25.03.2014 Aufrufe

Rüdiger Vaas - Vom Gottesteilchen zur Weltformel - Kosmos

Rüdiger Vaas - Vom Gottesteilchen zur Weltformel - Kosmos

Rüdiger Vaas - Vom Gottesteilchen zur Weltformel - Kosmos

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Vom</strong> <strong>Gottesteilchen</strong><br />

<strong>zur</strong> <strong>Weltformel</strong><br />

Literaturverzeichnis – 1


2 – Literaturverzeichnis


<strong>Rüdiger</strong> <strong>Vaas</strong><br />

<strong>Vom</strong><br />

<strong>Gottesteilchen</strong><br />

<strong>zur</strong> <strong>Weltformel</strong><br />

Urknall, Higgs, Antimaterie und<br />

die rätselhafte Schattenwelt<br />

K<br />

Literaturverzeichnis – 3


»Woher kommt mir eigentlich diese Neugierde,<br />

die mich immer von neuem aus den Tümpeln hochjagt?<br />

Und auf was denn richtet sie sich?«<br />

Hans Erich Nossack: Der Neugierige<br />

Impressum<br />

Umschlaggestaltung von Büro Jorge Schmidt unter Verwendung<br />

einer Illustration von Pasieka/Science Photo Library/Agentur Focus.<br />

Mit 55 Schwarzweißfotos und 46 Illustrationen. Bildnachweis Seite 511.<br />

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele<br />

weitere Informationen zu unseren Büchern,<br />

Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und<br />

Aktivitäten finden Sie unter kosmos.de<br />

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier<br />

© 2013, Franckh-<strong>Kosmos</strong> Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 978-3-440-13855-7<br />

Redaktion: Sven Melchert<br />

Gestaltung und Satz: Martina Heitzmann-Schulz, Fußgönheim<br />

Produktion: Ralf Paucke<br />

Printed in Germany / Imprimé en Allemagne<br />

4 – Literaturverzeichnis


Inhalt<br />

6 ›<br />

10 ›<br />

102 ›<br />

166 ›<br />

256 ›<br />

318 ›<br />

384 ›<br />

Prolog<br />

Wir haben eine Entdeckung!<br />

Mikrokosmos<br />

Die Bausteine des Universums<br />

<strong>Gottesteilchen</strong><br />

Ein schöpferisches Feld und sein Verkünder<br />

Antimaterie<br />

Vorstoß in die Gegenwelt<br />

Dunkle Materie<br />

Das Weltreich der Finsternis<br />

Symmetrien<br />

Mit vereinten Kräften <strong>zur</strong> Vielfalt der Welt<br />

<strong>Weltformel</strong><br />

Die Melodie des Mikrokosmos<br />

502 ›<br />

503 ›<br />

503 ›<br />

511 ›<br />

Paralleluniversen-Publikationen<br />

Teilchendank<br />

Lesepartikel<br />

Photonen-Emitter<br />

Literaturverzeichnis – 5


6 – Prolog


»Wir haben eine Entdeckung!«<br />

Diese freudigen Worte von Rolf-Dieter Heuer, dem Generaldirektor des<br />

Forschungszentrums CERN bei Genf, bedeuten wohl den Schlussstein<br />

eines rund fünf Jahrzehnte dauernden Kapitels einer Erfolgsgeschichte<br />

ohne Beispiel: der Entwicklung, Ausarbeitung und Vervollständigung<br />

des Standardmodells der Elementarteilchenphysik. Es beschreibt alle<br />

bekannten Teilchen und Kräfte außer der Gravitation. Und es ist zusammen<br />

mit Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie die am<br />

besten bestätigte wissenschaftliche Theorie aller Zeiten.<br />

Nur ein Beispiel: Mit dem Standardmodell lässt sich, wenn auch<br />

mit riesigem Aufwand, der normierte Wert des anomalen magnetischen<br />

Moments eines Elektrons sehr genau berechnen beziehungsweise<br />

voraussagen: 0,0011596521817864377 (wobei selbst die Gründe der Unsicherheiten<br />

in den letzten fünf Ziffern bekannt sind). Und Experimentalphysiker<br />

konnten ihn äußerst präzise messen: 0,00115965218076 (mit<br />

einer Unsicherheit von plus/minus 0,00000000000027). Theorie und<br />

Beobachtung passen also auf elf Stellen hinter dem Komma zueinander<br />

– und das bei einem nicht gerade selbstverständlichen Parameter eines<br />

Elementarteilchens, das kleiner als 10 -19 Meter sein muss. Diese Übereinstimmung<br />

ist kein Zufall, sondern sie zeigt, dass Wissenschaftler<br />

hier ein sehr tiefes Verständnis von der Natur haben.<br />

Am 4. Juli 2012 gaben Physiker am CERN die Entdeckung eines<br />

neuen Teilchens bekannt, die Heuer so freute. Es ist sehr wahrscheinlich<br />

das seit Jahrzehnten gesuchte Higgs-Boson – das Quant eines<br />

Felds, ohne das es keine Masse gäbe, keine Atome und kein Leben.<br />

Dieses Feld durchzieht alles, auch dieses Buch, und ist vielleicht der<br />

Kathedrale für das »<strong>Gottesteilchen</strong>«: Im CMS-Detektor am Large Hadron<br />

Collider sind bereits über eine halbe Million Higgs-Bosonen entstanden – und<br />

nach jeweils einer Trilliardstel Sekunde sofort wieder zerfallen.<br />

Prolog – 7


Schlüssel zu einer unbekannten Realität, zu verborgenen Dimensionen<br />

und einer »<strong>Weltformel</strong>«. Peter Higgs und François Englert, die<br />

die Existenz des neuartigen Felds vorausgesagt und so eine Großfahndung<br />

mit den gewaltigsten Maschinen aller Zeiten ausgelöst<br />

hatten, wurden im Dezember 2013 mit dem Nobelpreis geehrt.<br />

Dieses Buch beschreibt die Entdeckung des Higgs-Teilchens, das<br />

Standardmodell der Materie sowie das, was Physiker heute jenseits<br />

davon vermuten, suchen, erhoffen und befürchten.<br />

› Das erste Kapitel, Mikrokosmos, schlägt den weiten Bogen von<br />

den ersten Spekulationen griechischer Philosophen über Naturgesetze<br />

und Atome bis zum modernen Standardmodell der Elementarteilchenphysik.<br />

Obwohl sich die »reduktionistische« Erklärungsstrategie<br />

bis heute glänzend bewährt hat, wurden die Vorstellungen<br />

von der Materie und ihren Wechselwirkungen radikal<br />

umgewälzt. So richtig weiß niemand, was Materie eigentlich ist<br />

– und die Quantenfeldtheorien werfen auch diffizile philosophische<br />

Fragen auf. Ganz handfest geht das Kapitel aber weiter mit<br />

der Erfolgsgeschichte des Forschungszentrums CERN, dem globalen<br />

Zentrum der experimentellen Elementarteilchenphysik, und<br />

mit seiner grandiosen Weltmaschine, dem Large Hadron Collider<br />

(LHC) und dessen haushohen Messgeräten. Der LHC ist auch eine<br />

Art »Urknall-Maschine«, denn er erzeugt Bedingungen, wie sie<br />

weniger als eine Milliardstel Sekunde nach dem Anfang unseres<br />

Universums überall im Weltraum herrschten.<br />

› Das zweite Kapitel, <strong>Gottesteilchen</strong>, beschreibt die abenteuerliche<br />

Suche nach dem Higgs-Boson. Seine Existenz wurde 1964 am<br />

Schreibtisch postuliert, was zunächst kaum Beachtung fand. Fast<br />

ein halbes Jahrhundert später haben es Teilchenphysiker am LHC<br />

vieltausendfach produziert und mit riesigem Aufwand akribisch<br />

nachgewiesen – ein grandioser Erfolg für die Wissenschaft! Damit<br />

ist das Standardmodell der Elementarteilchen komplett und ein echt<br />

»schweres« Rätsel gelöst.<br />

8 – Prolog


› Das dritte Kapitel, Antimaterie, handelt von der eigenartigen Gegenwelt<br />

der Materie, die fast gleich und doch ungeheuer vernichtend<br />

erscheint – vor allem aber größtenteils abwesend. Doch am CERN<br />

werden nun erstmals in der Geschichte des bekannten Universums<br />

Antiatome erzeugt. Damit lassen sich die Naturgesetze auf eine ganz<br />

neue Weise ausloten.<br />

› Das vierte Kapitel, Dunkle Materie, hat eine weitere »Parallelwelt«<br />

der Natur im Fokus: ein seltsames Schattenreich, das sich nur<br />

durch seinen Schwerkrafteinfluss bemerkbar macht. Der ist aber<br />

gewichtig. Die unsichtbare Dunkle Materie muss mindestens das<br />

Sechsfache der Gesamtmasse aller gewöhnlichen Elementarteilchen<br />

besitzen. Sie regiert die Galaxien, wie Astronomen inzwischen wissen.<br />

Nun sind die Teilchenphysiker gefordert, die ominösen Partikel<br />

einzufangen – oder am LHC direkt zu erschaffen.<br />

› Das fünfte Kapitel, Symmetrien, spürt dem Geheimcode der Natur<br />

nach, der Einheit stiftet und Vielfalt schafft. Hier wird alles GUT, die<br />

scheue SUSY verzaubert und das Higgs-Boson kommt wieder zu Ehren.<br />

› Das sechste Kapitel, <strong>Weltformel</strong>, schließlich handelt von den gleichermaßen<br />

exotischen wie faszinierenden Versuchen, eine umfassende<br />

Erklärung von Materie, Energie, Kräften sowie Raum und Zeit zu finden<br />

– die Entstehung des Universums eingeschlossen. Physiker arbeiten<br />

an einer Theorie der Quantengravitation … und verheddern sich dabei<br />

nicht selten in zusätzlichen Dimensionen, in bizarren Branen- und<br />

Hologramm-Welten, bis sie auf Abwege geraten in einer ungeheuren<br />

Landschaft, um sich zuletzt irgendwo zwischen Myriaden von Raumzeiten<br />

im Multiversum wiederzufinden. Das klingt vielleicht konfus<br />

oder abstrus – doch so verwegen das Szenario der Superstrings und<br />

ihre geheimnisvolle Erweiterung, die M-Theorie, auch anmuten: Ihre<br />

Erfolge sind beträchtlich. Sie avancierte zum führenden Kandidaten<br />

einer »Theorie von Allem«.<br />

Willkommen in der Welt des Mikrokosmos, in physikalischen Gedankenschmieden<br />

und in fremden Universen!<br />

Prolog – 9


102 – <strong>Gottesteilchen</strong>


<strong>Gottesteilchen</strong><br />

Ein schöpferisches Feld und sein Verkünder<br />

Das Higgs-Boson ist eine verwegene Annahme mit<br />

schwerwiegenden Folgen: Als Quant eines neuartigen<br />

Felds, das den gesamten Weltraum ausfüllt, weist es<br />

auf einen kurz nach dem Urknall angesprungenen Mechanismus<br />

hin, der Elementarteilchen ihre Masse gibt.<br />

Signatur des Neuen: Zerfallsspur eines mutmaßlichen Higgs-Teilchens in<br />

zwei Paare von Myonen (lange Linien), gemessen im ATLAS-Detektor.<br />

<strong>Gottesteilchen</strong> – 103


»Wissenschaft ist nicht nur ein Katalog von in Erfahrung gebrachten<br />

Tatsachen über das Universum. Es ist eine Art und Weise<br />

des Fortschritts, manchmal quälend, manchmal unsicher.«<br />

Arthur Stanley Eddington (1882 – 1944), britischer Astrophysiker<br />

Der große Preis<br />

Die Nobelpreis-Ankündigung ist auch nicht mehr das, was sie einmal<br />

war. Denn die Zeiten haben sich verbessert: Dank Internet-<br />

Livestream kann die interessierte Menschheit die Bekanntgabe im<br />

kleinen, holzgetäfelten Saal der Königlich-Schwedischen Akademie<br />

der Wissenschaften im Zentrum Stockholms fast simultan verfolgen.<br />

Um 11:45 Uhr sollte es am 8. Oktober 2013 soweit sein: Der Physik-<br />

Nobelpreis stand an. Doch außer ein paar im Raum wartenden Journalisten<br />

war zunächst nichts zu sehen. Mehrfach wurde der Termin<br />

verschoben, bis es dann um 12:45 Uhr doch los ging. Zunächst sprach<br />

der Sekretär des Nobelpreis-Komitees in schwedisch. Doch die entscheidende<br />

Nachricht, die Namen der Gewinner, verstand jeder. Und<br />

es war eigentlich keine Überraschung – im Gegenteil: Physik-Experten<br />

hätten sich doch sehr gewundert, wenn in diesem Jahr eine<br />

andere Leistung ausgezeichnet worden wäre (aber angesichts einiger<br />

seltsamer früherer Preis-Entscheidungen wäre vielleicht nicht einmal<br />

das erstaunlich gewesen).<br />

Kurzum: Der seit 2012 mit acht Millionen Schwedischen Kronen<br />

(916.000 Euro) dotierte Nobelpreis für Physik 2013 geht an François<br />

Englert von der Université Libre de Bruxelles im belgischen Brüssel<br />

und Peter W. Higgs von der University of Edinburgh in Großbritannien.<br />

Verliehen wird er »für ihre theoretische Entdeckung eines<br />

Mechanismus, der zum Verständnis des Ursprungs der Masse von<br />

104 – <strong>Gottesteilchen</strong>


Glück im Alter: François Englert (links) und Peter Higgs trafen sich hier<br />

erstmals in ihrem Leben am 4. Juli 2012 am CERN – bei der Bekanntgabe der<br />

Entdeckung des mutmaßlichen Higgs-Teilchens. Dessen Existenz wurde von<br />

ihrer Theorie vorausgesagt, für die die beiden Wissenschaftler rund 50 Jahre<br />

später mit dem Physik-Nobelpreis 2013 ausgezeichnet wurden.<br />

subatomaren Teilchen beiträgt, und der kürzlich bestätigt wurde<br />

mit der Entdeckung des vorausgesagten Elementarteilchens durch<br />

die Experimente ATLAS und CMS des Large Hadron Collider am<br />

CERN«, wie es in der Begründung etwas umständlich, aber durchaus<br />

sorgfältig formuliert heißt. Nach der englischen Wiederholung<br />

derselben Nachricht wurden kurz die Arbeiten von Englert mit<br />

Robert Brout – der den Preis ebenfalls erhalten hätte, wenn er nicht<br />

2011 gestorben wäre – und von Peter Higgs vorgestellt und die enormen<br />

experimentaltechnischen Anstrengungen gewürdigt, die 2012<br />

schließlich am CERN zum Nachweis des Teilchens führten, dessen<br />

<strong>Gottesteilchen</strong> – 105


Existenz aus dem inzwischen als Brout-Englert-Higgs-Mechanismus<br />

bezeichneten theoretischen Modell zwingend folgt.<br />

»Ich bin sehr glücklich«, sagte Englert in einem Telefonat mit<br />

der Schwedischen Akademie der Wissenschaften im Anschluss, das<br />

ebenfalls live übertragen wurde. Peter Higgs hingegen war nicht erreichbar<br />

– vermutlich deshalb ist die Veranstaltung um eine Stunde<br />

verschoben worden, weil er zuvor natürlich noch hätte benachrichtigt<br />

werden sollen. »Ich werde ihm gratulieren«, versprach Englert.<br />

Abends war er im Fernsehen zu sehen, wie er vom Balkon seiner<br />

Wohnung aus lächelnd den Journalisten winkte.<br />

Nicht ausgezeichnet wurden Tom Kibble, Gerald Guralnik und<br />

Carl Hagen, die ebenfalls 1964 und unabhängig von Englert, Brout<br />

und Higgs dieselbe Idee ausgearbeitet hatten – deren Publikation<br />

aber knapp einen Monat nach der von Higgs erschien, weil sie sich<br />

Zeit gelassen hatten, die Richtigkeit ihrer Rechnungen noch einmal<br />

zu überprüfen. Das darf man als ungerecht empfinden. Traditionell<br />

werden aber maximal drei Personen mit einem Nobelpreis ausgezeichnet.<br />

Die Statuten sehen nur diese Varianten vor: eine Person,<br />

zwei Personen je <strong>zur</strong> Hälfte, drei Personen je zu einem Drittel, oder<br />

eine Person <strong>zur</strong> Hälfte und zwei jeweils zu einem Viertel.<br />

»Vor der Wahl, die Regeln zu befolgen oder eine gleichberechtigte<br />

Entscheidung zu fällen, hielten sich die Schweden an ihre Statuten«,<br />

kommentierte Hagen nicht ohne Bitternis. Auch Tom Kibble, der<br />

Englert und Higgs ebenfalls gratulierte, freute sich darüber, dass die<br />

Schwedische Akademie der Wissenschaften die Forschungen anerkannt<br />

hat. »Meine beiden Mitarbeiter, Gerald Guralnik und Carl<br />

Richard Hagen, und ich haben zu dieser Entdeckung beigetragen.<br />

Aber unser Artikel war ohne Frage der letzte der drei Publikationen.<br />

Es ist deshalb keine Überraschung, dass die Schwedische Akademie<br />

sich nicht in der Lage dazu sah, uns einzuschließen aufgrund ihrer<br />

selbst auferlegten Regel, dass der Preis nicht unter mehr als drei Leuten<br />

geteilt werden soll«, räumte er ein.<br />

106 – <strong>Gottesteilchen</strong>


Niemand bezweifelt allerdings, dass Englert und Higgs den Nobelpreis<br />

»wahrlich verdient« haben, wie es Sean Carrol vom California<br />

Institute of Technology ausdrückt. »Ihre Leistung ist eines der absolut<br />

beeindruckendsten Beispiele für das Verständnis, mit welcher<br />

Präzision die Natur auf einer tiefen Ebene funktioniert«, sagt der<br />

Theoretische Physiker, der 2012 ein sehr lesenswertes Buch über<br />

den Higgs-Mechanismus und alles Folgende veröffentlicht hatte,<br />

The Particle at the End of the Universe. »Das ist die Anerkennung<br />

eines Triumphs der Grundlagenphysik, der in den Geschichtsbüchern<br />

Jahrtausende überdauern wird«, stimmt Ben Allanach zu,<br />

ein Theoretischer Physiker an der Cambridge University. »Ich bin<br />

begeistert über diesen Preis, und sowohl Englert als auch Higgs<br />

haben ihn sehr verdient. Man kann die Bedeutung der Entdeckung<br />

gar nicht überbetonen.«<br />

Spekulationen, neben Englert und Higgs könnte das CERN der<br />

Dritte im Bunde sein, gab es zwar auch. Doch sie waren eigentlich<br />

müßig. Denn Institutionen sind für Wissenschaftsnobelpreise nicht<br />

vorgesehen. Obwohl manche dachten, Forscher wie Laien, dass das<br />

Nobelpreis-Komitee vielleicht die Statuten ändern würde – und viele<br />

das auch für erforderlich halten angesichts der immer größeren<br />

Teams in der Grundlagenforschung. Zumindest in einigen Bereichen<br />

ist die Zeit des »einsamen Genies« in der Wissenschaft vorbei. Man<br />

könnte daher natürlich auch pars pro toto einer Person den Preis<br />

verleihen – doch wem? In diesem Fall CERN-Generaldirektor Rolf-<br />

Dieter Heuer? Oder einem der Hauptverantwortlichen beim Bau des<br />

Large Hadron Colliders, etwa dem Projektmanager Lyndon Evans?<br />

Oder den – aktuellen oder aber bei der Entdeckung des Teilchens amtierenden<br />

– Sprechern der Detektoren ATLAS und CMS, mit denen<br />

das Higgs-Boson schließlich nachgewiesen wurde?<br />

»Keiner von uns arbeitet für den Preis, sondern aus Neugier und<br />

innerem Antrieb«, betonte Thomas Naumann vom Forschungszentrum<br />

DESY in Zeuthen, der zum ATLAS-Team gehört. »Ein lustiger<br />

<strong>Gottesteilchen</strong> – 107


Vorschlag war, dem Teilchen selbst den Preis zu verliehen, als Dank<br />

dafür, dass es uns allen Masse verleiht.«<br />

Am CERN war die Freude über den Nobelpreis jedenfalls groß –<br />

die Rolle des Forschungszentrums wurde in der Begründung, in allen<br />

Reden und Schriften ja auch ausführlich gewürdigt, ebenso im Echo<br />

der Presse. »Es ist ein großer Tag für die Teilchenphysik, sowohl für<br />

die Theorie als auch für die Experimente«, sprach CERN-Generaldirektor<br />

Rolf-Dieter Heuer zu ein paar hundert Kollegen, die sich in der<br />

Eingangshalle des CERN-Gebäudes 40 versammelt hatten (wo viele<br />

ATLAS- und CMS-Forscher wie auch Heuer ihre Büros haben), um<br />

live die Nobelpreis-Bekanntmachung über den Webstream zu hören.<br />

Applaus brandete auf, und Heuer ermunterte alle, auch sich selbst zu<br />

applaudieren, denn »wir sollten alle stolz sein auf diese Leistung«. Mit<br />

mehreren Wissenschaftlern hielt Heuer dann kurze Zeit später, um<br />

14 Uhr, auch eine Pressekonferenz ab.<br />

Hinter vorgehaltener Hand war bei manchen Forschern gleichwohl<br />

eine Spur Enttäuschung zu vernehmen. Schließlich hätten<br />

ohne die LHC-Entdeckung des Bosons Englert und Higgs den Preis<br />

schwerlich erhalten, so die Überzeugung. Aber das alles ist »soziales<br />

Rauschen«, und um Preise sollte es in der Forschung ohnehin<br />

nicht gehen. (Außerdem können die LHC-Spitzenleistungen ja auch<br />

künftig noch bedacht werden, und einige andere renommierte Preise<br />

haben sie bereits eingeheimst.)<br />

Peter Higgs ist in dieser Hinsicht auch menschlich-moralisch ein<br />

Vorbild. Bescheiden, fast scheu, war ihm der bereits vor ein paar Jahren<br />

einsetzende Rummel um seine Person nie recht geheuer. Selbst der Trubel<br />

unter den Physikern, als er im April 2008 das CERN besucht hatte,<br />

um die LHC-Detektoren anzuschauen, war ihm fremd. (Er musste sogar<br />

einige der unter Tage obligatorisch zu tragenden Plastikhelme signieren,<br />

die kurz darauf von den Autogrammjägern versteigert wurden.) Auch<br />

das gesellschaftliche Prestige-Traritrara meidet er. So lehnte er den britischen<br />

»Ritterschlag« ab, weil er nicht »diese Art von Titel« wollte.<br />

108 – <strong>Gottesteilchen</strong>


Nobelpreis-Freude: Im Anschluss an die Nachricht aus Stockholm hielt<br />

Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer eine kurze Ansprache am CERN.<br />

Peter Higgs, der weder Handy noch Computer und E-Mail benutzt<br />

(und nur ans Telefon geht, wenn er weiß, wer anruft), hatte sich<br />

nicht zufällig am 8. Oktober <strong>zur</strong>ückgezogen. Er sei gesundheitlich<br />

angeschlagen und mache Urlaub, hieß es über den längst emeritierten<br />

Professor (der aber immer noch Vorlesungen hält). »Er gab<br />

nicht einmal mir Bescheid«, sagte sein enger Freund Alan Walker,<br />

ebenfalls Physiker an der Edinburgh University, nach der noblen<br />

Bekanntgabe, als er mit seinen Kollegen die Preisverleihung verfolgte<br />

und am Institut feierte. »Er ist nicht erreichbar, und das ist<br />

gut für ihn.«<br />

Tatsächlich weilte Higgs in einem kleinen Pub in Leith nördlich<br />

von Edinburgh. Dort genoss er eine Suppe, Fisch und ein Pint<br />

Bier. Von dem Preis erfuhr er erst, als ihm ein Nachbar nach seiner<br />

Rückkehr in Edinburghs New Town gratulierte, wo er ein Appartement<br />

bewohnt.<br />

<strong>Gottesteilchen</strong> – 109


Am 11. Oktober sprach Higgs dann kurz auf einer Pressekonferenz<br />

der Edinburgh University. Er erzählte, ein schwedischer Freund und<br />

Physiker habe ihm schon 1980 gesagt, dass er für den Nobelpreis<br />

vorgesehen sei. Aber Higgs glaubte nicht, dass er den Nachweis des<br />

Bosons noch erleben würde. Erst als der LHC in Betrieb ging, sah<br />

er eine Chance; und nach der Spezifikation der Eigenschaften des<br />

entdeckten Bosons im Frühjahr 2013 sei es für den Preis wohl nur<br />

noch eine Frage der Zeit gewesen.<br />

In einem Statement, das seine Universität später veröffentlichte,<br />

sagte Higgs, er sei »überwältigt«, den Preis zu erhalten und gratulierte<br />

allen, die zu der Entdeckung beigetragen hätten. Und er fügte<br />

hinzu: »Ich hoffe, diese Anerkennung der Grundlagenforschung hilft<br />

dabei, das Bewusstsein zu steigern, welchen Wert wissenschaftliche<br />

Untersuchungen ins Blaue hinein haben« (»raise awareness of the<br />

value of blue-sky research«).<br />

Der Higgs-Mechanismus<br />

Aus einer solchen scheinbar zweckfreien, das heißt als Selbstzweck<br />

aus Neugierde erfolgten »himmelblauen« Forschung heraus war<br />

Peter Higgs auch auf die mögliche Existenz des inzwischen nach ihm<br />

benannten Bosons gestoßen. Es ist der letzte Baustein im Standardmodell<br />

der Materie – das Quant des Higgs-Felds. Elementarteilchen,<br />

die mit diesem Feld wechselwirken, erhalten dabei ihre Ruhemasse.<br />

Teilchen, die das nicht tun – wie die Photonen –, bleiben masselos<br />

und somit lichtschnell.<br />

In den modernen Quantenfeldtheorien spielen Symmetrien und<br />

spontane Symmetriebrechungen eine entscheidende Rolle. Symmetrische<br />

Zustände sind einfach, aber oft instabil. Dies trifft auch für<br />

das Higgs-Feld zu. Mathematisch lässt sich sein Potenzial ähnlich<br />

beschreiben wie die Form eines Sombrero-Huts.<br />

110 – <strong>Gottesteilchen</strong>


Sombrero und Symmetriebrechung: Das Higgs-Potenzial, die Aktivierung<br />

des Higgs-Mechanismus und der Grund des Higgs-Teilchens. Näheres<br />

im Text.<br />

Kurz nach dem Urknall hatte das Feld, das den ganzen Weltraum<br />

durchzieht, einen symmetrischen Zustand. Das kann man mit einer<br />

Kugel veranschaulichen, die auf dem »Gipfel« (lokales Maximum) des<br />

Higgs-Potenzials ruht, sodass alle Richtungen gleichberechtigt sind.<br />

Als sich das All abkühlte, spaltete sich die Elektroschwache Kraft auf<br />

in die beiden seither getrennten Kräfte des Elektromagnetismus und<br />

der Schwachen Wechselwirkung. Zuvor waren alle Elementarteilchen<br />

masselos. Doch von nun an konnten viele Teilchen-Arten mit<br />

dem Higgs-Feld interagieren und erhielten dabei ihre Masse. Dieser<br />

Phasenübergang lässt sich durch das Hinabrollen der Kugel in die<br />

energieärmere Rinne an irgendeiner Stelle des Potenzials beschrei-<br />

<strong>Gottesteilchen</strong> – 111


en (Symmetriebrechung). Wird das Feld dann angeregt, schwingt<br />

die Kugel dort hin und her. Diese Oszillationen entsprechen dem<br />

massereichen Higgs-Boson.<br />

Dieses Teilchen ist also nicht selbst der »Masse-Lieferant«, sondern<br />

lediglich eine kurzlebige Begleiterscheinung des Felds bei energiereicher<br />

Anregung. Trotzdem wäre sein Nachweis von riesiger<br />

Bedeutung, würde er doch bestätigen, dass die Vorstellung vom<br />

Higgs-Mechanismus korrekt ist.<br />

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens als Selbstzweck ist also gar<br />

nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass sein Nachweis die Existenz des<br />

Higgs-Felds impliziert, aus dem es entsteht, sowie des Higgs-Mechanismus.<br />

Gemäß der Quantenfeldtheorien sind Teilchen keine eigenständige<br />

Entitäten, sondern lediglich Schwingungen oder Vibrationen<br />

oder Energiekonzentrationen in einem Feld – eine sehr abstrakte und<br />

mit dem Alltagsverständnis schwer zu vereinbarende Vorstellung. Elementarteilchen<br />

sind also nicht einfach winzige harte Kügelchen, die wie<br />

in einem mikroskopischen Billard-Spiel herumflitzen oder -liegen und<br />

wie Bauklötze die Formenvielfalt der sicht- und fühlbaren Welt ergeben.<br />

So sind beispielsweise Elektronen die Vibrationen des elektromagnetischen<br />

Felds, und deshalb haben sie alle dieselbe Masse und Ladung<br />

– aber sie können wie ihre Antimaterie-Geschwister, die Positronen, aus<br />

diesem Feld auch entstehen und sich wechselseitig wieder vernichten,<br />

das heißt zerstrahlen.<br />

Weil das Higgs-Feld den gesamten Raum durchsetzt – überall auf<br />

dieselbe Weise, das heißt gleich »stark« und ohne eine bevorzugte<br />

Richtung – und mit bestimmten (aber nicht allen!) Elementarteilchen<br />

wechselwirkt, gewinnen diese dabei ihre Masse. Ohne diesen Higgs-<br />

Mechanismus wären also beispielsweise Elektronen masselos und somit<br />

lichtschnell wie Photonen (die nicht mit dem Higgs-Feld wechselwirken).<br />

Hätten die Elektronen keine Masse, könnten Atome nicht existieren<br />

(oder nur Atome gleichsam so groß wie das ganze Universum).<br />

Somit gäbe es auch keine Moleküle, keine Chemie und kein Leben.<br />

112 – <strong>Gottesteilchen</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!