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weimarer klassik kultur des sinnlichen - Klassik Stiftung Weimar

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<strong>weimarer</strong> <strong>klassik</strong><br />

<strong>kultur</strong> <strong>des</strong> <strong>sinnlichen</strong><br />

tHorSten Valk<br />

»Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr, | Dient sie knechtisch dem<br />

Gesetz der Schwere | Die entgötterte Natur«.1 Mit diesen Versen aus dem<br />

Gedicht Die Götter Griechenlan<strong>des</strong> beklagt Friedrich Schiller die radikale<br />

Entzauberung der Welt im Gefolge ihrer Erforschung durch die modernen<br />

Naturwissenschaften. Wie das im März 1788 erstmals veröffentlichte<br />

Gedicht mittels suggestiver Bildsequenzen vor Augen führt, weicht die<br />

mythisch-poetische Repräsentation elementarer Naturvorgänge im Zeitalter<br />

der Aufklärung einer mechanistischen Weltsicht, die den Kosmos<br />

nicht mehr von anthropomorphen Göttern, sondern von abstrakten Naturgesetzen<br />

regieren lässt. »Wo jezt nur«, heißt es bereits in der dritten<br />

Gedichtstrophe, »wie unsre Weisen sagen, | Seelenlos ein Feuerball sich<br />

dreht, | Lenkte damals seinen gold’nen Wagen | Helios in stiller Majestät«.2<br />

Schillers Gedicht reflektiert einen epochengeschichtlichen Vorgang, der<br />

sich in terminologischer Zuspitzung als ›Entsinnlichung‹ der modernen<br />

Lebenswelt umschreiben lässt. Wo Sonnenaufgänge nicht mit einer sich<br />

täglich wiederholenden Fahrt <strong>des</strong> Apollon am Himmelsgewölbe, sondern<br />

mit astrophysikalischen Gesetzmäßigkeiten erklärt werden, da lösen sich<br />

spezifisch sinnliche Erfahrungsqualitäten zugunsten mathematischer<br />

Gleichungen auf. Die unvermeidbaren Folgen dieses Vorgangs vergegenwärtigt<br />

Schillers Gedicht in einer um 1800 omnipräsenten Metapher: Die<br />

Götter, Figurationen einer noch mythisch fundierten Weltaneignung, ziehen<br />

sich aus der Natur zurück, um diese als öden und entweihten, da seiner<br />

<strong>sinnlichen</strong> Erfahrungsqualitäten beraubten Schauplatz zurückzulassen:<br />

»Ja sie kehrten heim und alles Schöne | Alles Hohe nahmen sie mit<br />

fort, | Alle Farben, alle Lebenstöne, | Und uns blieb nur das entseelte Wort«.3<br />

Mit seiner kritischen Diagnose einer zunehmend abstrakten Erfahrungswirklichkeit<br />

steht Schiller im ausgehenden 18. Jahrhundert keineswegs<br />

allein. In seinem Gedicht artikuliert sich ein Unbehagen, das bis weit ins<br />

19. Jahrhundert hinein immer wieder im Zentrum literarischer und philosophischer<br />

Reflexionen steht. Die fortschreitende Entsinnlichung der<br />

Erfahrungswirklichkeit gibt sich hierbei als ein Transformationsprozess<br />

zu erkennen, der nicht nur durch die modernen Naturwissenschaften,<br />

sondern auch durch den Rationalismus der Aufklärungsphilosophie vorangetrieben<br />

wird. Zwar gibt es zeitgenössische Gegenströmungen wie den<br />

Empirismus und neue philosophische Disziplinen wie die Ästhetik, die<br />

der <strong>sinnlichen</strong> Wahrnehmung eine eigene Erkenntnisleistung zuspricht;<br />

gleichwohl werden gegen Ende <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts Schiller und seine<br />

Zeitgenossen von dem Gefühl beherrscht, in einer auf mathematische<br />

Formeln und abstrakte Klassifikationssysteme reduzierten Erfahrungswirklichkeit<br />

zu leben.<br />

Vor dem Hintergrund dieses Epochenpanoramas lässt sich die<br />

<strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong> als eine avancierte ›Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen‹ charakterisieren:<br />

Auf das Abstraktwerden der Welt reagieren ihre Akteure mit<br />

gegenläufigen Akzentsetzungen, die sich nicht nur in literarischen, kunsttheoretischen<br />

und geschichtsphilosophischen Experimentalanordnungen<br />

zu erkennen geben, sondern auch in verschiedenen Kulturpraktiken<br />

wie dem Wohnen, Sammeln und Schreiben zur Geltung gelangen. Materialästhetische,<br />

sinnesphysiologische und wahrnehmungspsychologische<br />

Phänomene rücken gleichermaßen in den Mittelpunkt <strong>des</strong> Interesses und<br />

begründen neue Relationen zwischen Welt und Subjekt. Die Vertreter<br />

1 NA 2.1, S. 366, Vs. 110–112. Schillers Gedicht<br />

wird nach der zweiten Fassung von 1793 zitiert.<br />

2 Ebenda, S. 363, Vs. 17–20.<br />

3 Ebenda, S. 367, Vs. 121–124.<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.<br />

11


der <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>, allen voran Johann Wolfgang Goethe, lassen sich<br />

von dem Grundsatz leiten, dass in der Kunstreflexion und in der Naturbeobachtung<br />

ebenso wie in der alltäglichen Lebensführung konsequent<br />

von den Phänomenen der Erfahrungswirklichkeit auszugehen sei: Sowohl<br />

im höfischen Umfeld Carl Augusts als auch in den Journalen aus<br />

Bertuchs <strong>Weimar</strong>er Verlagshaus werden verschiedenste Fragen der <strong>sinnlichen</strong><br />

Wahrnehmung thematisiert und diskutiert; überdies zeigt sich<br />

das rege Interesse an Erscheinungsformen <strong>des</strong> Sinnlichen in anthropologischen<br />

und kunstpädagogischen Theoriebildungen sowie in einer morphologisch<br />

orientierten Naturbetrachtung, die in der Abkehr von analytisch-sezierenden<br />

und mathematisierenden Untersuchungsmethoden die<br />

›Anschauung‹ als ein »gegenständliches Denken« profiliert.4<br />

Die Ausbildung einer spezifischen Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen im klassischen<br />

<strong>Weimar</strong> lässt sich weder als Umsetzung und Ausfaltung einer vorgängigen<br />

Programmatik noch als spontane Praxis mit nachlaufender<br />

Theoriebildung beschreiben. Die <strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen charakterisiert<br />

sich gerade dadurch, dass konkrete Praxis und methodische<br />

Reflexion in beständigem Austausch stehen, ja ein unauflösbares Amalgam<br />

bilden. Freilich gibt sich die bemerkenswerte Wechselwirkung von<br />

Theorie und Praxis erst dort zu erkennen, wo die Gesamtheit der <strong>Weimar</strong>er<br />

Akteure in den Blick rückt und die Polyphonie der Stimmen vernommen<br />

wird. Schillers anthropologisch ausgerichtete Reflexionen zur Kultivierung<br />

der menschlichen Sinnlichkeit etwa kümmern sich kaum um<br />

Fragen der konkreten praktischen Umsetzung, während die Initiatoren<br />

der 1776 von Carl August ins Leben gerufenen Fürstlichen Zeichenschule<br />

vor allem von pragmatischen Erwägungen ausgehen und mit einem<br />

sehr handfesten Interesse darüber nachdenken, wie sich der Geschmack<br />

in den verschiedenen Bevölkerungsschichten <strong>des</strong> Herzogtums Sachsen-<br />

<strong>Weimar</strong> und Eisenach dauerhaft heben lässt. Im Umfeld Anna Amalias<br />

wiederum kultiviert man verschiedene Formen dilettantischer Kunstpraxis<br />

wie das Zeichnen nach Vorlagen, meist ohne programmatischen<br />

Anspruch, und doch von weitreichender Bedeutung für die Ausbildung<br />

einer ambitionierten Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Inwiefern die kunstpädagogischen<br />

Innovationen im Kontext der Zeichenschule das von Bertuch<br />

verlegte Journal <strong>des</strong> Luxus und der Moden inspirieren und inwieweit das<br />

dort propagierte Einrichtungsideal Goethes Nachdenken über Materialqualitäten<br />

beziehungsweise Oberflächenwirkungen von Gebrauchs- und<br />

Kunstgegenständen prägt, lässt sich nicht immer bis ins Detail rekon -<br />

struieren. Gleichwohl liegen die vielfältigen Verschränkungen, wechselseitigen<br />

Einflussnahmen und dynamischen Rückkopplungseffekte offen<br />

zutage. Die Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen im klassischen <strong>Weimar</strong> verdankt sich<br />

einem Zusammenspiel zahlreicher Akteure, die, weit davon entfernt, eine<br />

homogene Gruppe zu bilden, mit sehr unterschiedlichen Begabungen<br />

einen komplexen Prozess anstoßen: Dieser wird von theoriegeleiteten<br />

Erörterungen und praxisorientierten Initiativen ebenso bestimmt wie<br />

von pragmatischen Erwägungen und individuellen Vorlieben.<br />

4 Zu Goethes morphologisch ausgerichteter<br />

Naturbeobachtung siehe den Aufsatz von Jonas<br />

Maatsch in diesem Band: Ideen mit den Augen<br />

sehen. Anschauliche Erkenntnis bei Goethe.<br />

S. 66–75.<br />

5 Herder 1877–1913, Bd. 21, S. 315.<br />

theoretische und praktische ansätze<br />

zu einer <strong>kultur</strong> <strong>des</strong> <strong>sinnlichen</strong> in weimar<br />

Um die Mitte <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts bestimmt der Philosoph Alexander<br />

Gottlieb Baumgarten die sinnliche Wahrnehmung <strong>des</strong> Menschen erstmals<br />

als eigenständiges, mithin theoriefähiges Erkenntnisvermögen. Im Gefolge<br />

dieser Aufwertung entwickeln die Repräsentanten der <strong>Weimar</strong>er Kultur<br />

im letzten Drittel <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts ganz eigenständige Ansätze zu<br />

12<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.


einer anthropologischen und phänomenologischen Bestimmung der<br />

Sinnlichkeit. Johann Gottfried Herder etwa propagiert bereits während<br />

der 1770er Jahre eine sensualistische Ästhetik, die er in beständiger Auseinandersetzung<br />

mit der französischen Aufklärung weiter ausdifferenziert.<br />

Ihren konkreten Niederschlag finden Herders Überlegungen in<br />

zwei Schriften, die beide 1778, also kurz nach seiner Übersiedelung in<br />

die thüringische Residenzstadt erscheinen. abb 1, 2 Im Aufsatz Vom Erkennen<br />

und Empfinden der menschlichen Seele behauptet Herder, dass sinnliche<br />

Erkenntnis und Vernunfterkenntnis eine Einheit bilden und immer<br />

gleichzeitig erfolgen. In der Abhandlung Plastik wiederum wertet er den<br />

menschlichen Tastsinn zu einem Wahrnehmungsvermögen auf, das sich<br />

gleichberechtigt neben dem Sehsinn zu behaupten vermag. Ein ›Begriff‹<br />

von der gegenständlichen Welt, so Herder, sei erst durch ein ›Begreifen‹<br />

ihrer Objekte zu gewinnen. Die Aufwertung der menschlichen Sinne<br />

und deren enge Verknüpfung mit der geistigen Erkenntnis führen Herder<br />

beinahe zwangsläufig zu einer entschiedenen Kritik der Kantischen<br />

Transzendentalphilosophie, da diese eine »Spaltung der menschlichen<br />

Erkenntniskräfte« vornimmt und die Sinnlichkeit <strong>des</strong> Subjekts auf eine<br />

rein rezeptive Funktion zurückstuft. Die teils polemisch geführte Auseinandersetzung<br />

mit dem Königsberger Philosophen gipfelt 1799 in Herders<br />

Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, die dem transzendentalphilosophischen<br />

Ansatz den Prozess zu machen versucht und dabei<br />

Kants vermeintliche Geringschätzung der Sinnlichkeit attackiert. »Am<br />

übelsten«, resümiert Herder mit Blick auf Kants Bestimmung von Raum<br />

und Zeit, »ging es hiebei der gesammten Sinnlichkeit«, die »hinweggescheucht«<br />

worden sei; »man hört von ihr nur unter dem bösen Namen<br />

Empirismus. Ein Land voll Klüfte wird die menschliche Seele, eine traurige<br />

Mondcharte«.5<br />

abb 1 Johann Gottfried Herder, Vom Erkennen<br />

und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen<br />

und Träume, Riga 1778<br />

abb 2 Johann Gottfried Herder, Plastik. Einige<br />

Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus<br />

Pygmalions bildendem Traume, Riga 1778<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.<br />

13


Die Forderung, die geistigen und <strong>sinnlichen</strong> Vermögen <strong>des</strong> Menschen<br />

zusammenzuführen, miteinander auszusöhnen und gleichermaßen zu<br />

kultivieren, grundiert, wenngleich unter veränderten Vorzeichen, auch<br />

Schillers Abhandlungen Über Anmut und Würde sowie Über die ästhetische<br />

Erziehung <strong>des</strong> Menschen. Schiller geht in seinen Schriften von der<br />

Beobachtung aus, dass die Philosophie der Aufklärung den Menschen<br />

zwar zum eigenständigen und autonomen Denken ermutigt habe, dass<br />

es ihr in<strong>des</strong>sen nicht gelungen sei, seine Sinnlichkeit angemessen zu<br />

entwickeln. »Das Zeitalter ist aufgeklärt«, konstatiert Schiller im achten<br />

Brief seiner Ästhetischen Erziehung, gleichwohl seien die Menschen in<br />

vielerlei Hinsicht »noch immer Barbaren«.6 Die Aufklärung betrachtet<br />

Schiller als eine »theoretische Kultur«, deren einseitige Ausrichtung<br />

allein durch eine »praktische« Kultur im Sinne einer ästhetischen Erziehung<br />

zu überwinden sei, man könnte auch sagen: durch die Begründung<br />

und Pflege einer Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen.7 Das Ziel einer solchen Kultur<br />

sieht Schiller darin, Geist und Sinnlichkeit, »diese beyden, einander verschmähenden<br />

Naturen« <strong>des</strong> Menschen, in eine harmonische Balance zu<br />

überführen und in »einer glücklichen Eintracht« miteinander zu verbinden.8<br />

Eine Schlüsselstellung kommt hierbei dem »Geschmack« zu, denn<br />

dieser, so Schiller in Über Anmut und Würde, trete »zwischen Geist und<br />

Sinnlichkeit in die Mitte«. Er sichere »dem Materiellen die Achtung der<br />

Vernunft« und gleichzeitig dem »Rationalen die Zuneigung der Sinne«.9<br />

Indem freilich der Geschmack »eine harmonische Einheit in dem Individuum«<br />

stifte, erläutert Schiller im Dezember 1793 gegenüber dem<br />

Herzog von Augustenburg, bringe er auch »eine harmonische Einheit<br />

in die Gesellschaft«.10<br />

Während Schiller die Kultivierung der Sinnlichkeit unter anthropologischen<br />

und geschichtsphilosophischen Aspekten reflektiert, ohne<br />

sich in die Niederungen konkreter Umsetzungsstrategien zu begeben,<br />

interessieren sich die Vordenker der von Herzog Carl August gegründeten<br />

Zeichenschule für praktische Fragen einer innovativen und staatlich<br />

gesteuerten Kunstpädagogik. Auch ihnen geht es um die Hebung <strong>des</strong><br />

Geschmacks und um die Kultivierung der Sinnlichkeit, doch haben sie,<br />

anders als Schiller, nicht den Menschen als solchen im Blick, sondern vor<br />

allem die verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Herzogtum Sachsen-<br />

<strong>Weimar</strong> und Eisenach. Bereits 1774 legt Friedrich Justin Bertuch, den<br />

Carl August nach seinem Regierungsantritt zum Geheimsekretär und<br />

Schatzmeister berufen wird, ein Zeichenschulkonzept vor, das, philanthropische<br />

Aspekte und merkantilistische Interessen geschickt miteinander<br />

verknüpfend, zwei Ziele verfolgt: Zum einen sollen in der Fürstlichen<br />

Zeichenschule angehende Handwerker unterrichtet werden, da<br />

Bertuch deren meist nur mechanische und von keiner Kultivierung <strong>des</strong><br />

Geschmacks unterstützte Ausbildung im Umfeld der Zünfte für unzureichend<br />

hält. Zum anderen sollen in dieser Institution sowohl Kinder und<br />

Jugendliche als auch Kunstliebhaber professionellen Zeichenunterricht<br />

erhalten, da Bertuch hierin eine zentrales Instrument zur Schulung <strong>des</strong><br />

<strong>sinnlichen</strong> Empfindungsvermögens und der visuellen Wahrnehmungskompetenz<br />

erblickt. kat 75, 76 | s. 244 Indem Bertuch die Zeichenschule unter<br />

das Patronat <strong>des</strong> regierenden Herzogs stellt, definiert er sowohl die Ausbildung<br />

<strong>des</strong> Handwerkerstan<strong>des</strong> wie auch die Schulung <strong>des</strong> Geschmacks<br />

breiter Bevölkerungsschichten als Angelegenheit <strong>des</strong> Staates.11 Das von<br />

Bertuch noch mit volksaufklärerischem Optimismus entworfene Ideal<br />

einer allgemeinen und ständeübergreifenden Geschmacksschulung entpuppt<br />

sich in<strong>des</strong>sen auf lange Sicht als frommer Wunsch, so dass Goethe<br />

und sein Kunstberater Johann Heinrich Meyer nach dem Tod <strong>des</strong> ersten<br />

Schuldirektors Georg Melchior Kraus im November 1806 wiederholt<br />

6 NA 20, S. 331.<br />

7 Ebenda, S. 332.<br />

8 Ebenda, S. 260.<br />

9 Ebenda.<br />

10 NA 26, S. 337.<br />

11 Vgl. Klinger 2009.<br />

14<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.


Unterrichtsreformen einleiten, welche die Zeichenschule sukzessive in<br />

ein Institut zur Ausbildung angehender Künstler umformen. Die von<br />

Meyer in diesem Zusammenhang verfassten Schriften umkreisen wiederholt<br />

mit programmatischem Anspruch die Frage, wie die Sinnlichkeit<br />

und der an sie gekoppelte Geschmack am besten zu schulen seien. Als<br />

kunstpolitisch überaus aufschlussreich erweist sich in diesem Kontext<br />

Meyers Abhandlung Über Lehranstalten, zu Gunsten der bildenden Künste,<br />

die ab 1799 in den Propyläen erscheint.12<br />

sensibilisierung <strong>des</strong> wahrnehmungsVermögens:<br />

sammeln – Vergleichen – kopieren<br />

Da der Unterricht in der Fürstlichen Zeichenschule vor allem künstlerische<br />

und kunsthandwerkliche Fertigkeiten sowie ganz allgemein den<br />

Geschmack fördern soll, muss er – gleichsam propädeutisch – ein besonderes<br />

Augenmerk auf das visuelle Wahrnehmungsvermögen der Schülerinnen<br />

und Schüler richten. Die konsequente Sensibilisierung <strong>des</strong> Sehsinns<br />

(und anderer Sinnesorgane) bildet gewissermaßen das Fundament<br />

<strong>des</strong> Unterrichts. Dabei zeigt sich, dass die Schulung der Sinne nicht nur<br />

im Dienste einer künftigen Kunstproduktion steht, sondern auch für die<br />

Kunstrezeption eine stetig wachsende Bedeutung gewinnt. Für Goethe<br />

und Meyer kommt bei der Beschäftigung mit bildender Kunst alles »aufs<br />

Anschauen an«, auf ein Anschauen freilich, das kultiviert sein will, das<br />

sich folglich gegen ablenkende Störungen zu immunisieren hat und im<br />

Wechsel der Perspektiven sowie im Oszillieren zwischen Fernsicht und<br />

Nahsicht einen möglichst »reinen Eindruck« gewinnen soll.13 Während<br />

seiner zweijährigen Italienreise thematisiert Goethe immer wieder die<br />

Frage, wie sich die Wahrnehmungsfähigkeit seiner verschiedenen Sinnesorgane<br />

schärfen lässt, doch auch schon vor seinem Aufbruch im Herbst<br />

1786 entwickelt er ein facettenreiches Repertoire unterschiedlicher Betrachtungsmodi,<br />

um seine Augen zu sensibilisieren und für eine möglichst<br />

differenzierte Kunstrezeption zu schulen.14 Eine besondere Bedeutung<br />

kommt in diesem Zusammenhang dem vergleichenden Betrachten<br />

von Originalkunstwerken und ihren Reproduk tionen zu, da die Konfrontation<br />

zweier Ausführungen eines Werkes die Aufmerksamkeit auf das<br />

Erfassen geringster Abweichungen lenkt und somit das visuelle Differenzierungsvermögen<br />

in hohem Maße befördert.15 Welche Relevanz diese<br />

Strategie <strong>des</strong> vergleichenden Betrachtens für die <strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong><br />

Sinnlichen gewinnt, zeigt sich daran, dass neben Goethe auch Herzog<br />

Carl August mehrfach Reproduktionsgraphiken zu Originalwerken<br />

erwirbt, die sich bereits in seiner Sammlung befinden. Die Graphiken<br />

treten folglich nicht an die Stelle eines fehlenden Originals, sondern dienen<br />

vielmehr dazu, im beständigen Vergleich zwischen verschiedenen,<br />

nicht selten auch in unterschiedlichen Techniken ausgeführten Bildfassungen<br />

die Aufmerksamkeit für die Details der jeweiligen Umsetzung zu<br />

schärfen und die Sensibilität für medientechnisch bedingte Differenzen<br />

in der Darstellung zu erhöhen.16<br />

Welch hohen Stellenwert die Anschauung für Goethe, Carl August<br />

und die anderen Akteure der <strong>Weimar</strong>er Kultur um 1800 besitzt, lässt sich<br />

nicht allein an der Ausbildung innovativer Betrachtungsmodi, sondern<br />

insbesondere auch am gezielten Aufbau von Kunstsammlungen mit enzyklopädischem<br />

Anspruch ablesen. Wenn alles auf die sinnliche Wahrnehmung<br />

und auf ästhetische Erfahrungsqualitäten ankommt, dann darf<br />

die Beschäftigung mit Werken der Kunst nicht in Abwesenheit derselben<br />

erfolgen.17 Die <strong>Weimar</strong>er Sammlungspraxis, die <strong>des</strong> Hofes ebenso<br />

12 Vgl. Meyer 1799–1800.<br />

13 FA I, 18, S. 471; FA I, 15.1, S. 666.<br />

14 Zur Kultur der visuellen Wahrnehmung und<br />

besonders zur Emphase <strong>des</strong> Anschauens bei<br />

Goethe vgl. grundlegend Osterkamp 1991, Apel<br />

1994, Pfotenhauer 2004.<br />

15 Die verschiedenen Betrachtungsmodi, die<br />

Goethe im Umgang mit Werken der bildenden<br />

Kunst entwickelt, untersucht der Aufsatz<br />

von Johannes Grave in diesem Band: Schule<br />

<strong>des</strong> Sehens. Formen der Kunstbetrachtung<br />

bei Goethe. S. 96–105.<br />

16 Carl Augusts spezifisches Interesse an Reproduktionsgraphiken<br />

analysiert der Beitrag von<br />

Markus Bertsch in diesem Band: Kunstrezeption<br />

am <strong>Weimar</strong>er Hof. Carl August und die<br />

Praxis <strong>des</strong> vergleichenden Sehens. S. 86–95.<br />

17 »Nicht von der Kunst in abstracto«, notiert<br />

Goethe 1788 auf der Rückreise aus Italien nach<br />

<strong>Weimar</strong>. WA I, 32, S. 460.<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.<br />

15


wie diejenige Goethes, zielt nicht auf den punktuellen Erwerb repräsentativer<br />

Meisterwerke, sondern wird von dem Bemühen getragen, den<br />

Gang der Kunstgeschichte, mithin die Pluralität der Epochen, Schulen<br />

und Stile, möglichst vollständig abzubilden. Da sich die Akquisition von<br />

Originalwerken aus nahezu allen Epochen der Kunstgeschichte angesichts<br />

der permanent prekären Wirtschaftslage im Herzogtum verbietet,<br />

etabliert sich rasch eine Sammlungsstrategie, die vornehmlich auf den<br />

Erwerb von Reproduktionen setzt. Bereits in den 1780er Jahren beginnen<br />

Goethe und der Herzog mit dem gezielten Import kostengünstiger<br />

Substitute: Kopien, Abgüsse und Repliken aller Art werden angeschafft,<br />

um das visuelle Wahrnehmungsvermögen zu schulen und das eigene<br />

Kunstwissen zu erweitern.18 An dieser Sammlungsstrategie wird Goethe<br />

bis zu seinem Lebensende festhalten – und sich dabei auch nicht scheuen,<br />

großformatige Reproduktionen wie den Gipsabguss der Juno Ludovisi<br />

in seinen häuslichen Wohnkontext zu integrieren. abb 3<br />

Während der neunziger Jahre intensiviert sich diese Sammlungspraxis,<br />

die für die <strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen insofern von besonderer<br />

Bedeutung ist, als mit ihr allererst die zentralen Voraussetzungen für<br />

eine Kultivierung der <strong>sinnlichen</strong> Wahrnehmung im Medium der Kunst<br />

geschaffen werden und entsprechende Theoriebildungen ein Anschauungsfundament<br />

erhalten. Für den Ausbau der <strong>Weimar</strong>er Sammlungen<br />

nutzen Goethe und Carl August ihre sich stetig erweiternden Netzwerke<br />

in ganz Europa. Vor allem aus Italien ordert Goethe eine Vielzahl hochwertiger<br />

Reproduktionen meist antiker Kunstwerke. Neben Rom, Venedig<br />

und Florenz gewinnt in<strong>des</strong>sen auch Paris eine zunehmende Bedeutung<br />

für den <strong>Weimar</strong>er Kulturimport. So erwirbt man etwa im Jahre<br />

1800 in der französischen Hauptstadt eine umfangreiche Auswahl erstklassiger<br />

Münzabgüsse aus der Werkstatt <strong>des</strong> Numismatikers Théodore<br />

Edme Mionnet.19 abb 4 Überdies gelingt es wenige Jahre später, mehrere<br />

Repliken antiker Plastiken aus Pariser Manufakturen zu akquirieren,<br />

darunter so prominente Stücke wie den Borghesischen Fechter und die<br />

abb 3 Gipsabguss der Juno Ludovisi in Goethes<br />

Wohnhaus, 1823 aufgestellt, kat 46<br />

16<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.


Venus Medici. Flankiert wird der Import hochwertiger Reproduktionen<br />

aus den Zentren <strong>des</strong> europäischen Kunsthandels von gezielten Erwerbungen<br />

auf dem regionalen Kunstmarkt, wo sich seit den 1780er Jahren eine<br />

Industrie entwickelt, die in der Herstellung und im professionellen Vertrieb<br />

von Kopien antiker Kunstwerke rasante Fortschritte macht, mithin<br />

im europäischen Vergleich zunehmend konkurrenzfähig wird.20 Von<br />

dieser Entwicklung profitieren auch die <strong>Weimar</strong>er Sammlungsaktivitäten.<br />

Besondere Bedeutung gewinnen in diesem Zusammenhang die von<br />

Martin Gottlieb Klauer in <strong>Weimar</strong> unterhaltene Toreutika-Manufaktur<br />

und das 1776 durch Detlev Carl von Einsiedel gegründete Eisengusswerk<br />

in Lauchhammer, das mit seinen gusstechnischen Innovationen, insbesondere<br />

dem Eisenhohlguss, europaweite Beachtung gewinnt.21<br />

Bedingt durch die zunehmend mechanische und industrielle Fertigung<br />

von Repliken sowohl antiker als auch neuzeitlicher Kunstwerke<br />

erfahren der Kunsthandel und damit auch die <strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen<br />

einen tiefgreifenden Wandel. Kontinuierlich rationalisierte Produktionsverfahren<br />

und vielfältige Materialinnovationen lassen die auf<br />

dem Kunstmarkt angebotenen Repliken immer günstiger werden, was<br />

wiederum zu einer rasanten Ausweitung <strong>des</strong> Sammelns führt. Neben den<br />

fürstlichen und universitären Sammlungen entstehen zusehends auch<br />

bürgerliche Kollektionen. Als besonders populäre Sammlungsobjekte erweisen<br />

sich hierbei die kleinformatigen und kostengünstig zu erwerbenden<br />

Gemmenabdrücke, die, häufig Motive aus der antiken Mythologie<br />

vorstellend, in umfangreichen Serien produziert und als Daktyliotheken<br />

auf den Markt gebracht werden.22 kat 65 | s. 230 Aufgrund ihrer niedrigen<br />

Herstellungskosten und ihres kleinen Formats gewinnen Gemmenabdrücke<br />

nicht nur die Gunst bürgerlicher Kreise, sondern finden als didaktisches<br />

Anschauungsmaterial auch zunehmend Eingang in schulische Bildungsangebote.<br />

Sie gelten als wertvolle Unterrichtsmaterialien, da sich<br />

mit ihnen nicht nur das Wissen über die Welt <strong>des</strong> Altertums erweitern,<br />

sondern auch das visuelle und haptische Wahrnehmungsvermögen<br />

schärfen lässt.23 Dass der anhaltende Umgang mit Gemmenabdrücken<br />

der Sensibilisierung <strong>des</strong> Geschmacks auch noch in einer anderen Hinsicht<br />

zu dienen vermag, bezeugt eine für die <strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen<br />

geradezu exemplarische Innovation: So fertigt im Jahre 1792 der<br />

Hofkoch René François le Goullon zum Verzehr geeignete Gemmenabdrücke<br />

aus Zuckerpasten. Bereits nach kurzer Zeit avanciert dieses farbige<br />

Naschwerk zu einem regelrechten Exportschlager. Dass Goethe dem<br />

bildungshaltigen Zuckergebäck eine besondere Wertschätzung entgegenbrachte,<br />

geht aus verschiedenen Äußerungen deutlich hervor. kat 2 | s. 26<br />

18 Inwieweit Goethes ästhetische Prämissen den<br />

Aufbau der eigenen sowie der herzoglichen<br />

Kunstsammlungen prägen, beleuchtet der<br />

Beitrag von Martin Dönike in diesem Band:<br />

Antike(n) aus zweiter Hand. <strong>Weimar</strong>er Kulturimporte.<br />

S. 126–135.<br />

19 Vgl. hierzu ausführlich Zehm/Krügel/Mangold<br />

2009.<br />

20 Zum Handel mit (Gips-)Abgüssen antiker Skulpturen<br />

im 18. Jahrhundert vgl. Schreiter 2010.<br />

21 Zu den Eisenguss-Reproduktionen aus Lauchhammer<br />

vgl. Schreiter 2004a.<br />

22 Zur Gemmenmode im ausgehenden 18. Jahrhundert<br />

vgl. grundlegend Zazoff/Zazoff 1983<br />

und Graepler/Kockel 2006.<br />

23 Die Bedeutung der Gemmenmode für die <strong>Weimar</strong>er<br />

Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen und ihre ästhetiktheoretische<br />

Relevanz im Kontext einer Aufwertung<br />

<strong>des</strong> Tastsinns gegen Ende <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts<br />

analysiert der Beitrag von Matthias<br />

Buschmeier in diesem Band: Antike begreifen.<br />

Herders Idee <strong>des</strong> ›tastenden Sehens‹ und<br />

Goethes Umgang mit Gemmen. S. 106–115.<br />

die <strong>weimarer</strong> <strong>kultur</strong> <strong>des</strong> <strong>sinnlichen</strong><br />

im kontext einer kommerzialisierten kunstproduktion<br />

Die Erwerbungsstrategien, die Carl August und Goethe im Rahmen ihrer<br />

Sammlungspraxis verfolgen, sind mit der Expansion <strong>des</strong> Kunstmarkts<br />

im mitteldeutschen Raum während <strong>des</strong> ausgehenden 18. Jahrhunderts<br />

eng verflochten. Nicht nur die vielerorts auf die Herstellung von Repliken<br />

ausgerichteten Manufakturen, sondern auch die auf den Vertrieb ebenjener<br />

Kopien spezialisierten Kunsthandlungen sorgen dafür, dass die<br />

großen Meisterwerke der Antike allgegenwärtig sind. Die aus dem ersten<br />

nachchristlichen Jahrhundert stammende Ildefonso-Gruppe etwa, um<br />

nur ein besonders prominentes Beispiel zu nennen, ist im klassischen<br />

(und auch noch im heutigen) <strong>Weimar</strong> gleich an mehreren Orten anzutreffen:<br />

in Außen- und in Innenräumen, in höfischen und in bürgerlichen<br />

abb 4 Drei Münzabdrücke aus der Mionnet’schen<br />

Sammlung, 1801 für die herzogliche Münzsammlung<br />

erworben<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.<br />

17


ABB 5 Ildefonso-Gruppe vor dem Roten Schloss,<br />

Eisenguss aus Lauchhammer, um 1800 aufgestellt<br />

ABB 6 Ildefonso-Gruppe in Goethes Wohnhaus,<br />

schwarz gefasster Gipsabguss, um 1812 aufgestellt<br />

Wohnkontexten, als aufwendiger Eisenhohlguss und als bronzierte beziehungsweise<br />

schwarz patinierte Gipskopie. ABB 5, 6 Die reich bebilderten<br />

Warenkataloge, die von den führenden mitteldeutschen Kunstmanufakturen<br />

und Kunsthandlungen herausgegeben werden, verweisen mit geradezu<br />

programmatischem Anspruch auf den ästhetischen Bildungswert<br />

der von ihnen feilgebotenen Repliken. Der in Leipzig ansässige Kunsthändler<br />

Carl Christian Heinrich Rost etwa, der in wenigen Jahren ein<br />

florieren<strong>des</strong> Unternehmen aufbaut, rekurriert in seinem reichen Warenkatalog<br />

wiederholt auf Winckelmanns Schriften und stellt sein Tun offensiv<br />

in den Dienst einer Beförderung <strong>des</strong> allgemeinen Geschmacks. Wer<br />

sein Auge an dem von Rosts Kunsthandlung vertriebenen Warensortiment<br />

schule, so die Botschaft der Kataloge, der sensibilisiere sein visuelles<br />

Wahrnehmungsvermögen und durchlaufe eine ›Schule <strong>des</strong> Sehens‹.<br />

Ähnliche Appelle und Bildungsversprechen finden sich in den Katalogen<br />

und Anzeigen der <strong>Weimar</strong>er Kunstfabrik <strong>des</strong> Hofbildhauers Martin<br />

Gottlieb Klauer.24<br />

Obwohl die Warenkataloge mit rhetorischem Geschick an das ästhetische<br />

Bildungsverlangen ihres Publikums appellieren, können sie doch<br />

nicht darüber hinwegtäuschen, dass der expandierende Markt für Kunstrepliken<br />

zunehmend von kommerziellen Interessen geprägt wird. Für<br />

Unternehmer wie Rost und Bertuch steht ungeachtet der hehren Bildungsprogramme<br />

nicht die Kultivierung der Sinne und die Hebung <strong>des</strong> allgemeinen<br />

Geschmacks im Vordergrund, sondern die effiziente Erschließung<br />

neuer Absatzmärkte. So preisen sie denn die Repliken antiker Kunstwerke<br />

zunehmend auch als dekorative Ofenaufsätze, als Mode accessoires<br />

oder als Gartenschmuck an. Befeuert wird dieser Kommerzialisierungsprozess<br />

von Zeitschriften wie dem in <strong>Weimar</strong> verlegten Journal <strong>des</strong><br />

Luxus und der Moden, das seinen Lesern regelmäßig Produktneuheiten<br />

24 Zu den Marketingstrategien <strong>des</strong> Replikenhandels<br />

siehe ausführlich den Beitrag von Stephan<br />

Pabst in diesem Band: Kultur der Kopie. Antike<br />

im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit.<br />

S. 136–145.<br />

18<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.


vorstellt, die dank raffinierter Materialinnovationen und mechanisierter<br />

Herstellungsverfahren durchaus günstig zu haben sind. Das Streben<br />

nach preiswerteren Materialien und immer effizienteren Herstellungsprozessen<br />

hat freilich nicht selten auch einen Niveauverlust zur Folge.<br />

Um diesen wenigstens diskursiv aufzufangen, werden Material- und<br />

Formaspekte zunehmend entkoppelt. Ein Kunsthändler wie Bertuch<br />

etwa stellt in Abrede, dass sich die Form eines Gegenstan<strong>des</strong> an seiner<br />

Materialität auszurichten habe, und behauptet im Gegenzug, die Form<br />

besitze einen vom Material unabhängigen Eigenwert, sei mithin von<br />

einem Medium ins andere übertragbar. Besonders markant gibt sich die<br />

Flexibilität in Materialfragen dort zu erkennen, wo Bertuchs, Klauers<br />

oder Rosts Warenkataloge Kopien einer Originalskulptur in völlig unterschiedlichen<br />

Materialqualitäten anbieten, um den finanziellen Möglichkeiten<br />

ihrer Kundschaft ebenso wie den Bestimmungsorten der Repliken<br />

bestmöglich Rechnung zu tragen. kat 37–45 | s. 198–202 So wird nicht allein<br />

zwischen »kostbaren« und »wohlfeilen« Materialien unterschieden, sondern<br />

auch zwischen solchen, die für Innen- oder Außenräume, öffentliche<br />

oder private Kontexte geeignet sind.25<br />

Wenngleich die im klassischen <strong>Weimar</strong> verfolgten Sammlungsstrategien<br />

gezielt auf Substitute aller Art setzen, werden die Entwicklungen<br />

auf dem Markt für Kunstrepliken aus verschiedenen Gründen mit wachsender<br />

Skepsis verfolgt. Vor allem die zunehmende Mechanisierung der<br />

Produktionsprozesse und die fortwährende Suche nach immer kostengünstigeren<br />

Materialien geben Anlass zu kritischen Zwischenrufen. Einer<br />

dieser Zwischenrufe ist Goethes vermutlich 1797 verfasster Aufsatz Kunst<br />

und Handwerk, in dem die zunehmend industriell ausgerichtete Kunstproduktion<br />

als hochstaplerisches Unternehmen attackiert wird. Der Vertrieb<br />

serieller Kunstrepliken, so Goethe, beruhe auf einem systematischen<br />

25 Die Entkopplung von Material- und Formaspekten<br />

im Kontext von Bertuchs Mode-Journalen<br />

analysiert der Beitrag von Boris Roman Gibhardt<br />

in diesem Band: Verkauf der Sinnlichkeit. Materielle<br />

Innovation und ästhetische Opposition<br />

im klassischen <strong>Weimar</strong>. S. 146–155.<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.<br />

19


Betrug, denn man verspreche einer ahnungslosen Kundschaft kostengünstig<br />

produzierte Kunst, biete ihr aber statt<strong>des</strong>sen wertlosen Tand,<br />

der das ästhetische Empfindungsvermögen nicht kultiviere, sondern im<br />

Gegenteil untergrabe: »Kluge Fabrikanten und Entrepreneurs haben […]<br />

durch geschickte mechanische Nachbildungen die eher befriedigten als<br />

unterrichteten Liebhaber in Kontribution gesetzt, man hat die aufkeimende<br />

Neigung <strong>des</strong> Publikums durch eine scheinbare Befriedigung abgeleitet<br />

und zu Grunde gerichtet«.26 Während Goethe in anderen Argumentationszusammenhängen<br />

wiederholt betont, dass die Betrachtung<br />

selbst einer schlechten Kopie dem Verzicht auf konkrete Anschauung<br />

vorzuziehen sei, kritisiert er in seinem Aufsatz Kunst und Handwerk mit<br />

erstaunlicher Schärfe all jene Entwicklungen, die mit einer auf ästhetische<br />

Substitute setzenden Kulturpraxis zwangsläufig einhergehen. Die<br />

<strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen erweist sich aus Goethes Perspektive<br />

zunehmend als eine von serieller Massenware bedrohte Kultur.<br />

das interieur als porträt – physiognomien <strong>des</strong> Wohnens<br />

Dass sich die Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen im klassischen <strong>Weimar</strong> auf ganz<br />

unterschiedlichen Ebenen entfaltet, vergegenwärtigen die von Bertuch<br />

im Journal <strong>des</strong> Luxus und der Moden propagierten Einrichtungsideen, die<br />

während der 1790er Jahre sowohl im Umfeld <strong>des</strong> Hofes als auch in den<br />

führenden Bürgerhäusern der Residenzstadt eine neue Wohn<strong>kultur</strong> begründen.<br />

aBB 7, 8 Das Interieur soll gemäß dem neuen Einrichtungsideal<br />

nicht mehr vorrangig den sozialen Stand und das gesellschaftliche Prestige<br />

<strong>des</strong> Hausherrn repräsentieren, sondern gleichsam als materialisierter<br />

Resonanzraum <strong>des</strong>sen individuelle Persönlichkeit zum Ausdruck bringen.<br />

An die Stelle <strong>des</strong> von sozialen Rangordnungen bestimmten ›Schauraums‹<br />

tritt der individuelle ›Wohnraum‹, der über den Charakter seines<br />

Bewohners ebenso viel aussagt wie ein gut gemaltes Porträt. Kat 19 | s. 176<br />

Die vom Journal <strong>des</strong> Luxus und der Moden propagierte Individualisierung<br />

<strong>des</strong> Interieurs gibt sich am deutlichsten dort zu erkennen, wo die<br />

Einrichtung an den spezifischen Tätigkeiten und Bedürfnissen <strong>des</strong> Bewohners<br />

Maß nimmt: »Unser Schreibtisch«, fordert denn auch das Journal,<br />

»muß uns so individuell angemessen seyn, als unser Rock«.27 Wie<br />

der Vergleich mit einem Kleidungsstück verdeutlicht, soll die Fertigung<br />

eines Schreibmöbels immer auch die körperliche Konstitution einer Person<br />

ins Kalkül ziehen, mithin deren Leiblichkeit zum Maßstab nehmen.<br />

Eine »gesunde und abwechselnde Stellung beym Arbeiten« etwa ist für<br />

Bertuch ein zentrales Postulat, das zu bemerkenswerten Möbelinnovationen<br />

führt, die ihrerseits einen neuen Standard begründen.28 Individualität<br />

und Komfort avancieren zu unhintergehbaren Forderungen, ohne<br />

dass damit der Anspruch auf eine auch ästhetisch überzeugende Formgebung<br />

suspendiert würde. Im Gegenteil: Gerade die ideale Verbindung<br />

von Funktionalität und Eleganz wird zum Ausweis von Vollkommenheit.29<br />

Programmatisch erklärt Bertuch 1786 im ersten Heft seines Mode-<br />

Journals: »Ein Meuble muß einfach und schön von Form, bequem und<br />

zweckmäßig zum Gebrauch, dauerhaft und sauber gearbeitet, und gut<br />

von Materie seyn, wenn man es für vollkommen erkennen soll«.30 Mit<br />

dieser Forderung antizipiert Bertuch jene Grundsätze, mit denen das<br />

1919 in <strong>Weimar</strong> gegründete Bauhaus eine neuerliche Revolution der Einrichtungsmode<br />

einleiten wird. Wenngleich Walter Gropius in seiner langen<br />

Karriere immer wieder den Avantgarde-Charakter <strong>des</strong> Bauhauses<br />

betonen wird, so liegen doch die Wurzeln seines ästhetischen Funktionalismus<br />

auch in der <strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen um 1800.31<br />

aBB 7 Stuhl mit Jakobsmuschelmotiv, Nussbaum,<br />

Bezug aus Rosshaar, 1795/1796<br />

20<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.


abb 8 Zwei Stuhlmodelle aus dem Journal <strong>des</strong><br />

Luxus und der Moden, November 1796, T. 33<br />

Wie die Einrichtungen der <strong>Weimar</strong>er Dichterhäuser und die herzoglichen<br />

Interieurs vor Augen führen, kann sich die neue, vornehmlich in Bertuchs<br />

Mode-Journal propagierte Wohn<strong>kultur</strong> rasch etablieren.32 Das Interieur<br />

verliert auf diesem Wege seine alten ständischen Distinktionsmerkmale,<br />

zumin<strong>des</strong>t in der Formensprache. Lediglich die Materialvarianten, die<br />

Bertuch für seine Möbel offeriert, bieten eine letzte Differenzierungsmöglichkeit.<br />

Freilich manifestiert sich die neue Wohn<strong>kultur</strong> nicht nur in<br />

Möbelinnovationen, die den menschlichen Körper zum Maßstab nehmen,<br />

sondern auch in wissenschaftlichen Reflexionen über die Bedeutung von<br />

farbig gefassten Wänden für spezifische Raumatmosphären. Wie die<br />

1810 publizierte Farbenlehre verdeutlicht, konstatiert Goethe eine enge<br />

Relation zwischen Farbqualitäten und psychischen Dispositionen. Er<br />

führt damit Überlegungen fort, die seit etwa 1780 in Handbüchern und<br />

Journalen zur Interieurgestaltung diskutiert werden. Farbmodelle, die<br />

Schiller und Riemer im Kontext von Goethes Farbexperimenten anlegen,<br />

gehen über die wahrnehmungspsychologischen Reflexionen sogar noch<br />

hinaus, indem sie verschiedene Farben nicht allein mit Gefühlslagen, sondern<br />

auch mit Berufen und Temperamenten korrelieren. kat 22, 23 | s. 180<br />

Dem Bereich <strong>des</strong> Sinnlichen ist hierbei interessanterweise die Farbe Grün<br />

zugeordnet, die darüber hinaus mit dem Beruf <strong>des</strong> »Poeten« assoziiert<br />

wird. In seiner Farbenlehre erläutert Goethe, dass das menschliche Auge<br />

beim Betrachten der Farbe Grün eine »reale Befriedigung« verspüre, das<br />

wahrnehmende Subjekt also im ›Hier‹ und ›Jetzt‹ ein Genügen finde:<br />

»Man will nicht weiter und man kann nicht weiter. Deswegen für Zimmer,<br />

in denen man sich immer befindet, die grüne Farbe zur Tapete meist<br />

gewählt wird«.33 Dass Goethe und Schiller den Farbwert Grün nicht nur<br />

der Sinnlichkeit zuweisen, sondern auch mit der Sphäre <strong>des</strong> Dichters verknüpfen<br />

und unter wahrnehmungspsychologischen Aspekten mit einer<br />

»realen Befriedigung« einhergehen lassen, gewinnt nicht zuletzt eine<br />

inspirationstheoretische Bedeutung, denn beide Dichter wählen für ihre<br />

<strong>Weimar</strong>er Arbeitszimmer die Wandfarbe Grün. kat 25, 26 | s. 182 Mit dieser<br />

Farbwahl verbinden sie in<strong>des</strong>sen nicht nur eine für ihr Tun ideale Atmosphäre,<br />

sondern auch eine produktionsästhetische Profilierung, die sich<br />

geradezu als ›klassisch‹ charakterisieren lässt. Der Farbwert Grün steht,<br />

anders als das Blau der Romantiker, nicht für ruheloses Streben über die<br />

gegebene Welt hinaus, sondern für eine feste Verankerung in ihrer <strong>sinnlichen</strong><br />

Realität.<br />

26 FA I, 18, S. 439.<br />

27 Bertuch 1793b, S. 285.<br />

28 Ebenda, S. 286.<br />

29 Zum Stellenwert dieser Position in der<br />

Geschichte der Interieurgestaltung vgl. Mebes<br />

1918; zu den Konsequenzen dieser Auffassung<br />

für das Interieur <strong>des</strong> Biedermeier vgl. grundlegend<br />

Ottomeyer/Schröder/Winters 2006.<br />

30 JLM, Januar 1786, S. 29.<br />

31 Die Kontinuitäten zwischen dem von Bertuch<br />

propagierten Einrichtungsideal und den Gestaltungsgrundsätzen<br />

<strong>des</strong> Bauhauses erörtert der<br />

Beitrag von Andreas Beyer in diesem Band:<br />

Schlichtheit der Form, Reichtum der Gedanken.<br />

Sitz- und andere Denkgelegenheiten der <strong>Weimar</strong>er<br />

<strong>Klassik</strong>. S. 156–165.<br />

32 Goethes Einrichtungsstrategien, die ästhetische<br />

und epistemische Aspekte auf komplexe Weise<br />

miteinander verschränken, analysiert der<br />

Beitrag von Christiane Holm in diesem Band:<br />

Goethes Gewohnheiten. Einrichtung der<br />

Schreib- und Sammlungsmöbel im <strong>Weimar</strong>er<br />

Wohnhaus. S. 116–125.<br />

33 FA I, 23.1, S. 256.<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.<br />

21


abb 9 Georg Friedrich Kersting, Studierzimmer<br />

mit Herrn am Sekretär, Öl auf<br />

Leinwand, 1811, zwischen 1811 und 1813<br />

durch Herzog Carl August erworben<br />

jenseits der worte – materiale aspekte <strong>des</strong> schreibens<br />

Die Wertschätzung der <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong> beruht vornehmlich auf den<br />

literarischen, kunsttheoretischen und geschichtsphilosophischen Werken,<br />

die Goethe und Schiller sowie Herder und Wieland in beständigem<br />

Gedankenaustausch und produktiver Konkurrenz um 1800 verfasst<br />

haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die <strong>Weimar</strong>er<br />

Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen auch die Produktion und Rezeption eben<br />

dieses Geschriebenen bestimmt hat. Um 1800 wird in <strong>Weimar</strong> pausenlos<br />

geschrieben und gedruckt: Unentwegt zirkulieren beträchtliche Papiermengen,<br />

die gelesen sein wollen und Reaktionen einfordern.34 Dass das<br />

Schreiben in <strong>Weimar</strong> nicht nur als Akt der Informationsübermittlung<br />

und <strong>des</strong> Gedankenaustausches angesehen wird, sondern auch unter <strong>sinnlichen</strong>,<br />

mithin materialen Aspekten in den Blick gerät, führt der reflektierte<br />

Umgang mit verschiedenen Schreibutensilien ebenso vor Augen<br />

wie das höchst differenzierte Bewusstsein der Schreibenden für Materialfragen<br />

aller Art: etwa die Wahl <strong>des</strong> Papiers, die Entscheidung zwischen<br />

traditionellem Federkiel oder modernem Bleistift, die mit einem sozialen<br />

Index versehene Nutzung und Einrichtung der auf einem Blatt verfügbaren<br />

Schreibfläche, die Verwendung eines bestimmten Gemmenmotivs,<br />

22<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.


das, in den Siegellack eines Briefes gedrückt, den Absender verrät und<br />

als nonverbale Botschaft neben das Geschriebene tritt. Das Material, das<br />

beim Schreiben zum Einsatz kommt, wird nicht bloß als neutrales und<br />

bedeutungsindifferentes Hilfsmittel angesehen, sondern in seiner eigenen<br />

Semantik jenseits <strong>des</strong> Geschriebenen ernst genommen. Besonders<br />

eindringlich zeigt sich dieses Materialbewusstsein, wenn Goethe Billets<br />

mit arabesken Ornamenten versendet kat 128 | s. 294, Briefe auf farbigen<br />

Papieren verfasst kat 121, 122 | s. 290 oder nach dem Tod seiner Frau Christiane<br />

eine diesbezügliche Nachricht an Zelter sendet, die von einem aus floralen<br />

Schmuck formen zusammengesetzten Trauerrand gerahmt wird.<br />

kat 119 | s. 288 Ein nicht minder differenziertes Materialbewusstsein lässt<br />

sich auch bei Schiller beobachten, der die visuelle Gestalt seiner Briefe<br />

sehr genau auf den gesellschaftlichen Rang ihrer Empfänger und deren<br />

jeweilige Beziehung zur eigenen Person abstimmt. kat 123–125 | s. 292 Die<br />

Qualität <strong>des</strong> Papiers, die frei bleibende Papierfläche jenseits <strong>des</strong> Geschriebenen<br />

und die Freiheit der Schriftzüge geben sich als paratextuelle Bedeutungsträger<br />

zu erkennen. Das Material interagiert mit dem Text,<br />

indem es <strong>des</strong>sen Aussage unterstützt oder modifiziert, bisweilen jedoch<br />

auch subtil unterläuft und konterkariert.<br />

Die Einsicht, dass die materiale Seite eines Textes <strong>des</strong>sen Lektüre<br />

entscheidend prägt und steuert, veranlasst Autoren wie Wieland, Goethe<br />

und Schiller, nicht nur bei handschriftlich verfassten Schriftstücken, sondern<br />

auch bei Druckwerken höchste Sorgfalt walten zu lassen. Die Qualität<br />

<strong>des</strong> Papiers, auf dem ein Werk gedruckt wird, ist ihnen ebenso wichtig<br />

wie die Wahl der Drucklettern, die Intensität <strong>des</strong> Tintenauftrags oder<br />

der Abstand zwischen Zeilen und Buchstaben. So weit als möglich versuchen<br />

sie Einfluss zu nehmen, um die visuelle und haptische Wirkung<br />

<strong>des</strong> Druckbil<strong>des</strong> auf die erwünschte Rezeption <strong>des</strong> Textes abzustimmen.<br />

Wie weit sie in dieser Hinsicht zu gehen bereit sind, demonstriert Wielands<br />

Werkausgabe, die ab 1794 in vier unterschiedlichen Formaten bei<br />

dem Leipziger Verleger Göschen erscheint. kat 146 | s. 322 Entgegen einer im<br />

deutschsprachigen Raum herrschenden Konvention lässt Wieland seine<br />

Bände nicht in Fraktur, sondern in eleganten Antiqua-Lettern drucken,<br />

die aus der Werkstatt <strong>des</strong> berühmten Schriftschneiders Johann Carl Ludwig<br />

Prillwitz stammen.35 Indem sich Wieland freilich für die Antiqua-<br />

Lettern entscheidet, knüpft er bereits typographisch an die Tradition<br />

bedeutender europäischer Autoren an. Es handelt sich um eine materialund<br />

form ästhetisch codierte Positionierung. Interessant ist dabei vor<br />

allem, dass Wieland die Antiqua nicht nur als Traditionsmarker nutzt,<br />

sondern auch als drucktechnisches Kunstwerk in ihrer geradezu skulpturalen<br />

Qualität würdigt. »Ich kann mich nicht genug an der reinen Schönheit<br />

dieser Lettern ergötzen« schreibt er im Februar 1794 an seinen Verleger<br />

Göschen: »Eine jede ist in ihrer Art – eine Mediceische Venus«.36<br />

Die Akteure der <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong> zeigen eine hohe Sensibilität für<br />

die materialästhetischen Aspekte <strong>des</strong> Schreibens und Lesens. Sie wissen,<br />

dass der Körper mitschreibt und mitliest, folglich auch auf vielfältige Weise<br />

in die Genese, Übermittlung und Rezeption von Texten involviert ist.<br />

Ob ein Autor seine Texte diktiert oder selbst verfasst, ob er seine Gedanken<br />

ohne körperlichen Kontakt zu verschiedenen Schreibutensilien entwickelt<br />

oder eigenhändig mit Feder und Tinte, geschöpftem Papier und<br />

Streusand arbeitet, ist für Autoren wie Goethe, Schiller und Wieland von<br />

zentraler Bedeutung. abb 9 Nicht zuletzt in den Narrationen ihrer literarischen<br />

Werke demonstrieren sie, wie der Körper eines Schreibenden in<br />

die Materialität seiner Texte eingeht und wie er ›Spuren‹ hinterlässt, die<br />

neben geistiger Nähe auch körperliche Präsenz verheißen. Sinn und Sinne<br />

bilden eine untrennbare Einheit.<br />

34 Welche Bedeutung das Papier als Schreibmaterial<br />

für die <strong>Weimar</strong>er Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen<br />

gewinnt, rekonstruiert der Beitrag von Cornelia<br />

Ortlieb in diesem Band: Schöpfen und Schreiben.<br />

<strong>Weimar</strong>er Papierarbeiten. S. 76–85.<br />

35 Zur Entwicklung der Typographie um 1800<br />

vgl. Killius 1999, Wehde 2000.<br />

36 Wieland 1963–2007, Bd. 12.1, S. 140.<br />

In: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.): <strong>Weimar</strong>er <strong>Klassik</strong>. Kultur <strong>des</strong> Sinnlichen. Ausstellungskatalog. Berlin, München 2012, S. 11–23.<br />

23


ildnachweise<br />

Albertina, Wien<br />

S. 101 (abb 1)<br />

Archäologische Sammlungen der<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena,<br />

Foto: Jan-Peter Kasper<br />

S. 132<br />

bpk / Kupferstichkabinett, SMB,<br />

Foto: Jörg P. Anders<br />

S. 164<br />

Deutsches Buch- und Schriftmuseum der<br />

Deutschen Nationalbibliothek Leipzig<br />

S. 273<br />

Deutsches Literaturarchiv Marbach<br />

S. 293, 311 (kat 136)<br />

Forschungsbibliothek Gotha<br />

S. 320/321 (kat 144), 322/323 (kat 145)<br />

Freies Deutsches Hochstift<br />

S. 77, 291, 295, 319<br />

Goethe-Museum Düsseldorf,<br />

Anton-und- Katharina-Kippenberg-<strong>Stiftung</strong><br />

S. 277 (kat 109)<br />

Goethe-Museum Düsseldorf,<br />

Anton-und- Katharina-Kippenberg-<strong>Stiftung</strong>,<br />

Foto: Jochen Stapel<br />

S. 247 (kat 77), 248<br />

Gutenberg-Museum Mainz<br />

S. 271 (kat 100)<br />

historisches museum frankfurt,<br />

Foto: Horst Ziegenfusz<br />

S. 92<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong><br />

S. 13, 18, 21, 37, 43 (kat 6), 49 (kat 9), 67, 70,<br />

79, 82, 90, 93–95, 101 (abb 2), 103, 105, 109, 114,<br />

117, 121, 122, 124, 127, 130, 139–142, 148, 150, 151,<br />

154, 157, 175, 181 (kat 22 u. 23), 193 (kat 33),<br />

195, 218 (kat 52 u. 53), 219 (kat 56 u. 59), 233,<br />

239, 245, 247 (kat 78), 249, 251, 253 (kat 82),<br />

259 (kat 86), 261, 263, 265 (kat 94), 275,<br />

277 (kat 107 u. 108), 279, 281, 283, 285–287,<br />

289, 313, 315, 317, 320/321 (kat 142 u. 143),<br />

322/323 (kat 146–148)<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Aurelia Badde<br />

S. 201 (kat 41 u. 42)<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Alexander Burzik<br />

S. 10, 24, 26, 27, 29–31, 39–41, 43 (kat 7), 45–47,<br />

49 (kat 10), 51, 53–55, 57, 59–61, 64/65, 73,<br />

87 (abb 2), 98, 104, 110–113, 123, 167, 179, 181, 183,<br />

185–187, 189, 191, 193 (kat 31 u. 32), 196, 197, 199,<br />

201 (kat 43 u. 44), 203–205, 207, 209–211, 217,<br />

218 (kat 54 u. 55), 219 (kat 57, 58, 60 u. 61), 220,<br />

225, 227, 229, 231, 235, 237, 253 (kat 81), 255–257,<br />

259 (kat 85), 265 (kat 95), 266, 271 (kat 96–98),<br />

297–299, 301–303, 305, 307, 309, 324/325<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Axel Clemens<br />

S. 162 (abb 4)<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Klaus Creter<br />

S. 213–215<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Roland Dreßler<br />

S. 20, 22, 80, 87 (abb 1), 97<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Viola Beier<br />

S. 63<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Jens Hauspurg<br />

S. 16, 19, 74, 118, 129, 133, 135, 161, 165<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Sebastian Mangold<br />

S. 17<br />

<strong>Klassik</strong> <strong>Stiftung</strong> <strong>Weimar</strong>,<br />

Foto: Maik Schuck<br />

S. 147, 160<br />

Kunsthalle Schweinfurt,<br />

Sammlung Dr. Rüdiger Rückert,<br />

Foto: Matthias Langer<br />

S. 177<br />

Mineralogische Sammlung <strong>des</strong> Instituts für<br />

Geowissenschaften an der Friedrich-Schiller-<br />

Universität Jena,<br />

Foto: Alexander Burzik<br />

S. 33–35, 241–243<br />

Museum für Druckkunst Leipzig,<br />

Foto: Alexander Burzik<br />

S. 271 (kat 99 u. 101)<br />

Niedersächsische Lan<strong>des</strong>- und Universitätsbibliothek<br />

Göttingen<br />

S. 143 (abb 7)<br />

Staatsbibliothek zu Berlin<br />

S. 85<br />

Stadtmuseum <strong>Weimar</strong><br />

S. 162 (abb 5)<br />

<strong>Stiftung</strong> Schloss Friedenstein Gotha<br />

Foto: Lutz Ebhardt<br />

S. 143 (abb 6)<br />

Thüringer Lan<strong>des</strong>museum Heidecksburg<br />

Rudolstadt,<br />

Foto: Alexander Burzik<br />

S. 171–173<br />

Thüringer Universitäts- und Lan<strong>des</strong>bibliothek<br />

Jena<br />

S. 120<br />

Württembergische Lan<strong>des</strong>bibliothek Stuttgart<br />

S. 311 (kat 135)<br />

Sollte trotz sorgfältiger Recherche ein Rechteinhaber<br />

nicht genannt sein, werden berechtigte<br />

Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen<br />

nachträglich abgegolten.<br />

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