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Gerlind Belke Produktiver Umgang mit ästhetischen Texten als ...

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<strong>Gerlind</strong> <strong>Belke</strong><br />

<strong>Produktiver</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> ästhetischen <strong>Texten</strong> <strong>als</strong> Grundlage eines gemeinsamen<br />

Deutschunterrichts<br />

Es gibt etablierte Didaktiken sowohl für den muttersprachlichen <strong>als</strong> auch für den fremdsprachlichen<br />

Unterricht <strong>mit</strong> einer langen Tradition und einem großen Repertoire an Unterrichtsformen<br />

und Lehrmaterialien sowie an didaktischem Know-How, das von Lehrergeneration<br />

zu Lehrergeneration weitergegeben wird. Eine eigenständige Didaktik für<br />

Deutsch <strong>als</strong> Zweitsprache hat sich noch nicht etablieren können, geschweige denn eine<br />

Didaktik für multilinguale Klassen, die den muttersprachlichen und den zweit- bzw.<br />

fremdsprachlichen Deutschunterricht verbindet. Deshalb sind Kinder, die in mehrsprachigen<br />

Stadtteilen aufwachsen und Deutsch nicht <strong>als</strong> Muttersprache, sondern <strong>als</strong> Zweitsprache<br />

erwerben und lernen müssen, im deutschen Regelunterricht seit Beginn ihrer<br />

Schulzeit tendenziell einem Sprachunterricht ausgesetzt, der für sie nicht vorgesehen<br />

ist, weil er ständig die sprachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse voraussetzt, die eigentlich<br />

ver<strong>mit</strong>telt werden müssten. Die PISA-Studie hat die erwartbaren Folgen eines solchen<br />

Unterrichts auf dramatische Weise deutlich werden lassen. Die Ursachen für die<br />

eklatanten sprachlichen Defizite mehrsprachiger Schüler werden meist in den Köpfen<br />

der betroffenen Schüler gesucht, in ihren Elternhäusern oder der unzureichenden<br />

Sprachförderung im Kindergarten bzw. der Grundschule und nicht in der mangelhaften<br />

schulischen Sprachver<strong>mit</strong>tlung. Nach wie vor ist nicht geklärt, welche Didaktik zuständig<br />

ist, wie die Lehrer für den Regelfall Mehrsprachigkeit ausgebildet werden müssten und<br />

an welchen Lehrmaterialien sie sich orientieren sollten.<br />

Während im muttersprachlichen und fremdsprachlichen Unterricht ordnungsgemäß ausgebildete<br />

Lehrkräfte selten fundamentale Fehler machen, weil sie auf ein großes Repertoire<br />

von mehr oder weniger guten didaktischen Konzepten, Methoden und Lehrmaterialien<br />

zurückgreifen können, sind die Lehrer im zweitsprachlichen Unterricht völlig auf sich<br />

selbst gestellt und in vielen Fällen sind ihre Eingriffe in die sprachlichen Lernprozesse<br />

ihrer Schüler und vor allem die eingesetzten Lehrmaterialien kontraproduktiv.<br />

Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit kann im Folgenden nur thesenartig skizziert werden<br />

(vgl. dazu ausführlicher <strong>Belke</strong> 2003 und 2006a und b).<br />

1.<br />

Was lernen die Schüler durch den handelnden <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> ihrer Zweitsprache Deutsch<br />

von selber, was muss im schulischen Deutschunterricht gezielt ver<strong>mit</strong>telt werden? Durch<br />

den Zwang zur Nutzung einer nicht beherrschten Sprache entwickelt sich ein für die<br />

mündliche Kommunikation ausreichender „Ethnolekt“, der sich auf die bedeutungstragenden<br />

Elemente der Sprache konzentriert und Funktionswörter, wie z.B. Artikel, Präpositionen,<br />

Pronomen usw. weglässt („Gib Heft, schnell!“). Diese mündliche Variante<br />

des Deutschen reicht nicht aus, um den schriftsprachichen Anforderungen in der Zweitsprache<br />

gerecht zu werden und dem Unterricht in der Mehrheitssprache Deutsch folgen<br />

zu können.<br />

2.


Also muss die gezielte Ver<strong>mit</strong>tlung der Standardsprache im Zentrum der Ver<strong>mit</strong>tlung<br />

stehen. Mit dem Verfassen von <strong>Texten</strong> ist das normgerechte Schreiben verknüpft. Die<br />

Schriftlichkeit stellt eine eigene Existenzform der Sprache dar, d.h. auch deutschsprachige<br />

SchülerInnen erlernen die bereits erworbene Sprache ein zweites Mal.<br />

3.<br />

Der muttersprachliche Aufsatzunterricht und besonders die seit vielen Jahren in Grundschulen<br />

übliche Praxis des freien Schreibens von Anfang an führen dazu, dass Kinder<br />

<strong>mit</strong> geringen Deutschkenntnissen ihre Interlanguage (Lernersprache) schreiben müssen.<br />

Das kann zur Fossilierung (Versteinerung der Lernersprache) führen, d.h. die Abweichungen<br />

des <strong>als</strong> Zweitsprache erworbenen „Ethnolekts“ werden buchstäblich „festgeschrieben“.<br />

4.<br />

Das generative Schreiben bzw. bei jüngeren Kindern der produktive <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> Kinderliedern,<br />

Reimen, Bilderbüchern u.Ä. bietet auch Kindern <strong>mit</strong> geringen Deutschkenntnissen<br />

die Chance – wie in einer fremdsprachlichen Übung – sprachlich richtige Texte zu<br />

produzieren, indem sie Teile des Originaltextes übernehmen, z.B. die Satzstrukturen,<br />

und sie <strong>mit</strong> eigenen Inhalten füllen. Diese Verknüpfung der Textproduktion <strong>mit</strong> dem<br />

Grammatik- und Rechtschreibunterricht kommt auch einsprachig deutschen SchülerInnen<br />

insbesondere aus schriftarmem Milieu zugute. Für alle Kinder sind diese generativen<br />

Textproduktionsübungen eine Form des „kreativen Schreibens“, eines produktiven<br />

<strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> Literatur und da<strong>mit</strong> des literarischen Lernens, das die Reflexion über literarische<br />

und sprachliche Strukturen fördert, das deshalb in mehrsprachigen Lerngruppen<br />

gleichberechtigt neben dem freien Schreiben praktiziert werden sollte. Hier ein Beispiel<br />

zur impliziten Ver<strong>mit</strong>tlung der Artikel, der Adjektivflexion und der Pronomen, das<br />

schon im Kindergarten mündlich geübt werden kann, da<strong>mit</strong> die Kinder die richtigen<br />

Funktionswörter und Endungen „ins Ohr“ bekommen:<br />

Der Hase <strong>mit</strong> der roten Nase<br />

(Helme Heine)<br />

Es war einmal ein Hase<br />

<strong>mit</strong> einer roten Nase<br />

und einem blauen Ohr.<br />

Das kommt ganz selten vor.<br />

Die Tiere wunderten sich sehr!<br />

Wo kam der Hase her?<br />

Er hat im Gras gesessen<br />

und still den Klee gefressen.<br />

Und <strong>als</strong> der Fuchs vorbei gerannt,<br />

hat er den Hasen nicht erkannt.<br />

Da freute sich der Hase.<br />

„Wie schön ist meine Nase<br />

und auch mein blaues Ohr!<br />

Das kommt so selten vor.“<br />

Die Katze <strong>mit</strong> der silbernen Tatze<br />

Es war einmal eine Katze<br />

<strong>mit</strong> einer silbernen Tatze<br />

und einem goldnen Ohr.<br />

Das kommt ganz selten vor.<br />

Die Kinder wunderten sich sehr!<br />

Wo kam die Katze her?<br />

Sie hat hinterm Ofen gesessen<br />

und still ihr Whiskas gefressen.<br />

Und <strong>als</strong> die Lisa vorbei gerannt,<br />

hat sie die Katze nicht erkannt.<br />

Da freute sich die Katze.<br />

„Wie schön ist meine Tatze<br />

und auch mein goldnes Ohr!<br />

Das kommt so selten vor.


Das Schwein <strong>mit</strong> dem grünen Bein<br />

Es war einmal ein Schwein<br />

<strong>mit</strong> einem grünen Bein<br />

und einem roten Ohr.<br />

Das kommt ganz selten vor.<br />

Der Bauer wunderte sich sehr!<br />

Wo kam das Schwein her?<br />

Es hat im Stall gesessen<br />

und still den Fraß gefressen.<br />

Und <strong>als</strong> der Bauer vorbei gerannt,<br />

hat er das Schwein nicht erkannt.<br />

Da freute sich das Schwein.<br />

„Wie schön ist mein Bein<br />

und auch mein rotes Ohr!<br />

Das kommt so selten vor.“<br />

Hier noch ein weiteres Beispiel für die<br />

Sekundarstufe.<br />

Der Löwe (und andere Tiere)<br />

Günther Anders<br />

Als die Mücke zum ersten Male<br />

den Löwen brüllen hörte,<br />

da sprach sie zur Henne:<br />

„Der summt aber komisch.“<br />

„Summen ist gut“, fand die Henne.<br />

„Sondern?“ fragte die Mücke.<br />

„Er gackert“, antwortete die Henne.<br />

„Aber das tut er allerdings sehr komisch.“<br />

Das generative Schreiben ist nicht ganz<br />

einfach: Wer hört Wen zum ersten Mal<br />

brüllen, summen, wiehern? Zu Wem<br />

spricht er (sie, es) und wie reagiert der<br />

Angesprochene?<br />

Mit Hilfe gezielter lexikalischer und<br />

grammatischer Informationen, die in einer<br />

Tabelle gesammelt und übersichtlich<br />

arrangiert werden, können Schüler <strong>mit</strong><br />

unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen<br />

richtige Texte schreiben.<br />

der<br />

Frosch<br />

quaken den Frosch/<br />

zum Frosch/ er<br />

die Gans schnattern die Gans/ zur<br />

Gans/ sie<br />

das<br />

Schwein<br />

grunzen das Schwein/<br />

zum Schwein/<br />

es<br />

der<br />

Mensch<br />

sprechen der Mensch/<br />

zum Menschen/<br />

er<br />

die Kuh muhen die Kuh/ zur<br />

Kuh/ sie<br />

das Küken<br />

piepsen das Küken/ zum<br />

Küken/ es<br />

Die Katze<br />

Als der Bär zum ersten Male die Katze<br />

miauen hörte,<br />

da sprach er zum Hahn: „Die brummt<br />

aber komisch.“<br />

„Brummen ist gut“, fand der Hahn.<br />

„Sondern?“ fragte der Bär.<br />

„Sie kräht“, antwortete der Hahn. Aber<br />

das tut sie allerdings sehr komisch.“<br />

Das Pferd<br />

Als das Schaf zum ersten Mal das Pferd<br />

wiehern hörte,<br />

da sprach es zum Hund:<br />

„Das blökt aber komisch.“<br />

„Blöken ist gut“, fand der Hund.<br />

„Sondern?“ fragte das Schaf.<br />

„Es bellt“, antwortete der Hund. „Aber<br />

das tut es allerdings sehr komisch.<br />

Der Berliner<br />

Als der Schwabe zum ersten Male einen<br />

Berliner berlinern hörte,<br />

da sprach er zur Sächsin:<br />

„Der schwäbelt aber komisch.“<br />

„Schwäbeln ist gut“, fand die Sächsin.<br />

„Sondern?“ fragte der Schwabe.<br />

„Er sächselt“, antwortete die Sächsin.<br />

„Aber das tut er allerdings sehr komisch.“


Reflexion über Sprache: Kann man die Fabel auch auf verschiedene menschliche<br />

Sprachen übertragen? Eigenartigerweise geht das nur <strong>mit</strong> Dialekten (vgl. Variante 3).<br />

Warum ist das so? Gibt es vielleicht in den Herkunftssprachen der Schüler spezielle<br />

Verben für unterschiedliche Sprechweisen?<br />

Die Texte stammen aus:<br />

<strong>Gerlind</strong> <strong>Belke</strong> (2003): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele, Spracherwerb, Sprachver<strong>mit</strong>tlung,<br />

Hohengehren; Schneider-Verlag<br />

<strong>Gerlind</strong> <strong>Belke</strong> (Hg.) (2006): Mit Sprache(n) spielen. Kinderreime, Gedichte und Geschichten für Kinder<br />

zum Nachsprechen, Mitmachen und Selbermachen. Hohengehren; Schneider-Verlag<br />

<strong>Gerlind</strong> <strong>Belke</strong> (2006): Poesie und Grammatik. Kreativer <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>Texten</strong> im Deutschunterricht<br />

mehrsprachiger Lerngruppen. Für die Vorschule, Grundschule und Orientierungsstufe. (Mit einer Einführung<br />

„Ansätze zu einer Didaktik der Mehrsprachigkeit). Hohengehren; Schneider-Verlag<br />

aus: Newsletter des Kompetenzzentrums Sprachförderung Köln, Oktober 2006

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