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BWH-3<br />

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27. Mai 2009<br />

<strong>Rezensionen</strong><br />

Brodbeck, K.-H.:<br />

Die Herrschaft des Geldes. Geschichte und Systematik<br />

Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 2009,<br />

1193 Seiten, gebundene Ausgabe 149,90 Euro<br />

Dieses Werk ist nicht allein wegen seines Umfangs (nahezu zwölfhundert<br />

großformatige, eng bedruckte Seiten), sondern auch wegen seiner Faktenfülle und<br />

seines Systemgehalts selbst nach mehreren Leseanläufen nicht gänzlich zu<br />

bewältigen. Hier rechtfertigt die Qualität die Quantität. Trotz der Fülle der<br />

vorhandenen Geldliteratur läßt sich das Phänomen, das zu den großen Erfindungen<br />

der Menschheit zählt, nicht vollkommen ausdeuten, weil die ökonomischen Daten<br />

individual- und sozialpsychologisch unentwirrbar verschränkt sind und weil<br />

diejenigen, die über die politische Herrschaft des Geldes verfügen, häufig unredliche,<br />

ja trügerische Geschäfte betreiben. Ich las (und lese in immer neuen Anläufen) in dem<br />

Buch mit dem Wissen eines Ökonomen und nach der luziden Aufklärung J. Hörischs<br />

(›Kopf oder Zahl‹, worauf Brodbeck leider keinen Bezug nimmt). Brodbecks<br />

Generalthese lautet: Das Geldwesen (der Autor spricht verkürzt von der<br />

Geldwirtschaft) hat die gesamte Lebenswelt fest im Griff; es grenzt an<br />

»Wahnsinn, ... einer irrationalen und abstrakten Leidenschaft die Herrschaft über den<br />

Planeten und die Produktion der zugehörigen Denkformen anzuvertrauen« (1125).<br />

Die Stützthese dazu: Die meisten Menschen verkennen die Inszenierung des Geldes<br />

und verneigen sich sogar vor seiner Herrschaft. Brodbeck zielt auf nichts weniger als<br />

auf eine andere Gesellschaft. Geld ist für Brodbeck nicht allein ein wirtschaftliches<br />

und soziales Faktum, es ist eine »Metapher für die Denkform, die von den Vielen als<br />

ihr Selbst reproduziert wird: als innere Herrschaft des Geldsubjekts. Weil das<br />

Geldsubjekt seine Gier immer nur im quantitativen Mehr befriedigen möchte, kommt<br />

es nie an. Es ist immer schon über alles hinaus. Um in der abstrakten Einheit des<br />

Geldes ein Mehr, ein Profit, einen Zins zu erzielen, muß alles, was heute ist,<br />

überwunden, verändert, reorganisiert, erneuert, zerstört, neu aufgebaut und neu<br />

berechnet werden. Diese endlose Unruhe, die immer über das hinaus treibt, was heute<br />

ist, haust in einer abstrakten Zukunft, die nie erreicht werden kann: Jede Geldsumme<br />

ist, verglichen mit der abstrakten Gier, mehr davon haben zu wollen, zu wenig. Das<br />

›Mehr wollen‹ ist deshalb in allen Inhalten, die von der Geldrechnung in der<br />

Gesellschaft beherrscht werden, immer schon über die Gegenwart hinaus, ohne doch<br />

jemals anzukommen. Eine irrationale, d.h. unendliche Begierde findet keinen<br />

Frieden. Kein Wunder, dass die von ihr beherrschte Welt ihr aufs Haar gleicht. Und<br />

der Begriff dafür ist die Herrschaft der Zukunft in der Gegenwart« (1115 f.).


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Mit der Entzauberung der Geldillusion verbindet Brodbeck ein<br />

Weltsanierungsprogramm, keinen moralischen Appell und keinen<br />

Fortschrittsglauben. »Wer heute die Fortschrittsfloskeln der Aufklärung und des<br />

frühen Liberalismus liest, den überkommt ein ebensolches Unwohlsein wie bei der<br />

Lektüre der Vorworte zu Büchern aus realsozialistischer Zeit. Kaum wurde der<br />

Fortschrittswahn der Aufklärung besser tradiert als durch die Kommunisten.« Um<br />

nicht in eine der vielen Ideologiefallen zu geraten, stellt der Autor zeit-,<br />

interpretations- und erkenntnisphilosophische Überlegungen an. Ökonomische und<br />

sozialwissenschaftliche Prognosen hält er für »strukturelle Astrologie«, nicht<br />

für Wissenschaft. Ursächlich dafür sind »mechanistische Illusionen der Ökonomik«<br />

und ein falscher Zeitbegriff: Die Zukunft läßt sich prinzipiell nicht in die Gegenwart<br />

holen:<br />

»Was immer man dabei auch zu tun vermeint, es ist nur eine gegenwärtige<br />

Konstruktion; in den Wirtschaftswissenschaften oder der Soziologie in der Regel eine<br />

reine Erfindung. Weil das Wissen – und nur im Wissen ›befindet‹ sich ›Zukunft‹ -<br />

vom Handeln der Vielen, von der umgebenden Natur ontologisch verschieden ist und<br />

sich getrennt reproduziert als endogener Prozeß der Bedeutung, deshalb<br />

unterscheidet sich die als Gegenwart erlebte ›Zukunft‹ immer von späteren<br />

Ereignissen.<br />

Damit ist eine erste wichtige Eigenschaft des Geredes von der Zukunft dechiffriert:<br />

Hinter diesem fiktiven Begriff in den Sozialwissenschaften verbirgt sich nicht eine<br />

Relation der gegenwärtigen Situation der Gesellschaft zu einer zukünftigen, sondern<br />

ein gegenwärtiges soziales Verhältnis zwischen einer herrschenden Denkform und<br />

denen, die ihr gehorchen. Wenn man also die Forderung aufstellt, gemäß solch einer<br />

erfundenen Zukunft handeln zu sollen, dann verbirgt sich in dieser Forderung immer<br />

die gegenwärtige Hierarchie der Wissensformen, die heute die Handlungen lenkt und<br />

beherrscht. Die Rede von der ›Zukunft‹, die zu beachten sei und der man deshalb<br />

›folgen‹ müsse, ist nur die Übersetzung für eine Herrschaft in der gegenwärtigen<br />

Gesellschaft. Jene, die heute aus einem ›Zukunftsentwurf‹ Bedingungen für das<br />

Handeln setzen können, sind die jeweils Herrschenden heute, und es ist kein<br />

Geheimnis, dass deren Zukunft vor allem darin besteht, die bestehenden<br />

Sozialverhältnisse erhalten und die eigene Herrschaft ausweiten zu wollen« (1120;<br />

Hervorh.: E.D.).<br />

Die »universalisierte Herrschaft des Geldes« projiziere Zukunft, um ihre Macht<br />

endlos zu verlängern. Die »öde Fortsetzung der Herrschaft des Geldes« gelinge nur<br />

über das Eigentums- und Erbrecht. Brodbeck zeigt dies an den Beispielen<br />

Staatsverschuldung und Zins. Beiden Fällen liege die Illusion zugrunde, daß künftige<br />

Subjekte mit gegenwärtigen Subjekten verknüpfbar seien. Doch diese Schuld- und<br />

eigentumsrechtliche Grundstruktur hält der Autor für falsch, weil Zukunft immer nur<br />

als vergegenwärtigte Denk- und Herrschaftsform existiere. Dahinter steckt die<br />

»abstrakte Leidenschaft der Geldgier... Sicher ist an dieser professionellen<br />

Verdunkelung des Denkens in der Ökonomik nur eines: Sie nützen immer nur heute<br />

der Geldgier« (1122 f.). Demgegenüber stellt Brodbeck ein »völlig anderer<br />

Zeitbegriff« und eine von der Geldillusion gereinigte Zukunft.<br />

Schon dieser partielle Einblick in das Denkgebäude Brodbecks lassen einen<br />

revolutionären Entwurf erkennen, der einige Fundamente der westlichen Zivilisation


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schleifen will. Eigentum, Verantwortungsethik, Wettbewerb, Markt u.v.a.<br />

werden zur Disposition gestellt. In der kapitalistischen Dynamik sieht der Autor den<br />

Nebel eines globalen Wettbewerbs entstehen, der blinde Leidenschaft erzeugt, die<br />

Menschen versklavt und die Erde verwüstet (1124). Die heutigen Übel für eine<br />

versprochene Zukunft inkauf nehmen lautet die Trugformel der Verführer in<br />

Politik, Medien und in der Wirtschaft. Nach Brodbeck sind die Übel heute<br />

schlicht zu unterlassen (1127). Mit dem Geldsubjekt habe die »Weltherrschaft« der<br />

Schreibtischtäter begonnen, die mit der »Gewalt ihrer Zukunftsbilder« eine »andere<br />

Zukunft« versprächen. Marx, Hayek, Mises, alle die prognostizierenden<br />

Sozialwissenschaftler stehen auf der Schwarzen Liste des Autors, sie versprechen »die<br />

triste Wahrheit einer irrationalen Leidenschaft«, nämlich der Geldgier.<br />

Es ist nicht ohne Ironie festzustellen, daß der Antiprognostiker Brodbeck die<br />

Krise der Weltwirtschaft und die Krise der Wirtschaftswissenschaft<br />

vorhergesehen hat (vgl. den Artikel in diesem WALTHARI-Portal: ›Versagen die<br />

Wirtschaftswissenschaften in der Krise?‹). Dennoch will es mir nicht gelingen, ein<br />

abschließendes Urteil über dieses Riesenwerk zu finden, zu umfangreich ist der<br />

Gedankenteppich und zu umstürzend Brodbecks Attacken auf die »Denkformen des<br />

Geldsubjekts«. Trotz mehrerer Leseanläufe erkenne ich nicht, wie der Autor seine<br />

Hauptthese (die Übel heute einfach lassen) umzusetzen gedenkt. Er hätte dabei mehr<br />

als nur die Verwalter des Nichtwissens gegen sich. Genügen die Kraft des kritischen<br />

Arguments und »die prinzipielle Verweigerung«? Die Frage, ob ohne Geld die<br />

Wirtschaft funktioniert, »kann nicht beantwortet, nur kritisiert werden ... Es<br />

gibt Tausende von Wegen zur Einschränkung der Geldherrschaft – man muß sie nur<br />

beschreiten« (1135; Hervorh.: E.D.). Zuvor hätte man sie aber doch genauer gewußt.<br />

Dem Autor schwebt die »Wiedergewinnung der kommunikativen, auf Mitgefühl und<br />

Erkenntnis gründenden Vergesellschaftung« vor. Wer schreibt, der »Kapitalismus hat<br />

die Moral entmachtet« (1136), aber weder den Sozialismus noch die liberale<br />

Ordnung will, sollte ausführlicher angeben, was er statt dessen für machbar hält. Das<br />

Schlußkapitel (›Kritik der Zukunft‹) fällt zu moralisch und zu wenig redundant aus.<br />

Unter den fünf Vorkapiteln ist der Abschnitt ›Zur mathematischen Ökonomik«<br />

hochaktuell. Doch selbst mit diesem rundum überzeugenden Kapitel wird Brodbeck<br />

auf geharnischte Kritik in der ökonomischen Zunft stoßen. Es steht zu viel auf dem<br />

Spiel.<br />

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com<br />

30. April 2009<br />

Blickle, P.: Das Alte Europa<br />

Vom Hochmittelalter bis zur Moderne<br />

C.H. Beck Verlag, München 2008, 320 Seiten, 26,90 Euro<br />

Das Buch kann man unter zwei Perspektiven lesen: einmal aus der Sicht von<br />

Historikern, dann aber auch aus einem allgemeinen Leseinteresse an den normativen<br />

Strukturen von Europa, wie sie sich ab dem 13. Jahrhundert herausentwickelt haben.<br />

Manche Historiker sind mit Blickles Darstellung unzufrieden, weil er die


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Sozialempirie vernachlässigt und vom Harmoniebild des »Hauses Europa«, das seit<br />

Otto Brunner (1958) im Schwange ist, ausgeht. Die Geschichte Europas sei voller<br />

Widersprüche und nicht auf einen Identitätsnenner zu bringen. Dem läßt sich<br />

entgegenhalten, daß Strukturgeschichte nun mal mehr auf normativen Bezügen<br />

(Gesetze usw.) beruht als auf sozialempirischen Linien, von denen<br />

erkenntnistheoretisch nur schwer auf das Ganze zu schließen ist. Es gibt sie aber,<br />

die alteuropäischen Strukturlinien, von der Friedenspolitik des Rechts bis zum<br />

Aufklärungsprojekt, für das Europa seit der Antike das Urheberrecht beanspruchen<br />

darf. Auch die Machtbändigung durch Gewaltenteilung und die Freiheitssicherung<br />

durch Verfassungen sind alteuropäische Erfindungen, die von der UNO universalisiert<br />

werden. Es gab einst mit dem Christentum zudem durchaus einen europäischen<br />

Identitätsrahmen, auf dem ein öffentlicher Raum weit über das kirchliche Gebiet<br />

hinaus entstand. Sakralität und Frömmigkeit boten Orientierung. Im Kampf um die<br />

Deutungshoheit in Politik und Gesellschaft hat sich die genossenschaftliche<br />

Kommunalisierungsidee leider nur in der Schweiz durchgesetzt, im übrigen<br />

Europa kam es lediglich zu einem obrigkeitlichen Herrschaftswechsel vom Adel<br />

und von der Kirche auf den Parteienstaat und die Großverbände. Zwischen<br />

diesen Strukturmustern zieht Blickle historische Linien in elf Kapiteln, die er in vier<br />

Teile gliedert: Macht und Gewalt; Sakralität und Spiritualität; Friede – der<br />

Rechtsrahmen für Wirtschaft und Gesellschaft; Die Ordnung einer zivilisierten<br />

Gesellschaft. Übereifrige EU-Befürworter könnten aus diesem Buch manches lernen,<br />

so etwa, daß »das Haus Europa« ein christliches Fundament hat und eine gewachsene<br />

Rechtskultur, die für Scharia-Spielchen nichts übrig hat (E.-W. Bockenförde). Der<br />

beharrliche Verweis Blickles auf Pufendorfs Vorreiterrolle in Sachen<br />

Menschenrechte lange vor 1776 und 1789 ärgert offenbar manchen Kollegen in der<br />

Historikerzunft, weil indirekt deren Versäumnis angemahnt wird (vgl. meine<br />

Publikation ›Aktive Bürgergesellschaft in einem gebändigten Staat‹, 2007).<br />

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com<br />

30. April 2009<br />

Lauk, K. L. (Hrsg.):<br />

Europa von innen gesehen: Europa jenseits der Bürger?<br />

Die EU nach dem Vertrag von Lissabon.<br />

Hohenheim-Verlag, Stuttgart und Leipzig 2009, 304 Seiten, 19,90 Euro<br />

Die Metapher vom ›Haus Europa‹ ist kritisiert worden, weil sie eine Nähe suggeriert,<br />

die nicht besteht und wohl auch nicht herbeigeführt werden kann. Die große Vielfalt<br />

der europäischen Verhältnisse in Geschichte und Gegenwart ist nicht zu einem Haus<br />

mit architektonisch und statisch harmonischem Plan zusammenzufügen. Um das<br />

Europa-Projekt zu retten, wich man daher auf ›Einheit in der Vielfalt‹ aus, doch auch<br />

diese Formel verharmlost die kontroversen Unterschiede und will sie sogar als<br />

Positiva ausgeben. Zwischen Rumänien und Portugal z.B. bestehen kulturelle und<br />

Mentalitätswelten, die nicht überbrückbar sind. Sollen sie auch nicht, sagen<br />

EU-Verteidiger, können aber nicht beweisen, was an den Unterschieden die Einheit<br />

Europas nachhaltig (!) fundamentiert. Die geographische Lage im gleichen Kontinent


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reicht dazu nicht aus, zumal übereifrige EU-Betreiber vergessen haben, Grenzen zu<br />

ziehen. Nicht nur Systemtheoretiker wissen, daß es eine Einheit ohne klare Grenzen<br />

nicht gibt, sie zerfließt sonst Also versucht man es mit der Wurzelthese: Alle<br />

Europäer haben gemeinsame Wurzeln, nämlich die griechisch-römische Antike und<br />

das Christentum. Aber gebildete Weltbürger in den USA, Australien und anderswo<br />

sehen ihre Kultur ebenfalls darin, womit die Wurzelthese nicht mehr typisch<br />

europäisch und damit nicht einheitsprägend ist. Was immer man zur Statik des<br />

EU-Projekts anführt, es trägt nicht dauerhaft, vor allem nicht im Hinblick auf die<br />

Einhaltung demokratischer Basisregeln. Bürgernähe und institutionelle Legitimation<br />

verlangen z.B. Direktwahlen und Öffentlichkeit durch Transparenz. Die<br />

Europawahlen sind Listenwahlen, auf denen der Bürger nicht einmal Kandidaten<br />

streichen kann. Schon bei der Kandidatenaufstellung war er ausgesperrt.<br />

Öffentlichkeit ist bei vielen EU-Organen unbekannt usw. usw. Ich habe die<br />

Systemmängel in diesem WALTHARI-Portal gerade wieder beschrieben (›Ist die EU<br />

noch zu retten?‹). Keine Frage, das Europa-Projekt ist dringend voranzutreiben. Kann<br />

aber ein so gewaltiges Vorhaben als »ein Schiff im Bau... auf hoher See« zustande<br />

kommen, wie es der Herausgeber allen Ernstes vorschlägt? Als »schwimmende<br />

Plattform«, weit weg von den Ufern der Verfassungssouveräne, den Bürgern, die man<br />

über den Vertrag von Lissabon zumeist nicht hat abstimmen lassen? Merken die<br />

EU-Eliten nicht, daß ihr überkomplexes Gebilde keine volkssouveräne<br />

Demokratie ist und nie werden kann, vielmehr eine großbürokratisches<br />

Labyrinth mit internen Hinweisschildern zur weitgehend abgeschotteten, daher<br />

bürgerfernen Betriebsamkeit? Es gibt Alternativen zur EU, um Europa zu retten,<br />

doch man will sie nicht zur Kenntnis nehmen. Das Buch gibt Einblicke in die<br />

Arbeitsweise und Legitimationsideen von Mitgliedern des Europäischen Parlaments.<br />

In ihrem redlichen Bemühen als Parlamentarier (aus verschiedenen Ländern) sind sie<br />

voll der Hoffnung, daß die EU demokratischer wird, um die Bürger zu überzeugen.<br />

Berichtet wird über Konflikte, Machtbalance, EU-Erweiterung, Haushalt,<br />

Bürokratieabbau, Sprachenvielfalt u.a.m. – durchaus kritisch und selbstkritisch.<br />

Ludger Kühnhardt breitet zum Schluß seine Visionen in einer »noch nicht<br />

gehaltenen Tischrede« zu »Europa 2057« aus, in der er Direktwahlen fordert, bis<br />

dahin aber glaubt, die Bürger durch Resultate überzeugen zu können. Wenn die<br />

soziale Integration mißlinge, sehe er »brennende Städte«. Ich auch, wenn das<br />

ausstehende Europa-Projekt weiterhin mit der EU verwechselt wird.<br />

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com<br />

28. April 2009<br />

Jankrift, K. P.: Henker, Huren, Handelsherren.<br />

Alltag in einer mittelalterlichen Stadt<br />

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 2. Auflage, 236 Seiten, 24,90 Euro<br />

So ein Buch sollte man all jenen Bildungspolitikern schenken, die den<br />

Geschichtsunterricht an den Schulen zusammengestrichen haben und das kulturelle<br />

Gedächtnis Europas um ein weiteres Stück verarmen lassen. Der Mediävist Jankrift<br />

hat mittelalterliche Stadtchroniken durchforstet, um zumeist düstere Bilder<br />

nachzuzeichnen. Augsburg steht im Mittelpunkt, weil dort die Dokumente am


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zahlreichsten sind. Es ist die Zeit der Vorreformation. Geistlichkeit, Ratsherren,<br />

Zünfte und Gilden haben das Sagen und regieren streng. Archiviert werden vor allem<br />

Verfehlungen und ihre Aburteilung. Historiker müssen daher aufpassen, diese<br />

Ausnahmefälle für die ganze Stadtwirklichkeit auszugeben. Bekanntlich findet<br />

das Normale kaum Platz in den Archiven. Im nachgezeichneten Panorama stehen<br />

denn auch Streitfälle und Verfehlungen im Mittelpunkt: Prostitution, Folter,<br />

Hinrichtungen auf Scheiterhaufen, Pogrome, Gerichtsverfahren, Bettler, Krankheiten<br />

usw. Ungetaufte Kinder wurden am Kirchhof unter ein Dachtraufe beigesetzt, um die<br />

Taufe symbolisch nachzuholen. Die Extreme waren groß: Einerseits ausgelassene<br />

Narrenspiele, andererseits eine unvorstellbar große Angst vor dem ungesicherten<br />

Jenseits. Die Zeittafel setzt mit dem Jahr 1273 ein (Thronbesteigung Rudolf von<br />

Habsburgs) und endet mit Luthers Verhör in Augsburg (1518). Dazwischen gab es in<br />

der Stadt viel Hader (Zunftaufstand 1368), Judenverfolgung (1438), Reichtum und<br />

Elend in Überfülle. Die Straßen waren voller Unrat, und es stank zum Himmel, bis<br />

ein heftiger Regen einsetzte. Den Inhalt von Nachttöpfen schüttete man durchs<br />

Fenster auf die Straße. Das reiche Augsburg leistete sich Straßenpflaster, wofür ein<br />

Pflasterzoll erhoben wurde. Neben Jenseitsängsten beherrschte die Furcht vor<br />

Krankheit und Krieg den Alltag. Auf Seite 173 f. kann man die schöne Geschichte<br />

vom gehörnten Bäcker lesen, die literarisch vielfältigen Eingang fand. Das Buch ist<br />

ein Zeitdieb. Man kann nicht mehr aufhören zu lesen. Gewünscht hätte ich mir<br />

neben dem Ortsregister ein Stichwortverzeichnis.<br />

© Univ.-Prof. Dr. E. Dauenhauer, ausgenommen die Originalzitate. Aus: www.walthari.com<br />

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