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Gegenwart des Menschlichen - Zum Tod von Jeanne ... - Kirchen.ch

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Neue Z}r<strong>ch</strong>er Zeitung FEUILLETON Dienstag, 06.06.2000 Nr.130 65<br />

<strong>Gegenwart</strong> <strong>des</strong> <strong>Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en</strong><br />

<strong>Zum</strong> <strong>Tod</strong> <strong>von</strong> <strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong><br />

<strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong>, <strong>von</strong> der si<strong>ch</strong> mit Fug sagen lässt, dass sie als Philosophin – etwa mit den Bü<strong>ch</strong>ern<br />

«Das philosophis<strong>ch</strong>e Staunen» und «Die Unfähigkeit, Freiheit zu ertragen» – weit über die akademis<strong>ch</strong>en<br />

Grenzen ihres Fa<strong>ch</strong>es hinaus gewirkt hat, ist in der Na<strong>ch</strong>t auf den 5. Juni in Genf, kurz<br />

vor ihrem 90. Geburtstag, gestorben.<br />

<strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong> wurde als To<strong>ch</strong>ter polnis<strong>ch</strong>jüdis<strong>ch</strong>er<br />

Immigranten am 13. Juli 1910 in Genf<br />

geboren. Als «Jüdin ohne Religion» aufgewa<strong>ch</strong>sen,<br />

studierte sie in Genf und Paris Literaturwissens<strong>ch</strong>aft.<br />

Der Wuns<strong>ch</strong>, ihre Deuts<strong>ch</strong>kenntnisse<br />

zu verbessern, führte sie na<strong>ch</strong> Heidelberg, wo sie<br />

Karl Jaspers hörte und dur<strong>ch</strong> ihn glei<strong>ch</strong>sam ihre<br />

Initiation für die Philosophie erfuhr. Kurz na<strong>ch</strong><br />

der Ma<strong>ch</strong>tübernahme dur<strong>ch</strong> Hitler ging sie na<strong>ch</strong><br />

Freiburg im Breisgau, um Martin Heideggers Philosophie<br />

kennenzulernen. Unter Heideggers Rektorat<br />

musste sie während einer Feier, eingekeilt<br />

zwis<strong>ch</strong>en Studenten, die die Hand zum Hitlergruss<br />

erhoben hatten, mit anhören, wie die Menge<br />

sang: «. . . wenn das Judenblut vom Messer<br />

spritzt, dann geht's no<strong>ch</strong>mal so gut . . .»<br />

Ihre Werts<strong>ch</strong>ätzung für Heidegger, der für sie<br />

kein Antisemit war und <strong>des</strong>halb ihrer Meinung<br />

na<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> kein ri<strong>ch</strong>tiger Nationalsozialist sein<br />

konnte, hielt si<strong>ch</strong> in Grenzen. Jaspers hingegen<br />

blieb sie zeit seines Lebens verbunden und darüber<br />

hinaus; dur<strong>ch</strong> ihre Übersetzungen trug sie<br />

wesentli<strong>ch</strong> dazu bei, dass <strong>des</strong>sen S<strong>ch</strong>riften im<br />

französis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>raum bekannt wurden. Na<strong>ch</strong><br />

seinem <strong>Tod</strong> amtierte sie seit 1973 mehr als 20<br />

Jahre lang als Präsidentin der Karl­Jaspers­Stiftung<br />

und sorgte für die Herausgabe <strong>des</strong> Jaspers­<br />

Na<strong>ch</strong>lasses.<br />

Im Ans<strong>ch</strong>luss an Staatsexamen und Promotion<br />

in Genf unterri<strong>ch</strong>tete <strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong> dort fast 25<br />

Jahre an der Ecole Internationale, bevor sie 1956<br />

als Professorin für systematis<strong>ch</strong>e Philosophie an<br />

die dortige Universität berufen wurde. Ihr Werk<br />

ist breit gefä<strong>ch</strong>ert. Es umfasst neben fa<strong>ch</strong>philosophis<strong>ch</strong>en<br />

Untersu<strong>ch</strong>ungen im engeren Sinn, in<br />

denen ausser Jaspers Spinoza, in besonderem<br />

Mass Kant und s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> Kierkegaard ihre<br />

Werts<strong>ch</strong>ätzung erfahren, eine grosse Zahl zeitund<br />

gesells<strong>ch</strong>aftskritis<strong>ch</strong>er Essays, die ihr sozialpolitis<strong>ch</strong>es<br />

Engagement si<strong>ch</strong>tbar ma<strong>ch</strong>en. Ihre<br />

langjährige Arbeit in der Unesco hat dazu geführt,<br />

dass sie si<strong>ch</strong> immer wieder vehement für die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />

einsetzte.<br />

Gelegentli<strong>ch</strong> hat <strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in die<br />

Tagespolitik eingemis<strong>ch</strong>t – in bester Absi<strong>ch</strong>t, aber<br />

ni<strong>ch</strong>t immer mit glückli<strong>ch</strong>er Hand. Bei den<br />

Jugendunruhen in Züri<strong>ch</strong> Anfang der a<strong>ch</strong>tziger<br />

Jahre fand sie ni<strong>ch</strong>t den ri<strong>ch</strong>tigen Ton im Umgang<br />

mit den aufgebra<strong>ch</strong>ten jungen Leuten, die um<br />

Freiräume in einem als verkrustet empfundenen<br />

Staat kämpften und si<strong>ch</strong> jegli<strong>ch</strong>e bürgerli<strong>ch</strong>­autoritäre<br />

Einmis<strong>ch</strong>ung verbaten. Als die erste<br />

S<strong>ch</strong>weizer Bun<strong>des</strong>rätin 1989 wegen mutmassli<strong>ch</strong>er<br />

Verletzung <strong>des</strong> Amtsgeheimnisses zurücktreten<br />

musste, gab <strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong> ein Bu<strong>ch</strong> heraus,<br />

in dem sie si<strong>ch</strong> auf die Seite <strong>von</strong> Elisabeth<br />

Kopp stellte und gegen den «S<strong>ch</strong>nüffelstaat» und<br />

die «S<strong>ch</strong>nüffelpresse» vehement zu Felde zog.<br />

Dies löste in der aufgeheizten Atmosphäre allgemeines<br />

Kopfs<strong>ch</strong>ütteln aus. Inzwis<strong>ch</strong>en sieht man<br />

die Dinge gelassener.<br />

Ebenso wie zu den Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten bekannte<br />

sie si<strong>ch</strong> zu einem freiheitli<strong>ch</strong>en Sozialismus. Beide<br />

Überzeugungen gewannen in einer Existenzphilosophie<br />

Gestalt, die diejenige <strong>von</strong> Jaspers fortsetzte<br />

– so wie Hers<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on als junge Studentin<br />

Jaspers' angefangene Sätze fortzuführen wusste.<br />

In Jaspers' Philosophie fühlte sie si<strong>ch</strong> wohl, weil<br />

sie si<strong>ch</strong> ihr, wie sie s<strong>ch</strong>rieb, als ein «Königrei<strong>ch</strong><br />

der Freiheit» darstellte. Freiheit steht au<strong>ch</strong> im<br />

Mittelpunkt <strong>von</strong> <strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong>s Philosophie,<br />

und zwar die Freiheit individueller Selbstverwirkli<strong>ch</strong>ung<br />

als Mens<strong>ch</strong>, die sie anders als Sartre ni<strong>ch</strong>t<br />

als eine creatio ex nihilo verstanden wissen<br />

wollte, sondern als die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einem «konkreten<br />

Absoluten». Dem Terror der einseitig auf<br />

si<strong>ch</strong> selbst bezogenen, in Wahnsinn ums<strong>ch</strong>lagenden<br />

Vernunft setzte sie die Existenz als Pendant<br />

gegenüber, das der Vernunft ihre Grenzen aufzeige<br />

und sie dazu nötige, si<strong>ch</strong> in den Dienst der<br />

Freiheit zu stellen.<br />

Als Rednerin war <strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong> sehr beliebt.<br />

Zu ihren Vorträgen strömte das Publikum, vor<br />

allem in der Deuts<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>weiz; man bewunderte<br />

ihre einfa<strong>ch</strong>e, unmittelbar verständli<strong>ch</strong>e Ausdrucksweise<br />

und laus<strong>ch</strong>te aufmerksam ihren in<br />

flüssigem Deuts<strong>ch</strong> mit einem unverwe<strong>ch</strong>selbaren,<br />

guttural unterlegten romanis<strong>ch</strong>en Akzent darge­<br />

© 2000 Neue Zür<strong>ch</strong>er Zeitung AG Blatt 1


Neue Z}r<strong>ch</strong>er Zeitung FEUILLETON Dienstag, 06.06.2000 Nr.130 65<br />

botenen Ausführungen. In der Regel trug sie völlig<br />

frei vor, hatte aber stets ein «Manuskript» dabei.<br />

Als dieses einmal bei einer Festveranstaltung<br />

ni<strong>ch</strong>t aufzufinden war, wurde in ihrer Umgebung<br />

hektis<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> gesu<strong>ch</strong>t. Per Zufall ruts<strong>ch</strong>ten aus<br />

dem Tagungsprogramm zwei winzige Zettel, die<br />

wie Einkaufslisten aussahen. «Ah, mein Manuskript»,<br />

rief sie erlei<strong>ch</strong>tert und stieg aufs Podium,<br />

wo sie ihre Rede hielt, ohne einen Blick auf ihre<br />

Notizen zu werfen.<br />

<strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong>s philosophis<strong>ch</strong>e Bemühungen<br />

zielten darauf ab, die Mens<strong>ch</strong>en mit si<strong>ch</strong>, mit<br />

ihrem Mens<strong>ch</strong>­Sein zu versöhnen. Ihr ging es<br />

stets mehr darum, «tiefer und tiefer das Mens<strong>ch</strong>sein<br />

zu ergründen und es liebend anzunehmen,<br />

als die grossen Probleme der ‹eigentli<strong>ch</strong>en Philosophie›<br />

neu zu stellen». Sie habe, so erklärte sie<br />

si<strong>ch</strong>, kein philosophis<strong>ch</strong>es System erfunden, aber<br />

versu<strong>ch</strong>t, «den Sinn und das Ziel je<strong>des</strong> Systems zu<br />

begreifen». Mit <strong>Jeanne</strong> Hers<strong>ch</strong>, die si<strong>ch</strong> eher als<br />

«eine <strong>Gegenwart</strong>» in ihrer Zeit denn als Autorin<br />

eines Werkes fühlte, verliert – ni<strong>ch</strong>t nur – die<br />

S<strong>ch</strong>weiz eine bedeutende Persönli<strong>ch</strong>keit.<br />

Annemarie Pieper<br />

© 2000 Neue Zür<strong>ch</strong>er Zeitung AG Blatt 2

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