mentale Retardierung - Ostschweizer Kinderspital (KISPI)
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Mentale <strong>Retardierung</strong>:<br />
Möglichkeiten und Grenzen<br />
rationaler Diagnostik<br />
Peter Weber<br />
Univ.-<strong>Kinderspital</strong> beider Basel<br />
Abteilung Neuro- und Entwicklungspädiatrie<br />
St. Gallen<br />
September 2012<br />
Peter.Weber@ukbb.ch
Definition Intelligenzminderung<br />
nach ICD – 10
Definition <strong>mentale</strong> <strong>Retardierung</strong><br />
American Association of Mental<br />
Deficiency<br />
„Mental Retardation refers to significantly subaverage general intellectual functioning<br />
existing concurrently with deficits in adaptive behaviour , and manifested during a<br />
developmental period" AAMD, 1973<br />
„Mental retardation refers to substantial limitations in present functioning.<br />
It is characterized by significantly subaverage intellectual functioning, existing<br />
concurrently with related limitations in two or more of the following applicable<br />
adaptive<br />
skill areas: communication, self-care, home living, social skills, community use,<br />
self-direction, health and safety, functional academics, leisure, and work.<br />
Mental retardation manifest before age 18“ AAMD, 1992
Schweregrade der <strong>mentale</strong>n<br />
<strong>Retardierung</strong><br />
Behinderungsgrad<br />
mild<br />
IQ - Bereich<br />
50 - 69<br />
Häufigkeit<br />
85%<br />
mässig<br />
49 - 35<br />
10%<br />
schwer<br />
20 - 34<br />
3 – 4%<br />
schwerst<br />
< 20<br />
1 – 2%
Funktionsgrade der <strong>mentale</strong>n <strong>Retardierung</strong><br />
Behinderungsgrad<br />
mild<br />
mässig<br />
schwer<br />
schwerst<br />
EA (Jahre)<br />
10 - 15<br />
6 - 8<br />
4 - 6<br />
< 1 1/2<br />
Funktionsgrad<br />
Erwerb einfacher<br />
Schulfähigkeiten, können<br />
teilweise für sich sorgen<br />
(„schulfähig“)<br />
Erwerb schulischer<br />
Fähigkeiten bis ca.<br />
Niveau 2. Klasse<br />
(„trainierbar“)<br />
Erlernen evt. einzelne<br />
aktive Zielwörter,<br />
benötigen Anleitung im<br />
Alltag<br />
Ständige Aufsicht und<br />
Anleitung erforderlich
Mentale <strong>Retardierung</strong> und<br />
Anpassungsstörungen<br />
• Kommunikation<br />
• Eigenständigkeit<br />
• häusliches Leben<br />
• soziale/zwischenmenschliche Fertigkeiten<br />
• Nutzung öffentlicher Einrichtungen<br />
• Selbstbestimmtheit<br />
• schulische Fertigkeiten<br />
• Arbeit<br />
• Freizeit<br />
• Gesundheit<br />
• Sicherheit
Assoziationen zur geistigen<br />
Behinderung<br />
• Syndromal vs. nicht-syndromal<br />
• Comorbiditäten<br />
- Epilepsie<br />
- Zerebralparese<br />
- Autismus<br />
- Verhaltensprobleme<br />
(u.a. scheu, ängstlich, hyperaktiv, aggressiv,<br />
autoaggressiv)<br />
- Schlafstörungen<br />
- Ernährungsprobleme<br />
- Verdauungsprobleme
Zahlen aus der CH<br />
geistigen Behinderung<br />
Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Zahlen aus der CH<br />
geistigen Behinderung<br />
Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Mentale <strong>Retardierung</strong>
Mentale <strong>Retardierung</strong><br />
diagnostische Zugangswege<br />
• Anamnese und klinische Untersuchung<br />
- Familienanamnese<br />
- Schwangerschaftsanamnese inkl. Toxikologie<br />
- Verlauf der Entwicklung<br />
- Untersuchung der Haut (neurocutane Syndrome)<br />
• Genetische Untersuchung<br />
- syndromale Merkmale<br />
• Metabolische / endokrinologische Untersuchung<br />
- Kopfumfang<br />
- typische Stigmata<br />
• Elektroencephalographische Untersuchung<br />
- Schlafverhalten<br />
• Hör- und Seh-Abklärung
Fallbericht 1<br />
• Zuweisung im Alter von 8 Monaten wegen<br />
- cerebraler Bewegungsstörung<br />
- unklarem Hörvermögen<br />
- Z.n. peripartaler Asphyxie<br />
(art. NA-pH 7.06, APGAR 6/8/10)
Fall 1<br />
Familienanamnese:<br />
• 1. Kind nicht-konsanguinen Eltern<br />
• Eltern gesund<br />
• Bruder der Mutter unklar behindert –<br />
Schockzustand nach Unfalltod eines<br />
weiteren Bruders (lebt in Italien)
Fall 1<br />
Untersuchung im Alter von 8 Monaten<br />
• Guter Sozialkontakt<br />
• Greifverhalten gezielt, keine Ataxie<br />
• Insgesamt fahriges Bewegungsmuster<br />
• Muskeltonus gesteigert, keine Dystonie oder<br />
Spastik<br />
• Drehen und Bauchlage altersinadäquat<br />
• EQ: 80
Fall 1<br />
• Wiedervorstellung im Alter von 4.6Jahren<br />
• Deutliche Entwicklungsstörung<br />
• Wirkt scheu<br />
• Spricht nur einzelne Wörter<br />
• Motorisch weiterhin eher ungeschickt<br />
• Inzwischen Bruder (1.6 Jahre)
Fragiles – X - Syndrom<br />
Geschätzte Prävalenz 1: 3000 Jungen<br />
Eine der häufigste Ursachen der <strong>mentale</strong>n <strong>Retardierung</strong><br />
Entwicklungsmeilensteine retardiert<br />
IQ < 70 bei Jungen<br />
(50% <strong>mentale</strong> Einschränkung bei betroffenen Mädchen)<br />
Verhaltensmerkmal: scheu (ADD oder autistic-like)<br />
KU und Länge oft im oberen Bereich<br />
Langes Gesicht, grosse Ohren<br />
Grosse Hoden (postpubertär)<br />
Hyperlaxizität (Bindegewebsstörung) orthopädische<br />
Probleme, Mitralprolaps
Genetische Abklärung sinnvoll ?<br />
Filges et al. 2012
Genetische Abklärung sinnvoll ?<br />
• Micro-array global 7,8%<br />
- bei syndromatic features 10,6%<br />
• StFISH global 3,5%<br />
- bei syndromatic features 4,6%<br />
- bei milder MR 0,5%<br />
- bei mässiger/schwerer MR 7,4%<br />
Michelson et al. 2011
Genetische Abklärung sinnvoll ?<br />
Lam et al., 2006
Genetische Abklärung sinnvoll ?<br />
• X-linked Diseases ca. 10%<br />
(> 100 Gene)<br />
- males mit X-linked FA 42%<br />
- males mit mögliche X-linked FA 17%<br />
- frag-X (boys und girls mit milder MR) 2%<br />
- MECP2 (girls mit schwerer MR) 1,5%<br />
Michelson et al. 2011
Genetische Abklärung sinnvoll ?<br />
Zirn et al. 2012
Fall 2<br />
Vorstellung eines 8. ½ Monate alten Jungen<br />
wegen Entwicklungsverzögerung<br />
1. Kind gesunder, nicht-konsanguiner Eltern<br />
Cousin vs. motorisch verzögert entwickelt<br />
Entwicklungsstand:<br />
mit 6 Monaten drehen, kein freies Sitzen, keine<br />
Silbenwiederholungen, muskuläre Hypotonie<br />
EQ 82<br />
Empfehlung: Physiotherapie und Kontrolle in<br />
3 Monaten
Fall 2<br />
Kontrolle im Alter von 13 Monaten<br />
Wenig weitere Entwicklungsschritte, v.a. keine<br />
sprachliche Entwicklung<br />
Abklärung:<br />
unauffällige Schilddrüsenwerte, unauffälliges<br />
metabolisches Screening, Chromosomenanalyse<br />
und frag-X-Syndrom unauffällig, Augenarzt o.B.,<br />
Hörprüfung o.B.<br />
Schädel-MRI: leichte Myelinisierungsverzögerung
Fall 2<br />
Diagnosestellung auswärts im Alter von 2<br />
Jahren nach erstem epileptischem Anfall
Fall 2
Fall 2<br />
• Mentale <strong>Retardierung</strong><br />
• keine oder nur rudimentäre<br />
Sprache<br />
• Bewegungsstörung<br />
(Ataxie, Tremor)<br />
• Häufig lachend<br />
(happy-puppets)<br />
• Erworbene Microcephalie<br />
• Epilepsie (
Elektroencephalographie sinnvoll?<br />
EEG und Rett-Syndrom<br />
Jourdan et al. 2007
Elektroencephalographie sinnvoll?<br />
EEG und Verschlechterung der kognitiven Funktion
Fall 3<br />
• 4. Kind konsanguiner türkischer Eltern<br />
• ältere Schwester im 2001an MDS<br />
verstorben, 2 gesunde Söhne<br />
• Familienanamnestisch retardierter<br />
Cousin mit Epilepsie<br />
(Kohlschütter- Tönz-Syndrom)
Fall 3<br />
• Erster unkomplizierter FK 03 / 02<br />
• PME, v.a. muskuläre Hypotonie (kein<br />
sicheres freies Sitzen, wach,<br />
aufmerksam, reagiere auf Mutter)<br />
• Microcephalie (P
Fall 3<br />
• 20. Lm: 2. Unkomplizierter FK<br />
• Weiter neuropädiatrische Abklärung<br />
- Microcephalie<br />
- muskuläre Hypotonie (keine ausreichende<br />
Kopfkontrolle, kurzstreckiges Krabbeln)<br />
• - „Leerer“ Blickkontakt<br />
• - altersinadäquates Spielverhalten (keine<br />
Objektpermanenz, reines Hantieren)
Fall 3<br />
Befunde<br />
• Chromosomenanalyse unauffällig<br />
• BB, Elektrolyte, BGA, Anionengap, Laktat<br />
(1.2mmol/l), TSH, T3 unauffällig<br />
• Überlangkettige FS, CDG o.B.<br />
• AS im Urin und Serum unauffällig<br />
• OS im Urin: Uracil und Thymidin – Nachweis<br />
• Verdacht auf Dihydropyrimidin-<br />
Dehydrogenase-Mangel
Fall 3:<br />
Befunde<br />
• MRI o.B.<br />
• EEG mehrfach unauffällig<br />
• AEP o.B.<br />
• VEP verzögerte Leitzeiten<br />
• 24h-Urin Uracil und Thymidin erhöht<br />
• Im Plasma und Liquor Uracil und Thymidin nachweisbar<br />
• Urin der Eltern unauffällig, Untersuchung des Urins<br />
der Brüder bislang verweigert<br />
•In Fibroblasten Aktivität der DPD (< 0.04)<br />
Diagnose: Dihydropyrimidine Dehydrogenase Mangel
DPD<br />
• Einordnung in Purine und Pyrimidine<br />
Disorders (20 bekannte Defekte)<br />
•Störung des Abbaus von Uracil und<br />
Thymine (3 Enzymstörungen)<br />
- Dihydropyrimidine Dehydrogenase<br />
Mangel (Lokalisation im Cytosol)<br />
- Dihydropyriminidase Mangel<br />
- Ureidoproprionase Mangel
DPD: Genetik<br />
• Lokalisation Chromosome 1p22<br />
• Konservatives Gen<br />
• > 10 beschriebene Mutationen<br />
• Inzidenz: 0 – 5 % Allelträger)<br />
• am häufigsten Punktmutation G – A (splice-site<br />
mutation): Deletion Exon 14 (~50%)<br />
• einzelne Punktmutationen beschrieben mit<br />
geringerer Reduktion der Restaktivität auf 25 %
DPD: Genetik<br />
v. Kuilenburg et. al. 2002<br />
v. Kuilenburg et. al. 2010
DPD: Klinik<br />
Erstmanifestation meist im 1. Lebensjahr (Geburt – 17 L.j.)<br />
• Mentale <strong>Retardierung</strong> (~ 45 % - 75%)<br />
• Motorische <strong>Retardierung</strong> (~ 45 % - 100%)<br />
• Wachstumsretadierung (~ 18 % - 25%)<br />
• Epilepsie (~ 0 % - 45 %)<br />
• Microcephalie (~ 12 % - 14 %)<br />
• Dysmorphie ( ~ 14 % - 38 %)<br />
• Autismus ( ~ 18 % - 25 %)<br />
• Oculäre Probleme ( ~ 23 % - 25 %)
Metabolische Diagnostik sinnvoll?
Outcome metabolisches Screening bei MR<br />
Michelson<br />
et al. 2011
Metabolische Diagnosen bei<br />
Kinder < 16 Jahre mit progressiver<br />
neurologischer und/oder<br />
intellektueller Verschlechterung<br />
N = 2636<br />
positiver Befund bei 773/2636 = 39.3%<br />
Verity et al., 2010
Mitochondriale Diagnosen bei<br />
Kinder < 16 Jahre mit progressiver<br />
neurologischer und/oder<br />
intellektueller Verschlechterung<br />
N = 2636<br />
Verity et al., 2010<br />
positiver Befund bei 112/2636 = 4.2%
Neuroradiologische Diagnostik sinnvoll?<br />
Molar-tooth-Zeichen =<br />
Joubert-Syndrom<br />
Lisencephalie FISH 17p13.3 neg<br />
Fronto-temporoparietale<br />
Pachygyrie
Neuroradiologische Diagnostik sinnvoll?<br />
Borderline/mild Severe/profound unknown total
Ätiologie <strong>mentale</strong>r <strong>Retardierung</strong><br />
Metaanalyse diagnostischer Zugänge<br />
(v. Karnebeek et al., 2005)<br />
• Metabolische Analysen 1%<br />
• Neurologische Untersuchung 43%<br />
• Neuroradiologische Befunde 30%<br />
• aber<br />
• Diagnosestellung 1.3%
Shevell et al,<br />
2003 , 2008<br />
Abklärungs-Algorythmus
Offene Fragen<br />
Liquordiagnostik ?<br />
Hörprüfung<br />
Ophthalmologische<br />
Untersuchung?<br />
Hoffmann 1998