Entbehrungen erinnert: „Im Herbst<br />
1945, die Menschen waren noch schwer von den<br />
Kriegsereignissen gezeichnet, fand am ersten Sonntag<br />
im November in Suhl <strong>der</strong> erste freie Markt nach<br />
dem gottverdammten Krieg statt. Zu diesem Anlass<br />
durften wir unser von Kriegsbeschädigungen verschontes<br />
<strong>und</strong> damals bereits 50 Jahre altes Bodenkarussell<br />
auf dem Schützenplatz aufbauen. Für den<br />
Transport von Brotterode nach Suhl schickte die Stadt<br />
die Speditionsfirma Weimann. Karusselltransporte waren<br />
1945 für die meisten <strong>Schausteller</strong> noch nicht möglich,<br />
da es kaum einsatzbereite Zugmaschinen <strong>und</strong><br />
Kraftstoff gab. Zu unserem Erstaunen besaß die Firma<br />
Weimann einen sehr gepflegten <strong>und</strong> 100 PS starken<br />
Hanomag, <strong>der</strong> unser Karussell ohne Mühe zog.“<br />
Erster freier Markt in Suhl<br />
Kurt Münch weiter: „Der erste freie Markt in Suhl wurde<br />
von Beginn an regelrecht gestürmt, weshalb die<br />
Feuerwehr den Zustrom zu unserem Karussell regulieren<br />
musste. Die Kameraden waren aber mit dieser<br />
Aufgabe hoffnungslos überfor<strong>der</strong>t <strong>und</strong> wurden nicht<br />
Herr <strong>der</strong> Lage. Beim Anhalten des Karussells waren<br />
die Feuerwehrleute stets die ersten, die von <strong>der</strong> enorm<br />
drängelnden Masse aufs Karussell geschoben wurden.<br />
Bei den ersten Fahrten war das Kassieren un-<br />
10
möglich, da das Karussell völlig überfüllt war <strong>und</strong> die<br />
Kassierer keinen Platz zum Einsammeln des Geldes<br />
hatten. Die meisten Kin<strong>der</strong> sahen zum ersten Mal in<br />
ihrem Leben ein Karussell <strong>und</strong> waren nicht mehr zu<br />
bändigen. Ein Jahr später bauten wir unser Karussell<br />
dann zu einem Sologastspiel auf dem Meininger Volkshausplatz<br />
auf. Dort war <strong>der</strong> Andrang genau so stark<br />
<strong>und</strong> bis zum Schluss kaum zu bewältigen. Die Sitzplätze<br />
auf den Pferden <strong>und</strong> in den Kutschen reichten<br />
nicht aus, weshalb sich die Kin<strong>der</strong> einfach zwischen<br />
die Besatzung stellten. In den folgenden Jahren fanden<br />
die <strong>Volksfeste</strong> in Suhl bereits mit einem Autoskooter,<br />
einem alten Riesenrad, einer Schiffschaukel, einer<br />
Schau- <strong>und</strong> einer Eisbude statt. Die Eisproduktion<br />
war damals allerdings viel aufwändiger als heute. Zur<br />
Kälteerzeugung musste aus <strong>der</strong> Brauerei o<strong>der</strong> dem<br />
Schlachthof Trockeneis geholt <strong>und</strong> um die rotierende<br />
Trommel <strong>der</strong> Eismaschine gepackt werden. Mit <strong>der</strong><br />
Getränkeversorgung – an Bratwürste, Fischbrötchen<br />
<strong>und</strong> an<strong>der</strong>e <strong>Spezial</strong>itäten war damals überhaupt nicht<br />
zu denken – wurde eine Verkäuferin aus einer Betriebsverkaufsstelle<br />
beauftragt. Das Bier hatte aber so<br />
gut wie keine Stammwürze <strong>und</strong> zwang zu sehr häufigem<br />
Aufsuchen <strong>der</strong> Toiletten. Eigentlich hätte man sich<br />
den Umweg durch den Körper sparen können“.<br />
Die <strong>Schausteller</strong>in Ruth Köhler aus Königswalde bei<br />
Annaberg-Buchholz berichtete über den beschwerlichen<br />
Neuanfang: „Als mein<br />
Vater aus dem Krieg heimkehrte,<br />
mussten wir ganz von<br />
vorn anfangen. Auf unserem<br />
Gr<strong>und</strong>stück wurde deshalb<br />
eifrig gewerkelt. Die noch vorhandenen<br />
<strong>und</strong> verwendbaren<br />
Teile unseres Hängekarussells,<br />
das mein Vater 1927<br />
nach eigenen Entwürfen<br />
selbst gebaut hatte, mussten<br />
erst wie<strong>der</strong> hergerichtet werden.<br />
Eigentlich haben wir aus<br />
nichts wie<strong>der</strong> ein provisorisches<br />
Kin<strong>der</strong>karussell zusammengebaut.<br />
Wir waren dann 1951 zum ersten Mal mit<br />
unserem Karussell wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Annaberger Kät, wo<br />
wir in <strong>der</strong> Festhalle verpflegt wurden. Eines Tages mussten<br />
wir in einem an<strong>der</strong>en Raum essen, da <strong>der</strong> Wirt für<br />
die <strong>Schausteller</strong> Bratkartoffeln gemacht hatte. Dazu<br />
gab es für jeden noch ein Ei. Es durfte aber niemand<br />
merken, da uns das Essen ohne Lebensmittelkarten<br />
ausgegeben wurde. Das war damals streng verboten<br />
<strong>und</strong> wurde von den Behörden mit harten Strafen geahndet“.<br />
Wie in Annaberg-Buchholz wurden die <strong>Schausteller</strong><br />
damals in fast allen Städten <strong>und</strong> Gemeinden von <strong>der</strong><br />
Bevölkerung mit offenen Armen empfangen <strong>und</strong> tatkräftig<br />
unterstützt. Der <strong>Schausteller</strong> Karl Kuntz aus<br />
NACHKRIEGSZEIT<br />
Hamburger R<strong>und</strong>schaukel<br />
von Rudolf Nitzschke, Leipzig<br />
QUELLE<br />
Der Komet Nr. 3072,<br />
Rolf Orschel: Berliner<br />
Rummel Teil 3, <strong>Kirmes</strong> Revue<br />
5/2004, Seiten 16-20<br />
Ponybahn von Josef Raab<br />
<strong>und</strong> Sobczyks Lachhaus<br />
Pößneck erinnert sich noch an die Steinacher<br />
Kirchweih des Jahres 1949: „Zur ersten Kirchweih<br />
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnten lediglich<br />
vier <strong>Schausteller</strong>betriebe anreisen <strong>und</strong> ihre Geschäfte<br />
aufbauen. Den in Massen herbeieilenden Besuchern<br />
standen nur ein Kettenflieger, eine Raketenbahn,<br />
zwei Luftschaukeln <strong>und</strong> zwei Kin<strong>der</strong>karussells<br />
zur Verfügung, die dem Ansturm kaum gewachsen<br />
waren. Da die Wohnwagen damals we<strong>der</strong> mit fließend<br />
Wasser noch Toiletten ausgestattet waren, durften wir<br />
die Toiletten im Rathaus benutzen <strong>und</strong> im Rathauskeller<br />
sogar richtig baden. Das war in dieser Zeit voller<br />
Entbehrungen fürstlicher Luxus“.<br />
■<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche,<br />
Archiv Eckermann<br />
11
NACHKRIEGSZEIT<br />
DIE SPALTUNG DEUTSCHLANDS<br />
FOTOS<br />
Archiv Seiferth,<br />
Archiv Hartmann,<br />
Archiv Riesche<br />
Volksfest in Zwickau<br />
auf dem heutigen „Platz<br />
<strong>der</strong> Völkerfre<strong>und</strong>schaft“<br />
Der Kettenflieger<br />
von Seiferth 1948 auf<br />
<strong>der</strong> Kleinmesse in Leipig<br />
Nach dem Krieg waren schon bald die gegenseitigen<br />
Beziehungen <strong>der</strong> Besatzungsmächte von<br />
großem Misstrauen geprägt. Aufgr<strong>und</strong> ihrer unterschiedlichen<br />
Ausgangspositionen entstanden erhebliche<br />
Missstimmungen zwischen den Alliierten. In Folge<br />
des Kalten Krieges wurden die Gegensätze zwischen<br />
den ehemaligen Verbündeten<br />
so groß, dass sich die direkte Trennung<br />
<strong>der</strong> westlichen <strong>und</strong> <strong>der</strong> östlichen<br />
Besatzungszone anbahnte. Obwohl<br />
bei den westlichen Siegermächten<br />
<strong>und</strong> den Russen keine bewusste Spaltungsabsicht<br />
bestand, führten die<br />
verschiedenen politischen Entscheidungen<br />
zur gr<strong>und</strong>verschiedenen Entwicklung<br />
<strong>und</strong> somit zur direkten Spaltung<br />
Deutschlands.<br />
In beiden Teilen Deutschlands waren<br />
die Siegermächte von <strong>der</strong> Richtigkeit<br />
iher Politik <strong>und</strong> von <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>wärtigkeit<br />
des eingeschlagenen Weges <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
überzeugt. Diese Denkweise <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Faktoren veranlassten<br />
die Sowjetunion bereits 1946 dazu, die Strategie<br />
ihrer Deutschlandpolitik schrittweise zu än<strong>der</strong>n<br />
<strong>und</strong> sich mehr auf ihre Besatzungszone zu konzentrieren.<br />
Der Misserfolg <strong>der</strong> Außenministerkonferenz<br />
<strong>der</strong> Großmächte im März <strong>und</strong> April 1947 in Moskau <strong>und</strong><br />
die unüberbrückbaren Differenzen auf <strong>der</strong> Pariser<br />
Konferenz im Juni <strong>und</strong> Juli 1947 waren Meilensteine<br />
für den Beginn des Kalten Krieges <strong>und</strong> <strong>der</strong> radikalen<br />
Verschlechterung <strong>der</strong> Beziehungen zwischen <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
<strong>und</strong> den USA. In <strong>der</strong> SBZ hatten die Kommunisten<br />
bereits so großen Einfluss, dass für sie <strong>der</strong><br />
Machterhalt wichtiger als die gesamtdeutsche Entwicklung<br />
wurde. Die neue sowjetische Politik <strong>der</strong> Abgrenzung<br />
lag somit voll in ihren Interesse. Die „bürgerlichen“<br />
Politiker Westdeutschlands interessierten<br />
die Zustände in <strong>der</strong> SBZ nur zweitrangig <strong>und</strong> die meisten<br />
hatten zu dieser Zeit die „bolschewistische Ostzone“<br />
bereits abgeschrieben.<br />
Unter dem Druck <strong>der</strong> herrschenden Verhältnisse hatten<br />
die westlichen Siegermächte vor allem die Einheit<br />
<strong>der</strong> „westlichen Besatzungszone“ im Auge. Deshalb<br />
verwies 1948 US-General Clay die deutschen Politiker,<br />
dass die Verantwortung für eine politische Teilung<br />
Deutschlands von den USA <strong>und</strong> Großbritannien nicht<br />
übernommen werden kann. So blieb die Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />
zwar Ziel deutscher Politik, doch Schritte in dieser<br />
Richtung wurden im Osten wie im Westen für die<br />
jeweilige Politik instrumentalisiert. Nach dem Scheitern<br />
<strong>der</strong> Außenministerkonferenzen brach die Alliierte<br />
Verwaltung für Deutschland auseinan<strong>der</strong>, worauf im<br />
März 1948 die Sowjets den Kontrollrat verließen <strong>und</strong><br />
somit das gemeinsame oberste Machtorgan Deutschlands<br />
handlungsunfähig machten. Die im Juni 1948<br />
separat durchgeführten Währungsreformen zerissen<br />
Deutschland auch als Wirtschaftsgebiet <strong>und</strong> führten<br />
zur Spaltung Berlins. Durch die von den Sowjets inszenierte<br />
Berlin-Blockade kam es dann zur Spaltung<br />
<strong>der</strong> ehemaligen Reichshauptstadt.<br />
Als sich die B<strong>und</strong>esrepublik nach den B<strong>und</strong>estagswahlen<br />
im September 1949 konstituierte, zogen die<br />
SED-Machthaber die längst vorbereiteten Pläne zur<br />
Schaffung des „ersten sozialistischen Staates auf<br />
deutschem Boden“ aus <strong>der</strong> Schublade <strong>und</strong> gründeten<br />
am 7. Oktober die Deutsche Demokratische Republik.<br />
12
NACHKRIEGSZEIT<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche<br />
Die Krinoline<br />
von Sachs auf <strong>der</strong><br />
Annaberger Kät 1951<br />
Die Entscheidung über die Gründung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, die ein<br />
deutliches Signal wachsen<strong>der</strong> Spannungen im Ost-<br />
West-Konflikt war, hatte allerdings die Sowjetunion getroffen.<br />
Bereits am 19. September legten die SED-Führer<br />
Pieck, Grotewohl, Ulbricht <strong>und</strong> Oelßner Stalin in<br />
Moskau ein Papier vor, in dem sie um die Zustimmung<br />
für die Bildung einer provisorischen<br />
deutschen Regierung<br />
in <strong>der</strong> SBZ baten. Nach einer<br />
Woche erhielten sie dann die<br />
Genehmigung zur Gründung<br />
des zweiten deutschen Teilstaates.<br />
Die lange vor <strong>der</strong><br />
Gründung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> eingeleitete<br />
sozialistische Umwälzung in<br />
<strong>der</strong> SBZ fand nun eine verschärfte<br />
<strong>und</strong> beschleunigte<br />
Fortsetzung. Zur massiven<br />
ideologischen Beeinflussung<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung gesellte sich<br />
<strong>der</strong> ökonomische Kampf gegen<br />
die noch bestehenden,<br />
nicht sozialistischen Eigentums-<br />
<strong>und</strong> Produktionsformen,<br />
dessen Ziel die Überführung<br />
<strong>der</strong> noch existierenden privaten<br />
Betriebe in genossenschaftliches<br />
o<strong>der</strong> „volkseigenes“<br />
(staatliches) Eigentum<br />
war. Durch diesen Plan mussten<br />
sich die <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
bald mit enormen<br />
<strong>und</strong> existenzbedrohenden<br />
Problemen auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />
Verschärfend kam hinzu,<br />
dass sie damit allein fertig<br />
werden mussten, da <strong>Schausteller</strong>verbände in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
verboten waren <strong>und</strong> somit auch kein Dachverband gegründet<br />
werden konnte, <strong>der</strong> die Interessen <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong><br />
gegenüber dem Staatsapparat, <strong>der</strong> nach <strong>der</strong><br />
Regierungsbildung im Oktober 1949 ausgebaut wurde,<br />
hätte vertreten können.<br />
■<br />
QUELLE<br />
Hermann Weber:<br />
Geschichte <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />
Seiten 91-127<br />
Die Pferdebahn<br />
von Familie Christiansen<br />
Wilde Jagd, Petzold<br />
13
<strong>DDR</strong> / 50er-JAHRE<br />
DIE FÜNFZIGER JAHRE<br />
Walzerfahrt von<br />
Franz Schönemann, 1953<br />
FOTOS<br />
Archiv Splitt,<br />
Archiv Riesche<br />
Die obere Straße auf<br />
dem Kätplatz in Annaberg, 1952<br />
Die Bimmelbahn<br />
von Hans Schmidt auf <strong>der</strong><br />
Kät in den fünfziger Jahren<br />
Das <strong>Schausteller</strong>gewerbe hatte sich gegen Ende<br />
<strong>der</strong> 1940er-Jahre von den schlimmsten Kriegsfolgen<br />
erholt <strong>und</strong> blickte nach <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
zunächst hoffnungsvoll in die Zukunft. Doch kurz darauf<br />
zogen, bedingt durch die „Diktatur des Proletariats“,<br />
dunkle Wolken am <strong>Schausteller</strong>himmel auf. Wie<br />
alle noch existierenden privaten<br />
Betriebe bekamen auch die<br />
<strong>Schausteller</strong> die existenzbedrohenden<br />
Auswirkungen <strong>der</strong> verschärften<br />
sozialistischen Umgestaltung<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Planwirtschaft zu<br />
spüren. Die privaten <strong>Schausteller</strong><br />
passten nach Meinung <strong>der</strong> Staats<strong>und</strong><br />
Parteiführung nicht mehr in die<br />
von Vorurteilen geprägten Vorstellungen<br />
<strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft.<br />
Durch die 1945 begonnene<br />
antifaschistisch - demokratische<br />
Umgestaltung in <strong>der</strong> Kulturszene<br />
wurde nun auch <strong>der</strong> Unterhaltungsbereich<br />
einbezogen. Beson<strong>der</strong>e<br />
Aufmerksamkeit widmete<br />
man deshalb den Unterhaltungsansprüchen<br />
<strong>der</strong> Werktätigen, denn<br />
die sozialistisch arbeitenden <strong>und</strong><br />
lebenden Menschen sollten sich<br />
mit „richtiger Kultur“ in Form von<br />
schöngeistiger Literatur, Kino, Theater<br />
<strong>und</strong> Konzerten beschäftigen.<br />
Da bei den <strong>Volksfeste</strong>n unklar war,<br />
ob sie überhaupt <strong>und</strong> in welcher<br />
Form erhalten bleiben sollten <strong>und</strong><br />
ob sie in einer sozialistischen Gesellschaft<br />
überhaupt noch zeitgemäß<br />
sind, wurden sie von beson<strong>der</strong>s linientreuen<br />
Scharfmachern als plumpes <strong>und</strong> niveauloses Massenvergnügen<br />
abgestempelt. Obwohl den <strong>Schausteller</strong>betrieben<br />
durch die Gewerbegenehmigungen ein<br />
volkswirtschaftliches Bedürfnis attestiert wurde, wurden<br />
sie wie alle privaten Unternehmer als „Kapitali-<br />
14
sten“ charakterisiert <strong>und</strong> in sämtlichen Bereichen benachteiligt<br />
<strong>und</strong> gegängelt. Gesteuert von einigen Kultur-Funktionären,<br />
begann im Sommer 1950 eine aus<br />
Regierungskreisen inszenierte Pressekampagne gegen<br />
die <strong>Schausteller</strong> <strong>und</strong> <strong>Volksfeste</strong>.<br />
Eine inszenierte Pressekampagne<br />
In den regionalen Tageszeitungen tauchten nun regelmäßig<br />
diskriminierende Berichte auf, die die Stimmung<br />
gegen die privaten <strong>Schausteller</strong>betriebe <strong>und</strong><br />
die Rummelplätze anheizen sollten. So wurde in einem<br />
Artikel <strong>der</strong> Neuen Zeit am Montag vom 3. Juli 1950 die<br />
Existenzberechtigung <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong> in Frage gestellt,<br />
da „den Besuchern auf den niveaulosen Rummelplätzen<br />
nur durch platte Betäubung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Vortäuschung<br />
falscher Tatsachen das Geld aus den Taschen gezogen<br />
wird.“ In an<strong>der</strong>en Tageszeitungen wurden die traditionellen<br />
<strong>Volksfeste</strong> in diffamieren<strong>der</strong> Art <strong>und</strong> Weise<br />
als „extrem jugendgefährdend“ dargestellt. Heftig kritisiert<br />
wurden auch die Geisterbahnen. Am 24. Juli<br />
1950 schrieb eine Thüringer Tageszeitung zu diesem<br />
Thema: „In Bezug auf die Geisterbuden ist folgendes<br />
zu sagen: Vernünftige Erwachsene besuchen diese<br />
maroden Buden ohnehin nicht <strong>und</strong> werden es auch<br />
ihren Kin<strong>der</strong>n verbieten,<br />
ihr Geld für<br />
solchen Unsinn auszugeben.<br />
Wenn diejenigen,<br />
die sich etwas<br />
Neues, etwas<br />
Sensationelles von<br />
diesem Budenzauber<br />
versprachen,<br />
aufgeklärt <strong>und</strong> durch<br />
Schaden klug geworden<br />
sind, dann<br />
lasst die Geisterbuden<br />
gewähren, so<br />
lange sie wollen – sie<br />
werden in Kürze von<br />
selbst eingehen.“ Noch härter traf es die Besitzer, die<br />
mit einer Schaubude, einem Wachsfigurenkabinett<br />
o<strong>der</strong> einem Panorama reisten. Ihre Geschäfte wurden<br />
als billigster Rummel, plumper Klamauk, Nepp o<strong>der</strong><br />
Ramschbuden herabgewürdigt, in denen die Besucher<br />
lediglich an <strong>der</strong> Nase herumgeführt werden. So<br />
schrieb beispielsweise die Thüringer Landeszeitung<br />
gegen Ende <strong>der</strong> fünfziger Jahre unter an<strong>der</strong>em über<br />
die Illusionsschau „Walhalla-Theater“, die auf einem<br />
Sommerfest in Suhl gastierte: „Es begrüßt uns das Walhalla-Theater.<br />
Was für ein bescheidener Name für eine<br />
Jahrmarktsbude. Mit ehrfürchtigem Schauer (o<strong>der</strong><br />
Schau<strong>der</strong>?) betreten wir, an <strong>der</strong> Kasse um eine Mark<br />
ärmer geworden , das ‘Theater’. Man muss sagen,<br />
dass sich diese Unternehmen bemühen, rentabel zu<br />
wirtschaften. Jedes Mitglied füllt mehrere Planstellen<br />
aus. So kommt das junge Mädchen, das draußen als<br />
Ausruferin fungierte, rasch hinein, als die Bude – Verzeihung,<br />
die Walhalla – voll ist, <strong>und</strong> wird zur ‘Conferencieuse’.<br />
‘Illusionen’ wolle sie uns sehen lassen, sagt<br />
sie. Sie führen ein paar kleine Tricks vor. Dazwischen<br />
‘das Spiel <strong>der</strong> tausend Farben’. Ein Kaleidoskop im<br />
großen. Und mit ganz einfachen Mitteln. Ein Mädchen<br />
zieht einen weiten Umhang mit geflügelten Ärmeln an<br />
<strong>und</strong> schwingt damit, während mit einem Bildwerfer<br />
<strong>DDR</strong> / 50er-JAHRE<br />
Annaberger Kät<br />
im Lichterglanz<br />
<strong>der</strong> fünfziger Jahre<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche<br />
Seiferts Raketenfahrt<br />
zum Mond <strong>und</strong> <strong>der</strong> Globus<br />
von Schüttwolf & Seuthe<br />
15
<strong>DDR</strong> / 50er-JAHRE<br />
Die Geisterbahn<br />
von Otto Heep jun. 1953<br />
FOTOS<br />
Archiv Hünniger,<br />
Archiv Eckermann<br />
Die Gondelbahn<br />
von Margot Böttger<br />
bunte <strong>und</strong> bunteste Farbmuster ein ständig wechselndes<br />
Farbenspiel erzeugen. ‘Und das war das<br />
Ende unserer Vorstellung!’ Das hört man schon, wenn<br />
man denkt, es soll richtig anfangen. Aber dass man<br />
hier für sein Geld nicht viel zu sehen bekommt, hat man<br />
ja vorher gewusst. Bessere Leistungen können in einem<br />
solchen Unternehmen höchsten ansatzweise erbracht<br />
werden.“<br />
Mit solchen Presseberichten wurde nicht das Ziel verfolgt,<br />
durch staatliche Hilfe das Niveau <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong><br />
zu steigern, vielmehr sollte damit <strong>der</strong> Boden für verschärfte,<br />
gewerberechtliche Verordnungen gegen das<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbe vorbereitet werden.<br />
Die Kampagne war ein Rohrkrepierer<br />
Die Kritik des Staatsapparates befasste sich hauptsächlich<br />
mit <strong>der</strong> angeblich schlechten <strong>und</strong> monotonen<br />
Gestaltung <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong>, mit den kitschigen Gewinnen<br />
<strong>der</strong> Warenausspielungen <strong>und</strong> dem steigenden Alkoholkonsum<br />
auf den Festplätzen. Gebetsmühlenartig<br />
wurde auf das tief gesunkene Niveau <strong>der</strong> Veranstaltungen<br />
hingewiesen, „von denen niemand abstreiten<br />
könne, dass sie nur noch billigen,<br />
niveaulosesten Rummel bieten<br />
würden“. Mit Nachdruck wurden<br />
„neue, sozialistische <strong>Volksfeste</strong>“<br />
gefor<strong>der</strong>t, die dem wachsendem<br />
Lebensstandard <strong>und</strong> <strong>der</strong> zunehmenden<br />
Kaufkraft <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
entsprechen sollten. Regelmäßig<br />
erschienen in <strong>der</strong> Presse<br />
Berichte, die dringend neue <strong>und</strong><br />
mo<strong>der</strong>ne Fahrgeschäfte, hochwertige<br />
Gewinne <strong>und</strong> besser gestaltete<br />
Festplätze for<strong>der</strong>ten. Die initiierte<br />
Pressekampagne entpuppte sich allerdings als<br />
Rohrkrepierer. Die <strong>Schausteller</strong> stellten nämlich klar,<br />
dass die For<strong>der</strong>ungen nach mehr Abwechslung <strong>und</strong><br />
höherem Niveau <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong> nie hätten gestellt werden<br />
müssen, wenn die Behörden besser mit den<br />
<strong>Schausteller</strong>n zusammengearbeitet hätten <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Staat ihnen großzügiger <strong>und</strong> hilfsbereiter entgegen gekommen<br />
wäre. Die Ausgestaltung <strong>der</strong> Festplätze war<br />
größtenteils Aufgabe <strong>der</strong> jeweiligen Industrie- <strong>und</strong><br />
Handelskammern (IHK) – aber die zuständigen Mitarbeiter,<br />
die sich Gedanken über die Gestaltung <strong>und</strong> Belebung<br />
ihrer <strong>Volksfeste</strong> machten, konnte damals je<strong>der</strong><br />
<strong>Schausteller</strong> an den Fingern einer Hand abzählen.<br />
Eintönig gestaltete Festplätze bewiesen hauptsächlich<br />
die Unfähigkeit <strong>der</strong> dafür zuständigen IHK-Mitarbeiter.<br />
Die Ausspielung hochwertiger Gewinne hing<br />
nicht vom „Wollen o<strong>der</strong> Möchten“, son<strong>der</strong>n hauptsächlich<br />
vom „Können <strong>und</strong> Dürfen“ <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> ab. Da<br />
noch genügend Fachkräfte <strong>und</strong> <strong>Spezial</strong>isten für die<br />
Herstellung von Fahrgeschäften in den Karussellfabriken<br />
arbeiteten, wurde schon lange vom <strong>Schausteller</strong>gewerbe<br />
<strong>der</strong> Bau von Achterbahnen <strong>und</strong> neuen Fahrgeschäften<br />
gefor<strong>der</strong>t. Die vom Staat benachteiligten<br />
16
<strong>DDR</strong> / 50er-JAHRE<br />
Eröffnung des Berliner<br />
Weihnachtsmarktes um 1950<br />
Privatfirmen waren aber nicht mehr in <strong>der</strong> Lage, neue<br />
Attraktionen herzustellen, da das dafür erfor<strong>der</strong>liche<br />
Material nur für volkswirtschaftlich notwendige Projekte<br />
genehmigt wurde. Außerdem wurden Halbstarke<br />
<strong>und</strong> Alkoholiker nicht auf den Rummelplätzen gezüchtet,<br />
<strong>und</strong> die <strong>Schausteller</strong> hätten es sehr begrüßt,<br />
wenn die Ordnungshüter diese Elemente von den <strong>Kirmes</strong>plätzen<br />
ferngehalten hätten. Da diese f<strong>und</strong>amentalen<br />
Tatsachen von <strong>der</strong> Presse <strong>und</strong> den Machthabern<br />
ignoriert <strong>und</strong> verschwiegen wurden, schrieben einige<br />
couragierte <strong>Schausteller</strong> Leserbriefe an verschiedene<br />
Tageszeitungen <strong>und</strong> lösten eine generelle Diskussion<br />
um die Existenzberechtigung <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong> aus. So<br />
schrieb am 26. Oktober 1956 die Zeitung Der Morgen<br />
unter <strong>der</strong> Überschrift „Wir wollen <strong>Volksfeste</strong>, keine<br />
Rummelplätze“ unter an<strong>der</strong>em: „Beson<strong>der</strong>s wesentlich<br />
ist aber, dass Neuheiten entwickelt werden. Da <strong>der</strong><br />
Neubau eines Fahrgeschäftes erhebliche Materialmengen<br />
<strong>und</strong> Geldmittel erfor<strong>der</strong>t, bedürfen diese Fragen<br />
einer gr<strong>und</strong>sätzlichen Klärung. Wer plant <strong>der</strong>artiges<br />
Material ein, <strong>und</strong> wie kann ein <strong>Schausteller</strong> dafür<br />
Kredite erhalten? Diese Fragen sind deshalb schwer<br />
zu lösen, weil es immer noch keine zentrale Regierungsstelle<br />
gibt, die sich für die <strong>Schausteller</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Volksfeste</strong> verantwortlich fühlt.“<br />
Kaum Wirkung bei <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
Die groß angelegte Stimmungsmache gegen die<br />
<strong>Schausteller</strong> zeigte aber bei <strong>der</strong> Bevölkerung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
fast keine Wirkung. Nur sehr wenige Menschen teilten<br />
die Meinung des Staates, <strong>der</strong> größte Teil <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
amüsierte sich durchaus gern <strong>und</strong> nach Herzenslust<br />
auf den <strong>Kirmes</strong>plätzen, da man fern <strong>der</strong> Bibliotheken,<br />
Bühnen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Stätten, die nur geistige<br />
Kost vermittelten, für ein paar St<strong>und</strong>en die Nöte<br />
<strong>und</strong> Sorgen des Alltags vergessen <strong>und</strong> <strong>der</strong> penetranten<br />
sozialistischen Ideologie entfliehen konnte. Die<br />
Menschen empfanden es keinesfalls als konservativen<br />
Hang zum Althergebrachten, wenn sie für die Daseinsberechtigung<br />
<strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong> plädierten.<br />
Trotz <strong>der</strong> ungewissen Zukunft des Gewerbes begann<br />
in <strong>der</strong> Hauptstadt <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> in den fünfziger Jahren ein<br />
regelrechter Boom für die <strong>Schausteller</strong>, die mit Großveranstaltungen<br />
<strong>der</strong> Sozialhilfe in Verbindung mit Vergnügungsplätzen<br />
eingeleitet wurde. Den Auftakt bildete<br />
bereits im Jahr 1949 die „Weißenseer Verkaufswoche“,<br />
die dem Massenansturm kaum gewachsen<br />
war. Die Veranstaltung brach damals sämtliche Rekorde<br />
<strong>und</strong> ließ die Kassen <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> ordentlich<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche,<br />
Archiv Katzschmann,<br />
Sammlung Orschel<br />
Erinnerungsfoto vom<br />
Martinimarkt in Parchim 1957<br />
17
<strong>DDR</strong> / 50er-JAHRE<br />
Walzerfahrt Stoll,<br />
Kin<strong>der</strong>karussell <strong>und</strong><br />
Schießen Hainlein,<br />
Schaukel Nicke in Eisenach<br />
Malfertheiners<br />
Fahrt ins Blaue 1956<br />
Reihengeschäften aus: Da <strong>der</strong>en Betreiber kaum ansprechende<br />
Ware besorgen konnten <strong>und</strong> Lebensmittel-Ausspielungen<br />
wie im Westteil <strong>der</strong> Stadt wegen <strong>der</strong><br />
noch herrschenden Lebensmittelengpässe nicht möglich<br />
waren, herrschte an diesen Geschäften größtenteils<br />
gähnende Leere. Ihre Besitzer konnten nur zusehen,<br />
wie die Kollegen den Ansturm kaum noch bewältigen<br />
konnten.<br />
Neue Form <strong>der</strong> Benachteiligung<br />
FOTOS<br />
Archiv Moschkau, Archiv<br />
Malfertheiner, Archiv Riesche<br />
Rauschs Toboggan<br />
mit festlicher Beleuchtung<br />
klingeln. An den Haupttagen drehten sich die Karussells<br />
unermüdlich vom Morgen bis weit nach Mitternacht,<br />
stets voll besetzt <strong>und</strong> von einer beängstigenden<br />
Menschenmasse umlagert. Auf den Rummelplätzen<br />
waren die Fahrgeschäfte dem Andrang kaum<br />
noch gewachsen: Egal ob Autoskooter, Kettenflieger,<br />
Geisterbahn, Überschlag-<br />
Sportschaukel, Riesenrad,<br />
Walzerfahrt, Kin<strong>der</strong>schaukel<br />
<strong>und</strong> -karussell, Fahrt ins Blaue,<br />
Toboggan o<strong>der</strong> Spinne, auf<br />
dem „Stralauer Fischzug“<br />
o<strong>der</strong> „Treptow in Flammen“,<br />
dem Volksfest auf dem Alexan<strong>der</strong>-Platz<br />
<strong>und</strong> den vielen<br />
an<strong>der</strong>en Veranstaltungen war<br />
an den Fahrgeschäften die<br />
Hölle los <strong>und</strong> die Kassierer<br />
konnten nur mit Not <strong>und</strong> Mühe<br />
das Fahrgeld kassieren. Ganz<br />
an<strong>der</strong>s sah es dagegen bei<br />
den Verlosungen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Der Magistrat von Berlin überrumpelte 1956 die<br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong> mit dem Beschluss, westdeutsche<br />
<strong>Schausteller</strong> für den lukrativen Weihnachtsmarkt <strong>und</strong><br />
zukünftig auch für die großen Berliner <strong>Volksfeste</strong> zu<br />
verpflichten, um so endlich ein <strong>der</strong> Zeit entsprechendes<br />
Niveau <strong>der</strong> Veranstaltungen gewährleisten zu können.<br />
Auf die zahlreichen Proteste <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong><br />
gegen diesen ungeheueren Plan wurde vom<br />
Vizepräsidenten <strong>der</strong> IHK von (Ost)Berlin im Presseorgan<br />
Der Morgen folgende Begründung zur Zulassung<br />
westdeutscher <strong>Schausteller</strong> für Veranstaltungen in<br />
Berlin angegeben: „Seit Jahren bemühen wir uns, den<br />
Kulturaustausch zwischen den getrennten Teilen<br />
18
Deutschlands zu för<strong>der</strong>n. Wir sind <strong>der</strong> Ansicht, dass<br />
auch aus diesem Gr<strong>und</strong> auf sämtlichen großen <strong>Volksfeste</strong>n<br />
beson<strong>der</strong>s in (Ost)Berlin westdeutsche <strong>Schausteller</strong><br />
zugelassen werden müssen. Die Begründung,<br />
dass dadurch die Verdienstmöglichkeiten <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<br />
<strong>Schausteller</strong> geschmälert würden, erscheint nicht<br />
stichhaltig. Im Gegenteil, da es sich um beson<strong>der</strong>e Attraktionen<br />
handeln wird, werden letzten Endes alle<br />
<strong>Schausteller</strong> davon profitieren“. Deutlicher hätte die<br />
staatlich geplante Benachteiligung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong>,<br />
die gegen die westliche Konkurrenz kaum<br />
Chancen hatten, wohl<br />
nicht formuliert werden<br />
können. Nachdem man<br />
die staatlichen Marktdirektionen,<br />
die seit geraumer<br />
Zeit für die Belange<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> zuständig<br />
waren, wie<strong>der</strong> aufgelöst<br />
hatte, wurde im Juni<br />
1956 mit <strong>der</strong> „Verordnung<br />
über die Regelung <strong>der</strong><br />
Gewerbetätigkeit in <strong>der</strong><br />
privaten Wirtschaft“ die<br />
Entscheidung in sämtlichen<br />
Gewerbeangelegenheiten<br />
an die Räte <strong>der</strong><br />
Bezirke <strong>und</strong> Kreise übertragen. In <strong>der</strong><br />
Anlage 1 zur ersten Durchführungsbestimmung,<br />
im September des selben<br />
Jahres, wurden die <strong>Schausteller</strong> dem Bereich<br />
Kultur unterstellt <strong>und</strong> ihre Einbeziehung<br />
in die Planung <strong>und</strong> Gestaltung <strong>der</strong><br />
sozialistischen <strong>Volksfeste</strong> sowie <strong>der</strong>en<br />
Einglie<strong>der</strong>ung in das gesellschaftliche<br />
Leben beschlossen, um endlich die Voraussetzungen<br />
für klare Verhältnisse zwischen<br />
den <strong>Schausteller</strong>n <strong>und</strong> dem Staat<br />
zu schaffen. Obwohl diese Beschlüsse<br />
überfällig waren, dauerte es noch Jahre,<br />
bis sich das angespannte Verhältnis normalisierte.<br />
Mit dem wachsenden Lebensstandard<br />
wuchsen gegen Ende <strong>der</strong> 50er-Jahre<br />
auch die Ansprüche <strong>der</strong> Bevölkerung.<br />
Die kontinuierlich steigende Kaufkraft<br />
des <strong>DDR</strong>-Geldes bedingte, dass die Besucher<br />
auch wählerischer ihr Geld auf<br />
den <strong>Volksfeste</strong>n ausgaben. Das wirkte<br />
sich spürbar auf die Umsätze <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong><br />
aus. Ein weiteres Problem war die<br />
ungenügende Abstimmung <strong>der</strong> Volksfesttermine,<br />
unter <strong>der</strong> viele Veranstaltungen<br />
qualitativ <strong>und</strong> quantitativ litten. Außerdem<br />
bedingte die monopolistische<br />
Beherrschung kleinerer Plätze durch<br />
<strong>Schausteller</strong> eine gewisse Eintönigkeit des Vergnügungsangebotes.<br />
Wenig zufrieden war das <strong>Schausteller</strong>gewerbe<br />
auch mit <strong>der</strong> Entlohnung <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>gehilfen,<br />
die nur als ungelernte Arbeiter eingestuft<br />
waren, während sie früher nach dem Transportarbeiter-Tarif<br />
entlohnt wurden. Das Kernproblem <strong>der</strong><br />
Diskussionen im <strong>Schausteller</strong>gewerbe war zur damaligen<br />
Zeit aber die progressive Besteuerung, durch die<br />
<strong>der</strong> Staat den größten Teil <strong>der</strong> Einnahmen abschöpfte<br />
<strong>und</strong> die <strong>Schausteller</strong> dadurch keine Rücklagen für die<br />
dringend notwendigen Investitionen bilden konnten.■<br />
<strong>DDR</strong> / 50er-JAHRE<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche<br />
1951 bei den<br />
Weltfestspielen in Berlin:<br />
die Spinne von Saalfel<strong>der</strong><br />
QUELLE<br />
NZ am Morgen v. 3. Juli<br />
1950, Der Morgen v. 24.<br />
Oktober 1956, Thüringer<br />
Landeszeitung v. 6. Juni<br />
1959<br />
Ponybahnen waren<br />
damals zahlreich vertreten<br />
19
<strong>DDR</strong> / 60er-JAHRE<br />
DIE SECHZIGER JAHRE<br />
FOTOS<br />
Archiv Härtel.<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Raketenfahrt zum Mond<br />
<strong>und</strong> Schießbude von Härtel<br />
Ernst Gratz beim Aufbau<br />
seiner Raketenfahrt zum Mond<br />
Die sechziger Jahre waren ein Einschnitt in <strong>der</strong> weiteren<br />
sozialistischen Entwicklung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Ständige<br />
Versorgungsengpässe, <strong>der</strong> verschärfte politische<br />
Kurs des Staates <strong>und</strong> die versuchte Umformung<br />
des Bewusstseins <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Bürger im Sinne <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Ideologie<br />
ließen den<br />
Strom <strong>der</strong> Bürger,<br />
die ihrem Staat für<br />
immer den Rücken<br />
kehrten, zu Beginn<br />
dieses Jahrzehnts<br />
zu einer Massenflucht<br />
in den Westen<br />
anwachsen,<br />
durch die <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
<strong>der</strong> baldige ökonomische<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
Kollaps<br />
drohte. Ungeachtet<br />
dieser drohenden<br />
Gefahr bekamen<br />
nun <strong>Schausteller</strong>,<br />
die mit Schaugeschäften reisten, neuen Ärger mit <strong>der</strong><br />
Staatsmacht.<br />
Ärger mit den Schaugeschäften<br />
Diese Geschäfte waren einigen Kulturfunktionären ein<br />
Dorn im Auge <strong>und</strong> sollten so schnell wie möglich von<br />
den <strong>Volksfeste</strong>n verschwinden. Am 17. Mai 1961 veröffentlichte<br />
die Tageszeitung des Bezirkes Erfurt, Das<br />
Volk, ein Feuilleton, das sich mit diesem Thema ausführlich<br />
befasste <strong>und</strong> nicht mit Kritik an <strong>Schausteller</strong><br />
Hoppes „Neuer Weltschau“ sparte. Unter an<strong>der</strong>em<br />
konnte man lesen: „Menschenfisch im Südchinesischen<br />
Meer’, ‘Riesenhai verschlang Ozeanriesen’,<br />
‘Kolibri rettet sich aus einem Taifun’ – das sind keine<br />
Schlagzeilen aus <strong>der</strong> westdeutschen Bildzeitung, aber<br />
Schlagzeilen, die wie die Bildzeitung unwahre Meldungen<br />
ankündigen. Man konnte sie in Erfurt, also mitten<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, <strong>und</strong> zwar auf dem Rummel vor <strong>der</strong><br />
Thüringenhalle lesen.“<br />
Nach einigen Sätzen über den pädagogisch wertvollen<br />
Gorkipark in Moskau kam <strong>der</strong> Verfasser dann zur<br />
Sache: „Billiger Rummel <strong>und</strong> Klamauk, kommen Sie<br />
spaßeshalber mit in Hoppes „Neue Weltschau“, <strong>der</strong> wir<br />
die anfangs zitierten Schlagzeilen zu verdanken<br />
haben. Der erste Eindruck in Hoppes Etablissement:<br />
Ramschbude – vom Pariser Trödelmarkt zusammengetragen.<br />
Ausgestopfte Kreaturen, mit falschen Bezeichnungen<br />
versehen, teilweise mit grauer Gartenfarbe<br />
angestrichen. In einigen Vollglasaquarien<br />
schnappen Goldfische nach Sauerstoff. Als Kabinettstück<br />
hängt ein Menschenfisch an <strong>der</strong> Wand, <strong>der</strong> im<br />
südchinesichen Meer gesichtet worden sein soll. Wo<br />
wohl Hoppes das ausgestopfte Exemplar herhaben?<br />
Wer lachen will, sieht sich in <strong>der</strong> zweiten Abteilung in<br />
Spiegeln: dick, dünn, lang, klein, kugelr<strong>und</strong> <strong>und</strong> mit<br />
riesengroßer Nase; aber es lacht niemand. Man hat<br />
das Gefühl, an <strong>der</strong> Nase herumgeführt zu sein. Muss<br />
man sich darüber ärgern? Eigentlich war das ja schon<br />
immer so. Gibt es nichts Besseres auf unseren Rummelplätzen<br />
als Hoppes ‘Neue Weltschau’? Die Karussells<br />
sind noch die selben wie vor dreißig Jahren. In<br />
dem Getränkezelt wird noch immer nicht für die Gar<strong>der</strong>obe<br />
Haftung übernommen, <strong>und</strong> die sechs Schießbuden<br />
als Clou zu bezeichnen, wäre auch übertrieben.<br />
Es gibt also nichts, was wirklich besser wäre! Angesichts<br />
<strong>der</strong> Tausenden von Jugendlichen, die täglich<br />
20
<strong>DDR</strong> / 60er-JAHRE<br />
Aufbau <strong>der</strong> Berg- <strong>und</strong><br />
Talbahn von Malfertheiner<br />
bei erschwerten Bedingungen<br />
Stammgast sind, müsste man fragen: Oh, Fre<strong>und</strong>e,<br />
habt ihr noch nicht das Kommuniqué des Zentralkommitees<br />
über Jugendfragen gelesen? Werden wir es<br />
den Jungen Pionieren (staatliche Schülerorganisation)<br />
zum Pioniertreffen in Erfurt zumuten, in diesen Vergnügungspark<br />
zu gehen, o<strong>der</strong> könnte man einmal sagen:<br />
‘Erfurter, im NAW (Nationales Aufbauwerk – unentgeldliche,<br />
gemeinnützige Arbeit) habt ihr schon tolle<br />
Leistungen vollbracht, jetzt geht daran <strong>und</strong> baut euren<br />
Jugendlichen einen Vergnügungspark.’ Könnte<br />
man das? – Man könnte!“<br />
Soweit einige Auszüge aus diesem Feuilleton, die<br />
deutlich machen, wie die staatliche Propaganda zu<br />
Beginn <strong>der</strong> sechziger Jahre immer noch die Stimmung<br />
gegen das <strong>Schausteller</strong>gewerbe anheizen wollte. Man<br />
hätte stattdessen bessere Voraussetzungen zur Ausübung<br />
des Gewerbes schaffen sollen. Der gefor<strong>der</strong>te<br />
Vergnügungspark konnte übrigens nie gebaut werden,<br />
da we<strong>der</strong> die finanziellen<br />
noch die materielltechnischen<br />
Voraussetzungen vorhanden<br />
waren. Ganz im Gegenteil,<br />
zwei Jahre später steckte <strong>der</strong><br />
Staat zig Millionen Mark in die<br />
Sicherung <strong>und</strong> den Ausbau<br />
seiner Grenze. Große Teile <strong>der</strong><br />
Bevölkerung ahnten damals<br />
bereits, dass die Regierung<br />
um Ulbricht etwas unternehmen<br />
würde, um das Ausbluten<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> durch die sprunghaft<br />
angestiegenen Massenfluchten<br />
zu verhin<strong>der</strong>n. Das kaum<br />
Vorstellbare geschah dann in<br />
<strong>der</strong> Nacht zum 13 August<br />
1961, als in Berlin die Straßen zu den Westsektoren mit<br />
Stacheldraht <strong>und</strong> spanischen Reitern hermetisch abgeriegelt<br />
wurden <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bau <strong>der</strong> Mauer begann.<br />
Politisches Tauwetter<br />
Der Mauerbau war einerseits <strong>der</strong> tiefste <strong>und</strong> menschenverachtendste<br />
Einschnitt in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>, an<strong>der</strong>erseits aber die einzige Möglichkeit, den<br />
völligen Zusammenbruch des Staates zu verhin<strong>der</strong>n.<br />
Die Bevölkerung musste sich nun gezwungenermaßen<br />
mit dem SED-Staat arrangieren. Dies bewirkte eine<br />
vorher kaum vorstellbare positive Entwicklung, wodurch<br />
sich die Beziehungen zwischen <strong>der</strong> Staatsgewalt<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung schrittweise verbesserten.<br />
Von diesem politischen Tauwetter profitierten in gewissem<br />
Sinne auch die <strong>Schausteller</strong>. Zuvor holte <strong>der</strong><br />
Staat aber zu einem gewaltigen Schlag gegen die<br />
FOTOS<br />
Archiv Liebold,<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Blick vom Riesenrad<br />
auf die Kin<strong>der</strong>eisenbahn<br />
von Preuß <strong>und</strong> die Fahrt ins<br />
Blaue von Malfertheiner<br />
21
<strong>DDR</strong> / 60er-JAHRE<br />
Die Spinne war auf<br />
allen Plätzen gern gesehen<br />
FOTOS<br />
Archiv Liebold,<br />
Archiv Seiferth,<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Bei Platzmangel<br />
wurde <strong>der</strong> Fuhrpark<br />
auf <strong>der</strong> Staße abgestellt<br />
noch existierenden Privatbetriebe aus, die auf demagogische<br />
Art <strong>und</strong> Weise immer wie<strong>der</strong> für die bestehenden<br />
Wirtschaftsprobleme <strong>und</strong> ständigen Versorgungsengpässe<br />
verantwortlich gemacht wurden.<br />
Nach <strong>der</strong> schrittweisen Verstaatlichung <strong>der</strong> Landwirtschaft,<br />
die 1955 begann <strong>und</strong> sich später durch tief<br />
greifende sozialpolitische Maßnahmen <strong>und</strong> günstige<br />
Arbeitsbedingungen durchaus auch vorteilhaft auf die<br />
Bauern auswirkte, rollte mit Beginn <strong>der</strong> sechziger Jahre<br />
die erste große Enteignungswelle durch die <strong>DDR</strong>,<br />
durch die die meisten privaten Handwerksbetriebe<br />
<strong>und</strong> Zulieferbetriebe enteignet <strong>und</strong> verstaatlicht wurden.<br />
Bei dieser Gelegenheit sollte endlich auch das<br />
<strong>Schausteller</strong>problem gelöst werden.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> wurde beim Ministerium für Kultur<br />
eine Arbeitsgruppe gebildet, die die Vorraussetzungen<br />
für die Bildung so genannter „<strong>Schausteller</strong>-Genossenschaften“<br />
schaffen sollte. Neben Vertretern des<br />
Staatsapparates <strong>und</strong> <strong>der</strong> IHK durften auch wenige,<br />
speziell ausgewählte <strong>Schausteller</strong> über die Zukunft ihres<br />
Gewerbes mit beraten. Für die Bezirke Erfurt, Gera<br />
<strong>und</strong> Suhl waren drei solcher Genossenschaften vorgesehen.<br />
Man beabsichtigte, künftig an Stelle <strong>der</strong> „billigen<br />
Rummelplätze“ in größeren Orten ständig geöffnete<br />
Vergnügungsparks mit kontinuierlich wechselnden<br />
Attraktionen einzurichten. Im Januar 1960 wurden<br />
diesbezüglich ein Arbeitsplan beschlossen <strong>und</strong> Fragen<br />
<strong>der</strong> Vorstände <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>-Genossenschaften<br />
sowie die Auszahlung <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>-Anteile erörtert.<br />
<strong>Schausteller</strong>-Genossenschaften<br />
Durch die zu gründenden Genossenschaften sollte die<br />
„billige <strong>und</strong> niveaulose Volksbelustigung“ endgültig<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit angehören. Die Vertreter des<br />
Staatsapparates erkannten aber schnell, dass für die<br />
Realisierung dieses Ziels den <strong>Schausteller</strong>n die Möglichkeit<br />
zur Beschaffung von mo<strong>der</strong>nen Geschäften,<br />
hochwertigen Gewinnen <strong>und</strong> zur Schaffung einer wesentlich<br />
besseren materiell-technischen Basis gegeben<br />
werden musste. Da <strong>der</strong> Staat dies jedoch nicht<br />
wollte (o<strong>der</strong> konnte), wurde <strong>der</strong> „Genossenschaftsplan“,<br />
<strong>der</strong> sich als Eigentor entpuppen würde, schnell<br />
wie<strong>der</strong> verworfen. Kurz darauf sollte mit <strong>der</strong> Bildung<br />
des volkseigenen Zentralzirkus, <strong>der</strong> mit dem „sozialistischen<br />
Veranstaltungswesen <strong>der</strong> Zirkuskunst <strong>und</strong><br />
ähnlicher Genre“ beauftragt wurde, auch ein vertragliches<br />
Verhältnis zwischen den <strong>Schausteller</strong>n <strong>und</strong> dem<br />
22
<strong>DDR</strong> / 60er-JAHRE<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Rolf Orschel<br />
Planetenbahn von<br />
Oswald Thieme um 1969<br />
„sozialistischen Sektor des Veranstaltungswesens“<br />
angestrebt werden. Größere <strong>Schausteller</strong>betriebe sollten<br />
eine staatliche Beteiligung aufnehmen, wobei <strong>der</strong><br />
Volkseigene Betrieb (VEB) Zentralzirkus die Funktion<br />
des Kommandisten übernehmen sollte. Mit kleineren<br />
Betrieben sollten Kommissionsverträge mit dem Zirkus<br />
abgeschlossen werden, wodurch die <strong>Schausteller</strong><br />
praktisch zu dessen Angestellten geworden wären. Da<br />
sich <strong>der</strong> Zirkus auf keinen Fall mit den überwiegend<br />
vor dem Krieg gebauten <strong>und</strong> reparaturanfälligen Geschäften<br />
herumplagen wollte, landete dieser Plan<br />
dann ebenfalls im Papierkorb.<br />
Nach all den Irrungen <strong>und</strong> Wirrungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Einsicht,<br />
dass die <strong>Schausteller</strong>betriebe unter den gegebenen<br />
Vorausetzungen nicht verstaatlicht werden konnten,<br />
wurden dann in den sechziger Jahren schrittweise die<br />
Gr<strong>und</strong>lagen für ein normales Verhältnis zwischen den<br />
Behörden <strong>und</strong> den <strong>Schausteller</strong>betrieben geschaffen.<br />
Die erste zentrale <strong>Schausteller</strong>konferenz<br />
Mit <strong>der</strong> Anweisung Nr. 5 des Ministeriums für Kultur<br />
vom 20. Januar 1964 wurde das <strong>Schausteller</strong>gewerbe<br />
dem Ministerium für Kultur in Berlin unterstellt. Kurz<br />
darauf folgte in Leipzig die erste zentrale <strong>Schausteller</strong>konferenz,<br />
auf <strong>der</strong> die Weichen für die Zukunft des<br />
privaten <strong>Schausteller</strong>gewerbes gestellt wurden. Wichtigstes<br />
Ergebnis dieser <strong>Schausteller</strong>konferenz war <strong>der</strong><br />
Beschluss zur Bildung eines Zentralen Arbeitskreises<br />
(ZAK) <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> beim Ministerium für Kultur <strong>und</strong><br />
von Bezirksarbeitskreisen (BAK) bei den Räten <strong>der</strong><br />
Bezirke. Mit <strong>der</strong> Bildung dieser Arbeitskreise <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Überarbeitung <strong>der</strong> „Anweisung über das <strong>Schausteller</strong>wesen“<br />
wurden die Gr<strong>und</strong>lagen für eine zukunftsorientierte<br />
Entwicklung des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
<strong>und</strong> ein entspanntes Verhältnis zwischen den <strong>Schausteller</strong>n<br />
<strong>und</strong> den staatlichen Organen geschaffen. Entgegen<br />
<strong>der</strong> Volksweisheit: „Wenn man nicht mehr weiter<br />
weiß, bildet man einen Arbeitskreis“, war die Gründung<br />
dieser Gremien einer <strong>der</strong> wichtigsten Meilensteine<br />
in <strong>der</strong> Geschichte des <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong>gewerbes.<br />
Der Zentrale Arbeitskreis beim Ministerium für<br />
Kultur hatte die Aufgabe, das Ministerium<br />
bei <strong>der</strong> Lösung von Gr<strong>und</strong>satzfragen des<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbes zu beraten. Die<br />
Mitglie<strong>der</strong> dieses Arbeitskreises wurden<br />
vom Leiter des Sektors Veranstaltungswesen<br />
beim Ministerium für Kultur berufen.<br />
Die Bezirksarbeitskreise wurden<br />
durch die Stellvertreter <strong>der</strong> Vorsitzenden<br />
<strong>der</strong> Räte <strong>der</strong> Bezirke, Abteilung Kultur, gebildet.<br />
In <strong>der</strong> Regel gehörten ihnen ein<br />
Vertreter des Rates des Bezirkes, Abteilung<br />
Kultur (als Vorsitzen<strong>der</strong>), ein Vertreter<br />
<strong>der</strong> Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer des<br />
Bezirkes (als Stellvertreter des Vorsitzenden)<br />
<strong>und</strong> drei <strong>Schausteller</strong> an, die von <strong>der</strong><br />
Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes<br />
berufen wurden.<br />
Funktion <strong>der</strong> Arbeitskreise<br />
Die Arbeitskreise waren „politisch-fachliche<br />
Beratungsgremien“. Sie hatten hauptsächlich die<br />
Aufgabe, die kulturelle Wirksamkeit des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
spürbar zu erhöhen <strong>und</strong> verstärkt in das kulturelle<br />
Leben <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> zu integrieren. Die Beschlüsse<br />
<strong>der</strong> Arbeitskreise trugen empfehlenden Charakter <strong>und</strong><br />
mussten durch die zuständigen Organe bestätigt werden.<br />
Sie arbeiteten nach Arbeitsplänen, die ebenfalls<br />
Das Riesenrad<br />
von Schubert<br />
23
<strong>DDR</strong> / 60er-JAHRE<br />
Überschlagschaukeln<br />
waren in den sechziger<br />
Jahren noch spektakulär<br />
FOTOS<br />
Archiv Eckermann,<br />
Rolf Orschel<br />
„abgesegnet“ werden mussten. Zur Lösung spezieller<br />
Aufgaben konnten zu den Arbeitskreisen Fachberater<br />
wie <strong>Schausteller</strong>, <strong>Schausteller</strong>gehilfen, Marktmeister<br />
o<strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern<br />
hinzugezogen werden. Der Zentrale Arbeitskreis wurde<br />
in die Arbeitsgruppen <strong>Volksfeste</strong>, Betriebswirtschaft,<br />
technisch-organisatorische Gr<strong>und</strong>satzfragen,<br />
Fahrgeschäfte, Spielwesen <strong>und</strong> Versorgung unterglie<strong>der</strong>t.<br />
Je<strong>der</strong> Arbeitsgruppe konnten sechs Fachberater,<br />
die durch den Arbeitskreis vorgeschlagen wurden,<br />
durch den Leiter des Sektors Veranstaltungswesen<br />
des Ministeriums für Kultur zugeordnet werden.<br />
Nach diesen Gr<strong>und</strong>sätzen war auch die Tätigkeit <strong>der</strong><br />
Bezirksarbeitskreise geregelt. Durch die schöpferische<br />
<strong>und</strong> zielstrebige Arbeit <strong>der</strong> Arbeitskreise, in denen<br />
sehr kompetente <strong>Schausteller</strong> aktiv waren, konnte<br />
sich das <strong>Schausteller</strong>gewerbe <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> in den sechziger<br />
Jahren kontinuierlich entwickeln. Nach <strong>der</strong> Gründung<br />
des Bezirksarbeitskreises Karl-Marx-Stadt (heute<br />
wie<strong>der</strong> Chemnitz) wurde auf Anregung <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong><br />
ein Arbeitsplan erarbeitet, <strong>der</strong> Termine für die<br />
Durchführung einer Bezirkskonferenz, <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
<strong>und</strong> Durchführung von <strong>Schausteller</strong>lehrgängen,<br />
dem Erfahrungsaustausch mit Veranstaltern <strong>und</strong><br />
Marktmeistern, Begutachtungen von <strong>Volksfeste</strong>n <strong>und</strong><br />
Beratungen mit <strong>der</strong> Abteilung Handel <strong>und</strong> Versorgung<br />
festlegte. Durch die Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer<br />
des Bezirkes Karl-Marx-Stadt wurde durch diesen Arbeitsplan<br />
1964 <strong>der</strong> erste Internatslehrgang für <strong>Schausteller</strong><br />
durchgeführt, dessen inhaltliche Schwerpunkte<br />
vom Bezirksarbeitskreis erarbeitet wurden. Als Anerkennung<br />
<strong>der</strong> beispielhaften <strong>und</strong> uneigennützigen Arbeit<br />
des Bezirksarbeitskreises Karl-Marx-Stadt fand im<br />
Februar 1966 im Auftrag des Ministeriums für Kultur<br />
die zweite zentrale <strong>Schausteller</strong>konferenz im „Kulturpalast<br />
<strong>der</strong> Werktätigen“ in Karl-Marx-Stadt statt. Im<br />
Verlauf dieser <strong>Schausteller</strong>konferenz wurden mehrere<br />
Arbeitsgruppen gebildet, um die anstehenden Probleme<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> zielstrebig <strong>und</strong> unbürokratisch<br />
lösen zu können. Durch die entschlossene Arbeit <strong>der</strong><br />
Zielstrebige Arbeit <strong>der</strong> Arbeitskreise<br />
Die Turmrutschbahn<br />
von Edgar Schrö<strong>der</strong> auf<br />
<strong>der</strong> Messe in Magdeburg<br />
24
<strong>DDR</strong> / 60er-JAHRE<br />
QUELLE<br />
Handbuch des <strong>Schausteller</strong>s<br />
– Taschenbuch des<br />
<strong>Schausteller</strong>wesens <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>, Das Volk, Ausgabe<br />
Erfurt, 17.05.61<br />
Münchs Bodenkarussell<br />
war in den Sechzigern<br />
bereits über 70 Jahre alt<br />
gebildeten Arbeitsgruppen, in denen ebenfalls sehr<br />
aktive <strong>Schausteller</strong> tätig waren, konnte bereits 1966<br />
<strong>der</strong> Tarifvertrag für das <strong>Schausteller</strong>gewerbe, ein Meilenstein<br />
für die weitere Entwicklung des Gewerbes, in<br />
Kraft treten. Außerdem wurde die Gültigkeit <strong>der</strong> Gewerbescheine<br />
auf fünf Jahre verlängert <strong>und</strong> beschlossen,<br />
regelmäßig Internatslehrgänge <strong>der</strong> Industrie- <strong>und</strong><br />
Handelskammer für die <strong>Schausteller</strong>, ihre Angehörigen<br />
<strong>und</strong> Mitarbeiter durchzuführen. Das Ministerium<br />
für Kultur organisierte Lehrgänge für die Mitglie<strong>der</strong> des<br />
Zentralen Arbeitskreises, die Vorsitzenden <strong>der</strong> Bezirksarbeitskreise,<br />
<strong>der</strong>en Sekretäre <strong>und</strong> für die Fachberater.<br />
Eine Arbeitsgruppe des Bezirksarbeitskreises<br />
Karl-Marx-Stadt übergab 1968 eine überarbeitete<br />
Preisliste an das Ministerium für Kultur, die die Gr<strong>und</strong>lage<br />
für Verhandlungen mit dem Amt für Preise bildete.<br />
Nach <strong>der</strong> staatlichen Gängelei <strong>und</strong> Bevorm<strong>und</strong>ung<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> nach <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> herrschte<br />
seit Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre eine vielversprechende<br />
<strong>und</strong> fruchtende Zusammenarbeit mit den<br />
staatlichen Organen.<br />
Neue Töne in <strong>der</strong> Presse<br />
Mit einer bis dahin nicht für möglich gehaltenen Berichterstattung<br />
reagierte die Presse schnell auf die<br />
neue Zusammenarbeit <strong>der</strong> staatlichen Organe mit den<br />
<strong>Schausteller</strong>n. In den nun erschienenen Berichten<br />
wurden die <strong>Schausteller</strong> als „wichtige, aktive Mitgestalter<br />
<strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong> in Stadt <strong>und</strong> Land“ vorgestellt.<br />
Außerdem konnte man jetzt lesen, dass die <strong>Schausteller</strong><br />
ein Recht auf volle Anerkennung <strong>und</strong> die Unterstützung<br />
ihrer Anliegen durch die Behörden haben<br />
<strong>und</strong> dass sie als Teil des Mittelstandes einen sehr<br />
wichtigen Beitrag bei <strong>der</strong> sozialistischen Bewusstseinsbildung<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung leisten. Die kritische Berichterstattung<br />
in <strong>der</strong> Tagespresse befasste sich nun<br />
erstmals mit <strong>der</strong> teilweise noch recht stiefmütterlichen<br />
Behandlung <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> durch einige Behörden,<br />
den vielerorts unmöglichen <strong>und</strong> zum Teil unzumutbaren<br />
Platzverhältnissen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Unfähigkeit von einigen<br />
zuständigen Mitarbeitern<br />
<strong>der</strong> Räte <strong>der</strong> Städte <strong>und</strong><br />
Gemeinden. Des Weiteren<br />
wurden Versorgungsengpässe<br />
<strong>und</strong> die zu beobachtende<br />
Geschäftemacherei<br />
einiger ortsansässiger<br />
Händler auf den <strong>Volksfeste</strong>n<br />
unverblümt angeprangert.<br />
Völlig neu waren<br />
auch Berichte über das<br />
Alltagsleben <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>.<br />
Unter dem Motto<br />
„Was dem Laien verborgen<br />
bleibt“ wurde in regelmäßigen<br />
Abständen über<br />
die gehobenen Ausstattungen<br />
<strong>der</strong> Wohnwagen,<br />
den personalintensiven<br />
Auf- o<strong>der</strong> Abbau <strong>der</strong> Geschäfte, die Traditionen <strong>der</strong><br />
<strong>Schausteller</strong>betriebe <strong>und</strong> über die Reparaturen <strong>und</strong><br />
Überarbeitungen <strong>der</strong> Geschäfte im Winter berichtet.<br />
Durch diese Berichte erhielt die Bevölkerung informative<br />
Einblicke vom unromantischen Leben <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>.<br />
■<br />
FOTOS<br />
Archiv Münch,<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Berliner Ring von<br />
Egon <strong>und</strong> Hans Heimann<br />
25
<strong>DDR</strong> / 70er-JAHRE<br />
DIE SIEBZIGER JAHRE<br />
Kleines Volksfest<br />
in den 1970er-Jahren<br />
FOTOS<br />
Archiv Eckstein,<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Erfurter Sommerfest<br />
zu Beginn <strong>der</strong> 1970er-Jahre<br />
Obwohl die <strong>Schausteller</strong> nach den <strong>Schausteller</strong>konferenzen<br />
in den Jahren 1964 <strong>und</strong> 1966 gesellschaftsfähig<br />
wurden <strong>und</strong> danach eine vielversprechende<br />
Zusammenarbeit zwischen ihnen <strong>und</strong><br />
den Behörden begann, trat ab 1971 eine nicht erklärbare<br />
Stagnation ein. Sämtliche anstehenden Fragen –<br />
unter an<strong>der</strong>em zur quantitativen<br />
<strong>und</strong> qualitativen Absicherung <strong>der</strong><br />
<strong>Volksfeste</strong> – wurden „von oben“<br />
we<strong>der</strong> beantwortet noch geklärt,<br />
son<strong>der</strong>n einfach ignoriert. Es kamen<br />
keine neuen Impulse vom Ministerium<br />
für Kultur, wodurch die<br />
Bezirksarbeitskreise auf <strong>der</strong> Stelle<br />
traten. Auf den Festplätzen <strong>und</strong> in<br />
den Aussprachen auf den <strong>Schausteller</strong>-Lehrgängen<br />
wurde zwar<br />
ohne Schönfärberei über die anstehenden<br />
Probleme diskutiert,<br />
aber von den zuständigen Behörden<br />
<strong>und</strong> vom Ministerium kamen<br />
keine Antworten.<br />
<strong>Volksfeste</strong> vor, das im stillen Kämmerlein <strong>und</strong> ohne die<br />
Mitarbeit von <strong>Schausteller</strong>n erstellt wurde. Deshalb<br />
w<strong>und</strong>erte sich niemand, dass dieser Organisationsplan<br />
mit den anstehenden Problemen des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
nicht das Geringste zu tun hatte. Erst<br />
nach <strong>der</strong> Gründung des Beirates zur Entwicklung des<br />
Das Ministerium schwieg<br />
Pfingstfest in Weimar<br />
Obwohl mit ihren Problemen allein<br />
gelassen, arbeiteten die Bezirksarbeitskreise<br />
während dieses Stillstands<br />
konsequent weiter. Nach einem<br />
Vorstoß des Bezirksarbeitskreises<br />
Karl-Marx-Stadt beim Ministerium<br />
für Kultur besuchte ein Mitarbeiter<br />
des Ministeriums den Bezirksarbeitskreis<br />
<strong>und</strong> stellte lediglich<br />
ein unakzeptables Konzept<br />
für die weitere Entwicklung des<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbes <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
26
<strong>Schausteller</strong>wesens beim Ministerium für Kultur, am<br />
21. März 1979, endete das eiserne Schweigen, eine<br />
regere Zusammenarbeit ließ aber weiter auf sich warten.<br />
Da sich neben den angehäuften Problemen <strong>der</strong><br />
<strong>Schausteller</strong> die zu diesem Zeitpunkt herrschende<br />
weltweite wirtschaftliche Rezession <strong>und</strong> Ölkrise – die<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> eine bis dahin unvorstellbare Preisexplosion<br />
auslösten – mussten sämtliche Ministerien unverzüglich<br />
reagieren <strong>und</strong> entsprechende Rahmenbedingungen<br />
schaffen.<br />
Neues Selbstbewusstsein<br />
In den siebziger Jahren verän<strong>der</strong>te sich schrittweise<br />
das Selbstbewusstsein <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Bürger. Die ständig<br />
gepriesenen Vorzüge <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> die tägliche Realität klafften immer weiter auseinan<strong>der</strong>.<br />
Doch so gleichgeschaltet, wie sie heute oft <strong>und</strong><br />
gern dargestellt wird, war die <strong>DDR</strong>-Gesellschaft nicht.<br />
Trotz ihres teilweise eintönigen Alltags konnten die<br />
Bürger selbstbewusst leben <strong>und</strong> lieben, richteten sich<br />
in <strong>der</strong> Gesellschaft ein <strong>und</strong><br />
fanden Nischen, in denen sie<br />
<strong>der</strong> staatlich verordneten sozialistischen<br />
Moral <strong>und</strong> Lebensweise<br />
entfliehen konnten.<br />
Zu diesen Nischen gehörten<br />
auch die <strong>Volksfeste</strong>, die in den<br />
siebziger Jahren wie Pilze aus<br />
dem Boden zu schießen begannen<br />
<strong>und</strong> zur beliebtesten<br />
Form <strong>der</strong> Freizeitgestaltung<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Bürger wurden. Eine<br />
<strong>der</strong> Hauptursachen für den<br />
Volksfest-Boom war zu diesem<br />
Zeitpunkt die gefestigte neue<br />
Denkweise <strong>der</strong> Staatsmacht über den gesellschaftlichen<br />
Stellenwert <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>.<br />
Durch ihre ungebrochene Beliebtheit wurden die<br />
Volks- <strong>und</strong> Heimatfeste zu Beginn <strong>der</strong> siebziger Jahre<br />
zum Objekt des staatlich verordneten Frohsinns <strong>und</strong><br />
durch die Kulturpolitik <strong>der</strong> Sozialistischen Einheitspartei<br />
(SED) großzügig geför<strong>der</strong>t. Da die Staatsmacht<br />
vom bis dahin vorherrschenden Kunstzentrismus abrückte,<br />
gewann das so genannte volkskulturelle Erbe<br />
immer größere Bedeutung, wurde wie<strong>der</strong> gepflegt <strong>und</strong><br />
verbreitet. Durch diese neue Situation erlangte <strong>der</strong><br />
Umgang mit <strong>der</strong> traditionellen Volkskultur eine neue,<br />
große kulturpolitische Bedeutung.<br />
Lawinenartige Zunahme <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong><br />
Die gestiegene Bedeutung regional geb<strong>und</strong>ener Folklore<br />
verursachte eine lawinenartige Zunahme <strong>der</strong><br />
Volks- <strong>und</strong> Heimatfeste, die von <strong>der</strong> Bevölkerung in<br />
allen Bezirken <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> regelrecht gestürmt wurden.<br />
Bald darauf zählte man jährlich mehr als 3.500 Veran-<br />
<strong>DDR</strong> / 70er-JAHRE<br />
Auf den großen Plätzen<br />
herrschte stets reger Betrieb<br />
FOTOS<br />
Archiv Rainer Jacobi,<br />
Archiv Hölzel<br />
Wollmarkt auf <strong>der</strong><br />
Hammerwiese in Arnstadt<br />
27
<strong>DDR</strong> / 70er-JAHRE<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Rummel auf<br />
dem Domplatz in Erfurt<br />
Die Festzelte waren<br />
zu <strong>DDR</strong>-Zeiten stets prall gefüllt<br />
staltungen, die von mehr als 60 Millionen Menschen<br />
besucht wurden <strong>und</strong> nur zu einem Bruchteil von den<br />
<strong>Schausteller</strong>n beschickt werden konnten. Im seit den<br />
fünfziger Jahren von <strong>der</strong> IHK <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> herausgegebenen<br />
<strong>und</strong> jährlich erscheinendem „Verzeichnis <strong>der</strong><br />
Märkte <strong>und</strong> <strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“ tauchten nun auch<br />
vermehrt Anzeigen von Städten <strong>und</strong> Gemeinden auf,<br />
die für ihre Veranstaltungen hän<strong>der</strong>ingend <strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
suchten. „Wir erwarten Ihre Platzanfragen<br />
für unser Volksfest vom... bis..., Fahrgeschäfte bevorzugt.<br />
Ihre Anfragen richten Sie bitte an…“.<br />
Auswirkungen des Volksfest-Booms<br />
Diese o<strong>der</strong> ähnlich formulierte Annoncen deuteten auf<br />
den sich anbahnenden Mangel an Fahrgeschäften<br />
<strong>und</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Schausteller</strong>einrichtungen hin. In <strong>der</strong><br />
zweiten Hälfte <strong>der</strong> siebziger Jahre entwickelte sich<br />
eine breit gefächerte Palette von <strong>Volksfeste</strong>n, die von<br />
politisch orientierten Veranstaltungen wie dem 1. Mai,<br />
dem Tag <strong>der</strong> Republik bis zu den sehr beliebten Pressefesten<br />
– die in den Sommermonaten in sämtlichen<br />
Bezirksstädten <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> stattfanden <strong>und</strong> zu denen<br />
„von oben“ finanzierte zentrale Festprogramme quer<br />
durch die gesamte Republik geschickt <strong>und</strong> aufgeblähte<br />
Kommissionen mit <strong>der</strong> regional angepassten<br />
Ausgestaltung <strong>der</strong> Pressefeste in den jeweiligen Bezirksstädten<br />
beauftragt wurden – über Heimatfeste bis<br />
zu den <strong>Volksfeste</strong>n, die sich aus alten Traditionen entwickelten,<br />
reichte. Es entwickelten sich aber auch völlig<br />
neuartige <strong>Volksfeste</strong> wie Gemeindeverbands-, Kooperations-<br />
<strong>und</strong> Wohngebietsfeste, mit denen die Heimatverb<strong>und</strong>enheit<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung <strong>und</strong> die fortgeschrittene<br />
gesellschaftliche Entwicklung zum Ausdruck<br />
gebracht werden sollten. Mit <strong>der</strong> explosionsartigen<br />
Zunahme <strong>der</strong> Volks- <strong>und</strong> Heimatfeste waren die<br />
28
<strong>DDR</strong> / 70er-JAHRE<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Geisterbahn <strong>und</strong><br />
Spinne in Weimar, um 1973<br />
<strong>Schausteller</strong> hoffnungslos überfor<strong>der</strong>t. Die größten<br />
Probleme bereiteten ihnen die immer älter werdenden<br />
Fahr- <strong>und</strong> Belustigungsgeschäfte <strong>und</strong> die tägliche<br />
Mühe, die dringend benötigten tausend kleinen Dinge,<br />
die für die Ausübung des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
Gr<strong>und</strong>voraussetzung waren, irgendwie <strong>und</strong> irgendwoher<br />
aufzutreiben. Durch die herrschende Planwirtschaft<br />
wurde es nämlich immer schwieriger, Glas-,<br />
Porzellan- <strong>und</strong> Plüschware o<strong>der</strong> einfache Papierlose<br />
für die Warenausspielungen, dringend benötigte Ersatzteile<br />
für die Zugmaschinen <strong>und</strong> Geschäfte o<strong>der</strong> so<br />
banale Dinge wie Serienlampen, Magazine <strong>und</strong> Munition<br />
für die Luftgewehre, Abschießröhrchen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>es<br />
Zubehör offiziell zu beschaffen.<br />
Statistische Angaben<br />
In <strong>der</strong> wöchentlich erschienenen Wochenpost wurden<br />
1978 zum ersten Mal aktuelle Zahlen zum Thema<br />
„Jahrmärkte <strong>und</strong> <strong>Schausteller</strong>“ veröffentlicht. Aus diesen<br />
Angaben geht hervor, dass<br />
gegen Ende <strong>der</strong> siebziger Jahre in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> 643 <strong>Schausteller</strong> registriert<br />
waren <strong>und</strong> dass damals in<br />
diesem Gewerbe insgesamt 1904<br />
Personen tätig waren. Es gab 466<br />
mitreisende Ehepartner, 246 im Arbeitsverhältnis<br />
stehende Familienangehörige<br />
sowie 548 festangestellte<br />
Arbeitskräfte. Die <strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
reisten mit 1.540<br />
Geschäften, die sich im Privatbesitz<br />
befanden. Es existierten damals<br />
noch 557 Fahrgeschäfte <strong>und</strong><br />
298 Kin<strong>der</strong>karussells. Außerdem<br />
betrieben die <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong><br />
310 Schießhallen, 530 Spielgeschäfte aller Art <strong>und</strong> 143<br />
Belustigungsgeschäfte. Interessant waren auch die<br />
Angaben über den Jahresbedarf <strong>der</strong> Los- <strong>und</strong> Schießbuden.<br />
Pro Saison benötigten diese <strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
circa 75 Millionen Lose, 35 Millionen Tonröhrchen,<br />
100 Millionen Luftgewehrkugeln <strong>und</strong> Diabolos<br />
sowie 1.000 neue Gewehre. Einschließlich <strong>der</strong> Presse-,<br />
Heimat- <strong>und</strong> Kulturparkbesucher wurden 1977 circa<br />
50 Millionen Besucher gezählt, die sich 1977 auf<br />
3.000 <strong>Volksfeste</strong>n nach Herzenslust vergnügt hatten.<br />
Zu den am meisten besuchten <strong>Volksfeste</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
zählten in den siebziger Jahren unter an<strong>der</strong>em die<br />
Leipziger Kleinmessen, die Dresdner Vogelwiese, die<br />
Annaberger Kät, <strong>der</strong> Eisleber Wiesenmarkt, das<br />
Girschdurfer Schiss’n in Neugersdorf <strong>und</strong> das Rudolstädter<br />
Vogelschießen. Des Weiteren strömten die Besucher<br />
in Massen auf den Zwiebelmarkt in Weimar,<br />
den Dresdner Striezelmarkt <strong>und</strong> zum krönenden<br />
Abschluss des Jahres auf den Weihnachtsmarkt in<br />
Berlin.<br />
■<br />
QUELLE<br />
Marina Moritz <strong>und</strong> Dieter<br />
Demme: Der „verordnete“<br />
Frohsinn. <strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>, Seiten 4-7, Handbuch<br />
des <strong>Schausteller</strong>s –<br />
Taschenbuch des <strong>Schausteller</strong>wesens<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Wartungsarbeiten an<br />
den Fahrzeugen von<br />
Malfertheiners Berliner Ring<br />
29
<strong>DDR</strong> / 80er-JAHRE<br />
DIE ACHTZIGER JAHRE<br />
Blick auf den<br />
Wollmarkt in Arnstadt<br />
in den achtziger Jahren<br />
Kleine Dorfkirmes<br />
in Thüringen, um 1985<br />
Die achtziger Jahre wurden<br />
für die <strong>Schausteller</strong> in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> von enormen Ersatzteilproblemen,<br />
Stillegungen von<br />
Fahrgeschäften, einem spürbaren<br />
Aufbruch in eine neue<br />
Epoche mit exotischen Eigenbauten,<br />
mo<strong>der</strong>nen Pack- <strong>und</strong><br />
Wohnwagen, dem Zeitgeist<br />
angepassten Karussells <strong>und</strong><br />
Reihengeschäften <strong>und</strong> dem<br />
sich allmählich anbahnenden<br />
Untergang <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> geprägt.<br />
Da Ersatzteile für die teilweise über 50 Jahre alten<br />
Fahrgeschäfte nicht im Handel erhältlich waren <strong>und</strong><br />
immer öfter mit riesigem finanziellen <strong>und</strong> personellen<br />
Aufwand in Einzelteilfertigung hergestellt werden mussten<br />
o<strong>der</strong> die Sicherheit <strong>der</strong> Fahrgäste nicht mehr gewährleistet<br />
war, mussten immer öfter Fahrgeschäfte<br />
stillgelegt werden. Sie konnten dann aber nur durch<br />
Reihengeschäfte ersetzt werden. Durch den daraus<br />
resultierenden Fahrgeschäftsmangel gelang es Veranstaltern<br />
von kleineren <strong>Volksfeste</strong>n immer seltener,<br />
große Karussells für ihre Veranstaltungen vertraglich<br />
binden zu können. Diese für die Veranstalter prekäre<br />
Situation hatte allerdings für die <strong>Schausteller</strong>, die mit<br />
beliebten Fahrgeschäften reisten, einen angenehmen<br />
FOTOS<br />
Archiv Rolf Schmidt,<br />
Rolf Orschel<br />
Auto-Corso von<br />
Schard auf dem Wollmarkt<br />
in Arnstadt, achtziger Jahre<br />
30
<strong>DDR</strong> / 80er-JAHRE<br />
Herrmanns Riesenrad<br />
im vorgebauten Zustand, 1986<br />
FOTOS<br />
Archiv Rolf Schmidt,<br />
Rolf Orschel<br />
Oft wurden<br />
Geschäfte vorgebaut<br />
Nebeneffekt: Durch die sinkende Anzahl <strong>der</strong> Karussells<br />
konnten sie sich zunehmend Reiserouten nach<br />
Wunsch zusammenstellen. Ein schriftlicher Hinweis an<br />
die Abteilung Kultur <strong>der</strong> örtlichen Räte, „dass man im<br />
nächsten Jahr mit seinem Fahrgeschäft an <strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Veranstaltung teilnehmen werde“, genügte, um<br />
rasch einen Vertrag zu bekommen. Durch den Fahrgeschäftsmangel<br />
konnten sich die <strong>Schausteller</strong>, die<br />
ihre Karussells mo<strong>der</strong>nisiert hatten, in den achtziger<br />
Jahren die lukrativsten Veranstaltungen <strong>und</strong> <strong>DDR</strong>-<br />
Grandplätze aussuchen o<strong>der</strong> durch die landschaftlich<br />
reizvollsten Regionen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisen. Dort wurden sie<br />
stets mit offenen Armen von den Stadt- o<strong>der</strong> Gemein<strong>der</strong>äten<br />
empfangen.<br />
Umfangreiche Mo<strong>der</strong>nisierungen<br />
Einige <strong>Schausteller</strong> investierten in dieser Zeit für <strong>DDR</strong>-<br />
Verhältnisse ungewöhnlich hohe Summen <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nisierten<br />
ihre betagten, aber bestens gepflegten Karussells<br />
<strong>und</strong> Reihengeschäfte. Dabei wurden<br />
für einige Fahrgeschäfte mo<strong>der</strong>ne Mittelbauwagen<br />
angefertigt, die den Auf- <strong>und</strong> Abbau<br />
wesentlich erleichterten. Die Lichtanlagen<br />
wurden auf Lauf- <strong>und</strong> Wechsellicht umgerüstet<br />
<strong>und</strong> mit leistungsstarken Scheinwerfern<br />
<strong>und</strong> Disco-Lichteffekten ausgerüstet. Teilweise<br />
wurden neue Gondeln aus Gießharz angefertigt<br />
<strong>und</strong> die alten Holzsohlen <strong>und</strong> -böcke<br />
wurden durch Stahlkonstruktionen ersetzt.<br />
Nach Abschluss <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungen <strong>und</strong><br />
Umbauten, bei denen einigen innovativen<br />
<strong>Schausteller</strong>n das in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> technisch <strong>und</strong><br />
optisch Machbare gelang, hinterließen einige<br />
Geschäfte wie<strong>der</strong> einen fast fabrikneuen Eindruck.<br />
Trotz dieser beachtlichen Erfolge gab<br />
es in den achtziger Jahren verschiedene Ungereimtheiten,<br />
die das <strong>Schausteller</strong>gewerbe in seiner weiteren<br />
Entwicklung hemmte. Aus diesem Gr<strong>und</strong> wurde<br />
Anfang Februar 1985 eine Arbeitstagung <strong>der</strong> Schau-<br />
Verlosung Christiansen,<br />
Fahrt ins Blaue Kuntz, 1984<br />
31
<strong>DDR</strong> / 80er-JAHRE<br />
Weltes Walzerfahrt, 1987<br />
FOTOS<br />
Archiv Moschkau,<br />
Rolf Orschel<br />
Thiemes Walzerfahrt<br />
steller im Bezirk Karl-Marx-Stadt durchgeführt. Sie bot<br />
nach zwölfjähriger Pause endlich die Möglichkeit, verantwortlichen<br />
Personen von staatlichen Institutionen<br />
die Probleme <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> vorzutragen.<br />
Auslöser <strong>der</strong> 3. <strong>Schausteller</strong>konferenz<br />
Diese Arbeitstagung wurde zum Auslöser <strong>der</strong> 3.<br />
<strong>Schausteller</strong>konferenz des Ministeriums für Kultur, die<br />
zwei Jahre später, im Februar 1987, in <strong>der</strong> Stadthalle<br />
von Karl-Marx-Stadt stattfand. Auf dieser Konferenz<br />
wurden in einer erstaunlich offenen <strong>und</strong> ehrlichen Diskussion,<br />
ohne sozialistische Phrasen <strong>und</strong> Lobeshymnen<br />
auf die Partei- <strong>und</strong> Staatsführung, über die anstehenden<br />
Probleme des <strong>Schausteller</strong>gewerbes von den<br />
delegierten <strong>Schausteller</strong>n <strong>und</strong> Bodo Zabel, dem Leiter<br />
<strong>der</strong> Abteilung Unterhaltungskunst <strong>und</strong> Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des Beirates für die Entwicklung des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
beim Ministerium für Kultur, diskutiert. Noch<br />
ungewöhnlicher war die Tatsache, dass anschließend<br />
die mitunter sehr kritischen Konferenzprotokolle unzensiert<br />
<strong>und</strong> in voller Länge in einer Broschüre für das<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbe veröffentlicht wurden. Durch die<br />
dritte <strong>Schausteller</strong>konferenz konnten die bestehenden<br />
Engpässe <strong>und</strong> Probleme natürlich nicht gelöst werden.<br />
Es kam für die <strong>Schausteller</strong> aber einem W<strong>und</strong>er<br />
gleich, dass zum ersten Mal so offen <strong>und</strong> ehrlich über<br />
ihre Sorgen gesprochen wurde.<br />
In seinem Referat analysierte Bodo Zabel das im privaten<br />
<strong>Schausteller</strong>sektor Erreichte <strong>und</strong> gab ausführliche,<br />
das Gewerbe betreffende statistische Angaben<br />
bekannt. Da seit Anfang <strong>der</strong> sechziger Jahre die<br />
<strong>Schausteller</strong>betriebe erfasst wurden, ermöglichte diese<br />
Statistik ein einigermaßen reelles Bild über das<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbe in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Bodo Zabel verwies<br />
in seinem Rechenschaftsbericht darauf, dass<br />
1986 in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> 5.200 <strong>Volksfeste</strong> stattfanden, die<br />
von über 80 Millionen Menschen besucht wurden.<br />
Detaillierte Angaben<br />
Dies bedeutete im Vergleich zu 1968 eine Steigerung<br />
auf das Viereinhalbfache. Ein absoluter Rekord<br />
– <strong>der</strong> deutlich machte, dass die <strong>Volksfeste</strong><br />
auch in den achtziger Jahren unangefochten die<br />
Nummer 1 <strong>der</strong> Freizeitgestaltung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Bevölkerung<br />
waren. An<strong>der</strong>e Kultur- <strong>und</strong> Sportveranstaltungen<br />
hätten von solch enormen Steigerungen<br />
<strong>der</strong> Besucherzahlen nicht einmal zu träumen gewagt.<br />
Er gab bekannt, dass dem volkseigenen<br />
Sektor des Staatszirkus mit 7 Fahrgeschäften im<br />
Reisebetrieb sowie den 11 betriebseigenen Karussells<br />
im Kulturpark Berlin 650 private Schau-<br />
32
Weitere Angaben bezogen sich auf das<br />
hohe Alter <strong>der</strong> Karussells. Zu diesem Thema<br />
sagte Bodo Zabel unter an<strong>der</strong>em:<br />
„Die in unserer Republik betriebenen<br />
Fahrgeschäfte sind sehr veraltet“.<br />
<strong>DDR</strong> / 80er-JAHRE<br />
stellerbetriebe gegenüberstanden. Sie reisten 1987<br />
mit 543 Fahrgeschäften, 97 Verkaufswagen <strong>und</strong> 898<br />
Spielgeschäften. Diese Zahlen belegten, dass 96,8<br />
Prozent <strong>der</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vorhandenen<br />
Fahrgeschäfte <strong>und</strong> 100 Prozent<br />
<strong>der</strong> Spielgeschäfte in den<br />
achziger Jahren von den privaten<br />
<strong>Schausteller</strong>n betrieben wurden<br />
<strong>und</strong> lediglich 3,2 Prozent <strong>der</strong> Fahrgeschäfte<br />
dem volkseigenen<br />
<strong>Schausteller</strong>sektor des Staatszirkus<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> <strong>und</strong> dem Kulturpark<br />
Berlin gehörten. Insgesamt befanden<br />
sich noch 101 R<strong>und</strong>fahrgeschäfte<br />
<strong>und</strong> Bodenkarussells, 77<br />
Kettenflieger, 24 Riesenrä<strong>der</strong>, 60<br />
Luftschaukeln, 19 Autoskooter,<br />
221 Kin<strong>der</strong>karussells, 27 Ponybahnen,<br />
6 Geisterbahnen <strong>und</strong> 8 Laufgeschäfte<br />
im betriebsfähigen Zustand.<br />
174 Verlosungen, 273<br />
Schießhallen o<strong>der</strong> -wagen, 48 Würfelspiele,<br />
34 Blinker, 88 Tisch- <strong>und</strong><br />
Drehrä<strong>der</strong>, 184 Wurfspiele, 47 diverse<br />
Spielgeschäfte <strong>und</strong> 49 Automatengeschäfte<br />
mit 1618 Spielautomaten<br />
machten das enorme<br />
Überangebot in dieser Sparte<br />
mehr als deutlich.<br />
Veraltete Karussells<br />
„154 Karussells, das sind fast 30 Prozent,<br />
sind bereits über 50 Jahre alt. Die Fahrgeschäfte<br />
entstanden in den Jahren 1930<br />
bis 1959. Dort sind knapp 60 Prozent zwischen<br />
25 <strong>und</strong> 30 Jahren im Einsatz. Nur<br />
jedes 10. heute im Bereich des privaten<br />
<strong>Schausteller</strong>wesens eingesetzte Fahrgeschäft<br />
ist unter 25 Jahre im Einsatz“. Zum<br />
Überhandnehmen <strong>der</strong> Spielgeschäfte<br />
führte er weiter aus: „Im Gegensatz zur<br />
wachsenden Qualität <strong>und</strong> Quantität <strong>der</strong><br />
<strong>Volksfeste</strong> vollzog sich im privaten<br />
<strong>Schausteller</strong>wesen eine Entwicklung, die<br />
den kulturpolitischen Erfor<strong>der</strong>nissen – die<br />
Attraktivität <strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong>, damit ihrem<br />
Erlebniswert <strong>und</strong> ihre Vielfalt für die Besucher<br />
nachhaltig zu erhöhen – zuwi<strong>der</strong>läuft.<br />
Sie findet ihren Ausdruck darin,<br />
dass seit Jahren die Tendenz einer rückläufigen<br />
Entwicklung im Fahrgeschäftsbereich – bei<br />
gleichzeitigem schnellen Anwachsen <strong>der</strong> Geschäftsanzahl<br />
im Bereich des Spielwesens zu verzeichnen<br />
FOTOS<br />
Archiv Moschkau,<br />
Rolf Orschel<br />
Die Großglocknerbahn<br />
von Stoll in voller Fahrt<br />
Disney-Jet von<br />
Bernd Schleinitz<br />
Auto-Skooter<br />
von Sachs<br />
33
<strong>DDR</strong> / 80er-JAHRE<br />
Der Eiswagen<br />
von Fugmann, 1987<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Impressionen vom Pfingstfest<br />
in Ohrdruf, 1985<br />
ist“. Zahlreiche Fahrgeschäftsarten, speziell solche,<br />
die dem Fahrgast Mut- o<strong>der</strong> Scheingefahreffekte vermitteln,<br />
wie die ehemalige Kosmosgondel, Ro<strong>und</strong> Up,<br />
Toboggan o<strong>der</strong> Achterbahn, sind im privaten <strong>Schausteller</strong>wesen<br />
nicht mehr existent. An<strong>der</strong>e Geschäfte,<br />
wie verschiedene Fahr- <strong>und</strong> Belustigungsgeschäfte,<br />
Schiffschaukel, Lustige Tonne <strong>und</strong> Lachkabinett werden<br />
kaum noch betrieben“.<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchliche Argumente<br />
Diese kritischen Worte von Bodo Zabel enthielten allerdings<br />
Wi<strong>der</strong>sprüche: Er bemängelte die größtenteils<br />
veralteten Fahrgeschäfte – wusste aber gleichzeitig,<br />
dass die Wirtschaftspolitik <strong>der</strong> SED die Herstellung<br />
von mo<strong>der</strong>nen <strong>und</strong> spektakulären Karussells<br />
nicht vorsah. Und zahlreiche Anträge <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>,<br />
gebrauchte Anlagen aus dem Westen käuflich zu<br />
erwerben, wurden stets abgelehnt, da man sich mit<br />
<strong>der</strong> Reaktivierung <strong>der</strong> stillgelegten Fahrgeschäfte die<br />
Lösung des Problems versprach. Dies hätte allerdings<br />
zur Folge gehabt, dass die Anzahl veralteter Geschäfte<br />
weiter zugenommen hätte. Außerdem gehörte<br />
<strong>der</strong> Saturnus „Kosmosgondel“ zum Inventar des Kulturparks<br />
Plänterwald, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ro<strong>und</strong> Up ähnliche<br />
„Kosmos-Rotator“ wurde für den VEB Staatszirkus von<br />
mehreren <strong>DDR</strong>-Betrieben gebaut. Obwohl sich viele<br />
<strong>Schausteller</strong> für diese Geschäfte interessierten, wurde<br />
die Kosmosgondel verschrottet <strong>und</strong> den „Kosmos-Rotator“<br />
verkaufte man 1968 an die Stadt Rostock. Die<br />
privaten <strong>Schausteller</strong> hatten keine Chance, diese<br />
„VEB-Geschäfte“ käuflich zu erwerben.<br />
In seinem Referat nannte Zabel allerdings auch einige<br />
Gründe, die zu <strong>der</strong> misslichen, materiell-technischen<br />
Situation führten. Wörtlich sagte er: „Ein Großteil <strong>der</strong><br />
heute noch tätigen <strong>Schausteller</strong> verzichtet aus betriebswirtschaftlichen<br />
Gründen auf den aufwandsintensiven<br />
Betrieb von Fahrgeschäften. Außerdem<br />
zeigt die Praxis, dass <strong>der</strong>zeit wenig Interese besteht,<br />
vorhandene restaurierungsfähige Fahrgeschäfte zu<br />
reaktivieren o<strong>der</strong> eine Gewerbegenehmigung für<br />
diesen Bereich des <strong>Schausteller</strong>wesens zu beantragen.<br />
Wir müssen deshalb sehr bald dafür sorgen, dass<br />
die Rahmenbedingungen für die Sicherung <strong>der</strong><br />
betriebswirtschaftlichen Rentabilität im Fahrgeschäftsbereich<br />
geän<strong>der</strong>t werden, um die <strong>Schausteller</strong><br />
in dieser Beziehung materiell zu interessieren. Neben<br />
dieser Aufgabe geht es vor allem um die Erhaltung<br />
des vorhandenen Bestandes an Fahrgeschäften im<br />
staatlichen <strong>und</strong> privaten Sektor des Volksfestwesens<br />
34
<strong>DDR</strong> / 80er-JAHRE<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Topfs Walzerfahrt auf<br />
dem Frühlingsfest in Suhl, 1986<br />
sowie maximal mögliche Reaktivierung von nicht in<br />
Betrieb befindlichen, stillgelegten <strong>und</strong> nicht zugelassenen<br />
Fahrgeschäften des privaten Sektors“.<br />
Mit diesen Worten stellte Bodo Zabel klar, dass an<br />
eine Wie<strong>der</strong>aufnahme <strong>der</strong> Produktion von neuen<br />
Fahrgeschäften vorläufig nicht zu denken war.<br />
Vielmehr stellte er fest: „Eine Untersuchung des<br />
Magistrats von Berlin im Jahre 1985 ergab, dass 24<br />
Fahrgeschäfte, darunter 12 Kin<strong>der</strong>fahrgeschäfte,<br />
stillgelegt sind. Und je<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> weiß, dass ein<br />
Fahrgeschäft, das stillgelegt ist, in seiner Substanz<br />
nicht besser wird. Die 24 Fahrgeschäfte in Berlin<br />
könnten mit einem Aufwand von 850.000 Mark reaktivierungsfähig<br />
werden. Nimmt man noch die in <strong>der</strong><br />
Republik stillgelegten Fahrgeschäfte hinzu, so müssen<br />
diese stillgelegten <strong>und</strong> nicht mehr zugelassenen<br />
Fahrgeschäfte als wesentliche Reserve angesehen<br />
werden.“<br />
Reaktivierung vor eigener Produktion<br />
„Die Aufgabe, sie im maximal möglichen Umfang zu<br />
reaktivieren, muss deshalb die erste Maßnahme vor<br />
<strong>der</strong> Aufnahme einer eingenen Produktion von Fahrgerschäften<br />
zur Erhöhung des Bestandes an <strong>Volksfeste</strong>inrichtungen<br />
sein. Zu einem späteren Zeitpunkt ist<br />
<strong>der</strong> Bedarf an Fahrgeschäften im staatlichen <strong>und</strong> privaten<br />
Sektor des Volksfestwesens für den perspektivischen<br />
Zeitraum zu ermitteln <strong>und</strong> damit die Voraussetzungen<br />
<strong>und</strong> den Beginn <strong>der</strong> Produktion von zunächst<br />
einfachen Fahrgeschäften zu schaffen“.In <strong>der</strong> anschließenden<br />
Debatte wurde von den Diskussions-<br />
QUELLE<br />
Konferenzprotokolle zur<br />
<strong>Schausteller</strong> - Konferenz<br />
des Ministeriums für Kultur<br />
am 2. Februar 1987 in Karl-<br />
Marx-Stadt, Seiten 10-20<br />
Gebrauchte elektronische<br />
Videospiele aus dem Westen<br />
waren auch auf dem Wollmarkt<br />
in Arnstadt ein Renner, 1988<br />
35
<strong>DDR</strong> / 80er-JAHRE<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Marionetten-Variete<br />
von Sterl auf dem Brunnenfest<br />
in Bad Langensalza, 1988<br />
Belustigungsgeschäft<br />
von Gustav Meyer in<br />
Bad Langensalza, 1989<br />
rednern schonungslos<br />
<strong>der</strong><br />
Katalog ungelöster<br />
Probleme,<br />
die bereits<br />
lange – um<br />
nicht zu sagen:<br />
viel zu lange –<br />
ihrer Lösung<br />
harrten, angesprochen.<br />
Das<br />
Hinauszögern<br />
<strong>der</strong> Problematik<br />
belastete wesentlich das Vertrauensverhältnis zwischen<br />
den Staatsorganen <strong>und</strong> den <strong>Schausteller</strong>n. Sie<br />
drängten vor allem auf die Klärung <strong>der</strong> preis- <strong>und</strong> steuerrechtlichen<br />
Fragen, <strong>der</strong>en Lösung einen jahrzehntelangen<br />
Klärungsprozess ohne Ergebnisse auslöste.<br />
Trotz aller Probleme gelang es den <strong>Schausteller</strong>n<br />
während des Bestehens <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, sich erfolgreich als<br />
Domäne <strong>der</strong> privaten Unternehmen zu behaupten. Im<br />
Vergleich zu ihren Berufskollegen in Westdeutschland<br />
konnten sie sich einen bescheidenen, für <strong>DDR</strong>-Verhältnisse<br />
aber überdurchschnittlichen Wohlstand erarbeiten.<br />
Obwohl die von ihnen betriebenen Geschäfte<br />
größtenteils nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen,<br />
konnten die meisten <strong>der</strong> betagten <strong>DDR</strong>-Fahrgeschäfte<br />
aufgr<strong>und</strong> ihres makellosen Pflegezustandes, ihrer<br />
Aufmachung <strong>und</strong> Gestaltung mit durchschnittlichen<br />
West-Geschäften allemal mithalten. Nachdem sich die<br />
Situation des <strong>Schausteller</strong>gewerbes nach <strong>der</strong> ersten<br />
<strong>Schausteller</strong>konferenz <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Arbeitskreise<br />
in kleinen Schritten verbesserte, verließen<br />
nicht wenige <strong>Schausteller</strong> den SED-Staat <strong>und</strong><br />
bauten sich in Westdeutschland – mehr o<strong>der</strong><br />
weniger – erfolgreich eine neue Existenz auf. Sie<br />
mussten nach ihrer Übersiedlung noch einmal<br />
ganz von vorn anfangen, da sie entwe<strong>der</strong> ohne<br />
Hab <strong>und</strong> Gut aus <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> flüchteten o<strong>der</strong> nach<br />
<strong>der</strong> genehmigten Ausreise nur wenige persönliche<br />
Sachen mitnehmen durften. Ihre Geschäfte<br />
<strong>und</strong> den kompletten Fuhrpark mussten sie vorher<br />
weit unter Wert verkaufen. Manchmal wurden<br />
die Geschäfte auch entschädigungslos eingezogen.<br />
Mit den politischen Ereignissen am Ende <strong>der</strong><br />
achtziger Jahre wurden auch die bis dahin unlösbaren<br />
materiell-technischen Probleme <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong> buchstäblich über Nacht<br />
gelöst. Der größte Teil <strong>der</strong> bis dahin aufwändig,<br />
liebevoll gepflegten <strong>und</strong> zum Teil umfangreich<br />
mo<strong>der</strong>nisierten Geschäfte wurde stillgelegt<br />
o<strong>der</strong> verschrottet.<br />
■<br />
36
GEWERBESCHEIN<br />
Die Gewerbeausübung <strong>der</strong> privaten <strong>DDR</strong>-Unternehmen<br />
wurde umfassend überwacht. Um den erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Verwaltungsaufwand zu minimieren <strong>und</strong><br />
die Eigenverantwortlichkeit <strong>der</strong> staatlichen Organe<br />
stärken zu können, trat am 1. Januar 1957 eine überarbeitete<br />
„Verordnung über die Regelung <strong>der</strong> Gewerbetätigkeit“<br />
in Kraft. Sie diente als Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
Erteilung einer Gewerbegenehmigung. Anträge zur<br />
Ausübung eines Gewerbes wurden gr<strong>und</strong>sätzlich nur<br />
genehmigt, wenn dafür ein volkswirtschaftliches Bedürfnis<br />
bestand. Der Antragsteller musste seine Eignung<br />
<strong>und</strong> persönliche Zuverlässigkeit nachweisen<br />
können. Im § 3, Absatz c <strong>der</strong> Gewerbeverordnung wurde<br />
festgelegt, „dass die Voraussetzungen zur Ausübung<br />
eines Gewerbes nur dann gegeben sind, wenn<br />
dem Antragsteller die erfor<strong>der</strong>lichen Räumlichkeiten,<br />
Einrichtungen o<strong>der</strong> sonstigen Betriebsmittel zur Verfügung<br />
stehen <strong>und</strong> er die arbeitsschutzmäßigen, baugesetzlichen<br />
sowie hygienischen Voraussetzungen<br />
nachweisen konnte“. Für die Ausübung des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
bedeutete das, dass <strong>der</strong> Antragsteller<br />
bereits bei <strong>der</strong> Antragstellung den Nachweis über<br />
ein vorhandenes Geschäft, mit genauen Angaben<br />
über den Erwerb <strong>und</strong> die Geschäftsart, erbringen<br />
musste. Dadurch wurden Genehmigungen für das<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbe ab 1957 eingeschränkt. Außenstehende<br />
hatten kaum noch eine Chance, einen<br />
<strong>Schausteller</strong>betrieb zu gründen, da die Antragsteller<br />
nun auch den Nachweis erbringen mussten, dass Familienangehörige<br />
bereits in diesem Gewerbe tätig waren.<br />
Hierzu mussten genaue Angaben, seit wann welche<br />
Geschäfte betrieben wurden, gemacht werden.<br />
Für <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong> war es bis in die siebziger Jahre<br />
hinein auch nicht einfach, die Gewerbeerlaubnis zu<br />
bekommen, da die Gründung von neuen privaten Unternehmen<br />
bis dahin nur noch in Ausnahmefällen genehmigt<br />
wurde. Ein makelloser Leum<strong>und</strong> <strong>und</strong> die richtige<br />
Geschäftsart waren wichtige Vorraussetzungen<br />
für eine Genehmigung des Antrags. Der Gewerbeschein<br />
musste am Wohnort des Antragstellers beantragt<br />
werden. Der Rat des Bezirkes überprüfte dann<br />
genauestens die gemachten Angaben. Falls ein Überangebot<br />
in <strong>der</strong> beantragten Geschäftsart bestand,<br />
wurde <strong>der</strong> Antrag abgelehnt. Die erteilte Gewerbegenehmigung<br />
war damals für jeweils ein Kalen<strong>der</strong>jahr<br />
gültig, konnte aber je<strong>der</strong>zeit wi<strong>der</strong>rufen werden, falls<br />
die Voraussetzungen für die Genehmigung von vornherein<br />
nicht bestanden o<strong>der</strong> nachträglich wegfielen.<br />
Falsche Angaben o<strong>der</strong> Nichteinhaltung <strong>der</strong> erteilten<br />
Auflagen sowie die Unterbrechung <strong>der</strong> Gewerbetätigkeit<br />
ohne Erlaubnis hatten ebenfalls den Entzug <strong>der</strong> Erlaubnis<br />
zur Folge. Nach dem Tod des Inhabers des<br />
Gewerbebetriebes erlosch die Genehmigung automatisch<br />
nach sechs Monaten. Der Ehepartner o<strong>der</strong> die<br />
Erben waren berechtigt, in diesem Zeitraum den Betrieb<br />
weiterzuführen. Konnte nur ein an<strong>der</strong>er Verwandter<br />
den Betrieb weiterleiten, musste dieser erst<br />
eine Ausnahmegenehmigung beantragen.<br />
In den achtziger Jahren wurden die Regelungen zur<br />
Ausübung <strong>der</strong> Gewerbetätigkeit gelockert, da die<br />
staatlich gelenkte Industrie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Handel immer weniger<br />
in <strong>der</strong> Lage waren, die Wünsche <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
zu befriedigen. Für den <strong>Schausteller</strong>nachwuchs<br />
bedeutete die Lockerung zwar weniger Bürokratie <strong>und</strong><br />
staatliche Gängelung, aber auch Einschränkungen,<br />
durch die das Gewerbe gar nicht ausgeübt werden<br />
konnte. Lutz Hofmann erinnert sich beispielsweise,<br />
dass sein Gewerbeantrag in den achtziger Jahren nur<br />
„ohne Anspruch auf Dieselkraftstoff“ genehmigt wurde.<br />
Da allerdings die zuständige Behörde auf die Frage,<br />
wie er mit seinem Laufgeschäft ohne Kraftstoff reisen<br />
solle, keine Antwort wusste, wurde sein Betrieb mit<br />
REISELEBEN<br />
QUELLE<br />
Handbuch des <strong>Schausteller</strong>s<br />
– Taschenbuch des<br />
<strong>Schausteller</strong>wesens <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong><br />
Anspruch auf Dieselkraftstoff genehmigt. ■ Siegfried Härtels<br />
Gewerbeerlaubnisschein<br />
37
REISELEBEN<br />
ALLTAG DER SCHAUSTELLER<br />
Typischer Waschtag<br />
in den sechziger Jahren<br />
Die <strong>Schausteller</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> lebten in einer nach<br />
außen isolierten, eigenen Welt. Sie bildeten durch<br />
die unliebsamen Erfahrungen nach <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> eine sehr misstrauische, abgekapselte Gesellschaftsschicht<br />
<strong>und</strong> gewährten nur in ganz seltenen<br />
Fällen Außenstehenden tiefere Einblicke in ihren Alltag.<br />
Hatte man aber ihr Vertrauen erworben, nahmen<br />
sie manchmal „Private“ fast familiär auf.<br />
Fester Zusammenhalt im Gewerbe<br />
Durch ihre selbstständige Tätigkeit hatten die <strong>Schausteller</strong><br />
in <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft einen beson<strong>der</strong>en<br />
Status, <strong>der</strong> zu einem festen Zusammenhalt<br />
untereinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> innerhalb ihres Gewerbes führte.<br />
Gegenseitige Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung waren im<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbe selbstverständlich. Für die meisten<br />
<strong>DDR</strong>-Bürger war <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>beruf etwas<br />
Exotisches, Ungewöhnliches, <strong>und</strong> nur wenige wussten,<br />
wie die <strong>Schausteller</strong> lebten o<strong>der</strong> was <strong>und</strong> wie sie<br />
arbeiteten. Noch in den sechziger Jahren waren große<br />
Teile <strong>der</strong> Bevölkerung <strong>der</strong> Meinung, dass die <strong>Schausteller</strong><br />
wie „herumziehende Gaukler“ leben, <strong>und</strong><br />
rümpften verächtlich ihre Nasen, wenn die ersten bunten<br />
Wagen das Kommen <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> ankündigten.<br />
Nicht wenige waren damals sogar <strong>der</strong> Meinung,<br />
„dass man sich vor ihnen in Acht nehmen müsse“.<br />
In <strong>der</strong> Regel reisten die <strong>Schausteller</strong> von Ostern bis<br />
Oktober durch die Republik, wobei <strong>der</strong> Termin des<br />
Osterfestes den Verlauf <strong>der</strong> neuen Saison beeinfluss-<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner<br />
Momentaufnahme<br />
vom Aufbau <strong>der</strong> „Fahrt ins<br />
Blaue“ von Malfertheiner<br />
38
REISELEBEN<br />
Ernst Malfertheiner<br />
(Mitte) <strong>und</strong> Kollegen bei<br />
einer Pause, sechziger Jahre<br />
te. Ostern im März bedeutete eine gute Saison, fand<br />
das Fest aber erst im April statt, ging die Saison zu<br />
spät los. Eine Fixierung <strong>der</strong> Frühlingsfeste auf Anfang<br />
März wurde deshalb öfter diskutiert, konnte sich aber<br />
nicht durchsetzen. Zum Saisonschluss bauten einige<br />
Betriebe ihre Geschäfte gern noch auf Weihnachtsmärkten<br />
auf. Sämtliche <strong>Schausteller</strong> hatten feste<br />
Wohnsitze mit Gr<strong>und</strong>stücken, Hallen <strong>und</strong> Werkstätten,<br />
in denen sie die Wintermonate verbrachten. Die meisten<br />
Familien gingen bereits seit mehreren Generationen<br />
im Familienverband ihren Geschäften nach. Ihr<br />
Beruf erfor<strong>der</strong>te viel Liebe <strong>und</strong> Enthusiasmus, da es<br />
keine Kleinigkeit war, von März bis Dezember die Geschäfte<br />
in mühseliger Handarbeit auf 14 bis 18 Plätzen<br />
auf- <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> abzubauen. In den Wintermonaten<br />
fanden für die <strong>Schausteller</strong> turnusmäßig Weiterbildungskurse<br />
<strong>und</strong> Lehrgänge für den Erwerb des „Befähigungsnachweises<br />
für den Arbeits- <strong>und</strong> Brandschutz“<br />
<strong>und</strong> berufsspezifische Weiterbildungen statt.<br />
Außerdem wurden die Geschäfte generalüberholt <strong>und</strong><br />
die Zugmaschinen sowie die Wohn- <strong>und</strong> Packwagen<br />
gründlich gereinigt, instand gesetzt <strong>und</strong> für die neue<br />
Saison vorbereitet.<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Rolf Orschel<br />
Kaum Zeit zum Erholen<br />
Die <strong>Schausteller</strong>, die mit Warengeschäften reisten, verbrachten<br />
in den Wintermonaten die meiste Zeit mit <strong>der</strong><br />
Beschaffung von Ware. Sie fuhren von Betrieb zu Betrieb<br />
<strong>und</strong> waren ständig auf <strong>der</strong> Suche nach fehlerhafter<br />
Exportware, die es für die Bevölkerung nicht zu<br />
kaufen gab. Die <strong>Schausteller</strong>frauen hatten ebenfalls<br />
kaum Zeit zum Ausruhen <strong>und</strong> Erholen. Im Winterquartier<br />
mussten sie sich erst wie<strong>der</strong> an die vielen Zimmer<br />
gewöhnen. Die Hausarbeit war ungewohnt, da ein<br />
Wohnwagen viel schneller <strong>und</strong> leichter zu putzen war<br />
als ein ganzes Haus. Neben den Hausarbeiten mussten<br />
sich die Frauen auch im Winter um die Büroarbeiten<br />
<strong>und</strong> die Buchführung kümmern <strong>und</strong> spätestens<br />
Anfang März musste <strong>der</strong> Wohnwagen für die neue Saison<br />
wie<strong>der</strong> eingeräumt werden.<br />
Auf <strong>der</strong> Reise waren die Arbeitstage für die <strong>Schausteller</strong>familien<br />
<strong>und</strong> ihre Mitarbeiter lang <strong>und</strong> komplett<br />
durchorganisiert. In <strong>der</strong> Regel wurde morgens um sieben<br />
Uhr aufgestanden. Nach dem Frühstück, das bei<br />
Herbert Otto (links)<br />
betrieb seine Eisenbahn<br />
stets in gepflegter Uniform<br />
39
REISELEBEN<br />
Das Personal bei <strong>der</strong><br />
Vorbereitung <strong>der</strong> Autos<br />
des „Berliner Rings“, um 1970<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Rolf Orschel<br />
Für ein gutes Fernsehbild<br />
sorgten Teleskopmasten<br />
einigen Betrieben von den <strong>Schausteller</strong>frauen für die<br />
gesamte Belegschaft zubereitet wurde, begannen die<br />
Männer mit ihren Mitarbeitern mit den Vorbereitungen<br />
für den Spielbetrieb. Die Geschäfte wurden gründlich<br />
gewartet, Verschleißteile wurden ausgewechselt o<strong>der</strong><br />
notwendige Reparaturen durchgeführt. Die Frauen,<br />
die auch in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> für alles zuständig waren, „was<br />
sich drinnen abspielte“, erledigten am Vormittag meistens<br />
den anfallenden Schriftverkehr, die Bankangelegenheiten,<br />
kochten für die gesamte Belegschaft, betreuten<br />
die Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> erledigten<br />
sämtliche häuslichen<br />
Arbeiten. Viele Jahre<br />
lang wurde in den meisten<br />
<strong>Schausteller</strong>betrieben von<br />
den Frauen auch die Wäsche<br />
<strong>der</strong> Mitarbeiter gewaschen<br />
<strong>und</strong> gebügelt. Nach<br />
dem Mittagessen gönnten<br />
sich die <strong>Schausteller</strong>familien<br />
<strong>und</strong> ihre Angestellten in<br />
<strong>der</strong> Regel noch eine Pause,<br />
bevor ab 14 Uhr die Musik<br />
ertönte <strong>und</strong> die Karussells<br />
wie<strong>der</strong> ihre R<strong>und</strong>en drehten.<br />
Die letzte Fahrt begann,<br />
territorial verschieden,<br />
zwischen 21 <strong>und</strong> 23<br />
Uhr, auf einigen Plätzen erst<br />
nach Mitternacht. In <strong>der</strong><br />
Saison hatten die <strong>Schausteller</strong><br />
kein freies Wochende,<br />
keinen Sonn- o<strong>der</strong> Feiertag,<br />
denn da brummte<br />
das Geschäft.<br />
Trotz <strong>der</strong> anstrengenden Arbeit herrschten an<strong>der</strong>swo<br />
selten so geordnete Zustände wie bei den <strong>Schausteller</strong>betrieben.<br />
Je<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong> musste viele<br />
handwerkliche Fähigkeiten beherrschen <strong>und</strong> möglichst<br />
Schlosser, Elektriker, Maler <strong>und</strong> Tischler in einer<br />
Person sein, da an den Geschäften fast alles selbst gemacht<br />
werden musste. Nur selten konnte die Hilfe von<br />
Handwerksbetrieben in Anspruch genommen werden,<br />
da sie durch die Planwirtschaft kaum in <strong>der</strong> Lage waren,<br />
zusätzliche Aufträge zu erfüllen. Deshalb erwarben<br />
viele <strong>Schausteller</strong> auf Volkshochschulen auch den<br />
Schweißerpass, um etwa Metallkonstruktionen selbst<br />
instandsetzen zu können.<br />
Hilfsbereitschaft <strong>und</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />
Durch den festen Zusammenhalt in ihrer Branche gingen<br />
die meisten <strong>Schausteller</strong> kollegial <strong>und</strong> gesellig<br />
miteinan<strong>der</strong> um <strong>und</strong> halfen sich gegenseitig, wo sie<br />
konnten. Falls ein Kollege erkrankte o<strong>der</strong> Geschäfte<br />
durch Naturgewalten beschädigt wurden, packte man<br />
ohne große Worte mit an <strong>und</strong> bei Bedarf wurden auch<br />
Transporte für die Kollegen gefahren. Neben ihrer solidarischen<br />
Hilfsbereitschaft zeichnete die <strong>Schausteller</strong><br />
vor allem ihre sprichwörtliche Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />
aus, die <strong>der</strong> Autor bei vielen <strong>Schausteller</strong>familien auch<br />
als „Privater“ erleben <strong>und</strong> genießen konnte <strong>und</strong> je<strong>der</strong>zeit<br />
herzlich willkommen war. Da die meisten Familienfeiern<br />
auf den Festplätzen stattfanden, wurde meistens<br />
mit den Kollegen ausgelassen gefeiert. Man feierte<br />
wie eine Großfamilie, schließlich war man ja auch<br />
irgendwie miteinan<strong>der</strong> verwandt. In den Sommermonaten<br />
fanden die <strong>Schausteller</strong> auf jedem Platz stets einen<br />
Gr<strong>und</strong> für spontane Feiern o<strong>der</strong> Grillpartys, für die<br />
jede Familie etwas Ess- o<strong>der</strong> Trinkbares beisteuerte.<br />
40
REISELEBEN<br />
<strong>Schausteller</strong>treffen<br />
in den sechziger Jahren<br />
Aufbau des Dachstuhls<br />
von Malfertheiners „Fahrt<br />
ins Blaue“,1960er-Jahre<br />
Der Alltag <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong> unterschied sich nur<br />
unwesentlich von dem <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> „privater Familien“<br />
<strong>und</strong> dem <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> westdeutscher <strong>Schausteller</strong>. Ihre<br />
Gewöhnung an das unstete Leben erfolgte bereits im<br />
Kleinkindalter.<br />
Ständiger Wechsel <strong>der</strong> Schule<br />
Nach anfänglichen Benachteiligungen (bis in die<br />
sechziger Jahre erhielten die <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong> nach<br />
erfolgreicher Berufsausbildung kein Abschlusszeugnis)<br />
standen ihnen dann sämtliche Bildungswege offen.<br />
Die meisten Kin<strong>der</strong> gingen in den Orten <strong>der</strong> Reiseroute<br />
ihrer Eltern zur Schule <strong>und</strong> gewöhnten sich<br />
ziemlich schnell daran, alle paar Tage eine an<strong>der</strong>e<br />
Schule zu besuchen, wobei sie an den Transporttagen<br />
vom Unterricht befreit waren. Während ihrer Schulzeit<br />
profitierten sie, trotz <strong>der</strong> ständigen Schulwechsel, vom<br />
Schulsystem in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> mit einheitlichen Lehrplänen<br />
<strong>und</strong> Schulbüchern. Egal, in welcher Region sie mit<br />
ihren Eltern reisten, an sämtlichen Schulen wurde nach<br />
den selben Lehrplänen unterrichtet. Abweichungen<br />
gab es lediglich durch die unterschiedliche Einhaltung<br />
<strong>der</strong> Lehrpläne. In <strong>der</strong> Regel glichen sich die Unterschiede<br />
aber immer aus, wodurch die <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong><br />
eine sehr gute <strong>und</strong> vielseitige Allgemeinbildung<br />
hatten. Es gab in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auch einige Internate für<br />
<strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong>, in denen aber nur wenige Kin<strong>der</strong><br />
untergebracht waren. An<strong>der</strong>e wuchsen auf Wunsch<br />
<strong>der</strong> Eltern – <strong>und</strong> meistens gegen ihren Willen – bei Verwandten<br />
auf, damit sie eine geregelte Kindheit genießen<br />
konnten. Am Nachmittag spielten die <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong><br />
mit ihren neuen Spielkameraden auf dem<br />
„interessantesten Abenteuerspielplatz <strong>der</strong> Welt“: zwischen<br />
den Wohnwagen <strong>und</strong> Karussells. Im Vergleich<br />
mit den Stadt- <strong>und</strong> Landkin<strong>der</strong>n<br />
wurden sie wesentlich früher<br />
selbstständig <strong>und</strong> arbeiteten<br />
beizeiten im Betrieb <strong>der</strong> Eltern<br />
mit, wobei sie den <strong>Schausteller</strong>beruf<br />
von <strong>der</strong> Pike auf erlernten.<br />
Es gab in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> aber auch<br />
<strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong>, die zunächst<br />
kein Interesse am Beruf<br />
ihrer Eltern hatten. Ihnen gefiel<br />
das unstete Leben auf Rä<strong>der</strong>n<br />
nicht, weshalb sie lieber in einem<br />
„ordentlichen Beruf“ arbeiten<br />
wollten. Während <strong>der</strong> Ausbildung<br />
o<strong>der</strong> des Studiums bemerkten<br />
aber oft nicht wenige,<br />
welches Blut in ihren A<strong>der</strong>n<br />
floss. Der Abschied von den Eltern<br />
nach den Wochenenden<br />
o<strong>der</strong> den Ferien fiel sehr schwer<br />
<strong>und</strong> wurde immer tränenreicher.<br />
Und eines Tages brachen sie<br />
die Lehre ab <strong>und</strong> blieben dann<br />
für immer auf <strong>der</strong> Reise. Es gab<br />
insgesamt nur ganz wenige <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong>, die<br />
sich von Anfang an nicht für das Leben auf <strong>der</strong> Reise<br />
begeistern konnten. Die Betreffenden absolvierten<br />
nach <strong>der</strong> Schule eine solide Ausbildung, studierten<br />
<strong>und</strong> heirateten eine(n) „Private(n)“. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />
wurden sie angesehene Ingenieure, Chirurgen <strong>und</strong><br />
Fachärzte, Industrie-Formgestalter o<strong>der</strong> gründeten erfolgreich<br />
einen Handwerksbetrieb. Die Kin<strong>der</strong>, die die<br />
<strong>Schausteller</strong>tradition weiterführten, reisten zunächst<br />
mit ihren Eltern o<strong>der</strong> Schwiegereltern <strong>und</strong> gründeten<br />
dann ihren eigenen <strong>Schausteller</strong>betrieb.<br />
■<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Rolf Orschel<br />
41
REISELEBEN<br />
SCHAUSTELLERGEHILFEN<br />
Kurze Pause für die<br />
Mitarbeiter eines Twisters, 1989<br />
Vorbereitungen zum<br />
Tauchen <strong>der</strong> Serienlampen<br />
<strong>Schausteller</strong>, die mit größeren<br />
Geschäften in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisten,<br />
waren auf fremde Hilfskräfte angewiesen.<br />
Trotz einigermaßen guter<br />
Bezahlung, freier Kost <strong>und</strong> Unterkunft<br />
haben sich allerdings kaum<br />
verlässliche <strong>und</strong> ausdauernde Arbeitskräfte<br />
für diese Tätigkeit interessiert<br />
<strong>und</strong> die Personalfluktuation<br />
war bei den <strong>Schausteller</strong>betrieben<br />
stets beson<strong>der</strong>s hoch. Die schwere<br />
körperliche Arbeit, so gut wie<br />
keine freien Tage in <strong>der</strong> Saison <strong>und</strong><br />
die Unterkunft in beengten Mannschafts-<br />
o<strong>der</strong> nur wenige Quadratmeter<br />
großen Einzelabteilen lockten<br />
kaum jemand, mit auf die Reise<br />
zu gehen. Junge, ledige Männer, für die sich das<br />
Mitreisen aus dem Alltäglichen heraushob <strong>und</strong> durch<br />
den bunten Lichterzauber verklärte, hörten häufig<br />
schon nach kurzer Zeit desillusioniert wie<strong>der</strong> auf. Sie<br />
hatten die berufsspezifischen Arbeitsbedingungen<br />
völlig unterschätzt. Eine weitere Ursache für den häufigen<br />
Arbeitskräftemangel im <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong>gewerbe<br />
war <strong>der</strong> anfangs noch häufig allgegenwärtige<br />
<strong>und</strong> rüde Umgang mit den meist ungelernten <strong>Schausteller</strong>gehilfen.<br />
Als „Knechte“ o<strong>der</strong> „Kadetten“ herabwürdigend<br />
betitelt, hatten sie in manchen <strong>Schausteller</strong>betrieben<br />
nichts zu lachen <strong>und</strong> mussten unter<br />
unwürdigen Lebensbedingungen <strong>und</strong> bei miserabler<br />
Entlohnung schwer schuften. Das sprach sich natür-<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Kuno Plaenerts Mitarbeiter<br />
bauten in <strong>der</strong> Freizeit<br />
ein Modell des Tropical Jet<br />
aus Streichhölzern, 1986<br />
42
REISELEBEN<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Bei schönem Wetter<br />
wurde im Freien gegessen<br />
<strong>und</strong> zwischendurch geduscht<br />
lich herum <strong>und</strong> schreckte viele junge Männer ab. Es<br />
gab aber auch Ausnahmen. Junge Männer, denen das<br />
ständige Herumreisen <strong>und</strong> die Arbeit Spaß machten<br />
<strong>und</strong> die mitunter jahrzehntelang in einem <strong>Schausteller</strong>betrieb<br />
arbeiteten.<br />
Gleichberechtigte Mitarbeiter<br />
Diese in <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>branche ungewöhnlich seltene<br />
Treue kam allerdings nicht von ungefähr. Diese Gehilfen<br />
wurden von den <strong>Schausteller</strong>n von Anfang an<br />
nicht als „Knechte“, son<strong>der</strong>n als Mitarbeiter betrachtet,<br />
fair behandelt, gewissenhaft eingearbeitet <strong>und</strong> für<br />
gute Arbeit zusätzlich entlohnt. Sie wurden sehr gut<br />
verpflegt, ihre Wäsche wurde mit gewaschen <strong>und</strong> gebügelt<br />
<strong>und</strong> ihre Geburtstage sowie Weihnachten wurden<br />
häufig gemeinsam gefeiert. Eine dieser seltenen<br />
Ausnahmen war <strong>der</strong> gelernte Bäcker Klaus Göring aus<br />
Gotha, <strong>der</strong> über 50 Jahre lang ununterbrochen bei <strong>der</strong><br />
<strong>Schausteller</strong>familie Malfertheiner aus Ohrdruf in Thüringen<br />
arbeitete. Als Kind verbrachte er bereits jede<br />
Klaus Göring (rechts) im<br />
Fahrstand <strong>der</strong> „Fahrt ins Blaue“<br />
Waschtag auf dem<br />
Festplatz in Suhl, 1987<br />
43
REISELEBEN<br />
„Die Fahrkarten bitte!“<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Impressionen<br />
vom Alltag <strong>der</strong> Gehilfen<br />
freie Minute auf dem Schützenplatz, wenn ein Zirkus<br />
o<strong>der</strong> ein Rummel aufgebaut wurden. Nach <strong>der</strong> Lehre<br />
arbeitete er auf dem Gothaer Weihnachtsmarkt als<br />
Aushilfe bei Malfertheiners „Fahrt ins Blaue“ <strong>und</strong> entschloss<br />
sich dann, mit Malfertheiners auf die Reise zu<br />
gehen. So ging sein innigster Wunsch am 19. März<br />
1956 in Erfüllung. Er arbeitete bei Malfertheiners stets<br />
zuverlässig <strong>und</strong> gewissenhaft, bis ihn 2006 eine<br />
schwere Krankheit ans Bett fesselte <strong>und</strong> er kurz darauf<br />
für immer seine Augen schloss.<br />
An<strong>der</strong>e <strong>Schausteller</strong>gehilfen wollten sich ursprünglich<br />
nur mal ein paar Mark nebenbei verdienen <strong>und</strong> reisten<br />
dann doch einige Jahre mit. Zum Beispiel Horst<br />
Leuschner, alias „Bruno“, <strong>der</strong> in Dresden Foto- <strong>und</strong> Kinoapparate<br />
montierte. Vor 39 Jahren fragte er bei <strong>der</strong><br />
<strong>Schausteller</strong>familie Haeberling auf <strong>der</strong> Dresdner Vogelwiese,<br />
ob er für die Dauer dieser Veranstaltung als<br />
Aushilfe an ihrem Autoskooter arbeiten könne. Als Familie<br />
Haeberling nach <strong>der</strong> Vogelwiese mit ihrem Skooter<br />
weiterzog, war Bruno dabei <strong>und</strong> kümmert sich<br />
heute noch um den Babyflug <strong>der</strong> Haeberlings.<br />
Neben den ungelernten <strong>Schausteller</strong>gehilfen gab es<br />
aber auch einige Burschen, die über eine solide Ausbildung<br />
verfügten <strong>und</strong> trotzdem aus Spaß an <strong>der</strong> Sache<br />
mit <strong>Schausteller</strong>n mitreisten. Diese Mitarbeiter waren<br />
natürlich begehrt. Sie hielten ihre Unterkunft blitzsauber,<br />
konnten nach kurzer Einarbeitungszeit selbstständig<br />
arbeiten, hatten mitunter den Lkw-Führerschein<br />
<strong>und</strong> traten stets korrekt <strong>und</strong> höflich auf. Wenn<br />
sie am Geschäft kassierten o<strong>der</strong> unter Aufsicht des<br />
Chefs am Fahrpult saßen, waren sie adrett gekleidet,<br />
manche in schwarzer Hose, weißem Hemd <strong>und</strong> Krawatte.<br />
Diesen „Edel-Gehilfen“ wurden von den <strong>Schausteller</strong>familien<br />
kleine Privilegien zugestanden, da sie<br />
nur selten ersetzt werden konnten <strong>und</strong> deshalb möglichst<br />
lange in <strong>der</strong> Firma bleiben sollten.<br />
Ein einheitlicher Tarifvertrag<br />
Mit Wirkung vom 1. Oktober 1966 trat ein einheitlicher<br />
Tarifvertrag für das <strong>Schausteller</strong>gewerbe <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> in<br />
Kraft, <strong>der</strong> zwischen dem Zentralvorstand <strong>der</strong> Gewerkschaft<br />
Kunst <strong>und</strong> den Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern<br />
<strong>der</strong> Bezirke einschließlich (Ost)Berlins vereinbart wurde.<br />
Dieser Tarifvertrag war für alle privaten <strong>Schausteller</strong>betriebe,<br />
die den Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern<br />
angeschlossen waren, bindend <strong>und</strong> regelte bis ins De-<br />
44
tail die Arbeits- <strong>und</strong> Lebensbedingungen <strong>der</strong> dort beschäftigten<br />
Mitarbeiter, womit zum ersten Mal seit dem<br />
Bestehen dieses Berufsstandes einheitliche Regelungen<br />
über die Pflichten, aber auch<br />
die Rechte <strong>der</strong> Mitarbeiter festgelegt<br />
wurden. Dieser, in <strong>der</strong> Geschichte<br />
des <strong>Schausteller</strong>gewerbes<br />
einmalige Tarifvertrag regelte<br />
in neun Paragraphen <strong>und</strong> drei Anlagen<br />
auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage des sozialistischen<br />
Arbeitsrechts die Leitung<br />
des Betriebes <strong>und</strong> die Mitwirkung<br />
<strong>der</strong> Mitarbeiter. Außerdem<br />
den Arbeitsvertrag, die tarifliche<br />
Entlohnung, den Zuschlag für<br />
Überst<strong>und</strong>en, die Erschwerniszuschläge,<br />
den Anspruch auf einen<br />
arbeitsfreien Tag pro Woche, die<br />
Arbeitszeit, die Fahr- <strong>und</strong> Wegezeit,<br />
den Erholungsurlaub, das gewerkschaftliche<br />
Mitbestimmungsrecht<br />
<strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />
Arbeitsschutz. Dieser Tarifvertrag<br />
war zwar ein Meilenstein für die<br />
gerechte Behandlung <strong>und</strong> Entlohnung<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>gehilfen,<br />
aber in vielen Punkten reinste<br />
Theorie, die sich nicht mit den realen<br />
Arbeitsbedingungen <strong>der</strong> Reise<br />
vereinbaren ließen. Freie Tage in<br />
<strong>der</strong> Woche waren zum Beispiel nur<br />
in wenigen <strong>Schausteller</strong>betrieben garantiert <strong>und</strong> Urlaub<br />
konnte überwiegend nur im Januar in Anspruch<br />
genommen werden.<br />
■<br />
REISELEBEN<br />
Kassiert wurde<br />
auch während <strong>der</strong> Fahrt<br />
Mitarbeiter-Gruppenbild<br />
auf dem Skooter von Krebs<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
QUELLE<br />
Handbuch des <strong>Schausteller</strong>s<br />
– Taschenbuch des<br />
<strong>Schausteller</strong>wesens <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong><br />
Zwei Mitarbeiter von<br />
Plaenerts „Tropical Jet“<br />
im Sommer 1988<br />
45
LOGISTIK<br />
BAHNVERLADUNG<br />
Mit <strong>der</strong> Bahn zur<br />
nächsten <strong>Kirmes</strong>, um 1965<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Archiv Frischbier<br />
Das Riesenrad von<br />
Koppitz bei <strong>der</strong> Ankunft<br />
im Bahnhof Steinach<br />
Von Anfang an wurden in <strong>der</strong> SBZ <strong>und</strong> nachfolgend<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die meisten Frachttransporte mit <strong>der</strong><br />
Deutschen Reichsbahn (DR) abgewickelt. Ungeachtet<br />
<strong>der</strong> Kriegszerstörungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> als Reparationsleistungen<br />
demontierten Bahnanlagen musste die Eisenbahn<br />
die Wirtschaft in diesem Teil Deutschlands<br />
wie<strong>der</strong> in Schwung bringen. Die DR konnte die Transportaufgaben<br />
bis zu Beginn <strong>der</strong> siebziger Jahre aber<br />
nur unter erschwerten Bedingungen <strong>und</strong> häufig mit<br />
Vorkriegstechnik erfüllen. Erhebliche Mängel in <strong>der</strong> Infrastruktur<br />
<strong>und</strong> kaum zu realisierende Transportfor<strong>der</strong>ungen<br />
wirkten sich hemmend auf den gesamten Güterverkehr<br />
aus. Die DR fuhr damals „auf dem Zahnfleisch“:<br />
Über marode Schwellen unter Ausschöpfung<br />
aller Reserven bis an die Kapazitätsgrenze ihres<br />
Streckennetzes. Der Alltag <strong>der</strong> Einsatzleiter glich einem<br />
riesigen Krisenmanagement, das aus r<strong>und</strong> um<br />
die Uhr zu dirigierenden Zugmassen bestand. Die Eisenbahner<br />
standen permanent unter Druck, da von<br />
ihnen das ganze Jahr über Rekordleistungen verlangt<br />
wurden. Obwohl die DR voll auf Verschleiß gefahren<br />
wurde, konnten die Transportaufgaben nicht bewältigt<br />
werden. Nicht nur <strong>der</strong> Mangel an Gleisen, son<strong>der</strong>n<br />
auch an Arbeitskräften<br />
behin<strong>der</strong>ten seit<br />
Beginn <strong>der</strong> 1960er-<br />
Jahre die Zugauflösungen<br />
<strong>und</strong> -bildungen.<br />
Verspätungen,<br />
Rückstauzüge <strong>und</strong><br />
Lokmangel waren<br />
die häufigsten Ursachen<br />
für immer häufigere<br />
Verspätungen<br />
bei <strong>der</strong> DR. Da Kraftstoffe<br />
nach dem<br />
Kriegsende streng<br />
rationiert <strong>und</strong> intakte<br />
Zugmaschinen kaum vorhanden waren, war die Eisenbahn<br />
nach dem Krieg auch für die <strong>Schausteller</strong><br />
<strong>und</strong> Zirkusse das wichtigste Transportmittel. <strong>Schausteller</strong>son<strong>der</strong>züge<br />
waren in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bis in die siebziger<br />
Jahre üblich. Per Achse wurden oft nur kurze Entfernungen<br />
zurückgelegt. Die Bedingungen für den<br />
Bahntransport waren durch die „Anleitung für die Verladung<br />
von <strong>Schausteller</strong>gut bei <strong>der</strong> Deutschen Reichsbahn“<br />
genauestens geregelt. In ihr war unter an<strong>der</strong>em<br />
festgelegt, dass die gesetzlich festgelegte Ladefrist<br />
(maximal 5 St<strong>und</strong>en für 1 bis 9 Waggons) zu je<strong>der</strong> Tages-<br />
<strong>und</strong> Nachtzeit, auch an Sonn- <strong>und</strong> Feiertagen eingehalten<br />
werden musste. Bei Überschreitung dieser<br />
Frist wurde den <strong>Schausteller</strong>n ein Wagenstandgeld<br />
(10 Mark pro St<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Waggon) in Rechnung gestellt.<br />
Die Son<strong>der</strong>züge mussten bei <strong>der</strong> DR beantragt<br />
werden. Die Anträge mussten mindestens 8 Tage vor<br />
dem Transport bei <strong>der</strong> für den Abgangsbahnhof zuständigen<br />
Reichsbahndirektion vorliegen. Diese entschied<br />
dann entsprechend ihren betrieblichen Möglichkeiten,<br />
ob <strong>und</strong> wann <strong>der</strong> Zug bereitgestellt wird.<br />
Kürzere Transportanträge konnten nicht berücksichtigt<br />
werden. Die Tarife für die <strong>Schausteller</strong>- <strong>und</strong> Zirkusson<strong>der</strong>züge<br />
waren im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Transportmitteln<br />
bis gegen Mitte <strong>der</strong> fünfziger Jahre gering.<br />
Danach trat eine neue Regelung für die <strong>Schausteller</strong>son<strong>der</strong>züge<br />
in Kraft, nach <strong>der</strong> das Begleiten <strong>der</strong> Züge<br />
unter „Beachtung <strong>der</strong> Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Transportsicherheit“<br />
generell verboten wurde. Außerdem verlor<br />
<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>zugtarif für die <strong>Schausteller</strong> seine Gültigkeit.<br />
Ihre Züge wurden nur noch als „Stückgut mit<br />
Frachtbrief“, zu wesentlich höheren Preisen berechnet.<br />
Diese neue Regelung galt aber nicht für die Son<strong>der</strong>züge<br />
<strong>der</strong> Zirkusse, für die weiterhin <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>zugtarif<br />
gültig war <strong>und</strong> die trotz <strong>der</strong> „Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong><br />
Transportsicherheit“ von den Artisten <strong>und</strong> Tierpflegern<br />
weiterhin begleitet wurden. Mit <strong>der</strong> neuen Regelung<br />
wurden die <strong>Schausteller</strong> vom Staat erneut benachtei-<br />
46
ligt, obwohl in <strong>der</strong> Eisenbahn-Gütertarifverordnung im<br />
Teil I, § 6 (2) eindeutig festgelegt war, „dass Tarifermäßigungen<br />
bei Erfüllung gleicher Bedingungen für<br />
je<strong>der</strong>mann in gleicher Weise genehmigt <strong>und</strong> berechnet<br />
werden“. In <strong>der</strong> Praxis wurde aber <strong>der</strong> Transport<br />
von <strong>Schausteller</strong>gut in planmäßigen „Güterzügen mit<br />
Abfertigungsschein“ verweigert. Für jeden beför<strong>der</strong>ten<br />
Waggon <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>son<strong>der</strong>züge berechnete<br />
die Deutsche Reichsbahn nun eine Achsgebühr (20<br />
Mark pro Achse) <strong>und</strong> die Streckenfracht für 5 Tonnen<br />
nach Wagenklasse drei. Schutzwaggons, die aus Betriebsgründen<br />
eingestellt wurden, beför<strong>der</strong>te die Eisenbahn<br />
aber weiterhin unentgeltlich. Für einen Son<strong>der</strong>zug<br />
von 28 Waggons <strong>und</strong> eine Entfernung von 150<br />
km stellte die DR den <strong>Schausteller</strong>n nach <strong>der</strong> neuen<br />
Verordnung einen Betrag von 1816 Mark in Rechnung.<br />
Der Beför<strong>der</strong>ungsweg wurde nach den Leistungsvorschriften<br />
festgelegt, beson<strong>der</strong>e Beför<strong>der</strong>ungs- <strong>und</strong><br />
Fahrpläne für <strong>Schausteller</strong>transporte gab es nicht.<br />
Da bei <strong>der</strong> DR Güterzüge für den Export, die „Festtagsversorgung“<br />
<strong>und</strong> die Brikettfabriken oberste Priorität<br />
hatten, mussten ihnen alle an<strong>der</strong>en Transportaufgaben<br />
untergeordnet werden. Durch den chronischen<br />
Wagenmangel <strong>der</strong> DR wurden den <strong>Schausteller</strong>n<br />
häufig nur sehr alte Nie<strong>der</strong>bordwagen zur Verfügung<br />
gestellt. So geschah es öfters, dass beim Beo<strong>der</strong><br />
Entladen die morschen Waggonböden brachen.<br />
Wenn die <strong>Schausteller</strong> den Schaden nicht<br />
selbst reparieren konnten, mussten sie <strong>der</strong> Bahn die<br />
Reparatur teuer bezahlen. Die Eisenbahner investierten<br />
viel Zeit, um durch schnelle, aber nicht immer<br />
sachgerechte Reparaturen die Schadwagen<br />
zumindest einigermaßen wie<strong>der</strong> beladefähig zu<br />
machen. Da es Schnittholz <strong>und</strong> Bohlen kaum gab,<br />
konnten die Schadstellen oft nur mit Blechen notdürftig<br />
ausgebessert werden, wodurch die Be- o<strong>der</strong><br />
Entladung mit <strong>Schausteller</strong>gut immer zeitaufwändiger<br />
wurde. Im Laufe <strong>der</strong> Jahre nahm <strong>der</strong> Schadwagenbestand<br />
so enorm<br />
zu, dass sich die Reparaturkapazität<br />
<strong>der</strong><br />
Eisenbahn völlig erschöpfte.<br />
Der „Kampf<br />
um jeden Güterwagen“<br />
nahm dann zum<br />
Nachteil <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong><br />
abstruse Formen<br />
an. Durch häufige<br />
Umleitungen von<br />
Güterzügen auf Nebenbahnen<br />
wurden<br />
auf den eingleisigen<br />
Strecken mit marodem<br />
Oberbau <strong>und</strong><br />
vielen Langsamfahrstellen<br />
die Güterzüge<br />
in einer Richtung in so genannten Zugbündeln gefahren.<br />
Da die Strecken für die Güterzüge nicht ausreichten<br />
<strong>und</strong> die volkswirtschaftlich notwendigen Güter absoluten<br />
Vorrang hatten, standen die Züge mit <strong>Schausteller</strong>gut<br />
häufig am Ende <strong>der</strong> Warteliste. Hinzu kam,<br />
dass durch „wildes Rangieren“ <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>züge viele<br />
Schäden an den Fahrzeugen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ladung entstanden<br />
<strong>und</strong> auch häufig in die Wohnwagen eingebrochen<br />
wurde. Der Bahntransport wurde dadurch für<br />
die <strong>Schausteller</strong>betriebe allmählich zu einer kosten<strong>und</strong><br />
zeitintensiven Angelegenheit mit unkalkulierbarem<br />
Risiko. Deshalb setzten ab den sechziger Jahren<br />
immer mehr <strong>Schausteller</strong> auf den Lkw, mit dem die<br />
Bahn in punkto Schnelligkeit <strong>und</strong> Flexibilität nicht konkurrieren<br />
konnte.<br />
Auf dem gesamten Betriebsgelände <strong>der</strong> DR <strong>und</strong> dem<br />
Territorium <strong>der</strong> Neben- <strong>und</strong> Industriebahnen war das<br />
Fotografieren bis 1973 verboten. Die Einhaltung dieses<br />
Verbots wurde von <strong>der</strong> Transportpolizei (Trapo) mit<br />
Argusaugen überwacht. Deshalb findet man in den<br />
Alben <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> heute nur ganz selten Aufnahmen<br />
von den <strong>Schausteller</strong>son<strong>der</strong>zügen, die damals<br />
nur heimlich gemacht werden konnten.<br />
■<br />
LOGISTIK<br />
FOTOS<br />
Archiv Frischbier,<br />
Archiv Ludwig<br />
Pionier <strong>und</strong> Packwagen<br />
mit Seitenladung auf<br />
einem Son<strong>der</strong>zug um 1965<br />
Auch zur Steinacher<br />
Kirchweih reiste die <strong>Kirmes</strong><br />
damals oft mit <strong>der</strong> Bahn an<br />
QUELLE<br />
IHK <strong>und</strong> Reichsbahnamt<br />
des Bezirkes Rostock: Anleitung<br />
für die Verladung<br />
von <strong>Schausteller</strong>gut bei<br />
<strong>der</strong> Deutschen Reichsbahn<br />
Bahnverladung<br />
<strong>der</strong> Schlickerbahn von<br />
Horst Ludwig, um 1960<br />
47
LOGISTIK<br />
ZUGMASCHINEN<br />
Härtels Schaukel<br />
<strong>und</strong> Kin<strong>der</strong>karussell 1951<br />
auf dem Weg nach Ilmenau<br />
Hanomag-Zugmaschine<br />
<strong>der</strong> Familie Volklandt<br />
Helmut Vogel reiste<br />
viele Jahre mit einem Pionier<br />
FOTOS<br />
Archiv Lutze-Vogel, Achiv<br />
Kunze, Archiv Härtel<br />
Hanomag „SS 100“<br />
von Siegfried Kunze<br />
in den 1970er-Jahren<br />
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die<br />
<strong>Schausteller</strong> in <strong>der</strong> SBZ für den Transport ihrer Geschäfte<br />
<strong>und</strong> Wohnwagen größtenteils auf kollegiale<br />
o<strong>der</strong> fremde Hilfe angewiesen. Aufgr<strong>und</strong> kaputter<br />
o<strong>der</strong> zerstörter Zugmittel <strong>und</strong> streng rationierter Treibstoff-Kontingente<br />
konnten die <strong>Schausteller</strong> aus eigener<br />
Kraft entwe<strong>der</strong> gar nicht o<strong>der</strong> lediglich im engsten<br />
Umkreis reisen. Ab Juli 1945 wurden<br />
auf Befehl <strong>der</strong> Sowjetischen<br />
Militäradministration in allen größeren<br />
Orten <strong>der</strong> SBZ Fahrbereitschaften<br />
eingerichtet, die nur in<br />
Ausnahmefällen <strong>Schausteller</strong>transporte<br />
fahren durften. Nur wenige<br />
Traktoren <strong>und</strong> Zugmaschinen<br />
konnten rechtzeitig versteckt <strong>und</strong><br />
wie<strong>der</strong> aus ihren Verstecken geborgen<br />
werden. Deshalb wurde<br />
mit einfachsten Mitteln <strong>und</strong> handwerklichem<br />
Geschick versucht,<br />
aus brauchbaren Einzelteilen verschiedenster<br />
Nutzfahrzeuge irgendwie<br />
fahrbereite Vehikel zusammenzubauen.<br />
Ob die Motoren<br />
<strong>der</strong> selbstgebauten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong><br />
hergerichteten Gefährte mit Benzin,<br />
Diesel o<strong>der</strong> Holzgas angetrieben<br />
wurden, war völlig egal. Die<br />
Devise lautete damals: „Egal wie,<br />
Hauptsache das Fahrzeug fährt“.<br />
Die ab September 1946 ausgestellten<br />
Transporterlaubnisscheine<br />
waren auf einen Umkreis von 80 km<br />
beschränkt. Eine Überschreitung<br />
dieser Begrenzung war nur in Ausnahmefällen<br />
<strong>und</strong> mit Son<strong>der</strong>genehmigungen<br />
gestattet. Bei Transportkontrollen<br />
durch die Sowjetische<br />
Militäradministration mussten<br />
stets <strong>der</strong> Kraftfahrzeugschein, die Transportgenehmigung,<br />
<strong>der</strong> Führerschein, <strong>der</strong> Passagierschein, <strong>der</strong> Berechtigungsschein<br />
zur Kfz-Benutzung <strong>und</strong> die Steuerkarte<br />
vorgelegt werden. Wenn die Papiere nicht vollständig<br />
o<strong>der</strong> nicht korrekt waren, wurde die gesamte<br />
Fuhre beschlagnahmt. Außer den selbst zusammengebauten<br />
<strong>und</strong> meist nur wenige Kilometer funktionie-<br />
48
LOGISTIK<br />
Hanomag „SS 60 LN“<br />
von O. Liebold 1982<br />
Überholter Motor<br />
von O. Liebolds Hanomag<br />
renden Gefährten wurden in den Nachkriegsjahren die<br />
<strong>Schausteller</strong>transporte von Traktoren o<strong>der</strong> Zugmaschinen<br />
<strong>der</strong> Marken „Lanz“, „Hanomag“ <strong>und</strong> „Deutz“<br />
aus <strong>der</strong> Vorkriegsproduktion gezogen. Obwohl 1946<br />
die Produktion von Lastkraftwagen wie<strong>der</strong> anlief, vergingen<br />
aber noch einige Jahre, bis die <strong>Schausteller</strong><br />
mit staatlicher Genehmigung ausgemusterte, gebrauchte<br />
<strong>und</strong> größtenteils fast schrottreife Zugmaschinen<br />
erwerben konnten.<br />
Keine Neufahrzeuge für Privatbetriebe<br />
So blieb ihnen zunächst nichts an<strong>der</strong>es übrig, als mit<br />
hohem persönlichem Einsatz, technischen Kenntnissen<br />
<strong>und</strong> Fähigkeiten, viel Zeit <strong>und</strong> Geld aus ausgedienten<br />
Wracks von Traktoren <strong>und</strong> Lastkraftwagen aus<br />
eigener Kraft wie<strong>der</strong> zuverlässige Transportmittel anzufertigen.<br />
Nur auf diese Art bot sich ihnen die Chance,<br />
wie<strong>der</strong> unabhängig reisen zu können. In <strong>der</strong> später<br />
gegründeten <strong>DDR</strong> konnten sämtliche Privatunternehmer<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich keine Neufahrzeuge erwerben.<br />
Ihnen stand nur <strong>der</strong> Weg zu gebrauchten Fahrzeugen<br />
über die Vermittlungskontore für Maschinen- <strong>und</strong> Materialreserven<br />
in den einzelnen Bezirken offen, wo ab<br />
<strong>und</strong> zu verschlissene Nutzfahrzeuge <strong>der</strong> volkseigenen<br />
Industrie o<strong>der</strong> aus Polizei- <strong>und</strong> Armeebeständen zum<br />
Kauf angeboten wurden. Bevor jedoch ein <strong>Schausteller</strong><br />
eine Zugmaschine kaufen konnte, musste er, je<br />
nach Wohnort, einen Kaufantrag beim Rat des Kreises<br />
o<strong>der</strong> beim Rat des Bezirkes einreichen. Erst nachdem<br />
dieser Antrag genehmigt wurde, konnte er beim für ihn<br />
zuständigen Vermittlungskontor den Kauf einer Zugmaschine<br />
beantragen. Im Angebot <strong>der</strong> Kontore befanden<br />
sich nur selten brauchbare Zugmaschinen. In<br />
<strong>der</strong> Regel konnten nur Lastkraftwagen mit Speditionspritschen,<br />
Sattelzugmaschinen, Kipper o<strong>der</strong> Unfallwagen<br />
erworben werden. So vergingen oft viele Jahre,<br />
bis eine brauchbare Zugmaschine gekauft werden<br />
konnte, wodurch die Wartezeit je nach Fahrzeugtyp<br />
bis zu 12 Jahren betragen konnte. Nur in ganz seltenen<br />
Ausnahmefällen konnten die <strong>Schausteller</strong> nach<br />
kurzer Wartezeit eine Zugmaschine in Form von ausgemusterten<br />
Kippern o<strong>der</strong> Sattelzugmaschinen<br />
erwerben, die nach<br />
dem Kauf wie<strong>der</strong> hergerichtet <strong>und</strong><br />
umgebaut werden mussten.<br />
Traktoren<br />
FOTOS<br />
Archiv Liebold, Archiv<br />
Orschel<br />
Etwas einfacher war die Beschaffung<br />
eines gebrauchten Traktors,<br />
wodurch viele <strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
zunächt mit Traktoren ihre Geschäfte<br />
umsetzten. Von den in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> produzierten Traktoren war<br />
<strong>der</strong> erste gebaute Typ <strong>der</strong> „Pionier“,<br />
<strong>der</strong> zunächst als Radschlepper<br />
(RS) 01/40 <strong>und</strong> später als RS<br />
Der Radschlepper<br />
„RS 14/40 Famulus“<br />
49
LOGISTIK<br />
FOTOS<br />
Archiv Liebold, Archiv<br />
Kunze, Rolf Orschel<br />
Die Zugmaschinen<br />
„S 4000 Z“ waren bei<br />
den <strong>Schausteller</strong>n beliebt<br />
Reparatur am Straßenrand<br />
Hanomag „SS 100“<br />
vor den Transporten<br />
von Kunzes Flugschanze<br />
01/40-1 produziert wurde. Vom Typ RS 01/40 wurden<br />
von 1949 bis 1950 insgesamt 2.605 Exemplare vom<br />
VEB IFA Fahrzeugwerk Horch in Zwickau <strong>und</strong> von <strong>der</strong><br />
Baureihe RS 01/40-1 von 1950 bis 1956 noch einmal<br />
20.123 Stück vom VEB IFA Schlepperwerk in Nordhausen<br />
gebaut (IFA wurde als offizielle Abkürzung für<br />
„Industrie-Verwaltung Fahrzeugbau“ verwendet). Der<br />
Name „Pionier“ stand sinnbildlich für „Wegbereiter“<br />
<strong>und</strong> wurde irrtümlicherweise häufig mit <strong>der</strong> 1948 gegründeten<br />
Kin<strong>der</strong>-Massenorganisation <strong>der</strong> „Jungen<br />
Pioniere“ in Verbindung gebracht. Der robuste Traktor<br />
wurde von einem Vierzylin<strong>der</strong>-Viertakt-Reihendieselmotor<br />
mit einem Hubraum von 5.020 ccm <strong>und</strong> einer<br />
Leistung von 40 PS angetrieben, 1953 wurde die Leistung<br />
des Motors auf 42 PS gesteigert, mit <strong>der</strong> dann<br />
eine Höchsgeschwindigkeit von knapp 18 km/h erreicht<br />
wurde. Der „Pionier“ wurde zum Standard-<br />
Schlepper <strong>der</strong> frühen <strong>DDR</strong>-Jahre <strong>und</strong> bewährte sich<br />
mehrere Jahrzehnte ausgezeichnet als <strong>Schausteller</strong>-<br />
Zugmaschine, weshalb einige <strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
diesem Radschlepper mitunter Jahrzehnte die Treue<br />
hielten. Neben dem „Pionier“ wurde von den <strong>Schausteller</strong>n<br />
auch <strong>der</strong> seit 1956 vom Schlepperwerk Nordhausen<br />
produzierte Traktor „Famulus“ verwendet, <strong>der</strong><br />
in den sechziger Jahren die Straßen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> eroberte<br />
<strong>und</strong> vom Volksm<strong>und</strong> „Pflaumenmus“ genannt wurde.<br />
Der zunächst als RS 14/30 „Favorit“ produzierte<br />
Schlepper hatte ein Zweigruppen-Getriebe mit 5 Vorwärtsgängen<br />
<strong>und</strong> einem Rückwärtsgang, eine gefe<strong>der</strong>te<br />
Vor<strong>der</strong>achse <strong>und</strong> eine Lenkbremse. Er wurde<br />
von einem Zweizylin<strong>der</strong>-Viertaktreihenmotor mit Lufto<strong>der</strong><br />
Wasserkühlung <strong>und</strong> einer Leistung von 30 PS angetrieben.<br />
Als Son<strong>der</strong>ausführung wurde <strong>der</strong> „Favorit“<br />
auch mit angetriebener Vor<strong>der</strong>achse angeboten.<br />
Durch Markenstreitigkeiten mit an<strong>der</strong>en Herstellern<br />
wurde die Bezeichnung später in „Famulus“ umgewandelt.<br />
Eine versuchsweise Leistungssteigerung des<br />
Motors durch Aufbohren <strong>der</strong> Zylin<strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Erhöhung<br />
<strong>der</strong> Drehzahl von 400 U/min auf 2000 U/min<br />
verkrafteten die Motoren auf Dauer nicht, da sie thermisch<br />
überfor<strong>der</strong>t waren. Durch die schrittweise Weiterentwicklung<br />
des Motors konnte die Leistung<br />
schließlich auf 40 PS gesteigert werden, wodurch die<br />
Höchstgeschwindigkeit circa 23 km/h betrug. Mit dem<br />
leistungsgesteigerten Motor wurde <strong>der</strong> Traktor „Famu-<br />
50
LOGISTIK<br />
Skoda-Liaz „MTS“ <strong>der</strong><br />
Firma Meyer aus Güterfelde<br />
lus 40“ <strong>und</strong> 1964 – durch die neuen Typencodes <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> – in „RT 315“ umbenannt, von dem von 1964 bis<br />
1965 4.569 Stück gebaut wurden. Tschechische Traktoren<br />
des Typs „Zetor“ waren in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nur selten anzutreffen<br />
<strong>und</strong> konnten wegen ihrer<br />
geringen Einfuhrzahlen nur vereinzelt<br />
von den <strong>Schausteller</strong>n erworben<br />
werden. Die wendigen <strong>und</strong> solide<br />
gebauten Traktoren fielen im<br />
Straßenbild <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> allein durch<br />
ihre auffällige Farbgebung auf <strong>und</strong><br />
bewährten sich bestens. Mit einem<br />
42 PS starken Dieselmotor mit Direkteinspritzung<br />
in den Kolbenbrennraum<br />
war <strong>der</strong> „Zetor“ bestens<br />
motorisiert. Das Getriebe besaß<br />
fünf Gänge <strong>und</strong> wurde später<br />
mit einem Kriechgang ausgestattet.<br />
Im Vergleich zu den in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
hergestellten Traktoren machte die Zetor-Kabine<br />
durch ihre reichliche Verglasung <strong>und</strong> das verhältnismäßig<br />
gut ausgestattete Armaturenbrett einen recht<br />
mo<strong>der</strong>nen Eindruck. Ab 1961 konnte <strong>der</strong> tschechische<br />
FOTOS<br />
Archiv Herrmann, Archiv<br />
Kunze, Rolf Orschel<br />
IFA W 50 Z<br />
von Klaus Herrmann<br />
Skoda „RT“ <strong>und</strong><br />
Skoda „MTS“ <strong>der</strong> Firma<br />
Kunze in den 1980er-Jahren<br />
51
LOGISTIK<br />
W 50-Zugmaschinen<br />
von Kuno <strong>und</strong> Ralf Plaenert<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Hersteller die Leistung des Motors<br />
auf 50 PS steigern, wodurch die mit<br />
diesem Motor ausgestatteten Exemplare<br />
als „Zetor 50 Super“ angeboten<br />
wurden. Neu war auch<br />
eine Druckluftbremsanlage, durch<br />
die sich <strong>der</strong> „Zetor“ ideal als Zugmaschine<br />
eignete. Die Höchstgeschwindigkeit<br />
dieser Variante betrug<br />
etwa 30 km/h.<br />
Skoda RT mit<br />
Werkstattaufbau<br />
Jelcz-Zugmaschine<br />
vom VEB Zentralzirkus<br />
Lastkraftwagen<br />
Neben den noch fahrbereiten<br />
Lastkraftwagen <strong>der</strong> Vorkriegsjahre<br />
wurden gegen Ende <strong>der</strong> 1950er-Jahre wendige Zugmaschinen<br />
mit kurzem Radstand immer populärer.<br />
Kurz nach dem Krieg stellte das Horch-Fahrzeugwerk<br />
in Zwickau bereits einen Kurzhauben-Lkw <strong>der</strong> 3-Tonnen-Klasse<br />
aus noch vorhandenen <strong>und</strong> neu angefertigten<br />
Einzelteilen her, <strong>der</strong> von Maybach-Benzinmotoren,<br />
die für Halbketten-Zugmaschinen <strong>der</strong> Wehrmacht<br />
entwickelt wurden, angetrieben wurde. Das ab 1950<br />
hergestellte Nachfolgemodell H 3 A hatte einen 80 PS<br />
starken Vierzylin<strong>der</strong>-Reihen-Dieselmotor aus eigener<br />
Produktion. Im Gegensatz zu <strong>der</strong> in großen Stückzahlen<br />
gebauten <strong>und</strong> hauptsächlich als Pritschenwagen<br />
o<strong>der</strong> mit vielen <strong>Spezial</strong>aufbauten produzierten H 3 A-<br />
Standardvariante wurden von <strong>der</strong> Zugmaschine H 3 Z<br />
verhältnismäßig wenige Exemplare hergestellt. Mit<br />
dem 80 PS starken Vierzylin<strong>der</strong>-Wirbelkammer-Dieselmotor<br />
ausgestattet, waren diese Zugmaschinen hoffnungslos<br />
untermotorisiert <strong>und</strong> praktisch nicht geeignet,<br />
zwei lange <strong>und</strong> schwere Packwagen zu ziehen (in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> wurden nach Möglichkeit stets mit zwei Anhängern<br />
umgesetzt, um Dieselkraftstoff einzusparen).<br />
Durch den schwachen Motor musste vor steilen o<strong>der</strong><br />
langen Anstiegen stets ein Hänger abgehängt werden.<br />
An einer verbesserten <strong>und</strong> leistungsstärkeren Variante<br />
des H 3 A arbeitete das Horch-Fahrzeugwerk<br />
bereits seit 1952, die Realisierung scheiterte aber damals<br />
schon an den Hürden <strong>der</strong> sozialistischen Wirtschaftspolitik.<br />
Erst sechs Jahre später konnten die an-<br />
52
LOGISTIK<br />
Der MAS von K. Welte<br />
hatte 300 PS <strong>und</strong> war<br />
eine <strong>der</strong> stärksten<br />
Zugmaschinen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Verschiedene H 3 A<br />
<strong>und</strong> S 4000 Varianten<br />
gestrebte Erhöhung <strong>der</strong> Nutzlast auf 4 Tonnen <strong>und</strong> die<br />
notwendige Leistungssteigerung des Motors schrittweise<br />
in Angriff genommen werden. Der Viertonner,<br />
<strong>der</strong> im Frühjahr 1958 endlich vom Band lief, hieß S<br />
4000 (Sachsenring-Viertonner). Im Herbst lief die verbesserte<br />
Variante S 4000-1 vom Band, bei <strong>der</strong> die Leistung<br />
des 6-Liter-Motors von 80 auf 90 PS gesteigert<br />
werden konnte. Die 90 PS starke Zugmaschine erreichte<br />
solo eine Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h<br />
<strong>und</strong> hatte eine zulässige Anhängelast von 14,4 Tonnen.<br />
Der Radstand betrug 2.500 mm.<br />
Im Jahr 1959 erfolgte die Verlagerung <strong>der</strong> LKW-Produktion<br />
in den 15 km entfernten VEB Lokomotiv- <strong>und</strong><br />
Waggonbau Werdau. Ab Februar 1960 lief dort <strong>der</strong> erste<br />
S 4000-1 vom Band. Bis 1967 wurden von diesen<br />
Lastkraftwagen, die bis gegen Ende <strong>der</strong> sechziger<br />
Jahre das Straßenbild dominierten, 57.764 Stück in unzähligen<br />
Aufbauvarianten gebaut. Neben den weit verbreiteten<br />
Zugmaschinen <strong>der</strong> Viertonnenklasse fuhren<br />
einige <strong>Schausteller</strong> den größeren Sechseinhalbtonner-<br />
Haubenlaster H 6, <strong>der</strong> seit 1951 in Werdau in Serie gebaut<br />
wurde. Der Betrieb erhielt 1952 den Ehrennamen<br />
VEB Kraftfahrzeugwerk „Ernst Grube“, Werdau. Fehlende<br />
Investitionsmittel verhin<strong>der</strong>ten lange den vorgesehenen<br />
Produktionsanlauf <strong>der</strong> dringend benötigten<br />
Sechstonner. Deshalb übernahm die Zentrale Entwicklungsstelle<br />
des <strong>DDR</strong>-Fahrzeugbaus, das Forschungs<strong>und</strong><br />
Entwicklungswerk Chemnitz (FEW), die konstruktive<br />
Fertigstellung, Erprobung <strong>und</strong> Überführung des<br />
H 6 in die Serienproduktion. Während das Horch-Werk<br />
in Zwickau die Motoren lieferte, kamen die Getriebe<br />
aus dem IFA Getriebewerk Liebertwolkwitz. Der<br />
Sechstonner sah dem S 4000 sehr ähnlich, hatte aber<br />
eine längere Haube, um den Sechszylin<strong>der</strong>-Reihen-<br />
Dieselmotor darunter unterzubringen. Das FEW in<br />
Chemnitz konnte bereits 1953 den Prototyp einer Zugmaschine<br />
auf Basis des H 6<br />
herstellen, <strong>der</strong> Serienstart <strong>der</strong><br />
Z 6 musste aber noch einige<br />
Zeit verschoben werden. Da<br />
<strong>der</strong> Bedarf sprunghaft anstieg,<br />
wurde 1955 <strong>der</strong> Serienstart <strong>der</strong><br />
Z 6 „von oben“ angeordnet. Bei<br />
diesem Modell handelte es<br />
sich im Wesentlichen um einen<br />
H 6 mit verkürztem Radstand.<br />
Der Sechszylin<strong>der</strong>-Wirbelkammer-Dieselmotor<br />
hatte einen<br />
Hubraum von 9.036 ccm <strong>und</strong><br />
leistete 120 PS, ab 1959 konnte<br />
die Leistung auf 150 PS gesteigert<br />
werden. Das Fünfgang-Getriebe<br />
war ab 1959<br />
synchronisiert, die Höchstgeschwindigkeit<br />
betrug 50 km/h.<br />
Die Z 6 war für eine Anhängerlast<br />
von 16 Tonnen zugelassen.<br />
Insgesamt wurden von diesem<br />
Typ 7.376 Fahrzeuge gebaut.<br />
Obwohl sich die Zugmaschine<br />
mit dem 150 PS starken Motor<br />
bestens für die <strong>Schausteller</strong><br />
eignete, war sie seltener als<br />
<strong>der</strong> S 4000 verbreitet. Viele<br />
<strong>Schausteller</strong> kamen mit <strong>der</strong><br />
schwergängigen Lenkung, die<br />
ein zupackendes Wesen erfor<strong>der</strong>te,<br />
nicht zurecht <strong>und</strong> hatten<br />
Schwierigkeiten, trotz des<br />
großen Lenkraddurchmessers<br />
von 550 mm, ihre Wagen auf<br />
die vorgesehenen Standplätze<br />
53
LOGISTIK<br />
Skoda MTS<br />
<strong>der</strong> Firma Steffen<br />
FOTOS<br />
Archiv Conrad, Rolf Orschel<br />
Transporte von Conrads<br />
Walzerfahrt mit Hanomag <strong>und</strong><br />
einem S 4000-Bautruppwagen<br />
zu rangieren. Obgleich <strong>der</strong> H 6 schneller vom Straßenbild<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> verschwand als an<strong>der</strong>e Lastkraftwagen<br />
<strong>und</strong> auf den ersten Blick ein Nutzfahrzeug ohne eigene<br />
Identität war, lässt er heute noch die Herzen von<br />
Liebhabern von <strong>DDR</strong>-Lastkraftwagen, speziell durch<br />
seinen kernig-markanten Eindruck, ganz beson<strong>der</strong>s<br />
hoch schlagen.<br />
Der G 5 (Grube-5-Tonner), ein Allrad-Dreiachser, wurde<br />
hauptsächlich für den militärischen Einsatz entwickelt.<br />
Die Konstruktion stammte vom Entwicklungsbüro<br />
<strong>der</strong> Nationalen Volksarmee (NVA) in Hohenstein-<br />
Ernstthal. Sie basierte auf Teilen des H 6-Lastwagens,<br />
von dem auch <strong>der</strong> 120 PS starke Motor eingebaut wurde.<br />
In Ermangelung geeigneter Alternativen im Bereich<br />
schwerer, geländetauglicher Fahrzeuge wurde<br />
<strong>der</strong> G 5 zum Allro<strong>und</strong>-Allradfahrzeug <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Produktion<br />
<strong>und</strong> auch im zivilen Bereich verwendet. Der<br />
Dreiachser mit Zwillingsbereifung an den Hinterachsen<br />
<strong>und</strong> zuschaltbarem Allradantrieb wurde von 1952<br />
bis 1964 in Werdau gebaut. Als konstruktive Schwäche<br />
dieses Fahrzeugs stellte sich die Zwillingsbereifung<br />
an den Hinterrä<strong>der</strong>n, die durch die relativ kleinen<br />
Rä<strong>der</strong> mit 20 Zoll Bereifung<br />
bedingte geringe Bodenfreiheit<br />
<strong>und</strong> die fehlende Differentialsperre<br />
heraus. Als <strong>Schausteller</strong>-Zugmaschine<br />
spielte<br />
<strong>der</strong> G 5 allerdings kaum eine<br />
Rolle. Zu den wenigen <strong>Schausteller</strong>betrieben,<br />
die diesen<br />
Lastkraftwagen nutzten, gehörte<br />
die Familie Sendler aus<br />
Potsdam, die ihre Geisterbahn<br />
mit zwei dieser Zugmaschinen<br />
transportierte, nachdem die<br />
Fahrzeuge entsprechend umgebaut<br />
wurden. Dabei kürzte<br />
man an einem Fahrzeug den<br />
Rahmen <strong>und</strong> die Ladepritsche<br />
hinter <strong>der</strong> dritten Achse. Die<br />
zweite Zugmaschine wurde komplett neu aufgebaut.<br />
Außer Familie Sendler besaß noch die Firma Franke einen<br />
G 5 für ihre Transporte.<br />
Der Frontlenker W 50<br />
Auf <strong>der</strong> Landwirtschaftsausstellung in Markkleeberg<br />
bei Leipzig stellte im Juni 1962 das Kraftfahrzeugwerk<br />
Werdau mit dem ersten Funktionsmuster den Urvater<br />
des später erfolgreichen Frontlenkers W 50 vor. Bei<br />
diesem Lastkraftwagen handelte es sich um eine<br />
heimliche, weil nicht vom Staat genehmigte Fahrzeugentwicklung,<br />
die später über Nacht zu einem Politikum<br />
wurde, da die Regierung einen neuen Lastkraftwagen<br />
for<strong>der</strong>te, den die Fahrzeugindustrie durch<br />
die heimliche Entwicklung unverzüglich vorführen<br />
konnte. Anschließend wurde auf Beschluss <strong>der</strong> Regierung<br />
in einem für die <strong>DDR</strong> beispiellosen Kraftakt ab<br />
April 1963 in Ludwigsfelde ein neues Lastkraftwagenwerk<br />
für den Frontlenker aus dem Boden gestampft.<br />
Der Investitionsaufwand für das Werk mit dem damaligen<br />
aktuellsten technischem Standard betrug stolze<br />
54
LOGISTIK<br />
Zugmaschinen mit<br />
Ladekran, wie diese Z 6 von<br />
O. Liebold, waren eine Rarität<br />
200 Millionen Mark. Mit dem Serienstart des W 50 wurde<br />
aus dem Industriewerk Ludwigsfelde (IWL), in dem<br />
ab 1952 unter an<strong>der</strong>em Schiffsdieselmotoren, Diesel-<br />
Ameisen, Landmaschinen <strong>und</strong> Motorroller produziert<br />
wurden, <strong>der</strong> VEB IFA-Automobilwerke Ludwigsfelde.<br />
In dreieinhalb Jahrzehnten rollten circa 570.000 Exemplare<br />
des W 50 mit vielfältigen Aufbauvarianten aus<br />
den Montagehallen. Der Vierzylin<strong>der</strong>-Dieselmotor mit<br />
einer Leistung von 110 PS war praktisch eine Weiterentwicklung<br />
des aus dem S 4000 bekannten Motors.<br />
1967 erfolgte die Umstellung auf das Direkteinspritzverfahren<br />
mit Mittelkugelbrennkammern nach einer Lizenz<br />
von MAN, womit die Leistung auf 125 PS gesteigert<br />
werden konnte. Die Zugmaschine W 50 Z hatte<br />
keinen kürzeren Radstand, da das Gr<strong>und</strong>modell mit<br />
dem gleichen Achsabstand schon ziemlich kurz gebaut<br />
wurde <strong>und</strong> dadurch sehr wendig war. Die Höchstgeschwindigkeit<br />
betrug 75 km/h. Der W 50 Z besaß in<br />
<strong>der</strong> Regel eine Pritsche mit Ballastgewichten von einer<br />
Tonne, die von einigen <strong>Schausteller</strong>n entfernt <strong>und</strong> gegen<br />
einen Kofferaufbau mit einem Bad o<strong>der</strong> einer<br />
Werkstatt ausgetauscht wurde. Der W 50 zeichnete<br />
sich durch seine einfache <strong>und</strong> sehr robuste Bauweise<br />
aus, durch die man sich auch von den Haubenlastern<br />
verabschiedete. Er war ein beliebter <strong>und</strong> zuverlässiger<br />
Lastesel, <strong>der</strong> im Vergleich zu seinen Vorgängern<br />
wesentlich mehr Komfort bot.<br />
für Autokräne, selbstfahrende Landwirtschaftsmaschinen,<br />
Baufahrzeuge <strong>und</strong> Lokomotiven hergestellt wurde.<br />
Der Schwerpunkt dieses Dieselmotorenwerkes lag<br />
bei <strong>der</strong> Entwicklung <strong>und</strong> Fertigung von Großdieselmotoren.<br />
Unter „Schönebecker-Motor“ verstand man allgemein<br />
einen Sechszylin<strong>der</strong>-Reihenmotor für Lastkraftwagen.<br />
Dieser Motor arbeitete nach dem patentierten<br />
MAN Meurer-Verfahren (Direkteinspritzung mit<br />
Mitten-Kugelbrennkammern) <strong>und</strong> leistete 190 PS.<br />
Nachdem die ersten „Schönebecker“ in H 6-Lastkraftwagen<br />
eingepflanzt wurden, brach eine regelrechte<br />
Epidemie über die verbliebenen <strong>und</strong> noch einsatzbereiten<br />
Fahrzeuge dieses Typs aus. In Kraftfahrer-Kreisen<br />
schwärmte man geradezu euphorisch von diesem<br />
Motor, durch den man nun flott unterwegs war. Der für<br />
FOTOS<br />
Archiv Liebold<br />
Fahrerhauswechsel auf<br />
dem Hof von Familie Liebold<br />
Der Schönebecker-Motor<br />
In den sechziger Jahren reichte die Motorleistung von<br />
150 PS oft nicht mehr, um mit den häufig überladenen<br />
Lastzügen zügig voran zu kommen. Abhilfe schaffte<br />
ein vom VEB Dieselmotorenwerk Schönebeck entwickelter<br />
Bausatzmotor, <strong>der</strong> mit drei bis zwölf Zylin<strong>der</strong>n<br />
55
LOGISTIK<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Jelcz <strong>und</strong> Skoda MTS<br />
mit Spoiler <strong>und</strong> Kuhfänger<br />
Skoda MTS von<br />
Schieck <strong>und</strong> Aschenbach<br />
<strong>DDR</strong>-Verhältnisse bullige Motor wurde auch von<br />
<strong>Schausteller</strong>n in ihre Z 6 <strong>und</strong> in W 50-Zugmaschinen<br />
eingebaut. Diese Zugmaschinen zählten damals neben<br />
den PS-stärkeren Import-Lastkraftwagen zu den<br />
Giganten <strong>der</strong> Straßen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>.<br />
Nachdem die Ersatzteilversorgung für den unter den<br />
<strong>Schausteller</strong>n weit verbreiteten S 4000 immer schwieriger<br />
wurde, bauten viele <strong>Schausteller</strong> die Hinterachse<br />
<strong>und</strong> den Motor vom W 50 in ihre betagten Zugmaschinen<br />
ein, drosselten aber<br />
nicht die Motorleistung wie<br />
vorgeschrieben auf 90 PS.<br />
Die Technik <strong>der</strong> teilweise fast<br />
30 Jahre alten Zugmaschinen<br />
war dem stärkeren Motor<br />
aber nicht gewachsen. Dadurch<br />
kam es häufig zu Rahmenrissen<br />
<strong>und</strong> zu Brüchen<br />
<strong>der</strong> Steckachsen. Außerdem<br />
hielt die Kupplung nicht lange,<br />
weshalb beim Austausch<br />
häufig H 6-Kupplungen eingebaut<br />
wurden. Neben <strong>der</strong><br />
Kupplung musste oft auch<br />
noch das Differentialgetriebe<br />
gewechselt werden, da es<br />
<strong>der</strong> höheren Belastung nicht<br />
standhielt.<br />
Sieben Jahre nach dem Serienstart<br />
des H 6 musste <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>-Lastkraftwagenbau diese<br />
Tonnageklasse aus seinem<br />
Entwicklungsprogramm<br />
streichen. Als fadenscheiniger<br />
Gr<strong>und</strong> wurde ein Beschluss<br />
<strong>der</strong> RGW-Staaten<br />
(Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe),<br />
<strong>der</strong> für den Lastkraftwagenbau<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
nur noch geringere Nutzlasten<br />
vorsah, angegeben. Hauptursache für diese folgenschwere<br />
Entscheidung war allerdings das Unvermögen<br />
des Staates, ein perfekt funktionierendes Wirtschaftssystem<br />
aufzubauen. Man war an einem Punkt<br />
angekommen, wo man sich zwischen dem volkswirtschaftlich<br />
wichtigeren Schwerlastwagenbau <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
ausbleibenden Versorgung <strong>der</strong> Bevölkerung mit<br />
Konsumgütern entscheiden musste. Die Ereignisse<br />
nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 ließen dem<br />
SED-Regime keine an<strong>der</strong>e Wahl, womit die Chance<br />
des Weiterbestehens des erfolgsversprechenden<br />
Schwerlastwagenbaus für immer vertan war. Man war<br />
somit gezwungen, entsprechende Transportmittel aus<br />
den sozialistischen Bru<strong>der</strong>län<strong>der</strong>n zu importieren.<br />
Importierte Lastkraftwagen<br />
Durch diesen beschlossenen Zwang konnten später<br />
auch die <strong>Schausteller</strong> importierte Zugmaschinen erwerben,<br />
nachdem ihre Nutzungsdauer bei den staatlichen<br />
Fuhrunternehmen abgelaufen war. Von den eingeführten<br />
Lastkraftwagen waren bei den <strong>Schausteller</strong>n<br />
beson<strong>der</strong>s die tschechischen LKW-Typen Skoda,<br />
die in Jablonec produziert wurden, <strong>und</strong> Liaz, die in Liberec<br />
vom Band liefen, sowie <strong>der</strong> russische Typ MAS,<br />
<strong>der</strong> in Minsk hergestellt wurde, beliebt <strong>und</strong> mitunter<br />
zahlreich vertreten. Eingeführt wurde auch die polnische<br />
Marke Jelcz, die in Jelczanskie Zaklady Samochodowe<br />
gebaut wurde. Dieser Typ wurde hauptsächlich<br />
vom VEB Zentralzirkus <strong>und</strong> nur vereinzelt von<br />
<strong>Schausteller</strong>betrieben als Transportmittel verwendet.<br />
Der aus Ungarn importierte Csepel spielte als Zugmaschine<br />
bei den <strong>Schausteller</strong>n so gut wie keine Rolle.<br />
In den achtziger Jahren verwendeten einige <strong>Schausteller</strong><br />
auch den Lastkraftwagentyp Roman, eine rumänische<br />
MAN-Lizenproduktion, die in <strong>der</strong> LKW-Fabrik in<br />
Brasov vom den Bän<strong>der</strong>n lief. Da diese Zugmaschinen<br />
mit 215 PS durchaus zugkräftig waren, aber durch<br />
häufige Defekte oft liegen blieben <strong>und</strong> wegen fehlen<strong>der</strong><br />
Ersatzteile häufig längere Zeit ausfielen, sah man<br />
56
LOGISTIK<br />
FOTOS<br />
Archiv Heinz Meyer, Rolf<br />
Orschel<br />
G 5-II <strong>der</strong> Firma Sendler<br />
sie nur vereinzelt vor <strong>Schausteller</strong>transporten. Während<br />
<strong>Schausteller</strong>betriebe, die mit kleinen Geschäften<br />
reisten, hauptsächlich S 4000- o<strong>der</strong> W 50-Zugmaschinen<br />
bevorzugten, waren bei den Karussellbetrieben,<br />
aufgr<strong>und</strong> ihrer stärkeren Motoren, die Marken Skoda<br />
<strong>und</strong> Liaz sowie MAS sehr beliebt. Die „Russenkühe“,<br />
wie die MAS vom Volksm<strong>und</strong> genannt wurden, waren<br />
auch weit verbreitet, da sie von den Vermittlungskontoren<br />
in <strong>der</strong> Regel schnell geliefert werden konnten. Zu<br />
den stärksten <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nsten „Russenkühen“ zählte<br />
unter an<strong>der</strong>em <strong>der</strong> MAS von Karl Welte. Auf <strong>der</strong> Suche<br />
nach einem einsatzbereiten W 50 entdeckte er auf<br />
dem Hof des Kraftverkehrs in Parchim einen abgeschriebenen<br />
MAS, den er erst nach vielen, langen Verhandlungen<br />
kaufen konnte. Der in die Jahre gekommene<br />
Lastkraftwagen wurde anschließend generalüberholt<br />
<strong>und</strong> erhielt einen circa 300 PS starken Turbola<strong>der</strong>-Motor,<br />
<strong>der</strong> hauptsächlich in dem russischen<br />
Großtraktor K 700, einem regelrechten Monster mit Allradantrieb<br />
<strong>und</strong> Knicklenkung, für bärenstarken Antrieb<br />
sorgte. Da dieser Motor nur selten als Ersatzteil zur<br />
Verfügung stand, wurde in einer Kfz-Werkstatt im<br />
thüringischen Ilmenau ein Motor komplett aus Ersatzteilen<br />
zusammengebaut, Karl Welte musste aber vorher<br />
einen Motorblock besorgen. Nach dem Motorwechsel<br />
wurde noch ein neues Fahrerhaus montiert,<br />
das Karl Welte zufällig in Bitterfeld erwerben konnte.<br />
Da die MAS-Fahrerhäuser gr<strong>und</strong>sätzlich ohne Pedalbock<br />
geliefert <strong>und</strong> diese wichtigen Teile wie Gold gehandelt<br />
wurden, musste Karl Welte viele Klinken putzen,<br />
bis ihm von einer Werkstatt in Stendal ein Pedalbock<br />
als Muster zum Nachbau für einen Tag zur Verfügung<br />
gestellt wurde. Ein Magdeburger Feinmechaniker<br />
fertigte anschließend das dringend benötigte Teil<br />
mit großem Aufwand an. Nachdem das neue Fahrerhaus<br />
komplett war, musste es noch aufwändig angepasst<br />
werden, da es für ein an<strong>der</strong>es MAS-Fahrgestell<br />
vorgesehen war. Durch den leistungsstarken Dieselmotor<br />
mit Turbola<strong>der</strong> erhöhte sich <strong>der</strong> Kraftstoffverbrauch<br />
auf 40 bis 50 Liter pro 100 km. Nach dem Umbau<br />
zählte Weltes MAS neben den Lastkraftwagen <strong>der</strong><br />
Firmen Melcher <strong>und</strong> Fischer mit zu den besten <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nsten<br />
<strong>Schausteller</strong>-Zugmaschinen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>.<br />
Dieselmarken<br />
Das Tankstellennetz <strong>der</strong> Vorkriegszeit bildete in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> die Gr<strong>und</strong>lage des Versorgungsnetzes. Für den<br />
gewerblichen Kraftverkehr, zu dem die privaten Fuhrunternehmen<br />
<strong>und</strong> die volkseigenen Kraftverkehrsbetriebe<br />
zählten, regelten ab 1949 sogenannte Tankgutscheine<br />
den Bezug von Kraftstoffen. Diese Gutscheine<br />
wurden 1959 durch Tankkreditscheine abgelöst. Ab<br />
Juli 1975 wurden dann pro Quartal<br />
so genannte Dieselmarken zugewiesen,<br />
die zum Erwerb von<br />
Dieselkraftstoff an den Tankstellen<br />
des VEB Minol berechtigten. Diese<br />
Marken mussten von den<br />
<strong>Schausteller</strong>n bei <strong>der</strong> zuständigen<br />
Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer<br />
beantragt werden. Der Bedarf an<br />
Dieselkraftstoff wurde von den<br />
Behörden anhand <strong>der</strong> Reiserouten<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>betriebe berechnet,<br />
wobei Umleitungen <strong>und</strong> zusätzliche Transporte<br />
durch kollegiale Hilfe nie berücksichtigt wurden.<br />
Dadurch reichten die Dieselmarken meistens nur für<br />
ein paar Plätze.<br />
Gegen Vorlage <strong>der</strong> Marken konnte Dieselkraftstoff für<br />
55 Pfennige pro Liter getankt werden. Ohne Marken<br />
konnten ofiziell nur 20 Liter für 1,40 Mark pro Liter in<br />
Kannistern getankt werden. Die Dieselmarken wurden<br />
auf die Rückseite eines Tankscheines geklebt <strong>und</strong><br />
durch den Tankwart entwertet. Die Tankscheinhefte<br />
enthielten 50 Blätter <strong>und</strong> konnten beim VEB Minol-<br />
Tankscheinverkehr in Neustrelitz bestellt werden. Auf<br />
<strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>seite <strong>der</strong> Tankscheine standen Artikelnummern,<br />
die den verschiedenen Kraftstoffsorten zugeordnet<br />
wurden.<br />
■<br />
Transport des<br />
Skooters von Heinz Meyer<br />
QUELLE<br />
Christian Suhr / Ralf Weinreich:<br />
<strong>DDR</strong> Traktoren-Klassiker,<br />
Seiten 10-23, 68-75,<br />
Christian Suhr: Nutzfahrzeuge<br />
aus Werdau, Seiten<br />
268-365, Wolfgang Kohl:<br />
Güterkraftverkehr in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>, Seiten 249 - 300<br />
57
LOGISTIK<br />
WOHN- UND PACKWAGEN<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Der Wohnwagen<br />
von Gertrud Härtel wurde<br />
1938 in Thüringen gebaut<br />
Schindelwagen mit verblechter<br />
Außenbeplankung<br />
Die <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong> wohnten in <strong>der</strong> Regel neun<br />
Monate im Jahr in ihren rollenden Heimen. Die vor<br />
<strong>und</strong> nach dem Zweiten Weltkrieg gebauten Schindelwohnwagen<br />
unterschieden sich durch ihre Längen<br />
von 5 bis 12 Metern <strong>und</strong> in ihrer Ausstattung. Die Wagenkästen<br />
bestanden aus einem Stahlrahmen <strong>und</strong><br />
Eckverbindungen sowie einem fachwerkähnlichen<br />
Hartholz - Gerippe<br />
<strong>und</strong> aufgeschraubter<br />
Pitchpine-, Oregonpinie-<br />
o<strong>der</strong> Kiefer-Lattenverschalung.<br />
Die Wände<br />
<strong>und</strong> Decken <strong>der</strong><br />
Innenräume waren<br />
mit Sperrholz o<strong>der</strong><br />
Eternitplatten verschalt.<br />
Die Dächer<br />
waren entwe<strong>der</strong><br />
gleichmäßig o<strong>der</strong><br />
zu den Dachkanten<br />
hin stärker gebogen.<br />
Charakteristisch<br />
für die<br />
Schindelwohnwagen<br />
sind die an<br />
den Stirnseiten<br />
leicht überragenden<br />
Dächer mit geraden<br />
o<strong>der</strong> zu den<br />
Stirnseiten hin abger<strong>und</strong>eten<br />
Oberlichtkästen.<br />
Ihre<br />
gedrungene Form<br />
ergab sich aus<br />
dem Bahnprofil, das bei <strong>der</strong> Herstellung sämtlicher<br />
<strong>Schausteller</strong>- <strong>und</strong> Zirkuswagen eingehalten werden<br />
musste. Kurze Wohnwagen hatten meistens eine ausziehbare<br />
Veranda. Verbreitet war auch die Kombination<br />
aus Wohn- <strong>und</strong> Küchenwagen mit Zwischenveranda.<br />
Wohnküche <strong>und</strong> Schlafzimmer<br />
Nach dem Krieg waren die Wohnwagen größtenteils<br />
nur bescheiden eingerichtet. Die Tür befand sich an<br />
einer <strong>der</strong> beiden Stirnseiten <strong>und</strong> führte zur Wohnküche,<br />
die mit einem Herd <strong>und</strong> wenigen, einfachen<br />
Möbeln ausgestattet war. Auf dem Herd wurde gekocht<br />
<strong>und</strong> gleichzeitig das Wasser erwärmt. Der kleinere<br />
Schlafraum war durch eine Tür, häufig aber nur<br />
durch einen Vorhang von <strong>der</strong> Küche getrennt. Zum Inventar<br />
des Schlafraums gehörte neben einem Kasteno<strong>der</strong><br />
Etagenbett <strong>und</strong> einem Klei<strong>der</strong>schrank auch ein<br />
Eimer mit Deckel, auf dem die Notdurft verrichtet werden<br />
musste, wenn keine Toilette in <strong>der</strong> Nähe war. An<br />
fließendes Wasser war nicht zu denken, es musste in<br />
Kannen o<strong>der</strong> Eimern vom nächsten Brunnen geholt<br />
werden. Viele <strong>Schausteller</strong>frauen erinnern sich noch<br />
daran, dass es ihnen vor <strong>der</strong> Wäsche regelrecht graute.<br />
Ohne Waschmaschine <strong>und</strong> fließendes Wasser war<br />
das eine schwere Schufterei. Beson<strong>der</strong>s hart war das<br />
Leben im Wohnwagen zu den Weihnachtsmärkten.<br />
„Das war die schlimmste Zeit des Jahres. Da unsere<br />
Eltern kaum Geld für Kohlen hatten, war es häufig bitter<br />
kalt in unserem Wohnwagen. Am Morgen waren bei<br />
Minusgraden die Fensterscheiben von innen gefroren<br />
<strong>und</strong> es kostete stets viel Überwindung, das warme Bett<br />
zu verlassen“, erinnert sich die <strong>Schausteller</strong>in Kerstin<br />
Sachs an ihre Kindheit.<br />
58
LOGISTIK<br />
Schindelwagen mit<br />
Oberlicht von Kuno Plaenert<br />
Ab den 60er-Jahren än<strong>der</strong>ten sich das Bild <strong>und</strong> die<br />
Ausstattung <strong>der</strong> Wohnwagen gr<strong>und</strong>legend: Sie wurden<br />
länger <strong>und</strong> erhielten einen Seiteneingang, durch<br />
den eine völlig neue Raumaufteilung möglich war. Als<br />
einer <strong>der</strong> ersten <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong> ließ sich Lothar Liebold<br />
aus Taucha bei Leipzig 1960 einen Seiteneingang<br />
in seinen Wohnwagen einbauen. Da die Eingangstür<br />
aber höher als die Seitenwände des Wagenkastens<br />
war, drohte das Projekt zu scheitern. Einfach<br />
die Tür abzusägen, kam nicht in Frage, da man<br />
sich dadurch hätte zu sehr bücken müssen, um in den<br />
Wohnwagen zu gelangen. Nach gründlichen Überlegungen<br />
kam dann die zündende Idee: Man baute einfach<br />
eine Stufe hinter <strong>der</strong> Tür ein, womit das Problem<br />
auf elegante Art gelöst war. Mit dem nachträglichen<br />
Anbringen von großen Kellerkästen mussten die<br />
<strong>Schausteller</strong> ein weiteres Problem lösen. Da die Kellerkästen<br />
an den Unterseiten <strong>der</strong> Wagenböden befestigt<br />
wurden, bogen sich die Wagen schnell durch <strong>und</strong><br />
wurden dann von den Kollegen spöttisch „Hängebauchschweine“<br />
genannt. Durch die Montage<br />
von doppelten Hängewerken (Unterzügen o<strong>der</strong><br />
Sprengwerken) mit Spannriegeln, an denen die<br />
Kellerkästen auflagen, konnte schließlich das<br />
Durchbiegen <strong>der</strong> Wagenkästen verhin<strong>der</strong>t werden.<br />
Die in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gebräuchlichsten, 10 bis 12<br />
Meter langen <strong>und</strong> zwei- o<strong>der</strong> dreiachsigen Schindelwohnwagen<br />
mit o<strong>der</strong> ohne Oberlicht hatten<br />
zwar nur eine Gr<strong>und</strong>fläche von maximal 25 Quadratmetern,<br />
enthielten aber alles, was man auch<br />
in einer bequemen Wohnung vorfand: Fließendes<br />
Wasser, Strom, Wohn- <strong>und</strong> Schlafzimmer <strong>und</strong> eine<br />
Einbauküche sowie eingebaute Toiletten wurden<br />
nun allmählich Standard.<br />
Die <strong>Schausteller</strong> mussten auf Annehmlichkeiten<br />
wie Waschmaschine, Kühlschrank, Fernsehgerät,<br />
Polstergarnituren <strong>und</strong> stilvolle Möbel nun nicht<br />
mehr verzichten. Es war für die <strong>Schausteller</strong>frauen<br />
zwar etwas umständlich, in <strong>der</strong> kleinen Küche<br />
für die Familien <strong>und</strong> die Angestellten am Tag mehrmals<br />
das Essen zu zubereiten, doch sie gewöhnten sich<br />
schnell daran. Routiniert bereiteten sie pünktlich die<br />
Speisen zu o<strong>der</strong> hantierten geschickt mit Eimern <strong>und</strong><br />
Schüsseln bei <strong>der</strong> großen Wäsche. Die für die damalige<br />
Zeit gehobene Ausstattung <strong>der</strong> Wohnwagen, speziell<br />
<strong>der</strong> Einbau von Toiletten <strong>und</strong> die Installation von<br />
Wasser- <strong>und</strong> Abwasserleitungen, wurde von den älteren<br />
<strong>Schausteller</strong>n mit Skepsis beobachtet <strong>und</strong> konsequent<br />
abgelehnt, da sie befürchteten, dass sich durch<br />
die Installation von Wasserleitungen Staunässe bildet,<br />
die zu Schimmel- o<strong>der</strong> Schwammbildung führen würde,<br />
da Wasser als größter Feind <strong>der</strong> Schindelwohnwagen<br />
galt. Da die <strong>Schausteller</strong> alle paar Tage von<br />
Platz zu Platz zogen, waren die Frauen versierte Umzugsspezialisten<br />
<strong>und</strong> verstauten geschickt in kurzer<br />
Zeit ihren gesamten Hausrat. Zugeheiratete Frauen<br />
„von privat“ mussten diesbezüglich aber erst Erfahrungen<br />
sammeln.<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Packwagen mit<br />
Wohnabteil für Gehilfen<br />
Bewährte Bauart<br />
<strong>der</strong> Schindelwagen<br />
mit halbr<strong>und</strong>em Dach<br />
59
LOGISTIK<br />
Schindelwagen mit<br />
Doppel-Hinterachse von Pfaff<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Verblechter <strong>und</strong><br />
klassischer Schindelwagen<br />
Vergessene Schranktürhalter<br />
Die ehemalige kaufmännische Angestellte Traute Malfertheiner<br />
folgte ihrem Mann nach <strong>der</strong> Hochzeit in den<br />
<strong>Schausteller</strong>beruf. Sie erinnert sich heute noch mit<br />
Schrecken an ihre erste Fahrt im Wohnwagen: „Ich hatte<br />
alles sorgfältig weggepackt, sämtliche Schlüssel<br />
von den Schranktüren abgezogen <strong>und</strong> war <strong>der</strong> Meinung,<br />
da kann nichts passieren. Während <strong>der</strong> Fahrt<br />
holperte es plötzlich mächtig <strong>und</strong> die verschlossenen<br />
Schranktüren sprangen auf <strong>und</strong> beinahe wäre das<br />
ganze Geschirr herausgefallen. Mir blieb in meiner Not<br />
nichts an<strong>der</strong>es übrig, als mich auf den Fußboden zu<br />
setzen <strong>und</strong> mit Armen <strong>und</strong> Beinen die Schranktüren zu<br />
halten. Meine Nerven lagen blank <strong>und</strong> ich bekam einen<br />
Weinkrampf. Als mich mein Mann sah, lachte er<br />
laut <strong>und</strong> klärte mich auf – ich hatte vergessen, die<br />
Schranktürhalter zu befestigen, die dieses Missgeschick<br />
verhin<strong>der</strong>t hätten.“<br />
Eine gr<strong>und</strong>legende Verbesserung des Lebensstandards<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> begann in den 70er-Jahren, als<br />
die ersten Duschen <strong>und</strong> Bä<strong>der</strong> sowie Zerhacker-Toiletten<br />
in die Wohnwagen eingebaut wurden. Einige<br />
<strong>Schausteller</strong> ließen sich auch ausziehbare Erker in ihre<br />
Schindelwagen einbauen, um somit die Wohnfläche<br />
zu vergrößern. Erhard Mentel aus Leipzig war einer <strong>der</strong><br />
ersten <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong>, die mit einem so genannten<br />
„Erker-Wagen“ ganz neue Akzente setzten. Geheizt<br />
wurde damals noch mit Heizsonnen, Bahnheizkörpern<br />
o<strong>der</strong> tschechischen Heizlüftern. In den folgenden Jahren<br />
wurden diese Heizquellen zunehmend von Ölradiatoren,<br />
die aus dem Intershop beschafft wurden, ersetzt<br />
(Intershop war eine im Dezember 1962 gegründete<br />
Handelsorganisation mit begrenztem Warenangebot<br />
aus Westdeutschland. Die Bürger <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
konnten ab 1974 in diesen Läden Nahrungs- <strong>und</strong> Genussmittel,<br />
technische Geräte, Tonträger <strong>und</strong> vieles<br />
mehr gegen konvertierbare Währungen kaufen). Mitunter<br />
wurden gleich mehrere Ölradiatoren in jedem<br />
Raum aufgestellt, wodurch im gesamten Wohnwagen<br />
behagliche Temperaturen herrschten. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
vielen elektrischen Haushaltsgeräte <strong>und</strong> des Einbaus<br />
von bis zu sechs Radiatoren in den Wohnwagen kam<br />
es vor, dass die rollenden Heime <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> einen<br />
wesentlich höheren Anschlusswert als die Fahrgeschäfte<br />
hatten. Für fließend Warmwasser für die Duschen<br />
o<strong>der</strong> Bä<strong>der</strong> wurden zunächst 5 l Warmwasserboiler<br />
aus <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Produktion installiert. In den 80er-<br />
Jahren boomte dann <strong>der</strong> Einbau von Durchlauferhitzern<br />
<strong>der</strong> Marke „Stiebel Eltron“, die ebenfalls in den Intershops<br />
erworben wurden. Neu war auch, dass die<br />
Außenwände einiger Schindelwagen verblecht wurden.<br />
Da die Holzverschalung regelmäßige <strong>und</strong> aufwändige<br />
Pflege erfor<strong>der</strong>t, wurden Aluminium-Bleche<br />
auf <strong>der</strong> Holzverschalung angebracht. Außerdem kamen<br />
auch Zierleisten, häufig in Doppelreihe unter den<br />
Fenstern angeschraubt, in Mode. Die Fläche zwischen<br />
60
den Zierleisten wurde oft in den Farben <strong>der</strong> Eisenrahmen<br />
<strong>der</strong> Wagenkästen des <strong>Schausteller</strong>betriebes<br />
lackiert. Da die in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> erhältlichen kleinen Campingwagen<br />
schlechte Fahreigenschaften <strong>und</strong> nur einfachsten<br />
Komfort boten, waren sie für die <strong>Schausteller</strong><br />
nur bedingt geeignet. Nur selten wurden deshalb<br />
„Campings“ des Typs „Bastei“ als Kin<strong>der</strong>- o<strong>der</strong> als so<br />
genannte „Leutewagen“ für die Mitarbeiter angeschafft.<br />
Einige <strong>Schausteller</strong> bauten sich im Laufe <strong>der</strong><br />
Zeit mo<strong>der</strong>ne Wohnwagen in raumgewinnen<strong>der</strong> Containerform<br />
<strong>und</strong> mit ausziehbaren Erkern, durch die sich<br />
völlig neue Möglichkeiten <strong>der</strong> Raumaufteilung ergaben,<br />
wodurch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>riss dem einer stationären<br />
Wohnung ähnelte. Einer <strong>der</strong> Begabtesten auf diesem<br />
Gebiet war <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> Günter Topf aus Erfurt. Er<br />
hatte „goldene Hände“, war technisch sehr versiert<br />
<strong>und</strong> baute seit den sechziger Jahren Erker in Schindelwagen<br />
ein. Anschließend begann er mit dem kompletten<br />
Eigenbau von mo<strong>der</strong>nen Wohnwagen. Auf einem<br />
eigens zu diesem Zweck angefertigten Unterwagen<br />
baute er zunächst einen Wohnwagen mit drei Erkern,<br />
die nachfolgenden Versionen wurden dann mit<br />
vier Erkern versehen.<br />
Die mo<strong>der</strong>n <strong>und</strong> komfortabel eingerichteten Wagen<br />
von Günter Topf waren gut isoliert, mit einem Bad <strong>und</strong><br />
einer Zerhacker-Toilette sowie praktischen Einbaumöbeln<br />
ausgestattet. Günter Topf half<br />
auch beim Bau <strong>der</strong> Wohnwagen<br />
seiner Töchter, die von den<br />
Schwiegersöhnen nach seinen<br />
Plänen <strong>und</strong> Ideen angefertigt<br />
wurden. Außerdem baute er noch<br />
mehrere Mannschafts- <strong>und</strong> Packwagen.<br />
Angeregt durch Fotos <strong>und</strong> Prospekte<br />
von mo<strong>der</strong>nen westdeutschen<br />
Wohnwagen, ließen sich in<br />
den achtziger Jahren die <strong>Schausteller</strong><br />
Wolfgang Sendler <strong>und</strong> Ralf<br />
Plaenert von <strong>der</strong> Stahlbaufirma<br />
Brand in Rostock mo<strong>der</strong>ne Wohnwagen<br />
auf speziell angefertigten,<br />
dreiachsigen Unterwagen bauen.<br />
Der Wagen von Ralf Plaenert wurde<br />
gegen Ende des Jahres 1988<br />
fertiggestellt. Durch die vier Erker<br />
ergibt sich insgesamt eine Wohnfläche<br />
von fast 40 Quadratmetern.<br />
Hinter <strong>der</strong> Tür, die auf <strong>der</strong> rechten<br />
Seite eingebaut ist, befindet sich<br />
<strong>der</strong> Flur, von dem man in das Bad<br />
im Heck des Wagens, in die Küche<br />
<strong>und</strong> das geräumige Wohnzimmer<br />
mit zwei Erkern gelangt. Das Schlafzimmer befindet<br />
sich im Bugerker <strong>und</strong> ist durch eine Tür in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong><br />
Schmalseite des Wohnzimmers begehbar. Im Herbst<br />
1989, kurz vor <strong>der</strong> Wende in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, konnte auch die<br />
<strong>Schausteller</strong>familie Lorenz aus Berlin in ihren neuen<br />
Wohnwagen in Containerform einziehen, <strong>der</strong> überwiegend<br />
in Eigenregie entstand <strong>und</strong> für nur noch wenige<br />
Monate (bis zur Wie<strong>der</strong>vereinigung <strong>der</strong> beiden deutschen<br />
Staaten) mit zu den komfortabelsten <strong>und</strong> schönsten<br />
Wohnwagen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong> zählte.<br />
Die Unterbringung <strong>der</strong> Gehilfen <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> erfolgte<br />
in abgetrennten Wohnabteilen im Bug <strong>der</strong> Packwagen<br />
o<strong>der</strong> in Mannschaftswagen. Die circa 6 qm<br />
großen Packwagenabteile boten auf engstem Raum<br />
nur das Nötigste. Auf einer <strong>der</strong> beiden Längsseiten befand<br />
sich meistens ein Doppelstockbett, an <strong>der</strong> Rückwand<br />
stand ein Spind <strong>und</strong> gegenüber dem Bett be-<br />
FOTOS<br />
LOGISTIK<br />
Zwischenveranda<br />
mit Seitenaufgang an<br />
einem Schindelwohnwagen<br />
Zwei ausgemusterte<br />
<strong>und</strong> unter freiem Himmel<br />
abgestellte Schindelwagen<br />
Rolf Orschel<br />
Packwagen von<br />
Rudi Meyers Autoskooter<br />
Günter Topf baute mehrere Wagen<br />
61
LOGISTIK<br />
Einer <strong>der</strong> ersten<br />
<strong>DDR</strong>-Schindelwagen mit<br />
Erker von Erhard Mentel<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Von <strong>der</strong> Stahlbaufirma<br />
Brand in Rostock 1988<br />
gebauter Wohnwagen für<br />
Ralf Plaenert mit vier Erkern<br />
fand sich in <strong>der</strong> Regel ein Tisch mit zwei Hockern o<strong>der</strong><br />
Stühlen. Ein Waschbecken o<strong>der</strong> eine Toilette für die<br />
Mitarbeiter waren kaum vorhanden. Mehr Komfort boten<br />
die Mannschaftswagen, in die in <strong>der</strong> Regel zwei<br />
größere Wohnabteile (für jeweils 2 Personen) <strong>und</strong> ein<br />
kleiner Waschraum mit Toilette eingebaut war. In <strong>der</strong><br />
kalten Jahreszeit sorgten Bahnheizkörper für etwas<br />
Wärme <strong>und</strong> Behaglichkeit in den Wohnabteilen.<br />
Die Packwagen-Gr<strong>und</strong>typen<br />
Die Packwagen wurden in den siebziger <strong>und</strong> achtziger<br />
Jahren zunehmend bunter. Es gab viele Schindelwagen,<br />
die allerdings immer seltener nur mit markantem<br />
Klarlack o<strong>der</strong> einfarbig mit farblich abgesetzten<br />
Kanten lackiert wurden. Sie wurden nun mit Zierstreifen<br />
o<strong>der</strong> dem Namenszug <strong>der</strong> Familie <strong>und</strong> des Geschäftes,<br />
farbig abgesetzt <strong>und</strong> schwungvoll mit abgesetzter<br />
Schattierung geschrieben, bemalt. Verblechte<br />
Packwagen wurden meist aufwändig <strong>und</strong> mehrfarbig<br />
lackiert sowie mit doppelreihigen Zierleisten versehen.<br />
Es gab nur wenige Gr<strong>und</strong>typen von Packwagen: so<br />
genannte Rollen für sperrige Einzelteile, offene Kastenwagen<br />
(teilweise mit Plane), Rungenwagen <strong>und</strong><br />
hauptsächlich die geschlossenen Packwagen mit Tonnen-<br />
o<strong>der</strong> dem in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auch typischen Eckdach,<br />
das zum Markenzeichen <strong>der</strong> Fahrzeugbau-Firma Melde<br />
in Vierkirchen-Buchholz wurde. Der Aufbau <strong>der</strong><br />
Packwagen bestand aus einer fachwerkähnlichen<br />
Holzkonstruktion, die die Stabholzwände <strong>und</strong> das<br />
Dach stabilisierte. Unter dem Boden nahmen die Kellerkästen<br />
kleinere Teile, Schrauben, Bolzen <strong>und</strong> Splinte<br />
o<strong>der</strong> das Bauholz auf. Die Mittelbauwagen <strong>der</strong> Karussells<br />
waren zunächst nur einachsig, da auf ihnen<br />
lediglich <strong>der</strong> Motor, das Getriebe <strong>und</strong> <strong>der</strong> Mast montiert<br />
waren. Große Mittelbauwagen, auf denen sich neben<br />
dem Antrieb häufig auch die Kasse befand, ließen<br />
sich einige <strong>Schausteller</strong> erst in späteren Jahren von<br />
spezialisierten Fahrzeugbauern anfertigen. Die größten<br />
<strong>DDR</strong>-Mittelbauwagen waren häufig dreiachsig <strong>und</strong><br />
bis zu 12 Meter lang. Neben den Anhängern wurden<br />
auch einige Mittelbau-Sattelauflieger gebaut. Der Bau<br />
von <strong>Schausteller</strong>wagen <strong>und</strong> Karussells sorgte nach<br />
dem Krieg für einen Aufschwung beim Schumann-<br />
Werk in Werdau <strong>und</strong> füllte die Auftragsbücher. Obwohl<br />
die Fahrzeuge nur mit einfachen Mitteln <strong>und</strong> Materialien<br />
hergestellt werden konnten, war das traditionelle<br />
handwerkliche Können <strong>der</strong> Schumann-Werker beim<br />
Innenausbau <strong>der</strong> Wohnwagen sehr gefragt, da sich<br />
Parallelen zu den prächtig ausgeführten Innenausbauten<br />
von Salonwagen <strong>der</strong> Jahrh<strong>und</strong>ertwende ziehen<br />
ließen. Nach <strong>der</strong> Flucht Schumanns in den Westen<br />
wurde das Werk am 1. Juli 1948 enteignet. Wenige<br />
Jahre später wurde die Produktion von <strong>Schausteller</strong>wagen<br />
<strong>und</strong> Karussells eingestellt.<br />
Wagenbau Pfaff <strong>und</strong> Melde<br />
Der Stellmachermeister Franz Pfaff, 1947 aus Ungarn<br />
vertrieben <strong>und</strong> in den sechziger Jahren in Görlitz tätig,<br />
genoss in <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>branche <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> einen guten<br />
Ruf, da er für das fahrende Volk Wohn- <strong>und</strong> Zirkuswagen<br />
in hervorragen<strong>der</strong> Qualität herstellte. Als er<br />
1968 nach Buchheim bei Leipzig kam, konnte <strong>der</strong><br />
Gr<strong>und</strong>stein für das heute noch erfolgreich tätige traditionsreiche<br />
Familienunternehmen gelegt werden. Von<br />
seinen sechs Kin<strong>der</strong>n, fünf Söhne <strong>und</strong> eine Tochter,<br />
waren bis auf Marko alle in <strong>der</strong> Holzbranche tätig.<br />
Marko Pfaff spezialisiete sich nach seiner Ausbildung<br />
zum Schmied auf den stählernen Unter- <strong>und</strong> Aufbau<br />
von Fahrzeugen. 1982 übernahm Andreas Pfaff den<br />
Betrieb, <strong>der</strong> sich nun dem Innenausbau sowie allen<br />
anfallenden Tischlerarbeiten von <strong>Schausteller</strong>-Wohnwagen<br />
widmete. 1985 machte sich Marko Pfaff als<br />
Schmiedemeister selbstständig <strong>und</strong> gründete sein<br />
Unternehmen im Bereich des Schmiede- <strong>und</strong> Fahrzeugbaus<br />
<strong>und</strong> fertigte Wohn-, Mannschafts-, Verkaufs-<br />
<strong>und</strong> Packwagen an. Heute stellt die Marko Pfaff<br />
& Co. <strong>Spezial</strong>fahrzeugbau GmbH erfolgreich maßgeschnei<strong>der</strong>te<br />
<strong>Schausteller</strong>wagen in <strong>der</strong> üblichen Containerbauweise<br />
her.<br />
62
LOGISTIK<br />
Gondelwagen von<br />
Plaenerts Schlickerbahn<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Die 1889 von August Melde in<br />
Vierkirchen-Buchholz bei Görlitz<br />
gegründete Stellmacherei stellt<br />
inzwischen in <strong>der</strong> vierten Generation<br />
Wohn-, Pack- <strong>und</strong> <strong>Spezial</strong>-<br />
„Plattenwagen“ her, bietet aber<br />
auch noch ganz klassische Schindelwagen<br />
an. Der Familienbetrieb<br />
war zu <strong>DDR</strong>-Zeiten ein von den<br />
<strong>Schausteller</strong>n gern beauftragtes<br />
Unternehmen. Von den gebauten<br />
Schindelwohnwagen mit Tonnendach<br />
<strong>und</strong> Oberlicht sowie seit den<br />
sechziger Jahren auf die Wagenseite<br />
gerückter Tür sind heute<br />
noch einige Exemplare auf <strong>der</strong> Reise.<br />
Die charakteristischen Eckdächer<br />
<strong>der</strong> zu <strong>DDR</strong>-Zeiten gebauten<br />
Packwagen wurden zum Markenzeichen<br />
<strong>der</strong> Firma. Heute werden<br />
die Schindelwohnwagen auf<br />
Wunsch auch mit Erkern hergestellt.<br />
Neben den Zirkussen „Fliegenpilz“<br />
<strong>und</strong><br />
„Roncalli“ sind<br />
<strong>Schausteller</strong>, die<br />
auf Bewährtes<br />
Wert legen <strong>und</strong><br />
sich keine mo<strong>der</strong>nen<br />
Wohnwagen<br />
anschaffen<br />
wollen, treue<br />
K<strong>und</strong>en <strong>der</strong> Firma<br />
Melde, die<br />
auch heute noch<br />
als „Stellmacherei“<br />
firmiert. Neben<br />
diesen bekanntesten Wagenbaufirmen<br />
existierten in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
noch einige Betriebe, die sich auf<br />
die Herstellung von Wohn-, Pack<strong>und</strong><br />
Verkaufswagen für <strong>Schausteller</strong><br />
<strong>und</strong> Zirkusse spezialisiert hatten.<br />
■<br />
Plaenerts dreiachsiger,<br />
offener Kastenwagen für<br />
den Transport <strong>der</strong> schweren<br />
Teile des „Tropical Jet“<br />
QUELLE<br />
Michael Faber: <strong>Schausteller</strong>transporte<br />
Teil 7, <strong>Kirmes</strong><br />
Revue 3+4/03, S. 26-31<br />
Typischer Packwagen<br />
aus <strong>der</strong> Werkstatt Melde<br />
Packwagen von<br />
Härtels Raupenbahn<br />
Packwagen mit<br />
Flaschenzug von Ottos<br />
Kin<strong>der</strong>eisenbahn<br />
Packwagen mit<br />
typischem Eckdach aus<br />
<strong>der</strong> Stellmacherei Melde<br />
63
ÜBERSICHT<br />
SCHAUSTELLERISCHES VERGNÜGUNGSANGEBOT<br />
„Sputnik Bahn“<br />
von Manfred Baumann<br />
FOTOS<br />
Archiv Pilz, Archiv Malfertheiner,<br />
Archiv Weckner,<br />
Archiv Orschel<br />
Verlosung, Automaten<strong>und</strong><br />
Schießwagen<br />
Das schaustellerische Vergnügungsangebot<br />
in <strong>der</strong> Sowjetischen Besatzungszone bau „Kosmoplane“, ein Wellenflieger (<strong>der</strong> später in<br />
tenflieger, Hochturmflieger, <strong>der</strong> Pressluftflieger-Eigen-<br />
(SBZ von 1945 bis 1949) unterschied sich<br />
kaum von dem in Westdeutschland. Bis auf<br />
nicht vorhandene Achterbahnen würde sich<br />
eine Auflistung <strong>der</strong> Karussells fast gleichen.<br />
Ab den fünfziger Jahren verän<strong>der</strong>te sich das<br />
Bild <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>einrichtungen, wobei<br />
bei den Karussells eindeutig die R<strong>und</strong>fahrgeschäfte<br />
dominierten. Sie waren in verhältnismäßig<br />
großer Anzahl <strong>und</strong> Typenvielfalt<br />
vorhanden. Die Angebotspalette reichte von<br />
Krinolinen über Berg- <strong>und</strong> Talbahnen, Walzerfahrten<br />
<strong>und</strong> Schlickerbahnen bis zu Raupenbahnen.<br />
Auf <strong>der</strong> Reise waren außerdem<br />
eine Walzerfahrt umgebaut wurde) waren von den<br />
Hochfahrgeschäften vorhanden. Außerdem gab es<br />
noch „The Whip“, „Waldidyll“ <strong>und</strong> später die vom VEB-<br />
Zentralzirkus betriebenen Geschäfte „Kosmos Rotator“,<br />
Flug Schanze, Twister <strong>und</strong> Satellit. Dazu gesellten<br />
sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit noch ein paar bemerkenswerte<br />
Eigen- <strong>und</strong> Umbauten, mit denen beachtliche <strong>und</strong><br />
neue Akzente in <strong>der</strong> Fahrgeschäftsszene <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gesetzt<br />
wurden.<br />
An Kin<strong>der</strong>fahrgeschäften waren hauptsächlich Boden-,<br />
Sport- <strong>und</strong> Hängekarussells, Kettenflieger, eine<br />
Achterbahn, Autobahnen, Benzin-Autobahn, Raupenbahnen,<br />
Schiffschaukeln, Eisenbahnen, <strong>der</strong> Eigen-<br />
Raketenfahrten zum Mond, Tunnelbahnen<br />
<strong>und</strong> die unterschiedlichsten Varianten<br />
<strong>und</strong> Aufmachungen dieser Karussells<br />
wie „Loch Ness“, „See-Sturm-Bahnen“,<br />
„Sputnikbahn“, „Autobahnen“,<br />
„Planetenbahnen“, „Motorbootbahn“,<br />
„Weltraumfahrt“, „Schlangenbahn“ o<strong>der</strong><br />
„Weißer Traum“. Schaukeln gab es in<br />
Form von Hauruckschaukeln, Rhönradschaukeln,<br />
großen <strong>und</strong> kleinen Schiffschaukeln<br />
<strong>und</strong> einigen Überschlagschaukeln<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Von den Selbstfahrgeschäften<br />
waren Autoskooter,<br />
<strong>der</strong> Benzin-Skooter<br />
„Berliner Ring“, eine Motorrollerbahn<br />
<strong>und</strong> später die VEB-<br />
Go-Kartbahn „Sachsenring“<br />
vertreten. Unter Hochbahnen<br />
liefen die Chimmytreppe, Toboggan,<br />
die Teufelskutsche,<br />
zwei Holzachterbahnen <strong>und</strong><br />
VEB - Stahlachterbahnen.<br />
Spinnen, Riesenrä<strong>der</strong>, Ket-<br />
Krinoline von Sachs, Thiemes Walzerfahrt<br />
<strong>und</strong> Karl Weckners selbstgebaute Kin<strong>der</strong>eisenbahn<br />
64
ÜBERSICHT<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche, Archiv<br />
Hartmann, Archiv Eckermann,<br />
Rolf Orschel<br />
„Tivoli“ von Meyer<br />
<strong>und</strong> Hartmanns „Tollhaus“<br />
bau-Verkehrskin<strong>der</strong>garten „Pikkolo Avusbahn“, Ponybahnen<br />
<strong>und</strong> -reiten vorhanden.<br />
Aus <strong>der</strong> Sparte <strong>der</strong> Schau- <strong>und</strong> Belustigungsgeschäfte<br />
standen den Besuchern Schaubuden (bis zu Beginn<br />
<strong>der</strong> 70er-Jahre), H<strong>und</strong>etheater, Marionetten- <strong>und</strong><br />
Puppentheater, mechanische Märchenschau, Panoramen,<br />
Tier- <strong>und</strong> Raubtierschauen, Globus <strong>und</strong> Steile<br />
Wand zur Verfügung. Außerdem gab es aus dieser<br />
Sparte noch Vergnügungspaläste, Hippodrom, die<br />
kleinsten Pferde <strong>der</strong> Welt, Irrgärten, Geisterbahnen,<br />
den Humoristischen Wasserfall, diverse Laufgeschäfte<br />
wie Lachhäuser <strong>und</strong> -kabinette, „Spuk im Spessart“,<br />
„Geisterhölle“ sowie die Lustigen Tonnen <strong>und</strong> das Teufelsrad.<br />
Fast unüberschaubar war das vielfältige Angebot<br />
von Geschicklichkeitsspielen <strong>und</strong> Warenausspielungen,<br />
die auch in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> häufig als Beigeschäft<br />
betrieben wurden. Von den Spiel- <strong>und</strong> Geschicklichkeitsgeschäften<br />
waren in den fünfziger Jahren<br />
die Schieß- <strong>und</strong> Losbuden<br />
beson<strong>der</strong>s gefragt. Auf<br />
ihr Glück mussten die Besucher<br />
beim Karten- <strong>und</strong><br />
Namenblinker, an Tischdrehrä<strong>der</strong>n,<br />
Würfelspielen<br />
<strong>und</strong> Spielautomaten vertrauen.<br />
Seine Treffsicherheit<br />
konnte man außer beim<br />
Schießen noch beim Ball<strong>und</strong><br />
Ringwerfen sowie beim<br />
so genannten „Ping-Pong“ (bei dem Tischtennisbälle<br />
in Trichter, Schalen o<strong>der</strong> Becher geworfen wurden) testen.<br />
Aus den Sparten Imbiss, Ausschank <strong>und</strong> Süßwaren<br />
gab es nur ein paar vereinzelte Geschäfte, da die<br />
Versorgung mit Speisen <strong>und</strong> Getränken auf den<br />
<strong>Volksfeste</strong>n <strong>der</strong> staatlichen Handelsorganisation<br />
(HO) oblag. Von den <strong>Schausteller</strong>n wurden Fischbrötchen,<br />
Eis, Zuckerwatte <strong>und</strong> hauptsächlich<br />
kandierte Äpfel verkauft. Nur auf wenigen Plätzen<br />
wurden auch Lebkuchen, Schmalzkuchen <strong>und</strong><br />
Waffeln zum Verkauf angeboten.<br />
■<br />
QUELLE<br />
Handbuch des <strong>Schausteller</strong>s<br />
– Taschenbuch des<br />
<strong>Schausteller</strong>wesens <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>, Verzeichnis <strong>der</strong><br />
Märkte <strong>und</strong> <strong>Volksfeste</strong> in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, 1957-1974<br />
Müllers Riesenrad, 1953, <strong>und</strong> die Spinne von Böttger, 60er-Jahre<br />
65
SCHAU<br />
SCHAUBUDEN<br />
„Bunte Palette“<br />
von Hans Reich, um 1953<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche, Archiv<br />
Dieter Katzschmann<br />
„W<strong>und</strong>er-Schau“<br />
von Hickmann <strong>und</strong> Wagners<br />
„H<strong>und</strong>etheater“, 50er-Jahre<br />
„Walhalla Theater“<br />
von Erlewein <strong>und</strong><br />
Schaubude „Jonny Ahoi“<br />
Keine an<strong>der</strong>e Geschäftsart trat nach dem<br />
Krieg <strong>und</strong> in den fünfziger Jahren in <strong>der</strong><br />
Volksfestszene <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> so mannigfältig in<br />
Erscheinung wie die Schaubuden. Beim Lesen<br />
von Beschickerlisten aus den Nachkriegsjahren<br />
stellt man fest, dass häufig<br />
mehrere Schaubuden auf den <strong>Volksfeste</strong>n<br />
gleichzeitig gastierten. So waren bereits auf<br />
<strong>der</strong> Herbstmesse in Magdeburg 1946 das<br />
H<strong>und</strong>etheater von William Voigt, das Taucherschiff<br />
von Uphoff, die Cumberlandschau<br />
von Hulda Voigt sowie<br />
eine Afrika-, <strong>und</strong> eine Krokodilschau<br />
aufgebaut. Zu dieser Zeit<br />
reisten außerdem in <strong>der</strong> SBZ die<br />
Tiefseeschau von Hoppe, Wurms<br />
Löwen- <strong>und</strong> Attraktionsschau, die<br />
Raubtierschau von Reinhardt, Kasitas<br />
Zauberschau, die Schaubude<br />
von Steinmetz, Weiffenbachs<br />
Lustige bunte Bühne, die Tierschau<br />
von Stoje, Fre<strong>und</strong>s Schaubude<br />
sowie mehrere Boxbuden,<br />
Artistenschauen, Marionetten<strong>und</strong><br />
Kasperltheater, um nur einige<br />
zu nennen. Überliefert ist, dass<br />
zum 560. Jubiläum des<br />
Rostocker Pfingstmarktes<br />
im Jahr 1950 neben<br />
vielen Karussells auch<br />
elf Schaubuden präsentiert<br />
wurden. Obwohl <strong>der</strong><br />
Anteil <strong>der</strong> Schaustellungen<br />
in den fünfziger Jahren<br />
bereits etwas rückläufig<br />
war, reisten damals<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> noch<br />
auffallend viele Schaubuden.<br />
Zu den bekanntesten zählten unter an<strong>der</strong>em<br />
die Cumberlandschau, die inzwischen von Manfred<br />
Albitz erworben wurde. Die lustigen Paraden dieser<br />
Schau mit Don Rößler, <strong>der</strong> sich selbst „Universalartist<br />
aus Hamburg“ nannte, sorgten stets für Menschenansammlungen.<br />
Rößler betrieb zuvor das Schaugeschäft<br />
„Wovon man spricht“, konnte das Publikum gekonnt in<br />
seinen Bann ziehen <strong>und</strong> trat selbst als Zauberkünstler<br />
auf. <strong>Spezial</strong>ität seiner Darbietungen war die „Schwebende<br />
Jungfrau“, für die stets ein „hypnotisierbares<br />
66
SCHAU<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche, Archiv<br />
Dieter Katzschmann, Archiv<br />
Malfertheiner, Zirkusarchiv<br />
Winkler<br />
Medium“ aus dem Publikum gesucht wurde. Merkwürdigerweise<br />
handelte es sich dabei aber in je<strong>der</strong><br />
Vorstellung um die selbe Person...<br />
Neben Don Rößler traten in <strong>der</strong> Cumberland-Schau<br />
auch Fakire, Artisten, Dompteure <strong>und</strong> Illusionisten auf.<br />
Unvergessen sind auch die Auftritte von Paul Jung, <strong>der</strong><br />
als „Omega – <strong>der</strong> lebende Gasometer“ Gas inhalierte<br />
<strong>und</strong> anschließend durch verschiedene Experimente<br />
das Publikum staunen ließ. Großer Beliebtheit erfreute<br />
sich über viele Jahre auch das H<strong>und</strong>etheater von Wagner.<br />
In den fast stets ausverkauften Vorstellungen führten<br />
dressierte <strong>und</strong> kostümierte Mischlingsh<strong>und</strong>e kurze<br />
Szenen aus dem Alltagsleben <strong>der</strong> Menschen vor.<br />
So gab es Straßenszenen mit fahrenden Autos, Passanten<br />
<strong>und</strong> Polizisten o<strong>der</strong> eine Hochzeitsgesellschaft<br />
mit elegant gekleidetem Brautpaar <strong>und</strong> einem Pfarrer.<br />
Die kleinen vierbeinigen Künstler begeisterten das<br />
Publikum aller Altersschichten. <strong>Schausteller</strong> erinnern<br />
sich heute noch daran, dass sie als Kin<strong>der</strong> sehr gern<br />
hinter <strong>der</strong> Bühne beim Ankleiden <strong>und</strong> Füttern <strong>der</strong> H<strong>und</strong>e<br />
halfen o<strong>der</strong> mit ihnen „Gassi gingen“. Nicht unerwähnt<br />
bleiben darf das „Walhalla Theater“ <strong>der</strong> Firma<br />
Erlewein, das 1959 von Dieter Katzschmann übernommen<br />
<strong>und</strong> zu Beginn <strong>der</strong> 60er-Jahre zur „Illusionsschau“<br />
umgebaut wurde. Den Besuchern<br />
wurden, umrahmt von kleinen Geschichten,<br />
optische Großillusionen wie ein leben<strong>der</strong><br />
Frauenkopf auf einer großen<br />
Blumenblüte, das Verschwinden <strong>und</strong><br />
Verwandeln von Zuschauern, <strong>der</strong> so genannte<br />
„Säbelschrank“, ein Spinnenkörper<br />
mit Frauenkopf <strong>und</strong> ein Schmetterlingstanz<br />
gezeigt. Um das Publikum zu<br />
animieren, wurde auf <strong>der</strong> Parade „Sybilla,<br />
die Frau ohne Unterleib“ präsentiert.<br />
Die Schaubude „Moulin Rouge – Das mo<strong>der</strong>ne Schaugeschäft<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“ von Gerhard Liebe aus Leipzig rief<br />
durch eine harmlose Striptease-Darbietung, bei <strong>der</strong><br />
sich eine Dame wie im Schattentheater hinter einer von<br />
hinten angestrahlten Leinwand entkleidete, die Behörden<br />
auf den Plan. 1961 erhielten sämtliche <strong>DDR</strong>-<br />
Schaubuden Aufbauverbot. Die Programme mussten<br />
erst von einer Prüfkommission genehmigt werden,<br />
bevor sie wie<strong>der</strong> vor Publikum gezeigt werden durften.<br />
Da bei diesen Überprüfungen mehrere Schaubudenprogramme<br />
durchfielen, wurden die betreffenden<br />
Geschäfte auf an<strong>der</strong>e Sparten umgestellt o<strong>der</strong> stillgelegt.<br />
■<br />
„Cumberland-Schau“<br />
von Albitz, Don Rößler (Mitte)<br />
bei <strong>der</strong> Parade, 50er-Jahre<br />
Paul Jung als<br />
„Omega – <strong>der</strong> lebende<br />
Gasometer“<br />
Frau ohne Unterleib <strong>und</strong><br />
„Algea, die W<strong>und</strong>erspinne“ von<br />
Katzschmanns „Illusionsschau“<br />
67
FAHRGESCHÄFTE<br />
RAKETENFAHRT<br />
FOTOS<br />
Archiv Kuntz, Archiv Härtel,<br />
Archiv Riesche, Rolf<br />
Orschel<br />
Die Schrägbahn von<br />
Kuntz, 1956 <strong>und</strong> 1958<br />
Raketenfahrten von<br />
Uhlig, Härtel <strong>und</strong> Seiferth<br />
QUELLE<br />
Ton Koppei: Raketenbahn,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue 09/98, Seiten<br />
42-44<br />
„Raketenbahn“<br />
von Alfons Sperlich, 1990<br />
Die Raketenbahnen waren<br />
in <strong>der</strong> Fahrgeschäftsszene<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bis in die 60er-<br />
Jahre sehr populär <strong>und</strong> wurden<br />
anschließend von den<br />
Berg- <strong>und</strong> Talbahnen <strong>und</strong> den<br />
Walzerfahrten nach <strong>und</strong> nach<br />
fast völlig verdrängt. Sie waren<br />
recht zahlreich <strong>und</strong> in unterschiedlichen<br />
Variationen auf<br />
<strong>der</strong> Reise. Die ersten Exemplare<br />
<strong>der</strong> Schrägbahnen<br />
tauchten in Deutschland um 1936 auf. Diese Karussells<br />
hatten normalerweise eine sehr steil gebaute<br />
schräge Fahrbahn mit beträchtlichem<br />
Höhengefälle. Es gab nicht wenige Exemplare,<br />
die Schienenhöhen von sechs Metern im oberen<br />
Bereich aufweisen konnten. Die hauptsächlich mit<br />
einem Gondelring in Raketenform gebauten<br />
Schrägbahnen wurden hauptsächlich als „Raketenfahrt<br />
zum Mond“, „Marsrakete“ o<strong>der</strong> „Marsbahn“<br />
bekannt. Es gab diese Geschäfte aber<br />
auch mit Alpenmotiven <strong>und</strong> maritimer Aufmachung,<br />
die als „Alpen-Rennbahn“, „Lustige Seefahrt“,<br />
„Spreewald Fahrt“ o<strong>der</strong> „Motorboot Bahn“ reisten.<br />
Die sich entgegen <strong>der</strong> Fahrtrichtung drehende<br />
Auslegerverkleidung, <strong>der</strong> so genannte „Globus“, suggerierte<br />
bei den meisten Schrägbahnen ein höheres<br />
Tempo. Meistens <strong>der</strong> Thematik des Karussells angepasst,<br />
waren die Globusse mit kleinen Raketen – auf<br />
denen Figuren saßen – hohen Leuchttürmen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Figuren versehen. Es gab aber auch einige Exemplare,<br />
bei denen die Ausleger mit einer Plane verkleidet<br />
wurden.<br />
Die Schrägbahnen hatten ihre Blütezeit in den fünfziger<br />
Jahren, wo sie aufgr<strong>und</strong> ihrer (für damalige Verhältnisse)<br />
sehr rasanten Fahrt beson<strong>der</strong>s bei den Jugendlichen<br />
hoch im Kurs standen. Nachdem den<br />
Schrägbahnen dann durch an<strong>der</strong>e Karussells <strong>der</strong> Erfolg<br />
gestohlen wurde, bauten einige <strong>Schausteller</strong> ihre<br />
Geschäfte um, wobei sie auch recht eigenwillige Gondeln<br />
erhielten. Zu den bekanntesten <strong>Schausteller</strong>betrieben,<br />
die in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> mit einer<br />
Raketenfahrt reisten, gehörten<br />
unter an<strong>der</strong>em: Paul Uhlig, Karl<br />
Kuntz, Alex Keil, Gertrud Härtel,<br />
Fritz Seiferth, Rolf Weise <strong>und</strong> Herbert<br />
Otto. Eine Variante mit freischwingenden<br />
Gondeln war die<br />
rasantere „Bobbahn“. Mit solch einem<br />
Geschäft reisten in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
die Gebr. Walz (1953 Umbau zu einer<br />
Walzerfahrt), Klaus Rieck sowie<br />
Werner <strong>und</strong> später Alfons<br />
Sperlich (bis 1992).<br />
■<br />
68
SPINNE<br />
FAHRGESCHÄFTE<br />
Spinne von Tino Sperlich<br />
FOTOS<br />
Archiv Liebold, Archiv<br />
Heym, Rolf Orschel<br />
Die Spinne tauchte 1938 zum ersten Mal auf deutschen<br />
Festplätzen auf. Die Konstruktion ging auf<br />
eine Erfindung des Amerikaners Eyerly zurück, die<br />
zwei Jahre vorher patentiert wurde. Am Mittelbau dieser<br />
Fahrgeschäfte waren an zwei übereinan<strong>der</strong>liegenden<br />
Drehkränzen zwölf bewegliche Ausleger angebracht,<br />
an <strong>der</strong>en Enden sich drehbare Blechgondeln<br />
für jeweils zwei Personen befanden. Die Ausleger waren<br />
mit Zugstangen o<strong>der</strong> Stahlseilen mit einem Exzenter,<br />
<strong>der</strong> sich über dem Drehkranzturm befand, verb<strong>und</strong>en.<br />
Während <strong>der</strong> Fahrt drehte sich <strong>der</strong> Exzenter<br />
entgegen <strong>der</strong> Fahrtrichtung. Dadurch än<strong>der</strong>te sich die<br />
Höhenposition <strong>der</strong> Ausleger ständig <strong>und</strong> die Gondeln<br />
drehten sich langsam um die eigene Achse. Der Nachteil<br />
dieser Fahrgeschäfte bestand in ihrer vergleichsweise<br />
geringen St<strong>und</strong>enkapazität. Da die Ausleger<br />
starr mit dem Exzenter verb<strong>und</strong>en waren <strong>und</strong> nicht abgesenkt<br />
werden konnten, befanden sich jeweils nur<br />
zwei Gondeln in <strong>der</strong> unteren Ladeposition. Um diesen<br />
entscheidenden Nachteil <strong>der</strong> Spinne zu beseitigen,<br />
versuchten einige <strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong> in den fünfziger<br />
Jahren in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Firma G<strong>und</strong>elwein<br />
<strong>und</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Spezial</strong>isten, die Ausleger zum Laden<br />
irgendwie absenkbar mit dem Exzenter zu verbinden.<br />
Das ehrgeizige Ziel konnte allerdings durch die zur<br />
Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten<br />
nicht realisiert werden. Das war wahrscheinlich auch<br />
ein Gr<strong>und</strong> dafür, warum in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nur wenige<br />
<strong>Schausteller</strong> mit einer Spinne reisten, die überwiegend<br />
vor <strong>und</strong> nach dem Krieg von <strong>der</strong> Firma G<strong>und</strong>elwein in<br />
Wutha gebaut wurden.<br />
Unter an<strong>der</strong>em betrieben<br />
die Firmen Müller, Saalfel<strong>der</strong>,<br />
Walz, Schmidt, Böttger,<br />
Rausch, Mirre, Sehning,<br />
Liebold <strong>und</strong> Kröckel<br />
eine Spinne. Einige Exemplare<br />
wechselten aber<br />
mehrmals den Besitzer<br />
<strong>und</strong> die Spinne von Ludwig<br />
Rausch wurde 1961<br />
nach Westdeutschland<br />
verkauft, wodurch nur<br />
noch drei Exemplare in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisten. Ab 1971<br />
wurden für mehrere Jahre nur noch zwei Spinnen betrieben.<br />
Sie wurden in den achtziger Jahren überholt, verschiedenen Gondelformen<br />
Zwei Spinnen mit<br />
wobei sie neue Plastegondeln erhielten. Diese Gondeln<br />
waren größer <strong>und</strong> bequemer, hatten aber einen<br />
großen Nachteil. Sie drehten sich während <strong>der</strong> Fahrt<br />
nur selten um die eigene Achse, wodurch <strong>der</strong> typische<br />
Spinne-Fahreffekt verloren ging. ■ Mittelbau <strong>und</strong> Spinne<br />
mit Plastegondeln von Kröckel<br />
69
FAHRGESCHÄFTE<br />
BERG- & TALBAHN<br />
FOTOS<br />
Archiv Pönitz,<br />
Rolf Orschel<br />
Fahrt ins Blaue<br />
mit Polyestergondeln<br />
von Arndt Pönitz<br />
Fahrt ins Blaue von<br />
Caspari <strong>und</strong> Funkes<br />
Schmetterlingsbahn<br />
In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> existierte eine interessante Berg- <strong>und</strong> Talbahnszene<br />
mit einigen interessanten Exoten. Sie<br />
zählten zu den am meisten vorhandenen R<strong>und</strong>fahrgeschäften<br />
<strong>und</strong> gehörten bis 1990 zu den Stammbeschickern<br />
<strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong>.<br />
Die unterschiedlich großen Karussells hatten Durchmesser<br />
von 11 bis 16 Metern. Sie unterschieden sich<br />
durch ihre Dekorationen, die Anzahl <strong>der</strong> Berge <strong>und</strong><br />
Täler <strong>und</strong> verschiedene Gondelformen, von einfachen<br />
kastenförmigen Gondeln bis zu formschönen, abger<strong>und</strong>eten<br />
Blechgondeln. Einige Exemplare wurden zu<br />
Beginn <strong>der</strong> fünfziger Jahre von den noch existierenden<br />
Karussellbaufirmen gebaut, später kamen noch<br />
einige Eigenbauten dazu. Die Mittelbauten <strong>der</strong> Berg<strong>und</strong><br />
Talbahnen mussten stets aus den Einzelteilen zu<br />
sammen- <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gebaut werden, da<br />
die Geschäfte keine Mittelbauwagen hatten. Die nach<br />
dem Krieg von Schumann gebauten Exemplare waren<br />
Härtels Raupenbahn <strong>und</strong><br />
die Fahrt ins Blaue von Uwe Schieck<br />
70
FAHRGESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Kunze,<br />
Rolf Orschel<br />
Prachtexemplar:<br />
die Libelle von Kunze<br />
beson<strong>der</strong>s gut gelungen. Sie hatten stimmige Proportionen,<br />
formschöne Blechgondeln <strong>und</strong> fuhren sehr<br />
schnell. Durch die Verwendung von vollgummibereiften<br />
Eisenrä<strong>der</strong>n waren diese Bahnen auch ziemlich<br />
leise.<br />
Der Aufbau war allerdings eine zeit- <strong>und</strong> personalintensive<br />
Angelegenheit, da die Sohle <strong>und</strong> <strong>der</strong> Mittelbau<br />
aus sehr vielen Einzelteilen bestanden. Durch die vielen<br />
Holzteile, die vor dem Zusammenbau<br />
auf dem Stellplatz verteilt<br />
werden mussten, wurden diese<br />
Karussells auch scherzhaft „Holzhandlungen“<br />
genannt.<br />
Laut <strong>Schausteller</strong>handbuch <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> reisten in den sechziger Jahren<br />
19 Berg- <strong>und</strong> Talbahnen kreuz<br />
<strong>und</strong> quer durch die Republik. Da<br />
die Angaben in diesem Handbuch<br />
aber nur bedingt aussagefähig<br />
sind – einige <strong>Schausteller</strong> ließen<br />
sich nicht darin erfassen – ist es durchaus möglich,<br />
dass noch mehr dieser damals sehr beliebten R<strong>und</strong>fahrgeschäfte<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisten. Außerdem wurden<br />
in den sechziger Jahren noch einige Raketenfahrten<br />
zum Mond <strong>und</strong> Planetenbahnen zu Berg- <strong>und</strong> Talbahnen<br />
umgebaut. Die Bahnen fuhren vor- <strong>und</strong> rückwärts<br />
<strong>und</strong> nur zwei Exemplare drehten sich in <strong>der</strong> Hauptdrehrichtung<br />
gegen den Uhrzeigersinn. Die meisten<br />
Schmetterlingsbahn<br />
von Turbanisch<br />
See-Sturm-Bahn<br />
von Alex Keil <strong>und</strong><br />
Hentrichs Fahrt ins Blaue<br />
71
FAHRGESCHÄFTE<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Berg- <strong>und</strong><br />
Talbahnen, <strong>Kirmes</strong> Revue<br />
12/01, Seiten 22-29<br />
Fahrt ins Blaue unter<br />
<strong>der</strong> Leitung von Malfertheiner<br />
<strong>und</strong> Kröckel (unten)<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Rolf Orschel<br />
Aufbauetappen<br />
<strong>der</strong> „Fahrt ins Blaue“ von<br />
Malfertheiner in Jena, 1964<br />
älteren Geschäfte wurden im Laufe <strong>der</strong> Jahre mo<strong>der</strong>nisiert,<br />
wobei in <strong>der</strong> Regel auch die alten, sehr lauten<br />
Eisenrä<strong>der</strong> durch gummibereifte Rä<strong>der</strong> ausgetauscht<br />
wurden. Die alten Schienen erhielten eine neue Stahl-<br />
Lauffläche <strong>und</strong> die Holzausleger ersetzte man durch<br />
Stahlkonstruktionen. Die Berg- <strong>und</strong> Talbahn von Arndt<br />
Pönitz aus Mügeln bei Oschatz erhielt als einziges<br />
Karussell dieser Art einen kompletten Satz Gondeln<br />
aus Gießharz. Durch ständige Werterhaltung <strong>und</strong> gute<br />
Pflege waren die meisten Berg- <strong>und</strong> Talbahnen bis in<br />
die neunziger Jahre regelmäßig im Einsatz.<br />
Heute kann man nur noch mit sehr viel Glück<br />
das ein o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Exemplar, wie die Fahrt ins<br />
Blaue von Mario Caspari aus Herbsleben bei<br />
Bad Langensalza, auf kleinen Plätzen wie<strong>der</strong><br />
entdecken.<br />
Ein ganz beson<strong>der</strong>es Prachtstück mit prunkvoller<br />
Dekoration war die einzigartige Berg<strong>und</strong><br />
Talbahn „Libelle“ von Siegfried Kunze aus<br />
Meißen, die ursprünglich als Planetenbahn in<br />
Prachtausstattung von <strong>der</strong> Firma Hugo Haase<br />
gebaut wurde. In ihrem Zentrum befand sich<br />
über dem Globus eine aufwändig geschnitzte <strong>und</strong> mit<br />
Blattgold belegte große Krone, die einen Durchmesser<br />
von vier Metern hatte. Die schmucke Dachkante<br />
<strong>und</strong> die Dachriegel waren mit vielen kunstvollen<br />
Schnitzereien versehen. An den Rückseiten <strong>der</strong> mit<br />
Blattsilber belegten <strong>und</strong> aufwändig geschnitzten<br />
Holzgondeln befanden sich unterschiedlich große<br />
<strong>und</strong> geschliffene Zerrspiegel, von denen das Licht<br />
mehrfach zum Stoffhimmel mit Perlstickerei reflektiert<br />
wurde.<br />
■<br />
72
WALZERFAHRT<br />
FAHRGESCHÄFTE<br />
„Walzerfahrt zum Mond“<br />
von Seifert, in Annaberg, 1952<br />
Die Walzerfahrten zählten zu den beliebtesten<br />
R<strong>und</strong>fahrgeschäften in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> <strong>und</strong> boomten wie<br />
kein an<strong>der</strong>es Karussell. Durch ihre überdurchschnittliche<br />
Beliebtheit wurden die Walzerfahrten auch als die<br />
„Breakdancer des Ostens“ bezeichnet. Es gab sie in<br />
verschiedenen Varianten, teils von <strong>Schausteller</strong>n in Eigenbau<br />
gefertigt, teils im Umbau aus an<strong>der</strong>en Karussells<br />
entstanden o<strong>der</strong> von den Karussellbaufirmen<br />
Heyn <strong>und</strong> G<strong>und</strong>elwein hergestellt. Nach dem Krieg<br />
war mit <strong>der</strong> „Walzerfahrt zum Mond“ <strong>der</strong> Firma Seifert<br />
zunächst nur ein Exemplar auf <strong>der</strong> Reise.<br />
Die größte Walzerfahrt in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Diese Bahn hatte kein Dach, besaß 20 Gondeln <strong>und</strong><br />
war mit einem Durchmesser von 22 Metern auch eine<br />
<strong>der</strong> größten Walzerfahrten, die jemals in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auf<br />
<strong>der</strong> Reise waren. Durch die beliebten Schnellfahrten<br />
am Abend wurde dieses Karussell zur Hauptattraktion<br />
auf den Volksfestplätzen. Angeregt durch den außerordentlichen<br />
Erfolg <strong>der</strong> „Walzerfahrt zum Mond“,<br />
ließen sich zu Beginn <strong>der</strong> 1950er-Jahre mehrere<br />
<strong>Schausteller</strong> von <strong>der</strong> Karussellbaufirma G<strong>und</strong>elwein in<br />
Wutha bei Eisenach Walzerfahrten in verschiedenen<br />
Varianten <strong>und</strong> mit unterschiedlichen Ausstattungen<br />
<strong>und</strong> Durchmessern bauen. Das bis dahin schönste<br />
<strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nste G<strong>und</strong>elwein-Exemplar or<strong>der</strong>te 1953<br />
die <strong>Schausteller</strong>firma G. Meyer & Söhne. Ein Jahr später<br />
hatte diese Walzerfahrt auf dem Eisenacher Sommergewinn<br />
als „Walzertraum“ eine aufsehenerregende<br />
Premiere. Die erste, von G<strong>und</strong>elwein in dieser Art<br />
gebaute Walzerfahrt war optisch <strong>und</strong> technisch hervorragend<br />
gelungen <strong>und</strong> schlug ein wie eine Bombe.<br />
Das Geschäft lief während des Sommergewinns an<br />
<strong>der</strong> Kapazitätsgrenze <strong>und</strong> war ständig von einer dichten<br />
Menschenmenge, hauptsächlich Jugendlichen,<br />
umgeben. Nachdem <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> G. Hadlok kurz<br />
darauf auch eine mo<strong>der</strong>ne Walzerfahrt or<strong>der</strong>te, ließ<br />
Karl Welte sen. zwischen Mai <strong>und</strong> November 1955 seinen<br />
von G<strong>und</strong>elwein gebauten, jedoch wenig erfolgreichen<br />
Wellenflieger kurzentschlossen in eine Walzerfahrt<br />
umbauen. Da sich sämtliche in den fünfziger<br />
Tanzpaar von Hadloks<br />
Walzerfahrt, G<strong>und</strong>elwein<br />
FOTOS<br />
Archiv Riesche, Archiv<br />
Hadlok, Rolf Orschel<br />
„Walzertraum“<br />
von Klaus Eckstein, 1990<br />
73
FAHRGESCHÄFTE<br />
Walzerfahrt von Welte<br />
mit Polyester-Gondeln<br />
Melanie Welte konzentriert<br />
am Fahrpult <strong>der</strong> Walzerfahrt<br />
Jahren von G<strong>und</strong>elwein gebauten Walzerfahrten aus<br />
dem Stand als Publikumsmagneten entpuppten, lösten<br />
sie eine regelrechte Epidemie aus.<br />
Sprunghaft angestiegene Nachfrage<br />
Viele <strong>Schausteller</strong> wollten nun so schnell wie möglich<br />
ihre vorhandenen Geschäfte von <strong>der</strong> Karussellschmiede<br />
in eine Walzerfahrt umbauen lassen. Der renommierte<br />
Hersteller konnte die sprunghaft angestiegene<br />
Nachfrage aber kaum noch bewältigen. Manche<br />
Umbauten zogen sich durch Materialengpässe unerwartet<br />
in die Länge, wodurch sich die Fertigstellung<br />
<strong>der</strong> begonnenen Aufträge mitunter enorm verzögerte<br />
<strong>und</strong> beträchtliche Wartezeiten entstanden. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong> griffen einige <strong>Schausteller</strong> zur Eigeninitiative<br />
<strong>und</strong> bauten ihre einfach konstruierten Fahrgeschäfte,<br />
meistens Raketenfahrten zum Mond, in<br />
Zusammenarbeit mit versierten Handwerksbetrieben<br />
in Walzerfahrten um. Die Umbauten erfor<strong>der</strong>ten<br />
von den beteiligten Firmen auf Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> ständig<br />
herrschenden Engpässe viel Engagement <strong>und</strong><br />
Geduld. Einige <strong>Schausteller</strong> gingen noch einen<br />
Schritt weiter <strong>und</strong> wagten sich an den Selbstbau,<br />
wobei sie mitunter erstaunliche Ergebnisse zustande<br />
brachten. Im Jahr 1962 ging <strong>der</strong> gelungene<br />
Eigenbau von<br />
Helmut Vogel ans<br />
Netz. Seine „Walzerfahrt<br />
zum Mond“<br />
bestach durch ihre<br />
sehr leichte Bauweise.<br />
Viele Teile<br />
waren steckbar, <strong>und</strong><br />
für die Schraubverbindungen<br />
benötigte<br />
man lediglich einen<br />
19er- <strong>und</strong> einen<br />
24er- Schraubenschlüssel.<br />
Beson<strong>der</strong>s bemerkenswert war, dass Helmut<br />
Vogel seinen Eigenbau ohne die Hilfe von Fremdfirmen<br />
auf seinem Gr<strong>und</strong>stück herstellte. Kurios: Erst<br />
nach <strong>der</strong> Fertigstellung <strong>der</strong> Bahn ließ Helmut Vogel<br />
durch die Firma Güntner, die vom Ministerium für Bauwesen<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> beauftragte Bau- <strong>und</strong> Sachverständige<br />
für Fliegende Bauten, seine Walzerfahrt statisch berechnen.<br />
Ein Chamäleon unter den Walzerfahrten in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> war <strong>der</strong> selbstgebaute „Holyday Star“ von<br />
Günter Topf, die im Laufe <strong>der</strong> Zeit mehrmals ihr Outfit<br />
komplett verän<strong>der</strong>te. Für seinen Eigenbau verwendete<br />
Topf zunächst den Mittelbau einer stillgelegten Raketenfahrt<br />
zum Mond. Die Bahn wurde anfangs ohne<br />
Dach gebaut, später experimentierte ihr Erbauer mit<br />
verschiedenen Dachformen. Der kleine Mittelbau wich<br />
dann einem großen Mittelbauwagen, auf dem auch <strong>der</strong><br />
FOTOS<br />
Archiv Lutze, Rolf Orschel<br />
Eigenbau-Walzerfahrt<br />
von Helmut Vogel, oben in<br />
den sechziger Jahren <strong>und</strong> 1983<br />
74
FAHRGESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Topfs Eigenbau<br />
„Holyday Star“, 1984<br />
<strong>und</strong> nach dem letzten Umbau<br />
Dachstuhl klappbar montiert war. Gegen 1989/90 war<br />
das Karussell kaum noch wie<strong>der</strong>zuerkennen. Günter<br />
Topf überraschte mit einem nochmaligen, Musikexpress<br />
ähnlichem Umbau seiner Walzerfahrt <strong>und</strong> völlig<br />
neuer Aufmachung. Die Bahn präsentierte sich nun mit<br />
neuer Dachkante <strong>und</strong> einem breiten, geraden Eingang<br />
ohne Säulen.<br />
Umfangreiche Mo<strong>der</strong>nisierungen<br />
In den achtziger Jahren mo<strong>der</strong>nisierten einige <strong>Schausteller</strong><br />
noch einmal ihre Walzerfahrten, wobei einige<br />
Bahnen, unter an<strong>der</strong>em die von Topf, Engelbrecht <strong>und</strong><br />
Welte, mit großen Mittelbauwagen ausgestattet wurden.<br />
Im Winter 1989/90 ersetzte Karl Welte jun. aus<br />
Magdeburg die alten Blechgondeln durch neue, chaisenähnliche<br />
aus Polyester. Als „Top Hit-Superbahn“<br />
war dieses Geschäft eine <strong>der</strong> schönsten <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nsten<br />
Walzerfahrten, die in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisten. Das 12 m<br />
lange <strong>und</strong> dreiachsige Fahrgestell des Mittelbauwagens<br />
wurde von <strong>der</strong> Firma Paselt in Leipzig angefertigt,<br />
auf dem Lagerplatz in Magdeburg wurde anschließend<br />
<strong>der</strong> Mittelbau fertiggestellt. Die große <strong>und</strong><br />
sehr bequem eingerichtete<br />
Kasse konnte mit einem<br />
Getriebemotor <strong>und</strong><br />
Gewindestangen positioniert<br />
<strong>und</strong> hydraulisch<br />
hoch- <strong>und</strong> runtergefahren<br />
werden. Die Bahn war üppig<br />
mit Licht ausgestattet,<br />
viele Lichtleisten, Neonlampen<br />
<strong>und</strong> 34 Scheinwerfer, die Welte vom Magdeburger<br />
Theater erwerben konnte, rückten sie ins rechte<br />
Licht. Die Lampen <strong>und</strong> Scheinwerfer benötigten allein<br />
circa 80 kW Strom. Dieser aus heutiger Sicht minimale,<br />
fast lächerliche Wert war allerdings für ein<br />
<strong>DDR</strong>-Fahrgeschäft rekordverdächtig.<br />
Nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung erlosch das Interesse<br />
des Publikums an den jahrzehntelang beliebten R<strong>und</strong>fahrgeschäften<br />
schlagartig. Aus diesem Gr<strong>und</strong> wechselten<br />
ab 1990 einige Walzerfahrten die Besitzer <strong>und</strong><br />
tauchten danach auf kleinen Plätzen auf. Nachdem<br />
dort diese Geschäfte aber auch kaum noch eine<br />
Chance hatten, gaben die meisten Besitzer ihre Walzerfahrten<br />
auf, legten sie still o<strong>der</strong> verschrotteteten sie.<br />
Man braucht heute sehr viel Glück,<br />
um auf Plätzen <strong>der</strong> dritten Kategorie<br />
hin <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> eine Walzerfahrt<br />
zu entdecken. Von den einst 18<br />
Exemplaren, die kreuz <strong>und</strong> quer<br />
durch die <strong>DDR</strong> reisten, werden<br />
heute nur noch ganz wenige Geschäfte<br />
betrieben. Regelmäßig<br />
bauen heute noch die Firma Exner,<br />
die mit dem Eigenbau von Günter<br />
Topf reist, <strong>und</strong> Thomas Scholz, <strong>der</strong><br />
die Walzerfahrt <strong>der</strong> Firma Schelauske<br />
übernahm, diese <strong>DDR</strong>-<br />
Klassiker auf Plätzen in ländlichen<br />
Gegenden auf.<br />
■<br />
Gondelform <strong>der</strong><br />
Walzerfahrt von Topf<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Walzerfahrten<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, <strong>Kirmes</strong> Revue<br />
11/2000, Seiten 36-42<br />
Walzerfahrt von<br />
Wetzel/Schelauske, 1971<br />
75
FAHRGESCHÄFTE<br />
SCHLICKERBAHN<br />
„Tropenbahn“ von<br />
Kuno Plaenert, um 1961<br />
Simmrows Tropical Jet<br />
FOTOS<br />
Archiv Plaenert, Archiv<br />
Simmrow, Archiv Stoll,<br />
Rolf Orschel<br />
Schlickerbahn<br />
von Wilfried Jehn, 1986<br />
Die ersten Karussells mit steil einiges voraus war. Die Bahn hatte einen freitragenden,<br />
hydraulischen Dachstuhl, für den <strong>der</strong> Hydraulik-<br />
ansteigen<strong>der</strong> Fahrbahn <strong>und</strong> beweglich<br />
zwischen den Auslegern zylin<strong>der</strong> einer LKW-Hebebühne auf dem Mittelbau<br />
eingehängten Gondeln, so genannte<br />
Schlickerbahnen, wurden von <strong>der</strong> komplette Dachstuhl bequem in nur 20 Minuten auf-<br />
montiert wurde. Durch diese Konstruktion konnte <strong>der</strong><br />
Firma Heyn in den 30er-Jahren gebaut.<br />
Durch die ungewöhnlich stei-<br />
bereits ein Jahr später aus familiären Gründen vergebaut<br />
werden. Bruno Eckstein musste das Geschäft<br />
len Berge <strong>und</strong> Täler des Schienenkranzes<br />
pendelkaufen.<br />
Neuer Besitzer war die Firma Lange, später<br />
ten die Gondeln<br />
bei hohem Tempo<br />
über die Horizontale hinaus. Die Großglocknerbahn von Stoll, um 1962 <strong>und</strong> 1988<br />
Diese Weiterentwicklung <strong>der</strong> Berg<strong>und</strong><br />
Talbahn war schnell beliebt<br />
<strong>und</strong> verbreitet.<br />
In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> blieb die Anzahl <strong>der</strong><br />
Schlickerbahnen allerdings sehr<br />
überschaubar. Gegen Mitte <strong>der</strong><br />
sechziger Jahre reisten nur sieben<br />
Exemplare dieses Karusselltyps<br />
durch die Republik. Sie hießen<br />
„Schlickerbahn“, „Tropenbahn“,<br />
„Großglocknerbahn“ o<strong>der</strong> „Zugspitzbahn“.<br />
Es gab kleine <strong>und</strong> große Varianten,<br />
die sich durch unterschiedliche<br />
Aufmachungen <strong>und</strong> Durchmesser<br />
von 12 bis 20 Metern sowie die<br />
Anzahl ihrer so genannten<br />
„Bananengondeln“<br />
aus Holz<br />
o<strong>der</strong> Blech voneinan<strong>der</strong><br />
unterschieden.<br />
<strong>Schausteller</strong><br />
Bruno Eckstein gelang<br />
1953 ein Eigenbau,<br />
<strong>der</strong> technisch<br />
den <strong>DDR</strong>-<br />
Fahrgeschäften um<br />
76
FAHRGESCHÄFTE<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Schlickerbahnen,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue<br />
10/02, Seiten 32-39<br />
Plaenerts Tropical Jet<br />
mit neuen Gondeln<br />
wurde es dann von Gunter Lange erworben. Zu den<br />
<strong>Schausteller</strong>firmen, die in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> mit Schlickerbahnen<br />
reisten, gehörten auch Helmut Huhs, Margarete<br />
Krieg, Horst Ludwig, Kuno Plaenert, Heinz Moll, Alfred<br />
Rinck <strong>und</strong> Walter Stoll. Die großen Schlickerbahnen<br />
wurden bereits in den dreißiger Jahren von <strong>der</strong> Firma<br />
Heyn gebaut. Sie waren baugleich <strong>und</strong> unterschieden<br />
sich lediglich durch unterschiedliche Aufmachungen.<br />
Treue <strong>und</strong> verkaufte es dann an die Firma Uhlworm,<br />
die damit noch drei Jahre in Polen reiste. Die zweite<br />
Bahn, nach dem Krieg die schönste Schlickerbahn in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, erwarb nach dem Krieg die Firma Resch,<br />
1950 wurde sie von Horst Ludwig übernommen. Nach<br />
dreißig Jahren verkaufte er sie an Wilfried Jehn, <strong>der</strong><br />
diese Schlickerbahn mo<strong>der</strong>nisierte <strong>und</strong> 1988 zum<br />
„Feuerstuhl“ umgestaltete. Fünf Jahre später wurde<br />
FOTOS<br />
Archiv Pilz, Rolf Orschel<br />
Die Schlickerbahnen<br />
von Ludwig <strong>und</strong> Jehn<br />
Ihr Durchmesser betrug 20 m, <strong>der</strong> Umbau war 20-teilig<br />
<strong>und</strong> die geschlossenen Kuppeldächer reichten bis<br />
über die mit Spitzböcken verbreiterten Fußböden. Der<br />
Dachstuhl bestand aus zwanzig schweren Dachbin<strong>der</strong>n<br />
mit Strebenausfachung. Der Berg, die Schienenkranzbil<strong>der</strong>,<br />
die Panneaus <strong>und</strong> die Kasse waren entwe<strong>der</strong><br />
mit romantischen Alpenszenen o<strong>der</strong> idyllischen<br />
Winterlandschaften bemalt. Auf Gr<strong>und</strong> ihrer massiven<br />
Bauweise waren diese Fahrgeschäfte sehr schwer<br />
<strong>und</strong> wurden in vier Packwagen verladen. Mit dem Mittelbauwagen<br />
waren somit fünf Transporte zum Umsetzen<br />
nötig. In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisten nach dem Krieg zwei<br />
dieser Schlickerbahnen als „Zugspitzbahn“, die bis<br />
Anfang <strong>der</strong> 1990er-Jahre betrieben wurden. Ein Exemplar<br />
wurde nach 1945 von Paul Grafe <strong>und</strong> später<br />
von Alfred Rinck betrieben <strong>und</strong> 1973 an Horst<br />
Schwarze verkauft. Er hielt dem Gechäft 30 Jahre die<br />
das Geschäft dann stillgelegt <strong>und</strong> danach verschrottet.<br />
Die letzte Heyn-Schlickerbahn wurde 1954 in guter<br />
Qualität, aber nicht mehr mit dem gewohnten Aufwand<br />
als „Tropenbahn“ für den <strong>Schausteller</strong> Erich<br />
Schleinitz gebaut <strong>und</strong> nach<br />
einem Besitzerwechsel <strong>und</strong><br />
längerer Stillegung 1961 von<br />
Kuno Plaernert aus Schwerin<br />
erworben. Unter seiner Regie<br />
wurde das Karussell später<br />
umfangreich mo<strong>der</strong>nisiert<br />
<strong>und</strong> als „Tropical Jet“ zur<br />
schönsten <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nsten<br />
Schlickerbahn <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, die<br />
sogar den damals äußerst<br />
populären Walzerfahrten die<br />
Schau stahl.<br />
■<br />
Jehns Schlickerbahn<br />
als „Feuerstuhl“, 90er-Jahre<br />
77
FAHRGESCHÄFTE<br />
KETTENFLIEGER<br />
Perfekte Proportionen:<br />
die hohen Kettenflieger<br />
von Urban <strong>und</strong> Schu<strong>der</strong><br />
Kettenflieger mit an Ketten aufgehängten Sitzen, die<br />
durch die entstehende Fliehkraft während <strong>der</strong><br />
Fahrt nach außen schwingen, gehören zur Gruppe <strong>der</strong><br />
Fliegerkarussells. Ihre Blütezeit begann zu Beginn<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, nachdem sie mit Besatzungsteilen<br />
in Form von Flugkörpern auf den Markt kamen<br />
<strong>und</strong> den Zusammenhang zur Frühgeschichte <strong>der</strong> Luftfahrt<br />
verdeutlichten. In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> beherrschten die Kettenkarussells,<br />
wie sie von <strong>der</strong> Bevölkerung heute noch<br />
genannt werden, mit die Volksfestszene. Sie fehlten<br />
auf keiner Veranstaltung <strong>und</strong> waren auf den großen<br />
Festplätzen o<strong>der</strong> je<strong>der</strong> kleinen <strong>Kirmes</strong> als Aushängeschild<br />
<strong>der</strong> <strong>Volksfeste</strong> unverzichtbar. In den fünfziger<br />
Jahren gab es noch einige Fliegerkarussells mit großen<br />
Flugzeugen o<strong>der</strong> Schwänen als Besatzung, die<br />
durch ihre stolze Höhe <strong>und</strong> ihren weiten Ausflug be-<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Kettenflieger von<br />
Gärtner <strong>und</strong> Voigt<br />
aus <strong>der</strong> Vorkriegszeit<br />
Kettenflieger mit<br />
Landschafts- <strong>und</strong><br />
Dekormalerei, 80er-Jahre<br />
78
eindruckten. Die meisten dieser<br />
beliebten Karussells wurden<br />
in <strong>der</strong> Vorkriegszeit von<br />
den Herstellern G<strong>und</strong>elwein<br />
o<strong>der</strong> Bothmann gebaut. Vereinzelte<br />
Exemplare fertigten<br />
aber auch kleine Firmen wie<br />
die Karussellbauer Sachs in<br />
Gotha o<strong>der</strong> Ohrbach in Ohrdruf.<br />
Typische Dekorationsteile<br />
dieser Fahrgeschäfte sind<br />
<strong>der</strong> Trichter, <strong>der</strong> den Mast verkleidet,<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Plafond an<br />
den Auslegern, die konstruktionsbedingt<br />
leicht nach oben<br />
stehen. Die Kettenflieger unterscheiden<br />
sich durch verschiedene<br />
Höhen, die Form<br />
des Trichters <strong>und</strong> die Anzahl<br />
<strong>der</strong> Stufen des Podiums. Die taillierten Trichter waren<br />
in <strong>der</strong> Regel schmal <strong>und</strong> hoch, es existierten aber auch<br />
Kettenflieger mit breiten, kurzen Trichtern. Es gab<br />
noch einige Exoten, wie das von Bothmann 1910 für<br />
die <strong>Schausteller</strong>in Rosa Pönitz gebaute „Luftschiff Caroussell“<br />
mit ungewöhnlicher Optik. Es wirkte „hoch<br />
wie breit“ <strong>und</strong> hatte keinen Trichter, wodurch es sofort<br />
auffiel. Auffällig war <strong>und</strong> ist auch heute noch die individuelle<br />
Charakteristik des Kettenfliegers <strong>der</strong> Familie<br />
Hammerschmitt. Nachdem in den siebziger Jahren<br />
die Leinwand <strong>der</strong> alten geraden Dachkante verwittert<br />
war, fertigte man eine schräge Dachkante aus Holzrahmen<br />
<strong>und</strong> Hartfaserpappe an, wodurch dieser Kettenflieger<br />
eine ganz persönliche Note erhielt. Die meisten<br />
<strong>DDR</strong>-Kettenflieger waren mit klassischer Dekorationsmalerei<br />
wie Ornamenten, Engeln, Landschafts<strong>und</strong><br />
Blumenmotiven o<strong>der</strong> mit einfachen geometrischen<br />
Formen sowie Farbflächen bemalt. Während<br />
die meisten Exemplare im Laufe <strong>der</strong> Zeit mehrmals mit<br />
neuen Motiven bemalt wurden, gab es auch einige,<br />
<strong>der</strong>en Bemalungen über Jahrzehnte unverän<strong>der</strong>t blieben<br />
<strong>und</strong> so zum Erkennungszeichen dieser Karussells<br />
wurden. Zu Beginn <strong>der</strong> achtziger Jahre tauchte auf<br />
den Plätzen in Sachsen-Anhalt <strong>und</strong> Sachsen ein Kettenflieger<br />
mit ovalem Podium auf. Das Beson<strong>der</strong>e an<br />
ihm war seine ungewöhnliche Fahrweise: Während <strong>der</strong><br />
Fahrt neigte sich <strong>der</strong> Dachstuhl nach vorn <strong>und</strong> hinten.<br />
Der Flieger wurde 1929 von G<strong>und</strong>elwein für Friedrich<br />
Wetzel als normaler<br />
Kettenflieger gebaut.<br />
Nachdem er<br />
über 20 Jahre stillgelegt<br />
war, wurde das<br />
Geschäft von Peter<br />
Backhaus übernommen.<br />
Er beauftragte<br />
die Firma Paselt in<br />
Leipzig mit <strong>der</strong> Rekonstruktion<br />
des heruntergekommenen<br />
Geschäftes, wobei<br />
dann <strong>der</strong> „Taumelkettenflieger“<br />
entstand.<br />
■<br />
FAHRGESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Großmann,<br />
Rolf Orschel<br />
Der Schwanenflieger<br />
von Hammer, um 1989<br />
Taumelkettenflieger<br />
von Großmann<br />
QUELLE<br />
Florian Dering: Volksbelustigungen,<br />
Seiten 93-94<br />
Kettenflieger von<br />
Hammerschmitt <strong>und</strong> Topf<br />
79
FAHRGESCHÄFTE<br />
RUSSISCHE SCHAUKEL<br />
Schiecks Riesenrad,<br />
„Wiener Hochrad“ von Bleifuß<br />
FOTOS<br />
Archiv Müller, Rolf Orschel<br />
Grölles Riesenrad<br />
mit Original-Malerei, 1989<br />
Müllers Riesenrad<br />
war in Sachsen Kult<br />
In den achtziger Jahren reisten in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> noch 24<br />
Riesenrä<strong>der</strong>. Sie waren meistens vor dem Krieg, teilweise<br />
kurz nach <strong>der</strong> Jahrh<strong>und</strong>ertwende von vielen<br />
Herstellern gebaut worden <strong>und</strong> hatten 8 bis 12 Gondeln<br />
bei einer Höhe von maximal 16 Metern. Die Riesenrä<strong>der</strong><br />
hatten einen überdachten Vorbau mit Frontdekoration<br />
<strong>und</strong> in einigen stand nach dem Krieg noch<br />
links o<strong>der</strong> rechts neben dem Eingang<br />
eine Orgel. Eine Beson<strong>der</strong>heit<br />
stellten die so genannten<br />
„Alexan<strong>der</strong>-Riesenrä<strong>der</strong>“ dar, von<br />
denen drei baugleiche Geschäfte<br />
sogar heute noch zu beson<strong>der</strong>en<br />
Anlässen aufgebaut werden. Der<br />
Chemnitzer Schmiedemeister Hermann<br />
Alexan<strong>der</strong> gründete 1888<br />
eine Karussell- <strong>und</strong> Wagenbaufabrik,<br />
spezialisierte sich aber bald<br />
auf die Herstellung von Riesenrä<strong>der</strong>n.<br />
In den 1920er- <strong>und</strong> 30er-Jahren<br />
stellte <strong>der</strong> Karussellbauer eine<br />
Serie von baugleichen Riesenrä<strong>der</strong>n<br />
mit jeweils 10 Gondeln <strong>und</strong> einer<br />
Höhe von 14 Metern her, von<br />
denen einige Exemplare nach dem<br />
Krieg zum Wahrzeichen vieler<br />
<strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> wurden.<br />
Während von den drei erhalten gebliebenen<br />
Exemplaren die Riesenrä<strong>der</strong><br />
von Schieck <strong>und</strong> Müller im<br />
Laufe <strong>der</strong> Jahre dem Zeitgeist angepasst<br />
<strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nisiert wurden,<br />
befindet sich das Riesenrad <strong>der</strong><br />
Familie Grölle heute noch fast im<br />
Originalzustand. Es wurde 1927<br />
von <strong>der</strong> Firma Alexan<strong>der</strong> als „Wiener<br />
Hochrad“ gebaut <strong>und</strong> nach mehreren Besitzerwechseln<br />
von Karl-Heinz Grölle vom Naherholungspark<br />
in Vatterode bei Mansfeld erworben. Unter Grölles<br />
Regie wurde das Riesenrad überholt <strong>und</strong> mit viel<br />
Liebe gehegt <strong>und</strong> gepflegt. Durch die behutsame <strong>und</strong><br />
fachmännische Aufarbeitung wurde aus dem Geschäft<br />
ein nostalgisches Prunkstück, das zu den<br />
80
FAHRGESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Müller, Archiv Pilz,<br />
Rolf Orschel<br />
„Wiener-Sport-Rad“ von<br />
Taube <strong>und</strong> das „schnellste<br />
Riesenrad <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“, Herrmann<br />
schönsten Riesenrä<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> zählte. Legendär<br />
<strong>und</strong> ebenfalls eine Augenweide war das Riesenrad <strong>der</strong><br />
Familie Berger. Im Jahr 1930 gebaut, zählte es mit 12<br />
Gondeln <strong>und</strong> einer Höhe von 16 Metern zu den großen<br />
„Russen“, wie diese Geschäfte im Jargon <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong><br />
genannt werden. Da das Geschäft durch<br />
Kriegseinwirkung schwer beschädigt wurde, musste<br />
es von Georg „Schorsch“ Berger wie<strong>der</strong> neu aufgebaut<br />
werden, bevor Familie Berger wie<strong>der</strong> die <strong>Volksfeste</strong><br />
<strong>und</strong> den Weihnachtsmarkt in (Ost)Berlin bereisen<br />
konnte. In den Jahren 1970 <strong>und</strong> 1972 präsentierte<br />
Georg Berger sein Riesenrad im Vidam-Park in Budapest.<br />
Von Ungarn wie<strong>der</strong> zurückgekehrt, ging er nach<br />
einem bewegten <strong>Schausteller</strong>leben in den Ruhestand<br />
<strong>und</strong> übergab das Riesenrad seinem Sohn Richard,<br />
<strong>der</strong>, wie später Eberhard Berger, die Riesenrad-Tradition<br />
<strong>der</strong> Familie weiterführte. Durch seine<br />
barocke Malerei <strong>und</strong> viele aufwändige<br />
Schnitzereien fiel das Riesenrad <strong>der</strong> Familie<br />
Berger sofort ins Auge <strong>und</strong> stach die<br />
Konkurrenz auf dem Berliner Weihnachtsmarkt,<br />
wo mitunter drei Riesenrä<strong>der</strong> aufgebaut<br />
waren, glatt aus. Auf an<strong>der</strong>e Art<br />
berühmt war das 10-gondelige Riesenrad<br />
<strong>der</strong> Familie Herrmann. Um 1900 gebaut,<br />
wurde es nach mehreren Besitzerwechseln<br />
1965 von Klaus Hermann erworben.<br />
Dieser „Russe“ drehte sich nicht konventionell<br />
gemächlich, son<strong>der</strong>n mit einem<br />
atemberaubenden Tempo, wodurch er als<br />
„schnellstes Riesenrad <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“ Furore<br />
machte.<br />
■<br />
Riesenrad mit acht<br />
Gondeln von Weber, 1961<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Alexan<strong>der</strong><br />
Riesenrä<strong>der</strong>, <strong>Kirmes</strong> Revue<br />
2/06, Seiten 30-32<br />
Die Riesenrä<strong>der</strong> von<br />
Schubert <strong>und</strong> Bretschnei<strong>der</strong><br />
81
FAHRGESCHÄFTE<br />
AUTOSKOOTER<br />
Einer <strong>der</strong> Pfostenskooter<br />
<strong>der</strong> Skooter-Dynastie Hoffmann<br />
FOTOS<br />
Archiv Hans Sachs, Archiv<br />
Manfred Sachs, Rolf Orschel<br />
Skooter von Sachs,<br />
50er- <strong>und</strong> 70er-Jahre, rechts:<br />
eine „Rabsche“-Chaise, von denen<br />
nur 12 gebaut wurden<br />
Die Autoskooter fanden auch in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> einen<br />
außergewöhnlichen Anklang beim Publikum. In<br />
den achtziger Jahren reisten 19 Stück, hauptsächlich<br />
in heimatlichen Gefilden, durch das Land. Dabei handelte<br />
es sich bis auf zwei Geschäfte um Pfostenskooter<br />
mit 24 bis 36 Säulen, <strong>der</strong>en Anzahl sich nach<br />
<strong>der</strong> Größe <strong>der</strong> Halle richtete. Die massiven <strong>und</strong> schweren<br />
Dachbin<strong>der</strong> bestanden aus Vierkanthölzern, die<br />
Dachstühle mussten mit hohen Leitern zusammengebaut<br />
werden, was Schwerstarbeit bedeutete. Unterhalb<br />
<strong>der</strong> Dachkonstruktion waren in <strong>der</strong> Größe <strong>der</strong> Halle<br />
stromführende, schwere Eisengitter für den Pluspol<br />
angebracht. Die in Westdeutschland – <strong>und</strong> noch – üblichen<br />
Spannetze gab es in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht. Einige<br />
<strong>Schausteller</strong> stellten deshalb solche Netze<br />
selbst her <strong>und</strong> verwendeten dafür einfachen<br />
Maschendraht, später so genannten<br />
„Karnickeldraht“, <strong>der</strong> engmaschiger war.<br />
Die „Karnickeldraht-Netze“ hielten meist<br />
eine Saison. Nachdem die Hersteller wesentlich<br />
dünneren Draht (staatlich angeordnete<br />
„Materialeinsparung“) verwenden<br />
mussten, hielten sie in <strong>der</strong> Regel zwei Plätze<br />
<strong>und</strong> mussten dann aufwändig repariert<br />
werden. Nach dem Krieg waren hauptsächlich<br />
Chaisen <strong>der</strong> Firma Mosebach vorhanden,<br />
die später überwiegend durch gebrauchte Ihle-<br />
Chaisen ersetzt wurden. Da die <strong>DDR</strong>-Industrie nicht in<br />
<strong>der</strong> Lage war, Skooterchaisen selbst herzustellen,<br />
konnten die Skooterbetreiber gebrauchte Chaisen<br />
o<strong>der</strong> Ersatzteile von Ihle o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Herstellern aus<br />
dem Nicht-Sozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW)<br />
bei <strong>der</strong> zuständigen staatlichen Behörde anfor<strong>der</strong>n.<br />
Da die gebrauchten Fahrzeuge mitunter teurer als ein<br />
PKW waren, wurden sie weit über ihre Nutzungsgrenze<br />
hinaus betriebsfähig gehalten. Dadurch befanden<br />
sich auf den <strong>DDR</strong>-Skootern überwiegend sehr alte,<br />
aber bestens gepflegte Chaisen. Zu den schönsten<br />
<strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nsten Skootern zählten ab Mitte <strong>der</strong> achtziger<br />
Jahre die 6-Säulen-Anlagen „Automatik Skooter“<br />
82
FAHRGESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Rudi Meyer, Archiv<br />
Hans Sachs, Archiv Manfred<br />
Sachs, Rolf Orschel<br />
Mack-Skooter<br />
von Rudi Meyer, um 1987<br />
von Rudi Meyer <strong>und</strong> „Super Skooter“ von Henry Fischer.<br />
Der „Automatik Skooter“ entstand aus zwei gebrauchten<br />
Mack-Skooterhallen. Die schrottreife Sohle<br />
musste komplett überholt <strong>und</strong> anschließend neu verzinkt<br />
werden, bevor <strong>der</strong> Dachstuhl angepasst werden<br />
konnte. Die Panneaus, die Front, die Lichtleisten <strong>und</strong><br />
Dekorationen wurden überwiegend selbst hergestellt.<br />
Für das Publikum waren jedoch am auffälligsten die in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> einmaligen <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>nen „Azurra“-Chaisen<br />
des italienischen Herstellers Barbieri. Der ebenfalls 6-<br />
säulige „Super Skooter“ von Fischer entstand im Eigenbau<br />
aus einer Hälfte <strong>der</strong> ehemaligen „Avusbahn“<br />
von Gibson, die in <strong>der</strong> Mitte „durchgesägt“ wurde, um<br />
zwei Skooter daraus zu bauen. Während einer bei den<br />
Eltern blieb, wurde <strong>der</strong> zweite von <strong>der</strong> Tochter betrieben.<br />
Er bildete später die Gr<strong>und</strong>lage für Fischers 6-<br />
Säulen-Skooter, dem einzigen Skooter dieser Art, <strong>der</strong><br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gebaut wurde. In zwei Jahren wurde zunächst<br />
für die alte Pfostenhalle eine neue Stahlsohle<br />
<strong>und</strong> anschließend eine komplett neue 6-Säulen-Halle<br />
gebaut. Einige Teile mussten mehrmals angefertigt<br />
werden, da sie sich nicht bewährten. Fischers „Super<br />
Skooter“ bewies, dass man in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> durchaus in <strong>der</strong><br />
Lage war, mo<strong>der</strong>ne Skooter zu bauen.<br />
■<br />
Der „Super Skooter“<br />
war ein Eigenbau von<br />
Henry Fischer, 80er-Jahre<br />
Skooter von<br />
Werner Meyer <strong>und</strong><br />
„Avusbahn“ von Gibson<br />
83
EIGENBAUTEN<br />
HALLE-SAALE-SCHLEIFE<br />
Weihnachtsmarkt in Halle<br />
1956: Adebars Autos auf <strong>der</strong><br />
Motorrollerbahn von Hartmann<br />
FOTO<br />
Archiv Rolf Hartmann<br />
Der Auslöser für den Bau <strong>der</strong> „Halle-Saale-Schleife“,<br />
die 1955/56 vom <strong>Schausteller</strong>ehepaar Liane<br />
<strong>und</strong> Helmuth Adebar aus Halle an <strong>der</strong> Saale gebaut<br />
wurde, war ein industriell hergestelltes Kin<strong>der</strong>auto mit<br />
Benzinmotor. Von einem Fahrradhilfsmotor, <strong>der</strong> im<br />
Magdeburger Armaturenwerk (MAW) hergestellt wurde,<br />
angetrieben, war dieses Auto das Objekt <strong>der</strong> Begierde<br />
<strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong>. Es sorgte aber auch<br />
regelmäßig für Auseinan<strong>der</strong>setzungen <strong>und</strong> Tränen, da<br />
jedes Kind mit diesem Auto fahren <strong>und</strong> freiwillig den<br />
Fahrersitz nicht räumen wollte. Das brachte Helmuth<br />
Adebar auf die Geschäftsidee, mit solchen Autos <strong>und</strong><br />
einer selbstgebauten Fahrbahn in Form einer kleinen<br />
Kartbahn ein für die <strong>DDR</strong> völlig neues Kin<strong>der</strong>fahrgeschäft<br />
zu bauen. Auf einer ebenen, ovalen Fahrbahn<br />
aus Holz mit einer Gr<strong>und</strong>fläche von 14 x 19 m konnten<br />
mehrere Autos gleichzeitig fahren. Die kleinen Fahrzeuge<br />
waren mit Licht ausgestattet <strong>und</strong> entsprachen<br />
in ihrer Karosserieform PKWs, die damals das Straßenbild<br />
mit prägten. Im Zentrum <strong>der</strong> Kartbahn befand sich<br />
ein kleines Podium, das mit Blumen geschmückt war<br />
<strong>und</strong> zum Reparieren <strong>und</strong> Abstellen <strong>der</strong> Autos genutzt<br />
wurde.<br />
„Maff-Hackenwärmer“ mit 1 PS<br />
Eine massive Bande aus Stahl sorgte dafür, dass die<br />
Autos die Fahrbahn nicht verlassen konnten. Die 50<br />
ccm-MAW-Motoren (die am Fahrrad links am Hinterrad<br />
angebracht <strong>und</strong> deshalb „Maff-Hackenwärmer“<br />
genannt wurden) leisteten 1 PS <strong>und</strong> waren mit einer<br />
Fliehkraftkupplung sowie einem Dekompressionsventil<br />
versehen. Die Autos mussten deshalb vor je<strong>der</strong><br />
Fahrt angeschoben werden, was bei Hochbetrieb –<br />
<strong>der</strong> häufig herrschte – zur schweißtreibenden Angelegenheit<br />
für das Personal wurde. Die vollkommen gelungene<br />
Premiere des einzigen <strong>DDR</strong>-Kin<strong>der</strong>fahrgeschäftes<br />
dieser Art fand 1956 auf dem Frühjahrsmarkt<br />
in Halle statt, wo das Geschäft von den Kin<strong>der</strong>n gestürmt<br />
wurde. Trotz langer Warteschlange vor <strong>der</strong> Kasse<br />
ließen sie es sich nicht entgehen, für 50 Pfennige<br />
mit einer Geschwindigkeit von 8 km/h mehrere R<strong>und</strong>en<br />
als kleine Rennfahrer zurückzulegen.<br />
Ungebremst in die Bande<br />
„Es passierte gelegentlich, dass ein Kind vor Aufregung<br />
das Lenken vergaß <strong>und</strong> ungebremst in die Bande<br />
fuhr. Die meisten kamen mit dem Schrecken davon,<br />
aber hin <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> schlug ein Kind mit dem Kinn auf<br />
dem Lenkrad auf. Die aufgeregten Eltern rannten dann<br />
Hals über Kopf zu ihrem Kind <strong>und</strong> wurden dabei des<br />
Öfteren von den an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n angefahren. Dann<br />
herrschte das reinste Chaos!“, erzählt Detlef Adebar,<br />
<strong>der</strong> sich heute noch gern an die „Halle-Saale-Schleife“<br />
seiner Eltern erinnert. Die <strong>Schausteller</strong>kin<strong>der</strong> waren<br />
durch die „Halle-Saale-Schleife“ bereits in <strong>der</strong> Aufbauwoche<br />
in heller Aufregung. „Der Packwagen mit<br />
den Autos, den wir genau kannten, wurde am an<strong>der</strong>en<br />
Ende des Platzes abgestellt. Da wir wussten, dass wir<br />
nach dem Aufbau <strong>der</strong> Fahrbahn die Autos zum Geschäft<br />
fahren durften, verfolgte ich mit den an<strong>der</strong>en<br />
Kin<strong>der</strong>n sehr genau das Geschehen. Schließlich wollten<br />
wir diesen Moment nicht verpassen“, erinnert sich<br />
<strong>Schausteller</strong> Werner Meyer an die „Halle-Saale-Schleife“.<br />
Nach <strong>der</strong> Stillegung <strong>der</strong> einzigen reisenden Kin<strong>der</strong>-Kartbahn<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> wurden vier Autos verkauft,<br />
zwei blieben im Besitz <strong>der</strong> Familie Adebar. ■<br />
84
KOSMOPLANE<br />
EIGENBAUTEN<br />
Der Kosmoplane<br />
gastierte noch 1990 auf<br />
dem Eisleber Wiesenmarkt<br />
QUELLE<br />
Der Kosmoplane des <strong>Schausteller</strong>s Walter Seifert<br />
aus Leipzig war die erste große Eigenkreation in<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, die in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Firma Walter<br />
Hunger im sächsischen Frankenberg entstand. Da<br />
sich die Firma Hunger auf die Herstellung von hydraulisch<br />
betätigten Kipp-Pritschen für Lastkraftwagen<br />
<strong>und</strong> Anhänger spezialisiert hatte, gelang ihr mit<br />
dem Bau des Kosmoplane – dem ersten <strong>und</strong> einzigen<br />
Flugkarussell <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> mit pneumatischer Höhensteuerung<br />
dieser Größe – ein großer Coup. Der Pressluftflieger<br />
war im Gr<strong>und</strong>e ein Nachbau des von <strong>der</strong><br />
Fahrzeugbaufirma Kaspar Klaus in Memmingen gebauten<br />
Luftfliegers Hurricane, <strong>der</strong> zu Beginn <strong>der</strong><br />
1950er-Jahre in Westdeutschland Furore machte. Die<br />
gelungene Realisierung des für die damalige Zeit kühnen<br />
Projektes stellte, unter Berücksichtigung <strong>der</strong> herrschenden<br />
Verhältnisse in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, eine bis dahin beispiellose<br />
technische Meisterleistung dar. Mit dem Bau<br />
des Kosmoplane bewiesen Walter Seifert <strong>und</strong> Walther<br />
Hunger, dass die privaten Handwerksbetriebe in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> in den fünfziger Jahren durchaus in <strong>der</strong> Lage<br />
waren, durch ihr Organisationstalent <strong>und</strong> handwerklichem<br />
Können Karussells mit neuartigen Bewegungsabläufen<br />
zu bauen. Das Geschäft war auf einem Mittelbauwagen<br />
aufgebaut. Wie beim Hurricane waren<br />
am oberen Rand des Drehkörpers die Ausleger beweglich<br />
über den Pressluftzylin<strong>der</strong>n angebracht <strong>und</strong><br />
mit den Kolben <strong>der</strong> Zylin<strong>der</strong> verb<strong>und</strong>en. Die 12 wuchtigen<br />
Ausleger bestanden aus zusammengeschweißten<br />
Kastenprofilen aus Stahlblech, für die illegal Bleche<br />
für Kipper-Pritschen verwendet<br />
wurden (offiziell hätte<br />
man damals keine Bleche für<br />
den Bau eines Karussells erhalten).<br />
Durch ein Steuerventil,<br />
das sich in je<strong>der</strong> Gondel befand,<br />
konnten die Fahrgäste<br />
ihre Flughöhe selbst bestimmen.<br />
Die Kompressoranlage<br />
war in einem Wagen untergebracht<br />
<strong>und</strong> die komprimierte<br />
Luft wurde durch einen Druckschlauch<br />
zum Rotorventil unter<br />
dem Mittelbau weitergeleitet. Der Umbau bestand aus<br />
einem flachen Podium, Eisenzäunen <strong>und</strong> Säulen mit<br />
Lampen. Im Karussellzentrum befand sich ein großer<br />
Globus, <strong>der</strong> später durch einen<br />
Lichtturm ersetzt wurde. Walter<br />
Seiferts Kosmoplane ging auf <strong>der</strong><br />
Dresdner Vogelwiese ans Netz, wo<br />
das Geschäft wie eine Bombe einschlug<br />
<strong>und</strong> von den Besuchern im<br />
Sturm erobert wurde. Kosmoplane<br />
blieb ein Unikat. Nachdem Walter<br />
Seifert Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre<br />
gestorben war, wurde das Geschäft<br />
von dessen Sohn Oskar<br />
übernommen, <strong>der</strong> noch viele Jahre<br />
erfolgreich damit reiste. ■<br />
Karl Ruisinger: Hurricane –<br />
R<strong>und</strong>fliegeranlagen von<br />
Klaus, <strong>Kirmes</strong> Revue 6/97,<br />
Seiten 14 - 23,<br />
Rolf Orschel: Die <strong>Schausteller</strong><br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> <strong>der</strong> 50er<br />
Jahre, <strong>Kirmes</strong> Revue 5/99,<br />
Seite 24<br />
Das Karussell aus<br />
<strong>der</strong> Vogelperspektive<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel, Archiv Weckner,<br />
Archiv Welte<br />
Der Pressluftflieger<br />
im Ursprungszustand<br />
85
EIGENBAUTEN<br />
MINI-WELTRAUMBUMMLER – DISNEY-JET<br />
Der Disney-Jet<br />
von Bernd Schleinitz<br />
Der 1986 neu<br />
gebaute Mittelbauwagen<br />
Auf <strong>der</strong> Frühjajhrskleinmesse in Leipzig hatte 1971<br />
mit dem „Mini-Weltraumbummler“ des <strong>Schausteller</strong>s<br />
Erich Schleinitz das erste hydraulische Kin<strong>der</strong>karussel,<br />
das in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> entworfen <strong>und</strong> gebaut worden<br />
war, Premiere. Das für die damalige Zeit technisch <strong>und</strong><br />
optisch gut gelungene Kin<strong>der</strong>karussell ermöglichte<br />
den kleinen <strong>Kirmes</strong>fans ein vollkommen neues Fahrerlebnis.<br />
Während <strong>der</strong> Fahrt wurde von <strong>der</strong> Kasse aus<br />
gesteuert ein Hydraulikzylin<strong>der</strong> ausgefahren, <strong>der</strong> die<br />
Ausleger des Karussells über Zugstangen auf eine<br />
Höhe von circa 3 Metern anhob. Das einem Babyflug<br />
ähnelnde Karussell wurde von den Kin<strong>der</strong>n gut angenommen<br />
<strong>und</strong> konnte sich auf den Plätzen, wo kein<br />
Babyflug des VEB Staatszirkus aufgebaut war, stets<br />
mühelos behaupten. Nach dem Willen von Schleinitz,<br />
<strong>der</strong> die Jahre zuvor mit einem Kartenblinker, einem<br />
Drehrad, einer Verlosung, einem Fadenziehen, einer<br />
Kin<strong>der</strong>schaukel, einer Schlickerbahn <strong>und</strong> einem Ringwerfen<br />
reiste, sollte <strong>der</strong><br />
Mini-Weltraumbummler ursprünglich<br />
ein Twister werden.<br />
Da es in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> zu<br />
diesem Zeitpunkt aber keine<br />
funktionierende Karussellindustrie<br />
mehr gab,<br />
suchte Erich Schleinitz lange<br />
nach Firmen, die ihm<br />
Einzelteile o<strong>der</strong> Baugruppen<br />
für den Twister bauen<br />
sollten. Durch die herrschenden<br />
Wirtschaftsverhältnisse<br />
<strong>und</strong> Materialengpässe<br />
konnte das Twister-<br />
Projekt trotz intensiver Bemühungen<br />
aber nicht gemeistert werden. Durch die<br />
vielen Verhandlungen mit spezialisierten Firmen kam<br />
allerdings die realisierbare Idee zustande, ein leicht<br />
zu handhabendes, hydraulisches Kin<strong>der</strong>karussell zu<br />
bauen. Nachdem vom Ingenieur W. G<strong>und</strong>elwein die<br />
erfor<strong>der</strong>lichen Zeichnungen <strong>und</strong> Berechnungen angefertigt<br />
wurden, begann Erich Schleinitz im Winter<br />
1968/69 mit großem Elan, den Mini-Weltraumbummler<br />
zu bauen.<br />
<strong>Spezial</strong>isten waren am Bau beteiligt<br />
Der Mittelbau, die Ausleger, die Gondelrahmen <strong>und</strong><br />
die Gitter fertigte in bester Qualität <strong>der</strong> Schmiedemeister<br />
Dietze in Holzhausen an. Die Holzarbeiten übernahm<br />
die Tischlerei Dämmrich in Leipzig. Mit tatkräftiger<br />
Unterstützung von Erich Schleinitz wurden in dieser<br />
Firma die Sohle, die Podeste <strong>und</strong> die Kasse ge-<br />
86
EIGENBAUTEN<br />
Das von J. Uhlmann nach<br />
Plänen von E. Schleinitz<br />
gebaute Karussell unter<br />
<strong>der</strong> Regie <strong>der</strong> Firma Weisheit<br />
baut. Sämtliche Elektroarbeiten wurden anschließend<br />
von <strong>der</strong> Firma Wagner in Leipzig ausgeführt. Die Hydraulikanlage<br />
konstruierte das ebenfalls in Leipzig ansässige<br />
Ingenieurbüro Walter Fronz. Die Stahlgerippe<br />
<strong>der</strong> zehn raketenförmigen Gondeln wurden vom Sohn,<br />
Bernd Schleinitz, eigenständig <strong>und</strong> in mühevoller<br />
Kleinarbeit verblecht. Der Weiterbau des Karussells<br />
musste anschließend für zwei Jahre unterbrochen weden,<br />
wodurch <strong>der</strong> Mini-Weltraumbummler erst im Frühjahr<br />
1971 fertig gestellt <strong>und</strong> in Betrieb genommen werden<br />
konnte. Mit einem Durchmesser von 10 m, 10 Auslegern<br />
mit je einer dreisitzigen raketenförmigen Gondel,<br />
einem 3 m langen Mittelbauwagen <strong>und</strong> einer maximalen<br />
Aufbauzeit von vier St<strong>und</strong>en zählte <strong>der</strong> Mini-<br />
Weltraumbummler mit zu den mo<strong>der</strong>nsten Kin<strong>der</strong>fahrgeschäften,<br />
die in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reisten. Nachdem Erich<br />
Schleinitz im Jahr 1981 mit 69 Jahren verstarb, reiste<br />
seine Frau mit Unterstützung ihres Sohnes mit dem Karussell<br />
weiter.<br />
Das Karussell wurde 1986 umgebaut<br />
Nach den Ideen von Bernd Schleinitz <strong>und</strong> mit seiner<br />
Unterstützung wurde <strong>der</strong> Mini-Weltraumbummler 1986<br />
umgebaut. Der Mittelbau erhielt eine hydraulische<br />
Kippvorrichtung, wodurch eine Schrägfahrt ermöglicht<br />
wurde. Anschließend montierte man das komplette<br />
Karussell auf einem 10 m langen Wagen. Die für<br />
den Umbau erfor<strong>der</strong>lichen statischen Berechnungen<br />
führte die Firma Wohllebe in Leipzig aus. Die Anfertigung<br />
des neuen Mittelbauwagens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kippvorrichtung<br />
übernahm in bewährter Weise wie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Schmiedemeister Dietze aus Holzhausen. Neu war<br />
nun, dass das komplette Kin<strong>der</strong>karussell auf <strong>und</strong> in einem<br />
Anhänger transportiert werden konnte. Nach dem<br />
Umbau erhielt das Geschäft eine neue Lackierung <strong>und</strong><br />
eroberte mit <strong>der</strong> neuen Fahrweise <strong>und</strong> als „Disney-Jet“<br />
weiterhin die Herzen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Im Jahr 1993 verkaufte<br />
Bernd Schleinitz das Karussell an den <strong>Schausteller</strong><br />
Bernd Kade aus Coswig, <strong>der</strong> es erfolgreich weiter<br />
betrieb.<br />
Die Zeichnungen wurden verkauft<br />
Die Konstruktionszeichnungen <strong>und</strong> die statischen Berechnungen<br />
verkaufte Erich Schleinitz in den 1970er-<br />
Jahren an Jürgen Uhlmann aus Markkleeberg, <strong>der</strong><br />
1979 mit einem nachgebauten <strong>und</strong> baugleichen Mini-<br />
Weltraumbummler auf die Reise ging. Das Uhlmann-<br />
Karussell war ebenfalls optisch <strong>und</strong> technisch hervorragend<br />
gelungen <strong>und</strong> hatte als Gondeln gut aussehende<br />
Polyesterflugzeuge, durch die dieses Karussell<br />
attraktiver <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>ner wirkte <strong>und</strong> stets eine geschäftliche<br />
Konkurrenz für den Disney-Jet darstellte.<br />
Da diese Flugzeuge mehr Platz beanspruchten, wurden<br />
neun Stück in entsprechenden Stellagen auf einem<br />
einachsigen Anhänger transportiert, <strong>der</strong> an den<br />
Mittelbauwagen angehängt wurde. Dadurch konnte<br />
dieses Karussell ebenfalls mit einem Transport komplett<br />
umgesetzt werden. Obwohl Jürgen Uhlmanns<br />
Eigenbau auch sehr erfolgreich war, wurde <strong>der</strong> Mini-<br />
Weltraumbummler bereits nach kurzer Zeit verkauft.<br />
Nach einigen Zwischenstationen tauchte dieses Kin<strong>der</strong>karussell<br />
in den 1990er-Jahren dann in Thüringen<br />
auf, wo es unter <strong>der</strong> Regie <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong>firma Weisheit<br />
als „Apollo“ betrieben wurde. Danach verlor sich<br />
die Spur dieses ungewöhnlichen Kin<strong>der</strong>karussells.<br />
Da beim Disney-Jet <strong>und</strong> dem Mini-Weltraumbummler<br />
die Flughöhe von den Kin<strong>der</strong>n nicht selbst gesteuert<br />
werden konnte, waren die Babyflüge des VEB Zentralzirkus<br />
eine enorme geschäftliche Konkurrenz <strong>und</strong><br />
bei den Kin<strong>der</strong>n natürlich wesentlich beliebter. Trotzdem<br />
bereicherten die einzigen hydraulischen Kin<strong>der</strong>karussells<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> das Angebot auf den Plätzen, die<br />
vom Zentralzirkus nicht gehalten wurden <strong>und</strong> waren<br />
ein Beweis für den Tatendrang <strong>und</strong> Ideenreichtum <strong>der</strong><br />
privaten <strong>Schausteller</strong>, die trotz <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Planwirtschaft ihren Beruf ausübten.<br />
■<br />
FOTOS<br />
Archiv Schleinitz,<br />
Rolf Orschel<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Mini-Weltraumbummler,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue<br />
5/2000, Seiten 28-29<br />
87
EIGENBAUTEN<br />
VENUS CLIPPER<br />
Der Venus Clipper 1987<br />
auf dem Laternenfest in Halle<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel, Archiv Reno<br />
Sperlich<br />
Die kastenförmigen<br />
Holzgondeln<br />
Inspiriert von <strong>der</strong> Flugschanze, mit <strong>der</strong> Siegfried<br />
Kunze aus Meißen sehr erfolgreich reiste, tüftelte <strong>der</strong><br />
<strong>Schausteller</strong> Klaus Gebhardt aus Teutschenthal seit<br />
Anfang <strong>der</strong> 1970er-Jahre an Plänen für ein ähnliches<br />
Karussell. Obwohl <strong>der</strong> endgültige Entwurf stark von<br />
<strong>der</strong> damals sehr mo<strong>der</strong>nen Flugschanze beeinflusst<br />
wurde, konnte kein direkter Nachbau realisiert werden,<br />
da die Voraussetzungen für den Bau <strong>der</strong> hydraulischen<br />
Auslegerdämpfer nicht vorhanden waren. In<br />
Kooperation mit verschiedenen Handwerksbetrieben<br />
aus Teutschenthal wurde das Karussell 1972 gebaut,<br />
wobei die Ausleger <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Stahlteile von <strong>der</strong> Firma<br />
Brauns angefertigt wurden. Neben den Handwerksbetrieben<br />
war <strong>der</strong> Schwiegersohn von Klaus<br />
Gebhardt, Klaus Dieter Mertens, aktiv an <strong>der</strong> Herstellung<br />
des Geschäftes beteiligt. Mertens war ein talentierter<br />
Stahlbauer, <strong>der</strong> die Ideen seines Schwiegervaters<br />
geschickt <strong>und</strong> in ausgezeichneter Qualität umsetzen<br />
konnte. Nach <strong>der</strong> Fertigstellung erhielt das Geschäft<br />
den außergewöhnlichen Namen „Venus Clipper“.<br />
Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> auffallend hohen <strong>und</strong> bunten Rückwand,<br />
den vielen Lichtelementen <strong>und</strong> durch seine einzigartige<br />
Gestaltung wirkte das Geschäft wie eine exotische<br />
Mischung aus <strong>der</strong> Flugschanze <strong>und</strong> einer Cabriolet-Berg-<strong>und</strong>-Talbahn.<br />
Der Venus Clipper hatte zunächst<br />
zwölf Ausleger mit einfachen, kastenförmigen<br />
Holzgondeln, die maximal drei Erwachsenen o<strong>der</strong> fünf<br />
Kin<strong>der</strong>n Platz boten. Die Laufrä<strong>der</strong> bestanden aus einem<br />
Eisenkern mit Hartgummibereifung, die für einen<br />
leisen Lauf des Karussells sorgten. Für die Kasse <strong>und</strong><br />
den Fahrstand wurde ein 3 Meter langer Oberlichtwagen<br />
umgebaut. Durch den Andrang <strong>der</strong> Fahrgäste auf<br />
den meisten Plätzen wurde später noch eine zusätzliche<br />
Chipkasse nach westlichem Vorbild nachgebaut.<br />
Technische Probleme<br />
Aufgr<strong>und</strong> technischer Probleme wurde <strong>der</strong> Mittelbau,<br />
<strong>der</strong> auf einem kleinen, einachsigen Wagen montiert<br />
war, in den folgenden Jahren noch mehrmals umgebaut.<br />
Da durch die technischen Verän<strong>der</strong>ungen des<br />
Antriebs die Probleme aber nicht dauerhaft beseitigt<br />
werden konnten, entschloss sich Klaus Gebhardt später<br />
zu einem nochmaligen Umbau des Karussells. Dabei<br />
wurden zwei Ausleger entfernt <strong>und</strong> ein neuer Mittelbau<br />
gebaut. Anschließend erhielten die Gondeln<br />
noch eine gefälligere Form. Das<br />
Entfernen von zwei Auslegern<br />
brachte dann endlich den erhofften<br />
Erfolg. Das Karussell drehte<br />
nach diesem Umbau zuverlässig<br />
<strong>und</strong> ohne technische Probleme<br />
seine R<strong>und</strong>en. Dennoch war Klaus<br />
Gebhardt mit dem Ergebnis immer<br />
noch nicht zufrieden, da die Gondeln<br />
ziemlich plump aussahen.<br />
Deshalb baute er mit seinem<br />
Schwiegersohn noch einmal komplett<br />
neue Gondeln aus Holz. Diese<br />
hatten ein mo<strong>der</strong>neres Design,<br />
waren einfacher zu montieren <strong>und</strong><br />
erhielten bequeme Sitz- <strong>und</strong> Rü-<br />
88
ckenpolster. An je<strong>der</strong> Stirnseite wurden zwei große<br />
Scheinwerfer vom Moped „Schwalbe“ <strong>und</strong> ein Kühlergrill<br />
vom PKW „Trabant“ angebracht. Die Rückwände<br />
erhielten Rückleuchten vom PKW „Lada“. Zum Abschluss<br />
wurden die Gondeln zweifarbig lackiert, wobei<br />
je fünf einen rot/gelben <strong>und</strong> blau/weißen Anstrich<br />
erhielten. Danach wurde an den vor<strong>der</strong>en Seitenteilen<br />
<strong>der</strong> Gondeln noch ein selbst entworfenes Firmen-Logo<br />
mit den Initialen KM <strong>und</strong> <strong>der</strong> Inschrift Teutschenthal angebracht.<br />
Zum bequemeren Ein- <strong>und</strong> Aussteigen wurden<br />
abschließend extra breite Trittbretter auf den Auslegern<br />
befestigt. Die neuen Gondeln verliehen dem<br />
Venus Clipper ein mo<strong>der</strong>neres <strong>und</strong> zeitgemäßeres<br />
Outfit <strong>und</strong> begeisterten von Anfang an, nicht zuletzt<br />
wegen ihrer guten Polsterung, das Publikum.<br />
Rasantes Fahrgefühl<br />
Die Fahrt mit dem Venus Clipper ähnelte von Anfang<br />
an <strong>der</strong> einer Sprungschanze, allerdings fehlte die charakteristische<br />
Flugphase mit sanfter Landung. Dafür<br />
erzeugte <strong>der</strong> hintere steile Berg bei schneller Fahrt ein<br />
heftiges Magenkribbeln <strong>und</strong> ein ziemlich rasantes<br />
Fahrgefühl. In den achtziger Jahren wurden<br />
von Klaus Dieter Mertens noch einige Teile<br />
des Karussells erneuert. Er ersetzte die<br />
Holzböden des Podiums durch Aluminium-<br />
Böden mit Kastenprofilrahmen <strong>und</strong> baute<br />
noch elegantere Säulenverkleidungen. Danach<br />
wurden noch ein neuer Kassenwagen,<br />
in dem ein kleines Büro <strong>und</strong> ein Bad integriert<br />
wurden, sowie ein 9 Meter langer<br />
Packwagen in Containerform von ihm gebaut.<br />
Für den Packwagen wurden lediglich<br />
die Achsen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Drehschemel von einer<br />
Fahrzeugbau-Firma verwendet, das Fahrgestell<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Aufbau wurden selbst gebaut.<br />
Bis zum Jahr 1990 wurden noch <strong>der</strong><br />
Aufgang terassenförmig umgebaut <strong>und</strong> die<br />
meisten Holzteile durch Metallkonstruktionen<br />
ersetzt, wodurch<br />
sich zu diesem Zeitpunkt<br />
nur noch die Rückwand<br />
<strong>und</strong> die Ausleger im Ursprungszustand<br />
befanden.<br />
Sämtliche an<strong>der</strong>en Teile waren<br />
erneuert o<strong>der</strong> überholt worden.<br />
Klaus Gebhardt tourte mit<br />
seinem ungewöhnlichen Unikat<br />
bis kurz nach <strong>der</strong> Wende<br />
erfolgreich durch Sachsen-<br />
Anhalt. Im Jahr 1990 wurde auf<br />
dem Sommermarkt in Halle<br />
das Karussell über Nacht abgebaut<br />
<strong>und</strong> durch den kurzfristig<br />
erworbenen Hully Gully<br />
„Disco Fieber“ ersetzt. Der Venus Clipper wurde auf<br />
dem Gr<strong>und</strong>stück eingelagert. Im Sommer 1992 übernahm<br />
Reno Sperlich aus Jessen das Karussell <strong>und</strong> reiste<br />
acht Jahre damit durch Sachsen <strong>und</strong> Sachsen-Anhalt.<br />
Im Januar des Jahres 2000 verkaufte er das Karussell<br />
an die Firma Schmidt in Battin/Jessen. Danach<br />
verlor sich die Spur dieses exotischen Unikates. In <strong>der</strong><br />
zweiten Hälfte <strong>der</strong> achtziger Jahre spukte Klaus Gebhardt<br />
ein verwegener Plan im Kopf herum, <strong>der</strong> Nachbau<br />
des Schienenschiffes „Santa Maria“. Kurz darauf<br />
wurde mit <strong>der</strong> Verwirklichung dieses ehrgeizigen Plans<br />
begonnen. Bis 1990 hatte Klaus Dieter Mertens das<br />
Schiff (bis auf den Kiel) <strong>und</strong> den Mittelbau im Rohbau<br />
bereits hergestellt. Außerdem waren schon <strong>der</strong> Mittelbau-<br />
<strong>und</strong> ein Packwagen sowie einige Teile des Bahnhofs<br />
<strong>und</strong> dessen Umzäunung gebaut. Durch die völlig<br />
neue Situation nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung wurden<br />
die Arbeiten nach dem Erwerb des Hully Gully eingestellt.<br />
Da sich kein Interessent für die bereits fertiggestellten<br />
Teile fand, wurden sie bis auf die Bahnhofsumzäunung<br />
innerhalb einer Woche mit dem Schneidbrenner<br />
zerlegt <strong>und</strong> verschrottet.<br />
■<br />
EIGENBAUTEN<br />
FOTOS<br />
Archiv Reno Sperlich<br />
Die dritten Gondeln<br />
waren gut gepolstert<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Venus Clipper,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue 7/2000,<br />
Seite 59<br />
Die zweite Gondelform<br />
89
EIGENBAUTEN<br />
FLYER<br />
Premiere des<br />
Flyers in Bautzen, 1981<br />
Holger Hölzel aus Neugersdorf in <strong>der</strong> Oberlausitz<br />
arbeitete in <strong>der</strong> Textilindustrie <strong>und</strong> hatte mit Erfolg<br />
ein Fachschulstudium für Konstruktion <strong>und</strong> Maschinenbau<br />
absolviert. Zu Beginn <strong>der</strong> siebziger Jahre verliebte<br />
er sich auf dem damals bereits überregional bekannten<br />
Neugersdorfer Jacobimarkt in die <strong>Schausteller</strong>-Tochter<br />
Annelie Weise. Familie Weise reiste zu dieser<br />
Zeit mit einer Kin<strong>der</strong>eisenbahn <strong>und</strong> einer Schießbude.<br />
Nach <strong>der</strong> Hochzeit konnte das junge Ehepaar<br />
nur eine Wochenend-Ehe führen, da Holger Hölzel<br />
zunächst in seinem Betrieb weiter arbeitete <strong>und</strong> seine<br />
Frau im Betrieb ihrer Eltern helfen musste. Nachdem<br />
dieser Zustand für beide unerträglich wurde, kündigte<br />
Holger Hölzel, <strong>der</strong> mittlerweile Gefallen am <strong>Schausteller</strong>leben<br />
fand, in seinem Betrieb <strong>und</strong> baute nach eigenen<br />
Ideen <strong>und</strong> selbst angefertigten Zeichnungen<br />
ein elektronisches Glücksrad. Nach <strong>der</strong> Fertigstellung<br />
des Geschäftes gründeten er <strong>und</strong> seine Frau ihren eigenen<br />
<strong>Schausteller</strong>betrieb. Das Geschäft lief gut <strong>und</strong><br />
brachte ordentlich Geld ein – befriedigte Holger Hölzel<br />
aber nicht auf Dauer. Das Glücksrad lastete ihn<br />
nicht aus, wodurch <strong>der</strong> Wunsch nach einem Fahrgeschäft<br />
immer größer wurde. Da aber zu diesem Zeitpunkt<br />
kein Karussell zum Kauf angeboten wurde,<br />
konnte Holger Hölzel seinen Wunsch in absehbarer<br />
Zeit nur durch einen Eigenbau verwirklichen. Nach längeren<br />
Überlegungen hatte er eine Idee, die kurz darauf<br />
konkrete Formen annahm. Der fertige Entwurf wurde<br />
stark von den in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> sehr beliebten „VEB-Twistern“<br />
beeinflusst. Ein direkter Twister-Nachbau konn-<br />
Momentaufnahme<br />
vom Bau des Karussells, 1980<br />
90
EIGENBAUTEN<br />
Der Flyer unter<br />
Mario Kühn auf dem<br />
Dresdner Frühlingsfest 2004<br />
te allerdings aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> vorhandenen Mittel <strong>und</strong><br />
Möglichkeiten nicht realisiert werden. Dennoch sollte<br />
Hölzels Karussell auf einem Mittelbauwagen montiert<br />
werden, schnell auf- <strong>und</strong> abgebaut <strong>und</strong> umgesetzt<br />
werden können. Die erfor<strong>der</strong>lichen Zeichnungen stellten<br />
für den studierten Konstrukteur keine Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
dar. Beim „Flyer“ wurden 16 Ausleger mit „suspended-Sitzen“<br />
während <strong>der</strong> Fahrt hydraulisch auf<br />
eine Höhe von circa sechs Metern angehoben. Das<br />
dreiachsige Fahrgestell des Mittelbauwagens fertigte<br />
die Firma Feuchtemeier in Kamenz an. Danach wurde<br />
das Fahrgestell in den Garten <strong>der</strong> Familie Hölzel gebracht,<br />
worauf im Winter 1979/80 mit dem Bau des Karussells<br />
unter freiem Himmel, teilweise bei klirren<strong>der</strong><br />
Kälte <strong>und</strong> dichtem Schneetreiben, begonnen wurde.<br />
Bei <strong>der</strong> Materialbeschaffung zahlten sich Hölzels ehemaligen<br />
guten Kontakte zu Stahl- <strong>und</strong> Maschinenbaufirmen<br />
aus. So konnte für das Heben <strong>und</strong> Senken <strong>der</strong><br />
Ausleger eine Hydraulikanlage des Autokrans „ADK<br />
170“ verwendet werden. Die Gestelle für die Sitze wurden<br />
von einer Schubkarren-Firma im benachbarten<br />
Ebersbach aus gebogenen Eisenrohren zusammengeschweißt.<br />
Für die Sitzpolster kaufte Hölzel einen<br />
„Ikarus“-Bus, von dem er auch den Motor für die aus<br />
Ungarn stammende „Csepel“-Zugmaschine verwenden<br />
konnte. Der Rest des Busses wurde anschließend<br />
verschrottet. Die Bus-Sitze wurden neu gepolstert <strong>und</strong><br />
bezogen <strong>und</strong> danach in die fertiggestellten Eisengestelle<br />
eingesetzt. Danach folgte die Anfertigung <strong>der</strong><br />
Böcke für das flache, zweistufige Podium, <strong>der</strong> Fußböden<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Begrenzungsgitter. Nach <strong>der</strong> Herstellung<br />
<strong>der</strong> Lichtleisten, dem Bau des Fahrstandes <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
kompletten Verkabelung des Karussells konnten nach<br />
nur einjähriger Bauzeit die ersten Probefahrten durchgeführt<br />
werden. Auf dem Frühjahrsmarkt in Bautzen<br />
ging Hölzels „Flyer“ dann 1981 ans Netz. Zur erfolgreichen<br />
Premiere kamen viele Kollegen, die die Eigenkreation<br />
bestaunten <strong>und</strong> testeten. Das Karussell<br />
kam auf Anhieb beim Publikum an <strong>und</strong> konnte sich gut<br />
behaupten. Trotzdem verkaufte Familie Hölzel das Geschäft<br />
1985 an Steffen Heintze aus O<strong>der</strong>witz im Kreis<br />
Zittau, <strong>der</strong> mit dem „Flyer“ einen geglückten Start in<br />
seine Selbstständigkeit feiern konnte. Nachdem er<br />
genügend Erfahrungen mit dem Geschäft gesammelt<br />
hatte, begann er zielgerichtet einige Teile umzubauen.<br />
Da das Getriebegehäuse durch den starken Elekromotor<br />
immer wie<strong>der</strong> riss, besorgte sich Steffen Heintze<br />
vom Getriebewerk in Penig eine robustere Version.<br />
Die Drehzahl des Motors wurde von einem Wasseranlasser<br />
geregelt, <strong>der</strong> über ein Fußpedal betätigt wurde,<br />
was im Laufe eines Tages mächtig in die Beine ging.<br />
Deshalb baute Heintzes Opa einen Wie<strong>der</strong>standsanlasser<br />
mit Zeitrelais, wodurch <strong>der</strong> Motor automatisch<br />
geregelt wurde. Durch zusätzliche Lichtleisten <strong>und</strong><br />
eine neue Lackierung erhielt <strong>der</strong> „Flyer“ auch ein neues<br />
Outfit. Steffen Heintze reiste mit dem Karussell-Exoten<br />
bis 1992 <strong>und</strong> verkaufte den „Flyer“ nach dem Erwerb<br />
<strong>der</strong> Familienachterbahn „Drachen“ an den<br />
<strong>Schausteller</strong> Mario Kühn aus Weinböhla bei Meißen.<br />
Mario Kühn präsentiert das Geschäft bis heute überwiegend<br />
auf kleinen Plätzen in <strong>der</strong> Dresdner Region,<br />
wo es erstaunlicherweise immer noch vom Publikum<br />
angenommen wird.<br />
Der Eigenbau von Holger Hölzel war zu <strong>DDR</strong>-Zeiten<br />
trotz des eher unspektakulären Fahrablaufs eine willkommene<br />
Bereicherung <strong>der</strong> nur aus wenigen Typen<br />
bestehenden Fahrgeschäftsszene. Der „Flyer“ war unter<br />
den damals herrschenden Bedingungen für seinen<br />
Erbauer das technisch Machbare. Durch den Mittelbauwagen,<br />
schnelles Umsetzen <strong>und</strong> das leichte<br />
Handling war das Karussell für die damalige Zeit<br />
durchaus ein mo<strong>der</strong>nes Geschäft.<br />
■<br />
FOTOS<br />
Archiv Hölzel,<br />
Rolf Orschel<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Flyer, <strong>Kirmes</strong><br />
Revue 9/04, Seiten 18-19<br />
91
EIGENBAUTEN<br />
WIKINGER<br />
Das Karussell 1990<br />
unter Jürgen Uhlmann auf<br />
dem Wiesemnarkt in Eisleben<br />
Der Wikinger unter <strong>der</strong><br />
Regie von Olaf Liebold, 1993<br />
Der „Wikinger“, eine exotische Variante des „Fliegenden<br />
Teppichs“, war das einzige Fahrgeschäft<br />
dieser Art, das seit 1985 in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> reiste <strong>und</strong> durch<br />
seine kompakte Konstruktion <strong>und</strong> Gestaltung neue<br />
Maßstäbe setzte. Das Karussell entstand nach Plänen<br />
des <strong>Schausteller</strong>s Jürgen Uhlmann aus Leipzig-Markkleeberg<br />
in Zusammenarbeit mit mehreren <strong>Spezial</strong>baufirmen.<br />
Jürgen Uhlmann war von Beruf Schlosser<br />
<strong>und</strong> reiste gegen Ende <strong>der</strong> 1970er-Jahre mit dem von<br />
ihm nach Plänen des <strong>Schausteller</strong>s Erich Schleinitz<br />
aus Körlitz gebauten Kin<strong>der</strong>karussell „Mini-Weltraumbummler“.<br />
Der innovative Perfektionist grübelte aber<br />
kurze Zeit später an einem geradezu tollkühnen Plan<br />
für ein in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> noch nicht vorhandenes Fahrgeschäft.<br />
Er wollte ein Fahrgeschäft mit einer an zwei<br />
Schwingarmen befestigten <strong>und</strong> vertikal rotierenden<br />
Gondel, das nur auf einem Anhänger montiert <strong>und</strong><br />
ohne Kran mit wenigen Handgriffen auf- <strong>und</strong> abgebaut<br />
werden konnte, bauen, das dem Fliegenden Teppich<br />
<strong>der</strong> Firma Fähtz ähneln sollte. Da er beim Bau des Mini-<br />
Weltraumbummlers enge Kontakte zu einigen <strong>Spezial</strong>baufirmen<br />
knüpfen konnte, fand er Mittel <strong>und</strong> Wege,<br />
um den Wikinger – wie das Karussell heißen sollte – zu<br />
realisieren. Der Mittelbauwagen <strong>und</strong> wichtige Stahlteile<br />
fertigte die Leipziger Fahrzeugbaufirma Wiewald<br />
an. Die restlichen Stahlarbeiten wurden überwiegend<br />
vom Kirow Werk in Leipzig, das sich auf den Bau von<br />
Eisenbahnkränen spezialisiert hatte, in soli<strong>der</strong> Qualität<br />
hergestellt. Diese Arbeiten waren verhältnismäßig einfach<br />
zu bewerkstelligen, da das erfor<strong>der</strong>liche Material<br />
zum Teil nach gängiger <strong>DDR</strong>-Praxis von an<strong>der</strong>en Projekten<br />
„abgezweigt“ wurde. Die Herstellung des Antriebs<br />
verursachte dagegen erhebliche Kopfschmerzen.<br />
Von Anfang an setzte Uhlmann auf einen robusten<br />
<strong>und</strong> leistungsstarken Hydraulikantrieb. Die Drehbewegung<br />
sollte vom Motor über zwei Getriebe, zwei so<br />
genannte Gall’sche Ketten (Gelenkketten<br />
mit mehreren, nebeneinan<strong>der</strong><br />
angeordneten Kettenglie<strong>der</strong>n)<br />
<strong>und</strong> zwei Kettenrä<strong>der</strong> auf<br />
die Schwingarmwellen übertragen<br />
werden. Da die Gondel für 30 Personen<br />
geplant war, wurde entsprechend<br />
starker <strong>und</strong> möglichst verschleißarmer<br />
Antrieb benötigt. Den<br />
erfor<strong>der</strong>lichen Öldruck lieferte die<br />
stärkste Hydraulikpumpensorte,<br />
die in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> hergestellt wurde.<br />
Diese Pumpe konnte einen Druck<br />
von 380 bar aufbauen <strong>und</strong> maximal<br />
320 l Hydrauliköl pro Minute in<br />
den Ölkreislauf pumpen. Der Betriebsteil<br />
Leipzig-Makranstädt des<br />
Kombinates Orsta Hydraulik stellte<br />
den kompletten Hydraulikantrieb<br />
her. Die größten Probleme traten<br />
bei <strong>der</strong> Herstellung <strong>der</strong> Getriebe<br />
92
EIGENBAUTEN<br />
Der Mittelbau des<br />
Wikinger von beiden Seiten<br />
auf, die vom Getriebewerk Rochlitz als Unikate angefertigt<br />
wurden. Da nur die Getriebegehäuse aus <strong>der</strong><br />
Serienproduktion stammten, mussten sämtliche Wellen<br />
<strong>und</strong> Zahnrä<strong>der</strong> einzeln angefertigt werden. Einzelstücke<br />
waren auch die Zahnrä<strong>der</strong> für den Kettentrieb,<br />
<strong>der</strong>en Zahnflanken den Kettenglie<strong>der</strong>n angepasst<br />
werden mussten. Den konstruktionsbedingten Längenunterschied<br />
beim Rotieren <strong>der</strong> Schwingarme, <strong>der</strong><br />
sich durch Fertigungstoleranzen <strong>der</strong> Getriebe- <strong>und</strong><br />
Kettenrä<strong>der</strong> sowie <strong>der</strong> Kettenglie<strong>der</strong> ergibt, glich Jürgen<br />
Uhlmann durch eine einseitig unter <strong>der</strong> Gondel<br />
angebrachte Gleitschiene aus. Durch diese geniale<br />
Konstruktion erübrigte sich <strong>der</strong> Einbau von veschleißenden<br />
Gummipuffern o<strong>der</strong> -lagern an den Gondel-Schwingarmwellen.<br />
Die Gondel in Form eines Wikingerschiffes musste<br />
zweimal angefertigt werden. Die erste bestand aus einem<br />
Rahmen mit Sperrholzbeplankung. Sie wurde unter<br />
freiem Himmel gebaut <strong>und</strong> verzog sich durch mehrere<br />
Regenschauer so stark, dass sie bei den ersten<br />
Probefahrten an <strong>der</strong> aus Gießharz angefertigten Rückwand<br />
schliff <strong>und</strong> leicht beschädigt wurde. Man baute<br />
die Gondel wie<strong>der</strong> ab, entfernte die Sperrholzbeplankung<br />
<strong>und</strong> stellte einen neuen Schiffsrumpf aus Polyester<br />
her. Nach einer Bauzeit von vier Jahren hatte Jürgen<br />
Uhlmanns Wikinger im Juli 1985 auf dem Felsenfest<br />
in <strong>der</strong> Gemeinde Rothstein, am westlichen Rand<br />
des Naturparks „Nie<strong>der</strong>lausitzer Heidelandschaft“,<br />
seine erfolgreiche Premiere. Dass noch einige Dekorationsteile<br />
wie die vor<strong>der</strong>en Panneaus, <strong>der</strong> Drachenkopf<br />
<strong>und</strong> -schwanz an <strong>der</strong> Gondel <strong>und</strong> die Wikinger-<br />
Figur auf <strong>der</strong> Kasse fehlten <strong>und</strong> das bogenförmige<br />
Neonröhren-Lauflicht über <strong>der</strong> Rückwand nicht funktionierte,<br />
interessierte in Rothstein niemand. Die Nachricht,<br />
dass auf dem Felsenfest ein völig neues Fahrgeschäft<br />
mit einer rasant vor- <strong>und</strong> rückwärts vertikal rotierenden<br />
Gondel ans Netz ging, verbreitete sich wie<br />
ein Lauffeuer <strong>und</strong> sorgte, wie auf den Anschlussplätzen,<br />
für einen Masenansturm <strong>und</strong> extrem lange Warteschlangen<br />
vor <strong>der</strong> Kasse.<br />
Nachdem die noch fehlenden Dekorationsteile fertiggestellt<br />
waren, machte das neuartige Karussell einen<br />
hervorragenden Eindruck <strong>und</strong> wurde von den Besuchern<br />
als ein „Karussell aus dem Westen“ deklariert.<br />
Nach dem ersten Deivierteljahr, in dem <strong>der</strong> Wikinger<br />
problemlos funktionierte, stellte man fest, dass die<br />
Dichtungen des Hydraulikmotors dem enormen Druck<br />
bei Dauerbetrieb nicht gewachsen waren. Da es keine<br />
stärkeren Dichtungen gab, mussten sie regelmäßig<br />
ausgewechselt werden. Um die Reparatur so schnell<br />
wie möglich erledigen zu können, wurde ein Ersatzmotor<br />
beschafft, durch den die unvermeidliche Prozedur<br />
schnell über die Bühne gehen konnte. Nach dem<br />
Wechsel <strong>der</strong> Dichtungen war <strong>der</strong> ausgewechselte Motor<br />
dann wie<strong>der</strong> einsatzbereit. Jürgen Uhlmann reiste<br />
mit seiner Eigenkreation sehr erfolgreich von 1985 bis<br />
1992 kreuz <strong>und</strong> quer durch die <strong>DDR</strong>, präsentierte sie<br />
während dieser Zeit auf sämtlichen Grandplätzen <strong>und</strong><br />
war gern gesehener Gast im Kulturpark „Plänterwald“<br />
in (Ost)Berlin.<br />
1992 verkaufte Uhlmann sein Karussellunikat an den<br />
<strong>Schausteller</strong> Olaf Liebold aus Taucha bei Leipzig, <strong>der</strong><br />
mit diesem Karussell bis zum Juli 1997 ebenfalls erfolgreich<br />
reiste <strong>und</strong> es dann an Wolfgang Jehn aus Eisenach<br />
in Thüringen weiterverkaufte. Seit einigen Jahren<br />
steht das Karussell in dem kleinen Freizeitpark<br />
Plohn im Vogtland, wo es eine neue <strong>und</strong> wahrscheinlich<br />
seine letzte Heimat fand <strong>und</strong> heute noch als „Drachenschaukel“<br />
im japanischen Garten in einem eher<br />
ungepflegten Zustand, aber immer noch zuverlässig<br />
die Besucher vertikal <strong>und</strong> mit gehörigem Kribbeln im<br />
Bauch im Kreis herumwirbelt.<br />
■<br />
FOTOS<br />
Archiv Rolf Orschel<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Wikinger,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue 9/2006,<br />
Seiten 38-39<br />
93
EIGENBAUTEN<br />
Der Space Jet auf<br />
dem Parkfest in Meerane<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Space Jet,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue 12/99,<br />
Seite 43<br />
(Foto: Rolf Orschel)<br />
SPACE JET<br />
Der „Space Jet“ ist das letzte in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gebaute<br />
Karussell. Die Eigenkreation wurde vom <strong>Schausteller</strong><br />
Horst Schwarze aus Meerane in Zusammenarbeit<br />
mit mehreren Betrieben gebaut. Das dem „Helikopter“<br />
ähnelnde Karussell wurde 1983 in Anlehnung<br />
an die Babyflüge des VEB Zentralzirkus konzipiert. Die<br />
komplette Hydraulikanlage zum Heben <strong>und</strong> Senken<br />
<strong>der</strong> Ausleger wurde vom Kombinat Orsta Hydraulik,<br />
unter <strong>der</strong> Leitung des Kollegen Reissmann, projektiert<br />
<strong>und</strong> hergestellt. Da die erste Anlage zu groß geraten<br />
war, musste 1985 eine neue Hydraulikanlage gebaut<br />
werden. Der Mittelbauwagen wurde im VEB Kirow<br />
Werk in Leipzig hergestellt, wo <strong>der</strong> Betriebsschlosser<br />
Möller Horst Schwarze mit Rat <strong>und</strong> Tat zur Seite stand<br />
<strong>und</strong> auch aktiv bei<br />
<strong>der</strong> Meisterung<br />
sämtlicher anfallen<strong>der</strong><br />
Schwierigkeiten<br />
half. Der damals<br />
weit über die<br />
Grenzen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
bekannte Rennwagen-Konstrukteur<br />
<strong>und</strong> Polyesterbauer<br />
Hartmut<br />
Thaßler stellte den<br />
kompletten Satz<br />
Gondeln in ausgezeichneter<br />
Qualität<br />
her. Die elektrische<br />
Anlage <strong>und</strong> Steuerung<br />
des Geschäftes wurde von <strong>der</strong> Firma Patzer in<br />
Reitzdorf entwickelt <strong>und</strong> gebaut. Nachdem <strong>der</strong> „Space<br />
Jet“ 1990 endlich fertig war, war sein Schicksal<br />
durch die Ereignisse <strong>der</strong> Wende in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bereits<br />
besiegelt. Da das Publikum quasi über Nacht von so<br />
harmlosen Fahrgeschäften nichts mehr wissen wollte,<br />
war es Horst Schwarze nicht mehr vergönnt, die Früchte<br />
seiner mühevollen Arbeit zu ernten. Das Karussell<br />
wurde nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung noch mit sechs<br />
großen Flugzeuggondeln ausgestattet, die bei <strong>der</strong> Firma<br />
Lutz geor<strong>der</strong>t wurden. Diese zusätzliche Investition<br />
wurde aber vom Publikum nicht mehr honoriert,<br />
worauf <strong>der</strong> „Space Jet“ nur noch sporadisch aufgebaut<br />
wurde.<br />
■<br />
QUELLE<br />
Ton Koppei: Calypso,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue 1+2/2000,<br />
Seite 46<br />
(Foto: H. Schimanzik)<br />
CALYPSO<br />
Dieses Calypso-Unikat <strong>der</strong> ehemaligen <strong>DDR</strong> wurde<br />
gegen Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre gebaut. Es entstand<br />
durch den Umbau einer Bobbahn des <strong>Schausteller</strong>s<br />
Ernst Hainlein aus Erfurt, den die Karussellbaufirma<br />
G<strong>und</strong>elwein in Wutha bei Eisenach mit<br />
erheblichen Schwierigkeiten ausführen konnte. Als<br />
„Bauanleitung“ stand den Karussellbauern lediglich<br />
ein Werksfoto eines Calypso von <strong>der</strong> Firma Mack zur<br />
Verfügung. Nachdem die Firma G<strong>und</strong>elwein aufgelöst<br />
wurde, war das Karussell erst halb fertiggestellt. Da<br />
trotz intensiver Bemühungen des <strong>Schausteller</strong>s kein<br />
Betrieb mit <strong>der</strong> Fertigstellung des Geschäftes beauftragt<br />
werden konnte, musste Hainlein den restlichen<br />
Umbau selbst ausführen. Es dauerte allerdings fast<br />
zehn Jahre, bis <strong>der</strong> Umbau endlich fertig war <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Calypso mit sämtlichen Lichtleisten, Dekoteilen, Aluminium-Podium<br />
<strong>und</strong> Fußböden fertiggestellt werden<br />
konnte. Nachdem das Karussell mit großem Erfolg ans<br />
Netz gegangen war stellte sich allerdings heraus,<br />
dass das viel zu schwer geratene Geschäft nur bedingt<br />
für die Reise geeignet ist. Der Auf- <strong>und</strong> Abbau<br />
gestalteten sich zeitaufwändig <strong>und</strong> personalintensiv,<br />
wodurch das Karussell nur mit Mühe auf den Anschlussplätzen<br />
pünktlich zur Eröffnung seine R<strong>und</strong>en<br />
drehen konnte. Als sich für Familie Hainlein die Möglichkeit<br />
ergab, mit dem Calypso im Kulturpark „Plänterwald“<br />
zu gastieren, gehörte das Karussell dort von<br />
1977 bis 1990 zu den Attraktionen des Parks. ■
KLIMBIM – DAS DREHBARE HAUS<br />
Bernd Schleinitz aus Körlitz baute diese Illusion<br />
1969 mit dem Schmiedemeister Dietze in Holzhausen<br />
bei Leipzig. Als „Bauplan“ diente ihm eine<br />
Postkarte eines baugleichen Geschäftes. Das für die<br />
Welle vorgeschriebene Rohr in Schiffsmast-Qualität<br />
konnte Schleinitz nach zähen Verhandlungen von einem<br />
im Bau befindlichen Schwimmbad erwerben. Die<br />
Balken für die Lagerböcke wurden aus dem Dachstuhl<br />
eines Abrisshauses gewonnen. Um die Gondel brachte<br />
man ein Gerüst aus Flacheisen an, das mit Planen<br />
bespannt wurde, die als Haus bemalt waren. Die Bemalung<br />
führte W. Mathei aus<br />
Steinach aus. Am Anfang wurde<br />
die Hexenschaukel mit <strong>der</strong> Hand<br />
gedreht, erhielt aber bald einen<br />
elektrischen Friktionsantrieb. Der<br />
Stiftenkranz mit 144 Stiften wurde<br />
von Bernd Schleinitz in allen Einzelteilen<br />
selbst hergestellt <strong>und</strong><br />
handvernietet. Nach <strong>der</strong> gelungenen<br />
Premiere reiste Familie Schleinitz<br />
ab 1974 kreuz <strong>und</strong> quer durch<br />
die <strong>DDR</strong>, präsentierte ihre Illusion<br />
auf fast allen Grandplätzen <strong>und</strong> reiste<br />
1979 <strong>und</strong> 1984 sehr erfolgreich<br />
in Ungarn. Gegen Mitte <strong>der</strong> achtziger<br />
Jahre bereicherte das drehbare<br />
Haus in den Sommerferien für<br />
zwei Monate das Vergnügungsangebot<br />
im Kulturpark Berlin. Nach<br />
<strong>der</strong> Wende erlosch schlagartig<br />
das Interesse des Publikums an dieser alten, aber sehr<br />
wirksamen <strong>und</strong> täuschend echten Illusion, worauf<br />
Bernd Schleinitz das drehbare Haus stillegte. Zum<br />
dreißigjährigen Jubiläum wurde das Geschäft 1999<br />
noch einmal für die Herbstkleinmesse in Leipzig aktiviert<br />
<strong>und</strong> herausgeputzt. Obwohl die Illusionsschaukel<br />
im alten Glanz erstrahlte <strong>und</strong> sehr gut betrieben wurde,<br />
war die Reaktion des Publikums sehr zurückhaltend<br />
<strong>und</strong> eine herbe Enttäuschung für den Erbauer.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> wurde das drehbare Haus nach <strong>der</strong><br />
Kleinmesse endgültig stillgelegt.<br />
■<br />
EIGENBAUTEN<br />
FOTOS<br />
Archiv Schleinitz<br />
Das drehbare Haus<br />
von Bernd Schleinitz<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Klimbim –<br />
drehbares Haus, <strong>Kirmes</strong><br />
Revue 11/99, Seiten 50-51<br />
SAFARI-EXOTIK<br />
Nach dem drehbaren Haus baute Bernd Schleinitz<br />
in den siebziger Jahren außer einem Wohn- <strong>und</strong><br />
Packwagen auch das erste elektronische Schießen<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Ursprünglich wollte er sich ein einfaches <strong>und</strong><br />
wenig personalintensives Beigeschäft bauen. Da aufgr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> vielen zugelassenen Reihengeschäfte keine<br />
neuen Spiel- <strong>und</strong> Schießgewerbe-Erlaubnisse genehmigt<br />
wurden, suchte er nach einer realisierbaren<br />
Idee. Nachdem ein Elektroniker in die Familie einheiratete<br />
<strong>und</strong> Schleinitz den Leiter <strong>der</strong> Leipziger Theaterwekstätten,<br />
Siegfried Pitzschel, kennenlernte, entschied<br />
man sich für den Bau einer elektronischen<br />
Schießeinrichtung. Als für dieses neuartige <strong>und</strong> in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> einmalige Geschäft die Gewerbeerlaubnis erteilt<br />
wurde, konnte nach vielen Experimenten <strong>und</strong> Versuchen<br />
1980 auf <strong>der</strong> Leipziger Frühjahrskleinmesse das<br />
elektronische Schießen „Safari-Exotik“ erfolgreich ans<br />
Netz gehen. Auf kleinen Zielscheiben waren die anzuvisierenden<br />
Lichtziele in einem siebenköpfigen Drachen,<br />
einer Riesenspinne, einem Bergmassiv <strong>und</strong> einem<br />
Saurier untergebracht.<br />
Die Lichtempfänger<br />
befanden sich in<br />
umfunktionierten Druckluft-Gewehren.<br />
Damit reflektierendes<br />
Licht die<br />
Treffer nicht beeinflussen<br />
konnte, wurden modulierte<br />
Lichtstrahlen<br />
verwendet. Schuss- <strong>und</strong><br />
Trefferanzeigen für jedes<br />
Gewehr befanden sich<br />
über dem Schaubild im Blickfeld <strong>der</strong> Schützen. Diese<br />
Anzeige konnte fernbedient auf Null zurück gestellt<br />
werden. Wie bei den heutigen Elektronik-Schießen bewegten<br />
sich die Figuren nach jedem Treffer. Die selbstgebaute<br />
Elektronik arbeitete stets zuverlässig. Kleine<br />
Gewinne boten einen zusätzlichen Anreiz: Wer mit 10<br />
Schuss für 1 Mark 10 Treffer erzielte, hatte die freie<br />
Auswahl. Mit seinem außergewöhnlichen Reihengeschäft<br />
landete Bernd Schleinitz einen Volltreffer, <strong>der</strong><br />
den Geschmack des Publikums traf.<br />
■<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Safari-Exotik,<br />
<strong>Kirmes</strong> Revue 5/2002,<br />
Seite 30<br />
(Foto: Archiv Schleinitz)<br />
95
GONDELN<br />
GONDELN UND SKOOTER-CHAISEN AUS POLYESTER<br />
Plastegondel von<br />
Plaenerts „Tropical Jet“<br />
Ralf Plaenert mit Gehilfen<br />
beim Probesitzen in <strong>der</strong> ersten<br />
neuen Gondel, August 1988<br />
1:10 Modell <strong>und</strong><br />
fertige „Wartburg-Chaise“<br />
Wie die meisten <strong>DDR</strong>-Geschäfte,<br />
waren auch die importierten<br />
Ihle-Chaisen <strong>der</strong> Skooter<br />
<strong>und</strong> die Holz- <strong>und</strong> Blechgondeln<br />
<strong>der</strong> Karussells sehr veraltet.<br />
Durch die ständige hohe Belastung<br />
hatten sie ihre angedachte<br />
Nutzungsdauer längst überschritten<br />
<strong>und</strong> konnten nur noch mit hohem<br />
Geld- <strong>und</strong> Materialaufwand<br />
instandgesetzt werden. Nachdem<br />
sich auch in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die Gießharztechnologie<br />
mit glasfaserverstärkten<br />
Polyesterharzen<br />
zur industriellen Fertigung von<br />
Leichtbaukonstruktionen immer<br />
mehr durchsetzte, fand<br />
dieses Verfahren auch bei den<br />
<strong>Schausteller</strong>n Verwendung.<br />
Da die in Laminiertechnik hergestellten<br />
Polyesterteile bei sehr geringer Dichte<br />
die Festigkeit normalen Stahls erreichten, bot sich<br />
diese Technologie zur Herstellung von neuen<br />
Gondeln regelrecht an. Außerdem war das Material<br />
verhältnismäßig leicht zu beschaffen, da das<br />
Polyesterharz <strong>und</strong> die Fasermatten mit unterschiedlichen<br />
Hauptfaserrichtungen in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
hergestellt wurden.<br />
In den 80er-Jahren konnten somit einige <strong>Schausteller</strong><br />
ihre Karusells mit neuen Gondeln ausstatten.<br />
Die erste Polyester-Besatzung tauchte allerdings<br />
1979 an dem Kin<strong>der</strong>fahrgeschäft „Mini-<br />
Weltraumbummler“ von Jürgen Uhlmann in Form<br />
von zweisitzigen Flugzeugnachbildungen auf.<br />
Danach folgten Skooterchaisen-Karosserien für<br />
die <strong>Schausteller</strong> Hans Sachs <strong>und</strong> Hans Lehrmann, <strong>der</strong>en<br />
Idee am Biertisch entstand. Die fertigen Karosserien<br />
wurden auf gebrauchte Ihle-Chaisenfahrgestelle<br />
aus dem Jahr 1962 montiert. Den Entwurf <strong>und</strong> die Mutterform<br />
für die Karossen stellte <strong>der</strong> Diplom-Industrieformgestalter<br />
(Designer) Detlef Adebar aus Halle/Saale<br />
her, <strong>der</strong> freiberuflich bereits für viele <strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
Geschäfte entworfen hatte <strong>und</strong> Fronten sowie<br />
Dekoteile aus Polyester anfertigte. Da Lehrmann, <strong>der</strong><br />
als erster die neuen Chaisen einsetzte, Scheinwerfer<br />
<strong>und</strong> Kopfstützen vom PKW „Wartburg“ verwendete,<br />
wurden diese Fahrzeuge als „Wartburg-Chaisen“ bekannt.<br />
Später erhielt <strong>der</strong> <strong>Schausteller</strong> Werner Meyer für<br />
seinen Skooter ebenfalls Polyester-Karosserien, mit<br />
<strong>der</strong>en Design (hochgezogene Rückenlehnen mit inte-<br />
96
GONDELN<br />
FOTOS<br />
Archiv Adebar, Rolf Orschel<br />
„Mercedes-Chaise“<br />
von Werner Meyers Skooter<br />
grierten Kopfstützen) Detlef Adebar einen neuen Stil<br />
kreierte. Nach <strong>der</strong> Fertigstellung <strong>der</strong> aus Gips hergestellten<br />
Mutterform sollte sie zum Bootsbauer Leonhardt<br />
nach Caputh bei Potsdam gebracht werden. Für<br />
den Transport von Halle zur Firma Leonhardt wurde die<br />
„aalglatt“ <strong>und</strong> auf Hochglanz polierte Urform auf einen<br />
PKW-Anhänger verladen. Damit kam man aber nicht<br />
weit, da sie nach wenigen Kilometern Fahrt über die<br />
holprige <strong>DDR</strong>-Autobahn in zwei Teile zerbrach. Nach<br />
<strong>der</strong> Reparatur klappte <strong>der</strong> zweite Versuch in einem<br />
„Wartburg-Tourist“ dann<br />
problemlos. Die fertigen<br />
Fahrzeuge waren optisch<br />
hervorragend gelungen,<br />
<strong>und</strong> Meyers „Mercedes-<br />
Chaisen“ zählten zu<br />
schönsten Skooterfahrzeugen<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Außerdem<br />
wurden noch Polyestergondeln<br />
für die „Spinnen“<br />
von Roland Schmidt<br />
<strong>und</strong> Fritz Kröckel, die<br />
„Fahrt ins Blaue“ von Arndt<br />
Pönitz, die Schlickerbahnen<br />
von Horst Schwarze<br />
<strong>und</strong> Kuno Plaenert sowie<br />
die Walzerfahrt für Karl Welte jun. als Eigenentwicklungen<br />
in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> hergestellt. Daneben wurden auch<br />
für die Geisterbahn <strong>der</strong> Firma Sendler einige Figuren<br />
<strong>und</strong> große Dekoteile für Fahrgeschäfte aus Gießharz<br />
angefertigt. Einige <strong>Schausteller</strong>, wie Uwe Schieck <strong>und</strong><br />
Wilfried Jehn, stellten aber auch in Kooperation mit Polyesterbauern<br />
Gondeln für ihre Fahrgeschäfte her. Die<br />
Gondeln <strong>der</strong> genannten Fahrgeschäfte wurden überwiegend<br />
vom <strong>DDR</strong>-Rennwagenkonstrukteur Hartmut<br />
Thaßler aus Leipzig angefertigt. Durch seine Erfahrungen<br />
beim Bau von Rennwagen <strong>und</strong> sein großes<br />
Geschick gelangen ihm diese Gondeln in ausgezeichneter<br />
Qualität <strong>und</strong> konnten internationalen Vergleichen<br />
standhalten.<br />
■<br />
Die Mutterform<br />
auf dem PKW-Anhänger<br />
Herstellung des<br />
Gipsmodells <strong>der</strong> Chaise<br />
97
DIVERSE<br />
GLÜCK UND GESCHICKLICHKEIT<br />
FOTOS<br />
Archiv Conrad, Archiv<br />
Malfertheiner, Rolf Orschel<br />
Steinickes Ballwerfen<br />
Namen- <strong>und</strong> Kartenblinker von Elvira Malfertheiner<br />
Schießwagen, Gustav Conrad<br />
Schießbude von Gertrud Härtel<br />
Spielautomaten von Ernst Malfertheiner<br />
98
IMBISS UND SÜSSWAREN<br />
DIVERSE<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Rolf Orschel<br />
Sachsenklause<br />
von Manfred Sachs<br />
Soft-Eis-Bar von<br />
Malfertheiner, Andrang vor<br />
einem Eiswagen<br />
Versorgungsstände<br />
des staatlichen Handels HO<br />
„Knusperhaus zur Hexe“<br />
von Gertraut Rißmann<br />
99
DIVERSE<br />
LAUFGESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Weckner,<br />
Rolf Orschel<br />
Spuk im Spessart<br />
von Herbert Krüger<br />
Aus dem Irrgarten<br />
„Haus des Frohsinns“ von<br />
Rothe wurde „Die Mausefalle“<br />
Laufgeschäfte<br />
von Marchee, Topf,<br />
Hammer <strong>und</strong> Lutz Hofmann<br />
100
GEISTERBAHN<br />
DIVERSE<br />
FOTOS<br />
Archiv Hahnemann, Archiv<br />
Hünniger, Rolf Orschel<br />
Sendlers Geistergrotte<br />
Dämonenexpress unter<br />
Weckner <strong>und</strong> Hahnemann<br />
Geister im<br />
Dämonenexpress<br />
Geisterbahn von Hünniger,<br />
50er- <strong>und</strong> 80er-Jahre<br />
101
DIVERSE<br />
KINDERGESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Eckstein,<br />
Rolf Orschel<br />
Kin<strong>der</strong>achterbahn<br />
von <strong>Schausteller</strong> Seile<br />
Eisenbahn Otto <strong>und</strong><br />
Sportkarussell Eckstein<br />
Hängekarussells<br />
verschiedener Bauart<br />
Sportkarussell mit<br />
mo<strong>der</strong>ner Besatzung<br />
<strong>und</strong> Voigts Bodenkarusssell<br />
102
DIVERSE<br />
FOTOS<br />
Rolf Orschel<br />
Verschiedene<br />
Sportkarussells<br />
Besatzungen von<br />
Katzschmanns Karussell<br />
Feuerwehren <strong>der</strong><br />
Karussells von Hans Kuntz<br />
<strong>und</strong> Manfred Sachs, 80er-Jahre<br />
103
VEB-GESCHÄFTE<br />
FAHRGESCHÄFTE DES STAATSZIRKUS DER <strong>DDR</strong><br />
Eine <strong>der</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
gebauten Holzachterbahnen<br />
FOTOS<br />
Zirkusarchiv Winkler,<br />
Archiv Eckermann<br />
Die Achterbahnen<br />
waren stets umlagert<br />
Der 1960 gegründete „VEB Zentral-Zirkus“ <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
wurde 1980 in „Staatszirkus <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“ umbenannt.<br />
In <strong>der</strong> 1970er-Jahren wurde die Generaldirektion<br />
auch mit verwaltungsmäßigen Aufgaben für das<br />
<strong>Schausteller</strong>gewerbe beauftragt. Erfahrungen mit<br />
dem Betreiben von Karussells konnte <strong>der</strong> Zirkus bereits<br />
im Jahr 1959 mit <strong>der</strong> ersten in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gebauten<br />
Holzachterbahn sammeln. Die Idee zum Bau dieser<br />
Achterbahn wurde auf Initiative von <strong>Schausteller</strong>n gegen<br />
Mitte <strong>der</strong> 1950er-Jahre geboren. Nachdem die<br />
Finanzierung <strong>der</strong> Achterbahn endlich gesichert war,<br />
konnte 1958 mit dem Bau begonnen werden. Hergestellt<br />
wurde die Anlage von <strong>der</strong> Baugesellschaft Roßla<br />
KG, einem früheren Betriebsteil <strong>der</strong> Firma Hugo Haase.<br />
Das Holz stammte aus dem Böhmerwald, da Hugo<br />
Haase mit Kiefern aus Böhmen beste Erfahrungen<br />
beim Bau seiner Achterbahnen machte. Die Herstellung<br />
geriet mehrmals ins Stocken, da man mit vielen<br />
Materialproblemen zu kämpfen hatte. Als größtes Problem<br />
stellte sich die Beschaffung <strong>der</strong> Antriebskette<br />
heraus, die in Dresden hergestellt wurde. Im September<br />
1958 erfolgte die erste Bauabnahme, durch erneute<br />
finanzielle<br />
Probleme konnte<br />
die Bahn aber<br />
erst 1959 fertiggestelt<br />
werden.<br />
Am 25. Juli des<br />
selben Jahres<br />
ging die Achterbahn<br />
unter <strong>der</strong><br />
Regie des ehemaligen<br />
Zirkusdirektors<br />
Walter<br />
Stolp auf dem<br />
Sommerfest in<br />
Zwickau erfolgreich<br />
ans Netz. Ein Jahr später fand auf <strong>der</strong> Magdeburger<br />
Herbstmesse die Premiere <strong>der</strong> zweiten, ebenfalls<br />
in Roßla gebauten <strong>und</strong> baugleichen Achterbahn<br />
statt, die anschließend unter <strong>der</strong> Leitung von Max<br />
Gienke betrieben wurde. Beide Bahnen hatten eine<br />
Gr<strong>und</strong>fläche von 35 x 25 Metern, verfügten über drei<br />
Fahrebenen <strong>und</strong> ein quer verlaufendes Tal. Die acht<br />
Wagen baute man aus stabilem Sperrholz, ihre massiven<br />
Stahlrä<strong>der</strong> liefen auf Bohlen, die aus Ahornholz<br />
hergestellt wurden.<br />
Die Überreste wurden später entsorgt<br />
Durch das zeit- <strong>und</strong> personalintensive Auf- <strong>und</strong> Abbauen<br />
<strong>und</strong> viele Reparaturen entschloss sich <strong>der</strong> Zirkus<br />
wenige Jahre später dazu, sich von den Achterbahnen<br />
wie<strong>der</strong> zu trennen. Am 31. Dezember 1966<br />
wurde deshalb die erste Bahn nach Magdeburg in<br />
den Kulturpark Rotehorn umgesetzt. Aufgr<strong>und</strong> des<br />
schlechten Allgemeinzustandes wurde sie elf Jahre<br />
später verschrottet. Die Holzteile wurden an Ort <strong>und</strong><br />
Stelle zersägt <strong>und</strong> an die Bevölkerung abgegeben.<br />
Achterbahn Nr. 2 wurde 1969 stationär im Naherholungsgebiet<br />
Saaleaue in Halle aufgestellt. Aufgr<strong>und</strong><br />
von Wasserschäden durch ein Hochwasser verkaufte<br />
man die Bahn 1970 an die <strong>Schausteller</strong> Gebr. Walz/<br />
Domscheid. Wegen des schlechten Zustandes <strong>und</strong><br />
Transportproblemen (es stand nur ein Bockwagen zur<br />
Verfügung) bauten die <strong>Schausteller</strong> die Bahn 1971 nur<br />
auf drei Plätzen auf. Anschließend wurde sie ebenfalls<br />
entsorgt.<br />
Schon zu Beginn <strong>der</strong> sechziger Jahre waren sich das<br />
Ministerium für Kultur <strong>und</strong> <strong>der</strong> VEB Zentralzirkus einig,<br />
den Volksfestsektor auszubauen. Im Jahr 1964 ging<br />
<strong>der</strong> „Kosmos-Rotator“ auf die Reise, <strong>der</strong> vom Ing. W.<br />
G<strong>und</strong>elwein konstruiert wurde. Das Karussell bestand<br />
aus einer rotierenden Scheibe mit einem Durchmesser<br />
104
VEB-GESCHÄFTE<br />
Kosmos-Rotator<br />
in voller Fahrt, um 1966<br />
von 6,2 m, die hydraulisch in eine Schräglage von 45<br />
Grad gebracht werden konnte. Maximal 33 Personen<br />
konnten auf den Sitzbänken Platz nehmen, die durch<br />
die Fliehkraft bei 20 U/min in die Sitze gepresst wurden.<br />
Verschiedene Firmen waren am Bau des Geschäftes<br />
beteiligt, unter an<strong>der</strong>em die Firma Peuckert<br />
in Freiberg sowie <strong>Spezial</strong>isten im Winterquartier des<br />
Zirkus. Die Hydraulikanlage stellte <strong>der</strong> VEB Orsta Hydraulik<br />
her. Dem Betriebsteil „Achterbahn 1“ zugeteilt,<br />
wurde <strong>der</strong> Kosmos-Rotator bereits nach <strong>der</strong> Saison<br />
1968 an die Stadt Rostock abgegeben. Dort stellte<br />
man ihn im Vergnügungspark am Zoo auf, wo das Geschäft<br />
vom <strong>Schausteller</strong> Rudolf Schäning betrieben<br />
wurde. Nach 1989 wurde <strong>der</strong> Kosmos-Rotator stillgelegt<br />
<strong>und</strong> dann (wahrscheinlich) verschrottet.<br />
Kein Glück mit <strong>der</strong> Flugschanze<br />
Kein Glück hatte <strong>der</strong> Zentral-Zirkus mit einer Mack-<br />
Flugschanze, die 1965 als gebrauchte Anlage erworben<br />
<strong>und</strong> dem Betriebsteil „ Achterbahn 2“ zugeteilt<br />
wurde. Ständige Reparaturen <strong>und</strong> ein Unfall (ohne Verletzte)<br />
führten gegen Ende des Jahres 1969 zur Stillegung<br />
des Geschäftes, das im darauffolgenden Jahr an<br />
den <strong>Schausteller</strong> Siegfried Kunze aus Meißen im desolaten<br />
Zustand verkauft wurde.<br />
Unter <strong>der</strong> Regie von Fritz Preuß ging am 1. Juni 1966<br />
die Go-Kartbahn „Sachsenring“ auf die Reise. Dieses<br />
Geschäft entstand in Eigenregie <strong>und</strong> wurde von verschiedenen<br />
Handwerksbetrieben sowie im Winterquartier<br />
hergestellt. Da eigene Konstruktionen keinen<br />
Erfolg brachten, or<strong>der</strong>te man die Fahrzeuge bei <strong>der</strong><br />
Firma Ihle. Der Sachsenring wurde nur drei Jahre später<br />
zum Saisonende mit <strong>der</strong> zweiten Achterbahn nach<br />
Halle abgegeben, da er für die Reise zu unhandlich<br />
<strong>und</strong> zu schwer war. Die Stadt Halle verkaufte das Geschäft<br />
1971 an Hans-Ulrich Walz. Er reiste bis 1974 damit<br />
<strong>und</strong> verschrottete es nach <strong>der</strong> Saison.<br />
Da <strong>der</strong> VEB Sächsischer Brücken- <strong>und</strong> Stahlhochbau<br />
Dresden geeignete Produktionskapazitäten<br />
für den Bau von<br />
Fahrgeschäften hatte, sollte <strong>der</strong><br />
Betrieb 1964 zwei Geschäfte<br />
bauen. Geplant waren eine „Gondelfahrt“<br />
mit dem Arbeitstitel „Hula<br />
Hoop“ (später „Windrose“), ein<br />
„Schwenkbares Riesenrad“ <strong>und</strong><br />
mehrere Walzerfahrten. Durch<br />
eine „von oben“ angeordnete<br />
Umstrukturierung <strong>der</strong> Dresdner<br />
Stahlbaufirma mussten die Karussellbaupläne 1964<br />
noch zu den Akten gelegt werden. Daran än<strong>der</strong>te<br />
selbst <strong>der</strong> Protest des Ministeriums für Kultur beim<br />
Volkswirtschaftsrat nichts.<br />
Trotz <strong>der</strong> Eigenbau-Vorhaben wurde auch die Beschaffung<br />
von gebrauchten Karussells ins Auge gefasst.<br />
Diesbezügliche Überlegungen gingen darauf<br />
hinaus, mo<strong>der</strong>ne Anlagen aus dem nicht sozialistischen<br />
Wirtschaftsgebiet (NSW) zu importieren. Dies<br />
konnte aber wegen <strong>der</strong> permanenten Devisenknappheit<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nur schrittweise geschehen. Als erste<br />
Gebrauchtgeschäfte kamen 1969 <strong>der</strong> holländische<br />
Karusselltyp „The Allro<strong>und</strong> Swing“, <strong>der</strong> in „Satellit“ umgetauft<br />
wurde, <strong>und</strong> ein Twister auf die <strong>DDR</strong>-Volksfestplätze.<br />
Beide Geschäfte wurden von <strong>der</strong> Firma Nijmeegs<br />
Lasbedrijf in den Nie<strong>der</strong>landen gebaut, wobei<br />
<strong>der</strong> Satelllit in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> mit einem Podium <strong>und</strong> Licht<br />
ausgestattet wurde. Ein Jahr später erwarb man eine<br />
45 m-Schwarzkopf-Stahlachterbahn <strong>und</strong> einen weiteren<br />
Twister. Die Achterbahn hatte 1970 auf <strong>der</strong> Annaberger<br />
Kät Premiere <strong>und</strong> wurde ab 1979 im Kulturpark<br />
„Plänterwald“ stationär betrieben. Wie <strong>der</strong> Satellit wurde<br />
auch <strong>der</strong> zweite Twister aus Kostengründen in <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> nachgerüstet. Zu weiteren Exporten kam es erst<br />
1980/81. Diesmal wurden bei <strong>der</strong> Firma Marcel Lutz<br />
vier Babyflüge geor<strong>der</strong>t, wovon zwei als „Air Tramp“<br />
<strong>und</strong> „Astroid“ den Twister-Betriebsteilen als mo<strong>der</strong>ne<br />
Kin<strong>der</strong>fahrgeschäfte zugeteilt wurden. Das dritte Ex-<br />
Die Flugschanze<br />
vor ihrer Stillegung, 1969<br />
FOTOS<br />
Zirkusarchiv Winkler,<br />
Archiv Malfertheiner<br />
105
VEB-GESCHÄFTE<br />
Twister, Satellit<br />
<strong>und</strong> Stahlachterbahn<br />
in den siebziger Jahren<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner,<br />
Archiv Orschel, Michael<br />
Bonhoff<br />
Der Satellit<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Sachsenring<br />
emplar reiste als „Babyflug“ mit dem zweiten Twister<br />
durch die <strong>DDR</strong> <strong>und</strong> gastierte 1972 im Rahmen einer<br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Schausteller</strong>tournee in Ungarn. Der „Saturn“<br />
ging zum Zirkus Busch, reiste aber auch mit dem Zirkus<br />
Berolina <strong>und</strong> wurde1988 dem neu gegründeten<br />
Betriebsteil „Arena-Express“<br />
(eine mo<strong>der</strong>ne<br />
Zeltvermietung mit Chapiteau)<br />
zugeteilt.<br />
Die zwei Holzachterbahnen<br />
<strong>und</strong> die importierten<br />
Karussells, die von den<br />
privaten <strong>Schausteller</strong>n<br />
kurz „VEB-Geschäfte“ genannt<br />
wurden, waren für<br />
das Publikum eine Sensation<br />
<strong>und</strong> entpuppten sich<br />
als wahre „Geld-Druckmaschinen“.<br />
Während die<br />
Holzachterbahnen durch<br />
mangelnde Wartung <strong>und</strong><br />
Pflege ziemlich schnell<br />
verschlissen waren, wurden<br />
die Importgeschäfte<br />
von den Betriebtsteilleitern<br />
stets in Schuss gehalten<br />
<strong>und</strong> gut gepflegt. Als<br />
Gehilfen wurden vom<br />
Staatszirkus regelmäßig<br />
Söhne o<strong>der</strong> gute Vorarbeiter<br />
<strong>der</strong> privaten <strong>Schausteller</strong>betriebe<br />
abgeworben,<br />
um mit <strong>der</strong> komplizierten<br />
<strong>und</strong> ungewöhnlichen<br />
West-Technik zurechtzukommen.<br />
Durch diese Praxis entstanden häufig Spannungen<br />
zwischen den betroffenen Betrieben <strong>und</strong> dem<br />
Staatszirkus. Die aus dem NSW eingeführten, attraktiven<br />
Karussells konnten im Laufe <strong>der</strong> Zeit internationalen<br />
Vergleichen standhalten. Die Fuhrparks, die Arbeits-<br />
<strong>und</strong> Lebensbedingungen <strong>der</strong> Angestellten <strong>und</strong><br />
Betriebsteilleiter sowie die Ausstattung <strong>der</strong> Betriebsteile<br />
mit Technik <strong>und</strong> Personal stellten weltweit alles in<br />
den Schatten <strong>und</strong> setzten völlig neue Maßstäbe im<br />
<strong>Schausteller</strong>wesen. Der Staatszirkus profitierte viele<br />
Jahre von seinen unvergleichlichen Vorteilen bei <strong>der</strong><br />
Material <strong>und</strong> Fahrzeugversorgung gegenüber den<br />
privaten <strong>Schausteller</strong>betrieben. Dementsprechend<br />
reichlich <strong>und</strong> selbst für heutige Verhältnisse pompös<br />
waren die Betriebsteile, die mit den <strong>Volksfeste</strong>inrichtungen<br />
reisten, ausgerüstet worden.<br />
Erinnerungen eines Mitarbeiters<br />
Wolfgang Berger, <strong>der</strong> als Mitarbeiter beim Betriebsteil<br />
Twister 1 arbeitete, erinnert sich noch gut an diese Zeit:<br />
„Als Jugendlicher faszinierte mich das Leben <strong>der</strong> Reisenden.<br />
Da ich aber Wert auf gute Bedingungen legte,<br />
kam für mich nur das Mitreisen beim Zirkus in Frage.<br />
Dort hatten alle Betriebsteile einen Dusch- <strong>und</strong> Toilettenwagen.<br />
Außerdem verdiente man dort mit circa<br />
800 Mark deutlich mehr als bei einem privaten <strong>Schausteller</strong>.<br />
In <strong>der</strong> Saison waren wir in zwei Mannschaftswagen<br />
untergebracht, im Winter wohnten wir in extra<br />
für die Angestellten gebauten Häusern im Winterquartier<br />
des Staatszirkus in Berlin. Es befand sich in Dahlwitz-Hoppegarten,<br />
dort wurden auch die Geschäfte<br />
überholt. Der Fuhrpark bestand außerdem aus Zugmaschinen<br />
<strong>der</strong> Typen „W 50“ <strong>und</strong> „Jelcz“, dem Mittelbauwagen,<br />
einem Gondel- <strong>und</strong> einem Packwagen, ei-<br />
106
VEB-GESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Zirkusarchiv Winkler,<br />
Rolf Orschel<br />
Import: Stahlachterbahn<br />
von Schwarzkopf<br />
nem Werkstattwagen sowie einem Wohn- <strong>und</strong> Bürowagen.<br />
Den Kassenwagen, ein umgebauter „Bastei“-<br />
Campingwagen, zog ein „Barkas-B 1000“-Kleinbus,<br />
<strong>der</strong> auch für den Mannschaftstransport genutzt wurde.<br />
Da damals generell mit zwei Anhängern gefahren<br />
wurde, mussten nur fünf Transporte zum Umsetzen gefahren<br />
werden“. Zur Resonanz <strong>der</strong> VEB-Fahrgeschäfte<br />
sagte er: „Die Karussells, speziell <strong>der</strong> Satellit, die<br />
Twister <strong>und</strong> die Babyflüge, machten sich sehr schnell<br />
bezahlt <strong>und</strong> durch die Einnahmen wurde <strong>der</strong> Staatszirkus<br />
mit subventioniert. Ich weiß noch, dass wir nach<br />
einem guten Wochenende das Kleingeld häufig mit<br />
Handkarren o<strong>der</strong> dem Kleinbus in mehreren Eimern<br />
zur Bank brachten“.<br />
Risse am Hauptarm des Satellit<br />
Durch gute Kontakte konnten die Hydraulikanlagen<br />
<strong>der</strong> Fahrgeschäfte durch den VEB Stahl- <strong>und</strong> Walzwerk<br />
Finow instandgesetzt werden. Nachdem gegen<br />
Ende <strong>der</strong> siebziger Jahre Risse am Hauptarm des Satellit<br />
entdeckt wurden, konnte durch die Privatinitativen<br />
des Betreibsteilleiters, Lutz Hucke, <strong>und</strong> des damaligen<br />
technischen Direktors, Peter Hess, eine Generalüberholung<br />
im Walzwerk Finow durchgeführt werden.<br />
Sonst hätten die Risse, da durch den Devisenmangel<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> ein Ersatzteilimport ausgeschlossen war,<br />
wahrscheinlich die Verschrottung des wohl beliebtesten<br />
Fahrgeschäftes <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bedeutet.<br />
Durch die politischen Ereignisse in den Jahren 1989/<br />
90 wurden die drei Fahrgeschäfts-Betriebsteile <strong>und</strong><br />
die Zeltvermietung mit Genehmigung des Kulturministeriums<br />
privatisiert <strong>und</strong> von ihren ehemaligen Geschäftsführern<br />
käuflich erworben. Danach wechselten<br />
sie mitunter noch mehrmals den Besitzer. Die Twister<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Satellit verschwanden nach relativ kurzer Zei<br />
von den großen Plätzen, da sie nun vom Publikum<br />
kaum noch beachtet wurden.<br />
■<br />
QUELLE<br />
Gisela & Dietmar Winkler:<br />
Staatszirkus <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, <strong>Kirmes</strong><br />
Revue 1+2/01, Seiten<br />
34-37, Michael Schottenloher<br />
/ Michael Bonhoff:<br />
The Allro<strong>und</strong> Swing, <strong>Kirmes</strong><br />
Revue 6/97, Seiten<br />
26-28, Dietmar Winkler:<br />
Wie beerdigt man einen<br />
Zirkus?, Seiten 6-22<br />
Diese Mitarbeiter waren<br />
1989 für den „Twister 1“<br />
<strong>und</strong> den „Airtramp“ zuständig<br />
107
VEB-GESCHÄFTE<br />
KULTURPARK BERLIN – PLÄNTERWALD<br />
Der Klassiker<br />
„The Whip“ von Jacobi war<br />
viele Jahre im Kulturpark<br />
Was für die Wiener <strong>der</strong> Prater o<strong>der</strong> die Kopenhagener<br />
ihr Tivoli ist, das war seit 1969 für die<br />
(Ost)Berliner <strong>und</strong> Touristen aus Nah <strong>und</strong> Fern im Stadtteil<br />
Treptow <strong>der</strong> „Kulturpark“ im Plänterwald. Die herrliche<br />
Umgebung <strong>und</strong> einige importierte Westfahrgeschäfte<br />
machten das 16 Hektar große Gelände im<br />
Handumdrehen zu einem <strong>der</strong> beliebtesten Ausflugsziele.<br />
Bis zur Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />
im Sommer 1990 besuchten 25<br />
Millionen Gäste den „volkseigenen“<br />
Freizeitpark, <strong>der</strong> Eintritt kostete<br />
bis dahin 1 Mark. Als <strong>der</strong> Kulturpark<br />
seiner Bestimmung übergeben<br />
wurde, hinterließ er einen<br />
unfertigen <strong>und</strong> unfachmännisch<br />
angelegten Eindruck. Das lag daran,<br />
dass die Fahrgeschäfte zum<br />
größten Teil auf einer Seite im hinteren<br />
Bereich des Parks mit großen<br />
Lücken in den Reihen für die Besucher<br />
bereit standen. Die Ursache<br />
für den unfertigen Eindruck lag<br />
darin begründet, dass <strong>der</strong> Park ursprünglich<br />
wesentlich größer geplant<br />
wurde, als tatsächlich realisiert<br />
werden konnte. Das war auch<br />
<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> dafür, dass von Anfang<br />
an attraktive Fahr- <strong>und</strong> Belustigungsgeschäfte<br />
von privaten<br />
<strong>Schausteller</strong>n zugelassen wurden.<br />
Mit diesen Geschäften konnten die<br />
größten Bebauungslücken geschlossen<br />
werden.<br />
Importierte Geschäfte<br />
FOTOS<br />
Heiko Schimanzik<br />
Der Calypso<br />
<strong>der</strong> Firma Hainlein<br />
Hauptattraktion <strong>und</strong> Wahrzeichen<br />
des Kulturparks war ein circa 43 m<br />
hohes Riesenrad mit 36 drehbaren<br />
Gondeln für jeweils sechs Personen.<br />
Weitere Attraktionen waren: eine Stahlachterbahn,<br />
<strong>der</strong> Pressluftflieger „Kosmodrom“, ein Ramba<br />
Zamba, eine Riesenrutsche, die Bayerkurve „Bobbahn“,<br />
<strong>der</strong> Zwei-Etagen-Skooter „Berliner Ring“, eine<br />
kleine Go-Kartbahn, die Veteranen-Rallye „Alt Berlin“,<br />
<strong>der</strong> Saturnus „Kosmosgondel“ <strong>und</strong> mehrere Kin<strong>der</strong>fahrgeschäfte.<br />
Während das Riesenrad <strong>und</strong> die Ach-<br />
108
VEB-GESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Weckner, Heiko<br />
Schimanzik, Ralf Schmitt<br />
Der Kosmodrom, Hersteller<br />
Spaggiari & Barbieri<br />
terbahn von <strong>der</strong> Firma Schwarzkopf gebaut wurden,<br />
importierte man die übrigen Westgeschäfte über die<br />
Firma Bakker-Denies aus Holland. Zehn Jahre nach<br />
<strong>der</strong> Eröffnung des Kulturparks wurde die Achterbahn<br />
durch ein kleineres Exemplar ersetzt, mit dem vorher<br />
<strong>der</strong> VEB Zentralzirkus reiste. Obwohl die Besucher für<br />
eine Fahrt mit den importierten Fahrgeschäften den für<br />
<strong>DDR</strong>-Verhältnisse hohen Fahrpreis von 1 bis 1, 50<br />
Mark bezahlen mussten, wurden die Geschäfte im<br />
Sturm erobert. Man musste sich in den Ferien – auch<br />
an den Wochentagen – in lange Warteschlangen einreihen<br />
<strong>und</strong> für einen freien Sitzplatz mitunter auch<br />
leichte Gewalt anwenden. Durch die enorme Auslastung<br />
liefen diese Geschäfte häufig an <strong>der</strong> Kapazitätsgrenze.<br />
Diese normalerweise erfreuliche Tatsache<br />
entpuppte sich für den Kulturpark aber bald zu einem<br />
ernsthaften Problem: Durch fehlende Devisen für<br />
dringend benötigte Original-Ersatzteile waren einige<br />
Geschäfte oft wochenlang außer Betrieb. Nach wenigen<br />
Jahren konnte man bereits einen schleichenden<br />
Rückgang <strong>der</strong> importierten Geschäfte beobachten,<br />
da die völlig verschlissenen Fahrgeschäfte allein<br />
durch Improvisationskunst<br />
nicht mehr<br />
zum Laufen gebracht<br />
werden konnten<br />
<strong>und</strong> deshalb verschrottet<br />
werden<br />
mussten. Diese ungeheuere<br />
Tatsache<br />
sprach sich natürlich<br />
schnell unter den privaten<br />
<strong>Schausteller</strong>n<br />
herum, die diese Geschäfte<br />
gern erworben hätten. Das wurde ihnen aber<br />
strikt verwehrt, da man befürchtete, dass die <strong>Schausteller</strong><br />
die Geschäfte irgendwie wie<strong>der</strong> zum Laufen<br />
bringen <strong>und</strong> dann „zu viel Geld damit verdienen“.<br />
Die Karussells wurden verschrottet<br />
Um weitere Kaufanträge auszuschließen, wurden<br />
dann die betreffenden Karussells klammheimlich abgebaut<br />
<strong>und</strong> auf einem streng geheim gehaltenen<br />
Jacobis Glücksrä<strong>der</strong><br />
waren auch im Kulturpark<br />
Gruselspaß:<br />
Thiemes Geisterbahn<br />
109
VEB-GESCHÄFTE<br />
FOTOS<br />
Archiv Jacobi, Archiv Orschel,<br />
Heiko Schimanzik<br />
Die Raupenbahn<br />
von Jacobi<br />
QUELLE<br />
Rolf Orschel: Der Berliner<br />
Plänterwald, <strong>Kirmes</strong> Revue<br />
04/97, Seiten 68-69,<br />
Dietmar Winkler: Wie beerdigt<br />
man einen Zirkus?,<br />
Seite 6<br />
Schrottplatz <strong>der</strong> Altstoffverwertung<br />
zugeführt. Trotz intensivsten <strong>und</strong> einfallsreichen<br />
Bemühungen gelang es<br />
den einheimischen <strong>Schausteller</strong>n<br />
nicht herauszufinden, auf welchen<br />
Schrottplatz die Geschäfte klammheimlich<br />
gebracht wurden.<br />
Sinkende Attraktivität<br />
Um die sinkende Attraktivität zu stoppen,<br />
wurden von den Verantwortlichen<br />
auf den <strong>Volksfeste</strong>n die interessantesten<br />
Fahr- <strong>und</strong> Belustigungsgeschäfte<br />
ausgesucht <strong>und</strong> für den Kulturpark verpflichtet.<br />
Für die Ausgewählten erwies sich diese Praxis<br />
als äußerst lukratives Geschäft. Das Park-Gastspiel<br />
bot den betreffenden <strong>Schausteller</strong>n viele Vorteile.<br />
Außergewöhnlich gute Einnahmen waren garantiert,<br />
man musste keine Transporte fahren, die Geschäfte<br />
waren mehrere Wochen o<strong>der</strong> Monate aufgebaut <strong>und</strong><br />
konnten durch die Hilfe <strong>der</strong> Betriebshandwerker um-<br />
Blick aus <strong>der</strong> Vogelperspektive auf<br />
den Kulturpark in den siebziger Jahren<br />
fangreich überholt werden. Die Kin<strong>der</strong> hatten feste<br />
Kin<strong>der</strong>garten- <strong>und</strong> Schulplätze, die Familien blieben<br />
zusammen <strong>und</strong> konnten die vergleichsweise traumhaften<br />
Einkaufsmöglichkeiten nutzen. Es gab einen<br />
mustergültigen Wohnwagenplatz mit kleinen Vorgärten<br />
vor <strong>der</strong> Veranda. Kurz, es herrschten fast paradiesische<br />
Zustände. Einige <strong>Schausteller</strong>-Geschäfte waren<br />
viele Jahre von April bis Oktober im Kulturpark aufgebaut:<br />
die Amorbahn, The Whip <strong>und</strong> die Modellschau<br />
von Jacobi; <strong>der</strong> Calypso <strong>und</strong> Rollende Tonnen (Hainlein);<br />
Kettenflieger (Noack), Spuk im Schloss, Ponyreiten<br />
<strong>und</strong> -bahn (Deichsel); Dämonenexpress (Thieme)<br />
sowie Spinne <strong>und</strong> Rollende Tonnen (Sehning). Im Juli<br />
<strong>und</strong> August wurde das Angebot duch folgende Geschäfte<br />
ergänzt: Hexenschaukel (Schleinitz), Taifunrad<br />
(Christiansen) <strong>und</strong> Wikinger (Uhlmann). Außerdem<br />
waren auch ein Twister, <strong>der</strong> Satellit <strong>und</strong> ein Babyflug<br />
aufgebaut. Obwohl das angestrebte Niveau <strong>der</strong> importierten<br />
Fahrgeschäfte nie erreicht wurde <strong>und</strong> regelmäßig<br />
Geschäfte privater <strong>Schausteller</strong>, die viele Besucher<br />
bereits von den <strong>Volksfeste</strong>n kannten, präsentiert<br />
wurden, strömte das Publikum in Massen in den<br />
„Plänterwald“, wie <strong>der</strong> Kulturpark von <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
genannt wurde.<br />
Die kläglich gescheiterte Privatisierung des Kulturparks<br />
nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung ist beispielhaft<br />
für den Umgamg <strong>und</strong> die Bewahrung <strong>der</strong> kulturellen<br />
Werte <strong>der</strong> ehemaligen <strong>DDR</strong>. Zeitgleich<br />
aber auch für die Beziehung zum „Volkseigentum“<br />
durch den Senat von Berlin. Trotz eines ausgereiften,<br />
sozialen Konzeptes, das die ehemalige Direktorin<br />
des Parks vorlegte, erhielt Norbert Witte<br />
aus Burgdorf bei Hannover1991 den Zuschlag für<br />
sein Konzept eines „naturgerechten Familien- <strong>und</strong><br />
Erholungsparks“. Seit 1999 bezahlte er keine<br />
Pacht <strong>und</strong> im Januar 2002 platzte mit <strong>der</strong> Meldung,<br />
dass Witte demontierte Fahrgeschäfte bei<br />
Nacht <strong>und</strong> Nebel nach Bremen transportierte <strong>und</strong><br />
nach Peru verschiffen ließ, endgültig die Bombe.<br />
Seitdem dümpelt das Gelände vor sich hin <strong>und</strong><br />
gleicht inzwischen einer Sperrmüllhalde. ■<br />
110
<strong>DDR</strong>-VOLKSFESTPLAKATE AUS DEN FÜNFZIGER JAHREN<br />
ANHANG
ANHANG<br />
KINOWERBUNG<br />
Dias für Kinowerbung<br />
SCHAUSTELLERANZEIGEN<br />
FOTOS<br />
Archiv Malfertheiner, Archiv<br />
Jacobi, Archiv Hans<br />
Sachs, Verzeichnis Märkte<br />
<strong>und</strong> <strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />
1970<br />
112
ANHANG<br />
QUELLE<br />
Verzeichnis Märkte <strong>und</strong><br />
<strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />
1970<br />
113
ANHANG<br />
QUELLE<br />
Verzeichnis Märkte <strong>und</strong><br />
<strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />
1970<br />
114
LITERATUR<br />
– Florian Dering: Volksbelustigungen, Nördlingen<br />
1986<br />
– Handbuch des <strong>Schausteller</strong>s: Das Taschenbuch<br />
für das <strong>Schausteller</strong>wesen in <strong>der</strong> Deutschen Demokratischen<br />
Republik, Berlin 1966<br />
– Anleitung für die Verladung von <strong>Schausteller</strong>gut<br />
bei <strong>der</strong> Deutschen Reichsbahn, IHK <strong>und</strong> Reichsbahnamt<br />
Rostock<br />
– Hermann Weber: Geschichte <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, 1999<br />
– Joachim Rohlfes: Deutschland seit 1945, Stuttgart<br />
1995<br />
– Wilhelm von Sternburg: Deutsche Republiken,<br />
München 1999<br />
– Herbert Mesch: Gäbe es die <strong>DDR</strong> noch, Hildburghausen<br />
1999<br />
– Christian Suhr, Ralf Weinreich: <strong>DDR</strong>-Traktorenklassiker,<br />
Stuttgart 2006<br />
– Christian Suhr: Nutzfahrzeuge aus Werdau, Willich<br />
2003<br />
– Christian Suhr: H6, Der Sechstonner aus Werdau,<br />
Reichenbach/Vogtland 2005<br />
– Wolfgang Kohl: Güterkraftverkehr in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />
Berlin 2001<br />
– Bernd Regenberg: Jahrbuch Lastwagen, Brilon<br />
2005<br />
– Christian Suhr: <strong>DDR</strong>-Lastwagen 1945-1990,<br />
Stuttgart 2005<br />
– Peter Kirchberg: Plaste, Blech <strong>und</strong> Planwirtschaft,<br />
Berlin 2000<br />
– Annette Kris-Bonazza: Auf Cranger <strong>Kirmes</strong>,<br />
Münster 1992<br />
– Rainer Schulz, 625 Jahre Simon-Juda-Markt Werne,<br />
Werne 1987<br />
– Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>: Verzeichnis<br />
<strong>der</strong> Märkte <strong>und</strong> <strong>Volksfeste</strong> in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />
Berlin 1957-1988<br />
– Ministerium für Kultur <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>: Konferenzprotokolle<br />
<strong>der</strong> 3. <strong>Schausteller</strong>konferenz in Karl-Marx-<br />
Stadt 1987<br />
– Ministerium für Kultur <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>: <strong>Schausteller</strong> –<br />
Mitteilungen des Beirats für die Entwicklung des<br />
<strong>Schausteller</strong>wesens, Berlin Dezember 1966, Juni<br />
1987 <strong>und</strong> September 1989<br />
– Thüringer Geschichtsverein Arnstadt: Festschrift<br />
zum 150. Arnstädter Wollmarkt, Arnstadt 1999<br />
– Dietmar Winkler: Abriss einer Geschichte <strong>der</strong><br />
<strong>Volksfeste</strong> <strong>und</strong> des <strong>Schausteller</strong>wesens, Beilage<br />
zur Zeitschrift Unterhaltungskunst Dezember 1983<br />
– Dietmar Winkler: Bummel über den Rummel,<br />
Zeitschrift Unterhaltungskunst November 1971<br />
– Der Komet, diverse Jahrgänge<br />
– <strong>Kirmes</strong> & Park Revue, Ausgaben 1 - 110
Dies ist <strong>der</strong> zweite Son<strong>der</strong>band <strong>der</strong> im Jahr 1996<br />
gegründeten <strong>und</strong> jeden Monat erscheinenden<br />
Zeitschrift <strong>Kirmes</strong> & Park Revue. Das erste <strong>Kirmes</strong><br />
Special, erschienen zum 10-jährigen Geburtstag<br />
dieser Publikation im Jahr 2005, befasste sich<br />
ausschließlich mit den Karussells in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik<br />
<strong>der</strong> 50er- <strong>und</strong> 60er-Jahre.<br />
Die neue <strong>Kirmes</strong> Special Ausgabe ist dem Thema<br />
„<strong>Schausteller</strong> <strong>und</strong> <strong>Volksfeste</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“ gewidmet<br />
<strong>und</strong> dokumentiert ausführlich in Wort <strong>und</strong> Bild<br />
das <strong>Kirmes</strong>geschehen <strong>und</strong> das <strong>Schausteller</strong>leben<br />
während <strong>der</strong> 40-jährigen Epoche des zweiten<br />
deutschen Staates: <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>.<br />
ISBN 3-9808913-5-6<br />
4 197061 309909 70002