Interview mit Sergio Devecchi - Kinderheime in der Schweiz ...

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Interview mit Sergio Devecchi, durchgeführt von Walter Zwahlen im Juli 2012, ergänzt mit einer Kurzbiografie von Sergio Devecchi. URL: http://www.netzwerk-verdingt.ch/angeb/news.html Stand: 13. August 2012 ________________________________________________________________________________ Interview mit Sergio Devecchi Das ehemalige Heimkind Sergio Devecchi wurde später selber Heimleiter. Eine eher seltene Karriere. Über Jahrzehnte hat er zu seiner Vergangenheit geschwiegen und sich relativ spät geoutet. netzwerk-verdingt: Du bist Tessiner, ein Kanton, der sich mit der Aufarbeitung der Fremdplatzierung immer noch schwer tut . Wie hast Du Deine Kindheit in den Heimen erlebt? Sergio Devecchi: Als Heimbub, der nichts anderes kannte als das Heimleben, passt man sich - der Not gehorchend - den Gegebenheiten an. Erst viel später stellt sich Trauer ein darüber, kein Familienkind gewesen zu sein. Geschämt habe ich mich allerdings schon als Kind, weil ich dachte, an meinem Heimschicksal selber schuld gewesen zu sein. Denn es wurde nie mit mir darüber geredet, woher ich komme und warum ich im Heim war. Es galt vielmehr das Motto: Beten und arbeiten! Diese konsequente Tabuisierung hat mir den Mund ein Leben lang verschlossen. Erst heute kann ich angst- und schamfrei über mein Heimleben reden. n-v.: Darf ich annehmen, Du hattest insofern Glück gehabt, dass Du nicht wie in früheren Jahrhunderten als Spazzacamino irgendwo in einem europäischen Land ausgebeutet wurdest? S.D.: Es war wohl die „Gnade der späten Geburt“, die mich verschonte ein „schwarzer Bruder“ zu werden. Denn die Spazzacamini wurden mehrheitlich im 19. Jahrhundert und Anfangs des 20. Jahrhunderts nach Mailand und in andere Städte verkauft. Sehr wohl wurden wir Heimkinder aber schon früh im Hof und auf dem Feld gebraucht. n-v: Wie bist Du persönlich mit Deiner Situation, Isolation im Heim zurechtgekommen? Gab es für Dich bestimmte Überlebensstrategien? S.D.: Das Leben im Grosskollektiv Heim hat viele Nachteile, aber auch Vorteile. Du lernst früh, dich, dort wo nötig, anzupassen und, dort wo nötig, zu behaupten. Und dann gab es immer wieder vereinzelt Mitarbeitende im Heim, die Dir wohlgesinnt waren und Dich förderten. An diese Mitarbeitenden klammerst Du Dich und an Diesen Orientierst Du Dich. Und dann waren da immer wieder die Träume vom Familienglück, die Dich begleiteten und die Dir Hoffnung auf ein besseres Leben gaben. 1

<strong>Interview</strong> <strong>mit</strong> <strong>Sergio</strong> <strong>Devecchi</strong>, durchgeführt von Walter Zwahlen<br />

im Juli 2012, ergänzt <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Kurzbiografie von <strong>Sergio</strong> <strong>Devecchi</strong>.<br />

URL: http://www.netzwerk-verd<strong>in</strong>gt.ch/angeb/news.html<br />

Stand: 13. August 2012<br />

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<strong>Interview</strong> <strong>mit</strong> <strong>Sergio</strong> <strong>Devecchi</strong><br />

Das ehemalige Heimk<strong>in</strong>d <strong>Sergio</strong> <strong>Devecchi</strong><br />

wurde später selber Heimleiter. E<strong>in</strong>e eher<br />

seltene Karriere. Über Jahrzehnte hat er zu<br />

se<strong>in</strong>er Vergangenheit geschwiegen und sich<br />

relativ spät geoutet.<br />

netzwerk-verd<strong>in</strong>gt: Du bist Tess<strong>in</strong>er, e<strong>in</strong> Kanton,<br />

<strong>der</strong> sich <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Aufarbeitung <strong>der</strong> Fremdplatzierung<br />

immer noch schwer tut . Wie hast Du De<strong>in</strong>e<br />

K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong> den Heimen erlebt?<br />

<strong>Sergio</strong> <strong>Devecchi</strong>: Als Heimbub, <strong>der</strong> nichts an<strong>der</strong>es<br />

kannte als das Heimleben, passt man sich - <strong>der</strong><br />

Not gehorchend - den Gegebenheiten an. Erst viel<br />

später stellt sich Trauer e<strong>in</strong> darüber, ke<strong>in</strong><br />

Familienk<strong>in</strong>d gewesen zu se<strong>in</strong>. Geschämt habe ich<br />

mich allerd<strong>in</strong>gs schon als K<strong>in</strong>d, weil ich dachte, an<br />

me<strong>in</strong>em Heimschicksal selber schuld gewesen zu se<strong>in</strong>. Denn es wurde nie <strong>mit</strong> mir darüber geredet,<br />

woher ich komme und warum ich im Heim war. Es galt vielmehr das Motto: Beten und arbeiten! Diese<br />

konsequente Tabuisierung hat mir den Mund e<strong>in</strong> Leben lang verschlossen. Erst heute kann ich angst-<br />

und schamfrei über me<strong>in</strong> Heimleben reden.<br />

n-v.: Darf ich annehmen, Du hattest <strong>in</strong>sofern Glück gehabt, dass Du nicht wie <strong>in</strong> früheren<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ten als Spazzacam<strong>in</strong>o irgendwo <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em europäischen Land ausgebeutet wurdest?<br />

S.D.: Es war wohl die „Gnade <strong>der</strong> späten Geburt“, die mich verschonte e<strong>in</strong> „schwarzer Bru<strong>der</strong>“ zu<br />

werden. Denn die Spazzacam<strong>in</strong>i wurden mehrheitlich im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t und Anfangs des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts nach Mailand und <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Städte verkauft. Sehr wohl wurden wir Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> aber<br />

schon früh im Hof und auf dem Feld gebraucht.<br />

n-v: Wie bist Du persönlich <strong>mit</strong> De<strong>in</strong>er Situation, Isolation im Heim zurechtgekommen? Gab es für Dich<br />

bestimmte Überlebensstrategien?<br />

S.D.: Das Leben im Grosskollektiv Heim hat viele Nachteile, aber auch Vorteile. Du lernst früh, dich,<br />

dort wo nötig, anzupassen und, dort wo nötig, zu behaupten. Und dann gab es immer wie<strong>der</strong> vere<strong>in</strong>zelt<br />

Mitarbeitende im Heim, die Dir wohlges<strong>in</strong>nt waren und Dich för<strong>der</strong>ten. An diese Mitarbeitenden<br />

klammerst Du Dich und an Diesen Orientierst Du Dich. Und dann waren da immer wie<strong>der</strong> die Träume<br />

vom Familienglück, die Dich begleiteten und die Dir Hoffnung auf e<strong>in</strong> besseres Leben gaben.<br />

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n-v: Was hat Dich nach De<strong>in</strong>er Entlassung aus dem Heim bewogen, selber Heimleiter zu werden, und<br />

was hast Du an<strong>der</strong>s gemacht?<br />

S.D.: Vielleicht war es Zufall, vielleicht aber auch Vorsehung. Ich weiss es nicht. Sicher aber ist, dass<br />

ich me<strong>in</strong>en Beruf als Sozialpädagoge und Heimleiter <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er grossen anthropologischen Leidenschaft<br />

ausübte. E<strong>in</strong>er Leidenschaft für den Menschen! Mir war es wichtig, den Jugendlichen <strong>mit</strong> Respekt zu<br />

begegnen, sie zu för<strong>der</strong>n und stets e<strong>in</strong> offenes Ohr für ihre Anliegen zu haben. Und es war mir auch<br />

wichtig, me<strong>in</strong>e Arbeit nicht im stillen Kämmerle<strong>in</strong> „Heim“ zu machen, son<strong>der</strong>n die Anliegen <strong>der</strong><br />

benachteiligten K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen <strong>der</strong> Öffentlichkeit kund zu tun, sie für unsere Arbeit zu<br />

sensibilisieren, um so die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>ne Heimerziehung zu schaffen. Im<br />

weitesten S<strong>in</strong>ne Heimpolitik!<br />

<strong>Interview</strong>: Walter Zwahlen<br />

Kurzbiografie:<br />

«Eigentlich hätte ich <strong>in</strong>s Gu<strong>in</strong>ess-Buch <strong>der</strong> Rekorde aufgenommen werden müssen. Denn es ist zu<br />

vermuten, dass ich <strong>der</strong> Heim<strong>in</strong>sasse <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>mit</strong> den meisten Jahren war. 60 Jahre! Vom Vater<br />

verleugnet und von <strong>der</strong> Mutter verstossen wurde ich als unehelich neugeborenes K<strong>in</strong>d sofort<br />

abgeschoben. In Heimen <strong>in</strong> Pura (TI) und Zizers (GR) lernte ich beten und arbeiten. Auf me<strong>in</strong>e Fragen<br />

nach dem „Warum?“ gab’s ke<strong>in</strong>e Antworten. Ich hatte zu schweigen und zu gehorchen. Die Scham,<br />

ke<strong>in</strong>en Vater, ke<strong>in</strong>e Mutter und ke<strong>in</strong>e Familie zu haben und das Gefühl, an allem selber schuld zu se<strong>in</strong>,<br />

begleitete mich me<strong>in</strong> ganzes Leben. Kurz nach <strong>der</strong> Entlassung aus dem Heim und nach e<strong>in</strong>er KV-Lehre<br />

stieg ich als Praktikant wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Heim e<strong>in</strong>. B<strong>in</strong> ich deswegen vielleicht vom „Opfer“ zum „Täter“<br />

mutiert? Es folgte die Ausbildung zum Sozialpädagogen und dann die Karriereleiter empor, vom<br />

Erzieher über den Teamleiter zum Heimleiter, bis h<strong>in</strong>auf zum Präsidenten des <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Fachverbandes für Sozial- und Son<strong>der</strong>pädagogik. E<strong>in</strong> Heimleben eben! Und immer schwieg ich mich<br />

über me<strong>in</strong>e Heimvergangenheit aus. Die Angst, vom Stigma des verschupften Heimbuben e<strong>in</strong>geholt zu<br />

werden, war gross. Und dann, Tage vor me<strong>in</strong>er Pensionierung das Out<strong>in</strong>g! An e<strong>in</strong>er von mir<br />

organisierten Fachtagung zum Thema „60 Jahre Heimerziehung, e<strong>in</strong> Blick zurück <strong>in</strong> die Zukunft und e<strong>in</strong><br />

Abschied“ erzählte ich me<strong>in</strong>e Geschichte und löste weitherum ungläubiges Erstaunen aus. Me<strong>in</strong><br />

Heimleben ist nun zu Ende. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass wir Heim- und Verd<strong>in</strong>gk<strong>in</strong><strong>der</strong> aus den<br />

40ziger, 50ziger und 60ziger Jahre mehr Aufmerksamkeit verdienen. Unsere traurigen<br />

Lebensgeschichten müssen <strong>in</strong>s gesellschaftliche Bewusstse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen, denn nur so kann das<br />

unrühmliche Kapitel <strong>der</strong> unschuldig weggesperrten K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen als Teil <strong>der</strong> Geschichte<br />

begriffen und aufgearbeitet werden. Ich möchte me<strong>in</strong>en bescheidenen Beitrag dazu leisten.»<br />

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