Die implizite Ethik der modernen Ãkonomie - Karl-Heinz Brodbeck
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DIE IMPLIZITE ETHIK DER MODERNEN<br />
ÖKONOMIE<br />
Erläutert am Beispiel <strong>der</strong> Zinstheorie<br />
Impulsreferat im Rahmen des Forschungsgesprächs<br />
„<strong>Die</strong> kritisch-normative Orientierungsfunktion <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> im Härtetest globaler Ökonomie“,<br />
Forschungsgespräch am 12./13. Februar 2003 Universität St.Gallen<br />
<strong>Karl</strong>-<strong>Heinz</strong> <strong>Brodbeck</strong><br />
Vorab möchte ich den Begriff „<strong>implizite</strong> <strong>Ethik</strong>“ erläutern. Unter <strong>Ethik</strong> versteht<br />
man im philosophischen Sprachgebrauch die theoretische Reflexion und Begründung<br />
moralischer Regeln. Moralische Regeln lenken o<strong>der</strong> begrenzen Handlungen.<br />
<strong>Die</strong> spezifisch moralische Qualität solcher Regeln liegt in <strong>der</strong> Freiheit, sich<br />
jeweils auch an<strong>der</strong>s, als in einer Regel vorgeschrieben bzw. verboten, entscheiden<br />
zu können. Dass in vielen Handlungen moralische Regeln implizit gegeben<br />
sind, d.h. nicht von den Handelnden bewusst reflektiert werden, ist hinreichend<br />
bekannt. Sie verbergen sich in den Gewohnheiten, die − vielfach unbewusst geworden<br />
− Handlungen lenken, ohne bewusst reflektiert o<strong>der</strong> überhaupt bekannt<br />
zu sein. Aristoteles hat auf die enge Verwandtschaft zwischen Gewohnheiten und<br />
moralischen Regeln hingewiesen.<br />
Wenn man gewohntes Handeln von außen beobachtet, scheint die Differenz<br />
zum bloßen Verhalten von Naturgegenständen verschwunden zu sein. Tatsächlich<br />
lassen sich aufgrund gewohnter Handlungsmuster auch Prognosen formulieren.<br />
<strong>Die</strong> ökonomische Theorie setzt in ihren Modellen „Handeln“ und „Verhalten“<br />
gleich und formuliert Aussagen über menschliches Verhaltens. <strong>Die</strong> theoretische<br />
Form zugehöriger Modelle hat in den Wirtschaftswissenschaften zunehmend einen<br />
mechanischen Charakter angenommen: Man unterstellt eine prinzipielle<br />
Trennung von Beobachter und Verhalten, das seinerseits als rein empirisches<br />
1
Faktum behauptet wird. Bis zu diesem Punkt könnte man von einem erkenntnistheoretischen<br />
Fehler sprechen. Denn Menschen verhalten sich nicht, sie handeln,<br />
sie verän<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong> in vielen Situationen auch die Regeln ihres Handelns.<br />
Das wird bei kreativen Prozessen ebenso deutlich wie in Fällen wirklicher<br />
Ungewissheit.<br />
Doch die ökonomische Theorie geht weiter. Sie formuliert auf <strong>der</strong> Basis ihrer<br />
Verhaltensmodelle Handlungsempfehlungen für die Wirtschaftspolitik o<strong>der</strong> die<br />
betriebliche Praxis. Nun ist bekannt, dass Handlungsempfehlungen immer auf<br />
ethischen Normen beruhen und insofern Werturteile darstellen. <strong>Die</strong>ser Punkt ist<br />
weitgehend unstrittig. Doch in diesen Handlungsempfehlungen wird menschliches<br />
Verhalten so modelliert, als wäre es − wie ein mechanischer Körper − durch<br />
äußere Kausalfaktoren determiniert, also durch „Anreize gesteuert“. In dieser<br />
Modellvoraussetzung wird aber ein ethisches Urteil ausgesprochen. Selbst wenn<br />
gewohntes Handeln <strong>der</strong> Vergangenheit richtig erkannt wird, ist damit kein Verhalten<br />
beschrieben. Das wird an den Fehlprognosen erkennbar, die zeigen, dass<br />
sich behauptete Regelmäßigkeiten als Irrtum erwiesen haben. Entscheidungen<br />
sind immer situativ und kreativ und darin nicht sicher vorhersagbar.<br />
<strong>Die</strong> ökonomische Theorie ist eine Kommunikationsform. Sie nimmt teil am<br />
sozialen Kommunikationsprozess: An den Hochschulen, in <strong>der</strong> Ausbildung und<br />
Prägung von Urteilsformen für Berufe, in <strong>der</strong> Medienpräsenz o<strong>der</strong> in unmittelbaren<br />
Empfehlungen von Wirtschaftswissenschaftlern in Instituten o<strong>der</strong> politischen<br />
Gremien. Wer aber durch seine theoretische Modellierung in <strong>der</strong> Kommunikation<br />
vom je an<strong>der</strong>en unterstellt, er werde sklavisch durch Anreize gesteuert und auf<br />
<strong>der</strong> Basis dieser Annahme Handlungen empfiehlt, <strong>der</strong> urteilt moralisch. Also ist<br />
die Form <strong>der</strong> physikalistischen Ökonomie, sobald sie in die Kommunikation eintritt<br />
und dort als „Erklärung“ fungiert, in Wahrheit implizit eine <strong>Ethik</strong>.<br />
<strong>Die</strong>sen Zusammenhang möchte ich beispielhaft an <strong>der</strong> Zinstheorie vorführen.<br />
<strong>Die</strong> Zinstheorie (unter einem an<strong>der</strong>en Aspekt auch als „Kapitaltheorie“ bezeichnet)<br />
nimmt in <strong>der</strong> ökonomischen Theorie eine Son<strong>der</strong>stellung ein. Wenn man z.B.<br />
die Preistheorie betrachtet, so finden sich zwar viele Varianten eines Grundmodells,<br />
kaum aber in ihren Grundlagen wirklich konkurrierende Theorien (sieht<br />
man einmal von <strong>der</strong> Arbeitswertlehre des 19. Jahrhun<strong>der</strong>t ab, die faktisch keine<br />
Rolle mehr spielt). Ganz an<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Zinstheorie. Hier gibt es eine große Zahl<br />
von in ihren zentralen Aussagen völlig unterschiedlichen Theorien nebeneinan<strong>der</strong>.<br />
Selbst in den Lehrbüchern finden sich wi<strong>der</strong>sprechende Theorien: <strong>Die</strong> österreichischen<br />
Kapitaltheorie, wie sie Irving Fisher vereinfacht dargestellt hat, neben<br />
<strong>der</strong> Liquiditätspräferenztheorie von Keynes. <strong>Die</strong> unterschiedlichen Auffassungen<br />
in <strong>der</strong> Zinstheorie sind <strong>der</strong> eigentliche Grund für an<strong>der</strong>e Gegensätze (wie<br />
in <strong>der</strong> Lohn- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geldtheorie). In den wachstumstheoretischen Kapiteln fin-<br />
2
det sich dagegen vielfach eine naive Produktivitätstheorie des Zinses (Kapitalrente<br />
gleich Grenzprodukt des Kapitals, wobei „Kapital“ oftmals sogar zirkulär als<br />
Wertaggregat aus − zinsabhängigen − Preisen interpretiert wird), während man in<br />
den wirtschaftspolitischen Teilen fast immer argumentiert, Geld und Zins seien<br />
durch Institutionen in Größe und Umfang determiniert.<br />
Ich möchte das illustrieren: Kaum jemand hegt heute noch daran Zweifel,<br />
dass das Zinsniveau durch die Politik <strong>der</strong> Zentralbanken wesentlich beeinflusst<br />
wird; vielfach herrscht sogar die Vorstellung, die Zentralbanken könnten die<br />
Zinssätze direkt steuern. Der Zinssatz, genauer <strong>der</strong> jeweilige Leitzinssatz ist ein<br />
„politischer Preis“. <strong>Die</strong> „Unabhängigkeit“ <strong>der</strong> Zentralbanken besteht auch und<br />
gerade darin, die Leitzinssätze, damit das allgemeine Zinsniveau durch diskretionäre<br />
Entscheidungen maßgeblich beeinflussen zu können. Und <strong>der</strong> Streit um diese<br />
Politik macht deutlich, dass <strong>der</strong> Zinssatz politisch und von <strong>der</strong> Wirtschaft als<br />
gelenkter Preis interpretiert wird. Hinter <strong>der</strong> Festlegung <strong>der</strong> Leitzinssätze steht<br />
eine Entscheidung, die durch bestimmte Gründe motiviert ist – Gründe, die ihrerseits<br />
wie<strong>der</strong>um auf ethische Grundüberzeugungen, also wirtschaftspolitische Ziele<br />
zurückgeführt werden können. Ziele verkörpern ethische Werte, weshalb <strong>der</strong><br />
Zinssatz auch als Instrument interpretiert wird, diese Werte (z.B. die Stabilität<br />
einer Währung) durchzusetzen o<strong>der</strong> zu bewahren.<br />
Wenn man jedoch betrachtet, wie führende Entscheidungsträger <strong>der</strong> Zentralbankpolitik<br />
den Zinssatz theoretisch erklären, so stellt man erstaunt fest, dass sie<br />
darin ihr eigenes Tun leugnen und behaupten, dass Zinssätze ausschließlich durch<br />
Marktprozesse determiniert seien. Otmar Issing, Chefökonom <strong>der</strong> EZB und Verfasser<br />
viel verwendeter Lehrbücher zur Geldtheorie und -politik, sagt: „Der Zins<br />
als relativer Preis, als Verbindungsglied zwischen Gegenwart und Zukunft<br />
stammt aus <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> realen Wirtschaft. Seine Höhe wird durch das Verhältnis<br />
von Sparen und Investieren bestimmt.“ (O. Issing, Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
vom 20.11.1993)<br />
<strong>Die</strong>se Feststellung ist empirisch unhaltbar, denn erstens werden Kredite nicht<br />
nur in Höhe <strong>der</strong> Ersparnisse vergeben, und zweitens gehören volkswirtschaftlich<br />
die thesaurierten Gewinne zur Ersparnis, erscheinen aber nicht als Sparangebot<br />
und können deshalb den Zinssatz (ex ante) nicht determinieren. <strong>Die</strong> Zinstheorie,<br />
die bei Issing hier anklingt (die österreichische Kapitaltheorie), behauptet entgegen<br />
<strong>der</strong> praktizierten Festsetzung <strong>der</strong> Leitzinssätze, dass <strong>der</strong> Zins durch „reale“<br />
Faktoren determiniert sei, die sich letztlich politisch nicht beeinflussen lassen.<br />
Ich möchte kurz einige zinstheoretische Argumente rekapitulieren. Issing bezieht<br />
sich hier auf die „österreichische Kapitaltheorie“, die behauptet, dass <strong>der</strong><br />
Zinssatz zwei Ursachen habe: <strong>Die</strong> Gegenwartspräferenz (Min<strong>der</strong>schätzung künftiger<br />
Güter) und die höhere Produktivität kapitalintensiverer Produktionsmetho-<br />
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den. <strong>Die</strong>se Theorie wurde vielfach überzeugend kritisiert. Rawls sagt, dass individuell<br />
eine Zeitpräferenz dem Rationalitätspostulat wi<strong>der</strong>spricht, während sie<br />
sozial ungerecht ist, weil sie künftige Generationen und <strong>der</strong>en Bedürfnisse geringer<br />
bewertet. Auch <strong>der</strong> „objektive Teil“ dieser Theorie (Mehrergiebigkeit „längerer“,<br />
also kapitalintensiverer Produktionsumwege) ist als generelle Aussage nicht<br />
zu halten: Investitionen führen keineswegs immer zu höherer Kapitalintensität.<br />
Schumpeter hat plausibel gemacht, dass in einer stationären Wirtschaft <strong>der</strong> Zinssatz<br />
durch Wettbewerbsprozesse − entgegen <strong>der</strong> Auffassung „österreichischen“<br />
Kapitaltheorie − verschwinden würde; nur ein permanenter Innovationsprozess<br />
erzeugt jenen Gewinn, aus dem Zinsen bezahlt werden können. Keynes hat gezeigt,<br />
dass die österreichische Theorie eines „natürlichen Zinssatzes“ Vollbeschäftigung<br />
aller Produktionsfaktoren voraussetzt − ein Ergebnis, das in <strong>der</strong> kapitaltheoretischen<br />
Diskussion <strong>der</strong> 60er Jahre vielfach bestätigt wurde: Nur in einer<br />
Steady-State-Wachstumswelt mit gleicher Expansionsrate aller Sektoren ist ein<br />
positiver Realzins wi<strong>der</strong>spruchsfrei definierbar. Bei ungleichem Wachstum <strong>der</strong><br />
Sektoren gibt es nicht eine „interne Verzinsung“, son<strong>der</strong>n ebenso viele, wie es<br />
produzierte Güter gibt (ein Argument, mit dem Piero Sraffa in den 30er Jahren<br />
Hayeks österreichische Theorie wi<strong>der</strong>legte).<br />
<strong>Die</strong> Annahme eines positiven Zinssatzes ist nicht nur ungerecht, sie unterstellt<br />
in den Modellen optimalen Wachstums auch einen unendlich lebenden<br />
Konsumenten mit positiver Zeitpräferenzrate. Samuelson hat in einem bekannten<br />
Aufsatz gezeigt, dass bei nebeneinan<strong>der</strong> lebenden Generationen, die auch Kreditverträge<br />
abschließen, <strong>der</strong> Zinssatz gleich <strong>der</strong> Wachstumsrate <strong>der</strong> Bevölkerung ist<br />
(in einem statischen Modell, das in <strong>der</strong> österreichischen Theorie vorausgesetzt<br />
wird, wäre <strong>der</strong> Zinssatz also null). Und schließlich hat Keynes eine Theorie entwickelt,<br />
die den Zinssatz als rein monetäres Phänomen beschreibt. Wer also eine<br />
zinspolitische Handlungsempfehlung gibt, <strong>der</strong> spricht allein durch die Wahl des<br />
Modells ein ethisches Urteil aus, auch wenn dieses Urteil nicht explizit gemacht<br />
wird.<br />
<strong>Die</strong> Zinstheorie ist <strong>der</strong> blinde Fleck <strong>der</strong> Ökonomik. Das ist schon daran erkennbar,<br />
dass die Zinstheorie aus einer <strong>Ethik</strong> − dem Zinsverbot − entsprungen ist.<br />
Aristoteles sagte, dass die Zinsfor<strong>der</strong>ung einen Missbrauch einer sozialen Funktion<br />
(<strong>der</strong> Tauschfunktion des Geldes) darstellt. Ein Blick auf die Spekulationsprozesse<br />
<strong>der</strong> Gegenwart lässt diesen Gedanken keineswegs als unplausibel erscheinen.<br />
Es gibt keinen „objektiven“, „natürlichen“ Grund für einen Zinssatz bestimmter<br />
Höhe. Wohl aber muss in einer Wirtschaft mit positivem Zinssatz das<br />
zugehörige Einkommen durch immer wie<strong>der</strong> neue Umwälzungen <strong>der</strong> Produktion<br />
erwirtschaftet werden. Wer also den Zinssatz als quasi-natürliches Phänomen<br />
verteidigt, <strong>der</strong> spricht das Urteil aus, dass die Wirtschaft erstens wachsen soll<br />
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(denn ohne Wachstum ist kein Zinssatz möglich), zweitens aber plädiert er für die<br />
permanente Umwälzung <strong>der</strong> Produktionsmethoden, um aus den draus erwachsenden<br />
Erträgen Zinszahlungen leisten zu können. Wer einen Zinssatz von 3% als<br />
„natürlich“ in einem Modell, einer Handlungsempfehlung einsetzt, <strong>der</strong> spricht das<br />
<strong>implizite</strong> Urteil aus, dass sich <strong>der</strong> Kapitalstock o<strong>der</strong> das Sozialprodukt in etwa 23<br />
Jahren verdoppeln muss, soll dieser Wert möglich sein (sieht man von nur temporär<br />
wirksamen Umverteilungen aus an<strong>der</strong>en Einkommensformen ab, die durchaus<br />
zum Repertoire <strong>der</strong> neoliberalen Handlungsempfehlungen gehören). Das ist ein<br />
rein ethischer Satz im Gewande einer Theorie.<br />
An <strong>der</strong> Zinstheorie kann man wie in einem Hohlspiegel die schrittweise<br />
Transformation ethischer Sätze in eine Theorie beobachten, die unter dem Mantel<br />
<strong>der</strong> Mathematisierung ihre Herkunft verbergen. <strong>Die</strong> Leitkategorie in <strong>der</strong> Literatur<br />
zur Begründung <strong>der</strong> Vorzüge einer marktwirtschaftlichen Organisationsform <strong>der</strong><br />
Produktion war in schrittweiser Abstraktion <strong>der</strong> Begriff des „Interesses“. <strong>Die</strong>ser<br />
Begriff wurde verwendet, die „irrationalen Leidenschaften“ <strong>der</strong> Herrscher einer<br />
Rationalisierung zu unterziehen (Le princes commandent aux peuples, et l´interêt<br />
commande aux princes). Später wurde die Kategorie des „Interesses“ zur Leitmetapher<br />
individuellen Handelns („Selbstinteresse“), das in <strong>der</strong> schottischen Moralphilosophie<br />
als Schlüsselbegriff einer neuen Systemtheorie verwendet wurde: Der<br />
mechanische Gegensatz des Selbstinteresses sollte das Allgemeininteresse herstellen<br />
− „Interesse“ bleibt hier als Kategorie allerdings ungedacht.<br />
In reiner Form erscheint das Selbstinteresse im Zins. Der Zins ist kein physisches<br />
Ding, son<strong>der</strong>n eine For<strong>der</strong>ung an Handlungen in einem Vertrag, also eine<br />
moralische Kategorie. Und die Praxis <strong>der</strong> Geldpolitik lässt daran keinen Zweifel,<br />
weil sie Zinssätze nach Zielen (Werten) festlegt. Allerdings führt die Zinsfor<strong>der</strong>ung<br />
einen Zwang für jede kreditfinanzierte Produktion herbei, einen Überschuss<br />
(Gewinn) zu erwirtschaften, um diese For<strong>der</strong>ung begleichen zu können. Da <strong>der</strong><br />
Wettbewerb tendenziell alle Überschüsse über bloße Kosten hinaus eliminiert −<br />
was sich in verschiedenen oben erwähnten Modellen gleichfalls als Resultat ergibt<br />
−, erlegt <strong>der</strong> Zins <strong>der</strong> Wirtschaft insgesamt den Zwang auf, durch kreative<br />
Destruktion (Schumpeter) von Produktion und Verbrauch einerseits, die globale<br />
Unterwerfung aller Lebensbereiche unter den Verwertungszwang an<strong>der</strong>erseits,<br />
immer neue Überschüsse zu erwirtschaften. <strong>Die</strong>ser Prozess, im Rhythmus <strong>der</strong><br />
Konjunkturen durchgesetzt, wird angetrieben durch das Motiv <strong>der</strong> Verzinsung<br />
eingesetzten Kapitals. Und dieses Motiv ist keine rationale Handlungssteuerung,<br />
son<strong>der</strong>n nur die globale Herrschaft einer irrationalen Leidenschaft: <strong>der</strong> Geldgier.<br />
Beschreibt man also den Zinssatz als „natürliches“ Phänomen <strong>der</strong> Wirtschaft, so<br />
formuliert man implizit in <strong>der</strong> theoretischen Form einer Wissenschaft eine <strong>Ethik</strong>,<br />
die eine irrationale Leidenschaft zur Herrscherin des Handelns macht. Eine kriti-<br />
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sche Wirtschaftsethik kann deshalb von <strong>der</strong> „reinen Theorie“ nicht getrennt werden:<br />
<strong>Die</strong> ökonomische Theorie muss explizite <strong>Ethik</strong> werden, weil die Kategorien<br />
des Marktes implizit ethische Kategorien sind, wenn man sie in die theoretische<br />
Form einer physikalistischen Wissenschaft bringt, die zugleich am sozialen<br />
Kommunikationsprozess teilnimmt und Diskurspartner auf anreizgesteuerte „Roboterimitationen“<br />
(R. E. Lucas) reduziert.<br />
© K.-H. <strong>Brodbeck</strong>, 30. Dezember 2002<br />
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