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Yoga Vasistha

Das Yoga Vasistha, eines der bedeutendsten Werke indischer Philosophie, ist ein Lehrgespräch zwichen dem legendären Rishi Vasishtha und dem Königssohn Rama. Deutsche Übersetzung von Clemens Vargas Ramos.

Das Yoga Vasistha, eines der bedeutendsten Werke indischer Philosophie, ist ein Lehrgespräch zwichen dem legendären Rishi Vasishtha und dem Königssohn Rama.

Deutsche Übersetzung von Clemens Vargas Ramos.

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S W A M I V E N K A T E S A N A N D A<br />

Y o g a V ā s i «Âha


Swami Venkatesananda<br />

<strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha


Lizenzbestimmung:<br />

Dieser Text ist frei und unverkäuflich und kann ohne Absprache weiterverbreitet,<br />

uneingeschränkt zitiert und in anderen Schriften verwendet und bearbeitet werden. Er<br />

steht bei SCRIBD zum kostenlosen Download zur Verfügung:<br />

http://www.scribd.com/clemens-vargas-ramos<br />

Die kommerzielle Verwertung dieses Textes ist gestattet. Die Ware soll dann zum<br />

Selbstkostenpreis angeboten oder der Gewinn für wohltätige Zwecke gespendet<br />

werden.<br />

Diese Lizenzbestimmung hebt alle anderen Lizenzbestimmungen auf. Sie soll bei jeder<br />

Verwendung des Textes unverändert wiedergegeben werden.<br />

Clemens Vargas Ramos, im Januar 2010<br />

vargasramos@gmx.net<br />

Übersetzung von Clemens Vargas Ramos aus dem Englischen des „<strong>Vasistha</strong>s<br />

<strong>Yoga</strong>“ von Swami Venkatesananda (ungekürzte Fassung).<br />

Dies ist eine Rohübersetzung.<br />

Die letzte Überarbeitung war am Sonntag, 13. Juni 2010.


S w a m i V e n k a t e s a n a n d a<br />

Y o g a V ā s i «Âha


Inhalt<br />

Vorwort zur deutschen Übersetzung ................................................................................... 9<br />

Über Swami Venkatesananda............................................................................................... 10<br />

Aus dem Klappentext .............................................................................................................. 12<br />

Segnung ....................................................................................................................................... 13<br />

Vorwort ........................................................................................................................................ 14<br />

Einführung .................................................................................................................................. 16<br />

Gebet ............................................................................................................................................. 18<br />

Teil I: Über die Leidenschaftslosigkeit .............................................................................. 19<br />

Teil II: Über die Qualitäten des Suchers ........................................................................... 38<br />

Die Geschichte von Śuka ................................................................................................. 38<br />

Eigenbemühung ................................................................................................................ 40<br />

Teil III: Über die Weltentstehung ........................................................................................ 54<br />

Die Geschichte von Līlā ................................................................................................... 70<br />

Die Geschichte von KarkaÂī..........................................................................................109<br />

Die Geschichte von den Söhnen Indus (Zehn junge Männer) .........................126<br />

Die Geschichte von Ahalyā ...........................................................................................128<br />

Die Geschichte vom Großen Wald .............................................................................138<br />

Die Geschichte von den drei inexistenten Prinzen .............................................141<br />

Die Geschichte von Lavaïa ..........................................................................................143<br />

Teil IV: Über die Existenz .....................................................................................................164<br />

Die Geschichte von Śukra .............................................................................................166<br />

Die Geschichte von Dāma, Vyāla und KaÂa .............................................................185<br />

Die Geschichte von Bhīma, Bhāsa und D­¬ha.......................................................193<br />

Die Geschichte von DÃÓÆra...........................................................................................208<br />

Kaca's Lied .........................................................................................................................215<br />

Teil V: Über die Auflösung ...................................................................................................220<br />

Die Geschichte von König Janaka ..............................................................................224<br />

Die Geschichte von Puïya und Pāvana ....................................................................244<br />

Die Geschichte von Bali.................................................................................................247<br />

Die Geschichte von Prahlāda ......................................................................................257<br />

Die Geschichte von Gādhi .............................................................................................281<br />

Die Geschichte von Uddālaka......................................................................................292<br />

Die Geschichte von Suraghu ........................................................................................305<br />

Die Geschichte von Bhāsa und Vilāsa ......................................................................310<br />

Die Geschichte von Vītahavya ....................................................................................330<br />

Teil VI: Über die Befreiung ..................................................................................................349<br />

Diskurs über Brahman ..................................................................................................365<br />

Die Geschichte von BhuÓuï¬a ....................................................................................371<br />

Die Beschreibung des Höchsten Herrn ...................................................................391<br />

Deva PÆjā ...........................................................................................................................402<br />

Die Geschichte vom Holzapfel ....................................................................................416<br />

Die Geschichte vom Fels ...............................................................................................417<br />

Die Geschichte von Arjuna ...........................................................................................422<br />

Die Geschichte von den hundert Rudras ................................................................435<br />

Die Geschichte vom Vampir ........................................................................................446<br />

Die Geschichte von BhagÅratha ..................................................................................448<br />

Die Geschichte von Áikhidhvaja und Cū¬ālā .........................................................450


Die Geschichte vom Stein der Weisen......................................................................463<br />

Die Geschichte vom Cintāmaïi ..................................................................................470<br />

Die Geschichte vom dummen Elefanten .................................................................471<br />

Die Geschichte von Kaca ...............................................................................................499<br />

Die Geschichte vom irregeführten Mann ................................................................501<br />

Die Geschichte von Bh?ÇgÅśa ......................................................................................503<br />

Die Geschichte von Ikåvāku ........................................................................................508<br />

Die Welt im Felsen ..........................................................................................................577<br />

Die Geschichte vom Weisen aus dem Weltraum ..................................................616<br />

Die Geschichte von VipaÁcit ........................................................................................636<br />

Die Geschichte vom Jäger und dem Reh .................................................................659<br />

Die Geschichte von Kundadanta ................................................................................719


Vorwort zur deutschen Übersetzung<br />

Das Brihat (das Große) <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha oder <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha <strong>Yoga</strong> Maha<br />

Ramayana, wie es auch genannt wird, ist ein Werk bestehend aus 32000<br />

Versen in Sanskrit, die traditionellerweise Valmiki, dem Autor des<br />

Ramanayana, zugeschrieben werden. Sie behandeln einen Dialog zwischen<br />

dem Weisen Vāsi«Âha und Shri Rāma, in dem der Advaita (die Doktrin der<br />

Non-Dualität) in seiner reinsten Form des Ajatavada (Theorie der Nicht-<br />

Erzeugung) mit Hilfe eingeschobener historischer Verbildlichungen erläutert<br />

wird. Der große Weise Shri Ramana Maharshi (1879-1950) zitierte häufig aus<br />

dem <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha.<br />

Im <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha geht es um die Unwirklichkeit der Welt, die Erkenntnis<br />

des Selbst und den Weg des Weisen.<br />

Eine der zentralen Aussagen dieses Werkes lautet:<br />

„Diese Welterscheinung ist nichts als eine Täuschung – so wie die Bläue<br />

des Himmels eine optische Täuschung ist. Ich halte es für ratsam, dem<br />

Verstand nicht zu erlauben, sich länger mit ihr zu beschäftigen, sondern<br />

sie einfach zu ignorieren. Solange in einem Menschen nicht die Überzeugung<br />

wächst, dass diese Welterscheinung keinerlei Wirklichkeit besitzt,<br />

ist weder die Freiheit vom Kummer noch die Verwirklichung der<br />

eigenen wahren Natur möglich. Mok«a oder Befreiung besteht in der totalen<br />

Aufgabe aller vasana bzw. mentalen Konditionierung, und zwar<br />

ohne den geringsten Vorbehalt.“<br />

Diese Übersetzung ist aus einem persönlichen Antrieb heraus entstanden.<br />

Sie beansprucht in keiner Weise, den Sinngehalt, den Wortlaut oder den Geist<br />

der ursprünglichen Übersetzung ins Englische vollständig, angemessen oder<br />

auch nur sprachlich, grammatisch oder semantisch korrekt wiedergegeben zu<br />

haben.<br />

Mein besonderer Dank gilt Swami Sarvamangalananda in Rishikesh, die die<br />

Mühe nicht gescheut hat, dieses umfangreiche Werk gründlich zu überarbeiten<br />

und dadurch der Druckreife näher zu bringen. Ich danke auch Maria Palmes,<br />

die die Qualität dieses Buches durch Korrekturlesen weiter gesteigert<br />

hat.<br />

Clemens Vargas Ramos<br />

Bremen, im Januar 2010<br />

9


Über Swami Venkatesananda<br />

Über Swami Venkatesananda sagte Swami Sivananda (Venkatesanandas<br />

Meister, Heiliger und Vedanta-Lehrer): „Seine Briefe sind voller Honig. Er<br />

benötigte nicht einmal einen Entwurf; er setzte sich an die Schreibmaschine<br />

und so war der Brief sofort fertig. Die Arbeit, die er geleistet hat, würden<br />

andere Leute nicht geschafft haben. So viele Bücher und Schriften sind gedruckt<br />

worden allein aufgrund seiner Arbeit. Nicht ein einziges Wort hat er<br />

jemals geäußert, das mir missfallen hätte. Wenn ich gerade dringend Arbeit<br />

zu erledigen hatte, war sie am nächsten Morgen schon fertig – er hatte dann<br />

einfach die ganze Nacht durchgearbeitet. Er hat kein Ego. Nie würde er sagen:<br />

'Dies ist nicht gut.' Er ist bescheiden und egolos.“<br />

Swami Venkatesananda (damals unter dem Namen Parthsarathy bekannt)<br />

wurde in Tanjore am 29. Dezember 1921 als Kind einer südindischen<br />

Brahmanenfamilie geboren. Er erlernte noch im jungen Alter von seinem<br />

Onkel und Großvater Sanskrit und liebte die Pflege religiöser Sitten und Gebräuche.<br />

Er war intelligent und voller Humor (auf späteren Reisen im Westen<br />

pflegte er Alltagsbegebenheiten mit seinem wunderbaren Humor zu kommentieren).<br />

Im Alter von vierzehn Jahren entdeckte er ein Buch von Swami Sivananda in<br />

einem Buchgeschäft. Er war davon so beeindruckt, dass er Swami Sivananda<br />

schrieb und bat, ihn in seinem Ashram begleiten zu dürfen. Swami Sivananda<br />

schrieb ihm zurück, lieber erst seine Ausbildung zu beenden und danach<br />

nach Rishikesh zu kommen. Später arbeitete er dann für die Madras Company<br />

und erlangte die Position des Privatsekretärs des Kriegsministers. Eines<br />

Tages wurde er gebeten, einige wichtige Persönlichkeiten nach Rishikesh zu<br />

begleiten. Als er realisierte, dass er nun Swami Sivananda sehen könnte,<br />

kannte seine Freude keine Grenzen. Während die Persönlichkeiten in<br />

Rishikesh abstiegen, ging er zum Büro des Ashrams und fragte nach Swami<br />

Sivananda. Es wurde ihm bedeutet, dass Swami Sivananda gerade ruhe und<br />

ihn nicht empfangen könne. Er ging an Swami Sivanandas Zimmer vorbei, als<br />

dieser plötzlich herauskam und sagte: „So! Du bist also gekommen.“ Swami<br />

Venkatesananda bat ihn, im Ashram bleiben zu dürfen. Swami Sivananda bat<br />

ihn seinerseits darum, erst seine Ausbildung zu beenden und danach zu<br />

kommen. Nach einem Jahr, in dem er alle seine Verpflichtungen erfüllt hatte,<br />

kehrte er nach Rishikesh zurück und blieb. Sivananda ließ ihn verschiedene<br />

Aufgaben in der Küche, dem Tempel, dem Büro des Ashrams und Schreib- und<br />

Pressearbeiten verrichten. Danach wurde er der Privatsekretär von Swami<br />

Sivananda. Er tippte seine Bücher, beantwortete Briefe und ging ihm bei den<br />

täglichen Arbeiten zur Hand.<br />

Später bereiste er die Welt. In Südafrika schrieb er schließlich viele seiner<br />

Bücher wie den Kommentar zur Bhagavad Gita und die Übersetzungen des<br />

Bhagavatam, des Ramayana, des <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha und der Aussprüche Buddhas,<br />

die er Sanskrit- und Pali-Texten entnahm. Dazwischen beantwortete Briefe,<br />

10


deren 50 ihn oft täglich erreichten. Kennzeichnend für seine praktische Vernunft<br />

war seine Empfehlung, von allen seinen Büchern jeweils nur so viel zu<br />

lesen, wie man als Botschaft für den Tag verdauen konnte, damit die erhabenen<br />

und subtilen Gedanken der Texte durch beständiges Nachsinnen einsinken<br />

konnten. Für das Vāsi«Âha's <strong>Yoga</strong> empfahl Swami Venkatesananda das<br />

Lesen nur einer Seite auf einmal, um die Einverleibung der Unterweisung zu<br />

unterstützen.<br />

Swami Venkatesananda starb am 2. Dezember 1982 in Johannesburg, Südafrika.<br />

* * *<br />

11


Aus dem Klappentext<br />

Dies ist Swami Venkatesanandas längere Version des <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha. Sein<br />

zweibändiges Werk ist hier zwischen zwei Buchdeckeln enthalten. Es ist eine<br />

gelungene Zusammenfassung des drittlängsten Buches der Welt. Sein Ziel<br />

besteht darin, ein Mittel zur Beseitigung der psychologischen Konditionierung<br />

und zum Erlangen der Befreiung zur Verfügung zu stellen. Dieses Werk<br />

ist, um einen Ausspruch von Shri Ramakrishna zu zitieren, „gesotten in der<br />

Butter der Erkenntnis und getaucht in den Honig der Liebe“.<br />

* * *<br />

12


Segnung<br />

Das <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha ist ein einzigartiges Werk der indischen Philosophie, dem<br />

wegen seiner praktisch verstandenen spirituellen Weisheit hohe Wertschätzung<br />

entgegengebracht wird. Allein das Studium dieser bedeutenden Schrift<br />

schon kann jemandem ganz gewiss dabei helfen, Gottbewusstsein zu erlangen.<br />

Für die Sucher nach vollkommener Schönheit ist <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha wie<br />

Nektar – es ist ein Schatzhaus der Weisheit. Wie das Amritanubhava von Sri<br />

Jñáneshwar eignet sich der in diesem Werk aufgezeigte Weg für diejenigen,<br />

die spirituell auf das Äußerste entwickelt sind; schon fast nahe am Zustand<br />

eines Siddha. Es erläutert die höchste Wahrheit mit Hilfe zahlreicher Geschichten<br />

und bildhafter Darstellungen. Nicht nur Philosophen, sondern auch<br />

moderne Psychologen und Wissenschaftler werden darin gewiss Dinge finden,<br />

die sie mit ihren eigenen Entdeckungen in Zusammenhang bringen können.<br />

Die meisten Schriften enthalten das, was Gott seinen Verehrern mitzuteilen<br />

hatte. Das <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha jedoch enthält, was die Verehrer Gottes Diesem<br />

Selbst mitzuteilen hatten. Hier ist von den Unterweisungen des Weisen<br />

Vāsi«Âha an Lord Rāma die Rede, die das wahre Verständnis der Erschaffung<br />

der Welt enthalten. Die Philosophie des <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha ähnelt stark derjenigen<br />

des kashmirischen Śivaismus. Ihre Hauptaussage besteht darin, dass alles<br />

einschließlich der materiellen Welt Bewusstsein ist und die Welt eben so ist,<br />

wie wir sie sehen. Dies ist absolut wahr – denn die Welt ist nichts als das Spiel<br />

des Bewusstseins.<br />

Abhinavagupta, der große Gelehrte des 10. Jh. des kashmirischen<br />

Shivaismus, sagte einmal: „Śiva, das unabhängige und reine Selbst, welches<br />

stets im Gemüt vibriert, ist die Parashakti, die in den Sinneserlebnissen als<br />

Freude erfahren wird. Die Erfahrung dieser äußeren Welt erscheint als sein<br />

Selbst. Ich habe keine Ahnung, woher eigentlich diese Rede von ‚saæsāra‘<br />

herstammt.“ Dies ist ebenso auch die unvergleichliche Philosophie des <strong>Yoga</strong><br />

Vāsi«Âha.<br />

Swami Venkatesananda, der dieses monumentale Werk übersetzt hat, hat<br />

hart dafür gearbeitet, seine Philosophie dem normalen Menschen verständlich<br />

zu machen. Damit hat er allen Suchern nach der Wahrheit einen wertvollen<br />

Dienst erwiesen. Swamiji ist eine reine Persönlichkeit mit herausragendem<br />

Wissen – er ist daher der Übersetzung dieses Werkes des höchsten <strong>Yoga</strong><br />

würdig.<br />

Möge dieses Buch dem Leser echte Erkenntnis vermitteln.<br />

Swami Muktananda<br />

13


Vorwort<br />

Das Buch Vāsi«Âha's <strong>Yoga</strong> stellt eine Übersetzung ins Englische begleitet von<br />

kurzen Erläuterungen von Swami Venkatesananda der Divine Life Society,<br />

Rishikesh, India, dar. Es ist die Übersetzung einer wohlbekannten Abhandlung<br />

des Vedanta in Sanskrit, des <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha.<br />

Das <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha war über die Jahrhunderte hinweg stets ein bevorzugtes<br />

Buch spiritueller Sucher in Indien. Seine besondere Anziehungskraft liegt in<br />

seiner gänzlich rationalen Darstellungsweise und seiner Darlegung des<br />

Vedanta als einer Philosophie, die wie die Bhagavadgita durch erleuchtetes<br />

Verstehen und erhabene Spiritualität die Kluft zwischen dem Weltlichen und<br />

dem Heiligen, der Tätigkeit und der Kontemplation, zu schließen unternimmt.<br />

Hier findet der Leser Passagen wie etwa den Eingangssatz von Kapitel II-18,<br />

der die Bedeutung der Vernunft erläutert:<br />

„Die Worte sogar eines kleinen Jungen sollten akzeptiert werden, wenn<br />

es Worte der Weisheit sind. Andernfalls müssen sie wie Strohhalme beiseite<br />

geworfen werden, auch wenn sie von Brahmā dem Schöpfer selbst<br />

stammen sollten.“<br />

Es ist eben diese Philosophie einer umfassenden, rationalen und praktisch<br />

orientierten Spiritualität, der der Mensch der modernen Zeit bedarf, um sich<br />

selbst von der Fessel der Weltlichkeit zu befreien und die breite Straße des<br />

schöpferischen Lebens und der Erfüllung zu betreten.<br />

Indem Swami Venkatesananda, der jahrzehntelang unermüdlich an der<br />

Verbreitung der lebenspendenden Botschaften des <strong>Yoga</strong> und Vedanta in Ost<br />

und West gearbeitet hat, diese Übersetzung des <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha im Geist seiner<br />

Übersetzungen der bereits erwähnten beiden Bücher herausgebracht hat, hat<br />

er den spirituellen Suchern von nah und fern einen großen Dienst erwiesen.<br />

Dem Chiltern <strong>Yoga</strong> Trust of Elgin, South Africa, gebührt der stille Dank der<br />

Leser für die Veröffentlichung dieser drei Bücher des Swami und die Unterstützung<br />

in der Verbreitung der lebendigen, reinigenden und inspirierenden<br />

Ideen des Vedanta des Ewigen Indien, Amat Bharat.<br />

(Swami Ranganathananda)<br />

Präsident des Ramakrishna Math, Hyderabad<br />

A. P. Indien, 20. Dezember 1975<br />

14


Einführung<br />

Die Gelehrten spekulieren über den Autor dieser monumentalen Schrift<br />

und andere damit in Zusammenhang stehende akademische Fragen. Möge<br />

Gott ihnen eines Tages die gewünschten Erkenntnisse schenken.<br />

Das <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha ist eine der großartigsten Hilfestellungen für das spirituelle<br />

Erwachen und die unmittelbare Erfahrung der Wahrheit – das ist gewiss.<br />

Wenn es dies ist, was du suchst, dann sei willkommen beim <strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha.<br />

Der Text scheint vor Wiederholungen überzufließen, die jedoch in Wahrheit<br />

keineswegs müßig sind. Falls du Wiederholungen nicht magst oder benötigst,<br />

dann lies nur diesen einen Satz:<br />

„Diese Welterscheinung ist nichts als eine Täuschung – so wie die Bläue<br />

des Himmels eine optische Täuschung ist. Ich halte es für ratsam, dem<br />

Verstand nicht zu erlauben, sich länger mit ihr zu beschäftigen, sondern<br />

sie einfach zu ignorieren.“ (I, 3)<br />

Gerade diese Aussage erscheint mehrere Male in dieser Schrift, und sie<br />

scheint auch die wesentliche Aussage der hier vorgelegten Unterweisung zu<br />

sein.<br />

Falls dir dies noch nicht ganz klar sein sollte, dann lies aufmerksam diese<br />

Schrift. Die vielfältigen Wege, mit deren Hilfe diese Wahrheit enthüllt wird,<br />

werden dir dabei helfen, deinen Verstand aufzuschließen.<br />

Es ist klug, pro Tag nur eine Seite zu lesen. Die Lehre ist revolutionär, jedoch<br />

wird der voreingenommene Verstand sie nicht ohne weiteres akzeptieren.<br />

Nach dem täglichen Studium meditiere – lass die Botschaft in dich eindringen.<br />

* * *<br />

Ein stets wiederkehrender Ausdruck in dieser Schrift ist „kākatālīya“ – eine<br />

Krähe lässt sich auf einer Kokospalme nieder, und in genau diesem Augenblick<br />

fällt eine reife Kokosnuss herunter. Die beiden nicht miteinander in<br />

Zusammenhang stehenden Ereignisse scheinen auf rätselhafte Art in Zeit und<br />

Raum miteinander in Beziehung zu stehen – trotz ihrer offenbar inexistenten<br />

kausalen Beziehung.<br />

Genauso ist auch das Leben – genauso auch die „Schöpfung“. Der Verstand<br />

jedoch verfängt sich selbst in seiner unaufhörlichen Endlosschleife der logischen<br />

Fragen nach dem “Warum” – er erfindet ein „Warum“ und ein „Wozu“,<br />

um sich selbst zufrieden stellen zu können, wobei er bequemerweise und<br />

fortgesetzt die unbequemen Fragen meidet, die einen intelligenteren Verstand<br />

heimsuchen.<br />

Vāsi«Âha verlangt die direkte Beobachtung des Verstandes und Gemüts, ihrer<br />

Bewegungsformen, ihrer Wahrnehmungen und Begründungen. Er fordert<br />

16


die Untersuchung der angenommenen Ursachen und des daraus folgenden<br />

Schlusses, und er fordert sogar die Untersuchung des Beobachteten und der<br />

Beobachtung sowie deren letztliche Verwirklichung ihrer unteilbaren Einheit<br />

als das unendliche, absolute Bewusstsein.<br />

Darin besteht die Einzigartigkeit dieser Schrift, die sich somit selbst als die<br />

höchste erklärt:<br />

„Außer mit Hilfe dieser Schrift kann niemand das Gute erlangen – jetzt<br />

nicht und nicht in Zukunft. Für die vollkommene Verwirklichung dieser<br />

höchsten Wahrheit sollte man daher eifrig und nachdrücklich nur diese<br />

Schrift studieren.“ (VI, 2:103)<br />

Es ist gewiss die Unterweisung selbst, die erlesen ist – nicht etwa ein Buch<br />

oder ein Weiser. Daher scheut Vāsi«Âha sich nicht zu sagen:<br />

„Falls jemand meinen sollte, dass diese Schrift nicht autoritativ und<br />

menschlichen Ursprungs sei, dann kann er immer noch seine Zuflucht<br />

zu einer anderen Schrift nehmen, die sich mit der Selbsterkenntnis und<br />

der endgültigen Befreiung befasst.“ (VI, 2:175)<br />

Welches auch immer die Schrift sei, und von wem auch immer sie gelehrt<br />

wird, unabhängig von dem von dir gewählten Pfad der Erkenntnis – höre<br />

niemals auf, bis nicht alle psychologische Konditionierung gänzlich aufgehört<br />

hat. Daher ermahnt Vāsi«Âha den Sucher:<br />

„Man sollte jeden Tag wenigstens einen kleinen Teil dieser Schrift studieren.<br />

Ihre Schönheit liegt auch darin, dass der Leser niemals mit seiner<br />

Ratlosigkeit alleingelassen wird – falls etwas nicht sofort klar sein<br />

sollte, so macht das weitere Studium dieser Schrift das Verständnis fester.“<br />

(VI, 2:175)<br />

* * *<br />

17


Gebet<br />

yata÷ sarvÃïi bhūtÃni pratibhÃnti sthitÃni ca<br />

yatrai 'vo' paśamaæ yÃnti tasmai satyÃtmane nama÷ (1)<br />

jñÃtà jñÃñaæ tathà jñeyaæ draşÂà darśana d­śyabhÆ÷<br />

kartà hetu÷ kriyà yasmÃt tasmai jñaptyÃtmane nama÷ (2)<br />

sphuranti sÅkarà yasmÃd Ãnandasyà 'æbare 'vanau<br />

sarveşÃæ jÅvanaæ tasmai brÃhmanandÃtmane nama÷ (3)<br />

Wir verneigen uns vor dieser Wirklichkeit, in welcher alle Elemente und<br />

alle belebten und unbelebten Wesen erstrahlen, als hätten sie eine unabhängige<br />

Existenz, und in welcher sie eine Zeitlang existieren, um wieder mit ihr<br />

zu verschmelzen.<br />

Wir verneigen uns vor diesem Bewusstsein, welches die Quelle der<br />

scheinbar unterschiedlichen Dreiheit des Wissenden, des Wissens und des<br />

Gewussten, des Sehers, des Sehens und des Gesehenen, des Täters, des Tuns<br />

und des Getanen ist.<br />

Wir verneigen uns vor dieser absoluten Seligkeit (dem Ozean der Seligkeit),<br />

die das wahre Leben aller Wesen ist, deren Glück und Wohlergehen aus<br />

einem einzigen Wasserspritzer dieses Ozeans der Seligkeit hervorgegangen<br />

sind.<br />

* * *<br />

18


Teil I: Über die Leidenschaftslosigkeit<br />

SUTĪKå×A, der Weise, fragte den Weisen Agastya:<br />

Oh Weiser, bitte erleuchte mich zu diesem Problem der Befreiung! Welches<br />

von diesen beiden ist der Befreiung förderlich – die Tätigkeit oder die Erkenntnis?<br />

AGASTYA erwiderte:<br />

Wahrlich, so wie Vögel zum Fliegen beider Flügel bedürfen, so führen auch<br />

Tätigkeit und Erkenntnis beide zusammen zum höchsten Ziel der Befreiung.<br />

Nicht jedoch können Tätigkeit oder Erkenntnis allein zur Befreiung führen –<br />

beide zusammen erst bilden das Mittel zur Erlangung der Freiheit. Höre: Ich<br />

erzähle dir nun als Antwort auf deine Frage eine alte Geschichte. Einst lebte<br />

ein heiliger Mann namens Kāruïya, der Sohn des Agniveśya. Nachdem er die<br />

heiligen Schriften gemeistert und ihren Sinn verstanden hatte, wurde der<br />

junge Mann gegenüber dem Leben gleichgültig. Als Agniveśya dies bemerkte,<br />

verlangte er zu wissen, weshalb Kāruïya die Ausführung seiner täglichen<br />

Pflichten aufgegeben habe. Daraufhin erwiderte Kāruïya: „Sagen die Schriften<br />

denn nicht auf der einen Seite, dass man alle ihre Vorschriften bis zum<br />

Ende des Lebens erfüllen sollte, während sie auf der anderen Seite feststellen,<br />

dass die Unsterblichkeit nur durch die Aufgabe aller Tätigkeit erlangt werden<br />

kann? Was soll ich, der ich zwischen diesen beiden Aussagen gefangen bin,<br />

nun tun, oh mein Guru und Vater?“ Nachdem er dies geäußert hatte, verstummte<br />

der junge Mann.<br />

AGNIVEŚYA sagte:<br />

Mein Sohn, höre zu – ich werde eine alte Legende erzählen. Erwäge ihren<br />

Sinn gebührend und handle dann, wie du es für richtig hältst. Vor langer Zeit<br />

saß einmal auf einem Gipfel des Himālayas eine himmlische Nymphe namens<br />

Suruci. Eines Tages sah sie einen Boten Indras, des Königs der Götter, vorbeifliegen.<br />

Von ihr über den Zweck seiner Mission befragt, antwortete dieser wie<br />

folgt: „Ein königlicher Weiser namens Ari«Âanemi hatte sein Königreich seinem<br />

Sohn übergeben und unterzog sich in den Gandhamādana-Bergen atemraubenden<br />

Askesepraktiken. Als er dies bemerkte, bat mich Indra, mich ihm<br />

zusammen mit einer Anzahl von Nymphen zu nähern und den königlichen<br />

Weisen in den Himmel zu geleiten. Der königliche Weise jedoch wünschte<br />

zuvor Auskunft über die Vorteile und Nachteile des Himmels zu erhalten. Ich<br />

erwiderte: Im Himmel erhalten die Besten, die Mittleren und die Geringeren<br />

unter den frommen Sterblichen die ihnen zukommende Belohnung. Sobald<br />

sie die Früchte der ihnen zustehenden Verdienste genossen haben, kehren sie<br />

in die Welt der Sterblichen zurück. Daraufhin lehnte der königliche Weise die<br />

Einladung Indras in den Himmel ab. Indra sandte mich ein weiteres Mal zu<br />

dem königlichen Weisen – diesmal mit der Weisung, dass er vor einer nochmaligen<br />

Ablehnung den Rat des Weisen Vālmīki einholen möge.<br />

I:1<br />

19


I:2<br />

So wurde der königliche Weise dann Vālmīki vorgestellt. Er fragte Vālmīki:<br />

„Worin besteht der beste Weg, von Geburt und Tod frei zu werden?“ Als Antwort<br />

darauf erzählte Vālmīki ihm von dem Dialog zwischen Rāma und<br />

Vāsi«Âha.<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Nur derjenige ist qualifiziert zum Studium dieser Schrift (nämlich des Dialogs<br />

zwischen Rāma und Vāsi«Âha), der so empfindet: „Ich bin gebunden, ich<br />

möchte frei werden“ und der weder völlig unwissend noch erleuchtet ist.<br />

Derjenige, welcher mit Bedacht die in dieser Schrift vorgeschlagenen Mittel<br />

zur Befreiung, welche in der Form von Erzählungen mitgeteilt werden, erwägt,<br />

wird ganz gewiss die Freiheit von der Wiederholung des Lebens (von<br />

Geburt und Tod) erlangen.<br />

Ich habe die Geschichte von Rāma schon früher verfasst und sie auch meinem<br />

geliebten Schüler Bharadvāja mitgeteilt. Als wir einmal gemeinsam zum<br />

Berg Meru gewandert sind, hat Bharadvāja sie Brahmā, dem Schöpfer, weitererzählt.<br />

Dieser war über sie so hoch erfreut, dass er Bharadvāja einen<br />

Wunsch gewährte. Bharadvāja wünschte sich, dass „alle menschlichen Wesen<br />

frei vom Leiden sein mögen“ und bat Brahmā, den besten Weg aufzuzeigen,<br />

um dieses Ziel zu erreichen.<br />

Brahmā sagte dann zu Bharadvāja: „Suche den Weisen Vālmīki auf und bitte<br />

ihn darum, die erhabene Geschichte von Rāma zu erzählen, damit der Zuhörer<br />

auf diese Weise frei von der Dunkelheit der Unwissenheit werde.“ Noch<br />

nicht befriedigt, kam Brahmā, begleitet von dem Weisen Bharadvāja, zu meiner<br />

Einsiedelei.<br />

Nachdem er meine Verehrung entgegengenommen hatte, sagte Brahmā zu<br />

mir: „Oh Weiser, deine Geschichte von Rāma soll das Floß sein, mit dem die<br />

Menschen den Ozean von saæsāra (der Wiederholung von Geburt und Tod)<br />

überqueren. Erzähle diese Geschichte daher von Anfang an bis zu ihrem<br />

glücklichen Ende.“ Nachdem er so gesprochen hatte, verschwand der Schöpfer.<br />

Durch das plötzliche Verschwinden von Brahmā verwirrt, bat ich den Weisen<br />

Bharadvāja mir zu erklären, was Brahmā gerade gesagt hatte. Bharadvāja<br />

wiederholte Brahmā's Worte: „Brahmā wünscht, dass du die Geschichte von<br />

Rāma auf eine Weise darlegen möchtest, dass sie allen Wesen ermöglicht, den<br />

Kummer hinter sich zu lassen. Auch ich bitte dich, oh Weiser – teile mir bitte<br />

in allen Einzelheiten mit, wie Rāma, Lak«maïa und die anderen Brüder sich<br />

selbst vom Kummer befreien konnten.“<br />

Daraufhin enthüllte ich Bharadvāja das Geheimnis der Befreiung von Rāma,<br />

Lak«maïa und den anderen Brüdern wie auch deren Eltern und den Mitgliedern<br />

des königlichen Hofes. Und ich fügte für Bharadvāja noch hinzu: „Mein<br />

Sohn, wenn du wie diese lebst, dann wirst auch du hier und jetzt frei vom<br />

Kummer werden.“<br />

VùLMýKI fuhr dann fort:<br />

I:3<br />

20


I:4, 5, 6<br />

Diese Welterscheinung ist nichts als eine Täuschung, so wie die Bläue des<br />

Himmels eine optische Täuschung ist. Ich halte es für ratsam, dem Verstand<br />

nicht zu erlauben, sich länger mit ihr zu beschäftigen, sondern sie einfach zu<br />

ignorieren. Solange in einem Menschen nicht die Überzeugung wächst, dass<br />

diese Welterscheinung keinerlei Wirklichkeit besitzt, ist weder die Freiheit<br />

vom Leiden noch die Verwirklichung der eigenen wahren Natur möglich.<br />

Diese Überzeugung aber wird wachsen, wenn man eifrig diese Schrift studiert.<br />

Schließlich wird man zu der festen Überzeugung gelangen, dass diese<br />

objektive Welt nichts als eine Verwechslung des Wirklichen mit dem Unwirklichen<br />

darstellt. In jemandem, der diese Schrift nicht studiert, wird die wahre<br />

Erkenntnis nicht aufsteigen – auch nicht in Millionen von Jahren.<br />

Mok«a oder Befreiung besteht in der totalen Aufgabe aller vasana oder<br />

mentalen Konditionierung, und zwar ohne den geringsten Vorbehalt. Die<br />

mentale Konditionierung besteht aus zwei Arten – der reinen und der unreinen.<br />

Die unreine ist die Ursache der Geburten, während die reine von der<br />

Geburt befreit. Die unreine hat die Natur der Unwissenheit und des Ich-<br />

Sinnes, die seit jeher die Samenursachen für den Kreislauf der Wiedergeburten<br />

darstellen. Werden dagegen diese Samenursachen aufgegeben, dann wird<br />

die mentale Konditionierung, die nichts anderes als die Aufrechterhaltung<br />

des körperlichen Lebens bezweckt, von reiner Natur sein. Eine mentale Konditionierung<br />

dieser Art existiert sogar noch in jenen, die noch zu Lebzeiten<br />

befreit wurden. Sie bewirkt keine Wiedergeburt, weil sie nur ein Überbleibsel<br />

aus der Vergangenheit ist, das die gegenwärtig bestehenden Absichten nicht<br />

beeinflusst.<br />

Ich werde dir nun davon berichten, wie Rāma ein erleuchtetes Leben als<br />

befreiter Weiser führte. Wenn du diese Geschichte kennst, wirst du von allen<br />

Missverständnissen betreffend das Altern und den Tod befreit werden.<br />

Nach seiner Rückkehr aus der Einsiedelei seines Lehrers ging Rāma im Palast<br />

seines Vaters verschiedenen Beschäftigungen nach. Da entstand in ihm<br />

der Wunsch, durch das ganze Land zu reisen und heilige Pilgerorte zu besuchen.<br />

Rāma ging zu seinem Vater und bat um die Erlaubnis, selbst eine Pilgerreise<br />

unternehmen zu dürfen. Der König bestimmte einen günstigen Tag für<br />

den Beginn der Pilgerreise, und nachdem Rāma die liebevollen Segenswünsche<br />

der Ältesten der Familie empfangen hatte, reiste er ab.<br />

Zusammen mit seinen Brüdern durchreiste Rāma das ganze Land südlich<br />

der Himālayas. Schließlich kehrte er zur großen Freude seiner Landsleute in<br />

die Hauptstadt zurück.<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Beim Betreten des Palastes verbeugte Rāma sich demütig vor seinem Vater,<br />

dem Weisen Vāsi«Âha und den anderen Ältesten und heiligen Männern. Die<br />

ganze Stadt Ayodhyā war zu Ehren der Rückkehr Rāma‘s von seiner Pilgerreise<br />

für acht Tage festlich geschmückt.<br />

21


Nun folgte eine Zeit, in der Rāma im Palast lebend seinen täglichen Pflichten<br />

nachging. Jedoch schon sehr bald machte sich in ihm ein tiefer Wandel<br />

bemerkbar. Er wurde dünner und schmächtiger, blasser und schwächer. König<br />

Daśaratha war über diesen plötzlichen und gänzlich unerwarteten Wechsel<br />

im Erscheinen und Verhalten seines geliebten Sohns besorgt. Wann immer er<br />

Rāma zu dessen Gesundheit befragte, erwiderte dieser, dass es keinen Grund<br />

zur Besorgnis gäbe. Und wenn Daśaratha Rāma fragte: „Geliebter Sohn, was<br />

beschäftigt dich?“, da antwortete Rāma höflich: „Nichts, Vater“ und verstummte.<br />

Schließlich wandte sich Daśaratha an den Weisen Vāsi«Âha, um von diesem<br />

eine Antwort über das rätselhafte Verhalten des Sohnes zu erhalten. Der<br />

Weise antwortete zweideutig: „Gewiss gibt es einen Grund, weshalb Rāma<br />

sich auf diese Weise verhält. So wie sich in dieser Welt ohne Grund keine<br />

größeren Veränderungen ergeben, bevor nicht die dafür verantwortliche<br />

Ursache (bzw. die kosmischen Elemente) in die Entstehung gekommen ist, so<br />

finden in den Edelmütigen auch Wandel wie Ärger, Verzagtheit und Freude<br />

nicht grundlos statt.“ Daśaratha drang nicht weiter in ihn.<br />

Bald nach diesem Gespräch kam der überall berühmte Weise Viśvāmitra<br />

zum Palast. Als der König über den heiligen Besuch unterrichtet wurde, beeilte<br />

er sich, den Weisen zu begrüßen. Daśaratha sagte: „Willkommen, oh willkommen,<br />

heiliger Weiser! Deine Ankunft in meinem bescheidenen Haus erfreut<br />

mich sehr. Sie ist mir so lieb wie das Erblicken der Welt für den blinden<br />

Mann, der Regen für die ausgedörrte Erde, der Sohn für die unfruchtbare<br />

Frau, die Wiederaufstehung des Totgeglaubten und der Rückgewinn verlorengegangenen<br />

Reichtums. Oh Weiser, sage mir – was kann ich für dich tun?<br />

Sei versichert – aus welchem Wunsche heraus du zu mir gekommen sein<br />

magst, diesen Wunsch betrachte bereits als erfüllt. Du bist die Gottheit, die<br />

ich verehre. Ich werde tun, was immer du von mir verlangst.“<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Viśvāmitra war über Daśaratha's Worte erfreut und begann damit, diesem<br />

den Zweck seines Kommens zu enthüllen. Er sagte zum König:<br />

„Oh König! Ich brauche deine Hilfe bei der Durchführung eines religiösen<br />

Rituals, dem ich mich verpflichtet habe. Wann immer ich dieses Ritual durchzuführen<br />

beginne, dringen die Dämonen, die Gesellen von Khara und DÆ«aïa,<br />

in den heiligen Ort ein und entweihen ihn. Da ich unter dem Gebot des Rituals<br />

stehe, kann ich sie nicht verfluchen.<br />

Du kannst mir helfen. Dein Sohn Rāma kann leicht mit diesen Dämonen fertig<br />

werden. Als Gegenleistung für diese Hilfe werde ich ihm vielfältige Gunstbeweise<br />

zukommen lassen, die dir vortrefflichen Segen bringen werden.<br />

Deine Liebe zu deinem Sohn sollte nicht deine Treue zur Pflicht in Frage<br />

stellen. In dieser Welt gibt es für die Edelmütigen kein Geschenk, das ihre<br />

Mittel übersteigt.<br />

I:7, 8, 9<br />

22


I:10<br />

Im selben Moment, in dem du ‚ja‘ sagst, betrachte ich diese Dämonen als<br />

getötet. Denn ich weiß, wer Rāma ist. Ebenso wissen dies Vāsi«Âha und die<br />

anderen Heiligen an diesem Hof. Dulde keinen weiteren Aufschub, oh König –<br />

sende mir Rāma ohne weitere Verzögerung.“<br />

Nachdem er diese sehr unwillkommene Botschaft vernommen hatte, verblieb<br />

der König eine Weile stumm und nachdenklich. Schließlich antwortete<br />

er: „Oh Weiser, Rāma ist noch keine sechzehn Jahre alt. Für einen solchen<br />

Kampf ist er nicht reif genug. Er hat noch niemals an einem Kampf teilgenommen<br />

und kennt nichts als das, was sich in den innersten Gemächern<br />

dieses Palastes abspielt. Befiehl mir stattdessen, dich zu begleiten! Befiehl,<br />

dass meine große Armee dich begleitet, um diese Dämonen auszulöschen!<br />

Aber von Rāma kann ich mich nicht trennen. Ist es nicht natürlich für alle<br />

Lebewesen, ihre Jungen zu lieben? Unternehmen denn nicht auch die weisen<br />

Männer außergewöhnliche Handlungen aus Liebe zu ihren Kindern? Und<br />

geben die Menschen nicht lieber all ihr Glück, ihren Wohlstand und ihre Gatten<br />

als ihre Kinder auf? Nein, von Rāma vermag ich mich nicht zu trennen.<br />

Ich habe von dem mächtigen Dämon Rāvaïa gehört. Sollte er derjenige sein,<br />

der die Störung deines Rituals verursacht? In diesem Falle kann nichts dir<br />

helfen, denn mir ist bekannt, dass gegen ihn sogar die Götter machtlos sind.<br />

Immer wieder einmal werden mächtige Wesen dieser Art auf der Welt geboren,<br />

und wenn ihre Zeit gekommen ist, verlassen sie die Bühne des Lebens<br />

wieder.“<br />

Viśvāmitra war zornig. Als Vāsi«Âha dies bemerkte, griff er ein. Er versuchte<br />

den König davon zu überzeugen, sein Versprechen nicht zurückzuziehen,<br />

sondern Rāma dem Weisen Viśvāmitra zur Seite zu geben. „Oh König! Es ist<br />

deiner unwürdig, ein Versprechen zu brechen. Ein König soll stets das Vorbild<br />

rechtschaffenen Verhaltens sein. Rāma ist sicher in der Gesellschaft<br />

Viśvāmitra’s, der außerordentlich mächtig ist und über zahllose unbesiegbare<br />

Waffen verfügt.“<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Um den Wünschen des Gurus Vāsi«Âha nachzukommen, befahl König<br />

Daśaratha nun einem Diener, Rāma herbeizuholen. Der Diener kehrte zurück<br />

und meldete, dass Rāma in einer Minute erscheinen würde. Er fügte hinzu:<br />

„Der Prinz scheint niedergeschlagen zu sein und Gesellschaft meiden zu wollen.”<br />

Bestürzt durch diese Aussage wandte sich Daśaratha an Rāma's Kammerdiener<br />

und verlangte Auskunft über Rāma's Gemüts- und Gesundheitsverfassung.<br />

Der Kammerdiener war sichtlich betrübt und sagte:<br />

„Oh Herr, seit seiner Rückkehr von der Pilgerreise ist im Prinzen ein großer<br />

Wandel vorgefallen. Er scheint sich nicht einmal mehr für das reinigende Bad,<br />

die täglichen Gebete und die Verehrung der Götter zu interessieren. Er empfindet<br />

kein Vergnügen mehr an der Gesellschaft der Menschen in den Gemächern<br />

des Palastes. Juwelen und kostbaren Steinen bedeuten ihm nichts mehr.<br />

23


Auch wenn ihm schöne und erfreuliche Objekte präsentiert werden, betrachtet<br />

er sie nur mit traurigen, gleichgültigen Augen. Er weist sogar die Palasttänzer<br />

zurück – er bezeichnet sie als Quälgeister! Trübsinnig und mechanisch<br />

vollzieht er die Handlungen des Essens, Spazierengehens, Ruhens, Badens<br />

und Sitzens, wie jemand, der taub und stumm ist. Oft murmelt er vor sich hin:<br />

‚Was ist der Sinn von Wohlstand und Reichtum, was ist der Sinn von Heim<br />

und Glück? All dies ist unwirklich.‘ Die meiste Zeit ist er stumm und unbeteiligt<br />

bei den Unterhaltungen. Er zieht stets das Alleinsein vor. Die ganze Zeit<br />

über ist er in seine eigenen Gedanken versunken. Weder wissen wir, was<br />

unseren Prinzen überkommen hat noch über was nachsinnt oder was er<br />

sonst hier suchen mag. Tag für Tag magert er weiter ab.<br />

Immer wieder sagt er zu sich selbst: ‚Oh weh! Wir vertun unser Leben auf<br />

die unterschiedlichste Art und Weise, anstatt nach dem Höchsten zu streben!<br />

Die Leute beklagen laut all ihr Leiden und ihr Elend, aber niemand vermag<br />

sich ernstlich von den Ursachen seiner Schmerzen und seines Kummers<br />

abzuwenden!‘ Wir, seine ergebenen Diener, die all dies jeden Tag hören und<br />

sehen, sind darüber außerordentlich betrübt. Wir wissen nicht, was wir tun<br />

sollen. Er ist ohne jede Hoffnung und ohne jeden Wunsch. Er ist an nichts<br />

gebunden und von nichts abhängig. Er ist weder verblendet noch verrückt,<br />

aber er ist auch nicht erleuchtet. Manchmal jedoch scheint er von dem Gedanken<br />

der Selbsttötung überwältigt zu werden – angetrieben von Gefühlen<br />

der Verzagtheit: ‚Was ist der Nutzen von Reichtum, Müttern und Verwandten,<br />

was ist der Nutzen des Königtums, und was ist der Sinn aller Tätigkeit hier in<br />

dieser Welt?‘ Oh Herr, nur du kannst das Hilfsmittel gegen diese Verfassung<br />

des Prinzen finden.“<br />

VIŚVùMITRA sagte:<br />

Wenn es so steht, dann möge Rāma hierher kommen. Seine Verfassung ist<br />

nicht das Ergebnis eines Wahns, sondern sie ist voll von Weisheit und Leidenschaftslosigkeit<br />

– sie zielt auf die Erleuchtung. Bringt ihn zu uns – wir werden<br />

seine Mutlosigkeit vertreiben.<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Und so forderte der König den Kammerdiener auf, Rāma unverzüglich zum<br />

Hof zu bringen. Währenddessen hatte Rāma sich bereits auf das Treffen mit<br />

seinem Vater vorbereitet. Schon von weitem erkannte und grüßte er seinen<br />

Vater und die Weisen. Diese wiederum bemerkten, wie dieses noch jugendliche<br />

Antlitz schon vom Frieden der Reife leuchtete. Er verneigte sich zu Füßen<br />

des Königs, der ihn umarmte und zu sich emporhob. Er sprach zu ihm: „Was<br />

macht dich so traurig, mein Sohn? Trübsinn ist eine offene Einladung für<br />

zahllose Übel.“ Die Weisen Vāsi«Âha und Viśvāmitra stimmten dem König zu.<br />

RùMA erwiderte:<br />

Heiliger Herr, ich werde deine Fragen pflichtschuldigst beantworten. Ich<br />

wuchs glücklich im Hause meines Vaters auf; ich wurde von würdigen Lehrern<br />

unterrichtet. Kürzlich unternahm ich eine Pilgerreise. Während dieser<br />

I:11, 12<br />

24


Zeit ergriffen mich gewisse Gedanken, die mir alle Hoffnungen in dieser Welt<br />

raubten. Mein Herz begann Fragen zu stellen: Was nennen die Menschen<br />

„Glück” und wie kann es in dieser Welt der stets wechselnden Objekte jemals<br />

erlangt werden? Alle Wesen in dieser Welt werden geboren, um zu sterben<br />

und sind dem Tode unterworfen, nur um wiedergeboren zu werden! In all<br />

diesen vergänglichen Phänomenen, die die Wurzeln von Leiden und Sünde<br />

darstellen, vermag ich keinerlei Sinn zu erblicken. Wesen ohne irgendwelche<br />

Beziehung treffen aufeinander und das Gemüt erfindet dann eine Verbindung<br />

zwischen ihnen. Alles in dieser Welt hängt vom Gemüt ab, von der mentalen<br />

Verfassung. Wird es aber untersucht, erweist sich dasselbe Gemüt als unwirklich!<br />

Trotzdem lassen wir uns von ihm verhexen. Wir scheinen hinter einer<br />

Fata Morgana in der Wüste herzulaufen, um unseren Durst zu stillen!<br />

Herr, gewiss sind wir keine an einen Herrn verkaufte Sklaven, doch leben<br />

wir ein Leben in Sklaverei und ohne jegliche Freiheit. Unwissend gegenüber<br />

der Wahrheit scheinen wir ziellos in diesem dichten Urwald, welcher Welt<br />

genannt wird, umherzuwandern. Was ist denn diese Welt? Was ist es, das<br />

wird, wächst und stirbt? Wie kann all dieses Leiden beendet werden? Mein<br />

Herz blutet vor Schmerz, obschon ich aus Rücksicht auf die Gefühle meiner<br />

Gefährten keine Tränen vergieße.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Gleichermaßen nutzlos, oh Weiser, ist der Reichtum, der nur die Unwissenden<br />

verführt. Unstet und wechselhaft, verursacht Reichtum nichts als zahllose<br />

Sorgen und erzeugt ein unstillbares Verlangen nach immer mehr. Der<br />

Reichtum ist ohne Ansehen der Person, denn sowohl die Guten wie die<br />

Schlechten können reich werden. Aber die Menschen sind nur so lange gut,<br />

mitfühlend und freundlich, so lange ihre Herzen nicht durch die leidenschaftliche<br />

Jagd nach Wohlstand verhärtet sind. Der Reichtum verdirbt sogar die<br />

Herzen von weisen Gelehrten, von Helden, von ehrenhaften Menschen und<br />

von freundlichen und geschätzten Personen. Reichtum und Glück vertragen<br />

einander nicht. Selten gibt es einen wohlhabenden Mann, der keine Feinde<br />

und Gegner hat, die seinem Ruf zu schaden trachten. Für den Lotos der rechten<br />

Handlung ist der Reichtum die finstere Nacht, für den weißen Lotos des<br />

Kummers ist er der Mondschein, für die Leuchte der klaren Einsicht ist er der<br />

Wind, für die Welle der Feindschaft ist er die Flut, für die Wolke der Verwirrtheit<br />

ist er der günstige Wind und für das Gift der Trübsinns ist er der beschleunigende<br />

Wirkstoff. Er ist wie die Schlange aus üblen Gedanken, er fügt<br />

der Qual die Furcht hinzu, er ist für den Sehnsüchtigen nach der Leidenschaftslosigkeit<br />

wie der bitterkalte Schneefall, er ist der Einbruch der Nacht<br />

für die Eule der bösen Wünsche, er ist der Niedergang für den Mond der<br />

Weisheit und in seiner Gegenwart schrumpft die gute Natur des Menschen zu<br />

einem Nichts zusammen.<br />

Wahrhaftig – der Reichtum sucht denjenigen, der bereits im Griff des Todes<br />

ist.<br />

I:13, 14<br />

25


I:15, 16<br />

Und so ist auch diese Lebensspanne, oh Weiser. Sie ist so kurzlebig wie der<br />

an einem Blatt hängende Wassertropfen. Die Lebensspanne ist fruchtbar nur<br />

für diejenigen, die Selbsterkenntnis haben. Wir mögen den Wind umfassen,<br />

den Raum zerstückeln oder Wellen zu einer Girlande zusammenbinden, aber<br />

wir können unsere Zuversicht nicht an diese Lebensspanne heften. Wie eifrig<br />

versucht der Mensch, das Alter hinauszuzögern und wie viele neue Sorgen<br />

sammelt er dann, und wie sehr verlängert er die Zeit seines Leidens! Nur<br />

derjenige lebt wirklich, der nach Selbsterkenntnis strebt; nur dieser allein<br />

weiß, was wirklich wichtig ist in dieser Welt und wie er der Wiedergeburt ein<br />

Ende setzen kann. Alle anderen hier leben wie Esel. Für den Unweisen ist die<br />

Kenntnis der Schriften nur eine Last; für den, der voll von Wünschen ist, ist<br />

die Weisheit eine Bürde; für den Ruhelosen ist schon sein eigenes Gemüt eine<br />

Beschwernis, und für denjenigen, der ohne Selbsterkenntnis ist, ist der Körper<br />

(d. h. die Lebensspanne) eine Qual.<br />

Ohne Pause nagt die Ratte der Zeit an der Lebenspanne des Menschen. Die<br />

Termite der Krankheit (frisst) zerstört die vitalen Kräfte des Lebewesens. So<br />

wie die Katze, die die Maus jagt, sie wachsam und sprungbereit beobachtet,<br />

so wendet der Tod sein Auge nicht ab von dieser Lebenspanne.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Heiliger Herr, ich bin verwirrt und voll Angst, wenn ich darüber nachdenke,<br />

wie der furchtbare Feind der Weisheit ins Leben tritt, der als Ich-Sinn bekannt<br />

ist. Er entsteht in der Finsternis der Unwissenheit und gedeiht in ihr. Er<br />

erzeugt endlos sündige Neigungen und Handlungen. Ganz gewiss dreht sich<br />

sämtliches Leiden nur um den Ich-Sinn, denn es ist das „Ich”, das leidet. Der<br />

Ich-Sinn ist die einzige Ursache für jedwede mentale Verwirrtheit. Ich betrachte<br />

den Ich-Sinn als meine schlimmste Krankheit! Indem er das Netz der<br />

wohlgefälligen Objekte des Vergnügens ausbreitet, führt der Ich-Sinn die<br />

Lebewesen in die Falle. Gewiss sind alle die entsetzlichen Nöte dieser Welt<br />

aus dem Ich-Sinn geboren. Der Ich-Sinn verdunkelt die Selbstbeherrschung,<br />

zerstört die Tugend und den Gleichmut. Ich möchte nichts anderes, als die<br />

Wahrnehmung des Ich-Sinns: „ich bin Rāma” und alle Wünsche aufgeben und<br />

nur noch im Selbst ruhen. Ich erkenne, dass alles umsonst ist, was ich mit der<br />

Vorstellung des Ich-Sinns unternommen habe – der Nicht-Ich-Sinn allein ist<br />

die Wahrheit. Wenn ich unter dem Einfluss des Ich-Sinns bin, bin ich unglücklich<br />

– bin ich frei von ihm, bin ich glücklich. Der Ich-Sinn fördert das Verlangen<br />

– ohne dieses stirbt es ab. Es ist allein der Ich-Sinn, der ohne Vernunft<br />

und Verstand ist; der das Netz des Familienlebens und der sozialen Beziehungen<br />

ausgeworfen hat, um die unvorsichtige Seele einzufangen. Ich glaube,<br />

ich bin frei vom Ich-Sinn, und doch fühle ich mich noch elend. Bitte, erleuchte<br />

mich!<br />

Ohne die Gnade, die der heilige Dienst am Weisen gewährt, streift der unreine<br />

Verstand ruhelos umher wie der Wind. Unzufrieden mit allem, was er<br />

erlangt, nimmt seine Rastlosigkeit Tag für Tag zu. Das Sieb kann nie mit Wasser<br />

gefüllt werden und das Gemüt erlangt niemals den Zustand der Erfüllung,<br />

26


gleichgültig wie viele weltliche Objekte angehäuft werden. Der Verstand<br />

flattert stets in allen Himmelsrichtungen umher, ist aber unfähig, dort das<br />

Glück zu finden. Ohne die großen Leiden zu bedenken, die es einst in der<br />

Hölle erdulden muss, sucht das Gemüt hier nach dem Vergnügen und findet<br />

es nicht. Wie der Löwe im Käfig ist das Gemüt ruhelos. Es hat seine Freiheit<br />

verloren und ist seiner gegenwärtigen Lage überdrüssig. Oh Heiliger – ich bin<br />

von den Fesseln des Verlangens an das Netz gebunden, welches das Gemüt<br />

ausgelegt hat. So wie die dahineilenden Gewässer des Flusses die Bäume am<br />

Ufer entwurzeln, so hat das rastlose Gemüt mein ganzes Sein entwurzelt. Wie<br />

ein trockenes Blatt werde ich vom Wind meines Gemüts umhergetrieben.<br />

Nirgendwo lässt es mich ruhen. Es ist nur dieses Gemüt, welches die Quelle<br />

aller Objekte in der Welt ist. Diese drei Welten existieren nur aufgrund von<br />

Gedankentätigkeit. Wenn das Gemüt verschwindet, verschwindet auch diese<br />

Welt.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Wahrhaftig ist es die in das Verlangen eingekleidete Gedankentätigkeit, die<br />

in der dadurch verursachten Finsternis der Unwissenheit diese zahllosen<br />

Irrtümer entstehen lässt. Dies Verlangen dörrt die edlen und guten Eigenschaften<br />

des Gemüts und Herzens wie die Wärme und die Freundlichkeit des<br />

Charakters aus und macht mich hart und grausam. In dieser Finsternis wirbelt<br />

das Verlangen in seinen verschiedenen Gestalten wie ein Kobold umher.<br />

Obgleich ich mir verschiedene Methoden zur Beherrschung dieses Verlangens<br />

zu Eigen gemacht habe, überwältigt es mich im Nu von neuem und treibt<br />

mich hilflos vor sich her, wie der Sturm den Strohhalm mitreißt. Was immer<br />

ich mir durch die Pflege der Leidenschaftslosigkeit und ähnlicher Qualitäten<br />

erhoffe – das Verlangen vernichtet diese Hoffnung rascher, als eine Maus<br />

einen Faden durchbeißt. So bin ich hilflos gefangen im sich drehenden Rad<br />

des Verlangens. Wie der im Netz gefangene Vogel sind wir, obwohl wir Flügel<br />

besitzen, unfähig, unser Ziel zu erreichen oder Zuflucht im sicheren Hafen der<br />

Selbsterkenntnis zu finden. Auch kann dieses Verlangen niemals gestillt werden,<br />

sogar dann nicht, wenn ich Nektar in großen Zügen trinken würde. Die<br />

Besonderheit dieses Verlangens besteht darin, dass es keinerlei Ziel hat:<br />

Heute wirft es mich in diese Richtung und im nächsten Moment schon befinde<br />

ich mich gänzlich woanders – wie ein durchgegangenes Pferd. Es breitet<br />

vor unseren Augen ein riesiges Netz bestehend aus dem Sohn, dem Freund,<br />

der Ehefrau und anderen Verwandten aus, in dem wir uns verfangen.<br />

Obgleich ich mich als einen Held betrachte, macht dieses Verlangen aus mir<br />

einen furchtsamen Feigling. Obgleich ich Augen habe zu sehen, macht es mich<br />

blind. Obgleich ich eine freudige Natur habe, macht es mich elend. Es ist wie<br />

ein furchtbarer Kobold. Es ist dieser schreckliche Kobold namens Verlangen,<br />

der für Bindung und Unglück verantwortlich ist. Er bricht das Herz des Menschen<br />

und sät die Saat der Täuschung in ihm. Gefangen von diesem Kobold, ist<br />

der Mensch sogar unfähig, die Freuden zu genießen, die sich in seiner Reichweite<br />

befinden. Obschon das Verlangen dem Anschein nach zum Glück führt,<br />

I:17<br />

27


I:18<br />

führt es weder dorthin noch zu einem sinnvollen Leben; im Gegenteil – es<br />

beschwört nur nutzloses Bemühen herauf und bringt in unser Leben allerlei<br />

übeldeutende Zeichen. Sobald es die Bühne dieses Lebens betritt, auf der<br />

vielerlei glückliche und unglückliche Begebenheiten sich abspielen, so ist<br />

doch das Verlangen wie eine alternde Diva unfähig, Gutes und Edles zu bewirken;<br />

im Gegenteil erzeugt es auf Schritt und Tritt Misslichkeit und Niederlage.<br />

Und doch gibt es seinen Tanz auf dieser Bühne nicht auf!<br />

Das Verlangen steigt jetzt in die Höhe des Himmels auf und im nächsten<br />

Moment sieht man es in den Tiefen der unteren Welten. Es ist stets rastlos. Es<br />

gründet auf nichts anderem als auf der Leere des Gemüts. In einem Moment<br />

leuchtet im Gemüt das Licht der Weisheit auf, aber schon im nächsten Moment<br />

herrscht nichts als Verwirrung. Es ist ein Wunder, dass die Weisen diese<br />

Not mit dem Schwert der Selbsterkenntnis zu durchhauen vermögen.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Auch dieser bedauernswerte Körper, der aus Venen, Arterien und Nerven<br />

besteht, ist eine Quelle der Schmerzen. Obwohl leblos, täuscht er Intelligenz<br />

vor. So erzeugt er Verwirrung und man weiß nicht, ob er fühlend oder nichtfühlend<br />

ist. Zufrieden schon mit der leisesten Erleichterung und bestürzt<br />

durch die geringste Widerwärtigkeit ist dieser Körper in der Tat verachtenswert.<br />

Den Körper vermag ich nur mit einem Baum zu vergleichen: Die Äste sind<br />

die Arme, der Stamm ist der Rumpf, die Löcher sind die Augen, die Früchte<br />

sind der Kopf, und die Blätter stehen für die zahllosen Krankheiten. Er ist<br />

nichts als ein Grab für die Lebewesen. Wer kann schon mit vollem Recht<br />

behaupten, dass der Körper sein eigen sei? Seine Hoffnung auf ihn zu setzen<br />

oder seine Verzweiflung mit ihm in Verbindung zu bringen, ist sinnlos. Er ist<br />

nichts als ein Floß, mit dem man diesen Ozean aus Geburt und Tod überquert<br />

– niemand sollte ihn für sein eigenes Selbst halten.<br />

Dieser Baum, der der Körper ist, wächst in einem Wald, der saæsāra (Kreislauf<br />

der Wiedergeburt) genannt wird. In ihm spielt der ruhelose Affe (das<br />

Gemüt); er ist die Wohnstätte der Grillen (der Sorgen); er wird beständig von<br />

den Insekten (der endlosen Leiden)gefressen; er beherbergt die giftige<br />

Schlange (des Verlangens), und die wilde Krähe (des Zorns) bedrängt ihn. Auf<br />

ihm wachsen die Blumen (des Gelächters) und die Früchte von Gut und Böse.<br />

Er scheint lebendig zu sein, und wird doch nur durch den Wind (der Lebenskraft)<br />

bewegt. Er bietet Wohnung den Vögeln (der Sinne) und ist der Unterstand<br />

der Reisenden (Lust und Verlangen), denn er bietet ihnen den Schatten<br />

des Vergnügens. Auf ihm sitzt der riesenhafte Geier (des Ich-Sinns) und er ist<br />

gänzlich hohl und leer. Ganz gewiss kann er keinerlei Glücksverheißung darstellen.<br />

Ob er lange lebt oder in kurzer Zeit abstirbt – nutzlos ist er in jedem<br />

Fall. Er ist aus Fleisch und Blut zusammengesetzt und Alter und Tod unterworfen.<br />

Ich schätze ihn nicht. Er ist im Übermaß angefüllt mit unreinen Substanzen<br />

und von der Unwissenheit geschlagen. Wie könnte er jemals meine<br />

Hoffnungen erfüllen?<br />

28


I:19<br />

Dieser Körper ist die Heimat der Krankheiten, ein Feld der mentalen Verwirrtheit<br />

und der wechselhaften Gefühle und Bewusstseinszustände. Ich<br />

schätze ihn nicht. Was sind Wohlstand, Königtum und Körper? Alle diese<br />

werden gnadenlos vom Zahn der Zeit (Tod) zernagt. Zum Zeitpunkt des Todes<br />

gibt dieser undankbare Körper die Seele auf, die in ihm lebte und ihn beschützt<br />

hat. Welche Hoffnung könnte ich jemals in ihn setzen? Schamlos<br />

stürzt er sich wieder und wieder in dieselben (schädlichen) Handlungen! Sein<br />

einziger Zweck besteht anscheinend darin, am Ende auf dem Scheiterhaufen<br />

zu verbrennen. Unbeirrt durch Alter und Tod, die den Reichen wie den Armen<br />

treffen, sucht er nach Wohlstand und Macht. Schande, Schande über diejenigen,<br />

die an diesen Körper gebunden sind – trunken vom Wein der Unwissenheit!<br />

Schande über diejenigen, die an diese Welt gefesselt sind!<br />

RùMA sagte:<br />

Sogar die Kindheit, der Teil des Lebens, den die Leute irrigerweise als erfreulich<br />

und glücklich betrachten, ist voll von Kummer, oh Weiser. Hilflosigkeit,<br />

Missgeschicke, Verlangen, Sprachlosigkeit, Stummsein, völlige Torheit,<br />

Verspieltheit, Unbeständigkeit und Schwäche – all das ist in der Kindheit<br />

enthalten. Das Kind ist leicht verletzt, schnell erregbar bis zum Zorn und<br />

bricht rasch in Tränen aus. Wahrhaftig lässt sich mit Gewissheit behaupten,<br />

dass die Furcht des Kindes schrecklicher als die einer sterbenden Person,<br />

eines alternden Mannes, eines kranken Menschen oder irgendeines anderen<br />

Erwachsenen ist. Denn in der Kindheit lebt man wie ein Tier, das gänzlich von<br />

der Gnade anderer abhängig ist.<br />

Das Kind ist schutzlos den zahllosen Ereignissen rund herum ausgeliefert –<br />

sie bestürzen das Kind, verwirren und verwickeln es in verschiedene Wahnvorstellungen<br />

und Ängste. Das Kind ist beeindruckbar und leicht von den<br />

Übelwollenden verführbar. So ist das Kind auf vielfältige Weise dem Willen<br />

und der Bestrafung seiner Eltern unterworfen. Die Kindheit scheint eine Zeit<br />

der Unterwerfung und nichts anderes zu sein!<br />

Obgleich das Kind reine Unschuld zu sein scheint, besteht die Wahrheit darin,<br />

dass es alle Arten von Defekten, sündigen Neigungen und neurotischem<br />

Verhalten verborgen und schlummernd in sich beherbergt, so wie eine Eule<br />

am Tage versteckt in einem dunklen Loch wohnt. Oh Weiser – ich bedauere<br />

die Menschen, die törichterweise diese Kindheit als eine glückliche Lebensperiode<br />

ansehen!<br />

Welches Leiden ist schlimmer als ein ruheloses Gemüt? Und ist nicht das<br />

Gemüt des Kindes von extremer Ruhelosigkeit? Wenn das Kind nicht jeden<br />

Tag etwas Neues erfährt, wird es unglücklich. Tatsächlich scheinen Weinen<br />

und Jammern die Hauptbeschäftigung jedes Kindes zu sein. Bekommt das<br />

Kind nicht, was es sich wünscht, dann scheint sein Herz zu brechen.<br />

Geht das Kind dann in die Schule, empfängt es aus der Hand seiner Lehrer<br />

die Bestrafungen – all dies vergrößert seine Qualen nur noch.<br />

29


Schreit das Kind, dann versprechen ihm die Eltern das Blaue vom Himmel<br />

herunter, um es zu beschwichtigen. Von da an beginnt das Kind die Welt zu<br />

schätzen und die Dinge darin zu begehren. Die Eltern sagen: „Ich gebe dir den<br />

Mond für ein Spielzeug”, und das Kind, ihren Worten glaubend, denkt, es<br />

könne den Mond in seinen Händen halten. Auf diese Weise werden die Samen<br />

der Täuschung in dem kleinen Herz gesät.<br />

Obgleich das Kind Hitze und Kälte fühlt, ist es unfähig, sie zu vermeiden.<br />

Wie kann es sich dann besser als ein Baum fühlen? Wie die Tiere und die<br />

Vögel langt auch das Kind vergeblich nach den Dingen, die es begehrt. Furchtsam<br />

meidet es die Älteren, mit denen es zusammenlebt.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Nach dem Ende der Kindheit betritt das menschliche Wesen die Stufe der<br />

Jugend, aber auch hier kann es den Zustand des Unglücklichseins nicht hinter<br />

sich lassen! Nun ist es den zahllosen mentalen Modifikationen der Jugendzeit<br />

unterworfen und schreitet vom Elend zu noch größerem Elend fort, denn es<br />

gibt alle Weisheit auf und umarmt den schrecklichen Kobold – die Lust, die in<br />

seinem Herzen wohnt. Sein Leben ist voll von Wunsch und Furcht. Wahrhaftig,<br />

diejenigen, die sich die Weisheit in ihrer Jugend nicht rauben lassen, können<br />

wohl jedem Ansturm standhalten.<br />

Ich schätze sie nicht, diese vergängliche Jugend, in der kurzlebiges Vergnügen<br />

rasch von langandauerndem Leiden gefolgt wird, und in der so viele<br />

getäuscht werden von dem, was so viele Menschen als wandellos ansehen,<br />

was aber in Wirklichkeit wechselhaft ist. Was noch schlimmer ist: In der<br />

Jugend begeht man viele Handlungen, die auch anderen nichts als Unglück<br />

bringen.<br />

So wie ein Baum von einem Waldbrand vernichtet wird, so wird das Herz<br />

des Jugendlichen vom Feuer der Leidenschaft verbrannt, sobald seine Geliebte<br />

ihn verlässt. Wie sehr er auch streben mag, um die Reinheit des Herzens zu<br />

entwickeln – das Herz des Jugendlichen bleibt stets vom Makel der Unreinheit<br />

befleckt. Auch wenn seine Geliebte nicht bei ihm ist, wird er ständig von<br />

den Gedanken an ihre Schönheit verfolgt. Eine solche Person, angefüllt mit<br />

Verlangen, kann in den Augen der guten Menschen keine hohe Wertschätzung<br />

genießen.<br />

Die Jugend ist die Heimstatt des Leidens und der Bedrängnis (mentalen<br />

Zerrüttung). Sie kann mit einem Vogel verglichen werden, der mit den beiden<br />

Flügeln der guten und schlechten Handlungen fliegt. Die Jugend ist wie der<br />

Sandsturm, der die guten Eigenschaften des Menschen verweht und zerstreut.<br />

Die Jugend erweckt alle Arten des Bösen im Herzen und vertreibt die<br />

guten Eigenschaften, die noch existieren mögen; sie ist daher nichts anderes<br />

als der Anstifter des Üblen. Sie lässt Täuschung und blinde Anhaftung entstehen.<br />

Jugend erscheint dem Körper begehrenswert, ist aber für das Gemüt die<br />

Quelle der Zerstörung. In der Jugend wird der Mensch vom Wahnbild des<br />

Glücks verführt, welches ihn unmittelbar zu der Quelle des Kummer geleitet.<br />

Daher bin ich gar nicht erfreut über die Jugend.<br />

I:20<br />

30


I:21, 22<br />

Ach! Und auch wenn die Jugend den Körper verlässt, brennen die Leidenschaften,<br />

die sie im Menschen erweckt hat, sogar noch heftiger und führen<br />

nur allzu schnell die Zerstörung herbei. Wer sich an dieser Jugend erfreut, ist<br />

kein Mensch, sondern nur ein stumpfes Tier, dass sich in ein menschliches<br />

Gewand gekleidet hat.<br />

Nur diejenigen verdienen es, bewundernswert und große Seelen genannt<br />

und als wahre Menschen betrachtet zu werden, die sich nicht von den Übeln<br />

der Jugend überwältigen ließen und diese Stufe des Lebens überwanden,<br />

ohne sich ihren Verführungen zu unterwerfen. Es ist wohl leicht, einen großen<br />

Ozean zu überqueren, aber das andere Ufer der Jugend zu erreichen,<br />

ohne von ihren Neigungen und Abneigungen beeinträchtigt zu werden, ist<br />

wahrhaftig eine schwierige Aufgabe.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

In der Jugend ist der Mensch ein Sklave der sexuellen Anziehung. In einem<br />

Körper, der tatsächlich nichts als ein Aggregat aus Fleisch, Blut, Knochen,<br />

Haaren und Haut ist, nimmt er irrigerweise Schönheit und Anmut wahr. Wenn<br />

diese „Schönheit” dauerhaft wäre, so hätte diese Illusion wohl einige Berechtigung.<br />

Jedoch – oh weh! – sie dauert nicht allzu lange. Im Gegenteil, schon<br />

sehr bald wird das Fleisch, das vorher der Gegenstand der Anbetung war,<br />

wird die Anmut und Schönheit der Geliebten in die welke Hässlichkeit des<br />

Alters verwandelt. Und noch später wird es vom Feuer, von Würmern oder<br />

Geiern verzehrt. Solange es jedoch andauert, verbrennt die sexuelle Anziehung<br />

das Herz und die Weisheit des Menschen. Auf diese Weise wird die<br />

gesamte Schöpfung am Leben erhalten. Wenn diese Anziehung endet, dann<br />

endet auch dieses saæsāra (Zyklus von Geburt und Tod).<br />

Sobald das Kind seiner Kindheit überdrüssig geworden ist, nimmt die Jugend<br />

ihre Stelle ein. Endet die Jugendzeit mit ihren Plagen der Unzufriedenheit<br />

und Frustration, so wird sie vom Altern abgelöst – wie grausam das Leben<br />

doch ist! So wie der Luftzug einen Tautropfen vom Blatt fegt, so beseitigt<br />

das Alter den Körper. So wie ein Tropfen Gift den ganzen Körper zersetzt,<br />

wenn er einmal in diesen eingedrungen ist, so zersetzt die Senilität schon<br />

bald den gesamten Körper, lässt ihn zusammenbrechen und zu einem Gegenstand<br />

des Gelächters der Leute werden.<br />

Obwohl der alte Mann seine Wünsche physisch nicht mehr befriedigen<br />

kann, wachsen und gedeihen diese in ihm nach wie vor. Erst jetzt, wo es<br />

schon zu spät ist, um noch den Lauf seines Lebens und seine Lebensweise zu<br />

ändern oder sein Leben bedeutungsvoller zu gestalten, beginnt er sich zu<br />

fragen: „Wer bin ich? Was sollte ich tun?“ usw. Mit dem Anbruch der Senilität<br />

beginnen sich nun alle die peinigenden Zeichen des körperlichen Zusammenbruchs<br />

wie Keuchen, weiße Haare, Kurzatmigkeit, Verdauungsstörungen und<br />

Auszehrung zu zeigen.<br />

Und vielleicht betrachtet der Gott des Todes das silberne Haupt des alten<br />

Mannes schon bald wie eine gesalzene Melone und eilt, um sie zu besitzen.<br />

31


Wie die Fluten des Wassers die Wurzeln der Bäume am Ufer fortreißen, so<br />

durchtrennt die Senilität unnachsichtig die Wurzeln des Lebens. Es folgt der<br />

Tod, der das Leben mit sich nimmt. Die Senilität ist wie der königliche Diener,<br />

der dem König, dem Tode, vorangeht.<br />

Oh wie rätselhaft und bestürzend dies alles doch ist! Sogar jene, die nie von<br />

ihre Feinden besiegt wurden und ihre Zuflucht in unerreichbaren Berggipfeln<br />

gefunden haben – auch sie werden von diesem Dämon gequält, der als Senilität<br />

und Degeneration bekannt ist.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Alle Freuden in dieser Welt sind Täuschung, so wie der Genuss eines Irren,<br />

der sich am Geschmack einer im Spiegel erscheinenden Frucht erfreut. Alle<br />

Hoffnungen des Menschen in dieser Welt werden unablässig von der Zeit<br />

zerstört. Es ist die Zeit, oh Weiser, die alles in dieser Welt verbraucht – es gibt<br />

nichts in der Schöpfung, was sich außerhalb ihrer Reichweite befindet. Die<br />

Zeit ist es, die zahllose Universen erschafft – und schon nach kurzer Zeit hat<br />

sie alles wieder zerstört.<br />

Die Zeit erlaubt in ihrer teilweisen Manifestation als das Jahr, das Zeitalter<br />

und die Epoche einen kleinen Blick auf sich selbst, aber ihre wahre Natur ist<br />

verborgen. Es ist diese Zeit, die alles überragt. Die Zeit ist gnadenlos, unerbittlich,<br />

grausam, allesverschlingend und unersättlich. Die Zeit ist der größte<br />

Zauberer – voll von irreführenden Tricks. Die Zeit selbst kann nicht erforscht<br />

werden – wie viele Male sie auch zergliedert wird, sie überlebt doch stets und<br />

zeigt sich als unzerstörbar. Ihr Appetit auf alles und jedes ist unstillbar. Sie<br />

verschlingt die kleinsten Insekten, die größten Berge und sogar den König des<br />

Himmels! So wie der kleine Junge zum Zeitvertreib mit einem Ball spielt, so<br />

spielt die Zeit zu ihrem Zeitvertreib mit den beiden Bällen, die als Sonne und<br />

Mond bekannt sind. Es ist in der Tat die Zeit allein, die als Zerstörer des Universums<br />

(Rudra), als Schöpfer der Welt (Brahmā), als König des Himmels<br />

(Indra), als Gebieter des Wohlstands (Kubera) und als das Nichts der kosmischen<br />

Auflösung erscheint. Es ist in der Tat diese Zeit, die beständig und<br />

wiederholt das Universum erschafft und auflöst. So wie der große und mächtige<br />

Berg auf der Erde ruht, so ruht diese allmächtige Zeit auch im absoluten<br />

Sein (Brahman).<br />

Obwohl die Zeit unermüdlich neue Universen erschafft, verbraucht sie sich<br />

weder noch erfreut sie sich daran. Weder kommt sie noch geht sie; weder<br />

steigt sie auf noch geht sie unter.<br />

Die Zeit, der Genießer, sieht die Objekte dieser Welt, wie sie im Feuer der<br />

Sonne reifen. Befindet sie sie für reif, dann isst sie sie! Alle Epochen der Zeit<br />

waren und sind zur Freude der Zeit bedeckt mit den lieblichen Edelsteinen<br />

der lebendigen Wesen, die sie spielerisch auslöscht, wenn ihre Zeit gekommen<br />

ist.<br />

Für den Lotos der Jugend ist die Zeit der Einbruch der Nacht; für den Elefanten<br />

der Lebenszeit ist die Zeit der Löwe. Es gibt in dieser Welt nichts Ho-<br />

I:23, 24<br />

32


I:25, 26<br />

hes oder Niedriges, was die Zeit nicht zerstören würde. Und wenn all dieses<br />

schließlich zerstört ist, so wird die Zeit selbst jedoch niemals zerstört. So wie<br />

ein Mensch nach der Tätigkeit des Tages in Schlaf fällt, als ob er bewusstlos<br />

sei, so schläft oder ruht auch die Zeit nach der Auflösung des Kosmos und<br />

behält die Fähigkeit zur Neuerschaffung der Welten verborgen in sich. Niemand<br />

weiß wirklich, was die Zeit ist.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Abgesehen von der Zeit, die ich gerade beschrieben habe, gibt es noch eine<br />

weitere Zeit, die für Geburt und Tod verantwortlich ist. Die Leute bezeichnen<br />

sie als die Gottheit, die über den Tod herrscht.<br />

Und es gibt noch einen weiteren Aspekt der Zeit, der k­tānta genannt wird<br />

— es ist dies das Ende der Tätigkeit, ihr unvermeidliches Ergebnis oder ihre<br />

Frucht. Dieser k­tānta ist wie der Tänzer, der niyati (das Gesetz der Natur) als<br />

sein Weib hat. Beide zusammen erlegen allen Wesen die unvermeidbare<br />

Frucht ihrer Handlungen auf. Während der Existenz des Universums sind sie<br />

unermüdlich in ihrem Schaffen, unbeirrbar in ihrer Wachsamkeit und unnachgiebig<br />

in ihrem Eifer.<br />

Wenn die Zeit also in diesem Universum tanzt und alles erschafft und zerstört<br />

– welche Hoffnung können wir dann haben? K­tānta hat sogar diejenigen<br />

im Griff, deren Glaube stark ist, und macht sie ruhelos. K­tānta ist die<br />

dafür verantwortlich, dass alles in dieser Welt sich in konstantem Wandel<br />

befindet; eine Dauerhaftigkeit gibt es hier nicht.<br />

Alle Wesen in dieser Welt sind vom Übel berührt, alle Beziehungen bedeuten<br />

Bindung, alle Freuden sind in Wirklichkeit große Leiden, und alle Wünsche<br />

nach dem Glück sind tatsächlich nur Luftspiegelungen. Die eigenen<br />

Sinne sind die Feinde; die Wirklichkeit wurde unwirklich (unerkennbar); der<br />

eigene Verstand wurde zum schlimmsten Feind. Der Ich-Sinn ist die Hauptursache<br />

alles Bösen. Die Weisheit ist machtlos; alle Tätigkeiten führen zum<br />

Missvergnügen, und die Freude ist rein sexuell. Die Intelligenz wird vom<br />

Egoismus regiert anstatt der Egoismus von der Intelligenz. Daher kann es im<br />

Gemüt des Menschen weder Frieden noch Glück geben. Die Jugend schwindet.<br />

Die Gesellschaft der Heiligen ist selten. Es gibt keinen Ausweg aus diesem<br />

Leiden. Nirgendwo ist die Erkenntnis der Wahrheit zu beobachten. Weder<br />

freut man sich über das Gedeihen und das Glück anderer, noch kann in irgendeinem<br />

Herzen Mitgefühl gefunden werden. Die Menschen werden von<br />

Tag zu Tag schlechter. Schwäche hat die Stärke überwunden, Feigheit den Mut<br />

überwältigt. Schlechte Gesellschaft ist leicht zu haben, gute dagegen kaum zu<br />

finden. Ich frage mich, wohin die Zeit die Menschlichkeit führen wird.<br />

Ihr Heiligen, diese rätselhafte Macht, die diese Schöpfung regiert, zerstört<br />

sogar die mächtigsten Dämonen, raubt auch das, was aufgrund seiner scheinbaren<br />

Dauerhaftigkeit für ewig angesehen wird, und tötet sogar die Unsterblichen.<br />

Kann es da für einfache Menschen wie mich irgendeine Hoffnung<br />

geben? Dieses rätselhafte Wesen scheint in allen zu wohnen, und sein indivi-<br />

33


I:27<br />

dualisierter Aspekt wird als der Ich-Sinn bezeichnet. Anscheinend gibt es<br />

nichts, was von ihm nicht zerstört wird. Das gesamte Universum befindet sich<br />

unter seiner Herrschaft – gewiss wird es immer die Oberhand behalten.<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Oh Weiser, weder in der Kindheit, in der Jugend noch im Alter erfährt man<br />

hier das wahre Glück. Keines der weltlichen Objekte kann irgendjemandem<br />

echtes Glück verschaffen. Vergeblich hält das Gemüt in den Objekten dieser<br />

Welt Ausschau nach dem Glück. Nur der ist glücklich, der frei vom Ich-Sinn ist<br />

und nicht von der Begierde nach dem Sinnesvergnügen beherrscht wird. Aber<br />

eine solche Person ist in dieser Welt außerordentlich selten. Ich betrachte in<br />

der Tat keinen als Helden, der erfolgreich eine mächtige Armee niederwirft,<br />

aber ich achte den als Helden, der in der Lage ist, diesen Ozean des Verstandes<br />

und der Sinne zu durchqueren.<br />

Ich vermag nicht das als einen „Gewinn” zu betrachten, was schon bald dem<br />

Verlust ausgesetzt ist. Es kann nur das ein Gewinn sein, was niemals verloren<br />

geht. Aber nirgendwo in dieser Welt ist ein solcher Gewinn zu finden, wie<br />

sehr man auch immer darum kämpfen mag. Ohne dass er danach sucht, setzen<br />

dem Menschen wiederholte Missgeschicke und schon bald wieder vergehende<br />

Erfolge nach. Ich bin bestürzt darüber, Heiliger Herr, wie ein Mensch<br />

den ganzen Tag lang vorgeblich stark beschäftigt umherstreifen und ausschließlich<br />

mit selbstsüchtiger Tätigkeit beschäftigt sein kann und nicht eine<br />

gute Tat vollbringt, aber dennoch einen festen Schlaf in der Nacht findet!<br />

Und obwohl diese so stark umtriebigen Menschen alle ihre irdischen Feinde<br />

besiegen und sich mit Wohlstand und Luxus umgeben und sogar noch mit<br />

ihrem Glück prahlen, so sind sie doch von Anfang an des Todes gewesen. Wie<br />

der Tod einen solchen Menschen schließlich niederstreckt, das weiß nur Gott.<br />

In seiner Unwissenheit bindet sich der Mann an die Frau, den Sohn und die<br />

Freunde. Er hat keine Ahnung davon, dass diese Welt wie ein riesiges Pilgerlager<br />

ist, in dem zahllose Menschen, unter denen sich auch seine sogenannte<br />

Frau, sein Sohn und seine Freunde befinden, durch Zufall aufeinandertreffen.<br />

Diese Welt ist wie eine Töpferscheibe: Die Scheibe scheint stillzustehen,<br />

obwohl sie sich mit ungeheurer Geschwindigkeit dreht. Auf dieselbe Weise<br />

erscheint der getäuschten Person diese Welt als beständig, obwohl sie sich in<br />

Wahrheit andauernd im Wechsel befindet. Diese Welt ist wie ein giftiger<br />

Baum: Wer mit ihm in Berührung tritt, wird mit Bewusstlosigkeit geschlagen<br />

und betäubt. Alle Gesichtspunkte in dieser Welt sind mit Makeln behaftet; alle<br />

Länder dieser Erde sind Gebiete des Übels; alle Menschen auf dieser Erde<br />

sind dem Tode unterworfen; alle Handlungen sind irreführend.<br />

Äonen über Äonen sind bereits gekommen und gegangen, die nichts als Augenblicke<br />

in der Zeit sind, da es in Wahrheit keinerlei Unterschied zwischen<br />

einer Epoche und einem Moment gibt, denn beide sind nur Maßzahlen der<br />

Zeit. Vom Standpunkt der Götter aus ist eine Epoche nur ein Augenzwinkern.<br />

Und auf dieselbe Weise ist auch diese ganze Erde nur eine Modifikation des<br />

34


Erdelements! Wie sinnlos, all unsere Hoffnungen und unseren Glauben auf sie<br />

zu gründen!<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Oh Heiliger! Was immer in dieser Welt als dauerhaft oder vergänglich erscheinen<br />

mag – all dies ist wie ein Traum. Was heute ein Krater ist, war einmal<br />

ein Berg, und was der Berg heute ist, wird in kurzer Zeit ein Loch in der<br />

Erde sein. Der dichte Urwald wird schon bald in eine große Stadt verwandelt,<br />

und was jetzt noch fruchtbare Erde ist, wird in naher Zukunft öde Wüste sein.<br />

So steht es auch mit dem wandelhaften Körper und mit dem eigenen Leben<br />

und dem Fortkommen darin.<br />

Dieser Zyklus von Geburt und Tod scheint nichts als eine talentierte Tänzerin<br />

zu sein, deren Rock aus lebenden Seelen gewebt ist, und deren Gebärden<br />

darin bestehen, die Seelen hinauf in den Himmel zu befördern, in die Hölle zu<br />

stoßen oder zurück auf die Erde zu zerren. All die großartigen Taten der<br />

Menschen und sogar die einflussreichen religiösen Riten, die hier ausgeführt<br />

werden, sind schon bald nur noch eine Erinnerung. Die menschlichen Wesen<br />

werden als Tiere geboren und umgekehrt, und sogar die Götter verlieren ihre<br />

Göttlichkeit – was ist denn hier nicht ständigem Wechsel unterworfen? Ich<br />

sehe, wie selbst der Schöpfer Brahmā, der Beschützer Vi«ïu, der Erlöser<br />

Rudra und andere unaufhaltsam ihrer Vernichtung entgegengehen. Diese<br />

Welt der Sinnesobjekte erscheint nur so lange erfreulich, als man nicht ihre<br />

unvermeidliche Zerstörung erkannt hat. So wie ein Kind mit Lehm spielt und<br />

verschiedene Dinge erschafft, so erschafft der Gebieter des Universums neue<br />

Dinge und zerstört sie schon bald wieder.<br />

Es ist diese Erkenntnis der Fehler dieser Welt, die die unerwünschten Neigungen<br />

meines Gemüts vernichtet hat. Ein Verlangen nach Sinnesvergnügen<br />

taucht daher nicht länger in meinem Gemüt auf, so wie eine Fata Morgana<br />

nicht auf der Oberfläche eines Gewässers erscheint. Diese Welt und ihre Genüsse<br />

kommen mir bitter vor. Ich bin nicht geneigt, in den Gärten der Freuden<br />

umherzuwandern; weder schätze ich die Gesellschaft der Frauen noch<br />

den Erwerb von Reichtum. Ich wünsche im Frieden mit mir selbst zu verbleiben.<br />

Unablässig forsche ich nach: „Wie kann ich mein Herz ganz und für immer<br />

von diesem wandelhaften Phantom abwenden, das man die Welt nennt?“<br />

Weder verlange ich nach dem Tod noch nach dem Leben; ich bleibe wie ich<br />

bin – frei vom Fieber der Leidenschaften. Was kann ich mit dem Königtum<br />

tun, mit Vergnügen oder Wohlstand, die nichts als Spielzeuge des Ich-Sinns<br />

sind, von dem ich frei bin?<br />

Wenn ich nicht jetzt mit der Weisheit vertraut werde – wann wird es je<br />

wieder eine Gelegenheit dafür geben? Denn es ist die Nachgiebigkeit gegenüber<br />

den Sinnesvergnügen, die das Gemüt so sehr vergiftet, dass die Wirkungen<br />

mehrere Leben lang anhalten. Nur der Mensch der Selbsterkenntnis ist<br />

frei davon. Daher, oh Weiser, bitte ich dich: Unterweise mich, so dass ich für<br />

immer frei sein kann von Schmerz, Furcht und Qualen. Vertreibe mit dem<br />

Licht deiner Lehre die Finsternis der Unwissenheit in meinem Herzen.<br />

I:28, 29<br />

35


I:30, 31<br />

RùMA fuhr fort:<br />

Nachsinnend über das bedauernswerte Schicksal der Lebewesen, die in die<br />

furchterregende Grube endlosen Leides gefallen sind, bin ich von tiefer Trauer<br />

erfüllt. Mein Gemüt ist verwirrt, mich schaudert, und bei jedem Schritt<br />

überkommt mich die Angst. Ich habe alles aufgegeben, aber ich bin nicht in<br />

der Weisheit gegründet. So bin ich teils gefangen und teils frei, wie ein Vogel<br />

mit einem kranken und einem gesunden Flügel. Ich bin wie ein Baum, der<br />

gefällt, aber nicht gänzlich von seiner Wurzel getrennt wurde. Ich wünsche<br />

mein Gemüt zu befrieden, verfüge aber nicht über die nötige Weisheit dafür.<br />

Ich bitte dich, sage mir: Worin besteht der Zustand oder die Verfassung, in<br />

der man keinerlei Kummer mehr erfährt? Wie kann jemand wie ich, der in die<br />

Welt und ihre Handlungen eingebunden ist, den höchsten Zustand von Frieden<br />

und Seligkeit erreichen? Worin besteht die Haltung, mit der man fähig<br />

wird, unbeeinflusst von den verschiedenen Arten von Tätigkeiten und Erfahrungen<br />

zu bleiben? Bitte kläre mich auf: Wie lebt ihr Weise, die ihr erleuchtet<br />

seid, in dieser Welt? Wie kann der Verstand frei werden von Leidenschaft und<br />

Lust und eine Betrachtungsweise erlangen, in der die Welt gleichzeitig als das<br />

eigene Selbst und als so gering wie ein Grashalm angesehen wird? Die Lebensweise<br />

welches Großen empfiehlst du uns zu studieren, um den Pfad der<br />

Weisheit kennenzulernen? Wie sollte man in dieser Welt leben? Heiliger Herr,<br />

unterweise mich in dieser Weisheit, mit deren Hilfe ich meinen rastlosen<br />

Verstand in die Lage versetze, so still wie ein Berg zu sein. Du bist ein erleuchtetes<br />

Wesen – lehre mich, so dass ich nie wieder in Trauer versinke.<br />

Offensichtlich ist diese Welt voll von Sorge und Tod – wie kann sie eine<br />

Quelle der Freude werden, ohne dass sie unser Herz betäubt? Der Verstand<br />

ist offenbar voll von Unreinheiten – wie kann er gereinigt werden? Und von<br />

welchem großen Weisen bekommen wir das Mittel für die Reinigung? Wie<br />

kann man hier so leben, dass man nicht den Zwillingsbrüdern Liebe und Hass<br />

zum Opfer fällt? Ganz eindeutig gibt es hier ein Geheimnis, das einem ermöglicht,<br />

unberührt von Trauer und Leiden dieser Welt zu verbleiben, so wie<br />

Quecksilber unberührt vom Feuer bleibt, in welches es geworfen wird. Worin<br />

besteht das Geheimnis? Worin besteht das Geheimnis, das der Gewohnheit<br />

des Gemüts entgegenarbeitet, sich als dieses Universum vor unseren Augen<br />

auszubreiten?<br />

Wo sind die Helden, die sich selbst von der Täuschung befreit haben? Und<br />

welchen Lehren folgten sie, um sich selbst zu befreien? Solltest du jedoch zu<br />

dem Schluss kommen, dass ich weder geeignet noch fähig bin, dieses zu verstehen,<br />

dann werde ich fasten bis zum Tode.<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, verstummte Rāma.<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Alle hier an diesem Hof Versammelten waren begeistert von Rāma’s Weisheit<br />

und seinen leidenschaftlichen Worten, die die Illusionen des Verstandes<br />

I:32, 33<br />

36


zu vertreiben vermochten. Sie hatten das Empfinden, nun selbst frei von allen<br />

Zweifeln und allem irreführenden Verständnis zu sein. So tranken sie die<br />

nektargleichen Worte Rāma’s mit großem Genuss. Wie sie so am Hof saßen<br />

und Rāma's Worten zuhörten, erschienen sie nicht länger wie lebendige Wesen,<br />

sondern wie gemalte Figuren eines Gemäldes – so still und voll hingerissener<br />

Aufmerksamkeit.<br />

Wer hatte Rāma's Ausführungen gelauscht? Es waren dies Weise wie<br />

Vāsi«Âha und Viśvāmitra, die Minister, die Mitglieder der königlichen Familie<br />

einschließlich König Daśaratha, Bürger, Heilige, Diener, Vögel in Käfigen,<br />

Haustiere, die Pferde des königlichen Stalles und die himmlischen Wesen<br />

einschließlich der vollkommenen Weisen und der überirdischen Musiker. Und<br />

ganz gewiss hatten auch der König des Himmels und die Herrscher der Unterwelt<br />

Rāma zugehört.<br />

Beglückt von Rāma's Rede, riefen sie wie alle aus einem Munde „Bravo, bravo!“<br />

mit einer einzigen, den Luftraum erfüllenden, freudigen Stimme. Ein<br />

Blumenregen kam vom Himmel herunter und segnete Rāma. Alle Versammelten<br />

des Hofes ließen ihn hochleben. Nur Rāma, erfüllt von Leidenschaftslosigkeit<br />

und Weltentsagung, konnte diese Worte von sich geben, die nicht einmal<br />

der Lehrer der Götter hätte äußern können. Wir konnten glücklich genannt<br />

werden, ihm zuhören zu dürfen. Während wir ihm lauschten, schien es so, als<br />

stiege in uns allen das tiefe Empfinden auf, dass es nicht einmal im Himmel<br />

wahres Glück geben könne.<br />

DIE VOLLKOMMENEN WEISEN in der Versammlung erklärten:<br />

Gewiss sind die Antworten, die die Heiligen auf die gewichtigen und weisen<br />

Fragen Rāma’s geben werden, es wert, von allen Wesen des Universums vernommen<br />

zu werden. Oh ihr Weisen – kommt, kommt! Wir wollen uns alle am<br />

Hofe des Königs Daśaratha versammeln, um die Antwort des höchsten Weisen<br />

Vāsi«Âha zu hören.<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Dies vernehmend, beeilten sich die Weisen der Welt, den Hof zu erreichen,<br />

an dem sie würdig empfangen, geehrt und zu ihrem Platz in der Versammlung<br />

geleitet wurden. Dies ist gewiss: Sollte sich in unseren Herzen diese erhabene<br />

Weisheit Rāma's nicht widerspiegeln, dann sind wir in der Tat nichtswürdig.<br />

Was dann auch immer unsere Fähigkeiten und Eignungen sein mögen – wir<br />

hätten doch nichts anderes als den Verlust unserer Intelligenz bewiesen!<br />

* * *<br />

37


Teil II: Über die Qualitäten des Suchers<br />

Die Geschichte von Śuka<br />

VIŚVùMITRA sagte:<br />

Oh Rāma, du bist in der Tat der Beste unter den Weisen. Es gibt wahrhaftig<br />

nichts mehr, was du noch zu lernen hättest. Jedoch benötigt deine Erkenntnis<br />

eine Bestätigung, so wie die Selbsterkenntnis von Śuka der Bestätigung durch<br />

Janaka bedurfte, bevor Śuka den Frieden finden konnte, der das Verstehen<br />

übersteigt.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Heiliger! Bitte teile mir mit, wie es dazu kam, dass Śuka trotz seiner Erkenntnis<br />

keinen Frieden fand und wie er diesen später gefunden hat.<br />

VIŚVùMITRA sagte:<br />

Höre, oh Rāma. Ich werde dir nun diese für die Seele so erhebende Geschichte<br />

des schon als Weisen geborenen Śuka, des Sohnes von Vedavyāsa,<br />

erzählen, der jetzt hier neben deinem Vater sitzt.<br />

So wie du gelangte auch Śuka zur Wahrheit über diese Existenz, nachdem er<br />

tief über die Flüchtigkeit der Welt nachgesinnt hatte. Da es sich jedoch um<br />

selbsterworbene Erkenntnis handelte, konnte er sich selbst nicht ausdrücklich<br />

bestätigen: „dies ist die Wahrheit“. Gewiss befand er sich aber bereits in<br />

einem Zustand von höchster und außerordentlicher Leidenschaftslosigkeit.<br />

Eines Tages suchte Śuka seinen Vater Vedavyāsa auf und fragte ihn: „Mein<br />

Herr, wie kam diese Vielfalt der Weltentstehung ins Sein, und wie wird sie<br />

einmal enden?“ Vedavyāsa gab ihm auf diese Frage zwar eine bis in die Einzelheiten<br />

gehende Antwort, aber Śuka dachte: ‚All dies weiss ich bereits; was<br />

ist schon neu daran?’ und war nicht beeindruckt. Vedavyāsa spürte dies sogleich<br />

und sagte daher zu Śuka: „Mein Sohn, mehr darüber vermag ich dir<br />

nicht zu sagen. Es gibt aber auf dieser Erde einen königlichen Weisen namens<br />

Janaka, der mehr darüber weiß. Gehe zu ihm und befrage ihn.“<br />

So kam Śuka schließlich zu Janaka’s Palast. Janaka, den die Palastwachen<br />

von der Ankunft des jungen Śuka unterrichtet hatten, beachtete ihn jedoch<br />

eine ganze Woche lang nicht. Während dieser Zeit harrte Śuka geduldig vor<br />

dem Palast aus. In der folgenden Woche ließ Janaka Śuka dann in den Palast<br />

ein, wo ihn Tänzerinnen und Musiker empfingen. Auch davon blieb Śuka<br />

ungerührt. Schließlich wurde Śuka die Audienz beim König gewährt. Janaka<br />

sagte: „Du kennst die Wahrheit bereits; was kann ich dir darüber hinaus noch<br />

mitteilen?“ Śuka wiederholte nun die Frage, die er auch seinem Vater gestellt<br />

hatte, und Janaka gab daraufhin dieselbe Antwort, die auch sein Vater gegeben<br />

hatte. Śuka erwiderte: „Ich wusste dies bereits, mein Vater hat es mir<br />

gesagt, und auch die Schriften bestätigen es. Nun tust du mir diese Wahrheit<br />

II:1<br />

38


II:2, 3<br />

kund, die darin besteht, dass die Vielfalt aufgrund der mentalen Modifikationen<br />

entsteht und aufhört, wenn diese enden.“ Nachdem seine Selbsterkenntnis<br />

bestätigt worden war, erlangte Śuka den Frieden und verblieb in<br />

nirvikalpa samādhi.<br />

VIŚVùMITRA sagte zu den versammelten Weisen:<br />

Wie Śuka hat auch Rāma die höchste Weisheit erlangt. Das sicherste Anzeichen<br />

für einen Menschen mit der höchsten Weisheit besteht darin, dass er<br />

gleichgültig gegenüber den Vergnügen der Welt ist, da bei ihm alle subtilen<br />

Neigungen aufgehört haben. Solange diese Neigungen stark sind, gibt es<br />

Bindung; sobald sie aufgehört haben, ist die Befreiung da. Der ist wahrhaftig<br />

ein befreiter Weiser, der von Natur aus nicht von den Sinnesvergnügen beherrscht<br />

und nicht durch Ruhm oder andere Wünsche nach Belohnung angespornt<br />

wird. Und ich bitte darum, dass der Weise Vāsi«Âha Rāma so unterweisen<br />

möge, dass er sich in dieser Weisheit verankert und auch wir inspiriert<br />

werden. Gewiss wird diese Unterweisung zur größten Weisheit und zur<br />

besten aller Schriften werden, da sie von einem erleuchteten Weisen dem<br />

qualifizierten, leidenschaftslosen Schüler erteilt wird.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Gewiss werde ich deiner Bitte nachkommen. Und, oh Rāma, ich werde dir<br />

nun die Weisheit darlegen, dir mir vom göttlichen Schöpfer Brahmā selbst<br />

kundgetan worden ist.<br />

RùMA sagte:<br />

Heiliger Herr, bitte teile mir zuvor mit: Weshalb wurde Vedavyāsa als nicht<br />

befreit angesehen, während sein Sohn Śuka dagegen als befreiter Weiser<br />

betrachtet wurde?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Oh Rāma, zahllos sind die Universen, die ins Leben gerufen und aufgelöst<br />

worden sind. In der Tat, sogar die zahllosen Universen, die in diesem Moment<br />

existieren, können unmöglich erfasst werden. Im eigenen Herzen jedoch kann<br />

all dies unverzüglich realisiert werden, denn diese Universen sind die Schöpfung<br />

der Wünsche, die im Herzen auftauchen wie Luftschlösser. Der Mensch<br />

beschwört diese Welt in seinem Herzen herauf. Während er lebt, verstärkt er<br />

diese Illusion. Wenn er stirbt, beschwört er eine neue, jenseitige Welt herauf<br />

und erfährt dann diese. So erscheinen also Welten innerhalb von Welten, wie<br />

die Blätter, die den Stamm einer Bananenpflanze bilden. Weder die Welt der<br />

Materie noch die Art und Weise der Entstehung sind wahrhaft wirklich – und<br />

doch empfinden die Lebenden und die Toten sie als real. Die Unwissenheit<br />

über diese Wahrheit erhält die Erscheinungen am Leben.<br />

Oh Rāma – in diesem kosmischen Ozean der Existenz tauchen hier und dort<br />

Lebewesen auf, die gleich manchen anderen sind, und wiederum tauchen<br />

solche auf, die sich von anderen unterscheiden. Der genannte Vedavyāsa ist<br />

der Dreiundzwanzigste in diesem Strom der Schöpfung. Er und andere Weise<br />

39


erlangen wieder und wieder die Verkörperung und Entkörperung. Manche<br />

sind gleich oder verschieden von den anderen. In seiner augenblicklichen<br />

Verkörperung ist Vedavyāsa jedoch ein befreiter Weiser. Diese befreiten Weisen<br />

werden ebenfalls zahllose Male verkörpert und stellen Beziehungen mit<br />

anderen her. Manchmal sind sie den anderen gleich, und dann wiederum sind<br />

sie in ihrem Wissen, ihrem Verhalten usw. unterschiedlich.<br />

* * *<br />

Eigenbemühung<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, so wie Wasser stets Wasser ist, unabhängig davon, ob es Wellen<br />

darauf gibt oder nicht, so ist auch die Weisheit des befreiten Weisen, wie auch<br />

immer sein äußeres Erscheinungsbild sein mag, stets dieselbe. Der Unterschied<br />

liegt allein in den Augen des unwissenden Beobachters.<br />

Daher, oh Rāma, höre, was ich dir jetzt zu sagen haben, denn diese Unterweisung<br />

wird ganz gewiss die Dunkelheit der Unwissenheit vertreiben.<br />

In dieser Welt wird jedweder Gewinn durch nichts anderes als durch Eigenbemühung<br />

erworben. Wo der Misserfolg auftritt, dort hat es mit Sicherheit<br />

einen Mangel an Bemühung gegeben. Dies sollte gänzlich klar sein. Was<br />

man jedoch gemeinhin als „Schicksal“ (das im Text verwendete Wort für<br />

„Schicksal“ lautet „daivam“, was auch „Gott“ bedeutet) bezeichnet, ist rein<br />

fiktiv und nirgends erwiesen.<br />

Eigenbemühung, Rāma, ist diejenige mentale, verbale und physische Tätigkeit,<br />

die in Übereinstimmung mit den Anweisungen einer heiligen, in den<br />

Schriften wohl bewanderten Person ist. Nur aufgrund von Bemühungen dieser<br />

Art wurde Indra zum König des Himmels und Brahmā zum Schöpfer, und<br />

auch die anderen Gottheiten erlangten nur nach ihrem Verdienst ihren Platz.<br />

Die Eigenbemühung besteht aus zwei Arten - die Bemühungen aus vergangenen<br />

Geburten und die aus der jetzigen Geburt. Die letztere arbeitet der<br />

vorherigen entgegen. „Schicksal” ist nichts anderes als die Eigenbemühung<br />

aus einer vergangenen Verkörperung. Zwischen diesen beiden gibt es in der<br />

jetzigen Verkörperung einen andauernden Konflikt. Dabei triumphiert derjenige<br />

Anteil, der sich als der stärkere erweist.<br />

Die Eigenbemühung, die nicht in Übereinstimmung mit den Schriften ist,<br />

wird durch Täuschung angetrieben. Wenn es ein Hindernis bei der Verwirklichung<br />

der Eigenbemühung gibt, sollte man untersuchen, ob eine auf Täuschung<br />

beruhende Tätigkeit vorliegt und diese Täuschung dann unverzüglich<br />

beseitigen. Es gibt keine größere Macht als die rechte Handlung in der gegenwärtigen<br />

Situation. Daher sollte man stets seine Zuflucht zur Eigenbemü-<br />

II:4, 5<br />

40


hung nehmen, seine Zähne zusammenbeißen und das Böse durch Gutes und<br />

das Schicksal durch Bemühung in der Gegenwart überwinden.<br />

Der faule Mensch ist schlimmer als ein Esel. Niemals sollte man der Faulheit<br />

nachgeben, sondern stets nach der Erlangung der Befreiung trachten, denn<br />

das Leben verebbt von Moment zu Moment. Niemals sollte man sich in den<br />

Sinnesvergnügen suhlen, wie sich der Wurm im Eiter wälzt.<br />

Wer sagt: „Mein Schicksal hat mich genötigt, dies zu tun“, ist ohne Verstand<br />

und die Göttin Fortuna verlässt ihn. Erwirb stattdessen Weisheit durch Eigenbemühung<br />

und erkenne, dass diese Eigenbemühung zu ihrem eigenen<br />

Erfolg führt, nämlich zur direkten Verwirklichung der Wahrheit.<br />

Wenn es diese schreckliche Quelle des Bösen auf dieser Erde, die Faulheit,<br />

nicht gäbe, würde es dann noch Analphabeten oder Arme geben? Nur an der<br />

Faulheit liegt es, dass Menschen das Leben von Tieren führen müssen, im<br />

Elend und in der Armut.<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Inzwischen war es Zeit für die Abendgebete und die Versammlung löste<br />

sich für diesen Tag auf.<br />

VASIåèHA begann die Unterweisung des zweiten Tages:<br />

Wie die Bemühung, so das Ergebnis, oh Rāma – dies ist die Bedeutung von<br />

Eigenbemühung. Außerdem ist dies auch als „Schicksal“ (göttlicher Wille)<br />

bekannt. Wenn die Menschen vom Leiden betroffen sind, dann klagen sie: „oh<br />

weh, welche Tragödie“ oder „oh weh, seht euch nur mein trauriges Los an“,<br />

was in beiden Fällen dasselbe bedeutet. Was man Schicksal oder göttlichen<br />

Willen nennt, ist nichts anderes als die Tätigkeit oder Eigenbemühung der<br />

Vergangenheit. Jedoch ist die Gegenwart unendlich mächtiger als die Vergangenheit.<br />

Es sind in der Tat nur die Narren, die zufrieden mit den Früchten<br />

ihrer vergangenen Bemühungen sind (die sie als das Ergebnis des göttlichen<br />

Willens betrachten) und nicht nach der Eigenbemühung in der Gegenwart<br />

streben.<br />

Wenn du bemerkst, dass die gegenwärtige Eigenbemühung manchmal<br />

durch das Schicksal (oder den göttlichen Willen) durchkreuzt wird, dann<br />

solltest du verstehen, dass die Eigenbemühung noch zu schwach ist. Ein<br />

schwacher und stumpfsinniger Mensch sieht die Hand der Vorsehung, sobald<br />

er sich einem starken und mächtigen Gegner gegenüber sieht, und unterliegt<br />

ihm.<br />

Gelegentlich geschieht es, dass jemand ohne die geringste Eigenbemühung<br />

einen großen Gewinn erlangt. So erwählte beispielsweise der Staatselefant<br />

(in Übereinstimmung mit einer historischen Gepflogenheit) einen Bettler<br />

zum Herrscher des Landes, dessen König unerwartet verstarb, ohne einen<br />

Erben zu hinterlassen. Und dies ist gewiss weder ein Zufall noch irgendeine<br />

Art von göttlicher Vorsehung, sondern nichts als die Frucht der Eigenbemühung<br />

des Bettlers in seiner vergangenen Geburt.<br />

II:6<br />

41


II:7, 8<br />

Manchmal geschieht es, dass die Bemühungen eines Bauern durch einen<br />

Hagelsturm zunichte gemacht werden. Ganz sicher waren hier die Kräfte des<br />

Hagelsturms größer als die Bemühungen des Bauern, und dieser Bauer sollte<br />

nun größere Anstrengungen unternehmen, um eine Wiederholung zu vermeiden.<br />

Er sollte über den unvermeidbaren Verlust nicht klagen. Wenn solches<br />

Klagen gerechtfertigt wäre, dann müsste man auch täglich über den<br />

unvermeidlichen Tod klagen! Der Weise sollte von Natur aus stets wissen,<br />

was durch Eigenbemühung erreicht werden kann und was nicht. Es ist jedoch<br />

nichts als Unwissenheit, all dies einer äußeren Macht zuzuschreiben und<br />

Dinge zu sagen wie: „Gott schickt mich in die Hölle oder in den Himmel“ oder<br />

„eine fremde Kraft hat mich veranlasst, dies zu tun“ usw. Von solchen unwissenden<br />

Personen sollte man sich fernhalten.<br />

Man sollte sich selbst von Zuneigungen und Abneigungen befreien, sich um<br />

die rechte Eigenbemühung kümmern und die höchste Wahrheit erlangen,<br />

indem man versteht, dass Eigenbemühung nur ein anderer Name für göttlichen<br />

Willen ist. Wir lehnen lediglich den Fatalisten ab. Nur das ist Eigenbemühung,<br />

was dem rechten Verständnis entspringt, welches sich im eigenen<br />

Herzen manifestiert und das Ergebnis der Lehren aus den Schriften und der<br />

Führung durch die Heiligen ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, jeder sollte mit einem Körper frei von Krankheit und einem Gemüt<br />

frei von Verwirrung nach der Selbsterkenntnis streben, damit er nicht<br />

wiedergeboren wird. Eigenbemühung dieser Art hat eine dreifache Wurzel<br />

und daher auch eine dreifache Frucht – nämlich ein inneres Erwachen der<br />

Intelligenz, eine Entscheidung im Gemüt und die physische Tätigkeit.<br />

Eigenbemühung basiert auf diesen dreien – die Kenntnis der Schriften, die<br />

Anweisungen der Lehrer und die eigene Bemühung. Das Schicksal (oder<br />

göttliche Fügung) hat hier keinerlei Zutritt. Wer also nach Erlösung verlangt,<br />

sollte durch andauernde Bemühung das unreine Gemüt hinlenken zur reinen<br />

Bemühung – dies ist die Essenz aller Schriften. Die Heiligen heben unermüdlich<br />

dies hervor: Beschreite mit Ausdauer und Hartnäckigkeit den Pfad, der<br />

zum ewigen Guten führt. Und der weise Sucher weiß: Die Frucht meiner<br />

Anstrengungen wird allein von der Stärke meiner Eigenbemühung abhängen,<br />

und weder das Schicksal noch ein Gott können es anders befehlen. In der Tat<br />

ist es diese Eigenbemühung, die allein für alles verantwortlich ist, was der<br />

Mensch hier zu erlangen vermag. Aber sobald er im Missgeschick versunken<br />

ist, kommen die Leute und behaupten, um ihn zu trösten, dass er nur das<br />

Opfer des Schicksals sei. Eines dürfte offensichtlich sein: Um in die Fremde zu<br />

gehen, muss man eine Reise unternehmen, und um den Hunger zu befriedigen,<br />

nimmt man Nahrung zu sich – gewiss geschieht dies nicht aufgrund eines<br />

Schicksals. Noch niemand hat hierfür ein Schicksal als Ursache beobachtet,<br />

aber sehr wohl hat schon jeder erfahren, wie eine Handlung (gut oder böse)<br />

zu einem Ergebnis (gut oder böse) geführt hat. Daher sollte man schon in der<br />

Kindheit stets danach streben, das Gute (das Heil) im Menschen zu fördern,<br />

42


indem man auf intelligente Weise die Schriften studiert und anwendet, und<br />

indem man die Gesellschaft der Heiligen sucht und die rechte Eigenbemühung<br />

unternimmt.<br />

Das Schicksal oder die göttliche Bestimmung sind nur Konventionen, aufgrund<br />

derer man als Wahrheit betrachtet, was nur durch wiederholte Behauptung<br />

als wahr erklärt worden ist. Wenn der Gott oder das Schicksal<br />

wahrhaftig für all dieses in der Welt verantwortlich sein sollte, welchen Sinn<br />

hätte dann noch irgendeine Handlung (wie baden, sprechen oder geben)?<br />

Und weshalb sollte man dann überhaupt noch irgendjemandem eine Unterweisung<br />

zukommen lassen? Nein – in dieser Welt ist alles, ausgenommen ein<br />

Leichnam, aktiv. Und alle Aktivität erzielt ihr angemessenes Ergebnis. Nirgendwo<br />

hat jemand jemals das Schicksal oder die göttliche Verfügung gesehen.<br />

Zu ihrer eigenen Befriedigung benutzen die Leute Ausdrücke wie „ich wurde<br />

vom Schicksal oder der göttlichen Vorsehung gezwungen, dies oder das zu<br />

tun“, aber dies ist nicht die Wahrheit. Wenn beispielsweise ein Astrologe<br />

einem jungen Mann vorhersagt, dass er ein großer Gelehrter werde, wird<br />

dann dieser junge Mann ein Gelehrter, ohne studiert zu haben? Nein. Weshalb<br />

also an göttliche Fügung glauben? Rāma, dieser Weise Viśvāmitra wurde ein<br />

Brahma-ã«i nur durch Eigenbemühung – alle von uns haben die Selbsterkenntnis<br />

ausschließlich durch Eigenbemühung erworben. Weise daher den<br />

Fatalismus zurück und verpflichte dich der Eigenbemühung.<br />

RùMA fragte:<br />

Herr, du bist gewiss der Kenner der Wahrheit. Bitte, sage mir, was die Leute<br />

eigentlich mit Gott, Schicksal oder daivaæ meinen.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die Früchte der Eigenbemühungen, welche man als gute und schlechte Resultate<br />

vergangener Handlungen erfährt, wird von den Leuten Schicksal oder<br />

daivaæ genannt. Die Leute betrachten außerdem auch das als Schicksal oder<br />

daivaæ, was die gute oder schlechte Natur dieser Ergebnisse ausmacht. Wenn<br />

du beispielsweise wahrnimmst, wie „diese Pflanze aus diesem Samen hervorkeimt“,<br />

dann wird dies als ein Akt des erwähnten daivaæ betrachtet. Meine<br />

Wahrnehmung besteht jedoch darin, dass das Schicksal nichts anderes als das<br />

Ergebnis der eigenen Tätigkeit ist.<br />

Im Gemüt des Menschen liegen zahllose latente Neigungen verborgen. Es<br />

sind diese Neigungen, die die verschiedenen Tätigkeiten physischer, verbaler<br />

und mentaler Art entstehen lassen. Gewiss befinden sich die eigenen Tätigkeiten<br />

stets in strikter Übereinstimmung mit diesen Neigungen, denn anders<br />

kann es gar nicht sein. Eine Tätigkeit geschieht auf die folgende Weise: Die<br />

Tätigkeit ist nicht verschieden von den am stärksten ausgeprägten latenten<br />

Neigungen, und diese Neigungen wiederum sind nicht verschieden vom Gemüt,<br />

während der Mensch nicht verschieden vom Gemüt ist! Letztlich kann<br />

man nicht eindeutig bestimmen, ob Kategorien wie das Gemüt, die latenten<br />

II:9<br />

43


Neigungen, Tätigkeit oder Schicksal (daivaæ) wirklich oder unwirklich sind.<br />

Die Weisen erwähnen sie daher stets nur im symbolischen Sinne.<br />

RùMA fragte dann:<br />

Heiliger Herr, wenn die latenten Neigungen aus der früheren Geburt mein<br />

Handeln in der Gegenwart bestimmen, wie kann es denn dann eine Handlungsfreiheit<br />

geben?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Rāma, alle aus den früheren Geburten mitgebrachten Neigungen bestehen<br />

aus zwei Arten – reinen und unreinen. Die reinen führen zur Befreiung, und<br />

die unreinen bringen einen in Schwierigkeiten. Ganz gewiss bist du Bewusstsein<br />

selbst – nicht leblose, tote Materie. Du bist daher durch keine andere<br />

Tätigkeit als nur diejenige angetrieben, die du aus eigenem Willen unternimmst.<br />

Daher hast du die völlige Freiheit, der Stärkung der reinen Neigungen<br />

den Vorzug zu geben gegenüber den unreinen. Die unreinen müssen<br />

dabei schrittweise aufgegeben und das Gemüt stetig aber behutsam, damit<br />

keine heftigen Reaktionen entstehen, von ihnen abgewendet werden. Stärke<br />

die guten Neigungen, indem du sie wieder und wieder durch entsprechende,<br />

wiederholte Handlung ermunterst. Auf diese Weise werden die unreinen<br />

Neigungen außer Gebrauch kommen und schwächer werden. Schon bald<br />

wirst du dich guter Neigungen und Taten erfreuen können. Wenn du dann die<br />

Macht der bösartigen Neigungen endgültig überwunden hast, so musst du<br />

anschließend auch noch die guten Neigungen aufgeben. Dann wirst du die<br />

höchste Wahrheit durch die Intelligenz erfahren, die den guten Neigungen<br />

entspringt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die kosmische Ordnung, auf die sich die Menschen mit Namen wie Schicksal,<br />

daivaæ oder niyati beziehen, und die sicherstellt, dass jede Bemühung<br />

mit ihrer angemessenen Frucht belohnt wird, gründet auf der allgegenwärtigen<br />

und allmächtigen Allwissenheit (die als Brahman bezeichnet wird). Halte<br />

daher durch Eigenbemühung die Sinne und das Gemüt im Zaum, und lausche<br />

ruhig und mit großer Aufmerksamkeit dem, was ich dir sagen werde.<br />

Diese Erzählung handelt von der Befreiung. Indem du ihr zusammen mit<br />

den anderen hier versammelten Suchern lauschst, wirst du dieses Höchste<br />

Sein erkennen, in dem es weder Leid noch Zerstörung gibt. Enthüllt wurde<br />

dies mir in einem früheren Leben vom Schöpfer Brahmā selbst.<br />

Rāma, die allgegenwärtige Allwissenheit oder das kosmische Sein leuchtet<br />

auf ewig in allen Lebewesen. Sobald in diesem kosmischen Sein eine Schwingung<br />

entsteht, wird Gott Vi«ïu geboren; so wie eine Welle auf der Oberfläche<br />

des Ozeans erscheint, wenn diese aufgerührt wird. Aus diesem Vi«ïu wird<br />

dann Brahmā, der Schöpfer, geboren. Brahmā beginnt sodann, all die zahllosen<br />

Formen des Belebten und Unbelebten, der fühlenden und nichtfühlenden<br />

Wesen des Universums zu erschaffen. Und das Universum ist wieder so, wie<br />

es vor der kosmischen Auflösung war.<br />

II:10<br />

44


II:11<br />

Der Schöpfer sah, dass alle Lebewesen im Universum Krankheit und Tod,<br />

Schmerz und Freude, unterworfen waren. In seinem Herzen entstand großes<br />

Mitgefühl und er suchte nach einem Weg, der die lebenden Wesen aus all dem<br />

herauszuführen vermochte. Daraufhin rief er Pilgerorte und edle Tugenden<br />

wie Askese, Wohltätigkeit, Wahrhaftigkeit und rechtes Betragen ins Leben.<br />

Jedoch erwiesen sich diese als unzureichend, denn sie konnten dem Leiden<br />

der Menschen nur zeitweise Erleichterung verschaffen und keinerlei endgültige<br />

Befreiung vom Kummer gewähren.<br />

Nachdem er hierüber nachgesonnen hatte, erschuf der Schöpfer mich. Er<br />

zog mich zu sich und legte die Wolke der Unwissenheit auf mein Herz. Sofort<br />

vergaß ich meine wahre Natur und meine Identität. Ich fühlte mich elend. Ich<br />

flehte den Schöpfer Brahmā, meinen eigenen Vater, an, mir den Ausweg aus<br />

dieser Misere zu zeigen. Versunken im Elend war ich unfähig und unwillig,<br />

irgend etwas zu tun – ich blieb träge und müßig.<br />

Als Erwiderung meines Gebets enthüllte mir mein Vater das wahre Wissen,<br />

das unverzüglich den Schleier der Unwissenheit, den er selbst über mich<br />

ausgebreitet hatte,lüftete. Daraufhin sprach der Schöpfer zu mir: „Mein Sohn,<br />

ich verhüllte das Wissen und ich enthüllte es wieder, so dass du seine Herrlichkeit<br />

erfahren mögest, denn nur so kannst du die Qualen der unwissenden<br />

Wesen verstehen und ihnen beistehen.“ Ausgestattet mit dieser Erkenntnis,<br />

Rāma, bin ich hierher gekommen, und ich werde hier sein bis zum Ende der<br />

Schöpfung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In jedem neuen Zeitalter erschafft der Schöpfer aus freien Stücken verschiedene<br />

Weise wie mich, um der spirituellen Erleuchtung aller zu dienen.<br />

Und zur Aufrechterhaltung der gerechten Ordnung der täglichen Pflichten<br />

aller erschafft Brahmā darüber hinaus die Könige, die gerecht und weise über<br />

Teile der Erde herrschen. Diese Könige werden jedoch schon bald durch die<br />

Lust nach Macht und Vergnügen verdorben, und Interessenskonflikte führen<br />

zu Kriegen, welche in Trauer und Reue enden. Um ihre Unwissenheit zu beseitigen,<br />

pflegen die Weisen sie in der spirituellen Weisheit zu unterrichten.<br />

In den alten Zeiten, oh Rāma, empfingen die Könige diese Weisheit und<br />

schätzten sie auch. Aus diesem Grunde war dieselbe als Rāja-Vidyā, die königliche<br />

Wissenschaft, bekannt.<br />

In deinem Herzen ist die höchste Form der Leidenschaftslosigkeit erwacht,<br />

geboren aus Unterscheidung, oh Rāma, und diese ist der Leidenschaftslosigkeit,<br />

die aus zufälligen Umständen oder großem Ekel entstanden ist, überlegen.<br />

Eine Leidenschaftslosigkeit dieser Art ist gewiss nur der Gnade Gottes zu<br />

verdanken. Es ist diese Gnade, die mit der Reife des Unterscheidungsvermögens<br />

in genau dem Moment zusammentrifft, wenn im Herzen die Leidenschaftslosigkeit<br />

entsteht.<br />

Solange nicht die höchste Wahrheit im Herzen dämmert, bleibt der Mensch<br />

in diesem Rad von Geburt und Tod gefangen. Höre nun bitte meiner Darlegung<br />

dieser Weisheit mit aufmerksamem Gemüt zu.<br />

45


Diese Weisheit zerstört den Wald der Unwissenheit. Solange man in diesem<br />

Wald umherstreift, erfährt man nichts als Verwirrung und endlos erscheinendes<br />

Leiden. Daher sollte man zu einem erleuchteten Lehrer gehen und<br />

durch richtige Fragen mit der richtigen Haltung die Lehre ans Licht befördern.<br />

Dann wird sie zu einem integralen Teil des eigenen Seins werden. Der<br />

Dummkopf stellt respektlos bedeutungslose Fragen, und der größte Narr ist,<br />

der die Weisheit des Weisen achtlos fortwirft. Gewiss ist derjenige nicht als<br />

Weiser zu bezeichnen, der die müßigen Fragen eines närrischen Fragestellers<br />

beantwortet.<br />

Oh Rāma – du bist wohl der Beste unter den Suchern, denn du hast gründlich<br />

über die Wahrheit nachgedacht und bist von der höchsten Form der<br />

Leidenschaftslosigkeit inspiriert. Und ich bin sicher, dass das, was ich dir nun<br />

mitteilen werde, seinen festen Platz in deinem Herzen erlangen wird. Mit<br />

Entschiedenheit sollte man darum kämpfen, der Weisheit ihren Thron im<br />

eigenen Herzen zu errichten, denn das Gemüt ist unruhig wie ein Affe. Und<br />

man sollte auch die Gesellschaft von Unweisen meiden.<br />

Rāma, über den Einlass ins Reich der Freiheit (Mok«a) wachen vier Torwächter.<br />

Es sind dies die Selbstbeherrschung, der Geist der Selbsterforschung,<br />

die Zufriedenheit und die gute Gesellschaft. Der weise Suchende<br />

sollte sich eifrig um die Freundschaft aller dieser Torwächter oder zumindest<br />

um die von einem bemühen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Mit einem reinen Herzen und einem aufgeschlossenen Verstand, frei von<br />

der Wolke der Zweifel und der Ruhelosigkeit des Gemüts, lausche der Darlegung<br />

der Natur und der Mittel der Befreiung, oh Rāma. Denn solange das<br />

Höchste Sein nicht verwirklicht ist, werden die furchtbaren Schrecken von<br />

Tod und Geburt nicht enden. Wenn diese tödliche Schlange, die als die Unwissenheit<br />

des Lebens bezeichnet wird, nicht hier und jetzt überwältigt wird,<br />

wird endloses Leiden nicht nur in diesem, sondern auch in zahllosen Leben<br />

danach entstehen. Ignorieren kann man dieses Leiden nicht, aber man kann<br />

es mit den Mitteln der Weisheit, die ich dir nun mitteile, überwinden.<br />

Oh Rāma, wenn du einmal diese Qual der Wiedergeburt (saæsāra) überwunden<br />

hast, dann wirst du auf dieser Erde wie ein Gott leben, wie Brahmā<br />

oder Vi«ïu! Denn wenn die Täuschung gegangen und die Wahrheit mit den<br />

Mitteln der Erforschung der eigenen, wahren Natur verwirklicht worden ist,<br />

wenn das Gemüt befriedet ist und das Herz sich in die höchste Wahrheit<br />

aufschwingt, wenn alle störenden Gedankenwellen im Verstand sich gelegt<br />

haben und ein ununterbrochener Strom von Frieden herrscht und das Herz<br />

voll von der Seligkeit des Absoluten ist, wenn somit die Wahrheit im eigenen<br />

Herzen geschaut worden ist – dann wird diese Welt wahrlich die Heimstatt<br />

der Freude.<br />

Eine solche Person hat nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren. Sie ist<br />

unbefleckt von den Makeln des Lebens, unberührt von seinen Sorgen. Weder<br />

II:12, 13<br />

46


tritt diese Person in die Existenz noch verlässt sie diese, obwohl sie dies in<br />

den Augen der Zuschauer zu tun scheint. Auch religiöse Vorschriften sind für<br />

sie unnötig geworden. Sie ist nicht mehr von vergangenen Neigungen betroffen,<br />

da diese ihre Antriebskraft verloren haben. Das Gemüt dieser Person hat<br />

seine Ruhelosigkeit verloren; es ruht in der Seligkeit, die seine eigentliche<br />

Natur ist. Solche Seligkeit ist nur durch die Selbsterkenntnis erreichbar und<br />

mit keinem anderen Mittel. Daher sollte man sich konstant der Selbsterkenntnis<br />

verpflichten – dies allein ist die Pflicht des Menschen.<br />

Derjenige, der die heiligen Schriften und die heiligen Männer missachtet,<br />

wird niemals Selbsterkenntnis erlangen. Eine solche Dummheit Art ist weitaus<br />

schädlicher als sämtliche Krankheiten, denen man auf dieser Welt ausgesetzt<br />

ist. Daher sollte man demütig dieser Schrift lauschen, die den Zuhörer<br />

zur Selbsterkenntnis führen wird. Wer diese Schrift empfängt, der wird nie<br />

wieder in das finstere Loch der Unwissenheit fallen. Oh Rāma, wenn du dich<br />

vom Kummer des saæsāra (des Lebenszyklus) befreien willst, dann empfange<br />

die heilsamen Unterweisungen von einem Weisen wie mir und sei frei.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Um diesen ungeheuren Ozean von saæsāra (des Lebenszyklus) zu überqueren,<br />

sollte man Zuflucht zu dem nehmen, was ewiglich und wandellos ist. Nur<br />

der ist der Beste unter den Menschen, oh Rāma, dessen Gemüt im Ewigen<br />

wohnt und der daher vollkommen selbstbeherrscht und im Frieden ist. Er<br />

vermag zu sehen, wie sich Freude und Schmerz gegenseitig jagen und aufheben,<br />

und nur in dieser Weisheit sind Selbstbeherrschung und Frieden zu<br />

finden. Wer dies nicht zu erkennen vermag, schläft in einem brennenden<br />

Haus.<br />

Wer auch immer diese Weisheit des Ewigen hier zu erlangen versteht, wird<br />

befreit vom saæsāra und nicht wieder in Unwissenheit geboren. Man mag<br />

nun zweifeln, ob eine solche wandellose Wahrheit tatsächlich existiert. Sollte<br />

dies nicht der Fall sein, dann wäre es gut, über die Natur des Lebens nachzudenken.<br />

Denn nach dem Ewigen zu suchen, mildert die Schmerzen des Lebens,<br />

die durch seine fortwährende Wechselhaftigkeit erzeugt werden. Sollte<br />

diese Wahrheit jedoch tatsächlich existieren, dann wird man durch ihre Erkenntnis<br />

frei.<br />

Das Ewige wird nicht durch Gottesdienst und Rituale, durch Pilgerreisen<br />

oder Wohlstand erlangt. Es wird nur durch die Eroberung des Gemüts, durch<br />

die Kultivierung der Weisheit erlangt. Daher sollte wahrhaftig jeder – ob<br />

Götter, Halbgötter oder Menschen – beständig (beim Gehen, Stehen und sogar<br />

im Fallen) nach der Eroberung des Gemüts und der Selbstbeherrschung<br />

trachten, die die Früchte der Weisheit sind.<br />

Sobald das Gemüt im Frieden, rein, still, frei von Täuschung oder Wahn, klar<br />

und frei vom Verlangen ist, wünscht es nichts mehr und weist nichts zurück.<br />

Darin besteht die Selbstbeherrschung oder die Eroberung des Gemüts – einer<br />

der vier Torwächter der Befreiung, die ich früher erwähnt habe.<br />

47


II:14<br />

Aus der Selbstbeherrschung fließt alles Gute und Verheißungsvolle. Selbstbeherrschung<br />

zerstreut alles Böse. Kein Gewinn, kein Vergnügen in dieser<br />

Welt oder im Himmel ist vergleichbar mit der Wonne der Selbstbeherrschung.<br />

Die Freude, die man in der Gegenwart des Selbstbeherrschten empfindet,<br />

ist unvergleichlich. Von allen wird ihm spontan Vertrauen entgegengebracht.<br />

Niemand hasst ihn, nicht einmal Dämonen und Kobolde.<br />

Selbstbeherrschung, oh Rāma, ist das beste Hilfsmittel gegen alle physischen<br />

und mentalen Beschwerden. Mit Selbstbeherrschung schmeckt sogar<br />

die Nahrung, die du isst, besser, andernfalls ist sie nur bitter. Wer den Harnisch<br />

der Selbstbeherrschung trägt, wird vom Kummer nicht getroffen.<br />

Wer beim Hören, Berühren, Sehen, Riechen und Schmecken dessen, was als<br />

erfreulich und unerfreulich angesehen wird, weder erfreut noch unerfreut ist<br />

– dieser ist wahrhaftig selbstbeherrscht. Wer alle Wesen mit demselben<br />

Gleichmut betrachtet und die Empfindungen von Freude und Schmerz unter<br />

Kontrolle gebracht hat – dieser ist wahrhaftig selbstbeherrscht. Wer, obwohl<br />

er unter der Menge lebt, völlig unbeeinflusst von dieser ist und weder freudige<br />

Erregung noch Abscheu verspürt, wie im Tiefschlaf – dieser ist wahrhaftig<br />

selbstbeherrscht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Selbsterforschung (der zweite Torwächter der Befreiung) sollte von einem<br />

Gemüt unternommen werden, das durch ein intensives Studium der<br />

Schriften gereinigt ist. Die Selbsterforschung sollte ununterbrochen stattfinden.<br />

Durch diese Erforschung wird das Gemüt kühn und fähig, das Höchste zu<br />

realisieren. Daher ist die Erforschung allein das Heilmittel für die langandauernde<br />

Krankheit namens saæsāra.<br />

Der weise Mann betrachtet Stärke, Klugheit, Tüchtigkeit und richtiges Handeln<br />

als Früchte der Selbsterforschung. Tatsächlich sind Königtum, Wohlstand,<br />

Genuss und schlussendlich die Befreiung alles Früchte der Selbsterforschung.<br />

Der Geist der Selbsterforschung schützt vor Unheil, das den gedankenlosen<br />

Narren überfällt. Wenn das Gemüt durch die Abwesenheit der<br />

Selbsterforschung stumpf geworden ist, dann verwandeln sich sogar die<br />

Strahlen des Mondlichts in tödliche Waffen und die kindische Einbildungskraft<br />

beschwört in jeder dunklen Ecke einen Kobold herauf. Daher ist der<br />

nicht forschende Narr wahrhaftig ein Lagerhaus für Sorgen. Es ist die Abwesenheit<br />

der Selbsterforschung, die Handlungen herbeizieht, die einem selbst<br />

und anderen schaden und die Ursache zahlloser psychosomatischer Beschwerden<br />

ist. Daher sollte man die Gesellschaft von gedankenlosen Leuten<br />

meiden.<br />

Diejenigen, in denen der Geist der Selbsterforschung stets wach ist, erleuchten<br />

die Welt und alle, die mit ihnen in Berührung kommen. Sie vertreiben die<br />

Gespenster, die der unwissende Verstand erschafft, und durchschauen die<br />

Falschheit der Sinnesvergnügen und ihrer Objekte. Oh Rāma, im Licht der<br />

Selbsterforschung kann die Verwirklichung der ewigen und wandellosen<br />

48


Wirklichkeit geschehen, und dies ist das Höchste. In ihrer Gesellschaft verlangt<br />

man weder nach etwas noch weist man irgendetwas zurück. Ein solcher<br />

Mensch ist frei von Täuschung und Anhaftung; weder ist er untätig noch<br />

ertrinkt er in Betriebsamkeit; er lebt und wirkt in dieser Welt, und am Ende<br />

seiner natürlichen Lebenszeit erlangt er den segensreichen Zustand der<br />

vollkommenen Freiheit.<br />

Das Auge der spirituellen Selbsterforschung erblindet auch nicht inmitten<br />

intensiver Tätigkeit. Wer dieses Auge nicht besitzt, ist wahrhaftig zu bedauern.<br />

Es ist besser, als Frosch im Schlamm, als Wurm im Mist, als Schlange in<br />

einem Loch geboren zu werden, als dieses Auge vermissen zu müssen. Worin<br />

besteht die Selbsterforschung? Wer ständig diese Fragen stellt: „Wer bin ich?<br />

Wie konnte dieses Übel von saæsāra (des Lebenszyklus) entstehen?“ betreibt<br />

echte Selbsterforschung. Die Erkenntnis der Wahrheit entsteht durch diese<br />

Erforschung, und aus der Erkenntnis entsteht die Stille im eigenen Sein. Und<br />

daraus erwächst wiederum der höchste Friede, der jedes Verstehen übersteigt<br />

und das Ende allen Kummers bedeutet.<br />

(Vichara oder Selbst-Erforschung ist weder Argumentieren noch Analysieren,<br />

sondern der direkte Blick in sich selbst.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ein weiterer Torwächter der Befreiung ist die Zufriedenheit. Wer einmal in<br />

großen Zügen den Nektar der Zufriedenheit genossen hat, verlangt nicht<br />

mehr nach Sinnesvergnügen. Keine Freude in dieser Welt ist so süß wie die<br />

Zufriedenheit, die alle Sünden vernichtet.<br />

Worin besteht Zufriedenheit? In der Zurückweisung allen Verlangens nach<br />

dem, was gesucht werden muss, und in der Zufriedenheit mit dem, was ungesucht<br />

kommt, ohne erfreut oder nicht erfreut davon zu sein – darin besteht<br />

die Zufriedenheit. Solange man nicht zufrieden ist im Selbst, ist man dem<br />

Kummer ausgeliefert. Mit dem Wachsen der Zufriedenheit erblüht die Reinheit<br />

des Herzens. Dem zufriedenen Menschen, der nichts besitzt, gehört die<br />

Welt.<br />

SatsaÇga (Gemeinschaft mit weisen, heiligen und erleuchteten Personen)<br />

ist ein weiterer Torwächter zur Befreiung. SatsaÇga erweitert die Intelligenz,<br />

zerstört die Unwissenheit und beseitigt die psychologische Unruhe. SatsaÇga<br />

sollte niemals vernachlässigt werden – wie hoch auch immer die Kosten, wie<br />

groß auch immer die Schwierigkeiten und wie viele Hindernisse auch immer<br />

im Wege stehen mögen. SatsaÇga allein ist für den Menschen ein Licht auf<br />

dem Weg des Lebens. SatsaÇga ist allen anderen Formen religiöser Praktiken<br />

wie Wohltätigkeit, Askese, Pilgerreisen und religiösen Riten überlegen.<br />

Unter allen Umständen sollte man alle einem zur Verfügung stehenden Mittel<br />

nutzen, um den Heiligen, die die Wahrheit verwirklicht und in deren Herzen<br />

die Finsternis der Unwissenheit vertrieben ist, zu dienen und sie zu lieben.<br />

Wer dagegen diese Heiligen mit Missachtung behandelt, lädt mit Sicherheit<br />

großes Leiden in sein Haus ein.<br />

II:15, 16<br />

49


II:17<br />

Diese vier – Zufriedenheit, satsaÇga (Gemeinschaft mit Heiligen), der Geist<br />

der Selbsterforschung und Selbstbeherrschung sind die vier sichersten Mittel,<br />

mit deren Hilfe diejenigen, die im Ozean dieses saæsāra (des Lebenszyklus)<br />

zu ertrinken drohen, gerettet werden. Die Zufriedenheit ist der größte Gewinn.<br />

SatsaÇga ist der beste Begleiter zum endgültigen Ziel. Der Geist der<br />

Selbsterforschung ist in sich selbst die größte Weisheit. Und Selbstbeherrschung<br />

bedeutet höchstes Glück. Falls du nicht in der Lage sein solltest, alle<br />

diese vier zu praktizieren, dann praktiziere wenigstens eine davon, denn<br />

durch die eifrige Praxis einer dieser Eigenschaften werden sich die anderen<br />

ebenfalls einfinden. Dann wird dich die höchste Weisheit ohne dein eigenes<br />

Zutun aufsuchen. Solange du nicht den wilden Elefanten deines Gemüts mit<br />

Hilfe dieser edlen Qualitäten bezähmst, kannst du keinerlei Fortschritt hin<br />

zum Höchsten machen; auch dann nicht, falls du ein Gott oder ein Halbgott<br />

werden solltest. Du wärest dann nicht besser dran als ein Baum. Daher, oh<br />

Rāma, strebe unter allen Umständen danach, diese vier edlen Qualitäten zu<br />

kultivieren.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Wer mit den Qualitäten ausgestattet ist, die ich bis hierhin aufgezählt habe,<br />

ist geeignet zu erfahren, was ich als nächstes darzulegen habe. Du bist in der<br />

Tat eine solche qualifizierte Person, oh Rāma. Nur derjenige wünscht diese<br />

Dinge zu hören, der reif für die Befreiung ist. Diese Enthüllung der Wahrheit<br />

führt einen jedoch sogar dann zur Befreiung, wenn man gar nicht den<br />

Wunsch danach hat – auf dieselbe Weise, wie ein Licht die Augen sogar einer<br />

schlafenden Person zu erleuchten vermag. So wie die Furcht aufgrund des<br />

Missverständnisses, dass ein Seil eine Schlange sei, verschwindet, sobald die<br />

Wahrheit erkannt wird, so befreit das Studium dieser Schrift den Menschen<br />

vom Leid, das aus saæsāra geboren wird.<br />

Diese Schrift besteht aus 32000 Versen. Der erste Abschnitt ist unter dem<br />

Namen Vairāgya Prakaraïam (das Kapitel über Leidenschaftslosigkeit) bekannt.<br />

Es unterweist über die Erkenntnis der wahren Natur des Lebens in<br />

dieser Welt. Sein sorgfältiges Studium reinigt das Herz. Dieser Abschnitt<br />

besteht aus 1500 Versen.<br />

Der nächste Abschnitt ist bekannt als Mumuk«u Vyavahāra Prakaraïaæ<br />

(betreffend das Verhalten eines Suchers nach der Befreiung) und besteht aus<br />

1000 Versen. Darin werden die Qualifikationen eines Suchers beschrieben.<br />

Danach kommt Utpatti Prakaraïaæ (der Abschnitt über die Weltentstehung),<br />

der aus 7000 Versen besteht. In ihm finden sich viele inspirierende<br />

Geschichten, die die großartige Wahrheit illustrieren helfen, die darin besteht:<br />

Aufgrund des Wechselspiels der falschen Ideen des „dies“ und „Ich“<br />

erscheint dieses Universum, welches tatsächlich niemals erschaffen wurde.<br />

Der nächste Abschnitt ist Sthiti Prakaraïaæ (Abschnitt über die Existenz),<br />

der aus 3000 Versen besteht. Wiederum mit Unterstützung durch Erzählun-<br />

50


gen wird die Wahrheit betreffend die Existenz dieser Welt dargelegt und ihre<br />

Grundlage enthüllt.<br />

Danach kommt Upasanti Prakaraïaæ (der Abschnitt über das Aufhören),<br />

der aus 5000 Versen besteht. Durch das Studium dieses Abschnitts findet die<br />

irrige Wahrnehmung dieser Welt ihr Ende und hinterlässt nur noch eine<br />

geringfügige Spur der Unwissenheit.<br />

Zuletzt kommt das Nirvāna Prakaraïaæ (der Abschnitt über die Befreiung),<br />

der aus 14500 Versen besteht. Das Studium und Verstehen dieses Abschnitts<br />

zerstört die grundlegende Unwissenheit eines Menschen. Wenn so alle Täuschungen<br />

und Halluzinationen aufgehört haben, entsteht die vollkommene<br />

Freiheit. Obwohl noch im physischen Körper weilend, lebt der Mensch dann<br />

so, als wäre er von ihm frei; er ist frei von allem Verlangen und allen Wünschen,<br />

Anhaftungen und Abneigungen. Er ist befreit von saæsāra (dem Lebenszyklus).<br />

Hier und jetzt ist er frei vom Dämon mit dem Namen „Ich-Sinn“.<br />

Er ist eins mit dem Unendlichen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wer auch immer die Samen der Erkenntnis dieser Schrift aussäht, wird die<br />

Frucht der Verwirklichung der Wahrheit ernten. Eine Darlegung der Wahrheit,<br />

auch wenn sie menschlichen Ursprungs ist, sollte stets angenommen<br />

werden. Andernfalls sollte die Unwahrheit sogar dann zurückgewiesen werden,<br />

wenn sie angeblich göttlicher Offenbarung entstammt. Die Worte sogar<br />

eines kleinen Jungen sollten akzeptiert werden, wenn es Worte der Weisheit<br />

sind. Andernfalls müssen sie wie Strohhalme beiseite geworfen werden, auch<br />

wenn sie von Brahmā dem Schöpfer selbst stammen sollten.<br />

Wer immer der Darlegung dieser Schrift lauscht und darüber nachdenkt,<br />

wird sich unergründlicher Weisheit, fester Überzeugung und unbeirrbarer<br />

Ruhe des Geistes erfreuen. Schon bald wird er ein befreiter Weiser sein, dessen<br />

Glanz unbeschreiblich ist.<br />

Der Weise mit der Vision des Unendlichen sieht in der einen ungeteilten<br />

Intelligenz zahllose Universen erscheinen, denn er hat die Zauberei von Māyā<br />

oder die kosmische Illusion erkannt. Er sieht das Unendliche in jedem Atom<br />

und ist daher unbeeindruckt vom Aufstieg und Zerfall der Gedanken und<br />

Ideen der Schöpfung. Daher ist er stets mit allem zufrieden, was ungesucht zu<br />

ihm kommt und weist es nicht zurück. Auch läuft er nicht hinter dem her, was<br />

ihm weggenommen wird, da er um nichts trauert.<br />

Diese Schrift ist leicht zu verstehen, da sie reichlich mit inspirierenden Erzählungen<br />

ausgeschmückt ist. Wer diese Schrift studiert und über ihre Aussagen<br />

nachsinnt, braucht keinerlei Askesepraktiken, Meditation oder Wiederholung<br />

von Mantras zu unternehmen, denn was könnte großartiger sein als<br />

die Befreiung, die durch das Studium dieser Schrift gewährt wird?<br />

Wer diese Schrift studiert und ihre Lehren versteht, wird nicht länger durch<br />

die Welterscheinung getäuscht. Wer einmal erkannt hat, dass jene tödliche<br />

Schlange nichts als ein lebensechtes Gemälde ist, der fürchtet sich nicht län-<br />

II:18<br />

51


ger vor ihr. Wenn die Welterscheinung als bloße Erscheinung erkannt wird,<br />

dann ruft sie weder Freude noch Leid hervor. Es ist in der Tat bedauerlich,<br />

dass die Menschen immer noch nach Sinnesvergnügen suchen, die nichts als<br />

großen Kummer hervorbringen, obwohl eine Schrift wie diese hier vorliegt.<br />

Oh Rāma – eine Wahrheit, die erläutert, aber noch nicht persönlich erfahren<br />

wurde, kann nur mit Hilfe einer Veranschaulichung erfasst werden. Solche<br />

Veranschaulichungen werden daher in dieser Schrift mit einem bestimmten<br />

Zweck und einer begrenzten Absicht verwendet. Sie dürfen weder wortwörtlich<br />

verstanden noch in ihrer Bedeutung über diese Absicht hinaus erweitert<br />

werden. Wenn die Schrift in diesem Sinne studiert wird, erscheint die Welt<br />

wie ein Traumbild. Eben dies ist der Zweck und die Absicht der Verbildlichungen.<br />

Möge daher niemand aufgrund eines entstellenden Verstandes die<br />

in dieser Schrift enthaltenen Veranschaulichungen missverstehen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Eine Parabel hat nur den Zweck, den Zuhörer hin zur Wahrheit zu führen.<br />

Die Erkenntnis der Wahrheit ist so lebenswichtig, dass alle irgendwie vernünftigen<br />

Methoden gerechtfertigt sind, auch wenn die Parabeln rein fiktiv<br />

sind. Die Parabel selbst ist auf die mit ihrer Hilfe veranschaulichte Wahrheit<br />

nur teilweise anwendbar, und es ist nur dieser Teil, der erfasst werden sollte.<br />

Den Rest sollte man ignorieren. Das Studium und das Verstehen der Schrift<br />

mit Hilfe der Verbildlichungen und eines qualifizierten Lehrers sind nur so<br />

lange erforderlich, bis man die Wahrheit verwirklicht hat.<br />

Es sei noch einmal gesagt, dass ein Studium dieser Art bis zur Erkenntnis<br />

der Wahrheit fortgesetzt werden sollte – man sollte nicht vor dem Erlangen<br />

der Erleuchtung damit aufhören. Eine mangelhafte Kenntnis der Schrift ergibt<br />

nur größere Verwirrung. Die Nichterkenntnis der Existenz des höchsten<br />

Friedens im eigenen Herzen und der Glaube an eine Wirklichkeit eingebildeter<br />

Dinge sind beide aus mangelhaftem Wissen geboren und das Ergebnis<br />

einer verdrehten Denkweise.<br />

So wie der Ozean der Grund aller Wellen ist, so ist allein die direkte Erfahrung<br />

der Grund aller Beweise, nämlich die unmittelbare Erfahrung der Wahrheit,<br />

so wie sie ist. Die Basis ist die erfahrende und verstehende Intelligenz,<br />

die selbst zum Erfahrenden, zum Akt des Erfahrens und zur Erfahrung wird.<br />

Das Erfahren allein ist die Wirklichkeit. Im Zustand des Nicht-Verstehens<br />

jedoch scheint dieses Erfahren ein Subjekt zu haben (den Erfahrenden).<br />

Weisheit, die aus dem Geist der Selbsterforschung geboren ist, zerstreut<br />

dieses Nicht-Verstehen – so kann schließlich die ungeteilte Intelligenz in<br />

ihrem eigenen Licht erstrahlen. Auf dieser Stufe wird sogar der Geist der<br />

Selbsterforschung überflüssig und löst sich von selbst auf.<br />

So wie der Luft die Bewegung eigentümlich ist, so ist die Manifestation (in<br />

der Form des subtilen wahrnehmenden Gemüts und der wahrgenommenen<br />

groben Objekte) dieser erfahrenden Intelligenz eigentümlich. Der wahrnehmende<br />

Verstand denkt aufgrund der Unwissenheit: „Ich bin dieses oder jenes<br />

52


Objekt“, und er wird es dann auch. Das Objekt wird stets nur im Subjekt erfahren<br />

und nirgendwo sonst!<br />

Oh Rāma, bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese Weisheit direkt in dir auftaucht,<br />

nimm wiederholt deine Zuflucht zu dem Wissen, welches von den<br />

großen Lehrern übermittelt wird. Wenn du dieses Wissen von großen Lehrern<br />

empfängst, dann wird dein Betragen das ihrige widerspiegeln, und wenn<br />

du auf diese Weise ihre einzigartigen Qualitäten übernimmst, dann wird sich<br />

auch die Weisheit in dir entfalten. Die Weisheit und das Nacheifern der edlen<br />

Tugenden der Heiligen gedeihen aneinander!<br />

* * *<br />

53


Teil III: Über die Weltentstehung<br />

ùKùŚA — Raum oder Dimension<br />

Im Text tauchen drei wichtige Wörter auf, nämlich cidākāśa, cittākāśa und<br />

bhÆtākāśa. Wörtlich bedeutet ākāśha unendlicher Raum bzw. Äther. Daher<br />

bedeutet cidākāśa Raum des Bewusstseins, cittākāśa Raum des menschlichen<br />

Geistes oder Gemüts (mind-space) und bhÆtākāśa Raum der Elemente. Diese<br />

drei Konzepte wurden von Bhagavān Rāmaïa Mahar«i wunderbar erklärt:<br />

„Es heißt, dass cidākāśa selbst ātma svarÆpa (die Form von ātmā, Seele) sei,<br />

und dass wir dies nur mit Hilfe des Gemüts (mind) sehen können. Wie können<br />

wir es aber sehen, wenn das Gemüt aufgehört hat?” fragte jemand.<br />

Bhagavān erwiderte: „Wenn man den Himmel als bildliches Beispiel nimmt,<br />

dann kann man ihn als dreierlei betrachten, nämlich cidākāśa, cittākāśa und<br />

bhÆtākāśa. Der natürliche Zustand wäre cidākāśa, und das Ich-Empfinden,<br />

welches aus cidākāśa entsteht, wäre cittākāśa. Wenn dieses cittākāśa sich<br />

ausdehnt und die Gestalt aller bhÆtas (Elemente) annimmt, dann ist dies alles<br />

bhÆtākāśa. Wenn dann das cittākāśa, das Bewusstsein des Selbst (‚Ich’), nicht<br />

das cidākāśa, sondern das bhÆtākāśa wahrnimmt, dann spricht man von<br />

mano ākāśha (Raum des menschlichen Geistes oder Gemüts; mano = mind),<br />

und wenn es mano ākāśha hinter sich lässt und das cidākāśa wahrnimmt,<br />

dann nennt man dies cinmaya (reines Bewusstsein). Mit dem Aufhören des<br />

Gemüts ist gemeint, dass die Idee der Vielfalt der Objekte verschwindet und<br />

die Idee der Einheit aller Objekte erscheint. Wenn dies geschieht, dann erscheint<br />

alles als natürlich.“<br />

Eine bessere Übersetzung für den Begriff ākāśha wäre vielleicht „Dimension“.<br />

Ein und dasselbe unendliche Bewusstsein ist als cidākāśa, cittākāśa und<br />

bhÆtākāśa bekannt je nach dem spirituellen, mentalen (konzeptionellen) und<br />

physischen Gesichtspunkt, von dem aus es betrachtet wird.<br />

* * *<br />

54


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nun werde ich dir die Weltentstehung und ihr Geheimnis erläutern. Die Hörigkeit<br />

dauert so lange, wie man das wahrgenommene Objekt als wirklich<br />

ansieht. Sobald dieser Gedanke fallen gelassen wird, verschwindet auch die<br />

Bindung. Hier in dieser Welt wächst und stirbt nur das, was zuvor erschaffen<br />

wurde, und es geht dann entweder in den Himmel oder in die Hölle und es<br />

wird befreit.<br />

Während der kosmischen Auflösung wird die gesamte objektive Schöpfung<br />

in das unendliche Sein zurückgenommen, welches von den Weisen ùtmā,<br />

Brahman oder Wahrheit usw. genannt wird, um das Gespräch und den Meinungsaustausch<br />

darüber zu erleichtern. Dieses selbige unendliche Sein<br />

(Selbst) ersinnt in sich die Dualität von sich selbst und etwas anderem. Daraus<br />

entsteht das Gemüt, wie eine Welle auf dem stillen Ozean erscheint, der<br />

aufgewühlt wird. Denke jedoch stets daran, dass die Eigenschaften und die<br />

Natur des Geschaffenen sowie die Potentialität der Schöpfung dem Schöpfer<br />

selbst innewohnen; so wie ein goldenes Schmuckstück nichts anderes als<br />

Gold ist (obwohl Gold auch ohne das Schmuckstück existieren kann, so kann<br />

doch das Schmuckstück selbst nicht ohne das Gold oder ein anderes Metall<br />

existieren). Das Gemüt ist nicht verschieden (hat selbst keinerlei unabhängige<br />

Existenz) vom unendlichen Selbst.<br />

Ebenso wie eine Luftspiegelung täuschend echt als ein Fluss voll Wasser<br />

erscheinen kann, so erscheint diese Welt als gänzlich real. Solange man an<br />

dem Gedanken der Wirklichkeit von „du“ und „ich“ festhält, gibt es keine<br />

Befreiung. Der Gedanke der Wirklichkeit der Existenz verschwindet nicht<br />

dadurch, dass man diese bloß verwirft oder verbal verneint – im Gegenteil,<br />

eine solche Ablehnung wird zu einer Quelle weiterer Verwirrung.<br />

Rāma, wenn die Welt tatsächlich wirklich wäre, dann gäbe es keinerlei Möglichkeit<br />

ihres Aufhörens, denn es gilt das unveränderliche Gesetz, dass das<br />

Unwirkliche nicht wirklich ist und das Wirkliche nicht aufhört zu sein. Askese,<br />

Meditation und andere ähnliche Praktiken können daher weder ihr Aufhören<br />

verursachen noch die Erleuchtung herbeiführen. Solange die Wahrnehmung<br />

der Welt andauert, so lange ist sogar die Kontemplation (samādhi), in<br />

der es keinerlei Gedankenbewegung (nirvikalpa) gibt, unmöglich. Und auch<br />

wenn dies möglich sein sollte, so würde doch nach der Rückkehr aus dieser<br />

Kontemplation die Welt mit all ihrem Kummer sogleich wieder im Gemüt<br />

erscheinen. Es ist die Bewegung der Gedanken, die die Wahrnehmung erschaffener<br />

Objekte hervorruft.<br />

So wie die Essenz in allen Dingen existiert wie das Öl im Sesamsamen oder<br />

der Duft in den Blumen, so existiert die Fähigkeit der objektiven Wahrnehmung<br />

im Wahrnehmenden. So wie die Traumobjekte nur dem Träumer erscheinen,<br />

so werden die Objekte der Wahrnehmung vom Wahrnehmenden<br />

erfahren. Ebenso wie der aus der Saat hervorgegangene Keimling zur vorbestimmten<br />

Zeit erscheint, so manifestiert sich diese Potentialität als Idee oder<br />

Vorstellung der Schöpfung.<br />

III:1<br />

55


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es gibt einen heiligen Mann namens ùkāśaja (wörtl. „geboren aus leerem<br />

Raum“). Er befindet sich in ständiger Meditation und bewegt in seinem Herzen<br />

die Wohlfahrt aller Wesen. Er hatte schon eine lange Zeit gelebt, als ihn<br />

eines Tages der Tod zu verschlingen suchte. Als der Tod sich ihm näherte,<br />

hatte er jedoch mit einem grimmigen Feuer zu kämpfen, das den heiligen<br />

Mann schützte. Aber auch nachdem der Tod dieses abgewehrt hatte, konnte<br />

er ihn immer noch nicht berühren. Verblüfft durch diese unerwartete und<br />

außergewöhnliche Begebenheit wandte sich der Tod an Gott Yama als den<br />

Gebieter über die Schicksale der Sterblichen und fragte ihn: „Bitte, Herr, teile<br />

mit mir, weshalb es mir unmöglich ist, ihn zu ergreifen.“<br />

Yama erwiderte: „In Wahrheit ist es so, oh Tod, dass du niemanden wirklich<br />

tötest! Der Tod wird in Wirklichkeit durch das Karma der Person (die Frucht<br />

der eigenen Handlungen) herbeigeführt. Versuche daher zu entdecken, was<br />

das entsprechende, verhängnisvolle Karma dieses Mannes ist.“<br />

Jedoch auf dieselbe Weise, wie man nicht das Woher und Wohin des Sohnes<br />

einer unfruchtbaren Frau finden kann, so konnte auch der Tod nirgendwo in<br />

der Welt das Karma dieses heiligen Mannes entdecken. Er ging zu Yama und<br />

berichtete ihm dies.<br />

Yama sagte: „Oh Tod, dieser heilige Mann namens ùkāśaja wurde aus leerem<br />

Raum geboren und hat überhaupt kein Karma. Er ist so rein wie der<br />

Raum. Daher hat er keinerlei Karma hervorgerufen, das dir helfen könnte, ihn<br />

zu ergreifen oder zu verzehren. So wie der Sohn einer unfruchtbaren Frau<br />

wurde auch dieser heilige Mann nicht geboren. Weil er keinerlei Karma aus<br />

‚früheren Geburten’ hat, besitzt er auch kein Gemüt. Er hat daher keinerlei<br />

mentale Tätigkeit verursacht, die ihn in deine Reichweite bringen könnte. Er<br />

ist tatsächlich nichts anderes als eine Masse reinen Geistes. Als lebendes<br />

Wesen erscheint er nur in deinen Augen – in ihm selbst gibt es keinerlei Gedanken,<br />

die ein Karma entstehen lassen könnten. Bewusstsein wird im Bewusstsein<br />

reflektiert, und es ist diese Reflektion, die dann an ihre eigene<br />

Unabhängigkeit glaubt! Es ist jedoch ein falscher Glaube, eine Annahme, die<br />

auf Unwirklichkeit beruht. Der heilige Mann kennt diese Wahrheit.<br />

So wie Flüssigkeit auf natürliche Weise im Wasser und Leere im Raum vorkommt,<br />

so lebt dieser heilige Mann im Höchsten Geist. Er ist selbst eine<br />

unverursachte Manifestation, und daher wird er auch als „selbst-erschaffen“<br />

bezeichnet. Wer die närrische Vorstellung ‚Ich bin dieser Körper, der aus Erde<br />

besteht' unterhält, verwickelt sich selbst in die Materie. Einen solchen Menschen<br />

kannst du leicht überwältigen. Da dieser heilige Mann jedoch keine<br />

solche Vorstellung hat (und deshalb wahrhaftig körperlos ist), befindet er<br />

sich außerhalb deiner Reichweite.<br />

Dieser heilige Mann wurde niemals geboren. Er ist reines Bewusstsein, das<br />

stets unverändert ist. Im unendlichen Sein taucht zu Beginn jeder Epoche<br />

eine Schwingung auf, die aus der latenten Unwissenheit entsteht. Diese mani-<br />

III:2<br />

56


festiert sich dann als die verschiedenen Wesen – wie in einem kosmischen<br />

Traum. Unberührt davon, verbleibt dieser heilige Mann stets reines Bewusstsein.”<br />

VASIåèHA sagte: Im Schöpfer gibt es weder einen Seher noch ein Objekt der<br />

Wahrnehmung. Doch er wird auch als ‚selbst-erschaffen’ bezeichnet. Er erstrahlt<br />

im kosmischen Bewusstsein wie das Bild im Geist eines Künstlers.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im Schöpfer gibt es keinerlei Erinnerung an die Vergangenheit, weil er keinerlei<br />

vorhergegangenes Karma in sich trägt. Er besitzt nicht einmal einen<br />

physischen Körper, denn das Ungeborene besteht nur aus spiritueller Substanz.<br />

Sterbliche Wesen haben zwei Körper – nämlich den physischen und<br />

den spirituellen. Der ungeborene Schöpfer jedoch hat nur den spirituellen, da<br />

die Ursache, die den physischen entstehen lässt, nicht in ihm existiert.<br />

Selbst nicht erschaffen, ist er der Erschaffer aller Wesen. Gewiss ist das Geschaffene<br />

(wie das Schmuckstück) stets von derselben Substanz wie das, aus<br />

dem es erschaffen wurde (Gold). Wie der Gedanke des Schöpfers die Ursache<br />

dieser mannigfaltigen Schöpfung ist und der Schöpfer selbst keinen physischen<br />

Körper hat, so ist wahrhaftig auch diese Welt von der Natur des Gedankens<br />

– ohne jede Materialität.<br />

Ein Pulsieren entstand im Schöpfer, und sein Gedanke breitete sich als das<br />

Universum aus. Diese Bewegung brachte den subtilen Körper (bestehend aus<br />

reinem Geist) aller Lebewesen hervor. Nur aus Gedanken bestehend, sind all<br />

diese Wesen nur scheinbar, obgleich sie alle fühlen, dass sie wirklich sind.<br />

Und diese Scheinhaftigkeit, die als wirklich empfunden wird, erzeugt realistische<br />

Ergebnisse oder Konsequenzen, so wie sexuelles Vergnügen in einem<br />

Traum. Vergleichbar damit scheint auch der Schöpfer (der heilige Mann in<br />

der Geschichte) einen Körper zu haben, obwohl er überhaupt keinen hat.<br />

Auch der Schöpfer ist zweifacher Natur, nämlich Bewusstsein und Denken.<br />

Bewusstsein ist rein, Denken ist der Täuschung unterworfen. Auf diese Weise<br />

scheint er zu sein. Er ist die Intelligenz, die das gesamte Universum aufrechterhält.<br />

Jeder Gedanke, der in dieser Intelligenz auftaucht, lässt eine Form<br />

entstehen. Obgleich alle diese Formen aus reinem Geist sind, kristallisieren<br />

sie aufgrund des Selbstvergessens und der Vorstellung von physischen Formen<br />

zu physischen Formen – so wie gestaltlose Kobolde aufgrund der getäuschten<br />

Wahrnehmung eine Gestalt zu haben scheinen.<br />

Der Schöpfer selbst jedoch ist dieser Täuschung nicht unterworfen. Denn er<br />

verbleibt stets in seiner spirituellen, nicht materiellen Natur. Der Schöpfer ist<br />

spirituell, weshalb auch seine Schöpfung in ihrer Essenz spirituell ist. Diese<br />

Schöpfung ist unverursacht. Folglich ist sie in ihrer Essenz rein spirituell, wie<br />

das Höchste Sein, Brahman, selbst. Die Materialität der Welt ist wie das Luftschloss<br />

– eine illusionäre Projektion des eigenen Gemüts – eine Einbildung.<br />

Der Schöpfer ist das Gemüt, und das Gemüt oder reine Intelligenz sind sein<br />

Körper. Dem Gemüt ist das Denken eingeboren. Das Objekt der Wahrneh-<br />

57<br />

III:4


mung ist wiederum dem Wahrnehmenden eingeboren. Wer hat jemals einen<br />

Unterschied zwischen den beiden feststellen können?<br />

VùLMýKI sagte:<br />

An diesem Punkt der Unterweisung beschleunigte die Sonne ihren Lauf in<br />

Richtung der Berge im Westen, als wäre sie begierig, über die Worte des<br />

Weisen zu meditieren und andere Teile der Erde zu erleuchten. Die Versammlung<br />

löste sich für die Abendgebete auf. Am nächsten Morgen kamen alle<br />

Mitglieder des Hofes wieder wie zuvor zusammen.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh heiliger Weiser! Bitte unterrichte mich darüber, was das Gemüt in<br />

Wahrheit ist.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So wie leeres, lebloses Nichts als Raum bekannt ist, so ist auch das Gemüt<br />

ein leeres Nichts. Ob das Gemüt nun wirklich oder unwirklich ist – es ist stets<br />

das, was in den Objekten der Wahrnehmung gesehen wird. Rāma, Denken ist<br />

Gemüt – es gibt keinen Unterschied zwischen den beiden. Das Selbst, eingekleidet<br />

in den spirituellen Körper, wird als Gemüt gekannt. Dieses ist es, welches<br />

dann den materiellen oder physischen Körper in die Existenz treten<br />

lässt. Unwissenheit saæsāra (der Lebenszyklus), Denken, Bindung, Unreinheit,<br />

Finsternis und Trägheit oder Fühllosigkeit sind alles Synonyme. Gemüt<br />

ist nichts als Erfahrung – es ist selbst nichts anderes als das Wahrgenommene.<br />

Dieses gesamte Universum ist auf ewig nicht verschieden vom Bewusstsein,<br />

das in jedem Atom wohnt, wie das Schmuckstück nicht verschieden vom Gold<br />

ist. So wie das Schmuckstück potentiell im Gold existiert, so existiert das<br />

Objekt im Subjekt. Sobald jedoch dieser Gedanke des Objekts entschieden<br />

zurückgewiesen und vom Subjekt entfernt wird, existiert allein nur noch<br />

Bewusstsein ohne den geringsten Anschein von Objektivität. Wenn dies erkannt<br />

wird, hören alle diese Übel wie Anziehung und Abstoßung, Liebe und<br />

Hass, im eigenen Herzen auf; wie auch die falschen Wahrnehmungen der<br />

Welt, des Du, des Ich usw. Sogar die Neigung zur Objektivierung hört auf, und<br />

dies bedeutet die Freiheit.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, wenn das Objekt der Wahrnehmung wirklich wäre, dann<br />

könnte es nicht aufhören zu sein. Obwohl es aber unwirklich ist, vermögen<br />

wir es nicht als unwirklich zu erkennen. Wie können wir dieses Problem<br />

überwinden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, es gibt die Heiligen, die dieses Problem überwunden haben! Externe<br />

Objekte wie Raum usw. und psychologische Faktoren wie „Ich“ usw.<br />

existieren nur als Namen. In Wirklichkeit existieren weder das objektive<br />

Universum noch das wahrnehmende Selbst; weder die Wahrnehmung als<br />

58


solche noch das Nichts. Stets ist als Einziges nur das kosmische Bewusstsein<br />

(cit). In diesem ist es das Gemüt, welches die Vielfalt, die verschiedenen Tätigkeiten<br />

und Erfahrungen, die Idee von Bindung und den Wunsch nach Befreiung<br />

heraufbeschwört.<br />

Rāma fragte:<br />

Oh heiliger Weiser! Worin besteht der Ursprung dieses Gemüts, und wie<br />

konnte es entstehen? Bitte sei so gut, mich in dieser Frage zu erleuchten.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Nach der kosmischen Auflösung und noch vor dem Aufdämmern der nächsten<br />

Epoche befand sich das gesamte Universum in vollkommenem Gleichgewicht.<br />

Es existierte nur der Höchste Herr, der Ewige, Ungeborene, Selbsterstrahlende,<br />

der das Universum ist und allmächtig. Er befindet sich jenseits<br />

jeder Vorstellung und Beschreibung. Obgleich er unter verschiedenen Namen<br />

wie ùtmā usw. bekannt ist, sind alle diese doch nur Gesichtspunkte und nicht<br />

die eigentliche Wahrheit. Er ist – und doch wird er von der Welt nicht erkannt;<br />

er befindet sich auch im Körper – und ist doch wie weit entfernt. Aus<br />

ihm gehen zahllose Gottheiten wie Vi«ïu hervor, so wie zahllose Strahlen aus<br />

der Sonne hervorgehen. Aus ihm kommen endlose Welten – so wie Wellen an<br />

der Oberfläche des Ozeans entstehen.<br />

Er ist die kosmische Intelligenz, in die die unzählbaren Objekte der Wahrnehmung<br />

eintreten. Er ist das Licht, in dem das Selbst und die Welt erstrahlen.<br />

Er befiehlt die Eigentümlichkeit der Natur aller erschaffenen Dinge. In<br />

Ihm erscheint und verschwindet die Welt – wie eine Luftspiegelung wieder<br />

und wieder erscheint und wieder und wieder verschwindet. Seine Gestalt<br />

(die Welt) verschwindet, aber sein Selbst ist wandellos. Er wohnt in allem. Er<br />

ist verborgen und doch überströmend gegenwärtig. Durch Seine bloße Gegenwart<br />

sind diese anscheinend leblose materielle Welt und ihre Bewohner<br />

unaufhörlich tätig. Wegen Seiner allgegenwärtigen, allmächtigen Allwissenheit<br />

materialisieren sich alle seine Gedanken.<br />

Dieses Höchste Selbst, oh Rāma, kann durch kein anderes Mittel als durch<br />

die Weisheit erkannt werden – nicht einmal durch die Ausübung religiöser<br />

Praktiken. Dieses Selbst ist weder nah noch fern; es ist weder unerreichbar<br />

noch weit weg – es ist das, was in einem selbst als Seligkeit auftaucht, und es<br />

wird daher nur in einem selbst erkannt.<br />

Askese oder Buße, Wohltätigkeit und die Einhaltung religiöser Gelübde führen<br />

nicht zur Verwirklichung des Höchsten Herrn – nur die Gemeinschaft mit<br />

Heiligen und das Studium der wahren Schriften können hier helfen, denn sie<br />

zerstreuen die Unwissenheit und Täuschung. Sogar wenn man davon überzeugt<br />

ist, dass nur dieses Selbst wirklich ist, geht man auf dem Pfad der Befreiung<br />

jenseits von Kummer.<br />

Askese oder Buße sind nichts als selbst zugefügter Schmerz. Was für einen<br />

Wert hat eine aus dem Reichtum entstandene Wohltätigkeit, der aus dem<br />

Betrug an anderen gewonnen wurde? Aus solcher Wohltätigkeit können nur<br />

III:5, 6<br />

59


III:7<br />

die entsprechenden Früchte entstehen! Religiöse Pflichtbefolgung steigert<br />

nur die Eitelkeit. Gegen die Unkenntnis des Höchsten Herrn hilft nur eine<br />

einzige Arznei – die entschiedene und feste Zurückweisung aller Sinnesvergnügen.<br />

RùMA fragte:<br />

Wo wohnt dieser Höchste Herr, und wie kann ich ihn erreichen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Er, der als der Herr gesehen wird, ist nicht sehr weit entfernt – Er ist die<br />

Intelligenz, die im Körper wohnt. Er ist das Universum, obgleich das Universum<br />

nicht Er ist. Er ist das reine Bewusstsein.<br />

RùMA bemerkte:<br />

Sogar ein kleiner Junge sagt, dass der Herr Intelligenz sei. Weshalb sollte<br />

man dies also in Form einer besonderen Unterweisung betonen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Nun, jemand, der das objektive Universum als reine Intelligenz erkennt,<br />

weiß noch gar nichts. Fühlend ist das Universum, und fühlend ist auch die<br />

Seele (jīva). Das Fühlende erschafft das Kennbare und verwickelt sich selbst<br />

in den Kummer. Sobald es ein Aufhören des Kennbaren gibt und der Strom<br />

des Gewahrseins auf das nicht Kennbare (reine Intelligenz) gerichtet wird,<br />

entsteht die Erfüllung – und so geht man über Kummer und Sorge hinaus.<br />

Ohne dieses Aufhören des Kennbaren kann man sein Gewahrsein nicht erfolgreich<br />

vom Kennbaren abwenden. Die bloße Erkenntnis der Verwicklung<br />

des jīva in dieses saæsāra ist nutzlos. Wird jedoch der Höchste Herr erkannt,<br />

dann kommt der Kummer an sein Ende.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, bitte beschreibe uns den Höchsten Herrn.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die kosmische Intelligenz, in der das Universum sozusagen aufhört zu sein,<br />

ist der Höchste Herr. In Ihm scheint die Subjekt-Objekt-Beziehung als solche<br />

aufgehört zu haben. Er ist das Nichts oder die Leere, in der das Universum<br />

scheinbar existiert. In Ihm steht sogar das kosmische Bewusstsein still wie<br />

ein Berg.<br />

RùMA fragte erneut:<br />

Wie können wir diesen Herrn erkennen und die Unwirklichkeit dieses Universums<br />

verstehen, welches wir bisher als wirklich betrachtet haben?<br />

VASIåèHA antwortete: Der Herr kann nur dann erkannt werden, wenn man<br />

fest im Verstehen der Unwirklichkeit des Universums verankert ist, wie auch<br />

die Bläue des Himmels als unwirklich verstanden wird. Dualität setzt Einheit<br />

voraus und Nicht-Dualität legt Dualität nahe. Der Höchste Herr wird nur dann<br />

erkannt, wenn die Welt als gänzlich inexistent erkannt wird.<br />

60


RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, mit welcher Methode wird dies erkannt, und was muss ich<br />

wissen, damit das Kennbare an ein Ende gelangt?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die falsche Vorstellung, dass diese Welt wirklich sei, hat sich tief verwurzelt<br />

aufgrund der andauernden Gewohnheit falschen Denkens. Jedoch kann sie<br />

beseitigt werden, indem du Zuflucht zur Gemeinschaft mit Heiligen und zum<br />

Studium der heiligen Schriften nimmst. Von allen Schriften ist dieses<br />

Mahārāmāyaïaæ hier das Beste. Was hier gefunden wird, wird auch woanders<br />

gefunden, und was hier nicht gefunden wird, findet man auch sonst<br />

nirgends. Wer daher nicht diese, sondern eine andere Schrift studieren möchte,<br />

kann dies zu tun – dagegen gibt es keinerlei Einwände.<br />

Sobald die falsche Vorstellung aufgegeben und die Wahrheit erkannt wird,<br />

wird man von ihr in einem so großen Ausmaße erfüllt, dass man nur noch<br />

daran denken, davon sprechen und sich nur noch an ihr erfreuen und anderen<br />

davon mitteilen möchte. Solche Menschen werden manchmal auch<br />

Jīvanmuktas oder auch Videhamuktas genannt.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, worin bestehen die Eigenschaften der Jīvanmuktas (im Leben<br />

befreit) und Videhamuktas (nach dem Tode befreit, körperlos befreit)?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Wer, obwohl er scheinbar ein normales Leben führt, die gesamte Welt als<br />

eine Leerheit empfindet, ist ein Jīvanmukta. Obwohl er wach ist, erfreut er<br />

sich der Stille des Tiefschlafs; er ist völlig unbeeinflusst von Freude und<br />

Schmerz. Er ist wach im Tiefschlaf, aber er ist niemals wach für diese Welt.<br />

Seine Weisheit ist unbewölkt von latenten Neigungen. Er scheint wie andere<br />

Zu-, Abneigungen und Furcht unterworfen zu sein, aber in Wahrheit ist er so<br />

frei wie der Raum. Er ist frei vom Ich-Sinn und vom Wollen. Seine Intelligenz<br />

klammert sich weder an Tätigkeit noch an Untätigkeit. Niemand fürchtet ihn<br />

– er fürchtet niemanden. Wenn dann sein Körper nach der vorgesehenen Zeit<br />

aufgegeben wird, wird er zum Videhamukta.<br />

Der Videhamukta ist und ist nicht; er ist weder ‚Ich’ noch ‚ein Anderer’. Er<br />

ist die Sonne, die scheint, Vi«ïu, der alle beschützt, Rudra, der alles zerstört,<br />

Brahmā, der erschafft. Er ist Raum, Erde, Wasser und Feuer. Er ist in Wahrheit<br />

kosmisches Bewusstsein – das, was die eigentliche Essenz aller Wesen ist.<br />

Alles, was es in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geben mag – all<br />

dieses ist er und er allein.<br />

RùMA fragte erneut:<br />

Hoher Herr, meine Wahrnehmung ist unklar. Wie kann ich diesen Zustand<br />

erlangen, den du angedeutet hast?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

III:8, 9<br />

61


Was man als Befreiung bezeichnet, oh Rāma, ist in Wahrheit das absolute<br />

Selbst, welches allein ist. Was man hier als ‚Ich‘, ‚Du’ usw., wahrnimmt, scheint<br />

nur zu existieren; tatsächlich wurde es niemals erschaffen. Wie können wir<br />

sagen, dass Brahman zu all diesen Welten geworden sei?<br />

Oh Rāma, in Schmuckstücken sehe ich nichts als Gold, in Wellen sehe ich<br />

nichts als Wasser, in Luft sehe ich nichts als Bewegung, im Raum sehe ich nur<br />

Leere, in der Luftspiegelung sehe ich nur Hitze und nichts anderes. Und ebenso<br />

sehe ich stets nur Brahman, das Absolute – nicht aber die Welten.<br />

Der Gedanke der ‚Welten’ ist nichts als anfangslose Unwissenheit. Durch die<br />

Erforschung der Wahrheit jedoch verschwindet sie schließlich. Es hört nur<br />

das auf, was in die Existenz getreten ist. Diese Welt ist niemals wirklich in die<br />

Existenz getreten, erscheint aber weiterhin. Die Darlegung dieser Wahrheit<br />

ist in diesem Kapitel über die Weltentstehung enthalten.<br />

Als die kosmische Auflösung stattfand, verschwand alles, was zuvor erschienen<br />

war. Das Unendliche allein verblieb. Und dieses war weder Leerheit<br />

noch Form, weder das Sehen noch das Gesehene. Niemand vermag zu sagen,<br />

ob es gewesen oder nicht gewesen ist. Es hat keine Ohren, keine Augen, keine<br />

Zunge – und doch hört, sieht und schmeckt es. Es ist unverursacht und<br />

unerschaffen. Es ist die Ursache von allem, wie Wasser die Ursache von Wellen<br />

ist. Dieses unendliche und ewigliche Licht ist in den Herzen aller und in<br />

seinem Licht erstrahlen die drei Welten wie eine Luftspiegelung.<br />

Wenn das Unendliche zu vibrieren beginnt, scheinen all diese Welten aufzutauchen;<br />

wenn es aufhört zu vibrieren, dann scheinen alle Welten unterzugehen.<br />

Wenn eine brennende Fackel im Kreise herumgewirbelt wird, dann<br />

erscheint ein Feuerkreis; wenn sie stillgehalten wird, verschwindet der Feuerkreis.<br />

Vibrierend oder nicht vibrierend – Es ist stets dasselbe überall und<br />

zu allen Zeiten. Wer dies nicht erkennt, ist der Täuschung unterworfen; wird<br />

es dagegen erkannt, dann hören alle Ängste auf.<br />

Aus Ihm kommt die Zeit – aus Ihm stammt die Wahrnehmung des wahrnehmbaren<br />

Objekts. Tätigkeit, Gestalt, Geschmack, Geruch, Klang, Berührung<br />

und Denken – alles was du weißt, ist nur Es allein. Und Es ist das, wodurch du<br />

all dieses kennst! Es lebt im Seher, im Sehen und im Gesehenen als das eigentliche<br />

Sehen – wenn du dieses kennst, dann erkennst du dein Selbst.<br />

RùMA sagte:<br />

Heiliger Herr, wie kann man vom Ihm sagen, es sei nicht leer, es könne nicht<br />

beleuchtet werden, und es sei nicht dunkel (unerkennbar)? Du verwirrst<br />

mich mit solchen widersprüchlichen Aussagen!<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, du stellst unreife Fragen. Ich werde dich jedoch über die korrekte<br />

Bedeutung aufklären.<br />

So wie das nicht herausgehauene Bildnis auf ewig im Stein enthalten ist, so<br />

ist auch diese Welt, ob sie nun als wirklich oder unwirklich betrachtet wird,<br />

III:10<br />

62


im Absoluten enthalten, das daher kein bloßes Nichts ist. So wie man von<br />

einem ruhigen Ozean nicht sagen kann, dass da keinerlei Wellen seien, so ist<br />

auch das Absolute nicht ohne Welt. Selbstverständlich haben diese Verbildlichungen<br />

nur eine begrenzte Anwendbarkeit – sie sollten in dieser Hinsicht<br />

nicht übertrieben werden.<br />

In Wahrheit ist es jedoch so, dass diese Welt weder aus dem Absoluten auftaucht<br />

noch wieder darin verschwindet. Nur das Absolute existiert jetzt und<br />

für immer. Wenn man es sich als ein Nichts vorstellt, dann ist dies wegen der<br />

Empfindung, dass es kein Nichts ist; wenn man es sich als Nicht-Nichts vorstellt,<br />

dann ist dies wegen des Empfindens, dass es ein Nichts ist.<br />

Das Absolute ist immateriell. Daher können es materielle Quellen wie das<br />

Sonnenlicht nicht beleuchten. Jedoch ist es selbst-strahlend und aus diesem<br />

Grunde weder leblos noch dunkel. Dieses Absolute kann von etwas anderem<br />

nicht erkannt oder erfahren werden – nur das Absolute vermag sich selbst zu<br />

erkennen.<br />

Der unendliche Bewusstseinsraum ist sogar reiner als der eigentliche unendliche<br />

Raum, und die Welt ist so, wie das Unendliche ist. Jedoch – wer noch<br />

nie Pfeffer gekostet hat, kennt seinen Geschmack nicht. Ebenso kann niemand<br />

Bewusstsein im Unendlichen in Abwesenheit von Objektivität erfahren. Selbst<br />

dieses Bewusstsein erscheint daher als träge oder leblos – und so wird auch<br />

die Welt erfahren. So wie im berührbaren Ozean berührbare Wellen gesehen<br />

werden, so existiert im formlosen Brahman die Welt ohne Form. Aus dem<br />

Unendlichen entsteht das Unendliche und existiert in diesem als das Unendliche.<br />

Daher wurde die Welt niemals wirklich erschaffen, weil sie dasselbe ist<br />

wie das, aus dem sie auftaucht.<br />

Wenn der Vorstellung des (persönlichen) Selbst der Brennstoff der Ideen<br />

aus dem Gemüt entzogen wird, dann ist das, was ist, das Unendliche. Was<br />

weder schläft noch leblos ist, ist das Unendliche. Es geschieht wegen dieses<br />

Unendlichen, dass Erkenntnis, Erkenner und Erkanntes als Eines existieren –<br />

in Abwesenheit des Verstandes.<br />

RùMA sagte:<br />

Hoher Herr, wohin geht während der kosmischen Auflösung diese Welt, die<br />

wir jetzt so leibhaftig sehen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Von woher kommt der Sohn einer unfruchtbaren Frau, und wohin geht er?<br />

Der Sohn einer unfruchtbaren Frau existiert nicht – niemals. Ebenso existiert<br />

auch diese Welt nicht – niemals. Diese Analogie verblüfft dich nur deshalb,<br />

weil du die Existenz der Welt für bare Münze nimmst.<br />

Bedenke folgendes: Gibt es eine Wesenheit „Schmuckstück“ in einem goldenen<br />

Schmuckstück? Ist es nicht tatsächlich einfach nur Gold? Gibt es so etwas<br />

wie ein Ding namens Himmel unabhängig von der Leerheit? Ebenso gibt es<br />

kein „Ding” namens „Welt“ unabhängig von Brahman, dem Absoluten. Gerade<br />

63


III:12<br />

so wie die Kälte untrennbar vom Eis ist, so ist das, was man Welt nennt, untrennbar<br />

von Brahman.<br />

Wasser in der Fata Morgana tritt weder in die Existenz noch aus dieser heraus.<br />

Ebenso ist es mit dieser Welt, die weder aus dem Absoluten kommt noch<br />

irgendwo anders hin verschwindet. Die Erschaffung der Welt hat keine Ursache<br />

und daher auch keinen Anfang. Sie existiert nicht einmal jetzt – wie könnte<br />

sie dann zerstört werden?<br />

Wenn du zugibst, dass die Welt nicht aus Brahman heraus erschaffen worden<br />

ist, aber bestätigst, dass sie eine Erscheinung ist, die auf der Wirklichkeit<br />

Brahmans gründet, dann ist ihre Inexistenz in der Tat erwiesen, und nur<br />

Brahman allein existiert. Es ist wie in einem Traum: Im Zustand der Unwissenheit<br />

erscheint die Intelligenz in uns als zahllose Traumobjekte, die wiederum<br />

nichts anderes als diese Intelligenz sind. Auf dieselbe Weise tritt in dem,<br />

was als Anfang der Schöpfung bekannt ist, eine derartige Erscheinung hervor.<br />

Jedoch ist sie nicht unabhängig von Brahman – sie existiert nicht getrennt von<br />

ihm, und daher existiert sie nicht.<br />

RùMA sagte:<br />

Heiliger Herr, wenn dies so ist, wie kommt es dann, dass diese Welt so wirklich<br />

erscheint? Solange der Wahrnehmende ist, existiert auch das Wahrgenommene<br />

und umgekehrt, und nur wenn diese beiden enden, dann gibt es<br />

die Befreiung. Ein klarer Spiegel reflektiert die ganze Zeit über etwas. Auf<br />

dieselbe Weise wird diese Welt im Seher wieder und wieder auftauchen.<br />

Wenn jedoch die Nicht-Existenz der Welt erkannt wird, dann hört der Seher<br />

auf zu sein. Eine solche Erkenntnis ist allerdings nur schwer zu erlangen!<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, ich werde deine Zweifel mit Hilfe einer Parabel zerstreuen. Danach<br />

wirst du die Nicht-Existenz der Welt verstehen und in dieser Welt ein erleuchtetes<br />

Leben führen.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Oh Rāma, ich werde dir nun erzählen, wie diese Schöpfung in dem einen<br />

reinen, ungeteilten kosmischen Sein erschienen ist, so wie Träume im Bewusstsein<br />

der schlafenden Person auftauchen.<br />

Dieses Universum ist in Wirklichkeit das ewiglich strahlende, unendliche<br />

Bewusstsein. Es erzeugt in sich selbst das Kennbare (welches zu dem wird,<br />

was man das Existierende nennt) zusammen mit einer Vorstellung von dessen<br />

Form (die Raum ist) und der Selbsterforschung. Auf diese Weise tritt<br />

unendlicher Raum ins Sein. Wenn dann nach einer beträchtlichen Zeit das<br />

Bewusstsein der Schöpfung im unendlichen Sein stärker wird, taucht darin<br />

der zukünftige jīva auf (die lebendige kosmische Seele, die auch<br />

Hiraïyagarbha genannt wird). Das Unendliche gibt nun seinen höchsten<br />

Zustand auf und begrenzt sich selbst in der Gestalt des jīva. Jedoch – Brahman<br />

verbleibt selbst jetzt als das Unendliche – Es verwandelt sich in keiner Weise<br />

in all diese Formen.<br />

64


Im Raum manifestiert sich von selbst der Klang. Dann tritt als nächstes der<br />

Ich-Sinn ins Sein, der von entscheidender Wichtigkeit für die weitere Schöpfung<br />

des Universums ist, und zur selben Zeit auch der Faktor, der als Zeit<br />

bekannt ist. All dies geschieht nur durch den Schöpfungsgedanken des kosmischen<br />

Seins, nicht aber etwa durch wirkliche Transformationen des Unendlichen.<br />

Durch den Schöpfungsgedanken wird dann die Luft erschaffen. Auch die<br />

Veden treten auf diese Weise ins Sein. Das Bewusstsein, welches von all diesen<br />

Dingen umgeben ist, wird jīva genannt, welcher all die verschiedenen<br />

Elemente in dieser Welt entstehen lässt.<br />

Es gibt vierzehn Ebenen der Existenz, jede mit ihrer eigenen Art von Bewohnern.<br />

Und alle diese Manifestationen entstehen aus dem Schöpfungsgedanken.<br />

So werden auch die Lichtquellen wie die Sonne usw. unverzüglich<br />

erschaffen, sobald dieses Bewusstsein denkt „Ich bin Licht“. Auf ähnliche<br />

Weise entstehen Wasser und Erde.<br />

Alle diese fundamentalen Elemente wirken aufeinander als Erfahrender<br />

und Erfahrung. Diese gesamte Welt trat ins Sein wie die Wellen auf der Oberfläche<br />

des Ozeans. Und all dies ist so wirkungsvoll miteinander verflochten<br />

und vermischt, dass es nicht vor der nächsten kosmischen Auflösung voneinander<br />

getrennt werden kann. Alle diese materiellen Erscheinungsformen<br />

verändern sich unaufhörlich, während die zugrundeliegende Wirklichkeit<br />

unverändert bleibt. Weil sie alle vom Bewusstsein durchzogen sind, werden<br />

sie unverzüglich zu grober physischer Substanz, obgleich sie nichts anderes<br />

als Bewusstsein sind, das sich niemals auf irgendeine Weise verändert hat.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im Höchsten Sein existiert die Vibration, die Gleichgewicht und Ungleichgewicht<br />

ist. Wegen dieser erscheinen da Raum, Licht und Trägheit, obgleich<br />

diese niemals wirklich erschaffen werden. Da all dies im Bewusstsein geschieht,<br />

besitzen sie die Eigenschaft des Kennbaren. Zur selben Zeit entsteht<br />

auch der Kenner. Es ist die innewohnende Macht des Bewusstseins, alle Dinge<br />

zu erleuchten; daher ist es der kosmische Kenner. Dieses Bewusstsein wird<br />

für sich selbst zum Kennbaren und Kenner. Sobald diese Beziehung auftaucht,<br />

erscheint im Bewusstsein auch der Gedanke „Ich bin der jīva, die lebendige<br />

Seele“.<br />

Durch weitere Identifikation mit dem Kennbaren entstehen im reinen Bewusstsein<br />

der Gedanke des Ich und schließlich die Fähigkeit der Unterscheidung<br />

oder der rationalisierende Verstand. Danach entstehen das Gemüt und<br />

die Wurzelelemente. Diese Wurzelelemente verbinden sich wieder und wieder,<br />

um die Welten zu gestalten. Spontan und durch wohlgeordnete Abläufe<br />

erscheinen und verschwinden alle diese zahllosen Formen wieder und wieder,<br />

so wie Städte im Traum kommen und gehen. Keine von ihnen benötigt<br />

irgendeine instrumentale oder materielle Ursache wie Erde, Wasser oder<br />

Feuer. Denn die essenzielle Natur von all diesem ist Bewusstsein, und es ist<br />

III:13<br />

65


dieses Bewusstsein, welches scheinbar alle diese Dinge erschafft; wie jemand<br />

Städte in einem Traum erschafft. All das ist nichts als reines Bewusstsein.<br />

Die fünf Elemente sind die Samen, aus denen diese Welt als der Baum entsteht,<br />

während das ewige Bewusstsein der Samen der Elemente ist. Wie der<br />

Same, so ist die Frucht (der Baum). Daher ist die Welt nichts anderes als<br />

Brahman, das Absolute.<br />

Auf diese Weise ist das Universum im kosmischen Raum durch kosmisches<br />

Bewusstsein mit den ihm innewohnenden unendlichen Kräften heraufbeschworen<br />

worden – es ist nicht real und wurde niemals wirklich erschaffen.<br />

Obgleich alle diese Elemente sich miteinander vermischen und die scheinbare<br />

Materialität in der Welt geschaffen haben, ist all dies in Wahrheit nur eine<br />

bloße Erscheinung, wie die Formen, die man im Äther sieht. Sie verdanken<br />

ihre Realität ihrer Grundlage, dem kosmischen Bewusstsein, welches als<br />

einziges wirklich ist.<br />

Verfalle nicht in die Vorstellung, dass die Welt der fünf Elemente die Schöpfung<br />

dieser Elemente sei. Betrachte die fünf Elemente selbst als Manifestation<br />

der dem absoluten Bewusstsein innewohnenden Kräfte. Man kann sagen,<br />

dass die Elemente wie Erde usw. wie Traumobjekte im Bewusstsein erscheinen,<br />

oder dass sie bloße Erscheinungen sind, die aufgrund von Unwissenheit<br />

dem kosmischen Bewusstsein überlagert werden. So ist die Sichtweise oder<br />

die Wahrnehmung der Heiligen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, ich werde dir nun mitteilen, wie der jīva (lebendige Seele) in diesen<br />

Körper eingegangen ist.<br />

Der jīva hatte den Gedanken: „Von Natur und Gestalt her bin ich atomisch<br />

(getrennt)“. Und so wurde er in seiner Natur atomisch. Jedoch wurde er nur<br />

scheinbar so, und zwar aufgrund seiner falschen Vorstellung. So wie jemand<br />

träumt, er sei tot und habe einen neuen Körper bekommen, so beginnt dieser<br />

jīva, der in Wahrheit über einen extrem subtilen Körper reinen Bewusstseins<br />

verfügt, sich nun selbst mit dem Groben zu identifizieren und daraufhin<br />

selbst von grober Natur zu werden.<br />

So wie ein Berg in einem Spiegel erscheint und so wahrgenommen wird, als<br />

befände er sich im Spiegel, so reflektiert der jīva die externen Objekte und<br />

Tätigkeiten. Schon bald beginnt er dann zu denken, dass sie alle innerhalb<br />

von ihm selbst seien und er der Täter der Tätigkeiten und der Erfahrende der<br />

Erfahrungen sei.<br />

Wenn der jīva zu sehen wünscht, werden im groben Körper die Augen gebildet.<br />

Ebenso geschieht es mit der Haut (dem Berührungssinn), den Ohren,<br />

der Zunge, der Nase und den Organen, die alle als Ergebnis eines entsprechenden<br />

im jīva auftauchenden Wunsches entstehen. Auf diese Weise im<br />

Körper wohnend, stellt sich nun der jīva, der den extrem subtilen Körper des<br />

Bewusstseins besitzt, unterschiedliche physische und psychologische Erfah-<br />

66


ungen vor. Auf diese Weise, durch Verbleiben im Unwirklichen, das aber als<br />

real erscheint, gerät Brahman, das nun als jīva erscheint, in Verwirrung.<br />

Dasselbe Brahman, welches sich nun selbst als den endlichen jīva betrachtet<br />

und mit einem physischen Körper ausgestattet zu sein scheint, versteht<br />

die externe Welt nun aufgrund des Schleiers der Unwissenheit als aus Materie<br />

bestehend. Jemand hält sich für Brahmā, und jemand anderes denkt, er sei<br />

irgendetwas anderes. Auf diese Weise stellt sich auch der jīva als dies oder<br />

das vor und bindet sich so selbst an die Illusion der Welterscheinung.<br />

Jedoch ist all dies nichts als reine Einbildung oder Denken. Sogar in diesem<br />

Augenblick existiert nichts Geschaffenes – es existiert nur der reine, unendliche<br />

Raum. Brahmā der Schöpfer konnte die Welt nicht so erschaffen, wie sie<br />

vor der kosmischen Auflösung war, weil Brahmā die letztliche Befreiung<br />

erlangt hat. Nur kosmisches Bewusstsein allein existiert jetzt und für immer –<br />

in ihm sind keine Welten, keine erschaffenen Wesen. Dieses in sich selbst<br />

reflektierte Bewusstsein erscheint als die Schöpfung. So wie der unwirkliche<br />

Albtraum scheinbar reale Ergebnisse erzeugt, so lässt auch diese Welt im<br />

Zustand der Unwissenheit das Gefühl der Echtheit entstehen. Sobald die<br />

wahre Weisheit entsteht, verflüchtigt sich diese Unwirklichkeit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wie ich dir bereits erklärt habe, oh Rāma, wurde diese aus dem Ich-Sinn<br />

und den unzähligen Objekten der Erfahrung bestehende Welt niemals erschaffen<br />

und existiert daher nicht als solche; was existiert, ist allein Brahman,<br />

die Absolute Existenz. So wie Wellen auf der stillen Oberfläche des Ozeans<br />

erscheinen, sobald dieser aufgewühlt wird, ebenso manifestiert sich die jīva-<br />

Natur in demselben Moment, da das Absolute sozusagen ‚denkt’, dass es ein<br />

jīva sei. So wie eine schlafende Person in sich selbst anscheinend zahllose<br />

Kreaturen erschafft, ohne dabei jemals ihre einzigartige und alleinige Wirklichkeit<br />

aufzugeben, so lässt das Absolute durch den bloßen Gedanken oder<br />

Willen all diese zahllosen Kreaturen ins Dasein treten, ohne dadurch den<br />

geringsten Wandel oder eine Verkleinerung seiner selbst zu erfahren.<br />

Die kosmische Gestalt (VirāÂ) dieses kosmischen Bewusstseins ist selbstverständlich<br />

von der Natur reinen Bewusstseins und wird nicht durch die<br />

grobe Materialität verunreinigt. Die kosmische Gestalt bestehend aus reinem<br />

Bewusstsein kann verglichen werden mit einem ewig dauernden Traum in<br />

einer schlafenden Person, in dem Paläste und andere Wesen existieren.<br />

Sogar der Schöpfer Brahmā ist innerhalb dieses kosmischen Bewusstseins<br />

nichts als ein bloßer Gedanke, denn das Bewusstsein, welches seine eigenen<br />

Gedankenformen innerhalb seiner selbst reflektiert, ist stets dieser scheinbare<br />

Seher und das Gesehene, was reine Einbildung ist. Alles dieses existiert nur<br />

als Name; auch die Vielfalt besteht nur im Namen. So wie das kosmische Sein<br />

im kosmischen Bewusstsein als eine kosmische Gedankenform auftaucht, so<br />

tauchen aus den Gedanken dieser kosmischen Gedankenform weitere auf – so<br />

wie eine Lampe an einer anderen entzündet wird. Jedoch sind sie alle nicht<br />

III:14<br />

67


verschieden von diesem einen kosmischen Sein, aus dessen Gedankenschwingung<br />

sie allesamt entstanden sind.<br />

Brahman allein ist das kosmische Sein (VirāÂ), und das kosmische Sein ist<br />

diese gesamte Schöpfung, zusammen mit dem jīva und all den Elementen, aus<br />

denen diese Schöpfung besteht.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, gibt es nur einen kosmischen jīva oder mehrere jīvas? Oder gibt<br />

es vielleicht eine riesige Ansammlung von jīvas?<br />

VASIåèHA antwortete:<br />

Rāma, da sind weder ein einziger jīva noch viele oder gar ein Konglomerat<br />

von jīvas. „Jīva“ ist nichts als ein Name! Was existiert, ist einzig und allein<br />

immer nur Brahman. Da er allmächtig ist, materialisieren sich seine Gedankenformen.<br />

Das Eine erscheint nur aufgrund der Unwissenheit als Vieles. Wir<br />

werden durch diese Unwissenheit nicht getäuscht, da sie durch Erforschung<br />

verschwindet, wie die Finsternis schwindet, sobald das Licht gebracht wird,<br />

um sie anzuschauen. Brahman ist die kosmische (Mahājīva) Seele und die<br />

Millionen von jīvas. Nichts anderes ist da.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Durch das Wahrnehmen von etwas Kennbarem wird das Bewusstsein zum<br />

jīva (der lebendigen Seele) und verwickelt sich scheinbar in den Lebenszyklus<br />

(saæsāra). Sobald diese falsche Vorstellung von etwas Kennbarem getrennt<br />

vom Kenner (Bewusstsein) aufhört, erlangt es sein Gleichgewicht<br />

wieder.<br />

Auf eine wohlgeordnete, aber manchmal auch auf ungeordnete Art und<br />

Weise wird der eine Mahājīva zum individuellen jīva, der von der vorherigen<br />

Generation das Empfinden der Dualität und Individualität ererbt.<br />

Die mysteriöse Kraft des Bewusstseins, welches auf eine unerklärliche und<br />

rätselhafte Weise diese unendliche Vielfalt von Namen und Formen (Körper)<br />

hervorbringt, wird als Ich-Sinn bezeichnet. Dasselbe Bewusstsein wird, sobald<br />

es zu schmecken oder sich selbst zu erfahren wünscht, zum kennbaren<br />

Universum. Nur unreife Menschen sehen darin eine wirklich stattfindende<br />

Transformation oder betrachten es als eine irreführende Erscheinung, denn<br />

hier gibt es nichts anderes als Bewusstsein.<br />

Der Ozean ist Wasser, die Wellen sind Wasser, und wenn diese Wellen auf<br />

der Oberfläche des Ozeans spielen, dann entstehen Kräuselwellen (ebenfalls<br />

Wasser). Ebenso ist es mit dem Universum. So wie der Ozean die „Individualität“<br />

der einzelnen Wellen wahrnehmen könnte, so sieht auch das Bewusstsein<br />

die Individuen als unabhängig – auf diese Weise wird der Ich-Sinn geboren<br />

(die „Ich-heit“). All dies ist nur das wunderbare Spiel der mysteriösen Kräfte<br />

des Bewusstseins – dies allein wird Universum genannt.<br />

Sobald der Ich-Sinn in die Existenz tritt, stellt sich dieser (der nicht verschieden<br />

vom Bewusstsein ist) die Ideen der mannigfaltigen Elemente vor,<br />

68


die dieses Universum ausmachen, und diese tauchen dann auch auf. In der<br />

Einheit entsteht so die Vielfalt. Oh Rāma, gib alle diese falschen Vorstellungen<br />

von „ich” und „du” auf, indem du sogar die Idee eines jīva und seiner Ursache<br />

aufgibst. Wenn alle diese Dinge verschwunden sind, wirst du die Wahrheit<br />

erkennen, die sich in der Mitte zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen<br />

befindet. Wenn alle diese „Wolken“ zerstreut sind, leuchtet das Eine<br />

Unteilbare Ganze, das niemals aufgehört hat zu leuchten. Wir können nicht<br />

wissen, was wirklich oder was falsch ist!<br />

Dieses Bewusstsein ist nicht erfassbar – sobald es wünscht, erkannt zu<br />

werden, wird es als das Universum erkannt. Gemüt, Intellekt, Ich-Sinn, die<br />

fünf Grundelemente und die Welt – all diese unzähligen Namen und Formen<br />

sind nichts als Bewusstsein. Ein Mensch, sein Leben und seine Taten sind<br />

ununterscheidbar – sie sind die statischen und bewegten Manifestationen<br />

desselben Faktors. Der Jīva, das Gemüt und alles andere sind nichts als<br />

Schwingungen im Bewusstsein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Dieses Bewusstsein ist in der Tat, was hier und jetzt existiert, und es weiß:<br />

„Ich kann weder verletzt noch verbrannt, weder genässt noch getrocknet<br />

werden – Ich bin ewiglich, allgegenwärtig, wandellos und unbeweglich.“ Dies<br />

ist die Wahrheit. Die Menschen lieben es zu argumentieren und andere zu<br />

verwirren; sie sind in der Tat alle verwirrt. Wir jedoch, oh Rāma, sind jenseits<br />

jeder Verwirrung. Wandel im Wandellosen wird nur von den unwissenden<br />

und irregeführten Leuten wahrgenommen. In der Sicht der Weisen jedoch,<br />

die Selbsterkenntnis erlangt haben, findet im Bewusstseins niemals auch nur<br />

der kleinste Wandel statt.<br />

Oh Rāma, es ist nur das Bewusstsein selbst, welches sich als Raum ausgebreitet<br />

hat, ohne in sich den kleinsten Wandel zu erfahren. Danach erscheint<br />

das Bewusstsein als der Wind, der die Eigenschaft der Bewegung besitzt. Und<br />

auf dieselbe Weise erscheint das Bewusstsein als Feuer, Wasser und Erde mit<br />

ihren Mineralien, und ebenso als die Körper der lebenden Wesen.<br />

Sobald die Idee eines im Außen liegenden Kennbaren beseitigt ist, taucht<br />

die Selbsterkenntnis auf, aber wenn in ihm die Idee der Trägheit (Materiellen)<br />

oder Unwissenheit auftaucht, so ist der Zustand des Tiefschlafs über es<br />

gekommen. Weil daher alle Zeit Bewusstsein allein existiert, kann man sagen,<br />

dass Raum existiert und nicht existiert, dass die Welt existiert und doch nicht<br />

existiert.<br />

So wie die Hitze zum Feuer gehört, die Weiße zum Innern der Muschel, die<br />

Festigkeit zum Berg, das Fließen zum Wasser, die Süße zum Zuckerrohr, die<br />

Butter zur Milch, die Kühle zum Eis, die Strahlkraft zum Glanz, das Öl zum<br />

Senfsamen, das Strömen zum Fluss, die Süße zum Honig, das Schmuckstück<br />

zum Gold und der Duft zur Blume, so gehört das Universum zum Bewusstsein.<br />

Die Welt existiert, weil es Bewusstsein gibt; und die Welt ist der Körper<br />

des Bewusstseins. Da gibt es keinerlei Teilung, Unterschied oder Unterscheidung.<br />

Daher kann das Universum als gleichzeitig real und irreal angesehen<br />

69


werden: Real, weil es die Realität des Bewusstseins hat, welches seine eigene<br />

Realität ist, und irreal, weil das Universum als Universum nicht unabhängig<br />

vom Bewusstsein existiert. Dieses Bewusstsein ist unteilbar und hat keinerlei<br />

Teile oder Glieder. In ihm existieren weder der Ozean, die Erde noch die Flüsse<br />

usw. als solche, sondern nur als Bewusstsein, denn im Bewusstsein gibt es<br />

keinerlei Teile oder Glieder.<br />

Wegen der Irrealität des Universums usw. darf man aber nicht behaupten,<br />

dass seine Ursache, d. h. das Bewusstsein, selbst irreal sei. Eine derartige<br />

Aussage wäre nur Worte ohne Sinn, weil sie im Gegensatz zu unserer Erfahrung<br />

steht, und die Existenz des Bewusstseins kann nicht geleugnet werden.<br />

(An diesem Punkt der Unterweisung brach der Abend herein und die Versammlung<br />

löste sich auf.)<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Līlā<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, so wie wir im Wachzustand erkennen, dass die Traumobjekte<br />

nicht materiell sind, obschon sie im Traum als solide erscheinen, so erscheint<br />

diese Welt als solide und materiell, während sie in Wirklichkeit reines Bewusstsein<br />

ist. In einer Luftspiegelung gibt es weder „zeitlich begrenztes“ noch<br />

„subtiles“ Wasser. Auf dieselbe Weise existiert in keiner Weise eine reale Welt,<br />

sondern stets nur reines Bewusstsein. Nur falsches Wissen klammert sich an<br />

den Gedanken einer Welt. In Wirklichkeit gibt es keinen Unterschied zwischen<br />

den Wörtern „Welt“, „Brahman oder das Unendliche“ und „Selbst“. Die<br />

Welt ist so wahr in Beziehung zu Brahman wie die Traumstadt wahr ist in<br />

Beziehung zum Wachbewusstsein. Folglich sind „Welt“ und „kosmisches<br />

Bewusstsein“ Synonyme.<br />

Um dies alles kristallklar zu machen, oh Rāma, werde ich dir nun die Geschichte<br />

von Mandapa erzählen; bitte höre aufmerksam zu.<br />

Es gab einmal, oh Rāma, auf der Erde einen König namens Padma. In jeder<br />

Hinsicht war er vollkommen. Durch sein Auftreten und sein Betragen erhöhte<br />

er den Ruhm seiner Dynastie. Er hielt die religiöse Überlieferung in Ehren, so<br />

wie der Ozean das Dasein des Ufers respektiert. Er unterwarf seine Feinde, so<br />

wie die Sonne die Finsternis vernichtet. Und wie Feuer Stroh zu Asche verbrennt,<br />

so zerstörte er das Böse in der Gesellschaft. Heilige suchten bei ihm<br />

Zuflucht, so wie die Götter Zuflucht in den Himmeln suchen. Er war die Heimstatt<br />

der Tugend. Er ließ seine Feinde erzittern auf dem Schlachtfeld, so wie<br />

ein Windstoß eine Kletterpflanze zerzaust. Er war außerordentlich gelehrt<br />

III:15<br />

70


III:16<br />

und ein Meister der Künste. Es gab nichts, was er nicht erreichen konnte, wie<br />

es auch für Gott Nārāyana keine Unmöglichkeit gibt.<br />

Dieser König hatte eine Gemahlin namens Līlā. Sie war eine vollkommene<br />

Frau und sehr schön. Tatsächlich erschien sie wie die auf der Erde geborene<br />

Göttin Lak«mī (die Gemahlin Nārāyanas). Ihre Rede war sanft, ihr Schritt<br />

bedachtsam und anmutig und ihr Lächeln wie die Strahlen des Mondlichts.<br />

Sie war makellos. Sie war so süß wie Honig. Ihre Arme waren weich und zart.<br />

Ihr Körper war rein und klar wie die Wasser des heiligen Flusses GaÇgā. So<br />

wie eine Berührung des heiligen GaÇgā Seligkeit hervorbringt, so erfuhr, wer<br />

sie berührte, die Seligkeit. Sie war ihrem Gemahl Padma vollkommen ergeben<br />

und wusste, wie sie ihm dienen und ihn erfreuen konnte.<br />

Sie war eins mit dem König und teilte Freuden und Leiden mit ihm. Tatsächlich<br />

war sie wie das Alter Ego von Padma, mit einer Ausnahme: Wenn der<br />

König verärgert war, dann zeigte sie nur Furcht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

König Padma und die Königin Līlā lebten ein ideales Leben. Sie erfreuten<br />

sich ihres Lebens in jeder möglichen und rechtschaffenen Hinsicht. Sie waren<br />

jung und jugendlich wie Götter, und ihre Liebe füreinander war rein und<br />

stark, ohne eine Falschheit oder Künstlichkeit.<br />

Eines Tages dachte die Königin Līlā: „Dieser edelste König, der mein Gemahl<br />

ist, ist mir teurer als mein eigenes Leben. Was kann ich tun, damit er und ich<br />

für immer leben mögen, um die Freuden des Lebens zu genießen? Ich werde<br />

unverzüglich mit Askeseübungen beginnen, die von den Heiligen empfohlen<br />

werden, um diesen Wunsch zu erfüllen.“ So holte sie den Rat der Heiligen ein.<br />

Die Heiligen sagten zu ihr: „Oh Königin, Askese oder Buße, die Wiederholung<br />

von Mantras und ein Leben der Selbstbeschränkung wird dir sicher alles<br />

gewähren, was jemand in dieser Welt erlangen kann, jedoch ist die Unsterblichkeit<br />

des Körpers in dieser Welt nicht möglich.“<br />

Die Königin dachte über diesen Rat nach und entschied: „Falls ich noch vor<br />

meinem Gemahl sterben sollte, dann sollte ich die Selbsterkenntnis erlangen<br />

und frei vom Leiden werden. Falls er mich jedoch vorher verlassen sollte,<br />

dann werde ich mich jetzt bemühen, die Gunst von den Göttern zu erlangen,<br />

dass sein jīva niemals diesen Palast verlässt. Und so werde ich glücklich in<br />

dem Wissen leben, dass er auf immer mit mir ist.“<br />

Nachdem sie zu diesem Entschluss gekommen war, begann Līlā damit, die<br />

Gnade der Göttin Sarasvatī zu erlangen, ohne ihr Vorhaben mit ihrem Gemahl<br />

zu besprechen. Einmal in drei Nächten pflegte sie zu essen, nachdem sie<br />

hingebungsvoll Gott, die Heiligen, den Lehrer, die Gelehrten und die Weisen<br />

verehrt hatte. Sie war gänzlich davon überzeugt, dass diese Bußübungen<br />

erfolgreich sein würden, und die Überzeugung verstärkte ihre Hingabe an<br />

ihre Übungen. Obgleich sie ihre Absicht dem König nicht enthüllt hatte, ließ<br />

sie es an ihrem Dienst gegenüber ihrem Ehemann nicht im Kleinsten fehlen.<br />

Nach einhundert dieser drei-nächtigen Verehrungsübungen erschien die<br />

71


Göttin Sarasvatī vor ihr und gewährte ihr die Wünsche ihrer Wahl. Līlā bat:<br />

„Oh Göttliche Mutter, gewähre mit zwei Wünsche: 1. wenn mein Gemahl seinen<br />

Körper verlässt, dann möge sein jīva im Palast bleiben, und 2. mögest du<br />

immer dann erscheinen, wenn ich dich darum bitte.“ Sarasvatī gewährte<br />

beide Wünsche und verschwand.<br />

Die Zeit verging unerbittlich. König Padma wurde auf dem Schlachtfeld tödlich<br />

verwundet und starb im Palast. Die Königin Līlā war untröstlich in ihrem<br />

Kummer. Während sie in tiefe Trauer versunken war, sprach eine himmlische<br />

Stimme zu ihr.<br />

DIE HIMMLISCHE STIMME VON SARASVATĪ sagte:<br />

Mein Kind, bedecke den toten Körper des Königs mit Blumen, denn so wird<br />

er nicht zerfallen. Er wird dann den Palast nicht verlassen.<br />

(Līlā tat so. Doch fühlte sie sich nicht befriedigt. Es ging ihr wie dem reichen<br />

Mann, der betrogen wurde und nun ein Leben voller Armut führt. Sie rief die<br />

Göttin Sarasvatī an, die erschien und sagte:)<br />

Mein Kind, weshalb trauerst du? Kummer ist eine Illusion, wie Wasser in<br />

der Luftspiegelung.<br />

(Līlā fragte sie: Bitte, sage mir, wo mein Gemahl ist.)<br />

Oh Līlā, es gibt drei Arten von Raum – den Raum des Gemüts, den physischen<br />

Raum und den unendlichen Raum des Bewusstseins. Von diesen ist der<br />

unendliche Raum des Bewusstseins der subtilste. Mit Hilfe intensiver Meditation<br />

über diesen unendlichen Raum des Bewusstseins kannst du die Gegenwart<br />

von jemandem (wie deinem Gemahl), dessen Körper dieser unendliche<br />

Raum ist, sehen und erfahren, auch wenn du ihn hier nicht sehen kannst. Das<br />

ist der unendliche Raum, der in der Mitte existiert, wenn die begrenzte Intelligenz<br />

von einem Ort zum anderen reist, denn er ist unendlich. Sobald du alle<br />

Gedanken aufgegeben hast, wirst du hier und jetzt die Verwirklichung der<br />

Einheit von allem erlangen. Normalerweise vermag dies nur derjenige zu<br />

erfahren, der zuvor die absolute Inexistenz des Universums erkannt hat. Dir<br />

jedoch gebe ich diese Erfahrung aus meiner Gnade heraus.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Līlā begann zu meditieren. Unverzüglich trat sie in den höchsten Zustand<br />

des Bewusstseins ein, der frei von allen Störungen war (nirvikalpa). Sie befand<br />

sich nun im unendlichen Raum des Bewusstseins. Dort sah sie aufs Neue<br />

den König auf einem Thron, umgeben von vielen Königen, die ihm huldigten,<br />

von vielen Weisen und heiligen Männern, die die Veden sangen, und von<br />

vielen Frauen und bewaffneten Kriegern. Sie sah alle, jedoch sie sahen sie<br />

nicht, da die eigenen Gedankenformen nur für einen selbst, jedoch nicht für<br />

andere sichtbar sind. Sie sah, dass der König einen jugendlichen Körper besaß.<br />

Außerdem bemerkte sie an seinem Hof viele Mitglieder des Hofes von<br />

König Padma. Sie fragte sich: Wie kann dies sein? Alle diese sind also auch tot!<br />

III:17<br />

72


III:18<br />

Durch die Gnade der Göttin Sarasvatī gelangte Līlā wieder in ihren Palast<br />

und fand ihre Dienerinnen schlafend. Sie weckte sie und bat sie, unverzüglich<br />

die Mitglieder des königlichen Hofes zu versammeln. Boten wurden rasch<br />

ausgesandt, um alle herbei zu holen. Schon bald war der königliche Hof von<br />

König Padma bevölkert mit Ministern, Weisen, Bediensteten, Verwandten und<br />

Freunden. Wie sie alle sah, freute Līlā sich.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als sie nun alle Mitglieder des königlichen Hofes sah, war Līlā verwirrt. Sie<br />

dachte: „Wie seltsam! Denn alle diese Leute scheinen an zwei Orten gleichzeitig<br />

zu existieren – an dem Ort, den ich in meiner Meditation gesehen habe,<br />

und hier direkt vor mir. So wie ein Berg in einem Spiegel und außerhalb gesehen<br />

wird, so scheint diese Schöpfung sowohl innerhalb wie außerhalb des<br />

Bewusstseins zu existieren. Aber welche von diesen ist nun wirklich und<br />

welche bloße Reflektion? Ich muss dies Sarasvatī fragen“. Sie huldigte erneut<br />

Sarasvatī und sah sie schon bald vor ihr erscheinen.<br />

LĪLù fragte:<br />

Sei gnädig, oh Gottheit, und sage mir dieses: Das, worin diese Welt reflektiert<br />

wird, ist von höchster Reinheit und ungeteilt, und es ist nicht das Objekt<br />

des Wissens. Diese Welt existiert sowohl innerhalb als ihre Reflektion als<br />

auch außerhalb als feste Materie. Was davon ist nun wirklich und was die<br />

Reflektion?<br />

SARASVATĪ fragte:<br />

Sage mir zuvor: Was nennst du wirklich und was unwirklich?<br />

LĪLù erwiderte:<br />

Dass ich hier bin und du vor mir bist, dies erachte ich als wirklich. Jene Region,<br />

wo ich mein Gemahl jetzt ist, erachte ich als unwirklich.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Wie kann Unwirkliches die Wirkung des Wirklichen sein? Die Wirkung ist<br />

die Ursache – einen essenziellen Unterschied gibt es nicht. Wie im Fall eines<br />

Gefäßes, der das Wasser zu halten vermag, was seine Ursache (der Ton) aber<br />

nicht kann, so ist dieser Unterschied den zusammenwirkenden Ursachen<br />

zuzuschreiben. Was war die materielle Ursache der Geburt deines Gemahls?<br />

Denn nur materielle Wirkungen können von materiellen Ursachen erzeugt<br />

werden.<br />

Wenn du daher keine direkte Ursache für eine Wirkung finden kannst, dann<br />

existierte die Ursache gewiss in der Erinnerung aus der Vergangenheit. Erinnerung<br />

ist wie Raum – leer. Alle Schöpfung hier ist die Wirkung dieser Leerheit,<br />

und folglich ist auch die Schöpfung selbst leer. So wie die Geburt deines<br />

Gemahls das illusionäre Produkt der Erinnerung ist, so sehe ich all dieses als<br />

das illusorische und unwirkliche Produkt der Einbildungskraft.<br />

Ich werde dir nun eine Geschichte erzählen, die die traumartige Natur dieser<br />

Schöpfung verdeutlicht. Im reinen Bewusstsein, in einer Ecke im Gemüt<br />

73


III:19,20<br />

des Schöpfers, gab es einmal einen verfallenen Schrein mit einer blauen Kuppel.<br />

In ihm waren vierzehn Zimmer, die die vierzehn Welten darstellten. Die<br />

drei Teile des (unendlichen) Raumes waren durch Löcher darin repräsentiert.<br />

Die Sonne war das Licht. Es gab darin kleine Ameisenhaufen (die Städte),<br />

kleine Erdhaufen (Berge) und kleine Wasserbecken (die Ozeane). Dies war<br />

die Schöpfung, das Universum. In einer sehr kleinen Ecke darin lebte ein<br />

heiliger Mann mit seiner Frau und seinen Kindern. Er war gesund und kräftig<br />

und frei von Furcht. Er ging auf rechtschaffene Weise seinen religiösen und<br />

sozialen Pflichten nach.<br />

SARASVATĪ fuhr fort:<br />

Dieser heilige Mann war bekannt als Vāsi«Âha, und seine Frau war<br />

Arundhatī (jedoch handelt es sich hier um andere Personen als der Vāsi«Âha<br />

und die Arundhatī von legendärer Berühmtheit). Eines Tages, als der heilige<br />

Mann auf dem Gipfel eines Berges saß, bemerkte er am Fuße des Berges eine<br />

farbenfrohe Prozession, der ein König auf einem prächtigen Elefanten vorausritt,<br />

begleitet von seiner Armee und anderem königlichen Gefolge. Während<br />

er dies betrachtete, entstand im Herzen des heiligen Mannes ein Wunsch:<br />

„Das Leben eines Königs ist wahrhaftig reich und voll an Freuden und Glanz.<br />

Wann werde ich einen solchen königlichen Elefanten reiten und von einer<br />

Armee begleitet werden? “<br />

Der heilige Mann wurde alt und der Tod ergriff ihn. Seine Frau, die ihn zeitlebens<br />

verehrt hatte, betete zu mir und bat um dieselbe Gunst, die auch du dir<br />

erbeten hast: Dass der Geist ihres Ehemanns niemals ihr Haus verlassen<br />

möge. Ich gewährte ihr diese Gunst.<br />

Obwohl der heilige Mann ein himmlisches Wesen war, wurde er nun aufgrund<br />

seines festen Wunsches ein mächtiger König und regierte ein großes<br />

Reich, das wie der Himmel auf Erden war. Von seinen Widersachern wurde er<br />

gefürchtet, gegenüber den Frauen war er wie der Gott der Liebe, er war fest<br />

und unnachgiebig wie ein Berg gegenüber Verführungen, er war in seinem<br />

Innern wie ein reiner Spiegel der Schriften, er war der Wunscherfüller aller in<br />

Not Geratenen und der Ruheort für alle Heiligen; mit einem Wort – er war<br />

wahrhaftig der Vollmond der Rechtschaffenheit. (Arundhatī hatte inzwischen<br />

ebenfalls ihren Körper aufgegeben und war wieder mit ihrem Ehemann vereint.)<br />

Dies geschah vor acht Tagen.<br />

Līlā, es ist eben derselbe heilige Mann, der jetzt dein Gemahl ist, der König.<br />

Und du bist die nämliche Arundhatī, die seine Frau war. Aufgrund von Unwissenheit<br />

und Täuschung scheint all dies im unendlichen Bewusstsein zu geschehen<br />

– du kannst es als wahr oder falsch betrachten.<br />

LĪLù fragte:<br />

Oh Gottheit, all dieses kommt mir seltsam und unglaublich vor. Es ist, als<br />

würde man sagen, dass ein riesiger Elefant im Innern eines Senfsamens gefesselt<br />

ist, oder dass in einem Atom ein Moskito mit einem Löwen kämpft,<br />

oder dass da ein Berg in einer Lotos-Schote sei.<br />

74


SARASVATĪ sagte: Mein Kind, ich äußere keine Falschheit, sondern sage die<br />

Wahrheit. Es klingt unglaubwürdig, aber dieses Königreich erscheint nur<br />

aufgrund seines Wunsches nach einem Königreich in der Hütte des heiligen<br />

Mannes. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist verborgen – und ihr beide<br />

seid aufs Neue auferstanden. Tod ist nur das Erwachen aus einem Traum.<br />

Eine Geburt, die aus einem Wunsch entsteht, ist nicht wirklicher als der<br />

Wunsch selbst – wie Wasser in einer Luftspiegelung!<br />

SARASVATĪ fuhr fort:<br />

Līlā, dein Haus, du selbst, ich und all dies hier ist reines Bewusstsein und<br />

nichts anderes. Dein Haus war auch in dem Haus des heiligen Mannes<br />

Vāsi«Âha enthalten. Im Raum seines jīva existierten die Flüsse, die Berge und<br />

alles andere. Sogar nach der „Erschaffung“ von all diesem im Haus des heiligen<br />

Mannes blieb dieses wie zuvor. In der Tat befinden sich in jedem Atom<br />

Welten innerhalb von Welten.<br />

LĪLù fragte:<br />

Oh Gottheit, du sagtest, dass der heilige Mann vor gerade acht Tagen gestorben<br />

sei, und doch haben mein Gemahl und ich eine lange Zeit gelebt. Wie<br />

kannst du diese Diskrepanz erklären?<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Oh Līlā, so wie Raum keinerlei festes Maß hat, so hat auch die Zeit kein festes<br />

Maß. So wie die Welt und ihre Entstehung bloße Erscheinungen sind, so<br />

sind ein Moment und eine Epoche rein imaginär – nicht real. Im Moment<br />

eines Augenzwinkerns erlebt der jīva die Illusion des Todes, vergisst, was<br />

davor geschehen ist, und denkt innerhalb des unendlichen Bewusstseins „Ich<br />

bin dies“ und „Ich bin dessen Sohn, bin so und so alt“ usw. Es gibt keinen<br />

substanziellen Unterschied zwischen den Erfahrungen dieser Welt und denen<br />

in einer anderen – alle sind nur Gedankenformen im unendlichen Bewusstsein.<br />

Sie sind wie zwei Wellen im selben Ozean. Da diese Welten niemals<br />

erschaffen worden sind, werden sie auch niemals aufhören zu sein – so lautet<br />

das Gesetz. Ihre wahre Natur ist Bewusstsein.<br />

So wie es in einem Traum in kurzer Zeit Geburt, Tod und Beziehungen gibt,<br />

und wie dem Liebhaber eine einzige Nacht ohne seine Geliebte wie eine Epoche<br />

vorkommt, so denkt der jīva an erfahrene und nicht-erfahrene Objekte in<br />

der Zeit eines Augenzwinkerns. Und unverzüglich danach stellt er sich diese<br />

Dinge (die Welt) als wirklich vor. Sogar diejenigen Dinge, die er weder erfahren<br />

noch gesehen hat, zeigen sich vor seinen Augen wie in einem Traum.<br />

Diese Welt und ihre Entstehung besteht aus nichts als Erinnerung und<br />

Traum. Entfernungen und Zeitmaße wie ein Moment oder ein Zeitalter sind<br />

nichts als Halluzinationen. Dies ist die eine Art des Wissens, nämlich diejenige<br />

der Erinnerung. Es gibt noch eine andere, die sich nicht auf die Erinnerung<br />

an vergangene Erfahrungen gründet. Sie besteht in der zufälligen Begegnung<br />

eines Atoms und des Bewusstseins, die dann auf ihre eigene Art Wirkungen<br />

hervorruft.<br />

III:20, 21<br />

75


Die Befreiung besteht im Realisieren der totalen Nicht-Existenz des Universums<br />

als solches. Dies ist zu unterscheiden von einer bloßen Leugnung des<br />

Egos und des Universums! Das letztere ist nur Halbwissen. Die Befreiung<br />

besteht darin zu realisieren, dass all dies reines Bewusstsein ist.<br />

LĪLù fragte:<br />

Oh Gottheit, wie war ohne vorhergegangene Halluzination die Erschaffung<br />

des heiligen Mannes und seiner Frau möglich?<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Dies geschah aufgrund der Gedankenform von Brahmā, dem Schöpfer. Er<br />

selbst trägt keinerlei verborgene Gedankenformen (Erinnerungen) in sich, da<br />

vor der Weltentstehung die Auflösung stattfand, und zu diesem Zeitpunkt<br />

erlangte der Schöpfer die Befreiung. Zu Beginn dieser Epoche hat dann irgendjemand<br />

den Platz des Schöpfers eingenommen und gedacht „Ich bin der<br />

neue Schöpfer“, wobei dies auf reinem Zufall beruht, ebenso wie wenn eine<br />

Krähe sich auf einer Palme niederlässt und im selben Augenblick eine Kokosnuss<br />

herunterfällt – obgleich diese beiden Ereignisse gänzlich unabhängig<br />

voneinander geschehen. Vergiss aber nie, dass obwohl all dies anscheinend<br />

stattfindet, es keinerlei Schöpfung gibt! Das Eine unendliche Bewusstsein<br />

allein ist Gedankenform oder Erfahrung – eine Beziehung zwischen Ursache<br />

und Wirkung gibt es nicht. Begriffe wie „Ursache“ und „Wirkung“ sind daher<br />

nur Worte, keine Tatsachen. Das unendliche Bewusstsein ist für immer im<br />

unendlichen Bewusstsein.<br />

LĪLù sagte:<br />

Oh Göttin, deine Worte sind wahrhaftig erleuchtend. Aber weil ich Worte<br />

wie diese noch nie gehört habe, ist meine Weisheit noch nicht gut gegründet.<br />

Ich möchte daher gern das frühere Haus des heiligen Vāsi«Âha sehen.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Oh Līlā, gib nun diese deine Gestalt auf und erlange die reine spirituelle<br />

Einsicht. Denn nur Brahman selbst kann wirklich Brahman sehen oder erkennen.<br />

Mein Körper besteht aus reinem Licht, aus reinem Bewusstsein. Dein<br />

Körper jedoch nicht. Du vermagst mit diesem Körper nicht einmal die Orte<br />

deiner eigenen Einbildungskraft zu erreichen. Wie kannst du dann mit ihm<br />

die Gebiete der Einbildungskraft eines anderen betreten? Wenn du jedoch<br />

den Körper aus Licht erwirbst, dann wirst du auf der Stelle das Haus des<br />

heiligen Mannes sehen können. Sage zu dir selbst: „Ich werde nun meinen<br />

Körper hier und jetzt verlassen und einen Körper aus Licht annehmen. Mit<br />

dem Körper werde ich dann wie der Duft des Weihrauchs das Haus des heiligen<br />

Mannes betreten.“ So wie sich Wasser mit Wasser vermischt, so wirst du<br />

eins mit dem Feld des Bewusstseins werden.<br />

Durch beständige Praxis dieser Meditation wird sogar dein Körper mehr<br />

und mehr zu reinem Bewusstsein und von großer Subtilität werden. Ich sehe<br />

sogar meinen Körper als Bewusstsein. Du aber nicht, weil du diese Welt der<br />

Materie wahrnimmst, so wie ein unwissender Mensch einen Edelstein für<br />

76


einen Kiesel hält. Diese Unwissenheit entsteht aus sich selbst heraus, wird<br />

jedoch durch Weisheit und Erforschung vertrieben. Tatsache ist, dass sogar<br />

diese Unwissenheit als solche überhaupt nicht existiert! Weder Weisheitslosigkeit<br />

noch Unwissenheit, weder Bindung noch Befreiung existieren wirklich.<br />

Es gibt stets nur das eine reine Bewusstsein.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Teure Līlā, im Traum erscheint der Traumkörper als wirklich. Jedoch sobald<br />

der Traum verlassen und das Erwachen zur Wirklichkeit geschieht, verschwindet<br />

die scheinbare Realität des Körpers. Ebenso wie sich der physische<br />

Körper, der durch die Erinnerung und die latenten Neigungen aufrechterhalten<br />

wird, als unwirklich erweist, wenn diese als unwirklich erkannt werden.<br />

Am Ende des Traums wirst du dir deines physischen Körpers bewusst, und<br />

am Ende dieser Neigungen wirst du dir deines geistigen Körpers bewusst.<br />

Wenn der Traum endet, folgt der Tiefschlaf. Wenn die Samen des Denkens<br />

absterben, bist du befreit. In der Befreiung existieren die Samen des Denkens<br />

nicht mehr. Wenn von dem Weisen gesagt wird, dass er lebe und denke wie<br />

andere, dann erscheint dies nur so – so wie ein verbranntes Kleid, das auf<br />

dem Boden liegt. Jedoch ist dies nicht dasselbe wie Tiefschlaf oder Unbewusstheit,<br />

in denen die Samen des Denkens verborgen schlummern.<br />

Durch beständige Praxis (abhyāsa) wird der Ich-Sinn zum Schweigen gebracht.<br />

Dann wirst du auf natürliche Weise in deinem Bewusstsein ruhen,<br />

während das wahrgenommene Universum sich dem Punkt nähert, an dem es<br />

gänzlich verschwindet. Was ist es, was man Praxis nennt?<br />

Nur noch an das denken, davon sprechen, mit anderen sich darüber unterhalten<br />

und äußerste Hingabe an dieses Eine allein – dies wird von den Weisen<br />

abhyāsa oder Praxis genannt. Wenn der eigene Verstand mit Schönheit und<br />

Seligkeit angefüllt ist, wenn die eigene Sichtweise weit und die Leidenschaft<br />

nach sinnlichem Vergnügen in einem abwesend ist – dies nennt man Praxis.<br />

Wer fest in der Überzeugung verwurzelt ist, dass dieses Universum niemals<br />

wirklich erschaffen wurde und daher als solches nicht existiert, und wenn<br />

Gedanken wie „dies ist die Welt, dies bin ich“ überhaupt nicht mehr auftauchen<br />

– das ist abhyāsa oder Praxis. Dann geschieht es, dass Anziehung und<br />

Abstoßung nicht mehr auftreten. Die Überwindung der Anziehung und Abstoßung<br />

durch Willenskraft ist dagegen Askese, nicht aber Weisheit.<br />

(An diesem Punkt der Unterweisung brach der Abend herein und der Hof<br />

zerstreute sich.) Am nächsten Morgen versammelte sich der Hof aufs Neue<br />

und Vāsi«Âha fuhr mit seinen Ausführungen fort.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, Sarasvatī und Königin Līlā saßen nun beide in tiefer Meditation<br />

oder nirvikalpa samādhi. Sie erhoben sich über das Körperbewusstsein. Da<br />

sie alle Vorstellungen über die Welt hinter sich gelassen hatten, verschwand<br />

diese vollständig aus ihrem Bewusstsein. Auf diese Weise bewegten sie sich<br />

frei in ihrem Weisheitskörper umher. Obwohl es so aussah, als hätten sie sich<br />

III:22,23<br />

77


Millionen von Meilen im Raum bewegt, saßen sie immer noch still in demselben<br />

„Raum“ – sie befanden sich jedoch auf einer anderen Ebene des Bewusstseins.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Hand in Hand stiegen Sarasvatī und Līlā langsam in die fernsten Räume des<br />

Äthers auf. Dieser Raum war von immenser Reinheit und vollkommen leer.<br />

Sie ruhten auf dem Berg Meru, der Achse der Erde. Sie schauten zahllose<br />

fesselnde Dinge, als sie sich weiter weg von der Umlaufbahn des Mondes<br />

bewegten. Sie durchstreiften riesige Wolkengebilde im Raum. Sie betraten<br />

den unendlichen Raum – den Schoß und die Quelle unzähliger Wesen in unzähligen<br />

Welten.<br />

Sie sahen die sieben großen Berge des Kosmos, die wie das Feuer der Endzeit<br />

strahlten; sie sahen die goldenen Ebenen nahe des Berges Meru, und sie<br />

sahen die dichtesten Finsternisse. Sie sahen die siddhas (Wesen mit übernatürlichen<br />

Kräften); sie sahen die Mengen und Abermengen Dämonen, Kobolde<br />

und anderer Geister; sie sahen die Raumfahrzeuge kommen und irgendwo<br />

hinfliegen; sie sahen die himmlischen Nymphen singen und tanzen; sie sahen<br />

eine Vielfalt von Vögeln und Tieren; sie sahen die Engel und Götter; sie sahen<br />

große Yogis mit ihren glückverheißenden Eigenschaften; sie sahen den<br />

Wohnort des Schöpfers, den Wohnort von Śiva und anderen. Durch alle diese<br />

Regionen wanderten sie wie zwei Moskitos.<br />

(Anmerkung: Die Beschreibung wird im Originaltext graphisch in allen Einzelheiten<br />

dargestellt.)<br />

Kurz gefasst – sie sahen all das, was sich im Gemüt von Sarasvatī befand,<br />

und was Sarasvatī der Königin Līlā zeigen wollte. Es war wie der Lotos des<br />

Herzens, mit den Blütenblättern als den Himmelsrichtungen, der Unterwelt<br />

als dem Schlamm, in dem er gedieh, und mit der göttlichen Schlange als seine<br />

Wurzel, die ihn hielt.<br />

In diesem Lotos sahen sie, was JaæbÆdvīpa genannt wird, und in dem es<br />

sehr viele Länder und Kontinente gibt. Umschlossen wird dies von einem<br />

salzigen Ozean. Jenseits davon befindet sich Śākadvīpa, umgeben von einem<br />

Ozean aus Milch. Wieder jenseits davon liegt Kuśadvīpa mit einem Ozean aus<br />

saurem Rahm. Dann folgen Krauñcadvīpa und ein Ozean aus Ghee (geklärte<br />

Butter). Dann folgt Śālmalīdvīpa, umgeben von einem Ozean aus Wein. Dann<br />

kommt Gomedadvīpa, umgeben von einem Ozean aus süßem Zuckerrohrsaft.<br />

Dann gibt es noch Pu«karadvīpa – umgeben aus einem Ozean aus süßem<br />

Wasser. Schließlich gibt es dort ein kosmisches Loch. Und jenseits davon<br />

befindet sich der Berg Lokāloka im strahlenden Glanz. Noch weiter jenseits<br />

davon ist der endlose Wald usw. Ganz zum Schluss kommt unendlicher Raum<br />

– schiere Leere.<br />

(Anmerkung: Vergleiche dies mit der Beschreibung im Bhāgavataæ.)<br />

III:25, 25<br />

78


III:26<br />

Als sie so all die Ozeane, Berge, die Beschützer dieses Universums, das Königreich<br />

der Götter, den Himmel und das Innerste der Erde gesehen hatten,<br />

sah Līlā schließlich ihr eigenes Haus.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, die beiden Damen betraten nun das Haus den heiligen Mannes.<br />

Dort befand sich die ganze Familie in Trauer. Wegen dieser Trauer atmete das<br />

Haus selbst eine tief bedrückende Atmosphäre. Durch die Praxis des <strong>Yoga</strong> der<br />

reinen Weisheit hatte Līlā die Fähigkeit erworben, mit deren Hilfe ihre Gedanken<br />

sich unverzüglich materialisierten. Sie wünschte sich, dass „Diese,<br />

meine Verwandten, mich und Sarasvatī als ganz gewöhnliche Frauen sehen<br />

möchten“. So erschienen sie vor der trauernden Familie. Doch beide Frauen<br />

waren von übernatürlichem Glanz, der die düstere Atmosphäre vertrieb.<br />

Der älteste Sohn des verstorbenen heiligen Paares begrüßte die beiden<br />

Damen und hielt sie für zwei Engel des Waldes! Er sagte zu ihnen: „Oh ihr<br />

Engel des Waldes, gewiss seid ihr hierher gekommen, um uns von unserer<br />

Trauer zu befreien. Denn dies ist ja die Natur der Gottheiten – dass sie stets<br />

bemüht sind, den Kummer anderer zu beseitigen.“<br />

Die zwei Damen fragten den jungen Mann: „Sage uns, was die Ursache dieses<br />

Schmerzes ist, der alle Menschen hier überfallen zu haben scheint.“<br />

Der Sohn des heiligen Paares erwiderte: „Oh ihr hohen Damen, in diesem<br />

Haus hier lebten ein frommer Mann und seine ihm ergebene Frau, die beide<br />

ein Leben der Rechtschaffenheit führten. Vor kurzem gaben sie ihre Kinder<br />

und Enkel, ihr Haus und ihr Vieh auf und stiegen in den Himmel hinauf. Aus<br />

diesem Grunde erscheint uns Verbliebenen nun diese ganze Welt leer und<br />

trostlos. Schaut, oh ihr hohen Damen – sogar die Vögel weinen wegen der<br />

Abgeschiedenen, und die Götter weinen vor Kummer (Tränenregen!). Die<br />

Bäume vergießen jeden Morgen Tränen (die Tautropfen). Nachdem sie diese<br />

Erde verlassen haben, sind meine Eltern gewiss in die Welt der Unsterblichen<br />

eingegangen.“<br />

Als sie dieses vernahm, legte Līlā ihre Hand auf den Kopf des jungen Mannes.<br />

Und unverzüglich war er von seinem Kummer befreit. Als die anderen<br />

dies sahen, verschwand ihr Kummer ebenfalls.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Heiliger, wie kam es, dass Līlā ihrem eigenen Sohn nicht als dessen Mutter<br />

erschien?<br />

VASIåèHA erwiderte: Rāma, wer die Unwirklichkeit der materiellen Substanzen<br />

realisiert hat, sieht überall nur das eine, ungeteilte Bewusstsein. Ein<br />

Träumer sieht diese Welt nicht; ein Mann in tiefem Koma sieht vielleicht<br />

sogar die andere Welt. Līlā hatte die Wahrheit verwirklicht. Wer die Wahrheit<br />

erkannt hat, dass Brahman, das Selbst usw. nur das eine, unendliche Bewusstsein<br />

sind – wie kann es für ihn noch Sohn, Freund oder Ehefrau geben?<br />

Sogar das Auflegen ihrer Hand auf den Kopf des jungen Mannes war ein spontaner<br />

Ausdruck der Gnade Brahmans.<br />

79


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem sie so die Familie des verschiedenen heiligen Mannes gesegnet<br />

hatten, verschwanden die beiden Damen. Die getrösteten Mitglieder der<br />

Familie kehrten in ihre Häuser zurück. Līlā wandte sich mit einer Frage an<br />

Sarasvatī. Natürlich waren dabei ihre beiden Körper weder aus Materie wie<br />

Erde noch in einem psychosomatischen Zustand wie dem Lebensatem. Es war<br />

so, als würden zwei Traumobjekte miteinander sprechen. Līlā fragte also<br />

Sarasvatī: „Wie kam es, dass uns meine Familie dort sehen konnten, aber<br />

nicht so mein Gemahl, der ein Königreich regierte, als wir ihn besuchten?“<br />

Sarasvatī erwiderte: „Weil du da noch an deiner Idee ‚Ich bin Līlā‘ festhieltest,<br />

während du jetzt dieses Körperbewusstsein überwunden hast. Solange das<br />

Bewusstsein der Dualität nicht völlig verschwunden ist, kannst du im unendlichen<br />

Bewusstsein nicht agieren. Du vermagst es dann nicht einmal zu verstehen;<br />

so wie jemand, der in der Sonne steht, die Kühle im Schatten eines<br />

Baumes nicht kennt. Wenn du jetzt aber zu deinem Gemahl gehst, dann wirst<br />

du mit ihm so verkehren können wie zuvor.”<br />

LĪLù sagte:<br />

Oh Gottheit! Es geschah hier, dass mein Gemahl der heilige Mann war und<br />

ich seine Frau, und hier wiederum geschah es, dass ich seine Königin wurde.<br />

Er starb hier und ebenfalls hier regiert er jetzt! Bitte, sage mir, wo ich ihn<br />

treffen kann.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Līlā, du und dein Gemahl, ihr seid durch viele Verkörperungen gewandert,<br />

von denen du nun drei kennst. In dieser Verkörperung ist der König zutiefst<br />

in die Falle der Weltlichkeit geraten und denkt: „Ich bin der Gebieter, ich bin<br />

stark, ich bin glücklich usw.“ Obwohl vom spirituellen Gesichtspunkt aus das<br />

gesamte Universum hier und jetzt erfahren wird, werden die unterschiedlichen<br />

Ebenen vom physischen Gesichtspunkt aus durch Millionen von Meilen<br />

getrennt. Im unendlichen Bewusstsein, in jedem seiner Atome, kommen und<br />

gehen die Universen wie Staubkörnchen in einem Sonnenstrahl, der durch ein<br />

Loch im Dach scheint. Sie kommen und gehen wie kleine Wellen auf dem<br />

Ozean.<br />

LĪLù erinnerte sich: Oh Gottheit! Seit ich als eine Reflektion im unendlichen<br />

Bewusstsein erschienen bin, habe ich 800 Geburten erlebt. Jetzt vermag ich<br />

es zu sehen. Ich war eine Nymphe, ein lasterhaftes Menschenweib, eine<br />

Schlange, eine Stammesangehörige im Wald, und aufgrund böser Taten wurde<br />

ich zu einer Kletterpflanze. Dann wurde ich durch den Umgang mit Weisen<br />

die Tochter eines Weisen; schließlich wurde ich ein König, der böse Taten<br />

beging, und so wurde ich zu einem Moskito, einer Biene, einem Hirsch, einem<br />

Fisch. Dann wieder war ich ein himmlisches Wesen und danach eine Schildkröte,<br />

ein Schwan und wieder ein Moskito. Ich war auch einmal eine himmlische<br />

Nymphe, der andere himmlische Wesen (Männer) zu Füßen fielen. So<br />

III:27<br />

80


III:28<br />

wie die Waagschalen sich in einem beständigen Auf und Ab befinden, so war<br />

auch ich im Auf und Ab des Lebenszyklus, des saæsāra, gefangen.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, wie war es möglich, dass die beiden Damen zu den entfernten<br />

Galaxien des Universums reisen konnten, und wie überwanden sie die zahlreichen<br />

Hindernisse auf diesem Weg?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, wo ist das Universum, wo sind die Galaxien, und wo sind die Hindernisse?<br />

Die beiden Damen blieben stets in den innersten Gemächern der<br />

Königin. Dort geschah es, dass der heilige Mann Vāsi«Âha als König Vidūratha<br />

regierte; er war es, der zuvor der König Padma war. All dies geschah im reinen,<br />

unendlichen Raum – es gibt kein Universum, keine Entfernungen, keine<br />

Hindernisse.<br />

Während sie miteinander plauderten, verließen die beiden Damen das<br />

Zimmer und bewegten sich hin zu einem Dorf auf einem Berg. Die Schönheit<br />

und der Glanz dieses Berges sind unbeschreiblich. Alle Häuser waren bedeckt<br />

mit Blumen, die beständig von den Bäumen fielen. Junge Frauen schliefen in<br />

ihren Räumen auf Betten aus Wolken. Erleuchtet wurden die Häuser durch<br />

Blitze.<br />

Aufgrund ihrer intensiven Praxis des <strong>Yoga</strong>s der Weisheit hatte Līlā die volle<br />

Kenntnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlangt. Sie erinnerte<br />

sich an die Vergangenheit und sprach zu Sarasvatī: „Oh Gottheit, vor einiger<br />

Zeit war ich eine alte Frau und lebte hier. Ich führte in jeder Hinsicht ein gutes<br />

Leben, aber ich hatte nie die Erforschung des Selbst (‚Wer bin ich, was ist<br />

diese Welt?’) praktiziert. Mein Gemahl war ebenfalls gut, rechtschaffen und<br />

ein gebildeter Mann, aber auch seine innere Weisheit war nicht erweckt. Wir<br />

waren Vorbilder des rechtschaffenen Lebens und durch unser Beispiel lehrten<br />

wir andere, wie sie leben sollten.“ Nachdem sie dies gesagt hatte, zeigte<br />

Līlā Sarasvatī ihren früheren Wohnort und fuhr fort: „Sieh, dies ist mein Lieblings-Kalb.<br />

Es hat seit meiner Abwesenheit nicht einmal mehr Gras gefressen<br />

und in den vergangenen acht Tagen nur geweint. Hier hat mein Gemahl die<br />

Welt regiert. Wegen seines starken Willens, und weil er fest entschlossen war,<br />

schon bald ein großer König zu werden, wurde er wahrhaftig in der kurzen<br />

Zeit von acht Tagen zu einem Kaiser, obwohl der Zeitraum viel, viel länger zu<br />

sein schien. So wie sich Luft unsichtbar im Raum bewegt, so lebt mein Gemahl<br />

unsichtbar im Raum dieses Hauses. Hier, in einem Raum von der Größe<br />

eines Daumens, erdachten wir uns, dass das Königreich meines Gemahls<br />

Millionen von Quadratmeilen umfassen würde. Oh Gottheit, gewiss sind sowohl<br />

mein Gemahl als auch ich reines Bewusstsein. Und doch sieht es aufgrund<br />

der mysteriösen, illusorischen Macht von Māyā so aus, als würde das<br />

Königreich meines Gemahls hunderte von Bergen enthalten und umfassen.<br />

Wahrhaftig ist dies wunderbar. Ich möchte in die Hauptstadt gehen, in der<br />

81


III:29, 30<br />

mein Gemahl regiert. Komm, lass uns dorthin gehen! Denn für die Strebsamen<br />

ist nichts unmöglich.“<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Zusammen mit Sarasvatī erhob sich Līlā in den Himmel. Sie kamen in die<br />

Region des Polarsterns, jenseits der Reiche der Weisen von Vollkommenheit,<br />

und sogar jenseits der Reiche der Götter, von Brahmā (dem Schöpfer), und<br />

der Reiche von Śiva, den Manen (Vorfahren) und der Befreiten. Von dort aus<br />

sah Līlā, wie sogar die Sonne und der Mond weit, weit unterhalb von ihr lagen<br />

und kaum noch sichtbar waren. Sarasvatī sagte zu Līlā, „Teure, du bist nun<br />

jenseits von wahrhaftig allem gegangen und am Anfang der Schöpfung angelangt.<br />

Alles, was du bisher gesehen hast, sind nur einige wenige Teilchen, die<br />

von hier aus verstreut worden sind.“ Schnell hatten sie diesen Gipfel erreicht,<br />

denn der Wille derer wird unerbittlich, deren Bewusstsein rein und unverhüllt<br />

ist.<br />

Dort sah Līlā, dass diese Schöpfung eingehüllt war in Schichten von Wasser,<br />

Feuer, Luft und Raum, und dass jenseits reines Bewusstsein war. Dieses<br />

Höchste Unendliche Bewusstsein ist rein, friedlich, frei von Täuschung und<br />

selig in seinem eigenen Glanz. Darin sah Līlā die zahllosen Schöpfungen<br />

schweben und treiben wie Staubpartikel in einem Lichtstrahl. Die Gedankenprojektionen<br />

der jīvas, die diese Universen bewohnten, gaben diesen ihre<br />

Gestalt und Natur. Wegen der wahren Natur dieses unendlichen Bewusstseins<br />

tauchten alle diese wieder und wieder auf und verschwanden, bis sie durch<br />

ihre eigene Gedankenkraft schließlich in einen Zustand der Stille zurückkehrten.<br />

All dies war wie das spontane Spiel eines Kindes.<br />

RùMA fragte:<br />

Was meinen die Menschen mit „oberhalb“, „unterhalb“ und ähnlichem,<br />

wenn doch nur das Unendliche die Wahrheit ist?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, es ist wie bei den winzigen Ameisen, die über den runden Fels<br />

krabbeln – alles, was sich unter ihren Füßchen befindet, ist für sie immer<br />

„unterhalb“, und alles, was sich über ihrem Rücken befindet, ist für sie „oberhalb“.<br />

Auf dieselbe Weise reden die Menschen über diese Richtungen.<br />

Unter all diesen zahllosen Universen, oh Rāma, gibt es welche, in denen es<br />

nur Pflanzen gibt. In anderen wiederum sind Brahmā, Vi«ïu, Rudra und andere<br />

die herrschenden Gottheiten, und wieder andere enthalten überhaupt<br />

nichts. In einigen gibt es nur Tiere und Vögel, in anderen nur einen Ozean.<br />

Dann wieder gibt es solche mit solidem Gestein. In weiteren sind nur Würmer<br />

enthalten, und wiederum andere sind von dichter Finsternis durchdrungen.<br />

Manche sind von Göttern bewohnt, und manche sind unaufhörlich beleuchtet.<br />

Manche scheinen der Auflösung entgegenzugehen, und andere scheinen im<br />

Raum zu fallen und ihrer Zerstörung entgegenzugehen. Da Bewusstsein überall<br />

für immer existiert, geht auch die Entstehung dieser Universen und deren<br />

Auflösung für immer weiter. All dies wird von einer mysteriösen, allgegen-<br />

III:31, 40<br />

82


wärtigen Macht zusammengehalten. Rāma, alles existiert in dem einen unendlichen<br />

Bewusstsein; alles entsteht daraus; Es allein ist alles.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem sie all dies gesehen hatte, erblickte Līlā das innerste Gemach des<br />

Palastes, in dem der Leichnam des Königs unter einem Haufen von Blumen<br />

lag. Da entstand in ihr der intensive Wunsch, das jenseitige Leben ihres Gemahls<br />

zu erschauen. In einem Augenblick überflog sie den Gipfel des Universums<br />

und betrat das Reich, in dem ihr Gemahl nun regierte.<br />

Zur selben Zeit begann ein mächtiger König, der über die Sindhu-Region<br />

herrschte, das Königreich ihres Gemahls zu belagern. Als die beiden Damen<br />

im Raum oberhalb des Schlachtfeldes waren, begegneten sie zahllosen himmlischen<br />

Wesen, die sich dort versammelt hatten, um die Schlacht und die<br />

Taten der großen Helden zu verfolgen.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Heiliger, bitte sage mir: Wer ist ein Held unter den Kriegern, und wer ist<br />

ein Ungeheuer oder ein Kriegsverbrecher?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, wer eine Schlacht ficht, die sich in Übereinstimmung mit den Bestimmungen<br />

der Schriften befindet, wie etwa bei einem rechtschaffenen<br />

König von untadeligem Betragen, der ist ein Held, ob er nun in der Schlacht<br />

fällt oder siegreich ist. Wer dagegen für einen ungerechten Monarchen<br />

kämpft, wer die Menschen quält und ihre Körper verstümmelt, der ist ein<br />

Ungeheuer oder ein Verbrecher und wandert in die Hölle, auch dann, wenn er<br />

kämpfend in der Schlacht fällt. Wer für den Schutz der Kühe, der Heiligen, der<br />

Freunde kämpft oder ihnen Zuflucht gewährt, der ist eine Zierde des Himmels.<br />

Wer aber für einen König kämpft, derzu seinem Vergnügen die Menschen<br />

quält, der geht in die Hölle (ob er nun ein König oder nur ein Grundbesitzer<br />

ist). Nur der Held, der in der Schlacht fällt, geht in den Himmel. Diejenigen,<br />

die unrechtmäßig kämpfen, gehen nicht in den Himmel; auch dann nicht,<br />

wenn sie in der Schlacht fallen.<br />

Oh Rāma, immer noch im Himmel stehend, sah Līlā, wie die zwei großen<br />

Armeen sich einander näherten, um sich in die Schlacht zu stürzen. (An dieser<br />

Stelle folgt eine graphische Darstellung der Schlachtbereitschaft der Armeen<br />

und der verschiedenen Formationen der Bataillone als auch der<br />

Grimmigkeit der Schlacht sowie der schrecklichen Szene der Zerstörung, die<br />

darauf folgte. Alle diese Dinge wurden in dieser Übersetzung beiseite gelassen.)<br />

Als der Abend hereinbrach, hielt Līlā's Gemahl eine Versammlung mit seinen<br />

Ministern ab, der die Ereignisse des Morgens betraf. Danach ging er zu<br />

Bett.<br />

83


Die beiden Damen verließen den Platz, von dem aus sie die grimmige<br />

Schlacht beobachtet hatten, und schwebten wie ein Lufthauch davon. Sie<br />

kamen in das Zimmer, in dem der König schlafend lag.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Heiliger, der Körper scheint so schwer und groß – wie konnte er durch<br />

ein so winziges Loch gelangen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, in der Tat ist es unmöglich fürjemanden, der in der Idee verwurzelt<br />

ist, der physische Körper zu sein, durch ein kleines Loch oder einen<br />

schmalen Durchlass zu gelangen. Es ist die innerste Überzeugung des „Ich bin<br />

der Körper, der in seiner Bewegung behindert ist“, die Hindernisse diese Art<br />

erzeugt. Sobald jene Überzeugung fort ist, ist auch das Hindernis fort.<br />

So wie Wasser stets Wasser bleibt und abwärts fließt, und wie Feuer nie<br />

seine aufwärts aufsteigende Natur verliert, so bleibt das Bewusstsein für<br />

immer Bewusstsein. Wer dies jedoch nicht verstanden hat, der erfährt auch<br />

nicht die Subtilitätoder die wahre Natur der Sache. Wie das Verständnis der<br />

Person ist, entsprechend ist ihr Gemüt, denn das Verstehen selbst ist das<br />

Gemüt. Seine Richtung jedoch kann durch starke Bemühung geändert werden.<br />

Normalerweise befinden sich die eigenen Tätigkeiten in Übereinstimmung<br />

mit dem Gemüt (d. h., mit dem eigenen Verständnis einer Sache).<br />

Wer jedoch weiß, dass dieser Körper geistiger Natur ist – wie könnte dessen<br />

Bewegung jemals behindert werden? In Wahrheit sind alle Körper an<br />

jedem Ort reines Bewusstsein. Nur aufgrund der Idee, die im Herzen der<br />

Menschen entsteht, scheint es überall dieses Kommen und Gehen zu geben.<br />

Denn dasselbe unendliche Bewusstsein ist gleichzeitig das individuelle Bewusstsein<br />

(Gemüt) und der kosmische Raum (Materie). Daher kann der geistige<br />

Körper jederzeit überall eintreten – er wird dahin gelenkt, wohin ihn der<br />

Wunsch seines Herzens denkt.<br />

Oh Rāma, jedermanns Bewusstsein hat diese Natur und Fähigkeit. In jedem<br />

Bewusstsein gibt es eine andere Idee von der Welt. Der Tod und andere Erfahrungen<br />

sind wie die kosmische Auflösung, die Nacht des kosmischen Bewusstseins.<br />

Wenn dies an ein Ende gelangt, dann erwacht jeder zu seiner<br />

eigenen mentalen Schöpfung, welche die Materialisation seiner Ideen, Wahrnehmungen<br />

und Illusionen darstellt. So wie das kosmische Sein nach der<br />

kosmischen Auflösung das Universum erschafft, so erschafft das Individuum<br />

nach seinem Tod seine eigene Welt.<br />

Aber Gottheiten wie Brahma, Vi«ïu und Śiva wie auch die heiligen Weisen<br />

erlangen während der kosmischen Auflösung die letztliche Befreiung – ihre<br />

Schöpfungen während des nächsten Zyklus des Universums stammen nicht<br />

aus der Erinnerung. Im Falle aller anderen Wesen ist die neue Schöpfung<br />

nach dem Tod in der vorhergegangenen Schöpfung durch die Eindrücke festgelegt,<br />

die während der Lebensspanne im Gemüt aufgrund der unterschiedlichen<br />

Erfahrungen vorhanden waren.<br />

84


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Unmittelbar nach dem Tode, dem Zustand, von dem man sagen könnte, dass<br />

man in ihm weder ist noch nicht ist, und in dem das Bewusstsein sozusagen<br />

ein wenig die Augen öffnet, obwohl dies nicht stattzufinden scheint – dieser<br />

Zustand wird pradhāna bzw. der materielle oder träge Zustand des Bewusstseins<br />

genannt. Er ist ferner als die ätherisch-geistige, nicht-manifeste Natur<br />

bekannt. Er wird daher sowohl als fühlend wie nicht-fühlend betrachtet. Er<br />

ist das, was für die Erinnerung und ihre Abwesenheit, und daher auch für die<br />

nächste Geburt verantwortlich ist.<br />

Sobald diese ätherisch-geistige Natur erwacht und sich in ihrem Bewusstsein<br />

der Ich-Sinn manifestiert, entstehen dadurch die fünf Elemente (Erde,<br />

Wasser, Feuer, Luft und Äther), das Raum-Zeit-Kontinuum und alle weiteren<br />

Stoffe, die für die physische Geburt und Existenz benötigt werden. Diese<br />

kondensieren dann in ihre materiellen Gegenstücke. Während der Wach- und<br />

Traumzustände führen sie das Empfinden des physischen Körpers herbei.<br />

Aber all dies ist in Wirklichkeit der ätherisch-geistige Körper des jīva.<br />

Sobald die Idee „Ich bin der Körper“ tief eingewurzelt ist, entwickelt derselbe<br />

ätherisch-geistige Körper die physischen Eigenschaften eines Körpers<br />

(wie z.B. die Augen usw.), wobei all dies nur wie eine Schwingung oder Bewegung<br />

der Luft vor sich geht. Obwohl all dies als vollkommen real erscheint, ist<br />

es doch ebenso unwirklich wie die Erfahrung von sexuellem Vergnügen in<br />

einem Traum.<br />

Wo auch immer man stirbt – genau dort sieht der jīva all dies geschehen. In<br />

diesem Raum, in diesem Feld des Bewusstseins selbst, stellt er sich vor: „Dies<br />

ist die Welt, dies bin ich”. Er glaubt, dass er geboren sei und erfährt die Welt,<br />

die nichts als Raum ist. Er selbst, der jīva, ist ebenfalls nichts als Raum! Nun<br />

denkt er: „Er ist mein Vater, sie ist meine Mutter, dies ist mein Besitz, ich habe<br />

diese wunderbare Tat vollbracht; oh weh – ich habe gesündigt.“ Er phantasiert:<br />

„Ich wurde ein kleines Kind, und jetzt bin ich ein Jugendlicher”. Und alle<br />

diese Dinge sieht er in seinem Herzen.<br />

Dieser Dschungel, der als Schöpfung bekannt ist, taucht im Herzen eines<br />

jeden jīvas auf. Wo auch immer eine Person stirbt, dort sieht sie diesen<br />

Dschungel. Auf diese Weise werden im Bewusstsein jedes einzelnen jīvas<br />

zahllose Welten geboren, die alle wieder verschwinden; gleich wie zahllose<br />

Brahmā's, Rudras, Vi«ïu und Sonnen wieder verschwunden sind. Auf diese<br />

Weise hat die illusionäre Wahrnehmung der Welt schon unzählige Male stattgefunden.<br />

Sie findet jetzt gerade statt, und sie wird auch in der Zukunft stattfinden.<br />

Denn all dieses ist nicht verschieden von der Bewegung der Gedanken,<br />

die wiederum nicht unabhängig vom unendlichen Bewusstsein ist. Denn<br />

was ist in Wirklichkeit die mentale Aktivität anderes als Bewusstsein selbst?<br />

Und dieses Bewusstsein ist die höchste Wahrheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

III:41<br />

85


III:42<br />

Die beiden Damen betraten das Gemach des Königs wie zwei Gottheiten –<br />

strahlend wie zwei Monde. Durch ihre göttlichen Kräfte geschah es, dass die<br />

Diener schliefen. Als sie sich niederließen, erwachte der König und erblickte<br />

sie. Er verehrte ihre lotos-gleichen Füße und bestreute sie mit Blumen.<br />

Sarasvatī wünschte, dass sein Minister Līlā mit den Vorfahren des Königs<br />

bekannt machen möge. Durch ihren Willen erwachte der Minister.<br />

Als Sarasvatī den König befragte, wer er sei, informierte der Minister die<br />

Damen, dass er ein Abkömmling des großen Königs Ik«vāku sei; dass sein<br />

Vater Nabhoratha war, der ihm, als der Sohn 10 Jahre alt war, das Königreich<br />

anvertraut habe und selbst in den Wald gegangen sei, um dort ein spirituelles<br />

Leben zu führen. Der Name des Königs war VidÆratha. Sarasvatī segnete<br />

VidÆratha, indem sie ihm ihre Hand auf den Kopf legte und ihn dazu inspirierte,<br />

sich die Einzelheiten seiner vergangenen Leben zu vergegenwärtigen.<br />

Unmittelbar darauf erinnerte sich der König an alles und fragte Sarasvatī:<br />

„Oh Göttin, wie kommt es, dass ich in diesem Körper für volle siebzig Jahre<br />

gelebt zu haben scheine, obwohl ich vor kaum einem Tag gestorben bin? Und<br />

wie kommt es, dass ich mich an alle die Dinge zu erinnern vermag, die geschehen<br />

sind, als ich in dieser Lebensspanne jung war? “<br />

SARASVATĪ erwiderte:<br />

Oh König, im Moment deines Todes, genau an dem Ort, an dem du starbst,<br />

manifestierte sich alles, was du jetzt hier siehst. All dieses hier ist, wo der<br />

heilige Mann Vāsi«Âha lebte, nämlich im Dorf auf den Bergen. Dies hier ist<br />

seine Welt, und in dieser Welt befindet sich die Welt des Königs Padma, und<br />

in dieser wiederum die Welt, in der du selbst dich befindest. Indem du in ihr<br />

lebst, denkst du: „Dies sind meine Verwandten, dies sind meine Untergebenen,<br />

dies sind meine Minister, diese sind meine Feinde.“ Du denkst, dass du<br />

hier regierst, dass du religiöse Riten ausübst; du denkst, dass du gegen deine<br />

Feinde gekämpft hast und von ihnen besiegt wurdest; du denkst, dass du uns<br />

siehst, uns verehrst und von uns die Erleuchtung empfängst; du denkst „Ich<br />

habe allen Kummer überwunden und erfreue mich der höchsten Seligkeit, ich<br />

werde in der Verwirklichung des Absoluten verankert bleiben.“<br />

All dieses benötigt keinerlei Zeit, um zu geschehen, so wie während eines<br />

Traums das Drama eines ganzen Lebens gelebt wird. In Wirklichkeit wurdest<br />

du weder geboren noch stirbst du. Du siehst all dieses, und sozusagen siehst<br />

du es wiederum nicht: Denn wenn all dies hier nichts anderes als das unendliche<br />

Bewusstsein ist – wer sieht dann was? (VIDŪRATHA fragte: Dann sind<br />

demnach diese meine Minister hier keine unabhängigen Wesen?) Für die<br />

erleuchtete Person gibt es nur das eine unendliche Bewusstsein; es gibt keinerlei<br />

Wahrnehmung von „Ich bin“ oder „diese hier sind“. Nachdem Vāsi«Âha<br />

so gesprochen hatte, ging ein weiterer Tag zur Neige.<br />

SARASVATĪ fuhr fort:<br />

Für eine unreife und kindische Person, die überzeugt ist, dass diese Welt<br />

realist, wird sie weiterhin real sein; so wie ein Kind, das an Geister glaubt,<br />

86


sein ganzes Leben lang von ihnen verfolgt wird. Die Person, die angetan ist<br />

von dem goldenen Schmuckstück, vermag nicht zu sehen, dass es einfach nur<br />

Gold ist; wer den Glanz der Paläste, Elefanten und Städte sieht, vermag nicht<br />

das unendliche Bewusstsein zu sehen, welches als einziges wahr ist.<br />

Dieses Universum ist nur ein langer Traum. Der Ich-Sinn wie auch die Phantasievorstellung,<br />

dass da noch andere seien, sind so wirklich wie Traumobjekte.<br />

Die einzige Wirklichkeit ist das unendliche Bewusstsein, welches allgegenwärtig,<br />

rein, still, allmächtig ist und dessen Körper und Wesen absolutes<br />

Bewusstsein ist (und das daher kein Objekt, nicht kennbar ist). Wo auch<br />

immer und in welcher Form sich dieses Bewusstsein manifestiert, zu dem<br />

wird es. Ebenso, wenn der Seher sich ein menschliches Wesen einbildet, dann<br />

tritt dieses menschliche Wesen hier auf. Da das Substrat (das unendliche<br />

Bewusstsein) wirklich ist, erwirbt auch alles, was auf ihm gründet, dessen<br />

Wirklichkeit, obgleich das Substrat allein wirklich ist. Dieses Universum und<br />

alle Wesen darin sind nichts als ein langer Traum: Für mich bist du wirklich,<br />

und für dich bin ich wirklich. Ebenso sind die anderen wirklich für dich oder<br />

mich. Und diese relative Wirklichkeit ist wie die Wirklichkeit der Traumobjekte.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Heiliger, eine Stadt, die im Traum erscheint, fährt fort, als eine wirkliche<br />

Stadt zu erscheinen. Ist es dies, was deine Lehre besagt?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So ist es, oh Rāma. Weil der Traum der Stadt usw. auf der realen Grundlage<br />

des unendlichen Bewusstseins gründet, erscheinen diese Traumobjekte wie<br />

wirklich. Jedoch gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen dem Wachund<br />

dem Traumzustand des Bewusstseins. Was als wirklich in dem einen<br />

erscheint, gilt als unwirklich in dem anderen. Folglich sind beide Zustände<br />

essenziell von derselben Natur.<br />

Daher sind die Objekte des wachen oder träumenden Bewusstseins gleichermaßen<br />

unwirklich mit der Ausnahme des unendlichen Bewusstseins,<br />

dem sie überlagert sind.<br />

Nachdem Sarasvatī dem König diese Unterweisung erteilt hatte, segnete sie<br />

ihn und sprach: „Möge alles Verheißungsvolle dich begleiten. Du hast gesehen,<br />

was es zu sehen gibt. Lass uns nun gehen. “<br />

VidÆratha sprach: „Schon bald, oh Göttin, werde ich fort von hier gehen, so<br />

wie jemand im Schlaf von einem Traum in den anderen geht. Bitte gewähre,<br />

dass meine Minister und meine jungfräuliche Tochter mit mir gehen.“<br />

Sarasvatī gewährte ihm den Wunsch.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Oh König, du wirst in diesem Krieg sterben und dann dein früheres Königreich<br />

wiedererlangen. Nach deinem Tod in diesem Körper wirst du in der<br />

früheren Stadt erneut mit deiner Tochter und deinen Ministern herrschen.<br />

III:43<br />

87


III:44<br />

Wir werden nun gehen wie wir gekommen sind, und ihr alle werdet uns<br />

entsprechend dem natürlichen Verlauf der Dinge folgen, denn schon die Natur<br />

zeigt uns, wie die Bewegungen eines Pferdes, eines Elefanten und eines<br />

Kamels von Natur aus unterschiedlich sind.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Gerade als Sarasvatī dies zu dem König gesprochen hatte, stürzte ein königlicher<br />

Bote herein und verkündete, dass die feindlichen Kräfte die Hauptstadt<br />

gestürmt und mit deren Zerstörung begonnen hätten. Überall wurde Feuer<br />

gelegt, und die ganze Stadt stand in Flammen. Die beiden Damen, der König<br />

und seine Minister eilten zu einem Fenster, um die schreckliche Szene<br />

zuverfolgen.<br />

Die Plünderung der Stadt hatte begonnen, und die Plünderer liefen wild<br />

schreiend umher. Die ganze Stadt war in dichten Rauch gehüllt. Feuer regnete<br />

vom Himmel. (Flugabwehr-Geschosse?) Raketen beschrieben am Himmel<br />

halbmondförmige, flammende Bogen. Schwere, felsenartige Flugkörper<br />

(Bomben) fielen auf Häuser und zerstörten diese und die Straßen der Umgebung.<br />

Der König und die anderen hörten die Entsetzensschreie der Bürger. Überall<br />

waren Weinen und Klagen und die herzzerreißenden Schreie der Frauen<br />

und Kinder zu hören. Jemand schrie: „Mein Gott, diese Frau hat ihren Vater,<br />

ihre Mutter, ihren Bruder und ihr kleines Kind verloren. Selber ist sie mit dem<br />

Leben davongekommen, aber diese Tragödie ihres Lebens hat ihr Herz zerrissen.“<br />

Wieder ein anderer rief: „Geht sofort aus dem Haus, denn es wird<br />

gleich einstürzen.“ Und ein anderer: „Seht nur, wie Bomben und Geschosse<br />

auf alle Häuser regnen.“ Flugkörper regneten hernieder wie die Wasser vor<br />

der kosmischen Auflösung. Alle Bäume rund um die Häuser standen in<br />

Flammen – der gesamte Ort war verwüstet. Vom Schlachtfeld wurde etwas in<br />

die Luft geschleudert, das aussah wie Elefanten, und warf von dort Feuerregen<br />

auf die Stadt hinab. Überall gab es Straßenblockaden. Aus Anhänglichkeit<br />

zögerten die Männer, die brennenden Häuser zu verlassen, in denen sie nach<br />

ihren Frauen und Kindern suchten. Sogar die Frauen des königlichen Haushalts<br />

wurden von marodierenden Soldaten verschleppt. Weinend und klagend,<br />

wussten diese edlen Damen nicht, was sie tun sollten. Sie schrien: „Oh<br />

weh, wer wird uns in dieser furchtbaren Lage helfen?“. Sie waren von Soldaten<br />

umringt.<br />

So ist es mit dem Glanz der Herrschaften, Königreiche und Weltreiche. (Die<br />

Beschreibung ist erstaunlich und erinnert an moderne Kriegsführung und die<br />

Bombardierung von Zivilisten.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In der Zwischenzeit traf die Königin ein. Die Kammerfrau kündigte sie dem<br />

König an. Sie sagte: „Eure Majestät, alle anderen Damen dieses Harems wurden<br />

gewaltsam vom Feind zusammengetrieben und fortgeführt. Aus diesem<br />

schrecklichen Unglück kann uns nur Eure Majestät erretten.“<br />

88


Der König verbeugte sich vor Sarasvatī und empfahl sich: „Ich werde nun<br />

selbst an die Front gehen, oh Göttin, um den Feind zu schlagen. Meine Frau<br />

wird dir hier in der Zwischenzeit aufwarten.“<br />

Die nun erleuchtete Līlā war überrascht zu sehen, dass die Königin ein vollkommenes<br />

Ebenbild von ihr selbst war. Līlā fragte Sarasvatī: „Oh Gottheit, wie<br />

kann es sein, dass sie genau wie ich ist? Was ich in meiner eigenen Jugend<br />

war, das ist sie jetzt. Worin besteht das Geheimnis dessen? Außerdem sind<br />

auch alle diese Minister usw., die sich hier aufhalten, dieselben wie schon<br />

früher in unserem Palast. Sind sie denn fühlend und ebenfalls erfüllt von<br />

Bewusstsein, obwohl sie doch nur die Reflektion oder die Objekte unserer<br />

Einbildungskraft sind?“<br />

SARASVATĪ erwiderte:<br />

Oh Līlā, wenn eine Vision im Innern auftaucht, so wird diese unverzüglich<br />

erfahren. Bewusstsein (als Subjekt) wird sozusagen zum Objekt des Wissens.<br />

Sobald im Bewusstsein das Bild der Welt auftaucht, so wird es in eben diesem<br />

Moment zur Welt. Zeit, Raum, Dauer und Objektivität entstehen nicht aus der<br />

Materie, denn dann wären sie materiell. Was im eigenen Bewusstsein reflektiert<br />

wird, erstrahlt auch außerhalb.<br />

Was man als die reale, objektive Welt betrachtet, die im Wachzustand erfahren<br />

wird, ist nicht wirklicher als diejenige, die im Traum erfahren wird. Im<br />

Schlaf existiert die Welt nicht, und im Wachzustand existiert der Traum nicht!<br />

Ebenso widerspricht der Tod dem Leben: Im Leben ist der Tod nicht existent,<br />

und im Tod ist das Leben nicht existent. Das, was die jeweilige Erfahrung<br />

zusammenhält, ist im anderen Zustand abwesend.<br />

Man kann nicht sagen, dass eines von beiden wirklich oder unwirklich sei,<br />

sondern man kann lediglich feststellen, dass allein ihr Substrat wirklich ist.<br />

Das Universum existiert in Brahman nur als ein Wort, eine Idee. Es ist weder<br />

wirklich noch unwirklich – wie eine Schlange, die in einem Seil gesehen wird,<br />

weder wirklich noch unwirklich ist. Mit der Existenz des jīva ist es ebenso.<br />

Dieser jīva erfährt nur seine eigenen Wünsche. Er bildet sich ein, dass er<br />

erfährt, was er zuvor erfahren hat, und dass andere Erfahrungen wiederum<br />

neu seien. Manchmal sind diese ähnlich und dann wieder unähnlich. Alle<br />

diese Erfahrungen, obgleich essenziell unwirklich, erscheinen als wirklich.<br />

Ebenso steht es mit der Natur dieser Minister und der anderen. Auf dieselbe<br />

Weise existiert diese Līlā hier als das Produkt der Reflektion im Bewusstsein.<br />

Ebenso ist es mit dir, mir und allen anderen. Verstehe dies und bleibe so im<br />

Frieden.<br />

DIE ZWEITE LĪLù sagte zu Sarasvatī:<br />

Oh Gottheit, ich habe Sarasvatī stets verehrt, und sie erschien mir häufig in<br />

meinen Träumen. Du siehst genau wie sie aus, daher gehe ich davon aus, dass<br />

du Sarasvatī bist. Ich bitte dich demütig um eine Gunst: Wenn mein Gemahl<br />

auf dem Schlachtfeld stirbt, dann möge ich ihn begleiten, in welches Reich<br />

auch immer er sich begeben mag; in diesem meinem eigenen Körper.<br />

III:45, 46<br />

89


SARASVATĪ erwiderte:<br />

Oh teure Dame, du hast mich schon seit lange Zeit mit großer Hingabe verehrt,<br />

daher gewähre ich dir diese Gunst.<br />

DIE ERSTE LĪLù sprach daraufhin zu Sarasvatī:<br />

Wahrhaftig gehen deine Worte niemals fehl; dein Wunsch wird immer<br />

Wirklichkeit. Bitte sage mir – weshalb hast du mir nicht gewährt, mit demselben<br />

Körper von einer Bewusstseinsebene zur anderen zu reisen?<br />

SARASVATĪ erwiderte:<br />

Meine liebe Līlā, in Wahrheit tue ich nichts für irgendjemanden. Jeder jīva<br />

erntet seinen gegenwärtigen Zustand entsprechend seiner eigenen Taten. Ich<br />

bin lediglich die Gottheit, die über den Geist jedes Wesens wacht; ich bin die<br />

Macht seines Bewusstseins und seine Lebenskraft. Welche Form auch immer<br />

die Energie des Lebewesens in ihm selbst annimmt – nur diese geht zu seiner<br />

Zeit in Erfüllung. Du verlangtest nach der Befreiung, und so hast du sie erhalten.<br />

Du magst dies als die Frucht deiner Askese oder Verehrung der Gottheit<br />

betrachten, aber all dies kommt nur aus dem Bewusstsein, so wie die Frucht,<br />

die vom Himmel zu fallen scheint, in Wirklichkeit vom Baume fällt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wie sie so miteinander sprachen, bestieg VidÆratha seinen prachtvollen<br />

Streitwagen und fuhr zum Schlachtfeld. Unglücklicherweise hatte er die Stärke<br />

seiner Streitkräfte und die der Armee des Feindes bis zu dem Zeitpunkt,<br />

als er dem Feind gegenüberstand, nicht klar eingeschätzt.<br />

Beide Līlās, Sarasvatī und die Prinzessin, die den Segen von Sarasvatī empfangen<br />

hatte, beobachteten vom Palast aus den furchtbaren Kampf.<br />

Der Himmel war voll von den Geschossen aus beiden Armeen. Überall waren<br />

die Schlachtrufe der Krieger zu hören. Über der gesamten Stadt lag eine<br />

dichte Wolke aus Rauch und Staub.<br />

Gerade als König VidÆratha in die Reihen der Feinde eindrang, ertönte ein<br />

lautes „tut-tut“ vom intensiven Kreuzfeuer. Als die Flugkörper aufeinander<br />

prallten, wurde es zu „khut-khut, tuk-tuk, jhun-jhun“.<br />

DIE ZWEITE LĪLù fragte Sarasvatī:<br />

Oh Gottheit, bitte sage mir: Wie kann es geschehen, dass mein Gemahl die<br />

Schlacht nicht gewinnen kann, obwohl wir deinen Segen erhalten haben?<br />

SARASVATĪ erwiderte:<br />

Tatsächlich hat König VidÆratha mich eine beträchtliche Zeit angebetet, jedoch<br />

hat er nicht für den Sieg in der Schlacht gebetet. Weil ich das Bewusstsein<br />

bin, welches im Verstand aller Personen wohnt, gewähre ich der Person<br />

das, wonach diese verlangt. Wonach auch immer jemand mich fragt – ich<br />

gewähre diese Frucht. Es ist nur natürlich, dass Feuer Hitze abgibt. Er hat die<br />

Befreiung verlangt, und daher wird er die Befreiung erhalten.<br />

III:47-50<br />

90


Andererseits hat auch der König von Sindhu mich verehrt und für den Sieg<br />

in der Schlacht gebetet. Daher wird König VidÆratha in der Schlacht fallen, zu<br />

euch beiden zurückkehren und dann im Laufe der entsprechenden Zeit die<br />

Befreiung erlangen. Jener König von Sindhu dagegen wird den Krieg gewinnen<br />

und das Land als siegreicher Monarch regieren.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wie die Frauen die Schlacht verfolgten, stieg die Sonne am östlichen Himmel<br />

auf, als wäre sie begierig, die Schlussphase des schrecklichen Kampfes zu<br />

bezeugen. Umgeben von je einem Tausend Soldaten kämpften beide Könige<br />

gegeneinander. Ihre Geschosse waren von verschiedener Art und Größe.<br />

Einige von ihnen, wennsie vom Boden aufstiegen, bestanden aus einem einzigen<br />

Kopf, der sich dann in der Luft in Tausende vervielfältigte. Sobald er sein<br />

Ziel traf, zerplatzte er in zehntausende Teile, buchstäblich wie ein Regenschauer.<br />

Beide Könige waren einander in Stärke und Heldenmut ebenbürtig:<br />

VidÆratha’s Kräfte waren ihm angeboren, während die Stärke des Feindes aus<br />

der Gunst entstanden war, die er von Gott Nārāyana erlangt hatte. Wären sie<br />

miteinander kämpften, beobachteten ihre Armeen sie voll Verblüffung.<br />

An einem bestimmten Punkt der Schlacht sah es so aus, als würde<br />

VidÆratha gewinnen, was die zweite Līlā in Hochstimmung versetzte, und sie<br />

wies Sarasvati darauf hin. Jedoch schon im nächsten Moment erhob sich der<br />

Feind unversehrt wieder. Jedes tödliche Wurfgeschoss beantwortete der<br />

Gegner mit einer entsprechenden Abwehrwaffe. Jedes Geschoss, das Verzweiflung<br />

unter den Kriegern schuf, wurde mit einem anderen beantwortet,<br />

das ihren Mut wieder steigen ließ. Das Schlangen-Geschoss fand sein Gegenmittel.<br />

Das Wasser-Geschoss wurde mit dem Feuer-Geschoss begegnet. Und<br />

von beiden Königen wurde das Vi«ïu-Geschoss verwendet.<br />

Beide Könige verloren ihre Streitwagen und setzten den Kampf stehend auf<br />

dem Boden fort. Als Vidúratha einen neuen Wagen besteigen wollte, wurde er<br />

vom König von Sindhu niedergeschlagen. VidÆratha's Körper wurde in den<br />

Palast gebracht, den der nachsetzende Feind aber aufgrund von Sarasvatī's<br />

Gegenwart nicht zu betreten vermochte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Bald nachdem König VidÆratha gefallen war, gab es äußerste Verwirrung<br />

und Chaos in der Stadt, wie immer nach einer verlorenen Schlacht. Der König<br />

von Sindhu kündigte seinen Sohn als den neuen Regenten an. Unter seinen<br />

Untertanen und Ministern gab es daraufhin ein großes Frohlocken, und sie<br />

bereiteten rasch die Krönungsfeierlichkeiten vor. Unverzüglich danach proklamierte<br />

die neue Regierung das Kriegsrecht im neuen Staat, welches Ruhe<br />

und Ordnung wiederherstellte.<br />

Als VidÆratha fiel, sank die zweite Līlā bewusstlos zu Boden. Die erste Līlā<br />

sagte zu Sarasvatī: „Oh Göttin, siehe doch, mein Gemahl gibt seinen Geist auf.“<br />

III:51, 52<br />

91


SARASVATĪ sagte:<br />

Meine Liebe, dieser ganze schreckliche Krieg, all diese Zerstörung und Tode<br />

sind so wirklich wie ein Traum, denn es gibt weder dieses Königreich noch<br />

die Erde. All dies geschieht im Hause des heiligen Mannes namens Vāsi«Âha<br />

auf dem Gipfel des Berges. Dieser Palast und das Schlachtfeld und alles andere<br />

befinden sich nirgendwo anders als in den innersten Räumen deines eigenen<br />

Palastes. Tatsächlich befindet sich darin das gesamte Universum. Denn<br />

innerhalb des Hauses des heiligen Mannes befindet sich die Welt von König<br />

Padma, und innerhalb des Palastes dieses Königs in jener Welt befindet sich<br />

alles, was du hier gesehen hast. Alles ist reine Einbildung, Halluzination. Was<br />

in Wahrheit ist, ist allein die Wirklichkeit – weder erschaffen noch zerstört.<br />

Es ist das unendliche Bewusstsein, welches vom Unwissenden als das Universum<br />

wahrgenommen wird.<br />

So wie eine ganze Stadt im Träumer existiert, so existieren die drei Welten<br />

in einem kleinen Atom. Und in diesen Welten gibt es wieder Atome, und in<br />

jedem dieser Atome existieren wiederum drei Welten.<br />

Die andere Līlā, die bewusstlos zu Boden gefallen war, hat inzwischen die<br />

Welt erreicht, in der der Körper von Padma, deinem Gemahl, liegt.<br />

LĪLù fragte:<br />

Oh Göttin, bitte sage mir: Wie ist sie dorthin gelangt, und was sagen die<br />

Leute dort zu ihr?<br />

SARASVATĪ erwiderte: So wie ihr beide die eingebildeten Wahrnehmungsobjekte<br />

des Königs seid, so sind auch der König selbst und ich nur Traumobjekte.<br />

Wer dies weiß, gibt das Suchen nach „Objekten der Wahrnehmung“ auf.<br />

Im unendlichen Bewusstsein haben wir uns alle gegenseitig durch unsere<br />

Einbildungskraft erschaffen. Diese andere, jugendliche Līlā warst tatsächlich<br />

du selbst. Sie verehrte mich und betete darum, dass sie niemals Witwe werden<br />

möge. Daher konnte sie diesen Ort verlassen, bevor König Viduratha<br />

starb. Liebe, ihr alle seid nichts als individualisiertes kosmisches Bewusstsein,<br />

während ich das kosmische Bewusstsein selbst bin, welches alle diese<br />

Dinge geschehen macht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, die zweite Līlā, die von Sarasvatī die Gunst erlangt hatte, stieg in<br />

den Himmel auf und traf dort auf ihre Tochter. Das Mädchen selbst stellte sich<br />

Līlā vor. Und Līlā bat sie, sie zu ihrem Gemahl, dem König, zu führen. Das<br />

Mädchen flog gemeinsam mit ihrer Mutter davon.<br />

Als erstes durchreisten sie die Region der Wolken, danach die Region der<br />

Lüfte. Jenseits davon durchquerten sie die Umlaufbahn der Sonne und kamen<br />

in den strahlenden Sternenhimmel. Sie reisten noch weiter bis zu den Reichen<br />

von Brahmā dem Schöpfer, Vi«ïu und Śiva, und schließlich gelangten sie<br />

zum Gipfel des Universums. Es war so leicht für sie, wie es der Kälte des Eises<br />

leicht ist, durch einen Eisbecher zu dringen, ohne ihn zu beschädigen. Natür-<br />

III:53<br />

92


III:54<br />

lich erfuhr Līlā, die über einen ätherischen Körper aus materialisierten Gedanken<br />

verfügte, all dies innerhalb von sich selbst.<br />

Jenseits von diesem Universum durchquerte Līlā die Ozeane und andere<br />

Elemente, die dieses Universum umhüllen, und kam schließlich ins unendliche<br />

Bewusstsein. In diesem unendlichen Bewusstsein gab es zahllose Universen,<br />

von denen keines um die Existenz des anderen wusste.<br />

Līlā betrat jenes Universum, in dem der tote Körper des Königs Padma, bedeckt<br />

von einem Haufen Blumen, lag. Sie durchquerte wieder die Regionen<br />

der Götter (Brahmā usw.), betrat die Stadt und dann den Palast, in dem der<br />

Körper lag. Aber, oh weh! als sie sich umsah, konnte sie nirgends ihre Tochter<br />

sehen – sie war auf rätselhafte Weise verschwunden. Sie erkannte den König<br />

als ihren Gemahl und dachte, dass er, nachdem er den glorreichen Tod des<br />

Helden auf dem Schlachtfeld gestorben war, nun in den Himmel der Helden<br />

aufgestiegen sei. Sie dachte: „Durch die Gnade von Sarasvatī habe ich physisch<br />

diesen Ort erreicht. Ich gehöre wahrhaftig zu den gesegnetsten unter<br />

den Menschen.“ Sie begann damit, dem Körper des Königs Luft zuzufächeln.<br />

DIE ERSTE LĪLĀ fragte Sarasvatī: Was taten die Diener des Königs, als sie sie<br />

erblickten?<br />

Sarasvatī erwiderte: Der König, die Diener des königlichen Haushalts und<br />

alle anderen sind nichts als unendliches Bewusstsein. Da das Substrat davon<br />

jedoch die Reflektion des unendlichen Bewusstseins ist, welches wirklich ist,<br />

und da es im Ablauf der Schöpfungen der Einbildungskraft einen ordnungsgemäßen,<br />

durch Überzeugung begründeten Sinn gibt, können sie einander<br />

erkennen. Der Gemahl sagt: „Sie ist meine Frau“, und die Frau sagt: „Er ist<br />

mein Mann.“<br />

Sie vermochte nicht in ihrem eigenen physischen Körper dieses neue Reich<br />

zu betreten, weil Licht nicht mit der Finsternis koexistieren kann. Und so<br />

lange in einem Menschen die blinde Vorstellung der Unwissenheit herrscht,<br />

kann keine Weisheit entstehen. Sobald die Weisheit über den eigenen ätherisch-geistigen<br />

Körper entsteht, wird der physische Körper nicht mehr als<br />

real gesehen. Das ist die Gunst, die ich ihr gewährt habe. Der Empfänger der<br />

Gunst denkt: „So wie du mich durch deine Gunst denken lässt, so bin ich.“ Sie<br />

denkt daher, dass sie den Aufenthaltsort ihres Gemahls in ihrem physischen<br />

Körper erreicht habe. Man kann in einem Seil eine Schlange sehen, aber das<br />

Seil kann sich nicht wie eine Schlange verhalten.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Nur derjenige, der den Hafen der Weisheit erreicht hat, oh Līlā, kann die<br />

ätherisch-geistigen Reiche betreten; niemand sonst. Diese Līlā besitzt diese<br />

Weisheit nicht, und daher bildet sie sich ein, dass sie die Stadt erreicht hat, in<br />

der ihr Gemahl wohnte.<br />

DIE ERLEUCHTETE LĪLù erwiderte:<br />

Es sei so, wie du sagst, oh Göttin. Aber sage mir bitte: Wie erlangen die Objekte<br />

ihre Eigenschaften, wie das Feuer die Hitze, das Eis die Kälte und die<br />

93


Erde die Festigkeit? Auf welche Weise erschien diese Weltordnung (niyati)<br />

ursprünglich? Wie entstanden Geburt und Tod?<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Meine Teure, während der kosmischen Auflösung verblieb, nachdem das<br />

gesamte Universum verschwunden war, nur das unendliche friedvolle Brahman.<br />

Dieses unendliche Wesen der Natur des Bewusstseins fühlte dann „Ich<br />

bin“ und „Ich bin ein Atom aus Licht“. So erfährt es die Wahrheit dieser Aussage<br />

innerhalb von sich selbst. Es stellt sich auch innerhalb von sich selbst die<br />

Existenz der verschiedenen Geschöpfe vor. Da seine Natur reines und absolutes<br />

Bewusstsein ist, erscheint diese eingebildete Schöpfung als wirklich,<br />

wobei die Objekte ihre verschiedenen Eigenschaften in Übereinstimmung mit<br />

der Idee des unendlichen Bewusstseins erhielten.<br />

Was, wo und wie auch immer etwas während dieser ersten Schöpfung vom<br />

unendlichen Bewusstsein ersonnen oder ihm zu Gefallen erdacht wurde – all<br />

das ist hier und jetzt auf dieselbe ursprüngliche Weise und mit denselben<br />

Eigenschaften verblieben und erhalten. Auf diese Weise entstand hier eine<br />

endgültige Ordnung.<br />

Und diese Ordnung ist dem unendlichen Bewusstsein innewohnend. Alle<br />

diese Objekte und deren Eigenschaften waren sogar während der kosmischen<br />

Auflösung potentiell gegenwärtig – wohin hätten sie sich auflösen können?<br />

Und darüber hinaus – wie kann etwas nichts werden? Gold, das als Schmuckstück<br />

erscheint, kann nicht gänzlich formlos werden.<br />

Obwohl alle Elemente dieser Schöpfung nichts als äußerste Leere sind, so<br />

existieren doch sämtliche Elemente mit sämtlichen Eigenschaften innerhalb<br />

dieser Ordnung bis heute weiter; genauso, wie sie anfangs ersonnen worden<br />

sind. All dieses ist nur von einem relativen Gesichtspunkt aus wahr, denn das<br />

Universum wurde niemals wirklich erschaffen. Das einzige, was immer ist, ist<br />

das unendliche Bewusstsein und nichts anderes. Es gehört zur Natur der<br />

Erscheinung, als real zu erscheinen, obwohl sie unreal ist.<br />

So besteht die Ordnung (niyati) des Universums, und bis heute konnte<br />

nichts an ihr geändert werden. Das unendliche Bewusstsein selbst hat alle<br />

diese Elemente innerhalb seiner selbst erdacht und sie innerhalb seiner<br />

selbst erfahren. Und diese Erfahrung hat sich dann scheinbar materialisiert.<br />

SARASVATĪ fuhr fort:<br />

In Übereinstimmung mit der Ordnung in der allerersten Schöpfung wurden<br />

die menschlichen Wesen mit einer Lebenspanne von ein-, zwei-, drei- oder<br />

vierhundert Jahren ausgestattet. Die Kürze oder Länge einer Lebensspanne<br />

hängt von der Reinheit oder Unreinheit der folgenden Faktoren ab: Dem<br />

Land, der Zeit, der Aktivität und den verwendeten und verbrauchten Materialien.<br />

Wer die Vorschriften der Schriften befolgt, erfreut sich der von diesen<br />

Schriften garantierten Lebensspanne. So lebt also die Person ein kürzeres<br />

oder längeres Leben, bis sie an ihr Ende gelangt.<br />

94


III:55<br />

DIE ERLEUCHTETE LĪLù sagte: Oh Göttin, erleuchte mich bitte zur Frage<br />

des Todes: Ist er angenehm oder unangenehm, und was geschieht nach dem<br />

Tode?<br />

SARASVATĪ sagte: Meine Teure, es gibt drei Arten menschlicher Wesen: Der<br />

Tor, derjenige, der Konzentration und Meditation praktiziert, und der Yogi<br />

(der Weise). Die beiden letzten Arten des menschlichen Lebewesens geben<br />

den Körper mit Hilfe der Praxis des <strong>Yoga</strong> der Konzentration und Meditation<br />

auf und scheiden nur durch ihren eigenen Willen und wann es ihnen gefällt,<br />

ab. Der Tor jedoch, der keine Konzentration und Meditation praktiziert hat<br />

und das Opfer der Kräfte außerhalb von ihm selbst ist, erfährt beim Nahen<br />

des Todes große Qual. Er empfindet dann ein schreckliches Brennen in sich.<br />

Sein Atmen wird mühsam und schwer. Sein Körper verfärbt sich. Er betritt<br />

eine tiefe Finsternis und sieht den ganzen Tag lang die Sterne. Er wird benommen<br />

und fühlt sich schwindlig. Sein Sehvermögen ist verwirrt: Er sieht<br />

die Erde als Raum und den Himmel als feste Erde. Er erfährt alle möglichen<br />

Arten von Wahnvorstellungen – dass er in einen Brunnen falle, in einem Stein<br />

eingeschlossen sei, in einem ungeheuer schnellen Fahrzeug fahre, dass er wie<br />

Schnee dahinschmelze, dass er mit einem Seil abgeschleppt werde, dass er<br />

wie ein Grashalm davonfliege usw. Er möchte diese Leiden ausdrücken, vermag<br />

es jedoch nicht. Nach und nach verlieren seine Sinne ihre Kräfte, und<br />

schließlich vermag er nicht einmal mehr zu denken. Daher versinkt er<br />

schließlich in Unwissenheit und Ahnungslosigkeit.<br />

DIE ERLEUCHTETE LĪLù sagte: Wie kann es sein, dass er diese Agonie und<br />

Unwissenheit erfährt, wenn doch alle stets mit den acht Gliedern ausgestattet<br />

sind?<br />

SARASVATĪ erwiderte:<br />

So ist die Ordnung, die am Anfang der Schöpfung durch das unendliche Bewusstsein<br />

errichtet worden ist. Wenn der Lebensatem nicht mehr frei fließt,<br />

hört das Leben der Person auf. Jedoch ist all dies nur imaginär, eingebildet.<br />

Wie kann unendliches Bewusstsein aufhören zu sein? Der Mensch ist selbst<br />

nichts anderes als unendliches Bewusstsein. Wer stirbt also und wann, und<br />

zu wem gehört dieses unendliche Bewusstsein, und wie? Sogar wenn Millionen<br />

von Körpern sterben, existiert dieses Bewusstsein ohne jede Verminderung<br />

weiter.<br />

DIE ERLEUCHTETE LĪLù sagte:<br />

Bitte fahre mit deinen Ausführungen zu Geburt und Tod fort. Indem ich ihnen<br />

zuhöre, werde ich gewiss meine Weisheit vertiefen.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

Wenn der Lebensatem zu fließen aufgehört hat, wird das Bewusstsein des<br />

Individuums völlig passiv. Bitte denke aber daran, oh Līlā, dass Bewusstsein<br />

stets rein, ewiglich und unendlich ist – weder entsteht es, noch hört es auf zu<br />

sein. Auf immer ist es anwesend in den bewegten und unbewegten Kreaturen,<br />

im Himmel, auf den Bergen und in Feuer und Luft. Wenn der Lebensatem<br />

95


aufhört, sagt man vom Körper, dass er „tot“ oder „leblos“ sei. Der Lebensatem<br />

kehrt zu seiner Quelle – der Luft – zurück, und das Bewusstsein verbleibt,<br />

befreit von Erinnerungen und Neigungen, als das Selbst.<br />

Dieses atomische, ätherisch-geistige Partikel, welches von diesen Erinnerungen<br />

und Neigungen besessen ist, wird als der jīva bezeichnet. Er verbleibt<br />

dort, wo sich der tote Körper befindet. Und dies bezeichnet man als „preta“<br />

(abgeschiedene Seele). Dieser jīva gibt nun alle seine Ideen und all das, was er<br />

bis dahin gesehen und aufgenommen hat, auf und nimmt andere Dinge wahr,<br />

ähnlich wie im nächtlichen Traum oder beim Tagträumen.<br />

Nach einem kurzen Absinken des Bewusstseins beginnt der jīva sich dann<br />

einzubilden, dass er einen anderen Körper, eine andere Welt und eine weitere<br />

Lebensspanne vor sich hat.<br />

Oh Līlā, es gibt sechs verschiedene Arten dieser „abgeschiedenen Seelen“,<br />

nämlich böse, schlimme und schlimmste Sünder und gute, bessere und beste<br />

Tugendhafte. Und diese sind natürlich wieder in Untergruppen einzuteilen.<br />

(Im Falle des schlimmsten Sünders kann der Zeitraum des Absinkens des<br />

Bewusstseins eine beträchtliche Zeit dauern.)<br />

Die schweren Sünder erleiden schreckliche Qualen in der Hölle und werden<br />

sodann als zahllose Lebewesen wiedergeboren, bevor sie endlich das Ende<br />

ihrer Seelenangst sehen. Sie können auch als Bäume für eine sehr lange Zeit<br />

existieren.<br />

Die mittleren unter den Sündern erleiden ebenfalls für eine beträchtliche<br />

Zeit ein Absinken des Bewusstseins und werden sodann als Würmer oder<br />

andere Tiere wiedergeboren.<br />

Die leichten Sünder werden schon bald als menschliche Wesen wiedergeboren.<br />

Der Beste unter den Rechtschaffenen steigt in den Himmel auf und erfreut<br />

sich dort seines Lebens. Später wird er dann in einer guten und wohlhabenden<br />

Familie auf der Erde wiedergeboren.<br />

Der Mittlere unter den Rechtschaffenen geht in die Regionen der Himmlischen<br />

und kehrt als Kind von Brāhmaïen usw. auf die Erde zurück.<br />

Sogar die Rechtschaffenen unter den Abgeschiedenen müssen, nachdem sie<br />

die himmlischen Freuden genossen haben, die Reiche der Halbgötter durchschreiten,<br />

um die Konsequenzen der Ungerechtigkeiten zu erleiden, die sie<br />

vielleicht begangen haben.<br />

SARASVATĪ fuhr fort:<br />

Alle diese abgeschiedenen Seelen erfahren im eigenen Innern die Früchte<br />

ihrer vergangenen Handlungen. Zuerst entsteht da die Idee von „Ich bin tot“,<br />

und dann „Ich werde von den Boten des Todesgottes davongetragen“. Der<br />

Rechtschaffene bildet sich dann ein, dass er in den Himmel kommt, während<br />

der gewöhnliche Sünder sich einbildet, er stünde vor dem Gerichtshof Gottes,<br />

wo er für sein vergangenes Leben mit der Unterstützung von Citragupta (der<br />

96


verborgenen Aufzeichnung aller Taten einer Person) geprüft und beurteilt<br />

wird.<br />

Was immer der jīva sieht, dass erfährt der jīva. Denn in diesem leeren Raum<br />

des unendlichen Bewusstseins gibt es nichts, was als Zeit, Tätigkeit usw.<br />

bekannt ist. Dann bildet sich der jīva ein: „Der Gott des Todes hat mich in den<br />

Himmel (oder die Hölle) geschickt“, und „ich habe die Freuden (oder Leiden)<br />

des Himmels (oder der Hölle) genossen (oder erlitten)“, und „Ich bin als Tier<br />

usw. geboren, wie es der Todesgott mir bestimmt hat“.<br />

In diesem Moment betritt der jīva den Körper des Mannes durch die Nahrung,<br />

die dieser isst. Er wird dann in die Frau übertragen und in diese Welt<br />

gebracht, wo er wiederum sein Leben in Übereinstimmung mit den Früchten<br />

seiner vergangenen Taten lebt. Dort wächst und vergeht er wie der Mond.<br />

Aufs Neue wird er dem Altern und dem Tod unterworfen. Dies wiederholt<br />

sich wieder und wieder, bis der jīva durch die Selbsterkenntnis Erleuchtung<br />

erfährt.<br />

DIE ERLEUCHTETE LĪLù fragte:<br />

Oh Göttin, teile mir bitte mit, wie all dieses ganz zu Anfang entstanden ist.<br />

SARASVATĪ erwiderte:<br />

Die Berge, die Wälder, die Erde und der Himmel – all dies ist nichts als unendliches<br />

Bewusstsein. Nur dieses allein ist das wahre Wesen von allem.<br />

Daher vermag das reine, unendliche Bewusstsein als jede beliebige Form zu<br />

erscheinen, in der es sich zu manifestieren wünscht. Bis heute ist es so geblieben.<br />

Sobald der Lebensatem in die Körper eintritt und in den verschiedenen<br />

Teilen des Körpers zu vibrieren beginnt, wird gesagt, dass die Körper<br />

leben. Solch lebende Körper existierten bereit zu Beginn der Schöpfung.<br />

Wenn der Lebensatem, der in die Körper eingetreten ist, nicht vibriert, dann<br />

sind diese Körper als Bäume oder Pflanzen bekannt. Es ist in der Tat nur ein<br />

winziger Teil des unendlichen Bewusstseins, der zur Intelligenz in diesen<br />

Körpern wird. Wenn diese Intelligenz in die Körper eintritt, lässt sie die verschiedenen<br />

Organe wie zum Beispiel die Augen entstehen.<br />

Wofür auch immer dieses Bewusstsein sich selbst durch Denken hält, dessen<br />

Gestalt nimmt es an. Dieses Selbst von allem existiert daher in allen Körpern;<br />

mit der Eigenschaft der Bewegtheit in den bewegten und mit der der<br />

Unbewegtheit in den unbewegten Körpern.<br />

Daher sind alle diese Körper bis heute das, was sie immer waren.<br />

SARASVATĪ fuhr fort:<br />

Wenn dann diese Intelligenz, die Teil des unendlichen Bewusstseins ist, sich<br />

selbst für einen Baum hält, dann wird sie ein Baum; oder wenn sie sich für<br />

einen Stein hält, wird sie zum Stein; oder wenn sie Gras sein will, wird sie zu<br />

Gras. Da ist kein Unterschied zwischen dem Fühlenden und dem Nicht-<br />

Fühlenden, zwischen dem Trägen und dem Geistigen. In der Essenz der Substanzen<br />

existiert überhaupt keinerlei Unterschied, denn das unendliche Be-<br />

97


wusstsein ist überall und an jedem Ort gleichermaßen gegenwärtig. Die Unterschiede<br />

entstehen nur, weil die Intelligenz sich selbst mit unterschiedlichen<br />

Substanzen identifiziert. Dasselbe unendliche Bewusstsein wird in<br />

diesen unterschiedlichen Substanzen unter verschiedenen Namen gekannt.<br />

Dieses unendliche Bewusstsein wird von der Intelligenz als Würmer, Ameisen<br />

und Vögel gesehen. In ihm gibt es weder einen Vergleich noch einen Sinn für<br />

Unterschiede; ebenso wie Menschen, die am Nordpol leben, nichts von den<br />

Menschen am Südpol wissen (und sich daher nicht mit diesen vergleichen).<br />

Jede unabhängige Substanz, die als solche von dieser Intelligenz identifiziert<br />

werden, existiert für sich selbst, ohne sich von andern zu unterscheiden.<br />

Ihnen Unterschiede zuzuweisen wie „fühlend“ oder „nicht-fühlend“ ist so, wie<br />

wenn ein Frosch, der in einem Stein, und ein Frosch, der außerhalb geboren<br />

wurde, sich selbst als fühlend oder nicht-fühlend bezeichnen würden!<br />

Die Intelligenz, die Teil des unendlichen Bewusstseins ist, befindet sich<br />

überall und ist selbst zu Allem geworden. Indem sie etwas Bestimmtes zu<br />

sein wünschte, wurde sie am Anfang der Schöpfung dazu und ist bis heute so<br />

geblieben.<br />

Sie dachte sich selbst als endlosen Raum, sie dachte sich selbst als bewegte<br />

Luft, sie dachte sich selbst als das Nicht-Fühlende, sie dachte sich selbst als<br />

die fühlenden Wesen. All dies sind nur Einbildungen dieser Intelligenz. Erscheinungen<br />

dieser Art sind nicht die Wirklichkeit, obschon sie wirklich<br />

scheinen.<br />

Oh Līlā, ich glaube, dass König VidÆratha nun in das Herz im Körper von<br />

König Padma einzutreten wünscht. Er bewegt sich gerade dorthin.<br />

DIE ERLEUCHTETE LĪLù sagte:<br />

Oh Göttin, lass uns in dieselbe Richtung gehen.<br />

SARASVATĪ sagte:<br />

VidÆratha stimmt sich nun auf das Ego-Prinzip (den Ich-Sinn) im Herzen<br />

von Padma ein und stellt sich vor, dass er in eine andere Welt reist. Lass uns<br />

dasselbe tun, aber auf unserem eigenen Weg, denn niemand kann den Weg<br />

eines anderen betreten!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In der Zwischenzeit verließ der Lebensatem von König VidÆratha dessen<br />

Körper, wie die Vögel einen Baum verlassen, der zu fallen beginnt. Sein Geist<br />

stieg in astraler Form in den Raum auf. Līlā und Sarasvatī sahen dies und<br />

folgten ihm. Nach wenigen Augenblicken, als die Periode des Bewusstseinszustandes<br />

nach dem Tode vorüber war, wurde diese astrale Form bewusst.<br />

Und der König phantasierte nun, dass er die dichte Form sehen könne, die die<br />

Verwandten für die Begräbnisriten zusammengesetzt hatten.<br />

Mit dieser reiste er südwärts und kam zum Gott des Todes, der dem König<br />

kundtat, dass er keine sündige Taten begangen habe, weshalb er seinen Boten<br />

III:56<br />

98


efahl, den König unverzüglich in seinen eigenen früheren Körper (den des<br />

Padma) eingehen zu lassen, der einbalsamiert dalag.<br />

Sofort durchquerte der jīva des VidÆratha das Universum, in dem Padma’s<br />

Körper lag, und gelangte zum Palast. Ganz offenbar war VidÆratha mit dem<br />

Körper Padma’s durch den Ich-Sinn verbunden; so wie ein Mann, der in ferne<br />

Länder reist, immer noch an den Ort gebunden ist, an dem er seinen Schatz<br />

vergraben hat!<br />

RùMA fragte:<br />

Oh heiliger Herr, wenn die Verwandten eines Verstorbenen die Begräbnisriten<br />

nicht ordnungsgemäß ausgeführt haben, wie kann dann jemand die astrale<br />

(ätherische) Form annehmen?<br />

VASIåèHA antwortete:<br />

Ob die Begräbnisriten nun ordnungsgemäß ausgeführt wurden oder nicht –<br />

sobald der Abgeschiedene davon überzeugt ist, dass sie ausgeführt wurden,<br />

erlangt er den Vorteil der astralen Gestalt. Es ist dies die altbekannte Wahrheit:<br />

Was immer das eigene Bewusstsein in einem Moment ist – das ist, was<br />

man ist. Dinge (Objekte oder Substanzen) gelangen ins Sein aufgrund der<br />

eigenen Einbildung (Gedanke oder Idee), und an den Dingen entzünden sich<br />

dann neue Einbildungen. Gift verwandelt sich durch die eigene Einbildungskraft<br />

(oder den festen Glauben) in Nektar. Auf dieselbe Weise wird ein unwirkliches<br />

Objekt oder eine Substanz wirklich, wenn der entsprechende<br />

intensive Glaube da ist. Ohne eine Ursache wird nirgendwo und zu keiner Zeit<br />

eine Wirkung produziert, und deshalb gibt es weder Einbildungen noch Gedanken.<br />

Folglich ist außer dem einen ursachelosen, unendlichen Bewusstsein<br />

niemals irgendetwas entstanden oder erschaffen worden. Bleibe dieser<br />

Wahrheit auf immer gegenwärtig.<br />

Wenn die Begräbnisriten von den Verwandten mit dem rechten Glauben<br />

ausgeführt worden sind, dann hilft dies dem Geist der abgeschiedenen Seele;<br />

es sei denn, diese Seele ist ausgesprochen verwerflich gewesen.<br />

Kehren wir nun in den Palast von König Padma zurück. Wie schon gesagt,<br />

kamen Līlā und Sarasvatī wieder in den herrlichen Palast und in den Raum, in<br />

dem der einbalsamierte Leichnam von König Padma aufgebahrt lag. Alle<br />

königlichen Diener schliefen fest.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Dort sahen sie neben König Padma die zweite Līlā, wie sie hingebungsvoll<br />

den Körper des Königs fächelte. Die erste Līlā und Sarasvatī konnten sie sehen,<br />

aber jene sah sie nicht.<br />

RùMA fragte:<br />

Es wurde davon gesprochen, dass die erste Līlā zeitweise ihren Körper in<br />

der Nähe des Königs verlassen und mit Sarasvatī in einem ätherischen Körper<br />

gereist sein, aber nun wird der Körper der ersten Līlā überhaupt nicht mehr<br />

erwähnt.<br />

III:57<br />

99


III:58<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Als die erste Līlā erleuchtet wurde, gab die egoistische Einbildung ihres<br />

ätherischen, wahren Wesens ihre Verbindung mit der groben, physischen<br />

Form auf, die dann wie Schnee hinwegschmolz. Tatsächlich war es Līlā's aus<br />

Unwissenheit geborene Einbildung, die die Dinge so erscheinen ließ, als hätte<br />

sie einen physischen Körper. Es war so, wie wenn jemand träumt: „Ich bin ein<br />

Hirsch“. Wenn er dann aufwacht und den Hirsch nicht mehr vorfindet – würde<br />

er sich dann etwa auf die Suche nach ihm machen? Im Gemüt des Irregeführten<br />

manifestiert sich das Unwirkliche selbst. Wenn diese Täuschung dann<br />

zerstreut wird (wie nach der Erkenntnis, dass da ein Seil und keine Schlange<br />

ist), dann gibt es auch nicht länger die unwissende Einbildung. Diese eingebildete<br />

Gewissheit, dass das Unwirkliche wirklich sei, ist durch wiederholtes<br />

Daran-Glauben tief eingewurzelt worden.<br />

Auch ohne ihn zuvor zerstören zu müssen, kann man von einem ätherischen<br />

Körper zum nächsten gehen; so wie man in einem Traum eine Form<br />

nach der anderen annehmen kann, ohne die vorherige aufzugeben. Der Körper<br />

des Yogi ist wahrhaft unsichtbar und ätherisch, obwohl er in den Augen<br />

des unwissenden Zuschauers sichtbar zu sein scheint. Und es ist dieser durch<br />

seine eigene Unwissenheit getäuschte Zuschauer, der denkt und sagt: „Dieser<br />

Yogi ist nun tot.“ Denn wo ist der Körper – was existiert, und was stirbt? Was<br />

ist, das ist; es ist nur die Illusion, die verschwindet!<br />

RùMA fragte: Heiliger Herr, wird der physische Körper eines Yogis denn zu<br />

einem ätherischen Körper?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Wie viele Male habe ich es dir schon erklärt, oh Rāma, aber noch hast du es<br />

nicht erfasst. Es existiert immer nur der ätherische Körper, der jedoch aufgrund<br />

von Einbildung mit dem physischen Körper verbunden zu sein scheint.<br />

So wie ein unwissender Mensch (sich selbst für den physischen Körper haltend)<br />

nach dem Tode und der Verbrennung des Körpers einen subtilen Körper<br />

hat, so verfügt auch der Yogi zu Lebzeiten über einen ätherischen Körper,<br />

wenn er erleuchtet ist.<br />

Der physische Körper ist nur die Schöpfung der eigenen Einbildungskraft –<br />

er ist nicht wirklich. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Körper und<br />

der Unwissenheit. Zu glauben, sie seien zwei, ist saæsāra (der Lebenszyklus).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In der Zwischenzeit hatte Sarasvatī VidÆratha's jīva davon abgehalten, in<br />

den Körper des Königs Padma einzutreten.<br />

DIE ERLEUCHTETE LĪLù fragte Sarasvatī:<br />

Oh Göttin – wieviel Zeit ist denn bis jetzt vergangen, seit ich hier in Kontemplation<br />

saß?<br />

SARASVATĪ erwiderte:<br />

100


Du Teure, seit du angefangen hast zu meditieren, ist ein Monat vergangen.<br />

Im Verlauf der ersten fünfzehn Tage ist dein Körper aufgrund der vom<br />

prāïāyāma erzeugten Hitze verdampft. Dann wurde er wie ein trockenes<br />

Blatt und fiel zu Boden. Dann wurde er steif und kalt. Die Minister dachten,<br />

du seiest aus freiem Willen gestorben und verbrannten diesen Körper. Aufgrund<br />

deines eigenen Wunsches erscheinst du nun hier in deinem ätherischen<br />

Körper. In dir sind jetzt weder Erinnerungen an vergangene Leben<br />

noch Neigungen vorhanden, die aus früheren Inkarnationen stammen. Denn<br />

wenn der Geist einmal in der Gewissheit seiner ätherischen Natur verankert<br />

ist, wird der Körper vergessen, so wie man in der Jugend sein Leben als Fötus<br />

vergisst. Heute ist der einunddreißigste Tag, und du bist nun hier. Komm, wir<br />

wollen uns dieser anderen Līlā zu erkennen geben.<br />

Als die zweite Līlā sie vor sich sah, fiel sie auf ihre Knie und betete sie an.<br />

SARASVATĪ fragte sie: Sage uns, wie du hierher gekommen bist.<br />

DIE ZWEITE LĪLù antwortete:<br />

Als ich im Palast von VidÆratha ohnmächtig wurde, wusste ich eine Zeitlang<br />

überhaupt nichts mehr. Dann sah ich, wie mein subtiler Körper in den Himmel<br />

stieg und in einem Luftfahrzeug Platz nahm, das mich hierher brachte.<br />

Und dann sah ich, wie VidÆratha hier in einem Garten voller Blumen schlafend<br />

lag. Ich glaubte, dass er von der Schlacht ermüdet sei und begann ihm<br />

zuzufächeln, ohne ihn aufzuwecken. Sarasvatī ließ nun VidÆratha's jīva unverzüglich<br />

den Körper betreten. Der König erwachte sofort wie aus einem<br />

Schlummer. Beide Līlā‘s verbeugten sich vor ihm. Der König fragte sodann die<br />

erleuchtete Līlā: „Wer bist du und wer ist sie? Und von woher ist sie gekommen?“<br />

Die erleuchtete Līlā erwiderte: „Herr, ich bin deine Gemahlin aus deiner<br />

früheren Inkarnation und deine ständige Begleiterin, so wie das Wort und<br />

seine Bedeutung stets beieinander sind. Diese Līlā ist deine andere Frau; sie<br />

ist meine eigene Reflektion, die von mir zu deiner Freude erschaffen worden<br />

ist. Und jene, die dort drüben auf einem goldenen Thron sitzt, ist die Göttin<br />

Sarasvatī selbst. Sie befindet sich hier dank unserem guten, glücklichen Geschick.“<br />

Als er dies hörte, setzte sich der König auf und begrüßte Sarasvatī. Sarasvatī<br />

segnete ihn mit langen Leben, Wohlstand usw. und mit der Erleuchtung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem sie dem König den erbetenen Segen gewährt hatte, verschwand<br />

Sarasvatī an Ort und Stelle. Der König und die Königin umarmten einander<br />

voll Liebe. Die königlichen Diener, die beim Körper des Königs Wache hielten,<br />

erwachten und jubelten, dass der König wieder ins Leben getreten war.<br />

Der ganze Staat war in Feststimmung. Noch lange Zeit danach erzählten die<br />

Menschen aus nah und fern die Geschichte, wie die Königin Līlā aus der anderen<br />

Welt zurück kam, um dem König als Geschenk eine andere Līlā zu geben.<br />

III:59, 60<br />

101


Der König vernahm von der erleuchteten Līlā die Geschichte, die sich während<br />

des vergangenen Monats abgespielt hatte. Er fuhr fort zu regieren und<br />

erfreute sich durch die Gnade Sarasvatī’s der Segnungen der drei Welten, die<br />

er ohne Zweifel durch seine Eigenbemühungen erlangt hatte.<br />

Dies ist die Geschichte von Līlā, oh Rāma, die ich dir hiermit in allen Einzelheiten<br />

berichtet habe. Die Kontemplation dieser Geschichte wird dein Gemüt<br />

vom geringsten Glauben an die Wirklichkeit des Wahrgenommenen befreien.<br />

Wahrhaftig – wenn doch nur das, was wahr ist (was existiert), beseitigt werden<br />

kann – wie könnte dann das Unwirkliche beseitigt werden? Es gibt nichts<br />

zu beseitigen, denn all dieses (die Erde usw.), was vor deinen Augen erschienen<br />

ist, ist nichts als das unendliche Bewusstsein. Und falls irgendetwas erschaffen<br />

worden sein sollte, dann geschah es durch dieses Bewusstsein und<br />

innerhalb davon. Alles ist so, wie es ist – nichts wurde jemals erschaffen. Du<br />

magst sagen, dass alles, was erscheint, die Schöpfung von Māyā sei, aber nicht<br />

einmal Māyā selbst ist wirklich!<br />

RùMA sagte:<br />

Hoher Herr, was für eine großartige Vision der letzten Wahrheit hast du mir<br />

verschafft! Aber, oh Heiliger, es gibt noch einen unstillbaren Hunger in mir<br />

nach dem Nektar deiner erleuchtenden Worte. Bitte, erkläre mir das Mysterium<br />

der Zeit, denn in der Geschichte von Līlā gibt es manchmal eine ganze<br />

Lebensspanne, die in acht Tagen und dann wiederum in einem Monat durchlebt<br />

wird. Ich bin verwirrt. Sind dies verschiedene Zeitmaße in verschiedenen<br />

Universen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, was auch immer man innerhalb seines eigenen Geistes denkt,<br />

wird von einem selbst erfahren. Sogar Nektar wird von demjenigen als Gift<br />

erfahren, der glaubt, es sei Gift. Freunde werden zu Feinden, und Feinde werden<br />

zu Freunden – ganz nach der inneren Einstellung. Das Objekt wird stets<br />

genau entsprechend den eigenen inneren Gefühlen erfahren. Für die leidende<br />

Person ist eine Nacht wie eine Ewigkeit, und eine Festnacht verfliegt wie ein<br />

Augenblick. Im Traum ist ein Moment nicht verschieden von einer Epoche.<br />

Für Brahmā ist die Lebensspanne eines Manu wie anderthalb Stunden, und<br />

Brahmā's Lebensspanne ist ein Tag für Vi«ïu. Vi«ïu's Lebensspanne wiederum<br />

ist ein Tag für Śiva. Aber für den Weisen, dessen Bewusstsein die Begrenzungen<br />

überwunden hat, gibt es weder Tag noch Nacht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Yogi weiß, dass es das eigene Denken ist, welches Süßes in Bitteres und<br />

Bitteres in Süßes, Freunde in Feinde und Feinde in Freunde verwandelt. Auf<br />

dieselbe Weise kann man durch den Wandel des Gesichtspunkts und durch<br />

beharrliche Praxis Geschmack am Studium der Schriften, an Japa usw. entwickeln,<br />

auch wenn man zuvor keinerlei Interesse dafür gezeigt hat. Denn alle<br />

diese Qualitäten befinden sich nicht in den Objekten, sondern allein im eigenen<br />

Denken. Für den seekranken Mann dreht sich die Welt. Und so ähnlich<br />

102


III:61<br />

denkt der Unwissende, dass sich diese Qualitäten in den Objekten befinden.<br />

Der Betrunkene sieht an einer freien Stelle eine Mauer, und ein nichtexistenter<br />

Kobold tötet die verblendete Person.<br />

Diese Welt ist nichts als die Vibration von Bewusstsein im unendlichen<br />

Raum. Sie existiert so, wie auch der Kobold in den Augen des Unwissenden zu<br />

existieren scheint. Alles dies ist nichts als Māyā – denn es gibt keinerlei Widerspruch<br />

zwischen dem unendlichen Bewusstsein und der scheinbaren<br />

Existenz des Universums. Es ist wie der wunderbare Traum einer wachenden<br />

Person.<br />

Oh Rāma, im Herbst werfen die Bäume ihre Blätter ab; im Frühling lässt<br />

derselbe Baum neue Blätter sprießen, die gewiss schon zuvor im Baum vorhanden<br />

waren. Auf dieselbe Weise existiert diese Schöpfung die ganze Zeit<br />

über im absoluten Bewusstsein. Sie wird nicht als solche gesehen, wie auch<br />

die Flüssigkeit, welche im Gold existiert, nicht immer offensichtlich ist. Wenn<br />

der Schöpfer einer Epoche die Befreiung erlangt und der Schöpfer der nächsten<br />

Epoche das neue Universum aus seiner Erinnerung heraus projiziert,<br />

dann ist auch diese Erinnerung nichts anderes als unendliches Bewusstsein.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, wie kommt es, dass der König und auch die Untertanen dieselben<br />

objektiven Tatsachen erfuhren?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Es liegt daran, dass die Intelligenz all dieser jīvas stets auf dem einen, unendlichen<br />

Bewusstsein gründet, oh Rāma. Auch die Untertanen dachten, dass<br />

dieser ihr König sei. Die Gedankenwellen im unendlichen Bewusstsein sind<br />

diesem natürlich und innewohnend – sie wurden durch nichts Bestimmtes<br />

hervorgerufen. So wie ein Diamant auf natürliche Weise funkelt, so denkt die<br />

Intelligenz des Königs „Ich bin König VidÆratha“. Ebenso ist es mit allen Wesen<br />

im Universum. Sobald jemandes Intelligenz in der Wahrheit über das<br />

unendliche Bewusstsein verankert ist, erreicht er den höchsten Zustand der<br />

Befreiung. Abhängig ist dies von der Stärke der Eigenbemühung. Der Mensch<br />

wird in zwei verschiedene Richtungen gezogen – hin zur Verwirklichung von<br />

Brahman dem Absoluten, und hin zum falschen Glauben an die Wirklichkeit<br />

der Welt. Wofür einer mit all seinen Kräften kämpft – das erreicht er! Sobald<br />

einer die Unwissenheit überwunden hat, verschwindet die irreführende<br />

Sichtweise des Unwirklichen für immer.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, bitte kläre mich in Kürze ein weiteres Mal auf: Wie entstand<br />

ganz am Anfang, ohne jede Ursache, die täuschende Wahrnehmung von „Ich“<br />

und „die Welt“?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So wie allen Dingen gleichermaßen die Intelligenz innewohnt, so existiert<br />

alle Zeit hindurch überall nur das Ungeschaffene, das Selbst von allem. Zwar<br />

103


verwenden wir den Ausdruck „alle Dinge“, jedoch ist dies nur eine Redensart,<br />

denn es existiert stets nur das unendliche Bewusstsein bzw. Brahman. So wie<br />

es keinen Unterschied zwischen einem Schmuckstück und Gold oder zwischen<br />

Wellen und Wasser gibt, so gibt es keinen Unterschied zwischen dem<br />

Universum und dem unendlichen Bewusstsein. Das letztere allein ist das<br />

eigentliche Universum, während das Universum als solches nicht das unendliche<br />

Bewusstsein ist; ebenso wie das Schmuckstück aus Gold gemacht ist,<br />

aber das Gold nicht aus einem Schmuckstück. So wie wir uns auf einen Menschen<br />

und dessen Gliedmaßen als auf ein und denselben Menschen beziehen,<br />

so beziehen wir uns auch auf die Gegenwart des unendlichen Bewusstseins<br />

als alle diese Wesen, worin in keiner Weise ein Unterschied impliziert ist.<br />

In diesem unendlichen Bewusstsein gibt es eine innewohnende Nicht-<br />

Anerkennung seiner unendlichen Natur. Diese manifestiert sich dann scheinbar<br />

als „Ich“ und „die Welt“. So wie das fertige Bildnis im Marmorblock existiert,<br />

auch wenn es noch nicht herausgehauen worden ist, so existiert auch<br />

diese Idee von „Ich“ and „die Welt“ im unendlichen Bewusstsein. So wie in<br />

einem stillen Meer die Wellen in ihrem potentiellen Zustand bereits existieren,<br />

so existiert die Welt in ihrem potentiellen Zustand im unendlichen Bewusstsein<br />

– eben dies wird als Schöpfung bezeichnet. Eine andere Bedeutung<br />

hat das Wort „Schöpfung“ nicht. Im Höchsten Sein oder im unendlichen Bewusstsein<br />

findet keinerlei Schöpfung statt – das unendliche Bewusstsein ist<br />

in keiner Weise an der Schöpfung beteiligt. Sie stehen in keiner separaten<br />

Beziehung zueinander.<br />

Dieses unendliche Bewusstsein betrachtet sozusagen seinen eigenen Geist<br />

innerhalb seines eigenen Herzens, obgleich es nicht verschieden von ihm ist,<br />

wie auch der Wind nicht verschieden ist von seiner eigenen Bewegtheit. Im<br />

selben Moment, in dem sich eine unwirkliche Teilung ergibt, taucht im Bewusstsein<br />

die Vorstellung von Raum auf, und dank der Macht des Bewusstseins<br />

wird dies zum Element Raum oder Äther. Später glaubt dieses daran,<br />

Luft und dann Feuer zu sein. Aus dieser Idee heraus erscheinen dann Feuer<br />

und Licht. Es entwickelt ferner die Vorstellung von Wasser mit der Eigenschaft<br />

des Geschmacks, und wiederum hält es sich dann selbst für die Erde,<br />

mit den Eigenschaften des Geruchs und der Festigkeit. So scheinen dann zum<br />

Schluss Erde und Wasser sich von selbst manifestiert zu haben.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Zur selben Zeit unterhält dasselbe unendliche Bewusstsein in sich selbst die<br />

Vorstellung einer Zeiteinheit von einem Millionstel eines Augenblinzelns.<br />

Daraus entwickelte sich die gesamte Zeitskala bis hinauf zur Epoche, die aus<br />

mehreren Umwälzungen der vier Zeitalter besteht, was dann die Lebensspanne<br />

einer kosmischen Schöpfung ergibt. Das unendliche Bewusstsein<br />

selbst ist an all dem nicht beteiligt, denn es ist frei von Aufgang und Niedergang<br />

(wie dies wesentlich für sämtliche Zeitskalen ist), und es ist frei von<br />

Anfang, Mitte und Ende.<br />

104


III:62, 63<br />

Dieses unendliche Bewusstsein ist die alleinige Wirklichkeit – immer erwacht<br />

und erleuchtet. Ebenso steht es mit der Schöpfung. Dieses unendliche<br />

Bewusstsein ist die unerleuchtete Erscheinung dieser Schöpfung. Sogar nach<br />

dieser Schöpfung ist es stets dasselbe. Es ist auf ewig dasselbe. Wenn einer im<br />

Selbst und durch das Selbst realisiert, dass dieses Bewusstsein das absolute<br />

Brahman ist, dann erfährt er es als alles – so wie die eine Lebenskraft alle<br />

seine Glieder durchdringt.<br />

Man kann sagen, dass diese Welterscheinung nur insofern wirklich ist, als<br />

sie die Manifestation des Bewusstseins und eine direkte Erfahrung ist, und<br />

dass sie unwirklich ist, wenn sie mit dem Verstand und den Sinnesorganen<br />

erfasst wird. Wind wird in seiner Bewegtheit als wirklich erfahren und erscheint<br />

als inexistent, wenn es keine Bewegung gibt. Auf diese Weise kann<br />

diese Welterscheinung als wirklich und unwirklich betrachtet werden. Diese<br />

einer Luftspiegelung ähnliche Erscheinung der drei Welten existiert als nicht<br />

verschieden vom absoluten Brahman.<br />

Die Schöpfung existiert in Brahman so, wie der Keimling im Samen ist, Flüssigkeit<br />

im Wasser, Süße in der Milch und Schärfe im Pfeffer. In der Unwissenheit<br />

jedoch erscheint sie als verschieden und unabhängig von Brahman. Es<br />

gibt keine andere Ursache für die Existenz der Welt als die einer reinen Reflektion<br />

im absoluten Brahman. Sobald es eine Vorstellung der Schöpfung gibt,<br />

scheint diese auch zu sein. Wenn es dagegen durch Eigenbemühung ein Verstehen<br />

ihrer Nicht-Entstehung gibt, dann gibt es auch keine Welt mehr.<br />

Nichts wurde jemals irgendwo und irgendwann erschaffen, und nichts gelangt<br />

daher jemals an ein Ende. Das absolute Brahman ist alles – höchster<br />

Friede, ungeboren, reines Bewusstsein und ewig. In jedem Atom entstehen<br />

Welten innerhalb von Welten. Was ist deren Ursache, und wie entstehen sie?!<br />

Wenn man sich von den Ideen des „Ich“ und der „Welt“ abwendet, dann ist<br />

man befreit, denn die Vorstellung von „Ich bin dies“ ist die die einzige Bindung<br />

hier. Diejenigen, die dieses unendliche Bewusstsein als das namenlose,<br />

formlose Substrat des Univerums erkennen, erlangen den Sieg über saæsāra<br />

(den Lebenszklus).<br />

RùMA fragte:<br />

Es ist offensichtlich, dass Brahman allein existiert, oh heiliger Weiser! Aber<br />

aus welchem Grunde existieren dann alle diese Weisen und Heiligen in dieser<br />

Welt, als wären sie von Gott gesandt, und was überhaupt ist „Gott“?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Es existiert da, oh Rāma, die Macht oder Energie des unendlichen Bewusstseins,<br />

welche alle Zeit in Bewegung ist. Diese allein ist die Wirklichkeit all<br />

dieser unvermeidlichen zukünftigen Ereignisse, denn sie durchdringt alle<br />

Epochen der Zeit. Durch diese Macht wird die Natur aller Objekte im Universum<br />

bestimmt. Diese Macht (cit śakti) ist auch als Mahāsattā (die große Existenz),<br />

Mahāciti (der große Geist), Mahāśakti (die große Macht), Mahād­«Âi<br />

(die große Sicht), Mahākriyā (das große Tun), Mahodbhavā (das große Wer-<br />

105


III:64, 65<br />

den) und Mahāspandā (die große Vibration) bekannt. Es ist diese Macht, die<br />

jedem Ding seine eigentümlichen Qualitäten verleiht. Jedoch ist diese Macht<br />

nicht verschieden von oder unabhängig vom absoluten Brahman – sie ist so<br />

wirklich wie ein verrückter Traum. Die Weisen machen eine verbale Unterscheidung<br />

zwischen Brahman und dieser Macht und erklären, dass die Schöpfung<br />

das Werk dieser Macht sei.<br />

Die Unterscheidung bleibt jedoch rein verbal, so wie jemand vom Körper<br />

(als Ganzes) und seinen Teilen spricht. Das unendliche Bewusstsein wird<br />

seiner eigenen Macht bewusst, so wie jemand der Glieder seines Körpers<br />

bewusst wird. Dieses Gewahrsein wird niyati (die Macht des Absoluten, die<br />

der Natur gebietet) genannt. Es wird auch als daiva bzw. göttliche Fügung<br />

bezeichnet.<br />

Niyati hat dafür gesorgt, dass du mir diese Fragen stellst, und es ist ebenfalls<br />

niyati, dass du entsprechend meiner Unterweisung tätig werden solltest.<br />

Und wenn jemand sagt: „Das Göttliche wird mich ernähren“, und untätig<br />

bleibt, dann ist dies ebenfalls das Werk von niyati. Dieses niyati kann nicht<br />

einmal von Göttern wie Rudra übergangen werden. Weise Menschen jedoch<br />

sollten deswegen nie die Eigenbemühung aufgeben, weil niyati nur als und<br />

durch die Eigenbemühung funktioniert. Dieses niyati verfügt über zwei Aspekte,<br />

nämlich menschliche und übermenschliche, wobei der erstere dort<br />

gesehen wird, wo die Eigenbemühung Früchte trägt, und der zweite dort, wo<br />

dies nicht der Fall ist.<br />

Wenn jemand untätig bleibt und sich darauf verlässt, dass niyati alles für<br />

ihn erledigt, dann wird er bald feststellen, dass das Leben schwindet, denn<br />

Leben ist Aktivität. Er kann durch Eintritt in den höchsten überbewussten<br />

Zustand den Atem anhalten und die Befreiung erlangen – aber eben das ist in<br />

der Tat die allergrößte Eigenbemühung!<br />

Allein das unendliche Bewusstsein erscheint als ein Ding an einem Ort und<br />

als ein anderes an einem anderen Ort. Da ist keinerlei Trennung zwischen<br />

diesem Bewusstsein und seiner Macht, wie es auch keine Trennung zwischen<br />

Welle und Wasser, Glieder und Körper gibt. Solche Trennungen werden nur<br />

von den Unwissenden erfahren.<br />

RùMA fragte:<br />

Wenn also das unendliche Bewusstsein und seine eingeborene Kraft der<br />

Bewegung die einzige Wirklichkeit sind, wie erwirbt dann der jīva seine<br />

scheinbare Wirklichkeit in dieser Einheit, die ohne ein Zweites ist?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Es ist nur im Gemüt des Unwissenden, dass dieser schreckliche Kobold namens<br />

jīva als reflektierte Realität oder Erscheinungsform auftaucht. Niemand,<br />

nicht einmal die Weisen selbst vermögen zu sagen, was dieses ist, denn es ist<br />

ohne irgendwelche Anzeichen einer eigenen Natur.<br />

Im Spiegel des unendlichen Bewusstseins werden zahllose Reflektionen<br />

gesehen, die die Erscheinung der Welt bilden. Dies sind die jīvas. Der jīva ist<br />

106


wie eine kleine Wellenbewegung auf der Oberfläche des Ozeans von Brahman<br />

oder wie ein kleines Zittern der Kerzenflamme in einem windgeschützten<br />

Raum zu verstehen. Sobald aufgrund dieser leichten Erregung die Unendlichkeit<br />

des unendlichen Bewusstseins verschleiert wird, scheint eine Begrenzung<br />

des Bewusstseins aufzutauchen. Auch diese wohnt diesem unendlichen<br />

Bewusstsein inne. Und dieses begrenzte Bewusstsein ist als jīva bekannt.<br />

So wie der Funke einer Flamme mit einer brennbaren Substanz in Kontakt<br />

kommt und sich dann zu einer unabhängigen Flamme entzündet, so verdichtet<br />

sich diese Begrenzung des Bewusstseins, sobald sie von den latenten<br />

Tendenzen und Erinnerungen gespeist wird, zu dem Ich-Sinn. Dieser Ich-Sinn<br />

ist keine feste Realität, aber der jīva betrachtet ihn als real – so wie man die<br />

Bläue des Himmels als real betrachtet. Sobald der Ich-Sinn seine eigenen<br />

Vorstellungen zu unterhalten beginnt, entstehen dadurch die Gedankenwellen,<br />

das Konzept eines selbstständigen und getrennten jīva, das Gemüt, Māyā<br />

oder die kosmische Illusion, die kosmische Natur usw.<br />

Die Intelligenz, die alle diese Vorstellungen unterhält, beschwört dann die<br />

natürlichen Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum) herauf. Mit diesen<br />

verknüpft wird dann dieselbe Intelligenz zu einem Funken aus Licht, obwohl<br />

sie in Wahrheit das kosmische Licht ist. Schließlich verdichtet sie sich in<br />

zahllose Formen; irgendwo wird sie zu einem Baum usw., anderswo zu einem<br />

Vogel, wieder woanders zu einem Kobold usw., und wieder anderswo zu<br />

Halbgöttern usw. Die allererste dieser Modifikationen wird zum Schöpfer<br />

Brahmā und erzeugt durch Gedanke und Wille weitere. Somit ist diese Vibration<br />

im Bewusstsein allein der jīva, karma und Gott, und dann folgt der ganze<br />

Rest.<br />

Die Schöpfung (des Gemüts) ist nichts als eine Erregung im Bewusstsein,<br />

und die Welt existiert imGemüt! Sie scheint zu existieren aufgrund einer<br />

mangelhaften Sichtweise, eines mangelhaften Verstehens. Sie ist wirklich<br />

nicht mehr als ein langer Traum. Wird dies einmal verstanden, dann hört alle<br />

Dualität auf, und Brahman, jīva, Gemüt, Māyā, Täter, Tätigkeit und Welt werden<br />

als Synonyme für das eine, nicht-duale, unendliche Bewusstsein gesehen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Eine wurde nie zur Vielfalt, oh Rāma. Wenn viele Kerzen aneinander<br />

angezündet werden, dann brennt dieselbe Flamme in allen Kerzen, und so<br />

erscheint auch dieses eine Brahman als viele. Wer über die Unwirklichkeit<br />

dieser Vielfalt kontempliert – der ist frei vom Kummer.<br />

Der Jīva ist nichts anderes als eine Begrenzung des Bewusstseins. Sobald<br />

diese Begrenztheit verschwunden ist, kommt der Friede; so wie für jemanden,<br />

der Schuhe trägt, die ganze Welt mit Leder gepflastert zu sein scheint.<br />

Was ist denn diese Welt? Nichts als eine Erscheinung; so wie eine Bananenpflanze<br />

nur aus Blättern besteht. So wie der Alkohol einen dazu bringen kann,<br />

im leeren Himmel alle Arten von Wahnbildern zu erblicken, so bringt das<br />

Gemüt jemanden dazu, Vielfalt in der Einheitzu sehen. So wie ein Trunken-<br />

III:66, 67<br />

107


old die Bäume laufen sieht, so nimmt der Unwissende in dieser Welt Bewegung<br />

wahr.<br />

Wenn das Gemüt Dualität wahrnimmt, dann sind da gleichzeitig die Dualität<br />

und ihr Gegenstück, die Einheit. Wenn das Gemüt die Wahrnehmung der<br />

Dualität fallen lässt, dann gibt es weder Dualität noch Einheit. Wenn jemand<br />

fest in der Identität des unendlichen Bewusstseins verankert ist, ob er nun<br />

untätig oder intensiv tätig ist, dann ist er im Frieden mit sich selbst. Wenn er<br />

auf diese Weise im höchsten Zustand gegründet ist, so wird dies auch als der<br />

Zustand des Nicht-Selbst oder der Zustand der Erkenntnis der Nicht-heit<br />

oderLeere bezeichnet.<br />

Aufgrund der Erregung des Gemüts sieht es so aus, als würde das Bewusstsein<br />

zum Objekt der Erkenntnis werden! Daraufhin entstehen im Gemüt<br />

allerlei falsche Vorstellungen wie „Ich wurde geboren“ usw. Dieses Wissen ist<br />

nicht verschieden vom Gemüt. Daher wird es als Unwissenheit oder Täuschung<br />

bezeichnet.<br />

Es gibt kein anderes Mittel, um sich von saæsāra oder der Welterscheinung<br />

zu befreien als die Weisheit oder Selbsterkenntnis. Nur Erkenntnis allein ist<br />

das Heilmittel für die falsche Wahrnehmung einer Schlange in einem Seil.<br />

Sobald es dieses Wissen gibt, hört das Verlangen des Gemüts nach Sinnesvergnügen,<br />

welches die Unwissenheit vertieft, auf. Daher: Wenn du solche Begierden<br />

empfindest, dann befriedige sie einfach nicht! Worin besteht hier die<br />

Schwierigkeit?<br />

Solange das Gemüt Vorstellungen von Objekten unterhält, gibt es Erregung<br />

und Bewegung im Gemüt. Haben dagegen die Objekte oder Ideen aufgehört,<br />

dann gibt es weder Bewegung noch Gedanken im Gemüt. Sobald es da eine<br />

Bewegung gibt, erscheint die Welt als real; hat die Bewegung aufgehört, dann<br />

hört auch diese Welterscheinung auf. Die Bewegung der Gedanken selbst<br />

wird jīva, Ursache und Handlung genannt. Sie ist der keimende Same der<br />

Welterscheinung. Anschließend erfolgt die Schaffung des Körpers.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Diese Bewegung der Gedanken entsteht aufgrund verschiedenster Ursachen.<br />

Der eine wird davon in dieser Lebensspanne befreit, und ein anderer<br />

nach Tausenden von Geburten. Sobald es diese Bewegung der Gedanken gibt,<br />

kann man die Wahrheit nicht sehen – dann entsteht dieses Gefühl von „Ich<br />

bin“, „Dies ist mein“ usw.<br />

Die Welterscheinung ist der Wachzustand des Bewusstseins, der Ich-Sinn<br />

ist der Traumzustand, die (potentiellen) Gedankenwellen sind der Zustand<br />

des Tiefschlafs, und reines Bewusstsein ist der vierte Zustand oder die unbestrittene<br />

Wahrheit. Jenseits dieses vierten Zustandes ist die absolute Reinheit<br />

des Bewusstseins. Wer hier verankert ist, ist jenseits des Kummers.<br />

Man sagt, dass die Welterscheinung als Ursache das absolute Brahman habe;<br />

auf dieselbe Weise, wie der Himmel (Raum) die Ursache für das Wachstum<br />

eines Baumes ist (der Himmel behindert sein Wachstum nicht und somit<br />

108


fördert oder verursacht er es). Die Wahrheit ist jedoch, dass Brahman weder<br />

ein aktiver noch kausaler Faktor ist – enthüllt wird dies durch die Erforschung.<br />

So wie jemand in der festen Erde gräbt und nichts als leeren Raum<br />

findet, je weiter er gräbt, so wird einer, der erforscht, die Wahrheit entdecken,<br />

dass all dies nichts anderes als das unendliche Bewusstsein ist.<br />

RùMA fragte: Bitte sage mir, wie es kommt, dass diese Schöpfung so sehr<br />

ausgebreitet vor uns liegt?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Vibration im unendlichen Bewusstsein ist nicht verschieden vom Bewusstsein<br />

selbst. Von dieser Vibration wird der jīva manifest, und auf dieselbe<br />

Weise geschieht es ausgehend vom jīva, dass das Gemüt manifest wird,<br />

weil der jīva denkt. Das Gemüt selbst unterhält die Vorstellungder fünf Elemente<br />

und transformiert sich dann selbst in diese Elemente hinein. Woran<br />

auch immer das Gemüt denkt – dies allein sieht es dann. Nach all diesem<br />

erwirbt der jīva die Sinnesorgane – die Zunge, die Augen, die Nase, den Berührungssinn<br />

usw. Hier gibt es keinerlei kausale Verbindung zwischen dem<br />

Gemüt und den Sinnen, aber eine Koinzidenz zwischen dem Gedanken und<br />

der Manifestation der Sinnesorgane – so wie eine Krähe auf einem Palmbaum<br />

sitzt und zufällig eine Frucht herunterfällt, und es nun so aussieht, als hätte<br />

die Krähe die Frucht gelöst! Auf diese Weise tritt der erste kosmische jīva ins<br />

Sein.<br />

RùMA fragte: Heiliger Herr, wenn die Unwissenheit in Wahrheit als solche<br />

nicht existiert, weshalb sollte man sich dann überhaupt um Befreiung oder<br />

Untersuchung kümmern?<br />

VASIåèHA erwiderte: Rāma, dieser Gedanke sollte zu seiner eigenen Zeit<br />

auftauchen, aber nicht jetzt! Blumen blühen und Früchte reifen, wenn ihre<br />

Zeit gekommen ist.<br />

Der kosmische jīva spricht „OM“ und erzeugt durch puren Willen die verschiedenen<br />

Objekte. So wie der Schöpfer Brahmā willentlich ins Leben gerufen<br />

worden ist, so wird auch ein Wurm ins Leben gerufen. Da der Wurm jedoch<br />

in Unreinheit gefangen ist, ist seine Tätigkeit bedeutungslos. Die Unterscheidung<br />

ist illusorisch. In Wahrheit gibt es keine Schöpfung und daher auch<br />

keinerlei Trennung.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von KarkaÂī<br />

III:68, 69<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

109


In diesem Zusammenhang, oh Rāma, existiert eine alte Legende, die ich dir<br />

jetzt erzählen werde.<br />

Im Norden des Himālaya lebte einmal eine schreckenerregende Dämonin<br />

namens KarkaÂī. Sie war riesig, schwarz und fürchterlich anzusehen. Diese<br />

Dämonin konnte nie genug zu essen bekommen und war deshalb niemals<br />

satt.<br />

Sie dachte: „Wenn ich nur alle Menschen, die auf dem JambÆdvīpa-<br />

Kontinent leben, als eine einzige Mahlzeit aufessen könnte, dann würde mein<br />

Hunger verschwinden wie eine Luftspiegelung nach einem starken Regen.<br />

Das wäre eigentlich nicht unangemessen, da angemessen ist, was das eigene<br />

Leben erhält. Da die guten Leute von JambÆdvīpa jedoch fromm, wohltätig<br />

und Gott ergeben sind und über gute Heilkräuterkenntnisse verfügen, wäre<br />

es unangemessen, diese friedliebenden Leute zu quälen. Ich werde mich mit<br />

Bußübungen begnügen, denn durch Bußübungen kann das erlangt werden,<br />

was ansonsten äußerst schwer zu erlangen ist.“<br />

KarkaÂī stieg sodann auf einen der schneebedeckten Gipfel und begann ihre<br />

Bußübung, indem sie auf einem Bein stand. Sie stand fest wie eine Marmorstatue<br />

und bemerkte nicht, wie die Tage und Monate vergingen. Im Laufe der<br />

Zeit wurde sie so mager, dass sie wie ein in durchsichtige Haut gekleidetes<br />

Skelett aussah. So verblieb sie eintausend Jahre lang.<br />

Nachdem tausend Jahre vergangen waren, erschien ihr der Schöpfer<br />

Brahmā, der über ihre Bußübung erfreut war, denn durch intensive Bußübung<br />

kann alles erlangt werden – sogar giftige Nebel werden durch sie aufgelöst.<br />

Sie verneigte sich im Geiste vor ihm und fragte sich, um welche Gunst<br />

sie ihn bitten sollte. „Aber ja“, dachte sie, „ich werde darum bitten, dass ich zu<br />

einer lebenden Stahlnadel (SÆcikā, ), einer Verkörperung von Krankheit,<br />

werde. Mit Hilfe dieser Gunst werde ich gleichzeitig in die Herzen aller Wesen<br />

eindringen, meinen Wunsch erfüllen und meinen Hunger befriedigen.“ Als<br />

Brahmā zu ihr sprach: „Deine Bußübungen haben mich erfreut. Sprich einen<br />

Wunsch nach deiner Wahl aus“, äußerte sie ihren Wunsch.<br />

BRAHMù sagte: So sei es, du sollst dann auch Vi«Æcikā ( Cholera-Virus)<br />

sein. Indem du eine subtile Gestalt erhältst und in ihre Herzen eindringst,<br />

wirst du in denjenigen Qualen hervorrufen, die die falsche Nahrung essen<br />

und unbekümmert ein falsches Leben leben. Jedoch vermag man sich davon<br />

zu befreien, wenn man das folgende Mantra spricht:<br />

himādrer uttare pārśve karkaÂī nāma rāk«asī<br />

vi«Æcikābhidhānā sānāmnā 'py anyāyabādhikā<br />

oæ hrāæ hriæ śrīæ rāæ vi«ïuśākttaye namo bhagavati<br />

vi«ïuśaktti ehi enāæ hara hara daha daha hana hana paca paca<br />

matha matha utsādaya utsādaya dÆre kuru kuru svāhā vi«Æcike<br />

tvam himavantaæ gaccha gaccha jīvasāra candramaïdalam gato<br />

110


'si svāhā<br />

Wer ein Meister dieses Mantras ist, sollte es an seinem linken Arm tragen.<br />

Und indem er dabei an den Mond denkt, soll er mit dieser Hand über den<br />

Patienten streichen, der daraufhin sofort geheilt sein wird.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Und sofort, oh Rāma, begann der Körper der Dämonin langsam auf die Größe<br />

einer Nadel zu schrumpfen. Sie wurde so fein, dass man sich ihre Existenz<br />

nicht einmal mehr vorzustellen vermochte. Sie wurde von so extrem subtiler<br />

Gestalt wie die susumna nadi (subtile, spirituelle Nervenbahn), die die Basis<br />

des Rückgrats mit der Krone des Hauptes verbindet. Sie war wie das von den<br />

Buddhisten beschriebene alaya-Bewusstsein. Unverzüglich folgte ihr ihre<br />

andere Gestalt, die als Vi«Æcikā (Cholera) bezeichnet wurde.<br />

Obgleich sie nun extrem subtil und unsichtbar geworden war, hatte sich ihre<br />

dämonische Mentalität nicht im geringsten verändert. Zwar hatte sie die<br />

Gunst erhalten, die sie sich gewünscht hatte, jedoch konnte sie ihr Verlangen<br />

nach dem Verzehr aller Wesen immer noch nicht befriedigen! Der Grund lag<br />

darin, dass sie nur die Größe einer Nadel hatte!! Wie seltsam: Die Verblendeten<br />

verfügen über keine Voraussicht. Die gewaltsamen Anstrengungen, die<br />

eine selbstsüchtige Person macht, um ihre selbstsüchtigen Ziele zu erlangen,<br />

führen am Ende zu gegenteiligen Ergebnissen; so wie eine Person ihr eigenes<br />

Spiegelbild nicht sehen kann, wenn sie heftig atmet und keucht, weil durch<br />

ihren Atem der Spiegel beschlagen wird.<br />

Auf ähnliche Weise hatte die Dämonin ihren riesigen Körper aufgegeben<br />

und war für diesen Körper gestorben, nur um ihr Bestreben zu verwirklichen,<br />

zu einer Nadel zu werden. Sogar der Tod wird wünschenswert für eine Person,<br />

die hinter einem selbstsüchtigen Ziel herjagt und die von einem exzessiven<br />

Verlangen besessen ist.<br />

Vi«Æcikā strahlte und war so subtil wie Blumenduft. Abhängig von der Lebenskraft<br />

anderer, war sie ihrer eigenen Aufgabe ergegeben.<br />

Mit Hilfe ihrer zweifachen Gestalt als SÆcikā und Vi«Æcikā wanderte die<br />

Dämonin nun in der Welt umher und suchte die Menschen heim. Durch ihren<br />

eigenen Wunsch wurde sie winzig – denn die Menschen werden das, was sie<br />

sich intensiv wünschen. Menschen mit niedriger Gesinnung beten sogar um<br />

Bagatellen, so wie die Dämonin darum gebetet hatte, in eine mörderische<br />

Nadel verwandelt zu werden. Die eigene Natur kann nur sehr schwer durch<br />

Bußübungen überwunden werden.<br />

SÆcikā betrat die physischen Körper von Menschen, die aufgrund von früheren<br />

Krankheiten schon hinfällig geworden waren, oder die Fettleibigkeit<br />

entwickelt hatten, und verwandelte sich dann selbst in Vi«Æcikā (Cholera).<br />

SÆcikā betrat sogar das Herz einer gesunden und intelligenten Person und<br />

verdarb deren Intellekt. In manchen Fällen jedoch verließ sie diese Person<br />

wieder, sobald diese sich mit der Hilfe eines Mantras oder mit Medizin einer<br />

Heilbehandlung unterzog.<br />

III:70<br />

111


So durchstreifte die Dämonin viele Jahre lang die Erde (diese Dämonin<br />

stellt vielleicht den Cholera-Virus dar. Der aufgezeigte Zusammenhang von<br />

falscher Ernährung und falschen Lebensgewohnheiten ist interessant).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

SÆcikā verfügte über zahllose Verstecke. Unter diesen waren: Staub und<br />

Schmutz der Erde, schmutzige Finger, Fäden im Stoff, in den Muskeln innerhalb<br />

des Körpers eines Menschen, schmutzige, mit Staub bedeckte Haut,<br />

unsaubere Furchen in den Handflächen und anderen Teilen des Körpers<br />

(aufgrund von Altersschwäche), von Fliegen bedeckte Orte, in glanzlosen<br />

Körpern, an Stellen voll von verrottenden Blättern, an Orten ohne gesundheitsfördernde<br />

Bäume, in Leuten mit schmieriger Kleidung und mit ungesunden<br />

Gewohnheiten, in von Waldrodungen zurückgebliebenen Baumstümpfen,<br />

die eine Brutstätte von Fliegen sind, in Lachen von brackigem Wasser, in<br />

verseuchtem Wasser, in offenen Abwasserabläufen, in von Durchreisenden<br />

benutzten Herbergen und in denjenigen Städten, in denen es viele Tiere wie<br />

Elefanten, Pferde usw. gibt.<br />

Wenn sie SÆcikā (eine Nähnadel) war, trug sie schmutzige Kleidungsstücke,<br />

die sie auf der Straße aufgelesen und zusammengenäht hatte. Sie wanderte<br />

frei in den Körpern kranker Menschen umher. So wie eine während langer<br />

Zeit vom Schneider benutzte Nähnadel ermüdet und auf den Boden fällt, um<br />

ein Schläfchen zu machen, so wurde auch SÆcikā müde von ihrer zerstörerischen<br />

Tätigkeit. So wie das Nähen die natürliche Funktion einer Nadel ist, so<br />

war Grausamkeit die Natur von SÆcikā. So wie die Nadel fortwährend den<br />

Faden verschlingt, der durch sie hindurch wandert, so fuhr SÆcikā damit fort,<br />

ihre Opfer zu verschlingen.<br />

In dieser Welt kann man beobachten, dass sogar gemeine und schlechte<br />

Menschen manchmal Mitleid mit anderen empfinden, die lange Zeit in Armut<br />

und Elend leben müssen. Auch SÆcikā sah den endlosen Faden, der durch sie<br />

in die Kleidung (ihr eigenes karma) gewandert war. Das beunruhigte sie.<br />

Siefühlte, dass diese düster anmutende Kleidung, die von ihr gewebt worden<br />

war (als SÆcikā oder die Nähnadel), ihr Gesicht bedeckte und sie blind machte.<br />

Sie fragte sich: „Wie kann ich diesen düsteren Schleier zerreißen? “ Sie (die<br />

Nadel) wanderte durch weiche (die guten Menschen) ebenso hindurch wie<br />

durch harte Kleidung (die schlechten Menschen), denn welche verrückte oder<br />

böse Person unterscheidet schon zwischen dem, was gut oder schlecht ist?<br />

Unbedroht und unbelästigt von anderen arbeitete SÆcikā weiter an Tod und<br />

Verderben für andere. Gebunden durch ihren karma-Faden baumelt sie auf<br />

gefährliche Weise hin und her. Als Jīva-sÆcikā bewegt sie sich in allen Wesen<br />

als die Lebenskraft, unterstützt von prana und apana. Sie unterzieht den jīva<br />

dem Leiden, indem sie ihm schreckliche Schmerzen bereitet (durch Gicht,<br />

Rheumatismus), die ihn den Verstand verlieren lassen. Sie betritt den Körper<br />

durch die Füße (wie eine Nadel) und saugt am Blut. Wie alle bösen Menschen<br />

erfreut sie sich am Leiden anderer.<br />

112


III:71, 72<br />

(Als Vāsi«Âha so gesprochen hatte, ging die Sonne unter – ein weiterer Tag<br />

war zu Ende. Die Versammlung schloss für die Abendgebete.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem sie auf diese Weise lange, lange Zeit gelebt hatte, war die<br />

Dämonin KarkaÂī schließlich gänzlich desillusioniert. Sie bereute ihren törichten<br />

Wunsch danach, die Menschen zu verschlingen, der ihr nichts als tausend<br />

Jahre schmerzhafter Bußübung und die niedrige Existenzform einer Nadel<br />

(und eines Cholera-Virus) eingebracht hatte. Nun begann sie ihr selbst herbeigeführtes<br />

Missgeschick zu beklagen:<br />

„Oh weh – wo ist mein Körper, riesig wie ein Berg, und was taugt diese<br />

Form einer Nadel hier? Manchmal falle ich in den Schlamm und versinke im<br />

Schmutz; die Leute trampeln mich nieder. Oh weh – ich bin verloren! Ich habe<br />

keine Freunde, niemand bedauert mich. Weder habe ich eine feste Unterkunft<br />

noch einen Körper, der dieses Namens wert ist. Ganz gewiss habe ich meinen<br />

Verstand und meine Sinne verloren! Das Gemüt, das auf Schwierigkeiten<br />

zusteuert, erzeugt zuerst Täuschung und Schlechtigkeit, und diese verwandeln<br />

sich dann später in Missgeschick und Kummer. Nie bin ich frei, ich lebe<br />

immer nur durch die Gnade anderer. Ich bin in der Hand der anderen und<br />

muss tun, was diese mich zu tun machen. Ich suchte dem Kobold eines Wunsches<br />

zu gefallen, um alle zu verschlingen, aber dies hat mir nur ein „Heilmittel“<br />

in die Hand gegeben, das noch schlimmer als die eigentliche Krankheit<br />

ist. Und so ist ein noch größerer Kobold entstanden. Ganz sicher bin ich eine<br />

gehirnlose Närrin. Denn ich warf diesen großartigen und gigantischen Körper<br />

fort, um freiwillig den verabscheuungswürdigen Körper eines Virus (oder<br />

einer Nadel) zu erlangen. Wer wird mich nun aus der elenden Existenz eines<br />

Wesens, das sogar geringer ist als ein Wurm, befreien? Nicht einmal im Herzen<br />

eines Weisen wird das kleinste Mitgefühl für ein derart lasterhaftes Wesen<br />

wie mich entstehen. Oh, wann werde ich wieder groß wie ein Berg sein<br />

und das Blut großer Wesen trinken?... Ich werde wieder eine Asketin werden<br />

und wie schon früher Bußübungen unternehmen.“<br />

Und sofort gab KarkaÂī alle Wünsche nach dem Verschlingen lebender Wesen<br />

auf und ging in die Himālayas, um ihre strengen Bußübungen erneut<br />

aufzunehmen. Sie begann ihre Übungen, indem sie sich auf ein Bein stellte.<br />

Das Feuer ihrer Buße ließ die Krone ihres Hauptes rauchen, und daraus entstand<br />

eine andere Súcika – ein wohltuender Helfer. Ihr Schatten wurde zu<br />

einer weiteren Súcika – einem weiteren Helfer.<br />

Sogar die Bäume und Kletterpflanzen des Waldes bewunderten Súcika's<br />

Buße und verstreuten ihre Pollen für sie als Nahrung. Sie jedoch nahm nichts<br />

davon an. Sie blieb fest in ihrem Entschluss. Der Gott des Himmels sandte<br />

dort, wo sie stand, kleine Fleischstückchen herab, aber sie berührte sie nicht<br />

einmal. So stand sie siebentausend Jahre lang, gänzlich bewegungslos, unberührt<br />

von Wind, Regen oder Waldbränden.<br />

113


III:74, 75<br />

KarkaÂī's gesamtes Wesen wurde durch diese Bußübung vollständig gereinigt.<br />

Alle ihre sündhaften Neigungen wurden weggewaschen und sie erlangte<br />

die höchste Weisheit. Die Kraft ihrer Buße setzte sozusagen die Himālayas in<br />

Brand. Indra, der König des Himmels, erfuhr vom Weisen Nārada von<br />

KarkaÂī's noch nie dagewesenem Unternehmen.<br />

Als Antwort auf Indra’s Anfrage erzählte der WEISE NùRADA die Geschichte<br />

von KarkaÂī:<br />

Dieser abscheuliche Kobold KarkaÂī wurde zu einer lebendigen Nadel, eingeschlossen<br />

in einer metallenen Nadel. Als diese drang sie in die Körper sündiger<br />

Menschen ein und befiel deren Muskeln, Gelenke und Blut. Sie trat in<br />

diese Körper wie der Wind ein und verursachte stechende und prickelnde<br />

Schmerzen. In diesen Körpern, die durch unreine Nahrung wie Fleisch usw.<br />

ernährt worden waren, rief sie die Schmerzen hervor.<br />

Sie fuhr auch in die Körper anderer Wesen wie Aasgeier und verschlang<br />

durch diese andere Köper. Durch die Macht ihrer Bußübungen erwarb sie die<br />

Fähigkeit, die Herzen und Gemüter aller Wesen zu betreten und an allem<br />

teilzuhaben, was ihr „Wirt“ tat. Was ist denn unmöglich für den, der unsichtbar<br />

und subtil wie der Wind ist?<br />

Da sie jedoch manchmal einige Wesen mehr als andere und manche Vergnügen<br />

mehr als andere mochte (aufgrund ihrer unreinen Neigungen), band<br />

sie sich an diese und wurde von ihnen überwältigt. So wanderte sie frei umher,<br />

zog sich jedoch bei Schwierigkeiten in den Nadelkörper zurück, so wie es<br />

unwissende Menschen in schwierigen Zeiten tun.<br />

Und doch war sie physisch nicht zufriedengestellt. Nur ein existenzielle Gegebenheit<br />

kann die entsprechenden existenziellen Erfahrungen machen – wie<br />

kann ein nicht-existenter Körper Zufriedenheit erfahren? Und so, gänzlich<br />

unzufrieden, fühlte Súcika sich elend. Um ihren früheren Körper eines gigantischen<br />

Kobolds wiederzuerlangen, begann sie aufs neue Bußübungen auszuführen.<br />

Sie betrat den Körper eines Geiers, der auf die Gipfel des Himālayas<br />

flog. Dort warf der Geier die Nadel ab und flog davon.<br />

Mit der soliden Nadel als Unterstützung begann Súcika mit ihren Bußübungen,<br />

die bis heute andauern. Oh Indra – wenn du ihre Buße nicht unterbrichst,<br />

wird sie die Welt allein durch die Macht dieser Übungen zerstören.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als er dies vernahm, beauftragte Indra den Wind-Gott Vāyu, den genauen<br />

Aufenthaltsort von Súcika herauszufinden. Vāyu wehte durch sämtliche Planetensysteme<br />

des Universums, kam schließlich in die Regionen der Erde und<br />

des Himālayas, wo es wegen der Nähe zur Sonne keine Vegetation gab und<br />

das gesamte Gebiet wie eine öde Wüste war.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In den Himālayas sah Vāyu dann die Asketin Súcika stehen wie ein weiterer<br />

Berggipel. Da sie überhaupt nichts mehr gegessen hatte, war sie inzwischen<br />

III:73<br />

114


fast völlig ausgetrocknet. Als Vāyu (der Wind) in ihren Mund eindrang, spuckte<br />

sie ihn wieder und wieder aus. Sie hatte ihre gesamte Lebensenergie in der<br />

Krone ihres Hauptes zusammengezogen und stand fest wie eine vollkommene<br />

Yogini. Als er sie betrachtete, stand Vāyu staunend und vor Bewunderung<br />

still. Er konnte nicht einmal mit ihr sprechen. Überzeugt davon, dass sie sich<br />

den höchsten Bußübungen unterzogen hatte, kehrte Vāyu unverzüglich zurück<br />

in den Himmel und berichtete Indra:<br />

„Höchster Herr, im JambÆdvīpa-Kontinent vollführt SÆcikā beispiellose<br />

Bußübungen. Nicht einmal den Wind lässt sie in ihren Mund eintreten! Um<br />

den Hunger zu überwinden, hat sie ihren Magen in solides Metall verwandelt.<br />

Bitte gehe sofort zu Brahmā, dem Schöpfer, um sie durch die Gewährung der<br />

gewünschten Gunst zufriedenzustellen. Andernfalls wird die Macht ihrer<br />

Bußübung uns alle verbrennen.“<br />

Daraufhin wandte Indra sich an Brahmā, der als Antwort auf sein Gebet sich<br />

dorthin begab, wo SÆcikā mit ihrer Buße beschäftigt war.<br />

SÆcikā war in der Zwischenzeit aufgrund ihrer Buße vollkommen rein geworden.<br />

Nur ihre beiden anderen Gestalten, nämlich ihr Schatten und das<br />

Feuer ihrer Askese, waren die Zeugen ihrer Buße. Sogar die Luft um sie herum<br />

und die Staubpartikel, die mit ihr in Berührung kamen, erlangten nur<br />

durch den Kontakt mit ihr die letztliche Befreiung! Nun hatte sie tatsächlich<br />

die direkte Erkenntnis der höchsten, unverursachten Ursache von Allem<br />

erreicht – durch bloße Erforschung ihres eigenen Geistes. Ganz gewiss ist die<br />

direkte Erforschung der Gedankenbewegungen im eigenen Bewusstsein der<br />

höchste Guru oder Lehrer, oh Rāma, und niemand sonst.<br />

Brahmā sprach zu ihr: „Frage nach einer Gunst“ (sie hörte dies nicht mit<br />

ihren Sinnesorganen, die sie nicht mehr besaß, sondern sie nahm diese Frage<br />

in sich selbst wahr). Als Antwort darauf begann sie, sich selbst zu erforschen:<br />

„Ich habe die Verwirklichung des Absoluten erlangt – in mir gibt es keine<br />

Zweifel oder Wünsche mehr. Was für einen Nutzen kann eine Gunst jetzt noch<br />

für mich haben? Als ich ein unwissendes Mädchen war, wurde ich vom Kobold<br />

meiner Wünsche verfolgt. Jetzt, durch Selbsterkenntnis, ist dieser Geist<br />

von mir gegangen.“<br />

Brahmā sagte: „Die ewige Weltordnung kann nicht ignoriert werden, oh Asketin.<br />

Und es ist diese, die bestimmt hat, dass du deinen früheren Körper<br />

wiedererlangen, eine lange Zeit glücklich leben und dann die Befreiung erhalten<br />

sollst. Du sollst daher ein erleuchtetes Leben führen, nur die Schlechten<br />

und Sündigen heimsuchen und nur wenig Schaden verursachen, und dies<br />

auch nur, um deinen natürlichen Hunger zu stillen.“ SÆcikā akzeptierte, was<br />

Brahmā gesagt hatte, und schon bald wuchs ihr Nadelkörper wieder zu dem<br />

alten, bergähnlichen Körper heran.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Obgleich sie ihre alte, dämonische Gestalt wiedererlangt hatte, verharrte<br />

KarkaÂī für eine beträchtliche Zeit im überbewussten Zustand, frei von allen<br />

III:76, 77<br />

115


dämonischen Neigungen. Sie verblieb am selben Ort – in der Lotoshaltung der<br />

Meditation sitzend. Nach einem Zeitraum von sechs Monaten wurde sie der<br />

äußeren Welt und ihres Körpers wieder voll bewusst. Unverzüglich begann<br />

sie Hunger zu spüren, denn solange der Körper existiert, ist er auch seinen<br />

eigenen physischen Gesetzen wie Hunger und Durst unterworfen.<br />

KarkaÂī überlegte: „Was soll ich nun essen? Wen soll ich verschlingen? Die<br />

Vernichtung anderer Lebewesen zum Zweck der Verlängerung des eigenen<br />

Lebens wird von den Weisen verurteilt. Da ich nun meinen Körper<br />

aufgebenmuss, wenn ich nicht diese verbotene Nahrung zu mir nehme, dann<br />

soll es so geschehen – ich vermag keinen Schaden darin zu erkennen. Ungesunde<br />

Nahrung ist wie Gift. Außerdem gibt es für eine erleuchtete Person wie<br />

mich keinen Unterschied zwischen dem physischen Leben und dem Tod.“<br />

Als sie so überlegte, hörte sie eine Stimme aus der Luft sagen: „Oh KarkaÂī,<br />

gehe zu den unwissenden und irregeführten Menschen und erwecke die<br />

Weisheit in ihnen.<br />

Für erleuchtete Wesen ist dies die einzig sinnvolle Aufgabe.<br />

Wer deinen Bemühungen, ihn zur Wahrheit zu erwecken, nicht folgt, den<br />

darfst du verzehren. Wenn du eine solche Person verschlingst, wirst du keine<br />

Sünde begehen.“<br />

Als sie dies vernahm, stand KarkaÂī auf und stieg von den Bergen herab. Sie<br />

betrat einen dichten Wald, der von Bergstämmen und Jägern bewohnt war.<br />

Die Nacht brach herein.<br />

Es gab in diesem Gebiet einen König der Jäger namens Vikram. Wie es seine<br />

Gewohnheit war, ging dieser König zusammen mit seinem Minister in die<br />

finstere Nacht hinaus, um seine Untertanen durch die Unterwerfung von<br />

Räubern und Dieben zu beschützen. KarkaÂī erblickte diese beiden kühnen<br />

Männer, als sie ihre Gebete zu den Stammes-Halbgöttern des Waldes sprachen.<br />

Als sie sie sah, überlegte KarkaÂī: „Gewiss sind diese beiden Männer hierhergekommen,<br />

um meinen Hunger zu stillen. Sie sind unwissend und daher<br />

eine Last für diese Erde. Unwissende Leute wie diese leiden hier und hernach<br />

– Leiden ist die einzige Bestimmung in ihrem Leben! Der Tod ist eine willkommene<br />

Befreiung von solchem Leiden. Vielleicht erwachen sie sogar nach<br />

ihrem Tode und suchen die Erlösung. Aber vielleicht sind sie ja weise Männer<br />

– und ich will keine weisen Leute töten. Denn wer sich ungetrübten Glücks,<br />

Ruhmes und eines langen Lebens zu erfreuen wünscht, der sollte unter allen<br />

Umständen gute Menschen würdigen und ehren, indem er ihnen all das gibt,<br />

was sie sich wünschen. Ich werde daher die Festigkeit ihrer Weisheit überprüfen.<br />

Sollten sie tatsächlich weise sein, dann werde ich ihnen nichts tun.<br />

Weise und gute Menschen sind in der Tat große Wohltäter der Menschheit.“<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

III:78<br />

116


Nachdem sie sich so zu einer Überprüfung des Königs und seines Ministers<br />

entschlossen hatte, stieß die Dämonin KarkaÂī einen schrillen Schrei aus und<br />

begann zu brüllen. Dann rief sie: „He, ihr beiden kleinen Würmer, die diesen<br />

finsteren Wald durchwandern! Wer seid ihr? Sagt es schnell, oder ich werde<br />

euch verschlingen.“<br />

Der König erwiderte: „Oh du Geist, wer bist du, und wo bist du? Ich höre<br />

dich nur; lass dich doch auch sehen.“<br />

Als die Dämonin diese kaltblütige und ruhige Frage des Königs vernommen<br />

hatte, erkannte sie sogleich, dass diese Frage berechtigt war und machte sich<br />

sichtbar. Der König und der Minister bekamen nun ihre schreckliche Gestalt<br />

zu sehen. Ohne aber im Geringsten beunruhigt zu sein, sprach der Minister zu<br />

ihr: „Oh Dämonin, weshalb bist du denn so böse? Es ist natürlich für alle<br />

Lebewesen, nach Nahrung zu verlangen. In der Ausübung und Verfolgung der<br />

natürlichen Lebensfunktionen muss niemand übel gesinnt sein. Sogar selbstsüchtige<br />

Ziele werden von den Weisen durch angemessene Mittel und sinnvolles<br />

Verhalten oder Tätigkeit erreicht, wenn sie ihren Ärger und ihre mentale<br />

Erregung aufgegeben und Gleichmut und einen klaren Verstand gewonnen<br />

haben. Wir haben schon Tausende solcher Insekten wie dich kennen gelernt<br />

und sind stets auf gerechte Weise mit ihnen verfahren, denn es ist die Pflicht<br />

eines Königs, die Schlechten zu bestrafen und die Guten zu schützen. Gib<br />

deinen Ärger auf und erreiche dein Ziel, indem du dich der Besonnenheit<br />

zuwendest. Darin besteht das rechte Betragen; unabhängig davon, ob man<br />

nun seine Ziele verwirklichen kann oder nicht, sollte man stets friedfertig<br />

bleiben. Wende dich vertrauensvoll an uns mit deinen Bedürfnissen, denn wir<br />

haben noch niemals einen Bettler mit leeren Händen gehen lassen.“<br />

KarkaÂī bewunderte aufs Äußerste den Mut und die Weisheit der beiden<br />

Männer. Siesah, dass es sich bei den beiden nicht um gewöhnliche menschliche<br />

Wesen, sondern um erleuchtete Männer handelte, da schon der Anblick<br />

ihrer Antlitze ihr Herz mit Frieden erfüllte. Sobald zwei erleuchtete Wesen<br />

einander treffen, verschmelzen ihre Herzen in Frieden und Seligkeit, wie sich<br />

die Wasser zweier Bergflüsse im Zusammenfluss vermischen. Außerdem –<br />

wer sonst als ein weiser Mann könnte angesichts des fast sicheren Todes den<br />

Gleichmut bewahren? KarkaÂī dachte daher: „Ich will diese Gelegenheit nutzen,<br />

um die Zweifel zu beseitigen, die sich noch in meinem Geist befinden.<br />

Wer die Gelegenheit des Zusammenseins mit weisen Männern nicht dazu<br />

nutzt, seine Zweifel zu klären, ist wahrhaftig ein Dummkopf. “<br />

Auf ihre Bitte informierte der Minister sie über die Person des Königs.<br />

KarkaÂī gab daraufhin die folgende scharfe Erwiderung: „Oh König, du<br />

scheinst keinen sehr weisen Minister zu haben! Ein guter Minister macht den<br />

König weise, und so wie der König ist, so werden auch seine Untertanen sein.<br />

Die Herrschaft über das Reich und die gerechte Sichtweise entstehen aus der<br />

königlichen Wissenschaft (der Selbsterkenntnis). Wer diese nicht beherrscht,<br />

ist weder ein guter Minister noch ein weiser König. Wenn ihr beide keinerlei<br />

Selbsterkenntnis besitzt, dann werde ich euch entsprechend meiner eigenen<br />

117


III:79<br />

Natur verschlingen müssen. Um diese Frage zuvor zu klären, werde ich euch<br />

nun einige Fragen stellen. Ihr habt nichts anderes zu tun, als mir auf meine<br />

Fragen die richtigen Antworten geben.<br />

DIE DÄMONIN fragte:<br />

Oh König, was ist dies, was eins und doch viele ist, und in dem Millionen<br />

von Universen schwimmen wie Wellen im Ozean? Was ist reiner Raum, obgleich<br />

es nicht als solcher erscheint? Was ist es, das ich in dir und du in mir<br />

bist; was ist es, was sich bewegt und doch nicht bewegt, was feststeht, obwohl<br />

es nicht feststeht; was ist es, das wie ein Felsen ist, aber bewusst ist und<br />

wunderbare Spiele im leeren Raum spielt; was ist dies, das weder die Sonne,<br />

noch der Mond, noch das Feuer ist und doch auf ewig scheint; was ist dieses<br />

Atom, das so fern und doch so nah zu sein scheint; was ist dies, dass von der<br />

Natur des Bewusstseins ist und doch nicht gekannt werden kann; was ist<br />

dies, das alles und doch keines davon ist; was ist dies, das das Selbst von allen<br />

ist, und doch von Unwissenheit verhüllt und erst nach vielen Leben großer<br />

und hartnäckiger Bemühung wiedererlangt wird; was ist dies, das winzig wie<br />

ein Atom ist und doch einen Berg in sich trägt und die drei Welten in einen<br />

Grashalm verwandelt; was ist so klein wie ein Atom und doch unermesslich<br />

groß; was ist dies, das ohne seine winzige Natur aufzugeben, größer als der<br />

größte Berg ist; was ist dieses Atom, in dem das gesamte Universum wie der<br />

Same während der kosmischen Auflösung ruht?<br />

Was ist dies, das verantwortlich für die Funktion aller Elemente des Universums<br />

ist, obwohl es selbst nicht im Geringsten tätig ist; wie Schmuckstücke<br />

aus Gold gemacht sind, aus was sind Seher, Sicht und Gesehenes gemacht;<br />

was ist es, das die dreifache Manifestation (d. h., der Seher, die Sicht und das<br />

Gesehene) verhüllt und enthüllt und in dem die scheinbar dreifache Unterteilung<br />

der Zeit (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) enthalten ist, wie<br />

der Baum im Samen; was ist dies, das abwechselnd sich manifestiert und<br />

wieder verschwindet, wie der Baum aus dem Samen kommt und der Samen<br />

wiederum aus dem Baume?<br />

Oh König, wer ist der Schöpfer dieses Universums, und durch welche Macht<br />

existierst du und bist tätig als ein König, der seine Untertanen schützt und die<br />

Schlechten bestraft; was ist dies, das du mit deiner eigenen gereinigten<br />

Sichtweise erkennst, und in dem du als dieses allein ohne eine Trennung<br />

existierst?<br />

Oh König, beantworte mir diese Fragen, um dich selbst vom sicheren Tod zu<br />

erretten. Vertreibe mit dem Licht deiner Weisheit diese Finsternis des Zweifels<br />

in mir. Der ist kein weiser Mann, der nicht in der Lage ist, auf Fragen die<br />

Wurzel der Unwissenheit und der Zweifel zu durchschneiden.<br />

Wenn du jedoch nicht in der Lage sein solltest, diese Unwissenheit in mir zu<br />

vertreiben und diese Fragen zu beantworten, dann wirst du heute meinen<br />

Hunger stillen.<br />

DER MINISTER erwiderte:<br />

III:80<br />

118


Gewiss werde ich deine Fragen beantworten, oh ehrenwerte Dame! Denn<br />

alle deine Fragen beziehen sich auf das Höchste Selbst.<br />

Das Selbst ist subtiler als der Raum, denn es hat keinen Namen und kann<br />

nicht beschrieben werden. Weder der Verstand noch die Sinne können es<br />

erreichen oder verstehen. Es ist reines Bewusstsein. Das gesamte Universum<br />

existiert im Bewusstsein, welches wie ein Atom ist, so wie der Baum im Samen<br />

existiert. Jedoch existiert das Universum als Bewusstsein und nicht als<br />

das Universum. Dieses Bewusstsein ist, was die Erfahrung aller ist, und es ist<br />

daher allein das Selbst von allen. Da es selbst ist, ist auch alles andere.<br />

Das Selbst ist wie leerer Raum, aber kein Nichts, denn es ist Bewusstsein. Es<br />

ist – jedoch kann es vom Gemüt und den Sinnen nicht erfahren werden, und<br />

deshalb ist es gleichzeitig nicht. Obwohl das Selbst von allem, kann es selbst<br />

von niemandem erfahren werden (wie ein Objekt der Erfahrung). Obgleich<br />

Eines, wird es in den unendlichen Atomen des Seins reflektiert und erscheint<br />

daher als viele. Jedoch ist diese Erscheinungsweise ebenso unwirklich, wie<br />

das „Schmuckstück“ eine illusionäre Erscheinung des Goldes ist, welches als<br />

einziges wirklich ist. Und doch ist das Selbst nicht unwirklich. Weder ist es<br />

ein Nichts noch eine Leere – denn es ist das Selbst von allen; es ist sowohl das<br />

Selbst von dem, der sagt, dass es nicht sei, und es ist das Selbst von dem, der<br />

sagt, dass es sei! Mehr als das – seine Existenz kann indirekt erfahren werden,<br />

wie man die Existenz von Kampfer anhand seiner Geruchs erfahren kann. Es<br />

allein ist das Selbst von allen als Bewusstsein, und es allein ist die Substanz,<br />

die die Welterscheinung möglich macht.<br />

In diesem unendlichen Ozean des Bewusstseins tauchen spontan und auf<br />

natürliche Weise die als die drei Welten bekannten Wirbel auf; so wie auf<br />

ganz natürliche Weise Wirbel im fließenden Wasser entstehen. Weil dieses<br />

Bewusstsein jenseits der Reichweite von Gemüt und Sinnen ist, scheint es<br />

leer zu sein – da es jedoch durch Selbsterkenntnis erkannt werden kann, ist<br />

es kein Nichts. Aufgrund der Unteilbarkeit von Bewusstsein bin ich du und du<br />

bist ich – das unteilbare Bewusstsein jedoch wird niemals zu ich oder du!<br />

Sobald die falsche Vorstellung von „du“ und „ich“ aufgegeben wird, entsteht<br />

das Gewahrsein, dass es dich, mich und alles andere nicht gibt– vielleicht ist<br />

Es allein alles.<br />

Das Selbst, das Unendliche, bewegt sich nicht, obwohl es sich bewegt, und<br />

ist für immer in jedem Atom des Seins enthalten. Weder geht das Selbst irgendwo<br />

hin noch kommt es von irgendwo her, denn Raum und Zeit leiten ihre<br />

Bedeutung allein vom Bewusstsein selbst ab. Wohin könnte das Selbst gehen,<br />

wenn alles, was ist, in ihm ist? Wenn ein Krug von einer Stelle zu anderen<br />

getragen wird, so bewegt sich der darin enthaltene Raum nicht von einer<br />

Stelle zur anderen, denn alles ist stets nur im Raum enthalten.<br />

DER MINISTER fuhr fort:<br />

Das Selbst, welches reines Bewusstseins ist, scheint leblos und träge zu<br />

sein, wenn es scheinbar mit Leblosem und Trägem in Verbindung gebracht<br />

wird. Im unendlichen Raum lässt dieses unendliche Bewusstsein unendliche<br />

119


III:81<br />

Objekte erscheinen. Obgleich es so aussieht, als ob all dies geschah, ist die<br />

durch sie hervorgerufene Wirkung doch nichts als reine Phantasie, denn<br />

nichts ist geschehen. Folglich ist es sowohl Bewusstsein als auch Trägheit –<br />

der Täter und der Nicht-Täter.<br />

Die Wirklichkeit des Feuers ist dieses Selbst oder Bewusstsein, obwohl das<br />

Selbst weder brennt noch verbrannt wird, da es die Wirklichkeit in allem ist<br />

und unendlich. Es ist das ewige Licht, welches in der Sonne, dem Mond und<br />

dem Feuer scheint, aber unabhängig ist. Es leuchtet sogar dann noch, wenn<br />

jene untergegangen sind – es erleuchtet alles aus allem heraus. Es allein ist<br />

die Intelligenz, die Bäumen, Pflanzen und Kletterpflanzen innewohnt und sie<br />

erhält. Dieses Selbst oder unendliche Bewusstsein ist, vom gewöhnlichen<br />

Standpunkt her gesehen, der Schöpfer, der Erhalter und der Gebieter von<br />

allem. Und doch – von einem absoluten Standpunkt her betrachtet – hat es in<br />

Wirklichkeit als das Selbst von allem keine dieser begrenzten Rollen.<br />

Unabhängig von diesem Bewusstsein gibt es keine Welt – auch die Berge<br />

sind im atomischen Selbst. In ihm entstehen Bilder eines Momentes und einer<br />

Epoche, die wie reale Zeitabläufe erscheinen, so wie Dinge im Traum wirklich<br />

erscheinen. Im Zeitraum eines Augenblinzelns existiert eine ganze Epoche, so<br />

wie eine riesige Stadt in einem Spiegel erscheint. Wenn dies so ist – wie kann<br />

man dann noch die Realität von Dualität oder Non-Dualität geltend machen?<br />

Dieses atomische Selbst oder unendliche Bewusstsein allein ist es, welches<br />

als ein Moment oder eine Epoche, als nah oder fern erscheint, und es gibt<br />

nichts, was getrennt von ihm ist. Diese Aussage ist in keiner Weise widersprüchlich<br />

in sich selbst.<br />

Solange man das Schmuckstück als Schmuckstück sieht, wird es nicht als<br />

Gold gesehen, aber wenn klar ist, dass „Schmuckstück“ nur ein Wort und<br />

nicht die Wirklichkeit ist, dann wird das Gold gesehen. Auf dieselbe Weise<br />

geschieht es, dass das Selbst nicht gesehen wird, wenn man die Welt für wirklich<br />

hält. Wird diese Annahme jedoch aufgegeben, dann wird Bewusstsein<br />

realisiert. Es ist das alles – folglich ist es wirklich. Es wird nicht erfahren –<br />

daher ist es unwirklich. Was erscheint, ist nichts als die Zauberei von Māyā,<br />

die eine Trennung im Bewusstsein erschafft – in Subjekt und Objekt. Sie ist so<br />

wirklich wie eine geträumte Stadt. Weder wirklich noch unwirklich, ist sie<br />

nichts als eine andauernde Täuschung. Es ist die Annahme der Getrenntheit,<br />

die die Vielfalt erschafft, vom Schöpfer Brahmā bis hin zum winzigen Insekt.<br />

So wie ein einziger Same alle die vielfältigen Eigenschaften des Baumes alle<br />

Zeit in sich bewahrt, so existiert diese Vielfalt alle Zeit im Selbst, aber als<br />

Bewusstsein.<br />

KARKAèĪ sprach:<br />

Ich bin hoch erfreut über die Antworten deines Ministers, oh König. Nun<br />

würde ich gern deine Antworten vernehmen.<br />

DER KÖNIG sprach:<br />

120


Deine Fragen, oh edle Dame, beziehen sich auf das ewige Brahman, welches<br />

reines Sein ist. Es wird gekannt, sobald die dreifache Modifikation von Wachen,<br />

Träumen und Tiefschlaf aufhört und das Gemüt von allen Gedankenwellen<br />

befreit ist. Die Ausbreitung und der Rückzug seiner Manifestation werden<br />

allgemein als die Schöpfung und die Auflösung des Universums bezeichnet.<br />

Dies kommt als Stille zum Ausdruck, wenn das Bekannte an sein Ende gelangt,<br />

denn jenes ist jenseits von jedem Ausdrucks. Es ist die extrem subtile<br />

Mitte zwischen den beiden Extremen, und diese Mitte selbst verfügt über<br />

zwei Seiten. Alle diese Universen sind nichts als seine spielerische, aber bewusste<br />

Projektion. Als die Vielfalt des Universums scheint es in sich selbst<br />

geteilt zu sein, obwohl es in Wahrheit ungeteilt ist.<br />

Wenn dieses Brahman es wünscht, entsteht der Wind, obwohl dieser Wind<br />

selbst nichts anderes als reines Bewusstsein ist. Ähnlich dazu gibt es die<br />

unwirkliche Projektion von etwas, das wie Klang ist, sobald es den Gedanken<br />

an den Klang gibt. Die Wirklichkeit jedoch, die nichts als reines Bewusstsein<br />

ist, ist weit von dem entfernt, was als Klang und als dessen Bedeutung oder<br />

Substanz gedacht wird. Dieses höchste, subtile atomische Sein ist alles und<br />

nichts – ich bin es, und bin es doch wiederum nicht. Es allein ist. Durch seine<br />

Allmacht scheint all dieses zu sein.<br />

Dieses Selbst kann auf hunderterlei Art und Weise erlangt werden. Doch<br />

wenn es erlangt ist, dann wird in Wahrheit gar nichts erlangt! Es ist das<br />

Höchste Selbst, doch es ist nichts. So wandert man in diesem Urwald des<br />

saæsāra bzw. des Lebenszyklus umher, bis die Weisheit dämmert und die<br />

Wurzel der Unwissenheit durchschneidet, welche diese Welt als real erscheinen<br />

lässt. So wie der unwissende Mensch vom Wasser in der Fata Morgana<br />

angezogen wird, so zieht diese Welterscheinung den unwissenden Menschen<br />

an. Die Wahrheit aber lautet, dass es das unendliche Bewusstsein ist, welches<br />

das Universum innerhalb von sich selbst wahrnimmt, durch die ihm eigene,<br />

als Māyā bekannte Macht. Was innerhalb gesehen wird, erscheint auch außerhalb<br />

– wie die Halluzinationen eines Menschen, den die Leidenschaft<br />

rasend macht.<br />

Obwohl das Selbst extrem subtil, atomisch und reines Bewusstsein ist, wird<br />

das gesamte Universum gänzlich von ihm durchdrungen. Es ist dieses allgegenwärtige<br />

Wesen, welches durch seine Gegenwart diese Welterscheinung<br />

nach seiner Pfeife tanzen lässt. Es ist aufgrund seiner Allgegenwart, dass<br />

dieses feiner als der hundertste Teil einer Haarspitzeist und doch zugleich<br />

größer als das Größte.<br />

DER KÖNIG fuhr fort:<br />

Das Licht der Selbsterkenntnis allein erleuchtet alle Erfahrungen. Es leuchtet<br />

durch sich selbst. Was ist das Licht, durch welches man „sieht“, wenn alle<br />

Lichter der Welt von der Sonne abwärts verlöscht sind? Es ist stets nur dieses<br />

innere Licht. Dieses innere Licht scheint außerhalb zu sein und die externen<br />

Objekte zu beleuchten. Die anderen Lichtquellen sind in der Tat nicht verschieden<br />

von der Dunkelheit der Unwissenheit und scheinen nur zu leuchten.<br />

121


Denn obgleich es zwischen Nebel und Wolken keinen essenziellen Unterschied<br />

gibt, beobachtet man oft, wie der Nebel Licht auszusenden scheint,<br />

während die Wolken es dagegen zu verdunkeln scheinen. Das innere Licht des<br />

Bewusstseins scheint auf immer innerhalb und außerhalb, Tag und Nacht.<br />

Rätselhafterweise erleuchtet es die Wirkungen der Unwissenheit, ohne jedoch<br />

die Finsternis der Unwissenheit zu entfernen. So wie die immer leuchtende<br />

Sonne ihre wahre Natur mit Hilfe von Tag und Nacht enthüllt, so enthüllt<br />

das Licht des Selbst seine wahre Natur, indem es Bewusstsein und Unwissenheit<br />

enthüllt.<br />

Innerhalb des atomischen Raumes des Bewusstseins existieren sämtliche<br />

Erfahrungen, so wie in einem Tropfen Honig die subtilen Essenzen von Blumen,<br />

Blättern und Früchten existieren. Von diesem Bewusstsein gehen sämtliche<br />

Erfahrungen aus, denn das Erfahren ist der alleinige Erfahrende. Was<br />

auch immer die besondere Beschreibung von Erfahrungen ist – sie sind alle<br />

enthalten im Errahren des Bewusstseins. Tatsächlich ist dieses unendliche<br />

Bewusstsein all dies. Alle Hände und Augen sind die seinen; obwohl es, weil<br />

es so extrem subtil ist, keine Glieder hat. Während eines Augenblinzelns<br />

erfährt dieses unendliche Bewusstsein innerhalb von sich selbst eine Epoche,<br />

so wie man in einem kurzen Traum Jugend, Alter und sogar Tod erfährt. Alle<br />

diese Objekte, die im Bewusstsein auftauchen, sind in der Tat nicht verschieden<br />

vom Bewusstsein, so wie eine aus einem Stein herausgehauene Skulptur<br />

nichts als Stein ist. So wie der ganze Baum mit all seinen Verzweigungen<br />

schon im Samen enthalten ist, so ist das gesamte Universum der Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft im Atom des unendlichen Bewusstseins enthalten.<br />

Obwohl das Selbst weder der Täter von Handlungen noch der Erfahrende<br />

von Erfahrungen ist, ist es doch gleichwohl der Täter aller Handlungen und<br />

der Erfahrende aller Erfahrungen, denn es gibt nichts von ihm getrenntes.<br />

Innerhalb des Atoms des unendlichen Bewusstseins sind die Täterschaft und<br />

der Erfahrende enthalten.<br />

Die Welt jedoch wurde weder jemals wirklich erschaffen noch wird sie verschwinden.<br />

Als unwirklich wird sie nur von einem relativen Standpunkt her<br />

angesehen, während sie vom absoluten Standpunkt aus nicht verschieden<br />

vom unendlichen Bewusstsein ist.<br />

DER KÖNIG fuhr fort:<br />

Die Weisen benützen die Begriffe „Innen“ und „Außen“ – für sie sind es nur<br />

Worte ohne eine dazugehörige Substanz; sie dienen nur zur Belehrung der<br />

Unwissenden. Der Seher, der selbst ungesehen bleibt, sieht sich selbst, und<br />

der Seher wird niemals zu einem Objekt des Bewusstseins. Der Seher besteht<br />

nur in der Sicht. Sobald die latenten psychischen Eindrücke aufgehört haben,<br />

erlangt der Seher sein reines Wesen zurück. Sobald das externe Objekt imaginiert<br />

wird, wird auch ein Seher erzeugt. Wenn es kein Subjekt gibt, gibt es<br />

auch kein Objekt – es ist der Sohn, der einen Mann zum „Vater“ macht. Es ist<br />

das Subjekt, das zum Objekt wird. Ohne ein Subjekt kann es kein Objekt geben,<br />

so wie es auch ohne den Vater keinen Sohn geben kann. Weil das Subjekt<br />

122


eines Bewusstsein ist, ist es auch fähig, das Objekt zu erzeugen. Es kann<br />

dagegen nicht anders herum sein, nämlich dass das Objekt die Geburt des<br />

Subjekts bewirkt. Der Seher allein ist wirklich, während das Objekt reine<br />

Halluzination ist. Gold allein ist wirklich, während das Schmuckstück nur<br />

Name und Form ist. Solange die Vorstellung des Schmuckstücks existiert, so<br />

lange wird auch das reine Gold nicht wahrgenommen. Solange die Vorstellung<br />

des Objekts andauert, so lange existiert auch die Trennung zwischen dem<br />

Seher und dem Gesehenen. So wie jedoch wegen des Bewusstseins im<br />

Schmuckstück das Gold seine „Güldenheit“ realisiert, so realisiert das Subjekt,<br />

welches sich als Objekt manifestiert, seine Subjektivität. Eines ist die Reflektion<br />

des anderen – eine echte Dualität besteht nicht. Der Seher sieht sich<br />

selbst nicht, wie er das Objekt sieht; er sieht sich selbst als das Objekt, und<br />

eben deshalb sieht er nicht – obgleich er selbst die zugrundeliegende Wirklichkeit<br />

ist, erscheint er als unwirklich. Wenn jedoch die Selbsterkenntnis<br />

auftaucht und das Objekt zu existieren aufhört, dann wird der Seher als die<br />

einzige Wirklichkeit realisiert.<br />

Das Subjekt existiert wegen des Objekts, und das Objekt selbst ist nichts als<br />

eine Reflektion des Subjekts. Die Dualität kann nicht existieren, wenn es nicht<br />

„eines“ gibt, und wozu dient die Idee von „Einheit“, wenn nur das Eine existiert?<br />

Sobald daher mit den Mitteln der rechten Selbsterforschung und des<br />

rechten Verstehens wahre Erkenntnis erlangt wird, dann bleibt nur das zurück,<br />

was nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Von diesem kann nicht<br />

ausgesagt werden, dass es Eines oder Vieles ist. Weder ist es der Seher noch<br />

das Gesehene, weder das Subjekt noch das Objekt, weder dies noch das. Weder<br />

die Einheit noch die Vielfalt kann wirklich als die Wahrheit angesehen<br />

werden, weil jede These die Antithese entstehen lässt. Und doch ist eines<br />

nicht verschieden vom „anderen“, so wie die Welle nichts als Wasser ist, und<br />

wie das Schmuckstück nichts als Gold ist. Und tatsächlich entspricht es der<br />

Wahrheit, dass die Getrenntheit keinen Widerspruch zur Einheit darstellt!<br />

Alle diese Spekulationen betreffend Einheit und Vielfalt dienen zu nichts<br />

anderem als zur Überwindung des Leidens – zur Realisierung dessen, was<br />

jenseits aller Wahrheit ist, das Höchste Selbst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem sie diesen weisen Worten des Königs gelauscht hatte, wurde<br />

KarkaÂī still, und ihre dämonische Natur verließ sie. Sie sprach zu ihnen:<br />

„Oh ihr weisen Männer seid beide wert, von allen verehrt und bedient zu<br />

werden. Durch die heilige Gemeinschaft mit euch gelangte ich zum gänzlichen<br />

Erwachen. Wer sich der Gemeinschaft mit erleuchteten Männern erfreut,<br />

leidet nicht in dieser Welt, so wie jemand mit einer brennenden Kerze in der<br />

Hand keinerlei Dunkelheit sieht. Bitte, sagt mir, was ich für euch tun kann.<br />

DER KÖNIG sprach: „Oh Edle, in meiner Stadt leiden viele Menschen an<br />

rheumatischen Herzbeschwerden. Außerdem gibt es im Land eine Cholera-<br />

Epidemie. Um diese Vorfälle zu untersuchen und eine Abhilfe für sie zu finden,<br />

sind mein Minister und ich heute nacht aus dem Palast hierher gekom-<br />

III:82<br />

123


men. Meine demütige Bitte an dich ist: Nimm nicht das Leben meiner Leute<br />

(KarkaÂī entsprach unverzüglich dieser Bitte des Königs). Aber sage mir nun<br />

bitte: Wie kann ich deine Güte erwidern und deinen Hunger stillen?“<br />

KARKAèĪ erwiderte: „Ich hatte einst die Absicht, mich im Himālaya<br />

Askeseübungen hinzugeben und den Körper zu verlassen. Jetzt jedoch habe<br />

ich diese Idee fallengelassen. Ich werde dir etwas aus meinem früheren Leben<br />

erzählen. Früher einmal was ich eine Dämonin von riesigen Ausmaßen. Ich<br />

wollte Menschen verschlingen und übte deshalb Askesepraktiken aus. Vom<br />

Schöpfer Brahmā erhielt ich eine Gunst, und als Ergebnis davon wurde ich zu<br />

einer Nadel (und gleichzeitig zum Cholera-Virus). So brachte ich unsägliches<br />

Elend unter die Menschen. Brahmā ließ jedoch gleichzeitig ein Mantra entstehen,<br />

durch welches ich unter Kontrolle gebracht werden konnte. Lerne<br />

dieses Mantra kennen, und mit seiner Hilfe können die rheumatischen Herzbeschwerden<br />

wie die Leukämie und andere Blutkrankheiten der Menschen<br />

beseitigt werden. Normalerweise verbreite ich die Leukämie durch die Eltern,<br />

die sie an ihre Kinder weitergeben!“<br />

Alle drei begaben sich ans Flussufer, wo der König von KarkaÂī das Mantra<br />

empfing. Dieses Mantra wird wirksam durch seine Wiederholung (japa).<br />

Der dankbare KÖNIG sagte daraufhin zu KarkaÂī: „Oh du freundliche Edle,<br />

damit bist du zu meinem Guru und Freund geworden. Freundschaft wird von<br />

guten Menschen geschätzt. Bitte, nimm eine angenehmere und kleinere Gestalt<br />

an, begleite mich zu meinem Palast und sei dort mein Gast. Du brauchst<br />

nicht länger die guten Menschen zu quälen. Zum Ausgleich werde ich dich mit<br />

den Sündern und Dieben füttern.“<br />

KarkaÂī stimmte zu. Sie wurde zu einer bezaubernden jungen Frau und begleitete<br />

den König, um als sein Gast bei ihm zu leben. Dieser wiederum übergab<br />

ihr Diebe, andere Kriminelle und die Sünder. In jeder Nacht nahm sie ihre<br />

dämonische Form an und verschlang sie. Während des Tages war sie wieder<br />

die bezaubernde Frau – Freund und Gast des Königs. Nach ihrem Mahl ging<br />

sie oft für einige Jahre in samādhi, bevor sie wieder zu ihrem normalen Bewusstsein<br />

und ihrem normalen Leben zurückkehrte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So lebt KarkaÂī heute noch und beschützt die Untertanen des Königs. Sie<br />

war die Tochter eines Dämons, der einer Krabbe ähnelte. Es gibt viele Arten<br />

von Dämonen von verschiedenster Farbe (weiß, schwarz, grün und rot). Sie<br />

selber war von der schwarzen Art. Ich erzählte dir diese Geschichte, weil ich<br />

mich an ihre Fragen und die Antworten des Königs erinnerte. Das Universum<br />

der Vielheit entfaltet sich aus dem unendlichen Bewusstsein, so wie die Verzweigungen<br />

des Baumes (mit seinen Blättern, Blüten, Früchten usw.) aus dem<br />

Samen entstehen, in dem selbst keine solche Vielheit existiert.<br />

Oh Rāma, nur indem du meinen Worten zuhörst, wirst du erleuchtet werden,<br />

daran kann gar kein Zweifel bestehen. Erkenne, dass das Universum aus<br />

Brahman entstanden ist und Brahman und nichts anderes ist.<br />

III:83, 84<br />

124


III:85<br />

RùMA fragte: Wenn nur das Eins-Sein die Wahrheit ist, weshalb sagen wir<br />

dann: „Dadurch erlangen wir dieses“?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, in den Schriften werden die Worte benützt, um die Unterweisung auf<br />

sinnvolle Weise zu unterstützen. Ursache und Wirkung, das Selbst und der<br />

Höchste Herr, Unterschied und Nicht-Unterschied, Erkenntnis und Unwissenheit,<br />

Schmerz und Freude – alle diese Gegensätze wurden nur zur Unterweisung<br />

der Unwissenden geschaffen. In sich selbst kommt ihnen keinerlei Wirklichkeit<br />

zu. Alle diese Diskussionen und Argumentationen finden nur in und<br />

wegen der Unwissenheit statt. Sobald es die Erkenntnis gibt, gibt es auch<br />

keine Dualität mehr. Sobald die Wahrheit erkannt wird, hören alle Beschreibungen<br />

auf – es verbleibt allein die Stille.<br />

Dann wirst du realisieren, dass es nur Eines gibt – ohne Anfang, ohne Ende.<br />

Solange jedoch Worte zur Bezeichnung einer Wahrheit verwendet werden, ist<br />

die Dualität unvermeidbar. Diese Dualität jedoch ist nicht die Wahrheit. Alle<br />

Getrenntheiten sind illusorisch.<br />

Ich werde dir jetzt noch ein weiteres Beispiel geben, höre aufmerksam zu.<br />

Mit den Mitteln der sehr kraftvollen Medizin meiner Erläuterungen wirst du<br />

gewiss die Krankheit überwinden, die dein Gemüt befallen hat. Saæsāra<br />

(Welterscheinung) ist nichts als das Gemüt selbst, welches von Zu- und Abneigungen<br />

erfüllt ist. Sobald man davon frei ist, endet diese Welterscheinung.<br />

Das Bewusstsein im Gemüt ist der Same aller Substanzen, während der träge,leblose<br />

Aspekt des Gemüts die Ursache der illusorischen Welterscheinung<br />

ist. Aufgrund der Allgegenwart des Bewusstseins nimmt das Gemüt die Form<br />

des Kennbaren an und wird somit zum Samen des ganzen Universums. Das<br />

Gemüt stellt sich wie ein Kind die Existenz dieser Welt vor. Sobald das Gemüt<br />

erleuchtet wird, erfährt es das unendliche Bewusstsein in sich selbst. Ich<br />

werde dir sogleich erläutern, wie diese Subjekt-Objekt-Trennung entsteht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich bat einmal den Schöpfer Brahmā, mir mitzuteilen, wie dieses Universum<br />

ursprünglich entstanden sei. Daraufhin gab er mir die folgende Antwort.<br />

BRAHMù sagte:<br />

Mein Kind, es ist einzig und allein das Gemüt, welches all dieses entstehen<br />

lässt. Ich werde dir mitteilen, was mir selbst zu Beginn dieser Epoche widerfahren<br />

ist. Am Ende der vorhergegangenen Epoche gab es die kosmische<br />

Nacht. Als ich dann am Ende dieser Nacht erwachte, sprach ich meine Morgengebete<br />

und schaute mich um, wobei ich den Wunsch nach der Erschaffung<br />

des Universums hegte. Ich nahm die unendliche Leere wahr, die weder erleuchtet<br />

noch finster war.<br />

In meinem Gemüt entstand die Absicht des Erschaffens, während ich in<br />

meinem Herzen die subtilen Visionen zu sehen begann. In meinem Gemüt<br />

und mit meinem Gemüt sah ich dann mehrere, anscheinend unabhängig<br />

125


voneinander existierende Universen. In diesem sah ich außerdem meine<br />

eigenen Gegenstücke, nämlich weitere Schöpfer. In diesen Universen sah ich<br />

ferner verschiedene Wesen und Berge und Flüsse, Ozeane und Winde, Sonne<br />

und himmlische Wesen und auch die Unterwelten und die Dämonen.<br />

In allen diesen Universen sah ich ferner die Schriften und die Tugendlehren,<br />

die das Gute und das Böse, Himmel und Hölle festlegten. Des weiteren waren<br />

da die Schriften, die den Weg des Vergnügens und den Pfad der Befreiung<br />

niederlegten. Und ich sah Menschen, die alle diese verschiedenen Ziele verfolgten.<br />

Ich sah sieben Welten, sieben Kontinente und auch Ozeane und Berge, die<br />

alle unerbittlich ihrer eigenen Auslöschung entgegengingen. Ich sah die Zeit<br />

und ihre Einteilungen bis hin zu Tagen und Nächten. Ich sah den heiligen<br />

Fluss GaÇgā, der die drei Welten – den Himmel, die Atmosphäre und die Erde<br />

– miteinander verflocht.<br />

Wie ein Schloss in der Luft erstrahlte diese Schöpfung mit all ihren Himmeln,<br />

Erden und Ozeanen. Dies alles erblickend, war ich starr vor Staunen<br />

und vor Verwirrung: „Wie kann es denn sein, dass ich all dies in meinem<br />

Gemüt in dieser großartigen Leere zu erblicken vermag, obwohl ich dies alles<br />

mit meinem physischen Augen noch nie erblickt habe?“ Ich sann eine beträchtliche<br />

Zeit über dieses Problem nach. Schließlich dachte ich an eine der<br />

Sonnen in einem der Sonnensysteme und bat diese, sich mir zu nähern. Ich<br />

stellte ihr die Frage, die meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.<br />

DIE SONNE erwiderte:<br />

Oh du Großer, als der allmächtige Schöpfer von all diesem hier bist du<br />

wahrhaftig der Höchste Herr. Es ist nur das Gemüt, welches als all diese unaufhörliche<br />

und endlose schöpferische Tätigkeit erscheint, die aufgrund des<br />

Nichtwissens jemanden täuscht und ihn glauben macht, dass dies wirklich<br />

oder unwirklich sei. Gewiss kennst du die Wahrheit, oh Hoher Herr, doch da<br />

du mir befahlst, deine Frage zu beantworten, sage ich nun folgendes.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von den Söhnen Indus (Zehn junge<br />

Männer)<br />

DIE SONNE sprach:<br />

Oh Gott der Götter, nahe des heiligen Berges Kailāsa an einem Ort, der<br />

SuvarïajaÂa genannt wird, hatten deine Söhne eine Siedlung errichtet. An<br />

diesem Ort gab es einen heiligen Mann namens Indu, ein Abkömmling des<br />

Weisen Kaśyapa. Er und seine Frau erfreuten sich aller Segnungen mit Aus-<br />

III:86<br />

126


nahme eines eigenen Kindes. Um diese letzte Segnung zu erlangen, begaben<br />

sie sich zu Kailāsa und unternahmen beide eine strenge Bußübung, die darin<br />

bestand, nur noch von einer winzigen Menge Wasser zu leben. Sie hatten den<br />

Zustand von Bäumen angenommen und standen da, bewegungslos.<br />

Lord Śiva war von ihrer Bußübung erfreut und erschien vor ihnen. Er fragte<br />

sie, welche Gunst sie sich von ihm erhofften. Sie beteten, dass ihnen zehn edle<br />

Söhne geboren würden, die sich Gott und der Rechtschaffenheit widmen<br />

sollten. Lord Śiva gewährte diese Gunst.<br />

Sehr bald danach schenkte die Frau des heiligen Mannes zehn strahlenden<br />

und prächtigen Söhnen das Leben. Diese Jungen wuchsen zu zehn jungen<br />

Männern heran. Bereits im Alter von sieben Jahren waren sie in sämtlichen<br />

Schriften bewandert. Nach einer beträchtlichen Zeit gaben ihre Eltern ihre<br />

Körper auf und wurden befreit.<br />

Die zehn jungen Männer waren wegen des Verlustes ihrer Eltern zu Tode<br />

betrübt. Eines Tages kamen sie zusammen und besprachen sich untereinander:<br />

„Oh Brüder, worin besteht hier das höchste Ziel, nach dem wir streben<br />

sollten und welches uns nicht ins Unglück führt? Ein König, ein Eroberer,<br />

sogar Indra, der König des Himmels zu sein – all dies sind nur wertlose Ziele,<br />

denn sogar Indra regiert den Himmel nur anderthalb Stunden der Lebenszeit<br />

des Schöpfers. Daher ist allein das Erlangen des Schöpfer-seins das beste Ziel<br />

für uns, denn diese Herrschaft wird eine ganze Epoche dauern.“<br />

Die übrigen Brüder stimmten von ganzen Herzen zu. Sie sprachen zueinander:<br />

„Nun denn – wir sollten schon baldin der Lage sein, die Brahmā-schaft zu<br />

erlangen, die nicht von Alter und Tod betroffen ist.“<br />

Der älteste Bruder sprach: „Bitte tut, wie ich euch sage. Von jetzt an kontemplieren<br />

wir wie folgt: ‚Ich bin Brahmā, der auf einem voll erblühten Lotos<br />

sitzt.“ Alle Brüder begannen daraufhin auf die folgende Weise zu meditieren:<br />

„Ich bin Brahmā, der Schöpfer des Universums. Die Weisen und auch<br />

Saraswati, die Göttin der Weisheit, befinden sich in ihrer persönlichen Gestalt<br />

in mir. Der Himmel mit all seinen himmlischen Wesen befindet sich in mir.<br />

Berge, Kontinente und Ozeane befinden sich in mir. Halbgötter und Dämonen<br />

befinden sich in mir. Die Sonne erstrahlt in mir. Nun findet die Schöpfung<br />

statt. Nun existiert die Schöpfung. Nun ist die Zeit für die Auflösung gekommen.<br />

Eine Epoche ist vorüber. Nun ist die Nacht Brahmās da. Ich habe Selbsterkenntnis<br />

erlangt und bin befreit.“<br />

Indem sie mit ihrem ganzen Wesen so meditierten, wurden sie all das.<br />

DIE SONNE fuhr fort:<br />

Hoher Herr, danach standen die zehn heiligen Männer still in ihrer Kontemplation,<br />

während sie noch tief über ihre Absicht, die Schöpfer des Universums<br />

zu sein, meditierten. Ihre Körper verfielen, und was von ihnen noch<br />

übrigblieb, wurde von wilden Tieren verzehrt. Jedoch blieben sie in diesem<br />

entkörperten Zustand unverändert stehen – eine lange, lange Zeit, bis eine<br />

Epoche vorüber war und eine schrecklich sengende Sonne zu brennen be-<br />

III:87, 88<br />

127


gann, und ein fürchterlicher Wolkenbruch entstand, der alles vernichtete. Die<br />

heiligen Männer aber standen still in ihrem entkörperten Zustand – in der<br />

festen Absicht, zu den Schöpfern des Universums zu werden.<br />

Beim Anbruch einer neuen Schöpfung standen diese Männer immer noch<br />

an derselben Stelle und auf dieselbe Weise mit derselben Absicht. Sie wurden<br />

zu Schöpfern. Sie sind die zehn Schöpfer, die du gesehen hast, und auch ihre<br />

Universen hast du gesehen. Herr, ich bin eine der Sonnen, die in diesen Universen<br />

scheint, die von diesen Männern geschaffen worden sind.<br />

DER SCHÖPFER fragte die Sonne:<br />

Oh Sonne, wenn somit diese Universen von diesen zehn Schöpfern erschaffen<br />

worden sind, worin besteht dann meine Aufgabe? Was bleibt für mich zu<br />

tun?<br />

DIE SONNE erwiderte:<br />

Herr, du hast weder eigene Wünsche noch Motive. Und so gibt es für dich<br />

überhaupt nichts zu tun. Welchen Vorteil erwartest du von der Schöpfung des<br />

Universums? Die Schöpfung des Universums ist für dich ein reiner Zeitvertreib!<br />

Herr, die Schöpfung entsteht aus dir, der selbst frei vom kleinsten Wunsch<br />

oder Motiv ist – so wie die Sonne ohne jede Absicht zu scheinen in einem<br />

Teich reflektiert wird, ohne dass das Wasser die Absicht hat, sie zu reflektieren.<br />

So wie die Sonne ohne jede Absicht bewirkt, dass Tag und Nacht einander<br />

ablösen, so sollst du auf die gleiche, nicht-willentliche Weise mit dem Akt<br />

der Schöpfung beginnen. Denn was willst du durch die Aufgabe deiner natürlichen<br />

Funktion erreichen?<br />

Weise Männer haben keinen Wunsch, irgendetwas zu tun, und weise Männer<br />

haben auch nicht den Wunsch, Tätigkeit aufzugeben.<br />

Herr, mit deinem eigenen mentalen Auge siehst du dieses Universum, welches<br />

von diesen heiligen Männern erschaffen worden ist. Mit den physischen<br />

Augen nimmt man nur diejenigen Objekte wahr, die man im eigenen Verstand<br />

erzeugt hat – nichts anderes. Diese Objekte, die vom Verstand erschaffen<br />

worden sind, sind unzerstörbar. Nur diejenigen Objekte, die aus materiellen<br />

Substanzen zusammengesetzt worden sind, lösen sich auf. Ein Mensch besteht<br />

aus dem, was als die Wahrheit seines eigenen Seins fest in seinem Gemüt<br />

verankert ist – dies ist er und nichts anderes.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Ahalyā<br />

III:89<br />

DIE SONNE fuhr fort:<br />

128


Herr, das Gemüt ist der Schöpfer der Welt – das Gemüt allein ist die höchste<br />

Person. Was vom Gemüt getan wird, ist Tätigkeit – was vom Körper getan<br />

wird, gilt nicht als Tätigkeit. Schau nur diese Kräfte des Gemütes – nur durch<br />

entschlossenes Daran-Denken wurden die heiligen Männer zu Schöpfern<br />

dieses Universums! Denkt jedoch jemand andererseits: „Ich bin ein unbedeutender<br />

Körper“, dann wird er zu einem sterblichen Wesen. Wessen Bewusstsein<br />

nach außen gerichtet ist, der erfährt Freuden und Schmerzen, während<br />

andererseits der Yogi, dessen Sichtweise nach innen gewandt ist, keinerlei<br />

Ideen von Schmerzen und Freuden hegt. Es gibt in dieser Hinsicht eine Legende,<br />

die ich dir erzählen werde.<br />

Im Lande Magadha gab es einen König namens Indradyumna. Ahalyā war<br />

seine Frau. An diesem Ort befand sich außerdem ein stattlicher junger Mann<br />

von lockeren Sitten, der Indra hieß. Eines Tages, während einer Unterhaltung,<br />

hörte die Königin die Geschichte von der Verführung der berühmten Ahalyā<br />

durch Indra, den König des Himmels. Als Ergebnis davon begann sie eine<br />

große Liebe für den jungen Mann Indra zu hegen.<br />

Ahalyā war außer sich vor Liebe zu Indra. Mit der Hilfe einer ihrer Dienerinnen<br />

gelang es ihr, den jungen Mann zu sich kommen zu lassen. Von da an<br />

pflegten Indra und Ahalyā einander regelmäßig in einem geheimen Haus zu<br />

treffen und sich aneinander zu erfreuen.<br />

Ahalyā war so vernarrt in Indra, dass sie ihn überall erblickte. Schon der<br />

Gedanke an ihn ließ ihr Gesicht leuchten. Als ihre Liebe wuchs, wurde ihr<br />

Verhältnisallbekannt, und so kam sie dem König zu Ohren.<br />

Der zornige König versuchte ihre Beziehung zu zerstören und bestrafte sie<br />

auf zahlreiche Arten: Sie wurden in eiskaltes Wasser getaucht, in siedendem<br />

Öl gebraten, an die Beine eines Elefanten gebunden und ausgepeitscht. Indra<br />

lachte nur und sprach zum König:<br />

„Oh König, das gesamte Universum sehe ich als nichts anderes als meine<br />

Geliebte. Genauso ist es mit Ahalyā. Daher berührt uns dies alles nicht. Mein<br />

Herr, ich bin nurGemüt– das Gemüt allein ist das Individuum. Du kannst den<br />

Körper schlagen, aber du kannst weder das Gemüt strafen noch den kleinsten<br />

Wandel in ihm hervorrufen. Wenn das Gemüt vollständig von etwas erfüllt ist,<br />

dann ist es gleichgültig, was mit dem Körper geschieht – es berührt das Gemüt<br />

nicht. Das Gemüt ist unberührt von Gunsterweisen und Flüchen – so wie<br />

ein fest gegründeter Berg nicht von den Hörnern eines kleinen Wildtieres<br />

bewegt wird... Nicht der Körper erschafft das Gemüt, sondern das Gemüt<br />

erschafft den Körper. Das Gemüt allein ist der Same für den Körper – wenn<br />

der Baum stirbt, so doch nicht auch der Same; verdirbt jedoch der Same,<br />

dann auch der Baum. Sollte aber der Körper verderben, dann kann das Gemüt<br />

jederzeit neue Körper für sich selbst erschaffen.“DIE SONNE fuhr fort:<br />

Oh Herr, daraufhin ging der König zum Weisen Bharata und bat ihn darum,<br />

das widerspenstige Paar durch Verfluchen zu bestrafen. Und so sprach der<br />

Weise einen Fluch gegen das Paar aus. Doch antwortete dieses daraufhin dem<br />

Weisen und dem König: „Oh weh! Euer Verstehen ist nur gering! Durch diese<br />

III:90, 92<br />

129


unsere Verfluchung habt ihr nur die durch Bußübungen erworbenen Verdienste<br />

vergeudet. Euer Fluch wird gewiss unsere Körper zerstören, aber wir<br />

werden dadurch nicht den geringsten Schaden erleiden. Niemand kann das<br />

Gemüt anderer zerstören.“ Der Fluch des Weisen zerstörte ihre Körper. Während<br />

sie diese Körper verließen, wurden sie zusammen erst als Tiere und<br />

dann als Vögel, und anschließend als menschliches Paar in einer heiligen<br />

Familie wiedergeboren. Seitdem werden sie aufgrund der vollkommenen<br />

Liebe und Hingabe füreinander als Gemahl und Gemahlin wiedergeboren.<br />

Durch die erlesene Liebe und Hingabe dieses Paares wurden sogar die Bäume<br />

im Wald inspiriert und berührt.<br />

Sogar die Verfluchung des Weisen vermochte keine Veränderung im Gemüt<br />

des Paares hervorzurufen. Ebenso, oh Herr, kannst auch du nicht in die<br />

Schöpfung der zehn Söhne des heiligen Mannes eingreifen. Was verlierst du<br />

dadurch, dass diese mit ihren eigenen Schöpfungen beschäftigt sind? Lass<br />

ihnen diese mit ihrem eigenen Verstand erschaffenen Dinge! Sie können<br />

durch dich genauso wenig zerstört werden wie eine Reflektion in einem<br />

Kristall.<br />

Oh Herr, erschaffe in deinem eigenen Bewusstsein die Welt deiner Vorstellung.<br />

In Wahrheit sind das unendliche Bewusstsein, das Gemüt (das eigene<br />

Bewusstsein) und der unendliche Raum von einer einzigen Substanz, die vom<br />

unendlichen Bewusstsein durchdrungen wird. Daher kannst du unabhängig<br />

von dem, was diese jungen Männer geschaffen haben, so viele Welten erschaffen,<br />

wie du nur möchtest!<br />

BRAHMù sprach zu Vāsi«Âha:<br />

Nachdem ich diesen Rat der Sonne vernommen hatte, begann ich unverzüglich<br />

damit, die Welten zu erschaffen, denn dies war der natürliche Ausdruck<br />

meines eigenen Seins. Ich bat die Sonne darum, bei dieser Aufgabe mein<br />

erster Partner zu sein. So wurde sie zur Sonne in der Schöpfung der jungen<br />

Männer und die Vorfahrin der menschlichen Rasse in meiner eigenen Schöpfung.<br />

Sie spielte ihre Doppelrolle sehr wirkungsvoll. Entsprechend meinen<br />

Absichten brachte sie daher die Schöpfung all dieser Welten hervor. Was auch<br />

immer im Bewusstsein auftaucht, das gelangt auch scheinbar ins Sein, verankert<br />

sich und trägt sogar noch Früchte! Darin besteht die Macht des Gemüts.<br />

So wie die Söhne des heiligen Mannes die Positionen als Schöpfer der Welt<br />

aufgrund der Macht ihres Gemüts erlangten, so wurde ich auf dieselbe Weise<br />

zum Schöpfer der Welt. Es ist das Gemüt, welches hier die Dinge geschehen<br />

lässt. Es bringt die Erscheinung des Körpers usw. hervor. Nichts anderes ist<br />

sich des Körpers bewusst.<br />

DER SCHÖPFER BRAHMù sprach:<br />

Das individualisierte Bewusstsein (Gemüt) trägt in sich selbst mannigfaltige<br />

Möglichkeiten, so wie Gewürz den Geschmack in sich trägt. Es ist dieses Bewusstsein,<br />

welches dann als der subtile oder ätherische Körper erscheint.<br />

Wird dieser dann grob, dann nimmt er die Erscheinungsform des physischen<br />

130


III:92<br />

oder materiellen Körpers an. Dieses individualisierte Bewusstsein ist als der<br />

jīva bzw. die individuelle Seele bekannt, so lange sich diese Möglichkeiten in<br />

einem extrem subtilen Zustand befinden. Und sobald alle diese Tricks des jīva<br />

aufhören, dann leuchtet er als das Höchste Sein. Weder bin ich noch ist da<br />

irgendetwas anderes in diesem Universum – all dies ist nichts als das unendliche<br />

Bewusstsein. So wie die Absichten der jungen Männer sich manifestierten,<br />

so ist all dies nur Erscheinung, basierend auf dem unendlichen Bewusstsein.<br />

Es war die Absicht der jungen Männer, die ihnen das Gefühl gab, die<br />

Schöpfer zu sein – ebenso ist es auch mit mir.<br />

Das reine und unendliche Bewusstsein stellt sich selbst als der jīva und das<br />

Gemüt vor und hält sich dann für den Körper. Wenn diese traumartige Wahnvorstellung<br />

verlängert wird, dann fühlt sich dieser lange Traum als wirklich<br />

an! Er ist gleichzeitig wirklich und unwirklich – da er wahrgenommen wird,<br />

erscheint er als wirklich, aber aufgrund der eingeborenen Widersprüche ist<br />

er unwirklich. Das Gemüt ist fühlend, weil es auf dem Bewusstsein gründet.<br />

Wird es dagegen als getrennt vom Bewusstsein gesehen, dann ist es leblos<br />

und irregeführt. Sobald es Wahrnehmung gibt, übernimmt das Gemüt die<br />

Rolle des Objektes der Wahrnehmung. Dies ist jedoch nicht wirklich – wenn<br />

das Schmuckstück als Schmuckstück gesehen wird, dann wird es als solches<br />

wahrgenommen, obwohl die Wahrheit darin besteht, dass es Gold ist.<br />

Denn Brahman allein ist all dieses. Sogar dasjenige, was als leblos erscheint,<br />

ist reines Bewusstsein. Jedoch wir alle, von mir selbst bis zu dem Stein, sind<br />

undefinierbar – weder leblos noch fühlend. Es kann keine Wahrnehmung von<br />

zwei völlig verschiedenen Dingen geben, denn Wahrnehmung ist nur dann<br />

möglich, wenn es eine Ähnlichkeit zwischen Subjekt und Objekt gibt. Wenn<br />

man das in Betracht zieht, was undefinierbar und dessen Existenz ungewiss<br />

ist, dann sind Worte wie „leblos“ und „fühlend“ nur Worte ohne jede Bedeutung.<br />

Was das Gemüt betrifft, so spricht man vom Subjekt als fühlend und<br />

vom Objekt als leblos. So wandert der jīva, gefangen in der Täuschung, umher.<br />

In Wahrheit ist jedoch diese Dualität selbst nichts als die Schöpfung des Gemüts<br />

– eine Halluzination. Natürlich können wir andererseits auch nicht mit<br />

Gewissheit sagen, ob diese Halluzination als solche überhaupt existiert. Nur<br />

das unendliche Bewusstsein IST.<br />

Wenn diese illusorische Trennung nicht als das erkannt wird, was sie ist,<br />

dann entsteht daraus der irreführende Ich-Sinn. Sobald das Gemüt jedoch<br />

seine eigene Natur zu erforschen beginnt, verschwindet diese Getrenntheit.<br />

Dann gibt es die Verwirklichung des einen, unendlichen Bewusstseins, und so<br />

erlangt man große Seligkeit.<br />

VASIåèHA fragte Brahmā:<br />

Oh Herr, wie ist es möglich, dass der Fluch des Weisen Indras Körper, aber<br />

nicht sein Gemüt angreifen konnte? Wenn der Körper wirklich nicht verschieden<br />

vom Gemüt ist, dann müsste der Fluch doch auch das Gemüt angreifen<br />

können. Sei so freundlich und erkläre mir, weshalb das Gemüt nicht oder<br />

vielleicht tatsächlich doch betroffen war!<br />

131


DER SCHÖPFER BRAHMù sprach:<br />

Mein Teurer, im Universum besitzt alles, von Brahmā bis zu einem Berg, einen<br />

zweifachen Körper. Von diesen beiden ist der erste der mentale Körper,<br />

der ruhelos ist und sich schnell bewegt. Der zweite ist der aus Fleisch gemachte<br />

Körper, der als solcher nicht wirklich tätig ist. Von diesen beiden wird<br />

der letztere von Verfluchungen und ebenso auch von Gunsterweisen oder<br />

Zaubersprüchen überwältigt. Dieser Körper ist stumpf, kraftlos, schwach und<br />

vergänglich wie ein an einem Lotosblatt hängender Wassertropfen. Er ist<br />

gänzlich von Schicksal und Vorsehung und ähnlichen Faktoren abhängig. Das<br />

Gemüt jedoch ist unabhängig, obwohl es abhängig zu sein scheint. Sobald<br />

dieses Gemüt sich zuversichtlich der Eigenbemühung widmet, befindet es<br />

sich außerhalb der Reichweite des Kummers. Wann immer es nach etwas<br />

strebt, trifft es mit Sicherheit auch auf die Früchte seines Strebens.<br />

Der physische Körper erreicht überhaupt nichts. Es ist der mentale Körper,<br />

der die Ergebnisse erlangt. Sobald das Gemüt beständig in dem ruht, was rein<br />

ist, wird es unempfindlich gegenüber den Wirkungen von Flüchen. Der Körper<br />

mag ins Feuer oder in den Schlamm fallen, aber das Gemüt erfährt immer<br />

nur das, worüber es kontempliert. Demonstriert wurde dies von Indra. Demonstriert<br />

wurde es weiterhin von dem Weisen Dīrghatapā, der religiöse<br />

Riten auszuführen wünschte und nach den Materialien dafür suchte, dabei<br />

aber in einen toten Brunnen fiel. Er führte dann die Riten auf mentale Weise<br />

aus und erlangte daraufhin die Frucht, die sich andernfalls aus der körperlichen<br />

Ausübung der Riten ergeben hätte. Auch die zehn Söhne des heiligen<br />

Mannes waren in der Lage, die Brahmā-schaft nur durch ihre mentalen Anstrengungen<br />

zu erlangen – nicht einmal ich konnte dies verhindern.<br />

Mentale und körperliche Krankheit wie auch Flüche oder der „böse Blick“<br />

berühren das Gemüt, welches dem Selbst ergeben ist, so wenig wie eine Lotosblüte<br />

einen Felsblock spalten könnte, auf den sie herabfällt. Daher sollte<br />

man mit dem Gemüt das Gemüt dazu anhalten, den Pfad der Reinheit einzuschlagen,<br />

und mit dem Selbst das Selbst veranlassen, den Weg der Reinheit zu<br />

gehen. Was auch immer das Gemüt kontempliert, das materialisiert sich<br />

unverzüglich. Durch intensive Kontemplation vermag es, in sich selbst radikale<br />

Umwälzungen hervorzubringen und so sich von den falschen Sichtweisen<br />

zu heilen, aufgrund derer Illusionen als Realität wahrgenommen werden. Was<br />

immer das Gemüt macht, das erfährt es als Wahrheit. Es lässt geschehen, dass<br />

der im Mondlicht sitzende Mann Hitze erfährt, und es lässt es geschehen, dass<br />

ein Mann in der Sonne das Behagen der Kühle empfindet!<br />

Darin besteht diese mysteriöse Macht des Gemüts.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So wurde ich in den alten Zeiten von Brahmā, dem Schöpfer, unterrichtet,<br />

und so habe ich es jetzt an dich weitergegeben, oh Rāma.<br />

Da das absolute Brahman in seinem undifferenzierten Zustand alles durchdringt,<br />

befindet sich auch alles in einem undifferenzierten Zustand. Sobald<br />

III:93<br />

132


III:94<br />

sich dieses aufgrund seiner selbst verdichtet, wird das kosmische Gemüt<br />

geboren. In diesem Gemüt entsteht sodann der Wunsch nach der Existenz der<br />

verschiedenen Elemente in ihrem extrem subtilen Zustand. Die Gesamtheit<br />

von all diesem ist dann die leuchtende kosmische Person, die als Brahmā der<br />

Schöpfer bekannt ist. Daher ist dieser Schöpfer nichts anderes als das kosmische<br />

Gemüt.<br />

Brahmā der Schöpfer sieht alles, was er zu sehen wünscht, in seinem eigenen<br />

Verstand, da er selbst die Natur des Bewusstseins hat. Er ist es (d. h.,<br />

Brahmā der Schöpfer), der dieses Nichtwissen, welches das differenzierende<br />

Prinzip des Universums darstellt, in die Existenz gerufen hat, und aufgrund<br />

dessen man das Selbst mit dem Nicht-Selbst verwechselt. Und es ist ferner<br />

aufgrund dieses Faktors des Nicht-Wissens, dass der Schöpfer dieses Universum<br />

(Berge, Grashalme, Wasser usw.) als die Vielfalt der verschiedenen Kreaturen<br />

erscheinen lässt. Aufgrund dessen erscheinen die Kreaturen, anscheinend<br />

geboren aus atomischen Teilchen und Molekülen, obwohl dieses gesamte<br />

Universum nichts als unendliches Bewusstsein ist.<br />

Daher, oh Rāma, sind sämtliche Objekte und Substanzen dieses Universum<br />

aufgetaucht in Brahman dem Absoluten; so wie Wellen sich im Ozean manifestieren.<br />

In diesem manifestierten Universum nimmt das Gemüt Brahmās<br />

des Schöpfers sich selbst als das Ego wahr. Auf diese Weise wird dann aus<br />

Brahmā, dem kosmischen Gemüt, Brahmā der Schöpfer des Universums. Es<br />

ist nur diese Macht des kosmischen Gemüts, die als die verschiedenen Kräfte<br />

des Universums erscheint. In diesem kosmischen Gemüt manifestieren sich<br />

selbst zahllose verschiedene Kreaturen, die dann als die verschiedenen jīvas<br />

bezeichnet werden.<br />

Sobald diese verschiedenen jīvas im unendlichen Raum des Bewusstseins<br />

auftauchen, anscheinend selbst aus den Elementen zusammengesetzt, tritt in<br />

jeden dieser Körper durch die Öffnung der Lebenskraft das Bewusstsein ein.<br />

Dadurch wiederum wird der Same all dieser bewegten und unbewegten<br />

Körper gebildet. So geschehen dann die individuellen Geburten, durch welche<br />

das individuelle Wesen dann zufällig (wie bei der landenden Krähe und der<br />

fallenden Kokosnuss) mit den verschiedenen potentiellen Kräften in Kontakt<br />

kommt, deren Spiel wiederum das Gesetz von Ursache und Wirkung usw.<br />

entstehen lässt. So geschieht der Aufstieg und Fall der Evolution. Von da an ist<br />

einzig und allein der Wunsch die Ursache von allem.<br />

Rāma, darin besteht dieser Urwald, der als die „Welterscheinung“ bekannt<br />

ist. Wer dessen Wurzel mit der Axt der Untersuchung (Selbsterforschung)<br />

durchtrennt, wird von ihm befreit. Einige gelangen sehr schnell zu diesem<br />

Verstehen, andere dagegen erst nach einer sehr langen Zeit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, ich werde dir nun die Unterteilung der Wesen in die Besten, die<br />

Schlechtesten und die Mittleren beschreiben, die am Beginn dieses Zyklus der<br />

Erschaffung entstanden ist.<br />

133


III:95<br />

Die Ersten und Herausragenden unter den Geschöpfen entstehen aus der<br />

Tugend heraus. Sie sind von Natur aus gut und den guten Taten ergegeben.<br />

Sie erlangen die Befreiung in einigen wenigen Lebensspannen. Sie sind angefüllt<br />

mit den Qualitäten der Reinheit und des Lichts (sattva). Dann gibt es<br />

diejenigen, die voll von Unreinheiten sind, in denen die weltlichen Gewohnheiten<br />

stark und vielfältig sind, und die möglicherweise die Befreiung erst<br />

nach tausenden von Geburten erlangen. Diese sind die Geringeren unter den<br />

Guten. Unter diesen sind diejenigen, deren Befreiung innerhalb dieses Lebenszyklus<br />

zweifelhaft ist, denn es sind Wesen, die in dichter Finsternis leben.<br />

Die mittleren Typen sind diejenigen, die erfüllt sind von der Qualität des<br />

Dynamischen und des Verlangens (rājas). Solche Menschen, die so nahe an<br />

der Befreiung sind, dass sie diese beim Verlassen dieser Welt erlangen können,<br />

zeigen eine Mischung aus rājas und sattva. Wenn jedoch die rājasische<br />

(das leidenschaftliche Verlangen) Neigung so stark ist, dass ihre Sublimierung<br />

längere Zeit in Anspruch nimmt, dann sind sie gänzlich rājasisch. Ist jedoch<br />

die rājasische Tendenz extrem stark, dann geht sie in die Finsternis (tamas)<br />

über. Im Fall derjenigen, deren Befreiung so fernab liegt, dass sie zweifelhaft<br />

wird, geht die Qualität von rājas in die dichte Finsternis über.<br />

Diejenigen, die auch nach tausend Geburten immer noch unerleuchtet in<br />

der Finsternis verweilen, werden die Wesen der Finsternis genannt (tamas).<br />

Sie brauchen eine lange, lange Zeit, um die Befreiung zu erlangen. Sobald die<br />

Befreiung in ihre Reichweite gelangt, wird ihr tamas mit sattva vermischt.<br />

Wenn sie dann der Befreiung immer näher kommen, wird ihr tamas mit rājas<br />

vermischt. Und wenn dann nach hunderten von Geburten die Befreiung noch<br />

weitere hundert Geburten entfernt liegt, dann sind sie voll von tamas. Wenn<br />

die Befreiung zweifelhaft ist, dann befinden sie sich in dichter Finsternis.<br />

(Dieses Kapitel scheint nahezulegen, dass sattva, rājas und tamas in sich<br />

selbst nicht Hindernisse zur Befreiung darstellen, sondern dass es die weiteren<br />

Modifikationen aufgrund von falschem Denken und falschem Handeln<br />

sind, die die Befreiung immer weiter hinausschieben. — S.V.)<br />

Alle diese Wesen sind im absoluten Brahman entstanden, als es eine nur<br />

ganz geringfügige Störung in dessen Gleichgewicht gab – so wie Wellen auf<br />

der Oberfläche des Ozeans entstehen. So wie der Raum in einem Topf, der<br />

Raum in einem Zimmer und der Raum in einem kleinen Loch integraler Bestandteil<br />

des kosmischen Raums ist, so sind auch diese Wesen nichts als das<br />

unendliche Wesen, in dem es keine Teile gibt. Und da sie in ihm entstanden<br />

sind, gehen sie auch wieder in es ein. Somit scheinen alle diese Wesen durch<br />

den Willen des unendlichen Brahman aufzutauchen und sich in ihm wieder<br />

aufzulösen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Handlung und Täter der Handlung tauchen gleichzeitig und spontan im<br />

höchsten Sein auf, so wie Blüte und Duft gleichzeitig auftauchen. Es geschieht<br />

jedoch nur in den Augen der Unwissenden, dass die Schöpfung der jīvas als<br />

134


wirklich erscheint, so wie die Unwissenden Bläue im Himmel sehen! Für den<br />

Erleuchteten sind Aussagen wie „Jīvas sind aus Brahman entstanden“ oder<br />

„Jīvas sind nicht aus Brahman entstanden“ gleichermaßen bedeutungslos.<br />

Nur für den Zweck der Unterweisung wird der Dualismus hilfsweise unterstellt,<br />

denn andernfalls ist eine Unterweisung unmöglich. Nachdem der Lehrer<br />

herausgestellt hat, dass jīvas aus Brahman heraus entstanden sind, zeigt<br />

er auf, dass die Wirkung nicht verschieden von der Ursache ist und deshalb<br />

die jīvas nicht verschieden von Brahman sind. Alle diese scheinen nur aus<br />

Brahman geboren zu sein, ebenso wie der Duft aus der Blüte geboren zu sein<br />

scheint. Und sie gehen in das Brahman auf dieselbe Weise wieder ein, wie die<br />

Jahreszeiten „ineinander übergehen“!<br />

Zusammen mit jeder Spezies, die sich selbst im Universum manifestiert,<br />

wird gleichzeitig auch ihr natürliches Verhalten geboren. Es ist nur ihre Unwissenheit<br />

bezüglich ihrer eigenen essenziellen Natur, die zu einem Verhalten<br />

oder einer Handlung führt, die dann zur Ursache einer Reaktion in einer<br />

späteren Geburt wird.<br />

RùMA sagte:<br />

Heiliger Herr, wahrhaftig sind es die Erklärungen der Weisen, deren Gemüter<br />

unvoreingenommen sind, die den Inhalt der Schriften bilden. Und diejenigen,<br />

deren Herzen rein und deren Sichtweise nicht von Getrenntheit getrübt<br />

ist, werden wahrlich als Weise bezeichnet. Die unreife Person kann nur mit<br />

der Hilfe der Schriften und der Erkenntnis einer erleuchteten Person die<br />

Hoffnung hegen, das Licht der Wahrheit zu erblicken. Heiliger Herr, wir sehen,<br />

dass in dieser Welt der Same vom Baum und der Baum aus dem Samen<br />

geboren wird. Ist es dann angemessen zu behaupten, dass ohne Samen aus<br />

früherem karma verschiedene Wesen aus dem absoluten Brahman entstehen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Wenn du aufmerksam beobachtest, oh Rāma, wirst du feststellen, dass nur<br />

aufgrund des in die Tätigkeit involvierten Gemüts diese Handlung ihre eigene<br />

Frucht erzeugt. Daher ist das Gemüt der Same der Handlung. Ebenso geschah<br />

es, dass bei der Manifestierung des kosmischen Gemüts im absoluten Brahman<br />

gleichzeitig die natürlichen Neigungen der verschiedenen Wesen und<br />

ihre vielfältigen Verhaltensweisen geboren und dann die verkörperten Wesen<br />

als die jīvas angesehen wurden. Zwischen Gemüt und Handlung gibt es keine<br />

Getrenntheit. Bevor die Handlung als solche projiziert wird, taucht sie im<br />

Gemüt auf, wobei das Gemüt selbst ihr „Körper“ ist. Daher ist die Handlung<br />

nichts anderes als die Bewegung von Energie im Bewusstsein – sie führt<br />

unvermeidlicherweise zu ihren eigenen Früchten. Wenn solches Handeln an<br />

sein Ende gelangt, gelangt auch das Gemüt an sein Ende, und wenn das Gemüt<br />

aufhört zu sein, gibt es auch kein Handeln. Dies betrifft nur den befreiten<br />

Weisen, aber nicht andere.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

III:96<br />

135


III:97<br />

Gemüt ist nichts als Wahrnehmung – und Wahrnehmung ist Bewegung im<br />

Bewusstsein. Der Ausdruck dieser Bewegung ist Handlung, und daraus erfolgen<br />

die Früchte. Das Gemüt ist eine Absicht, die im allmächtigen und unendlichen<br />

Bewusstsein auftaucht. Es (das Gemüt) steht sozusagen zwischen dem<br />

Wirklichen und dem Unwirklichen. Es steht aber der Fähigkeit des Verstehens<br />

nahe. Obschon nicht verschieden vom unendlichen Bewusstsein, denkt es, es<br />

sei verschieden. Obschon nicht-tätig, hält es sich selbst für tätig. Solcher Art<br />

ist das Gemüt, und diese seine Qualitäten sind von ihm selbst untrennbar. Auf<br />

dieselbe Weise sind auch der jīva und das Gemüt untrennbar.<br />

Woran auch immer das Gemüt denkt, das versuchen die Organe der Handlung<br />

sofort zu materialisieren – folglich ist das Gemüt nichts als Handlung.<br />

Jedoch sind Worte wie Gemüt, Intellekt, Ich-Sinn, individualisiertes Bewusstsein,<br />

Handlung, Einbildung, Geburt und Tod, latente Neigungen, Erkenntnis,<br />

Bemühung, Erinnerung, die Sinne, Natur, Māyā oder Illusion, Aktivität und<br />

andere Worte dieser Art nichts als Worte ohne eine dazugehörige Realität –<br />

die einzige Realität ist stets nur das unendliche Bewusstsein, in dem diese<br />

Konzepte als existierend wahrgenommen werden. Alle diese Konzepte sind<br />

aufgetaucht, als das unendliche Bewusstsein in einem Moment der Selbstvergessenheit<br />

aufgrund einer Koinzidenz (die Krähe, die die Kokosnuss gelöst<br />

hat) sich selbst als Objekt der Wahrnehmung erblickt hat.<br />

Wenn dann dasselbe Bewusstsein, verdunkelt von der Unwissenheit, in einem<br />

erregten Zustand Vielfalt wahrnimmt und Objekte zu identifizieren<br />

beginnt, dann nennt man dies das Gemüt. Das, was fest in der Überzeugung<br />

einer bestimmten Wahrnehmung verwurzelt ist, nennt man den Intellekt<br />

(bzw. den Verstand). Wenn er sich selbst unwissenderweise und<br />

närrischerweise als real existierendes, getrenntes Individuum betrachtet,<br />

dann wird dies Ich-Sinn genannt. Wenn es die beständige Erforschung aufgibt<br />

und sich selbst dem Spiel der zahllosen Gedanken, die kommen und gehen,<br />

hingibt, dann wird es als das individualisierte Bewusstsein (bzw. als das Spiel<br />

der Gedankenwellen) bezeichnet.<br />

Während die reine Bewegung im Bewusstsein karma oder Tun ohne einen<br />

unabhängigen Handelnden ist, so wird, sobald die Frucht dieser Handlung<br />

verfolgt wird, dies auch als karma, aber mit einem Handelnden, bezeichnet.<br />

Wenn das Bewusstsein in Verbindung mit etwas Gesehenem oder Ungesehenem<br />

die Wahrnehmung „Ich habe dies schon früher gesehen“ unterhält, wird<br />

es als Erinnerung bezeichnet. Wenn die Wirkungen vergangener Vergnügen<br />

im Feld des Bewusstseins verbleiben, obwohl die Wirkungen selbst nicht<br />

gesehen werden, dann wird dies als latente Neigungen (bzw. Potentialität)<br />

bezeichnet. Wenn es der Wahrheit bewusst ist, dass die Sichtweise der<br />

Getrenntheit das Ergebnis der Unwissenheit ist, wird es als Erkenntnis bezeichnet.<br />

Wenn es sich andererseits in die falsche Richtung bewegt, in Richtung<br />

vermehrter Selbstvergessenheit und tieferer Involviertheit in täuschende<br />

Phantasien, dann wird es als Unreinheit bezeichnet. Wenn es das innewohnende<br />

Selbst mit Sinnesempfindungen unterhält, dann wird es als die<br />

136


Sinne (indriya) bezeichnet. Wenn es unmanifestiert im kosmischen Sein verbleibt,<br />

wird es als Natur bezeichnet. Sobald es Verwirrung zwischen Wesen<br />

und Erscheinungsform stiftet, wird es Māyā (Illusion) genannt. Sobald es<br />

denkt „Ich bin gebunden“, ist da Gebundenheit; wenn es denkt „Ich bin frei“,<br />

ist da Freiheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn das Licht des Bewusstseins von der festen Überzeugung der Existenz<br />

des Gemüts verfinstert wird, dann ist dies in der Tat nichts als das Gemüt.<br />

Dieses Gemüt verkörpert sich selbst als die verschiedenen Wesen – Menschen,<br />

Götter, Halbgötter und himmlische Wesen. Dann breitet es sich selbst<br />

als die verschiedenen Formen des Verhaltens aus, wie auch als Städte, Dörfer<br />

usw. Wenn dies die Wahrheit ist – welchen Sinn hat es dann, alle diese äußeren<br />

Erscheinungsformen zu erforschen? Nur das Gemüt selbst ist der sinnvolle<br />

Forschungsgegenstand. Denn sobald wir die Natur des Gemüts erforschen,<br />

können wir sämtliche erzeugten Objekte bzw. alle die Erscheinungsformen<br />

als dessen Schöpfungen sehen. Nur das unendliche Bewusstsein wird nicht<br />

durch das Gemüt erschaffen. Wenn das Gemüt tief erforscht wird, dann wird<br />

es in sein Substrat absorbiert, und sobald es absorbiert ist, findet es die<br />

höchste Seligkeit.<br />

Wenn daher das Gemüt aufgelöst ist, geschieht die Befreiung und es gibt<br />

keinerlei Wiedergeburt mehr, denn es war das Gemüt allein, welches Geburt<br />

und Tod für wahr hielt.<br />

(Vicāra, üblicherweise mit „Erforschen“ übersetzt, ist „unmittelbares Beobachten“.)<br />

RùMA fragte erneut:<br />

Bitte, oh Herr, wie konnte dies alles im reinen unendlichen Bewusstsein geschehen?<br />

Wie war es dem Gemüt, welches anscheinend aus einer Mischung<br />

von wirklich und unwirklich besteht, möglich, darin zu erscheinen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, Raum ist dreifach, nämlich der unendliche Raum des ungeteilten<br />

Bewusstseins, der endliche Raum des geteilten Bewusstseins und der physische<br />

Raum, in dem die materielle Welt existiert. Der unendliche Raum des<br />

ungeteilten Bewusstseins (cid ákasa) existiert in allem (und zwar innen wie<br />

außen) als der reine Zeuge von dem, was real und dem, was nur scheinbar ist.<br />

Der endliche Raum des geteilten Bewusstseins (citta ākāśa) ist das, was die<br />

Unterteilungen der Zeit erschafft, was alle Wesen durchdringt, und was für<br />

das Wohlergehen aller Wesen sorgt. Der physische Raum ist das, in dem<br />

sämtliche anderen Elemente (Luft usw.) existieren. Die beiden letzteren sind<br />

nicht unabhängig vom ersteren, dem unendlichen Raum des ungeteilten<br />

Bewusstseins. Tatsächlich existieren die anderen überhaupt nicht, und diese<br />

Unterteilung des Bewusstseins in drei ist rein willkürlich – sie dient lediglich<br />

zum Zweck der Unterweisung der Unwissenden. Der Erleuchtete weiß, dass<br />

es nur eine einzige Wirklichkeit gibt – das unendliche Bewusstsein.<br />

137


Rāma, wenn das Bewusstsein denkt: „Ich bin intelligent“ oder „Ich bin leblos“,<br />

dann ist dies das Gemüt. Es kommt von dieser falschen Wahrnehmung,<br />

dass alle die sonstigen physischen und psychologischen Faktoren imaginär<br />

erzeugt werden.<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom Großen Wald<br />

III:98<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, was auch immer der Ursprung des Gemüts sei, und wie auch immer<br />

es beschaffen sei – stets sollte man es in Richtung der Befreiung durch<br />

Eigenbemühung lenken. Das reine Gemüt ist frei von latenten Neigungen und<br />

erlangt daher die Selbsterkenntnis. Da sich das gesamte Universum im Gemüt<br />

befindet, befindet sich die Vorstellung von Bindung und Befreiung ebenfalls<br />

in ihm. In diesem Zusammenhang mag die folgende Geschichte interessant<br />

sein, die ich vom Schöpfer Brahmā selbst gehört habe. Höre aufmerksam zu:<br />

Es gab einmal einen großen Wald, ein Wald von solcher Größe, dass darin<br />

eine Million Quadratmeilen nur wie der Raum innerhalb eines Atoms waren.<br />

Darin gab es nur einen einzigen Menschen, mit tausenden von Armen und<br />

Gliedern. Dieser war für immer zu Ruhe- und Rastlosigkeit verdammt. Er<br />

hatte eine Keule in der Hand, mit der er sich selbst schlug und, erschreckt von<br />

seinem eigenen Schlagen, voller Panik davonlief. Er fiel dann in einen toten<br />

Brunnen. Er kletterte aus demselben heraus, schlug sich selbst wieder und<br />

wieder, und rannte wieder panikerfüllt davon, diesmal in ein Gehölz. Er kam<br />

dort wieder heraus, schlug sich erneut und rannte erneut im Schrecken davon,<br />

diesmal in einen Bananenhain. Obgleich es weit und breit kein anderes<br />

Wesen gab, vor dem er Angst hätte haben müssen, weinte und schrie er laut<br />

vor Furcht. So rannte er und schlug sich die ganze Zeit.<br />

Ich betrachtete dies eine Zeitlang und hielt ihn dann schließlich durch die<br />

Kraft meines Willens einen Moment lang zurück. Ich fragte ihn: „Wer bist du?“<br />

Jedoch war er so verzweifelt, dass er mich seinen Feind nannte, laut weinte<br />

und dann plötzlich wieder laut auflachte. Daraufhin begann er nach und nach,<br />

Glied für Glied, seinen Körper abzulegen.<br />

Gleich darauf, nachdem dies geschehen war, sah ich einen anderen wie den<br />

ersten herumlaufen, sich selbst schlagen und jammern. Als ich ihn auf ähnliche<br />

Weise wie den ersten zurückzuhalten versuchte, beschimpfte er mich und<br />

lief davon – ohne nach rechts oder links zu schauen. Auf diese Weise begegneten<br />

mir mehrere dieser Personen. Einige hörten meinen Worten zu und gaben<br />

diese Art zu leben auf – sie wurden erleuchtet. Andere wiederum ignorierten<br />

oder verachteten mich sogar. Wieder andere weigerten sich strikt, aus ihrem<br />

toten Brunnen zu klettern oder die dichten Gehölze zu verlassen.<br />

138


Und so ist dieser riesige Wald, oh Rāma – niemand vermag darin einen sicheren<br />

Ruheplatz zu finden, wie sehr er auch immer danach sucht, und wie<br />

viel verschiedene Lebensweisen er auch ausprobieren mag. Noch heute findest<br />

du in dieser Welt solche Leute, und auch du selbst hast dieses Leben der<br />

Unwissenheit und Täuschung kennen gelernt. Weil du noch jung und unwissend<br />

bist, kannst du es nicht verstehen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, weder ist dieser riesige Wald weit entfernt noch befindet sich<br />

diese verrückte Person in einem verrückten Land! Denn diese Welt selbst ist<br />

dieser Wald. Sie ist nichts als eine große Leere – gesehen wird diese Leere<br />

jedoch nur im Licht der Selbsterforschung. Das Licht der Selbsterforschung<br />

ist das „Ich“ in der Geschichte. Akzeptiert wird diese Weisheit von einigen,<br />

und von anderen zurückgewiesen, die dann weiterleiden. Diejenigen, die sie<br />

akzeptieren, sind erleuchtet.<br />

Die Person mit den tausenden von Armen ist das Gemüt mit seinen zahllosen<br />

Manifestationen. Dieses Gemüt bestraft sich selbst durch seine latenten<br />

Neigungen und wandert ruhelos in dieser Welt umher. Der tote Brunnen in<br />

der Geschichte ist die Hölle, und der Bananenhain der Himmel. Das dichte<br />

Gehölz aus Dornenbüschen ist das Leben des weltlichen Menschen mit seinen<br />

zahlreichen Dornen aus Frau, Kindern, Besitz usw. die ihn die ganze Zeit über<br />

quälen. Einmal wandert das Gemüt in die Hölle, dann wieder in den Himmel,<br />

und schließlich in die Welt der menschlichen Wesen.<br />

Sogar dann, wenn das Licht der Weisheit das Leben des irregeführten Gemüts<br />

beleuchtet, weist dieses die Weisheit törichterweise zurück und sieht<br />

sie sogar noch als seinen Feind an. Dann jammert und heult es verzweifelt.<br />

Manchmal erfährt es ein teilweises Erwachen und weist die Vergnügen dieser<br />

Welt ohne klares Verstehen zurück. Und diese Art der Entsagung wird dann<br />

zu einer weiteren Quelle von Kummer. Sobald jedoch eine Entsagung aus der<br />

Fülle des Verstehens und aus der Weisheit der tiefgründigen Erforschung des<br />

Gemüts hervorgeht, führt sie zur höchsten Seligkeit. Ein solches Gemüt betrachtet<br />

unter Umständen sogar seine eigenen, früheren Vorstellungen von<br />

Vergnügen mit Verblüffung. So wie die Glieder der Person nach dem Abschneiden<br />

wegfallen und verschwinden, so verschwinden auch die latenten<br />

Neigungen der Person, die auf weise Art der Welt entsagt hat, aus dem Gemüt.<br />

Sieh nur dieses Spiel der Unwissenheit! Wie es macht, dass sich der Unvorsichtige<br />

aus eigenem, freien Willen verletzt, und wie es macht, dass man<br />

wieder und wieder in sinnloser Panik umherrennt! Obgleich das Licht der<br />

Selbsterkenntnis in jedem Herzen leuchtet, wandert man doch, getrieben von<br />

den eigenen latenten Neigungen, in dieser Welt hin und her. Und das Gemüt<br />

selbst verstärkt noch all diesen Kummer und stachelt einen an, sich dauernd<br />

im Kreis zu drehen. Durch seine eigenen Launen und Wahnvorstellungen,<br />

Gedanken und Hoffnungen, bindet es sich selbst. Wenn die Sorgen es heimsuchen,<br />

wird es verzweifelt und rastlos.<br />

III:99<br />

139


III:100<br />

Jemand, der die Weisheit erlangt, sie lange Zeit hindurch behütet hat und<br />

ausdauernd der Praxis der Erforschung nachgeht, erfährt keinerlei Kummer.<br />

Ein unkontrolliertes Gemüt ist die Quelle der Sorgen. Wird es dagegen tiefgründig<br />

verstanden, dann verschwindet das Leid wie Nebel in der Morgensonne.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das individualisierte Bewusstsein (das Gemüt) ist im Höchsten Sein aufgetaucht,<br />

oh Rāma – es ist gleichzeitig verschieden und nicht-verschieden vom<br />

unendlichen Bewusstsein, so wie eine Welle verschieden und nichtverschieden<br />

vom Ozean ist. Für den Erleuchteten gibt es nur das absolute<br />

Brahman und sonst nichts. Für den Unerleuchteten ist das Gemüt die Quelle<br />

des Lebenszyklus (saæsāra). Wenn wir dualistische Konzepte verwenden, oh<br />

Rāma, so geschieht dies ausschließlich zur Erleichterung der Unterweisung,<br />

denn die Getrenntheit ist irreal.<br />

Das absolute Brahman ist allmächtig – es gibt nichts, was außerhalb von<br />

ihm ist. Es ist seine eigene Kraft oder Energie, die alle Dinge durchdringt. In<br />

den verkörperten Wesen ist es cit-śakti (die Macht des Bewusstseins oder des<br />

Geistes). Es ist die Bewegtheit der Luft, die Festigkeit der Erde, die Leere im<br />

Raum, und es ist die Macht des Selbstbewusstseins („Ich bin“) in den erschaffenen<br />

Wesen. All dies ist nichts anderes als die Macht des absoluten Brahman.<br />

Es ist die Macht der Auflösung, die Macht, die den Kummer im Beladenen und<br />

die Hochstimmung im Freudigen verursacht, es ist die Tapferkeit des Kriegers,<br />

es ist die Macht, die die Schöpfung hervorbringt, und dieselbe Macht<br />

bewirkt wiederum die Auflösung des Universums.<br />

Der jīva ist der Verbindungspunkt von Bewusstsein und Materie. Weil er<br />

eine Widerspiegelung des absoluten Brahman ist, sagt man von ihm, dass er<br />

in Brahman sei. Sieh das gesamte Universum wie auch das „Ich“ als das absolute<br />

Brahman, denn das Selbst (welches Brahman ist) ist allgegenwärtig.<br />

Wenn dieses Selbst zu denken beginnt, wird es als Gemüt bezeichnet. Es ist<br />

nichts anderes als die Macht des absoluten Brahman, welche nicht verschieden<br />

von Brahman ist. In diesem sind sämtliche willkürlichen Unterteilungen<br />

in „Ich“ und „dies“ nichts als scheinbar reale Reflektionen. Die einzige Realität<br />

des Gemüts ist Brahman allein.<br />

Hier und da, ab und zu manifestiert diese Macht Brahmans die eine oder<br />

andere seiner Kräfte. Jedoch alle diese Manifestationen sind nichts als die nur<br />

scheinbar reale Reflektion der Macht Brahmans – keine reale Schöpfung.<br />

Erschaffung, Umwandlung, Existenz und Zerstörung werden von Brahman in<br />

Brahman hervorgebracht – all dies ist nichts als Brahman. Die Werkzeuge von<br />

Handlung, Täter und Tat, Geburt, Tod und Existenz – all das ist nur Brahman.<br />

Nichts anderes ist – nicht einmal in der Vorstellung. Täuschung, Verlangen,<br />

Gier und Anhaftung sind inexistent – wie könnten sie existieren, wenn es<br />

keine Dualität gibt? Wenn Bindung inexistent ist, dann ist es natürlich auch<br />

die Befreiung.<br />

140


RùMA fragte: Heiliger Herr, du sagtest, dass das Gemüt materialisiert, woran<br />

es denkt. Nun jedoch sagst du, dass Bindung gar nicht existiere! Wie können<br />

diese beiden Aussagen vereinbart werden?<br />

VASIåèHA erwiderte: Oh Rāma, das Gemüt stellt sich im Zustand der Unwissenheit<br />

die Bindung nur vor. Die Bindung existiert nur in diesem Zustand<br />

der Unwissenheit. So wie Traumobjekte beim Erwachen des Träumers verschwinden,<br />

so existieren in den Augen des Erleuchteten all diese als Bindung<br />

und Befreiung bekannten Halluzinationen überhaupt nicht.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von den drei inexistenten Prinzen<br />

III:101<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die folgende interessante Legende illustriert dies. Höre gut zu. Ein kleiner<br />

Junge bat einmal sein Kindermädchen um eine Geschichte. Das Kindermädchen<br />

erzählte ihm die folgende Geschichte, der der Junge mit großer Aufmerksamkeit<br />

lauschte:<br />

Es gab einmal in einer Stadt, die nicht existierte, drei Prinzen, die sehr tapfer<br />

und glücklich waren. Zwei von ihnen waren noch nicht geboren, und der<br />

dritte noch gar nicht gezeugt. Leider starben alle ihre Verwandten. Die Prinzen<br />

verließen ihre Geburtsstadt, um irgendwo anders hinzugehen. Schon bald<br />

fielen sie wegen der großen Hitze in Ohnmacht. Ihre Füße wurden von heißem<br />

Sand verbrannt. Die Spitzen der Grashalme stachen sie. Sie erreichten<br />

die Schatten von drei Bäumen, von denen zwei überhaupt nicht existierten,<br />

während der dritte noch nicht einmal gepflanzt war. Nachdem sie dort einige<br />

Zeit geruht und die Früchte dieser Bäume gegessen hatten, gingen sie weiter.<br />

Sie erreichten die Ufer dreier Flüsse, von denen zwei trocken und der dritte<br />

ohne Wasser war. Die Prinzen nahmen ein erfrischendes Bad und stillten<br />

ihren Durst. Dann erreichten sie eine riesige Stadt, die gerade erbaut werden<br />

sollte. Sie betraten sie und fanden darin drei Paläste von außerordentlicher<br />

Schönheit. Von diesen waren zwei noch nicht gebaut, und der dritte hatte<br />

keine Mauern. Sie betraten die Paläste und fanden drei goldene Teller vor.<br />

Zwei davon waren entzwei gebrochen, und der dritte war pulverisiert. Sie<br />

nahmen den einen, der pulverisiert war. Sie nahmen ferner 99 Gramm minus<br />

100 Gramm Reis und kochten ihn. Dann luden sie drei heilige Männer als ihre<br />

Gäste ein, von denen zwei keinen Körper und der dritte keinen Mund hatte.<br />

Nachdem diese heiligen Männer das Essen zu sich genommen hatten, aßen<br />

die drei Prinzen den Rest der gekochten Nahrung. So waren sie in sehr angenehmer<br />

Stimmung. In dieser Stadt lebten sie eine lange Zeit in Frieden und<br />

141


Freude. Mein Kind, dies ist eine besonders schöne Legende. Bitte denke immer<br />

an sie, denn so wirst du zu einem gebildeten Mann heranwachsen.<br />

Oh Rāma, als der kleine Junge dies hörte, war er ganz begeistert.<br />

Was als die Schöpfung der Welt bezeichnet wird, ist nicht wirklicher als diese<br />

Geschichte. Diese Welt ist nichts als reine Halluzination. Sie ist wahrhaftig<br />

nicht mehr als eine bloße Idee. Im unendlichen Bewusstsein tauchte irgendwann<br />

die Idee der Schöpfung auf – und so entstand dann diese Welt, wie sie<br />

ist. Oh Rāma, diese Welt ist nichts als eine Idee – sämtliche Objekte des Bewusstseins<br />

in dieser Welt sind nur eine Idee. Weise diesen Makel der Ideenbildung<br />

von dir und sei frei von Ideen. Verbleibe fest verwurzelt in der Wahrheit<br />

und erlange den Frieden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nur ein Tor, aber nicht der weise Mensch, wird von seinen eigenen Ideen<br />

irregeführt. Nur ein Tor denkt, dass das Unvergängliche vergänglich werden<br />

kann, und so wird er getäuscht. Der Ich-Sinn ist nichts als eine Idee, die auf<br />

der falschen Verknüpfung des Selbst mit physischen Elementen beruht. Wenn<br />

in all diesem nur eines als das unendliche Bewusstsein existiert – wie kann<br />

dann etwas wie der Ich-Sinn auftauchen? Tatsächlich existiert dieser Ich-Sinn<br />

nicht anders als die Luftspiegelung in der Wüste. Gib daher, oh Rāma, deine<br />

unvollkommene Sichtweise auf, die nicht auf Fakten basiert. Verbleibe in der<br />

vollkommenen Sicht, die die Natur der Seligkeit hat und auf der Wahrheit<br />

gründet.<br />

Erforsche die Natur der Wahrheit. Gib die Falschheit auf. Du bist immer frei<br />

– weshalb nennst du dich selbst gebunden und trauerst? Das Selbst ist unendlich<br />

– weshalb, wie und durch wen sollte es gebunden sein? Im Selbst gibt es<br />

keinerlei Getrenntheit, da dieses absolute Brahman alles ist, was es gibt. Was<br />

heisst Bindung, und was heißt Befreiung? Nur im Zustand der Unwissenheit<br />

denkst du, dass du leidest, obwohl du in Wahrheit unberührt vom Schmerz<br />

bist. Diese Dinge existieren einfach nicht im Selbst.<br />

Lass den Körper fallen oder erstehen oder sogar in ein anderes Universum<br />

wandern. Ich bin nicht auf diesen Körper beschränkt – wie kann ich dann von<br />

all diesem berührt werden? Die Beziehung zwischen dem Körper und dem<br />

Selbst ist wie die Beziehung zwischen einer Wolke und dem Wind, wie zwischen<br />

dem Lotos und der Biene. Sobald die Wolke aufgelöst ist, wird der<br />

Wind eins mit dem unendlichen Raum. Wenn der Lotos verblüht, fliegt die<br />

Biene in den Himmel hinauf und davon. Das Selbst wird nicht zerstört, wenn<br />

der Körper vergeht. Nicht einmal das Gemüt hört auf – es vergeht erst, wenn<br />

es im Feuer der Selbsterkenntnis verbrannt wird.<br />

Der Tod ist nur die Verschleierung des immer gegenwärtigen Selbst durch<br />

Zeit und Raum. Nur Toren fürchten den Tod.<br />

Gib deine latenten Neigungen auf dieselbe Weise auf, wie ein Vogel, der in<br />

den Himmel fliegen will, seine Eierschale durchbricht. Geboren aus der Unwissenheit,<br />

sind diese Tendenzen schwer zu zerstören – sie geben Anlass zu<br />

III:102<br />

142


endlosem Kummer. Es ist nur diese unwissende, sich selbst begrenzende<br />

Tendenz des Gemüts, die das Unendliche als das Endliche sieht. Die Erforschung<br />

der Natur des Selbst jedoch löst diese durch Unwissenheit hervorgebrachte<br />

selbst-begrenzende Tendenz auf wie die Sonne den Nebel auflöst.<br />

Nur der ernsthafte Wunsch, diese Erforschung zu unternehmen, kann einen<br />

Wandel hervorbringen. Askese und ähnliche Praktiken sind in dieser Hinsicht<br />

nutzlos.<br />

Wenn das Gemüt durch zunehmende Weisheit von seiner Vergangenheit<br />

gereinigt wird, gibt es seine früheren Tendenzen auf. Das Gemüt sucht das<br />

Selbst nur, um sich selbst darin aufzulösen. Das ist in Wahrheit die Natur des<br />

Gemüts. Darin besteht das höchste Ziel, Rāma – strebe danach.<br />

Als der Weise geendet hatte, ging ein weiterer Tag zur Neige.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Lavaïa<br />

III:103,<br />

104<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Durch seine eigene Manifestation im unendlichen Bewusstsein hat sich das<br />

Gemüt aufgrund seiner eigenen Natur verzweigt und ausgebreitet. Aufgrund<br />

seiner Natur lässt es das Lange als kurz und umgekehrt erscheinen. Es lässt<br />

das Eigene als verschieden und umgekehrt erscheinen. Sogar ein winziges<br />

Ding vermag es durch Berührung ins Riesenhafte zu vergrößern und sich zu<br />

eigen zu machen. Während eines Augenblinzelns erschafft es zahllose Welten,<br />

und während eines Augenblinzelns zerstört es sie wieder. So wie ein geschickter<br />

Schauspieler verschiedene Rollen spielt, eine nach der anderen, so<br />

nimmt das Gemüt verschiedene Aspekte an, einen nach dem anderen. Es lässt<br />

das Unwirkliche als wirklich und umgekehrt erscheinen. Als Ergebnis davon<br />

erfährt man dann Leid oder Freude. Sogar das, was ihm auf natürliche Weise<br />

zufällt, ergreift es mit Händen und Füßen. Als Ergebnis dieses falschen Gefühls<br />

des persönlichen Besitzes erleidet es dann die Konsequenzen.<br />

Zeit, als die wechselnden Jahreszeiten bringt indirekt den Wandel in den<br />

Bäumen und Pflanzen hervor. Auf dieselbe Weise lässt das Gemüt die Dinge<br />

anders erscheinen, als sie sind, indem es seine Kräfte des Denkens und der<br />

Ideenbildung spielen lässt. Folglich stehen alle Dinge, sogar Zeit und Raum,<br />

unter der Kontrolle des Gemüts. In Abhängigkeit von seiner Aktivität oder<br />

Stumpfheit, und in Abhängigkeit von der Größe (klein oder groß) des erzeugten<br />

oder beeinflussten Objekts vermag das Gemüt alles geschehen zu lassen,<br />

was auch immer es früher oder später geschehen lassen will – es ist fähig,<br />

alles, was immer es auch sei, entstehen zu lassen.<br />

143


III:105,<br />

106<br />

Bitte, oh Rāma, höre eine andere interessante Geschichte, die dies verdeutlicht.<br />

In einem Land mit dem Namen Uttarāpāndava, in dessen Wäldern Weise<br />

lebten und dessen Dörfer schön und wohlhabend waren, regierte ein König<br />

mit Namen Lavaïa, ein Abkömmling des berühmten Herrschers Hariścandra.<br />

Er war rechtschaffen, edel, ritterlich, wohltätig und in jeder Hinsicht ein würdiger<br />

König. Seine Feinde waren alle besiegt – und ihre Nachfolger konnten<br />

nicht ohne Angst an ihn denken.<br />

Eines Tages kam dieser König zu seinen Hof und bestieg den Thron. Nachdem<br />

seine Minister und alle anderen ihm den schuldigen Respekt erwiesen<br />

hatten, betrat ein Zauberkünstler den Hof und grüßte ihn. Er sagte zum König:<br />

„Ich werde dir etwas Wunderbares zeigen!“ Und schon ließ er einen<br />

Strauß Pfauenfedern herumwirbeln. Daraufhin betrat ein Ritter den Hof, der<br />

ein herrliches Pferd mit sich führte. Er bat den König, dieses als ein Geschenk<br />

anzunehmen. Der Zauberkünstler forderte den König auf, das Pferd zu besteigen<br />

und nach Lust und Laune damit in der Welt umherzureiten. Der König<br />

betrachtete das herrliche Pferd.<br />

Nun schloss der König die Augen und saß bewegungslos da. Die ganze Versammlung<br />

wurde völlig still. Am Hof herrschte absolute Stille, da niemand<br />

den Frieden des Königs zu stören wagte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, nach einiger Zeit nun öffnete der König wieder die Augen und begann,<br />

wie vor Furcht zu zittern. Weil er zu stürzen drohte, eilten die Minister<br />

zu ihm, um ihn zu stützen. Erschreckt von ihrem Anblick sprach der König:<br />

„Wer seid ihr, und was tut ihr mit mir?“ Die beunruhigten Minister erwiderten<br />

ihm: „Herr, du bist ein mächtiger König voll Weisheit, und doch konnte dich<br />

diese Täuschung überwältigen. Was ist mit deinem Gemüt geschehen? Nur<br />

diejenigen, die an den bedeutungslosen Objekten dieser Welt und den falschen<br />

Beziehungen zu Frauen, Kindern usw. hängen, sind den mentalen Abirrungen<br />

unterworfen, jedoch nicht jemand wie du – hingegeben an das Höchste.<br />

Außerdem ist nur derjenige, der nicht die Weisheit kultiviert hat, nachteilig<br />

von Zaubersprüchen, Drogen usw. betroffen, nicht jedoch derjenige, dessen<br />

Gemüt voll entwickelt ist.“<br />

Als er dies vernahm, gewann der König seine frühere Haltung zurück, obwohl<br />

er den Zauberkünstler immer noch zitternd vor Furcht betrachtete. Er<br />

sprach zu ihm: „Oh du Zauberer, was hast du mit mir getan? Du hast ein Netz<br />

der Täuschung über mich geworfen. Wahrhaftig werden sogar die Weisen von<br />

Maya’s Zauberkunststücken überwältigt – so wie ich, obgleich in diesem<br />

Körper, innerhalb eines Augenblicks wundersame Halluzinationen erlebt<br />

habe.“ Der König wandte sich an die Mitglieder des Hofes und begann von den<br />

Erfahrungen der vergangenen Stunde zu berichten:<br />

„Sobald ich diesen Zauberer sah, der diesen Strauß Pfauenfedern herumwirbelte,<br />

schwang ich mich auf das Pferd, das vor mir stand, und erfuhr eine<br />

144


leichte mentale Täuschung. Nun ging ich auf eine Jagdexpedition. Das Pferd<br />

brachte mich ein eine trostlose Wüste, in der niemand lebte, nichts wuchs, wo<br />

es kein Wasser gab und wo es bitterkalt war. Ich durchlebte große Qualen.<br />

Dort verbrachte ich den ganzen Tag. Später ritt ich dann auf dem Pferd weiter,<br />

durchquerte die Wüste und betrat eine andere, die weniger öde war. Ich ruhte<br />

unter einem Baum. Das Pferd lief davon. Ich ruhte mich eine Weile aus, bis die<br />

Sonne unterging. Voll Angst versteckte ich mich in den Büschen. Die Nacht<br />

dauerte länger als eine Ewigkeit.<br />

Der Tag brach an. Die Sonne ging auf. Etwas später sah ich ein dunkelhäutiges<br />

Mädchen in schwarzen Kleidern, das einen Teller mit Essen in der Hand<br />

trug. Ich näherte mich ihr und bettelte sie um Essen an. Ich war sehr hungrig.<br />

Sie beachtete mich nicht – ich verfolgte sie. Schließlich sagte sie: „Ich gebe dir<br />

Essen, wenn du mir versprichst, mich zu heiraten.“ Ich versprach es, denn das<br />

Überleben war jetzt mein erstes und wichtigstes Ziel. Sie gab mir zu essen<br />

und stellte mich später ihrem Vater vor, der noch schrecklicher als sie anzuschauen<br />

war. Schon bald gelangten wir drei in das Dorf der beiden, welches<br />

von Blut und Fleisch schwamm. Ich wurde allen als der Gemahl dieses Mädchens<br />

vorgestellt. Ich wurde von allen mit großem Respekt behandelt. Sie<br />

unterhielten mich mit verschiedenen, unangenehmen Geschichten, die nichts<br />

als eine Quelle des Schmerzes waren. Dann gab es eine teuflische Zeremonie,<br />

in deren Verlauf ich mit dem Mädchen verheiratet wurde.“<br />

DER KÖNIG fuhrt fort:<br />

Bald danach wurde ich ein Mitglied des primitiven Stammes. Meine Frau<br />

gebar eine Tochter – Quelle noch weiteren Unglücks für mich. Im Laufe der<br />

Zeit kamen noch drei weitere Kinder. So wurde ich in diesem Stamm zum<br />

Familienvater. Ich verbrachte dort viele Jahre (zusammen mit ihm) und erlitt<br />

die Qualen eines Familienmannes mit Frau und Kindern, die ernährt und<br />

beschützt werden mussten. Ich schlug Feuerholz und musste oft zur Nachtzeit<br />

unter einem Baum schlafen. Wenn es kälter wurde, suchte ich Schutz in<br />

den Büschen, um es wärmer zu haben. Meine Hauptnahrung war Schweinefleisch.<br />

Die Zeit schritt voran und ich wurde alt. Ich begann mit Fleisch zu handeln.<br />

Ich brachte das Fleisch zu den Dörfern auf den Vindhya-Bergen und verkaufte<br />

das meiste dort. Was ich nicht zu einem angemessenen Gewinn verkaufen<br />

konnte, schnitt ich in kleine Stückchen, die ich an einem schmierigen, verschmutzen<br />

Ort trocknete. Oft genug musste ich mit anderen im Stamm um ein<br />

kleines Stückchen Fleisch kämpfen, wenn der Hunger mich quälte und ich<br />

essen wollte. Mein Körper war in der Zwischenzeit schwarz wie Ruß geworden.<br />

Auf diese Weise in sündige Tätigkeiten verstrickt, neigte sich auch mein<br />

Gemüt mehr und mehr in Richtung der Sünde. Meine früheren guten Gedanken<br />

und Gefühle hatten mich verlassen. Mein Herz hatte sämtliches Mitgefühl<br />

verloren – so wie eine Schlange ihre Haut abwirft. Mit Hilfe von Netzen und<br />

III:107,<br />

108<br />

145


III:109<br />

anderen Fallen und Waffen fügte ich den Vögeln und Tieren unsägliches Leid<br />

zu.<br />

Nur in ein Lendentuch gekleidet, ertrug ich alle Unbilden des Wetters. So<br />

verbrachte ich sieben Jahre. Gebunden durch die Stricke der bösen Neigungen<br />

lebte ich wild vor Wut und schlimme Worte gebrauchend, gebadet in Unglück<br />

und verrottete Nahrung essend. So verbrachte ich an diesem Ort eine lange,<br />

lange Zeit. Ich trieb wie in trockenes Blatt im Wind umher, und meine einzige<br />

Lebensaufgabe war das Essen.<br />

Dann kam eine Dürre über das Land. Die Luft war so heiß, dass ihre Winde<br />

Feuerzungen entsandten. Der Wald fing Feuer – und nur Asche blieb von ihm<br />

übrig. Die Menschen starben an Hunger. Sie verfolgten Luftspiegelungen, in<br />

dem Irrtum, da sei Wasser. Sie hielten Kiesel für Fleischbällchen und begannen<br />

sie zu kauen.<br />

Einige unter ihnen begann sogar Leichen zu fressen. Während sie ihren<br />

kannibalischen Neigungen nachgingen, kauten sie sogar auf ihren Fingern<br />

herum, die vom Blut dieser toten Körper besudelt waren. So weit war es mit<br />

ihnen in ihrem Hungerwahn gekommen.<br />

Was einmal ein blühender Wald war, wurde in ein riesiges Krematorium<br />

verwandelt. Was einst ein freudeerfülltes Land war, war nun ein grauenhafter<br />

Ort, in dem die Todesschreie der Sterbenden widerhallten.<br />

(Hinweis: Diese beiden Kapitel sind voll von passenden graphischen Darstellungen.)<br />

DER KÖNIG fuhrt fort:<br />

Vom Hungertod bedroht, verließen viele Menschen das Land und wanderten<br />

in andere Gegenden. Andere wiederum, die sehr an ihren Frauen und<br />

Kindern hingen, kamen in diesem Land um. Viele wurden von wilden Tieren<br />

getötet.<br />

Auch ich verließ zusammen mit meiner Frau und den Kindern das Land. An<br />

der Grenze des Landes lockte mich der kühle Schatten eines Baumes. Ich legte<br />

die kleinen Kinder, die ich auf den Schultern trug, nieder, und ruhte unter<br />

diesem Baum eine lange Zeit aus.<br />

Das jüngste meiner Kinder war noch ganz klein und unschuldig und war<br />

mir daher am liebsten. Mit Tränen in den Augen verlangte es nach Essen.<br />

Obwohl ich ihm schon gesagt hatte, dass es kein Fleisch mehr zu essen gab,<br />

bestand es in seiner kindlichen Unschuld auf seinem Verlangen, unfähig, den<br />

Hunger zu ertragen. Verzweifelt sagte ich ihm: „Nun gut, dann iss eben mein<br />

Fleisch!“ Das unschuldige Kind sagte ohne nachzudenken: „Dann gib es mir.“<br />

Ich war von Liebe und Mitleid bewegt. Ich sah, wie das Kind nicht länger die<br />

Schmerzen des Hungers zu ertragen vermochte. Daher beschloss ich, dass der<br />

beste Weg, all dieses Elend zu beenden, die Beendigung meines Lebens sei.<br />

Mit in der Nähe zusammengesuchtem Holz errichtete ich einen Scheiterhaufen.<br />

Und als ich dann den Scheiterhaufen bestieg, schauderte ich – und in<br />

146


III:110<br />

demselben Moment befand ich mich an diesem Hof – begrüßt und umjubelt<br />

von euch allen.“<br />

(Als der König diese Worte gesprochen hatte, verschwand der Zauberkünstler.)<br />

Die MINISTER sprachen:<br />

O König, dies kann kein Zauberkünstler gewesen sein, weil er nicht an einer<br />

Belohnung, an Geld, interessiert gewesen ist. Ganz sicher war dies ein göttliches<br />

Wesen, das dir und uns allen die Macht der kosmischen Illusion zeigen<br />

wollte. Aus all dem ist klar geworden, dass diese Welterscheinung nichts<br />

anderes als das Spiel des Gemüts ist –das Gemüt selbst ist das Spielzeug des<br />

allmächtigen, unendlichen Seins. Dieses Gemüt ist fähig, sogar einen Mann<br />

von großer Weisheit an der Nase herumzuführen. Wo ist der König, der in<br />

allen Wissensgebieten bewandert war, und wo ist diese so verblüffende Illusion?<br />

Ganz gewiss ist dies nicht der Trick eines Taschenspielers – denn ein Zauberer<br />

arbeitet für materiellen Gewinn. Es war nichts als die Macht der Illusion.<br />

Daher verschwand der Zauberer, ohne eine Belohnung zu verlangen.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Rāma, ich selbst befand mich zu jener Zeit an diesem Hof und weiß daher<br />

alles aus erster Hand. Auf diese Weise vermag das Gemüt die wahre Natur des<br />

Selbst zu verhüllen und eine illusorische Realität mit zahlreichen Bäumen,<br />

Blumen und Früchten zu erschaffen. Zerstöre diese Illusion mit Hilfe der<br />

Weisheit und ruhe im Frieden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ganz zu Beginn entstand eine Trennung im Höchsten Sein bzw. unendlichen<br />

Bewusstsein, und das Unendliche wurde scheinbar gleichzeitig zum Beobachter<br />

und Beobachteten. Als dieser Beobachter das Beobachtete zu begreifen<br />

und zu verstehen versuchte, gab es eine Vermischung (von Realität und Erscheinung)<br />

oder eine Verwirrung. Aufgrund dieser Verwirrung entstand im<br />

unendlichen Bewusstsein das Konzept der Endlichkeit.<br />

Das endliche Gemüt erschafft sodann in sich zahllose Ideen, die es schwächen<br />

und verschleiern und die Sorgen herbeischaffen, die dann vom Gemüt<br />

wiederum stark vergrößert werden. Diese Ideen und Erfahrungen hinterlassen<br />

Spuren im Gemüt. Sie bilden die Eindrücke oder die konditionierten<br />

Tendenzen, die zum allergrößten Teil latent oder schlafend sind. Wenn das<br />

Gemüt es jedoch schafft, sie wieder loszuwerden, verschwinden die Schleier<br />

wie Nebel im Sonnenaufgang – und damit auch all diese Sorgen. Bis dahin<br />

spielt das Gemüt mit all diesen– wie kleine Kinder mit Küken spielen und sie<br />

quälen.<br />

Das unreine Gemüt sieht dort ein Gespenst, wo nur ein Pfahl ist. Es vergiftet<br />

die Beziehungen unter den Menschen, indem es Verdächtigungen unter<br />

Freunden sät und Feinde aus ihnen macht – so wie ein Betrunkener glaubt,<br />

147


dass sich die Welt um ihn dreht. Ein zerquältes Gemüt verwandelt Nahrung in<br />

Gift und verursacht Krankheit und Tod.<br />

Das unreine (mit Tendenzen beladene) Gemüt ist die Ursache der Täuschungen<br />

(der Manien und Phobien). Man soll danach streben, sie zu entwurzeln<br />

und abzutun. Was ist denn der Mensch anderes als das Gemüt? Der Körper<br />

selbst ist leblos und fühlt nichts. Man kann aber nicht sagen, dass das<br />

Gemüt leblos sei, obschon man andererseits auch nicht behaupten könnte, es<br />

sei fühlend. Was vom Gemüt getan wird, ist Tätigkeit – was vom Gemüt aufgegeben<br />

wird, ist Entsagung.<br />

Das Gemüt ist diese ganze Welt; das Gemüt ist die Atmosphäre, das Gemüt<br />

ist der Himmel, das Gemüt ist die Erde, das Gemüt ist der Wind, und das<br />

Gemüt ist wahrhaftig groß. Nur derjenige, dessen Gemüt töricht ist, wird ein<br />

Tor genannt. Wenn der Körper jedoch die Vernunft verliert (wie z. B. im Tode),<br />

dann sagt man vom Körper nicht, dass er töricht sei!<br />

Das Gemüt sieht – so bilden sich die Augen. Das Gemüt hört– so entstehen<br />

die Ohren. Und so ist es auch mit den anderen Sinnen – es ist das Gemüt, das<br />

sie erschafft.<br />

Das Gemüt entscheidet darüber, was süß oder sauer ist, wer Freund oder<br />

Feind ist. Das Gemüt entscheidet über die Dauer der Zeit, denn der König<br />

Lavaïa erfuhr in weniger als einer Stunde eine ganze Lebenszeit. Das Gemüt<br />

befindet darüber, was Himmel und Hölle ist. Wenn daher dieses Gemüt gemeistert<br />

wird, dann ist alles, einschließlich der Sinne, gemeistert.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was ist wohl mysteriöser, Rāma, als dieses Gemüt, welches fähig ist, das allgegenwärtige,<br />

reine, ewigliche und unendliche Bewusstsein zu verdunkeln<br />

und dich dazu bringt, dich selbst mit diesem leblosen physischen Körper zu<br />

identifizieren? Das Gemüt selbst erscheint wie Wind im bewegten Element,<br />

wie Glanz im Glänzenden, wie Festigkeit in der Erde und Leere im Raum.<br />

Wenn das Gemüt abwesend ist, wird der Geschmack des gegessenen Essens<br />

nicht wirklich erfahren. Wenn das Gemüt abwesend ist, sieht man nicht einmal<br />

das, was sich direkt vor einem befindet. Die Sinne sind aus dem Gemüt<br />

entstanden und nicht anders herum.<br />

Nur Narren halten Körper und Gemüt für völlig verschieden – tatsächlich<br />

sind sie nicht verschieden, sie sind nichts anderes als das Gemüt. Wir verneigen<br />

uns vor den Weisen, die diese Wahrheit wahrhaftig verwirklicht haben!<br />

Der Weise, der dies verwirklicht hat, kommt nicht aus der Ruhe, auch wenn<br />

sein Körper von einer Frau umarmt wird. Für ihn ist dies, als ob ein Stück<br />

Holz mit dem Körper in Kontakt kommen würde. Auch wenn seine Arme<br />

abgeschnitten werden, erfährt er dies nicht als wirklich. Er ist fähig, sämtliches<br />

Leid in Seligkeit zu verwandeln.<br />

Wenn das Gemüt abwesend ist, selbst bei einer sehr interessanten Geschichte,<br />

dann hörst du überhaupt nichts.<br />

148


III:111<br />

So wie ein Schauspieler sich die Charaktere von verschiedenen Persönlichkeiten<br />

vorzustellen vermag, so ist das Gemüt in der Lage, verschiedene Bewusstseinszustände<br />

wie Wachen oder Träumen zu erschaffen. Wie rätselhaft<br />

ist doch das Gemüt, welches den König Lavaïa fühlen ließ, dass er ein primitiver<br />

Stammesangehöriger sei! Das Gemüt erfährt, was es sich selbst konstruiert.<br />

Das Gemüt ist nichts anderes als das, was durch Denken zusammengesetzt<br />

wird. Wisse dies, und dann handle, wie es dir gefällt.<br />

Es ist in der Tat das Gemüt, das aufgrund von ständigem Denken glaubt,<br />

dass es geboren sei und dann stürbe. Und obwohl es keinerlei Form hat,<br />

denkt es, dass es ein jīva mit einem Körper usw. sei. Nur aufgrund der Gedanken<br />

nimmt es eine Nationalität an und erfreut oder erleidet Vergnügen oder<br />

Schmerzen. All dieses ist im Gemüt enthalten wie Öl in einem Samen.<br />

Wer seinem Gemüt nicht erlaubt, in den Objekten des Vergnügens umherzuwandern,<br />

ist in der Lage, es zu meistern. So wie jemand, der an einen Pfeiler<br />

gefesselt ist, sich nicht bewegen kann, so entfernt sich das Gemüt des<br />

edlen Mannes nicht von der Wirklichkeit – dieser allein ist ein menschliches<br />

Wesen; alle anderen sind nur Würmer. Er erlangt das Höchste Sein durch<br />

beständige Meditation.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Sieg über diesen als Gemüt bekannten Kobold wird erlangt, wenn man<br />

durch Eigenbemühung die Selbsterkenntnis erlangt und das Verlangen nach<br />

dem aufgibt, was sich das Gemüt als sein Vergnügen wünscht. Erreicht werden<br />

kann dies auf einfache Weise ohne alle Bemühung (so leicht, wie man die<br />

Aufmerksamkeit eines Kindes ablenken kann) durch die Kultivierung der<br />

richtigen Einstellung. Schande über den, der unfähig ist, sein Verlangen aufzugeben,<br />

denn das ist das einzige Mittel zum Erreichen des wahrhaftig Guten.<br />

Durch intensive Eigenbemühung ist es möglich, über das Gemüt zu triumphieren.<br />

Und dann wird das individualisierte Bewusstsein ohne die kleinste<br />

Mühe in das unendliche Bewusstsein absorbiert, sobald seine Individualität<br />

gebrochen ist. Dies ist einfach und wird sehr schnell erreicht. Wer dazu nicht<br />

fähig ist, ist in der Tat ein Geier in menschlicher Gestalt.<br />

Einen anderen Weg zur Erlösung des Menschen als den der Kontrolle des<br />

Gemüts, womit die entschlossene Aufgabe des Verlangens gemeint ist, gibt es<br />

nicht. Fasse den festen Entschluss, dieses Gemüt sozusagen zu töten, was<br />

ohne Zweifel leicht erreicht werden kann. Wenn einer das Verlangen des<br />

Gemüts nicht aufgegeben hat, dann sind sämtliche Anweisungen der Lehrer,<br />

das Studium der Schriften, die Rezitation von Mantras usw. so wertlos wie<br />

Stroh! Nur wenn einer die Wurzel des Gemüts mit der Waffe des Nicht-<br />

Konzeptualisierens durchtrennt, kann er das absolute Brahman erlangen,<br />

welches allgegenwärtiger höchster Friede ist. Die Konzeptualisierung oder<br />

Einbildung ist die Quelle von Irrtum und Leid; und man kann sie leicht durch<br />

Selbsterkenntnis los werden. Wenn man sie los geworden ist, dann ist da<br />

großer Friede. Weshalb finden die Menschen dies so schwierig?<br />

149


III:112<br />

Gib deinen blinden Glauben auf an das Schicksal oder die Götter, der von<br />

verrückten und dummen Menschen geschaffen worden ist. Mache durch<br />

Eigenbemühung und Selbsterkenntnis das Gemüt gemütlos. Lass das unendliche<br />

Bewusstsein sozusagen dieses endliche Gemüt verschlucken, und dann<br />

gehe jenseits von allem. Sobald dein Geist mit dem Höchsten vereint ist, halte<br />

an dem Selbst fest, welches unvergänglich ist.<br />

Sobald das Gemüt einmal durch vollständige Ruhe erobert worden ist, wirst<br />

du sogar die Eroberung der drei Welten als wertlos befinden. Hierfür ist<br />

keinerlei Studium der Schriften oder ein Niederfallen und Wiederaufstehen<br />

nötig – nur Selbsterkenntnis wird benötigt. Weshalb hältst du dies für<br />

schwierig? Wenn jemand dies schwierig findet – wie kann er dann in dieser<br />

Welt leben ohne Selbsterkenntnis?<br />

Wer die todlose Natur des Selbst kennt, fürchtet sich nicht vor dem Tod.<br />

Auch ist er nicht berührt durch die Trennung von Freunden und Verwandten.<br />

Die Gefühle „Dies bin ich" und "Dies ist mein" sind das Gemüt – sobald sie<br />

nicht mehr da sind, hört das Gemüt auf zu sein. Dann wird man furchtlos.<br />

Waffen wie Schwerter erzeugen Furcht – diese Waffe (Weisheit) jedoch, die<br />

den Ich-Sinn zerstört, erzeugt Furchtlosigkeit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Auf welches Objekt das Gemüt auch immer den Strom seiner Energien richtet<br />

– darin sieht es die Erfüllung all seines Verlangens. Die Ursache dieser<br />

Bewegung in eine bestimmte Richtung ist nicht offensichtlich. Wie die Wellen<br />

auf dem Ozean erscheint solch intensive Bewegung einmal hier und dann<br />

dort, sie entsteht und vergeht. Wie Kühle jedoch untrennbar vom Eis ist, so ist<br />

diese rastlose Bewegung untrennbar vom Gemüt.<br />

RùMA fragte:<br />

Wie aber, heiliger Herr, kann diese ruhelose Bewegung des Gemüts mit<br />

Kraftaufwand zurückgehalten werden, ohne dadurch noch größere Rastlosigkeit<br />

auszulösen?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Ganz gewiss gibt es kein Gemüt ohne Rastlosigkeit, denn Rastlosigkeit ist<br />

die eigentliche Natur des Gemüts. Es ist das Werk dieser Rastlosigkeit des<br />

Gemüts, welches auf dem unendlichen Bewusstsein gründet, das als diese<br />

Welt erscheint, oh Rāma – eben darin besteht die Macht des Gemüts. Wird<br />

das Gemüt jedoch seiner Rastlosigkeit beraubt, dann bezeichnet man es als<br />

ein totes Gemüt, und dies ist nichts anderes als Entsagung (tapas) und gleichzeitig<br />

die wahrheitsgemäße Bestätigung der Schriften und die Befreiung.<br />

Wenn das Gemüt auf diese Weise im unendlichen Bewusstsein absorbiert<br />

ist, dann herrscht höchster Friede. Ist das Gemüt jedoch in Gedanken involviert,<br />

dann ist da großes Leid. Die Ruhelosigkeit des Gemüts selbst nennt man<br />

Unwissenheit oder Finsternis. Sie ist der Wohnort der Tendenzen, der Neigungen<br />

und der Konditionierung. Zerstöre dies durch die Erforschung und<br />

150


III:113<br />

durch die feste Entscheidung, nicht an die Objekte der Sinnesvergnügen zu<br />

denken.<br />

Oh Rāma, das Gemüt schwingt ständig wie ein Pendel zwischen der Realität<br />

und der Erscheinungswelt hin und her, zwischen Bewusstheit und Trägheit.<br />

Sobald das Gemüt die trägen Objekte eine Zeitlang betrachtet hat, übernimmt<br />

es selbst die Eigenschaften dieser Trägheit. Wenn sich dasselbe Gemüt dagegen<br />

der Erforschung und Weisheit hingibt, schüttelt es dadurch alle Konditionierung<br />

ab und kehrt zu seinem ursprünglichen Zustand als reines Bewusstsein<br />

zurück. Das Gemüt nimmt die Gestalt des Dinges an, über welches es<br />

nachsinnt – ob dieses nun natürlich oder durch Kultivierung entstanden sei.<br />

Kontempliere daher mit Entschlossenheit den Zustand jenseits des Leides,<br />

frei von allen Zweifeln. Das Gemüt ist fähig, sich selbst zu beherrschen. Einen<br />

anderen Weg gibt es in der Tat nicht.<br />

Die Weisen beseitigen die Manifestationen der latenten Tendenzen oder<br />

Konditionierungen (die nichts als das Gemüt sind) aus ihrem Gemüt, wann<br />

und wo sie auftauchen, und so wird die Unwissenheit beseitigt. Zerstöre als<br />

erstes die mentale Konditionierung durch Aufgeben der Begierden, und dann<br />

entferne aus deinem Gemüt sogar die Konzepte von Bindung und Befreiung.<br />

Sei vollkommen frei von jeglicher Konditionierung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die psychologischen Neigungen (bzw. die mentale Disponiertheit oder<br />

Konditionierung) sind unwirklich und erscheinen doch im Gemüt. Sie kann<br />

daher mit der Wahrnehmung zweier Monde verglichen werden, wie sie bei<br />

einer fehlsichtigen Person auftritt. Diese Neigung sollte folglich als schiere<br />

Täuschung verworfen werden. Das Produkt der Unwissenheit ist nur für die<br />

unwissende Person wirklich – für den Weisen ist dies nur eine verbale Ausdrucksweise<br />

(als würde man vom Sohn einer unfruchtbaren Frau sprechen).<br />

Verbleibe nicht länger in der Unwissenheit, oh Rāma, sondern strebe danach,<br />

weise zu sein, indem du die mentale Konditionierung verwirfst, so wie du die<br />

Idee eines zweiten Mondes verwirfst.<br />

Du bist nicht der Täter irgendeiner Tätigkeit hier, oh Rāma – weshalb gehst<br />

du dann von einer Täterschaft aus? Wenn Eines allein existiert – wer tut dann<br />

was und wie? Werde auch nicht inaktiv, denn für was sollte die Untätigkeit<br />

gut sein? Was getan werden muss, muss getan werden. Ruhe im Selbst. Wenn<br />

du unberührt von allen diesen Tätigkeiten bleibst, dann bist du wahrhaftig<br />

der Nicht-Täter, auch wenn du sämtliche für dich natürlichen Dinge tust. Du<br />

wirst jedoch zum Täter, sobald du nichts tust und dann dieser Nicht-<br />

Täterschaft anhängst, indem du glaubst, nichts zu tun! Wenn doch diese ganze<br />

Welt wie ein Taschenspielertrick ist – was muss dann aufgegeben und was<br />

gesucht werden?<br />

Der Same dieser Welterscheinung ist die Unwissenheit. Wenn diese nicht<br />

als das gesehen wird, was sie ist, dann erhält sie das Siegel der Wahrheit! Die<br />

Macht, die diese Welterscheinung erschafft und sie in Bewegung hält wie der<br />

Töpfer seine Töpferscheibe, ist die psychologische Tendenz (oder die mentale<br />

151


Konditionierung). Wie ein Bambus ist sie leer und ohne jede Substanz. Wie<br />

die Wellen im Ozean stirbt sie nicht einmal dann, wenn sie zerteilt wird. Sie<br />

kann nicht erfasst werden. Sie ist subtil und flüchtig, aber sie hat die Kraft<br />

eines Schwertes. Obwohl sie in ihrer eigenen Widerspiegelung als ihre Wirkung<br />

wahrgenommen wird, ist sie bei der Suche nach der Wahrheit nicht von<br />

Nutzen. Wegen dieser Konditionierung werden in den Objekten dieser Schöpfung<br />

Unterschiede gesehen.<br />

Obwohl man diese Konditionierung nicht irgendwo festlegen kann, wird sie<br />

doch überall gesehen. Sie ist keine Manifestation der Vernunft, aber weil sie<br />

auf der Intelligenz basiert, hat sie den Anschein von Intelligenz. Obgleich sie<br />

sich stets verändert, erzeugt sie in einem die Illusion der Dauerhaftigkeit.<br />

Aufgrund ihrer Nähe zum unendlichen Bewusstsein erscheint sie als tätig.<br />

Wenn dieses unendliche Bewusstsein realisiert wird, dann gelangt sie (die<br />

Konditionierung) an ihr Ende.<br />

Diese mentale Konditionierung stirbt, wenn sie nicht weiter durch die Anhaftung<br />

an Objekte genährt wird. Sie verbleibt jedoch auch in der Abwesenheit<br />

dieser Anhaftung als Potentialität bestehen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Diese Unwissenheit oder mentale Konditionierung wird vom Menschen ohne<br />

Anstrengung erworben und übernommen und scheint Vergnügen zu fördern.<br />

In Wahrheit jedoch bereitet sie Leiden. Die Illusion des Vergnügens<br />

entsteht nur durch die völlige Verdunkelung der Selbsterkenntnis. So liess sie<br />

König Lavaïa einen Zeitraum von weniger als einer Stunde wie mehrere<br />

Jahre erleben.<br />

Diese Unwissenheit oder mentale Konditionierung ist machtlos, irgend etwas<br />

zu tun, und doch scheint sie äußerst aktiv zu sein – auf dieselbe Weise,<br />

wie ein Spiegel das Licht einer Lampe reflektiert. So wie ein lebensechtes<br />

Bildnis einer Frau niemals die Pflichten einer lebendigen Frau übernehmen<br />

kann, so ist auch diese Unwissenheit oder mentale Konditionierung unfähig,<br />

selber zu funktionieren, obschon es aussieht, als wäre sie dazu fähig. Den<br />

Weisen vermag sie nicht zu täuschen, sehr wohl aber den Dummen zu überwältigen<br />

– so einfach, wie eine Luftspiegelung ein Tier, aber nicht einen intelligenten<br />

Menschen, zu täuschen vermag.<br />

Diese Unwissenheit oder mentale Konditionierung besitzt nur eine momentane<br />

Existenz. Weil sie jedoch fortwährend tätig zu sein scheint, erweckt sie<br />

wie ein Fluss den Anschein von Dauerhaftigkeit. Weil sie die Realität zu verdunkeln<br />

vermag, erscheint sie als real. Wenn du sie aber zu begreifen versuchst,<br />

entdeckst du, dass sie nichts ist. Und doch erlangt sie aufgrund dieser<br />

Eigenschaften in der Welterscheinung eine Stärke und Überzeugungskraft so,<br />

wie eine einzelne Faser durch Eindrehen in ein Seil große Festigkeit erlangt.<br />

Es sieht so aus, als würde diese Konditionierung wachsen – aber tatsächlich<br />

geschieht dies nicht. Denn wenn du nach ihr zu greifen versuchst, verschwindet<br />

sie wie die Spitze einer Flamme. Und doch – so wie der farblose Himmel<br />

152


lau erscheint, so hat auch diese Konditionierung den Anschein einer wirklichen<br />

Existenz! Sie entsteht wie der zweite Mond beim Fehlsichtigen und<br />

existiert wie die Traumobjekte. Sie erzeugt Verwirrung, so wie sich für Menschen,<br />

die in einem Boot fahren, das Ufer zu bewegen scheint. Sobald sie aktiv<br />

wird, erzeugt sie die Täuschung des langen, langen Traums der Welterscheinung.<br />

Sie pervertiert die Freundschaften und Erfahrungen. Es ist diese Unwissenheit<br />

oder mentale Konditionierung, die verantwortlich ist für die<br />

Schaffung und Wahrnehmung der Dualität, für die Getrenntheit und die nachfolgende<br />

Verwirrung der Wahrnehmung und Erfahrung.<br />

Sobald diese Unwissenheit oder mentale Konditionierung gemeistert ist,<br />

indem man sich ihrer Irrealität bewusst wird, hört das Gemüt auf zu sein – so<br />

wie der Fluss austrocknet, wenn das Wasser aufhört zu fließen.<br />

RùMA fragte:<br />

Andererseits, heiliger Herr, scheint der in einer Luftspiegelung wahrgenommene<br />

Fluss kein Ende zu haben. Wie erstaunlich ist es doch, dass diese<br />

Unwissenheit die ganze Welt hat erblinden lassen! Diese Unwissenheit oder<br />

mentale Konditionierung gedeiht durch die Zwillingskräfte von Verlangen<br />

und Hass. Bitte sage mir, wie kann ich sicherstellen, dass diese Unwissenheit<br />

oder mentale Konditionierung überhaupt nicht mehr auftaucht!<br />

Und heiliger Herr, teile mir bitte außerdem mit, auf welche Weise diese<br />

schreckliche Finsternis der Unwissenheit verschwindet.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Oh Rāma, so wie die Dunkelheit beim Auftauchen des Lichts verschwindet,<br />

so verschwindet die Unwissenheit, sobald du dich dem Licht des Selbst zuwendest.<br />

So lange es kein natürliches Verlangen nach Selbsterkenntnis gibt, so lange<br />

beschwört diese Unwissenheit oder mentale Konditionierung den endlosen<br />

Strom der Welterscheinung herauf.<br />

So wie ein Schatten verschwindet, wenn er das Licht zu sehen wünscht, so<br />

wird diese Unwissenheit vernichtet, wenn man sich der Selbsterkenntnis<br />

zuwendet. Rāma, das Verlangen selbst ist diese Unwissenheit oder mentale<br />

Konditionierung, und die Beendigung des Verlangens ist die Befreiung Dies<br />

geschieht, wenn es keinerlei Bewegung von Gedanken mehr im Gemüt gibt.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Weiser, du sagtest, dass da Selbsterkenntnis sei, sobald die Unwissenheit<br />

aufhört zu sein. Was ist das Selbst (ātman)?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, von Brahmā dem Schöpfer bis hinunter zum Grashalm ist all dies<br />

nichts anderes als das Selbst – die Unwissenheit ist nichts als eine inexistente<br />

Irrealität. Es gibt hier kein zweites Ding, das man das Gemüt nennen könnte.<br />

In diesem Selbst treibt dieser Schleier der Verdunkelung herum (der auch das<br />

Selbst ist) und erzeugt die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. Es ist<br />

III:114<br />

153


das unendliche Bewusstsein selbst, welches dann als das Gemüt bezeichnet<br />

wird. Dieser Schleier ist nur eine Idee, eine Absicht oder ein Gedanke in eben<br />

diesem unendlichen Bewusstsein. Das Gemüt ist aus dieser Idee oder diesem<br />

Gedanken heraus entstanden, und es muss auf dieselbe Weise mit der Unterstützung<br />

einer Idee oder eines Gedankens auch wieder verschwinden; d. h.,<br />

durch die Beendigung der Idee oder des Gedankens.<br />

Die feste Überzeugung „Ich bin nicht das absolute Brahman“ bindet das<br />

Gemüt, und es wird befreit durch die ebenso feste Überzeugung, dass „alles<br />

ist das absolute Brahman“. Die Ideen und Gedanken sind Bindung und ihr<br />

Ende ist die Befreiung. Sei daher vollkommen frei von ihnen und tue, was<br />

immer spontan zu tun ist.<br />

So wie die Gedanken oder Ideen die Bläue im Himmel „sehen“, so sieht dieses<br />

Gemüt die Welt als real an. Da ist aber keinerlei Bläue im Himmel – es ist<br />

nur das Unvermögen des Sehsinns, über eine bestimmte Grenze hinaus zu<br />

sehen, die als Bläue erscheint. Auf dieselbe Weise ist es nur die Begrenztheit<br />

des Denkens, die diese Welterscheinung wahrnimmt. Diese Welterscheinung<br />

ist eine Täuschung, oh Rāma –ich rate dir, keinen einzigen Gedanken daran<br />

jemals wieder im Gemüt entstehen zu lassen.<br />

Indem man denkt „Ich bin verloren“, entsteht das Leid, und indem man<br />

denkt „Ich bin erwacht“, geht man in Richtung der Seligkeit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn das Gemüt kontinuierlich irreführenden oder unsinnigen Ideen<br />

nachhängt, wird es getäuscht, und wenn das Gemüt kontinuierlich über erleuchtete<br />

und hochherzige Ideen nachsinnt, dann wird es erleuchtet. Sobald<br />

der Gedanke der Unwissenheit fest im Gemüt aufrechterhalten wird, ist auch<br />

die Unwissenheit fest verankert. Wird jedoch das Selbst erkannt, dann wird<br />

diese Unwissenheit aufgelöst. Und darüber hinaus – was immer das Gemüt zu<br />

erlangen versucht, danach streben die Sinne mit all ihrer Kraft.<br />

Wer folglich sein Gemüt nicht auf solchen Gedanken und Ideen ausruhen<br />

lässt, aber stets danach strebt, des Selbst bewusst zu bleiben, der erfreut sich<br />

des Friedens. Das, was nicht am Anfang war, existiert auch jetzt nicht! Das,<br />

was war und folglich auch jetzt ist, ist das absolute Brahman. Die Kontemplation<br />

darüber verleiht Frieden, denn Brahman ist Friede. Man sollte nicht<br />

irgend etwas anderes als dies zu irgendwelcher Zeit in irgendwelcher Art<br />

irgendwo kontemplieren. Man sollte jede Hoffnung auf Vergnügen mit der<br />

größten, einem selbst möglichen, Strenge entwurzeln und sich dazu aller zur<br />

Verfügung stehenden Geisteskraft bedienen.<br />

Es ist nur die Unwissenheit, die die Ursache von Altern und Tod ist. Hoffnungen<br />

und Anhaftungen verbreiten und verzweigen sich nur aufgrund der<br />

mentalen Konditionierung, die nichts als Unwissenheit ist. Diese Verbreitung<br />

und Verzweigung nimmt die Gestalt von Ideen wie „Dies ist mein Besitz“,<br />

„Dies sind meine Söhne“ usw. an. Wo kann es denn in diesem physischen<br />

Körper etwas geben, was man „Ich“ nennen könnte? In Wahrheit, oh Rāma,<br />

154


III:115<br />

haben „Ich“, „mein“ usw. überhaupt keine Existenz –das Selbst allein ist allezeit<br />

die einzige Wahrheit.<br />

Nur im Zustand der Unwissenheit geschieht es, dass man eine Schlange in<br />

einem Seil erblickt – nicht im erleuchteten Zustand. Auf dieselbe Weise existiert<br />

in der erleuchteten Sicht nur das unendliche Bewusstsein und nichts<br />

sonst. Oh Rāma, werde kein unwissender Mensch – werde ein Weiser! Zerstöre<br />

die mentale Konditionierung, die diese Welterscheinung entstehen lässt.<br />

Weshalb betrachtest du wie der unwissende Mensch diesen Körper als dein<br />

Selbst und fühlst dich dann elend? Auch wenn Körper und Selbst gemeinsam<br />

zu existieren scheinen, sind sie nicht untrennbar, denn wenn der Körper<br />

stirbt, stirbt das Selbst nicht.<br />

Ist es nicht ein großes Wunder, oh Rāma, dass die Menschen die Wahrheit<br />

vergessen, dass nur das absolute Brahman ist, und anstelle dessen von der<br />

Existenz des Unwirklichen und der nicht-existenten Unwissenheit überzeugt<br />

sind? Rāma, lass die närrische Idee der Existenz der Unwissenheit nicht in dir<br />

Wurzeln schlagen, denn wenn das Bewusstsein einmal davon verseucht ist,<br />

dann lädt dies endloses Leiden ein. Obwohl unwirklich, kann dies ganz reales<br />

Leiden verursachen! Es geschieht aufgrund der Unwissenheit, dass die Illusionen<br />

wie in einer Luftspiegelung existieren, und dass man verschiedene<br />

Wahnbilder und Halluzinationen wahrzunehmen glaubt (als würde man in<br />

der Luft oder im Raum fliegen) und Himmel und Hölle erfährt. Gib daher, oh<br />

Rāma, die mentale Konditionierung, die allein verantwortlich für die Wahrnehmung<br />

der Dualität ist, auf und verbleibe völlig unkonditioniert. Dann<br />

wirst du eine unvergleichliche Überlegenheit über alles erlangen!<br />

Nach einigen Minuten tiefer Kontemplation sprach RùMA:<br />

Heiliger Weiser! Es scheint in der Tat unglaublich, dass diese nicht-existente<br />

Unwissenheit solche Illusionen hervorzubringen vermag, aufgrund derer<br />

man diese nicht-existierende Welt für völlig real hält. Bitte kläre mich weiter<br />

darüber auf, wie dies möglich ist. Und teile mir bitte auch mit, weshalb der<br />

König Lavaïa allen Arten von Leiden unterworfen war. Bitte unterrichte mich<br />

darüber, wer oder was dies ist, das all diese Leiden erfährt.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, es stimmt nicht wirklich, dass das Bewusstsein in irgendeiner<br />

Weise mit diesem Körper in Verbindung steht. Der Körper wird vom Bewusstsein<br />

nur phantasiert – wie in einem Traum. Sobald das Bewusstsein<br />

sozusagen sich durch seine eigenen Kräfte selbst begrenzt und sich für einen<br />

jīva hält, dann verwickelt sich dieser jīva, ausgestattet mit seiner Energie der<br />

Rastlosigkeit, in diese Welterscheinung.<br />

Das verkörperte Wesen, welches die Früchte vergangener Handlungen erleidet<br />

oder sich ihrer erfreut und welches in die verschiedensten Körper<br />

schlüpft, wird als Ich-Sinn, Gemüt und auch jīva bezeichnet. Weder der Körper<br />

noch das erleuchtete Wesen ist irgendeinem Leiden unterworfen – es ist<br />

nur das unwissende Gemüt, welches leidet. Es geschieht nur im Zustand der<br />

155


Unwissenheit (der wie Schlaf ist), dass das Gemüt die Welterscheinung erträumt,<br />

nicht aber, wenn es erwacht oder erleuchtet ist. Daher wird das verkörperte<br />

Wesen, welches dem Leiden unterworfen ist, verschiedentlich das<br />

Gemüt, Unwissenheit, jīva und mentale Konditionierung oder auch individualisiertes<br />

Bewusstsein genannt.<br />

Der Körper ist nicht-fühlend und kann daher weder Freude oder Schmerz<br />

erfahren. Die Unwissenheit lässt die Achtlosigkeit und die Unklugheit entstehen<br />

– folglich ist es die Unwissenheit allein, die Freude und Schmerz erfährt.<br />

Es ist in der Tat das Gemüt allein, welches geboren wird, klagt, tötet, umher<br />

wandert, andere missbraucht usw., jedoch nicht der Körper. In allen diesen<br />

Erfahrungen von Glücklichsein und Unglücklichsein wie auch in allen Halluzinationen<br />

und Imaginationen ist es allein das Gemüt, das alles tut, und es ist<br />

wiederum das Gemüt, welches all dieses erfährt; denn das Gemüt ist der<br />

Mensch.<br />

Ich werde dir jetzt den Grund der Leiden von König Lavaïa erzählen.<br />

Lavaïa war ein Abkömmling von Hariścandra. Lavaïa dachte bei sich: „Mein<br />

Großvater verrichtete ein großes religiöses Ritual und wurde ein großer<br />

Mann. Auch ich sollte daher ein solches Ritual ausführen.“ Er beschaffte sich<br />

die für die religiösen Riten erforderlichen Materialien und Priester und führte<br />

alle Riten mental aus (ein ganzes Jahr lang).<br />

Da er erfolgreich die religiösen Riten rein mental ausgeführt hatte, erwarb<br />

er dadurch auch deren Früchte. Oh Rāma, darin kannst du erkennen, wie das<br />

Gemüt allein der Täter aller Handlungen und daher auch der Erfahrende von<br />

allem Unglück und Glück ist. Führe daher dein Gemüt auf den Pfad der Erlösung,<br />

Rāma.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich selbst war Zeuge der Szene am Hof von Lavaïa, und als sie wissen wollten,<br />

wer dieser Zauberkünstler war, der plötzlich verschwand, da erkannte<br />

ich seine Identität mit Hilfe meiner subtilen Sehkräfte. Ich stellte fest, dass er<br />

ein Bote der Götter war. Es ist Tradition, dass Indra jedem, der sich diesen<br />

religiösen Riten hingibt, die Lavaïa mental ausführte, allerhand von Qualen<br />

sendet, um seine Stärke zu testen. Als Ergebnis davon erlebte er diese Halluzinationen.<br />

Der Ritus wurde von seinem Gemüt ausgeführt, und diese Halluzinationen<br />

wurden ebenfalls von seinem Gemüt erfahren.<br />

Sobald dasselbe Gemüt gründlich gereinigt ist, wirst du alle von ihm erschaffenen<br />

Dualitäten und alle Vielfalt loswerden.<br />

Rāma, ich habe dir bereits von dem Prozess der zyklischen Schöpfung (nach<br />

der letzten kosmischen Auflösung) erzählt und wie man zu der falschen Vorstellung<br />

von „Ich“ und „mein“ kommt. Ausgestattet mit Weisheit sollte jeder,<br />

der nach und nach die sieben Stufen der <strong>Yoga</strong>-Vervollkommnung erklimmt,<br />

von jenen Vorstellungen befreit sein.<br />

RùMA fragte:<br />

III:116,<br />

117<br />

156


III:118<br />

Heiliger Herr, worin bestehen die sieben Stufen, auf die du dich beziehst?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, es gibt sieben absteigende Stufen der Unwissenheit und sieben<br />

aufsteigende Stufen der Weisheit. Diese werde ich dir nun beschreiben. In der<br />

Selbsterkenntnis verankert zu sein ist Befreiung. Sobald dies gestört wird,<br />

tauchen der Ich-Sinn und die Bindung auf. Der Zustand der Selbsterkenntnis<br />

besteht darin, dass es keinerlei mentale Erregung gibt – weder Zerstreutheit<br />

noch Stumpfheit des Gemüts, weder ein Ich-Sinn noch eine Wahrnehmung<br />

der Vielfalt.<br />

Die Täuschung, die diese Selbsterkenntnis verdunkelt, ist siebenfach – es<br />

sind der Samenzustand des Wachens, des Wachzustands, des großen Wachzustands,<br />

des wachen Traums, des Traums, des traumartigen Wachzustandes<br />

und des Schlafs. Im reinen Bewusstsein, wenn das Gemüt und der jīva nur als<br />

Namen existieren, herrscht der Samenzustand des Wachzustandes.<br />

Sobald die Vorstellungen von „Ich“ und „dies“ auftauchen, wird dies der<br />

Wachzustand genannt. Wenn diese Vorstellungen durch die Erinnerungen aus<br />

früheren Inkarnationen verstärkt werden, dann ist dies der große Wachzustand.<br />

Wenn das Gemüt vollständig seiner eigenen Phantasien bewusst und<br />

von diesen erfüllt ist, dann ist dies der wache Traum. Die falschen Vorstellungen<br />

während des Schlafs, die trotzdem als real erscheinen, sind die Träume.<br />

Im traumartigen Wachzustand erinnert man sich an die vergangenen Erfahrungen<br />

so, als wären sie in diesem Moment real. Wenn diese zugunsten einer<br />

völlig trägen Dumpfheit aufgegeben werden, ist dies Schlaf. Diese sieben<br />

Stufen besitzen alle ihre eigenen zahllosen Unterteilungen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich werde dir jetzt, oh Rāma, die sieben Stufen oder Zustände der Weisheit<br />

beschreiben. Wenn du diese kennst, wirst du nicht länger in der Täuschung<br />

befangen sein. Die erste ist der reine Wunsch oder die reine Absicht, die Erforschung<br />

ist die zweite, die dritte ist, wenn das Gemüt subtil wird, die Verankerung<br />

in der Wahrheit ist die vierte, die völlige Freiheit von Anhaftung oder<br />

Bindung ist die fünfte, die sechste ist das Aufhören der Objektivität und die<br />

siebente ist jenseits von all diesen.<br />

„Weshalb benehme ich mich immer noch wie ein Narr? Ich sollte die Schriften<br />

studieren und die Heiligen aufsuchen, die die Leidenschaftslosigkeit kultiviert<br />

haben“ – darin besteht der Wunsch dieses ersten Zustands. Daraufhin<br />

befasst man sich mit der Praxis der Erforschung (direkte Beobachtung). Mit<br />

all diesem entsteht dann die Nicht-Anhaftung und das Gemüt wird subtil und<br />

transparent – darin besteht der dritte Zustand. Wenn diese drei praktiziert<br />

werden, entsteht im Sucher eine natürliches Abwenden von den Sinnesvergnügen,<br />

und es taucht ein natürliches Verweilen in der Wahrheit auf – darin<br />

besteht der vierte Zustand.<br />

Wenn alle diese intelligent praktiziert werden, entsteht eine totale Nicht-<br />

Anhaftung und zur selben Zeit eine Überzeugung von der Natur der Wahrheit<br />

157


III:119<br />

– darin besteht der fünfte Zustand. Dann erfreut man sich seines eigenen<br />

Selbst. Die Wahrnehmung von Dualität und Vielfalt sowohl innerhalb wie<br />

außerhalb (von einem selbst) hört auf, und die Bemühungen, die man durch<br />

die Inspiration durch andere unternommen hat, tragen als Ergebnis ihre<br />

Frucht in der Form der direkten spirituellen Erfahrung.<br />

Danach gibt es keine weiteren Bemühungen mehr, keine Getrenntheit, keine<br />

Verschiedenheit. Die Selbsterkenntnis ist spontan, natürlich und ununterbrochen<br />

– darin besteht der siebente, transzendentale Zustand. Dies ist der Zustand<br />

desjenigen, der in diesem Leben befreit ist. Darüber hinaus liegt noch<br />

der Zustand desjenigen, der sogar den Körper transzendiert hat (der Zustand<br />

des turīyātīta).<br />

Rāma, alle Großen, die diese sieben Stufen der Weisheit erklommen haben,<br />

sind Heilige. Sie sind befreit und fallen niemals mehr in den Sumpf von<br />

Glücklichsein und Unglücklichsein. Vielleicht arbeiten sie und sind tätig –<br />

vielleicht auch nicht. Sie erfreuen sich am Selbst und bedürfen nicht anderer,<br />

um glücklich zu sein.<br />

Der höchste Zustand des Bewusstseins kann von allen, sogar von Tieren<br />

und primitiven Menschen, erlangt werden; von denen mit einem Körper und<br />

von entkörperten Wesen, denn er beinhaltet nichts als das Auftauchen der<br />

Weisheit.<br />

Diejenigen, die die höchsten Ebenen des Bewusstseins erreicht haben, sind<br />

wahrhaftig große Menschen. Sie sind bewundernswert. Sogar ein Kaiser ist<br />

im Vergleich mit ihnen nur wie ein Grashalm, denn jene sind hier und jetzt<br />

befreit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Selbst stellt sich unwissenderweise eine egoische Existenz vor; auf dieselbe<br />

Weise, wie wenn das Gold seine Goldheit vergessen hätte und denken<br />

würde, es sei ein Ring – und dann weint und jammert: „Oh weh! Ich habe<br />

meine Goldheit verloren!“<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, wie konnten diese Unwissenheit und der Ich-Sinn im Selbst<br />

entstehen?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Rāma, man sollte stets nur Fragen stellen, die das Wirkliche betreffen –<br />

nicht das Unwirkliche. Weder die goldlose „Ringheit“ noch der begrenzte Ich-<br />

Sinn existieren in Wahrheit. Wenn der Goldschmied den Ring verkauft, wiegt<br />

er dazu das Gold aus, weil der Ring Gold ist. Wenn man über die Existenz der<br />

„Ringheit“ im Ring oder über die endliche Form im unendlichen Bewusstsein<br />

diskutieren möchte, dann muss man dies mit dem Sohn der unfruchtbaren<br />

Frau vergleichen. Die Existenz des Unwirklichen ist unwirklich – sie entsteht<br />

in der Unwissenheit und verschwindet nach dem Erforschen. In der Unwissenheit<br />

sieht man im Perlmutter Silber – jedoch kann dieses Silber nicht<br />

158


einen einzigen Augenblick lang wirklich sein! Solange die Wahrheit nicht<br />

erkannt wird, dass es sich nur um Perlmutter handelt, dauert die Unwissenheit<br />

an. So wie man nicht aus Sand Öl gewinnen, und wie man vom Ring stets<br />

nichts als Gold erhält, so gibt es hier in diesem Universum nicht zwei Dinge –<br />

das eine, unendliche Bewusstsein leuchtet in allen Namen und Formen.<br />

So ist in der Tat die Natur dieser völligen Unwissenheit, dieser Täuschung<br />

und dieses ganzen Weltvorgangs – ohne reale Existenz gibt es da diese illusorische<br />

Vorstellung des Ich-Sinns. Dieser Ich-Sinn existiert im unendlichen<br />

Selbst nicht. Im unendlichen Selbst gibt es keinen Schöpfer, keine Welten,<br />

keinen Himmel, keine Menschen, keine Dämonen, keine Körper, keine Elemente,<br />

keine Zeit, keine Existenz oder Zerstörung, kein „du“, kein „Ich“, kein<br />

Selbst, kein „dies“, weder Wahrheit noch Falschheit, keine Wahrnehmung von<br />

Vielfalt, keine Kontemplation und keine Freuden. Was als einziges ist und als<br />

das Universum bezeichnet wird, ist dieser Höchste Friede. Da ist kein Beginn,<br />

keine Mitte und kein Ende – alles ist alles zu allen Zeiten und jenseits von<br />

Verstehen und Sprache. Schöpfung gibt es nicht. Das Unendliche hat zu keinem<br />

Zeitpunkt seine Unendlichkeit aufgegeben. Jenes ist niemals zu diesem<br />

geworden. Es ist wie der Ozean, jedoch ohne dessen Bewegung. Selbstleuchtend<br />

wie die Sonne ist es, jedoch ohne Tätigkeit. In der Unwissenheit wird das<br />

Höchste Sein als das Objekt, die Welt, gesehen. So wie Raum im unendlichen<br />

Raum existiert und eins mit Raum ist, ebenso ist, was als die Schöpfung erscheint,<br />

Brahman existierend in Brahman als Brahman. Die Vorstellungen von<br />

fern und nah, von Vielfalt, von hier und dort, sind so gültig, wie die Entfernung<br />

zwischen zwei Objekten in einem Spiegel, in dem eine ganze Stadt widerspiegelt<br />

wird.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Am Tag nach dieser halluzinatorischen Erfahrung dachte König Lavaïa: „Ich<br />

sollte nun selbst zu diesen Plätzen gehen, die ich meiner Vision erblickt habe<br />

– vielleicht existieren sie wirklich!“ Unverzüglich rückte er mit seinem Gefolge<br />

aus und begab sich in südliche Richtung. Schon bald begegnete er den<br />

Schauplätzen seiner Visionen und den verschiedenen Leuten, die er dort<br />

kennen gelernt hatte. Er traf tatsächlich dieselben Leute, die er während<br />

seines Lebens als Stammesangehöriger kannte. Er sah sogar seine eigenen,<br />

notleidenden Kinder.<br />

Er erblickte da eine alte Frau, die jammerte und klagte in tiefster Verzweiflung:<br />

„Oh mein geliebter Ehemann – wohin bist du gegangen, und weshalb<br />

hast du uns alle hier zurückgelassen? Ich habe meine schöne Tochter verloren,<br />

die das außerordentliche Glück hatte, einen edlen König als Ehegemahl<br />

zu erhalten. Wohin sind sie alle gegangen? Oh weh! Alle habe ich verloren!“<br />

Der König ging zu ihr, tröstete sie und erfuhr von ihr, dass sie in der Tat die<br />

Mutter seiner Stammesgemahlin war! Aus Mitgefühl gab er ihnen genug<br />

Mittel, um ihre Bedürfnisse zu befriedigenund um ihnen aus der schrecklichen<br />

Dürre herauszuhelfen, die den gesamten Landstrich verwüstet hatte,<br />

III:120,<br />

121<br />

159


wie er am vorigen Tage gesehen hatte. Er blieb einige Zeitlang unter ihnen<br />

und kehrte dann in seinen Palast zurück.<br />

Am nächsten Morgen bat mich der König, dieses Mysterium zu erklären. Mit<br />

meiner Antwort zeigte er sich schließlich völlig zufrieden. Oh Rāma, darin<br />

besteht die Macht der Unwissenheit – sie ist fähig, eine totale Verwirrung<br />

zwischen dem Realen und dem Irrealen zu schaffen.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Weiser, wahrhaftig bereitet dies Kopfzerbrechen! Wie kann das, was in<br />

einem Traum oder einer Halluzination erblickt wurde, denn auch in der Realität<br />

des Wachzustandes erfahren werden?<br />

VASIåèHA antwortete:<br />

Aber oh Rāma, all dies ist Unwissenheit! Die Vorstellungen von fern und<br />

nah, eines Moments und der Ewigkeit, sind nichts als Halluzinationen. Denn<br />

in der Unwissenheit erscheint das Reale als irreal und das Irreale als real. Das<br />

individualisierte Bewusstsein nimmt wahr, was es sich als seine Wahrnehmungen<br />

ausdenkt – aufgrund seiner Konditionierung. Aufgrund der Unwissenheit<br />

entsteht in demselben Moment, in dem die Vorstellung des Ich-Sinns<br />

auftaucht, auch die Täuschung eines Anfangs, einer Mitte und eines Endes.<br />

Wer sich dadurch täuschen lässt, stellt sich vor, dass er ein Tier sei und macht<br />

dessen Erfahrungen. All dies geschieht aufgrund der zufälligen Koinzidenz –<br />

wie die Krähe, die eine Kokospalme anfliegt, sich auf dieser niedersetzt und<br />

im selben Moment eine Frucht hinunterfällt, als ob die Krähe sie gelöst hätte.<br />

Aber die Krähe tat es überhaupt nicht! Auf ähnliche Weise erscheint durch<br />

puren Zufall und in der Unwissenheit das Irreale als real.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In seinem hypnotisierten Zustand vermochte König Lavaïa, reflektiert in<br />

seinem eigenen Bewusstsein, die Heirat eines Prinzen mit einer Stammesangehörigen<br />

zu erblicken, und er erfuhr dies ganz real, als wäre ihm dies wahrhaftig<br />

geschehen. Ein Mann vergisst, was er früher einmal in seinem Leben<br />

getan, auch wenn er viel Zeit und Energie für diese Handlung aufgebracht hat.<br />

Und so denkt er nun, dass er das, was er damals tat, niemals getan hat. Solche<br />

Diskrepanzen in der Erinnerung werden sehr häufig festgestellt.<br />

So wie man manchmal von einem vergangenen Vorfall so träumt, als würde<br />

er gerade jetzt geschehen, so erfuhr Lavaïa in seiner Vision die vergangenen<br />

mit dem Stamm in Verbindung stehenden Vorfälle. Es ist auch möglich, dass<br />

die Leute in den Wäldern der Vindhya-Huegel in ihren eigenen Gemütern<br />

dieselben Visionen erfahren haben, die im Bewusstsein des Lavaïa aufgetaucht<br />

sind. Es ist ferner möglich, dass Lavaïa und die Stammesleute in ihren<br />

eigenen Gemütern jeweils alles das erfahren haben, was auch die anderen<br />

erfahren haben. Halluzinationen dieser Art werden zur Realität, wenn sie von<br />

vielen erfahren werden – so wie eine Behauptung, die von vielen Menschen<br />

geglaubt wird, für wahr gehalten wird. Sobald diese in das eigene Leben<br />

integriert werden, erwerben sie ihren eigenen Anschein der Realität. Denn<br />

160


schließlich – was ist denn die Wahrheit betreffend die Dinge in dieser Welt<br />

anderes als die Art und Weise, wie sie im eigenen Bewusstsein erfahren werden?<br />

Die Unwissenheit ist keine reale Gegebenheit, ebenso wenig wie Öl im Sand<br />

eine reale Gegebenheit ist. Die Unwissenheit und das Selbst können keinerlei<br />

Beziehung miteinander haben, denn es kann eine Beziehung stets nur zwischen<br />

denselben oder ähnlichen Gegebenheiten stattfinden, was sich aus<br />

jedermanns Erfahrung ergibt. Daher ist es allein aufgrund des unendlichen<br />

Bewusstseins, dass alles im Universum kennbar wird. Es ist aber nicht so, als<br />

würde das Subjekt das Objekt beleuchten, welches keine eigene Leuchtkraft<br />

besitzt, sondern es ist so, dass alles selbstleuchtend ist, weil alles nur Bewusstsein<br />

ist – keine wahrnehmende Intelligenz wird benötigt. Es geschieht<br />

durch die Tätigkeit des Bewusstseins, welches seiner selbst bewusst wird,<br />

dass Intelligenz sich selbst manifestiert – es ist nicht so, dass das Bewusstsein<br />

ein lebloses Objekt wahrnimmt.<br />

Es ist nicht korrekt zu sagen, dass es in diesem Universum eine Vermischung<br />

des Leblosen und des Fühlenden gibt, weil sich diese überhaupt nicht<br />

verbinden können. Es geschieht nur deshalb, weil alle Dinge voll Bewusstheit<br />

sind. Wenn dieses Bewusstsein sich selbst erfasst, dann gibt es Wissen.<br />

Man könnte eine Beziehung zwischen einem Baum und einem Stein sehen,<br />

obgleich beide als leblos erscheinen. Jedoch existiert diese Beziehung nur<br />

aufgrund ihrer grundlegenden Bestandteile, die einem bestimmten Wandel<br />

unterworfen worden sind, um einerseits als Baum und andererseits als Stein<br />

zu erscheinen. Dies kann man auch beim Geschmackssinn feststellen – die<br />

Geschmacksnerven der Zunge reagieren auf den Geschmack im Essen usw.<br />

aufgrund der Ähnlichkeit im Aufbau der Substanzen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle Beziehung ist daher die Realisation der schon zuvor existierenden Einheit.<br />

Die vermeintliche Beziehung wird nur deshalb gesehen, weil es zuvor<br />

die falsche und täuschende Annahme einer Getrenntheit in Subjekt und Objekt<br />

gegeben hat. Wahr ist, dass es nur Ein Alles gibt – das unendliche Bewusstsein.<br />

Daher, oh Rāma, realisiere dieses Universum als das unendliche<br />

Bewusstsein. Es ist angefüllt mit den Zaubereien der Macht dieses Bewusstseins<br />

– und doch ist niemals etwas geschehen, denn die Fülle kann nicht mit<br />

mehr angefüllt werden. Es ist nur in dem Sinne angefüllt, wie ein Raum, der<br />

mit einer eingebildeten Stadt gefüllt ist.<br />

Nur wenn das Gold vergessen wird, sieht man da ein Schmuckstück. Das<br />

Schmuckstück ist die illusorische Erscheinung des Goldes – gleich wie die<br />

illusorischen Vorstellungen einer Nation oder der Welt und auch der Wiedergeburten.<br />

Sobald die falsche Vorstellung des Schmuckstücks zurückgewiesen<br />

wird, wird die Wahrheit des Goldes erkannt, und wenn die falsche Vorstellung<br />

der Subjekt-Objekt-Beziehung zurückgewiesen wird, gibt es keinerlei Unwissenheit,<br />

welche Getrenntheiten erschafft. Das Denken allein erschafft alle<br />

diese Getrenntheiten und Illusionen. Wenn es aufhört, hört auch die Schöp-<br />

161


fung auf. Dann erkennst du, dass alle Wellen nur den einen Ozean bilden, dass<br />

Puppen aus Holz sind, Töpfe aus Lehm, und dass diese drei Welten das absolute<br />

Brahman sind.<br />

In der Mitte zwischen dem Gesehenen und der Sicht gibt es eine Beziehung,<br />

die als der Seher bezeichnet wird. Sobald diese Getrenntheit zwischen dem<br />

Seher, der Sicht und dem Gesehenen aufgegeben wird, ist da das Höchste.<br />

Wenn das Gemüt von einem Land in das andere reist, dann befindet sich<br />

dazwischen nichts als die kosmische Intelligenz. Sei dieses für immer. Deine<br />

wahre Natur ist verschieden vom begrenzten wachen, träumenden und schlafenden<br />

Bewusstsein – sie ist ewiglich, unkennbar, nicht leblos. Verbleibe<br />

immer als dieses. Entferne die Stumpfheit und sei verankert in der Wahrheit<br />

deines Herzens. Verbleibe sodann, unabhängig davon, ob du intensiv tätig<br />

oder in Kontemplation bist, als dieses allein – ohne Verlangen, Hass und ohne<br />

dich in das Körperbewusstsein zu verwickeln. So wie du dich nicht um die<br />

Angelegenheiten eines zukünftigen Dorfes kümmerst, so lass dich nicht in die<br />

Stimmungen deines Gemüts verwickeln, sondern sei in der Wahrheit verankert.<br />

Betrachte das Gemüt wie einen Fremden oder ein Stück Holz oder einen<br />

Stein. Im unendlichen Bewusstsein gibt es kein Gemüt. Was von diesem nichtexistenten<br />

Gemüt getan wird, ist irreal. Sei verankert in dieser Erkenntnis.<br />

Die Wahrheit ist, dass dieses Gemüt überhaupt nicht existiert – und wenn<br />

es je existiert hat, dann ist es jetzt tot. Und doch sieht dieses tote Gemüt alles<br />

dieses, was folglich nichts als falsche Wahrnehmung ist. Sei fest in dieser<br />

Erkenntnis verankert. Derjenige, der von diesem Gemüt regiert wird, welches<br />

völlig inexistent ist, ist wirklich geisteskrank und glaubt, dass vom Mond ein<br />

Donnerblitz herabfährt! Weise daher den Glauben an die Wirklichkeit des<br />

Gemüts gänzlich von dir und widme dich dem rechtem Denken und der Meditation.<br />

Ich habe diese Wahrheit betreffend das Gemüt über eine sehr lange<br />

Zeit hindurch erforscht, oh Rāma, und habe es nirgends gefunden – nur das<br />

unendliche Bewusstsein existiert.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Dieser anscheinend endlose Strom der Unwissenheit kann nur mit Hilfe der<br />

stetigen Gesellschaft der Heiligen überquert werden. Daraus entsteht die<br />

Weisheit und man erkennt, was wert ist zu suchen und was man vermeiden<br />

sollte. Schließlich entsteht daraus der reine Wunsch nach der Erlangung der<br />

Befreiung. Dies führt zur ernsthaften Erforschung. Schließlich wird das Gemüt<br />

subtil, weil die Erforschung die mentale Konditionierung ausdünnt. Als<br />

Ergebnis des Aufsteigens der reinen Weisheit bewegt sich das eigene Bewusstsein<br />

in der Wirklichkeit. Dann verschwindet die mentale Konditionierung<br />

und es gibt die Nicht-Anhaftung. Die Bindung an Handlungen und ihre<br />

Früchte hört auf. Die eigene Sicht wird fest in der Wahrheit verwurzelt und<br />

die Wahrnehmung des Unwirklichen geschwächt. Obwohl er in dieser Welt<br />

lebt und tätig ist, erfüllt derjenige, der über diese unkonditionierte Sicht<br />

verfügt, seine Arbeiten als ob er schlafend wäre – ohne an die Welt und ihre<br />

Vergnügen zu denken. Nachdem er einige Jahre so gelebt hat, wird er voll-<br />

III:122<br />

162


ständig befreit und geht jenseits all dieser Zustände – er ist, noch lebend,<br />

befreit.<br />

Ein solch befreiter Weiser ist nicht entzückt über das, was er gewinnt, noch<br />

trauert er um das, was er nicht hat. Oh Rāma, auch in dir wurde die Konditionierung<br />

des Gemüts geschwächt – strebe danach, die Wahrheit zu erfassen.<br />

Mit der Erkenntnis des Selbst, welches unendliches Bewusstsein ist, wirst du<br />

jenseits von Trauer, Täuschung, Geburt und Tod, Glück und Unglück gehen.<br />

Das Selbst ist eins und ungeteilt, und so hast du keine Verwandten und daher<br />

auch keine Sorgen, die aus diesen falschen Beziehungen entstehen. Das Selbst<br />

ist eins und ungeteilt, und so gibt es nichts mehr zu wünschen oder zu erreichen.<br />

Dieses Selbst ist keinerlei Wandel unterworfen und stirbt niemals –<br />

wenn der Topf zerbrochen ist, wird doch der Raum darin nicht zerbrochen.<br />

Sobald die mentale Konditionierung überwunden und das Gemüt vollkommen<br />

still geworden ist, gelangt diese Täuschung, die den Unwissenden irreführt,<br />

an ihr Ende. Es geschieht nur aufgrund dieser nicht klar verstandenen<br />

Illusion (Māyā), dass sie diese gewaltige Täuschung zu erschaffen vermag.<br />

Wird sie dagegen klar verstanden, dann wird sie als das Unendliche selbst<br />

gesehen und die Quelle des Glücks und der Verwirklichung des absoluten<br />

Brahman. Es ist nur wegen der spirituellen Unterweisung, dass man vom<br />

Selbst, Brahman usw. spricht. In Wahrheit gibt es nur Eines. Es ist reines<br />

Bewusstsein – kein verkörpertes Wesen. Es ist – ob man es nun kennt oder<br />

nicht, ob man verkörpert oder ohne Körper ist. All dieses Unglücklichsein, das<br />

du in dieser Welt siehst, gehört zum Körper. Das Selbst, welches von den<br />

Sinnen nicht erfasst werden kann, ist jenseits des Kummers. Im Selbst ist<br />

keinerlei Wunsch – die Welt erscheint in ihm ohne einen Wunsch oder eine<br />

Absicht. Oh Rāma, durch meine Unterweisung ist nun die falsche Vorstellung<br />

von der Schöpfung und ihrer Existenz zerstreut worden. Dein Bewusstsein ist<br />

rein geworden – frei von aller Dualität.<br />

* * *<br />

163


Teil IV: Über die Existenz<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, nach der Darlegung der wahren Natur der Weltentstehung werde<br />

ich nun die Darlegung der wahren Natur der Fortdauer dieser Welterscheinung<br />

behandeln. Es gibt die Existenz der Welt als Objekt der Wahrnehmung<br />

nur so lange, wie die Illusion dieser Welterscheinung andauert. Tatsächlich ist<br />

sie so wirklich wie die Traumerscheinung, denn sie ist das Ergebnis von<br />

nichts, was aus nichts heraus von niemandem und mit nichts entstanden ist.<br />

Diese Welterscheinung wird nur wie ein Tagtraum erfahren – sie ist essenziell<br />

unwirklich. Sie ist eine Malerei in der Leere – wie die Farben des Regenbogens.<br />

Sie ist wie ein in die Ferne reichender Dunst – wenn du ihn zu ergreifen<br />

versuchst, ist da nichts. Einige Philosophen betrachten sie als leblose<br />

Substanz oder Leere, oder wie ein Aggregat von Atomen.<br />

RùMA fragte:<br />

Es wurde zuvor gesagt, dass dieses Universum in einem Samenzustand im<br />

Höchsten Sein verbleibt und sich dann in der nächsten Weltepoche erneut<br />

manifestiert. Wie kann dies sein, und werden diejenigen, die diese Sichtweise<br />

vertreten, als Erleuchtete oder Unwissende angesehen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Diejenigen, die sagen, dass dieses Universum nach der kosmischen Auflösung<br />

in einem Samenzustand existiert, haben den festen Glauben an die Realität<br />

dieses Universums! Dies ist reine Unwissenheit, oh Rāma. Es handelt sich<br />

dabei um eine völlig verkehrte Sicht, die sowohl den Lehrer als auch den<br />

Zuhörer irreführt. Der Same einer Pflanze enthält den zukünftigen Baum.<br />

Dies ist möglich, weil sowohl der Same als auch der Keimling materielle Objekte<br />

sind, die von den Sinnen und dem Verstand wahrgenommen werden<br />

können. Jedoch wie könnte, was sich jenseits der Reichweite von Verstand<br />

und Sinnen befindet, der Same der Welten sein?<br />

Wie kann in dem, was subtiler als Raum selber ist, der Same des Universums<br />

existieren? Wenn dies so ist – wie kann dann das Universum aus dem<br />

Höchsten Sein entspringen?<br />

Wie kann etwas in nichts existieren? Und wenn es da etwas namens „Universum“<br />

gibt – wie ist es möglich, dass es nicht gesehen wird? Wie kann ein<br />

Baum im leeren Raum eines Topfes entstehen? Wie können wohl zwei gegensätzliche<br />

Dinge (Brahman und das Universum) gemeinsam existieren? Kann<br />

denn in der Sonne Dunkelheit sein? Es ist angemessen zu sagen, dass der<br />

Baum im Samen existiert, weil beide ihre entsprechenden Formen besitzen.<br />

Aber von dem, was ohne jede Form ist (Brahman), kann nicht angemessen<br />

behauptet werden, dass in diesem diese kosmische Form der Welt existiert.<br />

Es ist folglich reine Torheit zu unterstellen, dass es zwischen Brahman und<br />

der Welt eine kausale Beziehung gibt. Die Wahrheit ist, dass Brahman allein<br />

IV:1<br />

164


IV:2,3<br />

existiert und das, was als die Welt erscheint, nur das ist (Brahman) und nichts<br />

anderes.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, wenn das Universum im absoluten Brahman während der kosmischen<br />

Auflösung in einem Samenzustand existieren würde, dann würde es für<br />

seine Manifestation nach der Auflösung einer zusammenwirkenden Ursache<br />

bedürfen. Anzunehmen, dass das manifestierte Universum ohne eine solche<br />

zusammenwirkende Ursache existieren könnte, käme der Annahme gleich,<br />

dass eine unfruchtbare Frau eine Tochter haben kann. Daher muss als die<br />

fundamentale Ursache die eigentliche Natur des Höchsten Seins selbst gesehen<br />

werden, welche es auch während der Periode nach der Auflösung dieser<br />

Weltschöpfung beibehält. Zwischen dem Höchsten Sein und dem Universum<br />

existiert keinerlei Ursache-Wirkung-Beziehung.<br />

Im unendlichen Bewusstsein (cid ākāśa) erscheinen Millionen von Universen<br />

wie Staubpartikel in einem Lichtstrahl, der durch ein Loch im Dach in ein<br />

Zimmer fällt. Aber wie diese Staubpartikel draußen im vollen Sonnenlicht<br />

nicht gesehen werden, so wird auch diese Welt im höchsten, nicht-dualen<br />

Bewusstsein nicht gesehen. Dies ist so, weil diese Universen nicht verschieden<br />

vom unendlichen Bewusstsein sind – so wie die eigene Natur nicht verschieden<br />

von einem selbst ist.<br />

Am Ende der kosmischen Auflösung taucht der Schöpfer des Universums<br />

auf, der nichts anderes als ein Gedanke aus der Erinnerung ist. Die Gedanken,<br />

die aus dieser Erinnerung entstehen, bilden diese Welterscheinung, die nicht<br />

realer als ein schöner Traum ist: denn die Erinnerung, aus der diese Gedanken<br />

entsprungen sind, hat selbst keinerlei reale Basis. Alle Gottheiten des<br />

vorherigen Weltzyklus (wie der Schöpfer Brahmā u.a.) haben ganz gewiss die<br />

Befreiung erlangt. Wenn es niemanden gibt, der sich erinnert – wie könnte<br />

dann die Erinnerung existieren?<br />

Folglich erscheint diese Erinnerung, die im Bewusstsein auftaucht (ob aufgrund<br />

früherer Erfahrungen oder anderweitig) als die Welt. Diese spontane<br />

Welterscheinung im unendlichen Bewusstsein wird als spontane Schöpfung<br />

bezeichnet. Diese Welterscheinung nahm eine gewisse ätherische Gestalt an,<br />

die man die kosmische Person nennt.<br />

In einem winzigen Atom scheinen alle drei Welten mit allen ihren Bestandteilen<br />

wie Raum, Zeit, Handlung, Substanz und Tag und Nacht zu existieren. In<br />

diesen Welten gibt es wiederum weitere Atome, in denen es dieselben Welterscheinungen<br />

gibt – so wie es das noch nicht herausgehauene Bildnis in<br />

einem Marmorblock gibt, und wie dieses Bildnis in sich selbst weitere Bildnisse<br />

enthält und so weiter ad infinitum. Das ist der Grund, oh Rāma, weshalb<br />

diese Vision sowohl in den Augen der Erleuchteten und der Unwissenden<br />

nicht verschwindet. Für den Erleuchteten ist dies immer nur Brahman, während<br />

es für den Unwissenden immer nur die Welt ist! In der gänzlichen Leere<br />

siehst du das, was man als „Entfernung” bezeichnet, wie du im unendlichen<br />

165


Bewusstsein das siehst, was man als „Schöpfung“ bezeichnet. Die Schöpfung<br />

ist nur ein Wort ohne die damit im Zusammenhang stehende Realität.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Śukra<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, der einzige Weg zur Überquerung dieses ungeheuren Ozeans der<br />

Welterscheinung besteht in der erfolgreichen Beherrschung der Sinne. Keine<br />

andere Bemühung kann erfolgreich sein. Wer mit der Weisheit ausgerüstet<br />

ist, wie sie durch das Studium der Schriften und die Gemeinschaft mit Weisen<br />

vermittelt wird, und wer seine Sinne unter Kontrolle hat, der realisiert die<br />

absolute Nicht-Existenz sämtlicher Objekte der Wahrnehmung.<br />

Rāma, es ist nur das Gemüt, das als all dies erscheint. Sobald es geheilt ist,<br />

ist gleichzeitig diese Idee der Welterscheinung geheilt. Es ist nur dieses Gemüt,<br />

das durch seine Fähigkeit des Denkens das heraufbeschwört, was man<br />

den Körper nennt – wo das Gemüt nicht tätig ist, wird auch der Körper nicht<br />

gesehen! Folglich ist die Behandlung dieser psychologischen Krankheit, die<br />

als Wahrnehmung von Objekten bezeichnet wird, die beste Behandlung, die<br />

man in dieser Welt erlangen kann. Das Gemüt erzeugt die Täuschung, das<br />

Gemüt produziert die Ideen von Geburt und Tod – und als Ergebnis seiner<br />

eigenen Gedankentätigkeit wird es dann gebunden und schließlich befreit.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh heiliger Weiser, bitte sage mir: Wie kann dieses riesige Universum im<br />

Gemüt existieren?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, es ist wie mit den Universen, die von den zehn brāhmaïa-Söhnen<br />

erzeugt wurden. Und außerdem ist es wie bei den Halluzinationen, unter<br />

denen König Lavaïa gelitten hatte. Es gibt dafür eine weitere Erläuterung. Sie<br />

besteht in der Geschichte des Weisen Śukra, die ich dir nun erzählen werde.<br />

Vor langer Zeit übte der Weise Bh­gu auf dem Gipfel eines Berges sehr intensive<br />

Bußübungen aus. Sein Sohn Śukra war zu dieser Zeit noch ein junger<br />

Mann. Während der Vater bewegungslos in Meditation saß, sorgte der junge<br />

Sohn für die Bedürfnisse des Vaters. Eines Tages erblickte dieser junge Mann<br />

am Himmel eine herrliche fliegende Nymphe. Als er sie sah, war sein Gemüt<br />

tief aufgewühlt von Verlangen nach ihr, und ebenso erging es der Nymphe, als<br />

sie den strahlenden jungen Śukra sah.<br />

Gänzlich von seinem Verlangen nach dieser Nymphe überwältigt, schloss<br />

Śukra seine Augen und folgte ihr (mental). So erreichte er den Himmel. Dort<br />

IV:4,<br />

5, 6<br />

166


sah er die herrlichen himmlischen Wesen, die Götter und ihre Gemahlinnen,<br />

die himmlischen Elefanten und Pferde. Er sah den Schöpfer Brahmā persönlich<br />

und alle die anderen Gottheiten, die dieses Universum regieren. Er sah<br />

weiterhin die siddhas (die vollkommenen Wesen). Er hörte himmlische Musik.<br />

Er besuchte die himmlischen Gärten. Schließlich sah er auch noch Indra,<br />

den König des Himmels, wie er in all seiner Majestät dort saß und von unzähligen<br />

himmlischen Nymphen umgeben war, die ihm aufwarteten. Er grüßte<br />

Indra. Auch Indra grüßte ihn und stieg von seinem Thron herab, um den<br />

jungen Weisen Śukra zu grüßen. Er bat ihn, für lange Zeit im Himmel zu bleiben.<br />

Śukra war damit einverstanden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Śukra hatte seine frühere Identität völlig vergessen. Nachdem er einige Zeit<br />

am Hofe Indras verbracht hatte, durchzog Śukra den Himmel und entdeckte<br />

schon bald den Aufenthaltsort der Nymphe, die er gesehen hatte. Als sie<br />

einander sahen, wurden sie wiederum von gegenseitigem Verlangen überwältigt,<br />

denn die Wunscherfüllung gehört zu den besonderen Eigenschaften des<br />

Himmels.<br />

Śukra wünschte, dass die Dunkelheit der Nacht eintreten und den Lustgarten<br />

umhüllen möge, damit er dort die Nymphe treffen könne. Daraufhin wurde<br />

es dunkel. Śukra betrat dann den wunderschönen Pavillon in diesem Garten,<br />

und die Nymphe folgte ihm dorthin. Sie flehte ihn an: „Du Großartiger, ich<br />

werde von dem Wunsch nach dir verzehrt. Nur die Stumpfsinnigen verlachen<br />

die Liebe, nicht die Weisen. Sogar die Herrschaft über die drei Welten ist<br />

nichts im Vergleich mit der Freude, die die Gesellschaft des Geliebten bereitet.<br />

Daher bitte ich dich – gewähre mir einen Platz in deinem Herzen.“ Nachdem<br />

sie so gesprochen hatte, sank sie an seine Brust.<br />

Śukra verbrachte eine sehr lange Zeit mit dieser Nymphe und zusammen<br />

zogen sie nach Lust und Laune durch den Himmel. Er lebte mit dieser Nymphe<br />

für einen Zeitraum von acht Weltzeitaltern.<br />

Nach dieser Zeit, als ob seine Verdienste erschöpft waren, fiel Śukra zusammen<br />

mit der Nymphe aus dem Himmel. Ihre subtilen Körper fielen auf die<br />

Erde und wurden zu Tautropfen, die in Getreidehalme eingingen. Diese wiederum<br />

wurden von einem heiligen brāhmaïa verzehrt, und von ihm empfing<br />

dessen Frau seine Samenessenz. Śukra wurde ihr Sohn. Er wuchs bei ihnen<br />

auf. Die Nymphe wurde zu einem Reh, und Śukra erhielt von ihr ein menschliches<br />

Kind. Er entwickelte eine große Zuneigung zu seinem Sohn. Die durch<br />

seinen Sohn entstehenden Sorgen und Ängste ließen Śukra altern, und so<br />

starb er, immer noch nach Vergnügen verlangend.<br />

Aufgrund dessen wurde Śukra in seiner nächsten Geburt zum Regenten eines<br />

Königreiches. In dieser Verkörperung starb er, nachdem er den Wunsch<br />

nach einem Leben der Enthaltsamkeit und Heiligkeit entwickelt hatte. In<br />

seiner nächsten Geburt wurde er dann zu einem heiligen Mann.<br />

IV:7,<br />

5, 6<br />

167


IV:10<br />

Nachdem er von einer Verkörperung zur nächsten gewandert und alle möglichen<br />

Arten von Schicksalen ausgelebt hatte, praktizierte Śukra schließlich,<br />

beharrlich am Ufer eines Flusses stehend, sehr intensive Bußübungen.<br />

So verbrachte Śukra eine lange Zeit – vor seinem Vater sitzend und in Kontemplation<br />

versunken. Sein Körper war ausgezehrt. Währenddessen erzeugte<br />

der ruhelose Verstand eine Vielzahl aufeinanderfolgender Bilder von Lebensspannen<br />

- Geburt und Tod, Aufstieg in den Himmel und Abstieg zur Erde und<br />

das friedvolle Leben eines Einsiedlers. Er war so vertieft in sie, dass er sie als<br />

die Wahrheit betrachtete. Der Körper wurde zu Haut und Knochen, denn er<br />

war sämtlichen Unbilden des Wetters schutzlos ausgesetzt. Schon sein Anblick<br />

war entsetzlich. Und doch wurde er nicht von fleischfressenden, wilden<br />

Tieren verzehrt, denn er saß direkt vor dem Weisen Bh­gu, der in tiefe Meditation<br />

versunken war, und Śukra selbst hatte den Körper durch die Praxis des<br />

<strong>Yoga</strong> mit großer psychischer Kraft ausgestattet.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nach einhundert himmlischen Jahren der Kontemplation stand der Weise<br />

Bh­gu von seinem Sitz auf. Er sah seinen Sohn Śukra nicht vor sich, sondern<br />

nur den ausgetrockneten Körper. Der Körper sah abscheulich aus, denn in der<br />

Zwischenzeit war er zu einer Wohnstätte von Würmern geworden, die in<br />

seinen Augenhöhlen lebten und sich sehr schnell vermehrten. Tief bestürzt<br />

über das, was er sah, und ohne wirklich über den natürlichen Lauf der Dinge<br />

nachzudenken, war Bh­gu erfüllt von Zorn und verfluchte die Zeit dafür, diesen<br />

unzeitgemäßen Tod seines Sohnes verursacht zu haben.<br />

Die ZEIT (bzw. der Tod) erschien unverzüglich in physischer Gestalt vor<br />

dem Weisen. Die ZEIT hielt in der einen Hand ein Schwert und in der anderen<br />

eine Schlinge. Sie hatte eine undurchdringliche Rüstung. Sie besaß sechs<br />

Arme und sechs Gesichter. Sie war umgeben von einer großen Anzahl von<br />

Dienern und Boten. Die ZEIT strahlte mit den Flammen der Vernichtung, die<br />

von ihrem Körper ausgingen, und von den Waffen, die sie in Händen hielt.<br />

Ruhig und mit fester Stimme wandte sich die ZEIT an Bh­gu:<br />

Oh Weiser, wie kommt es, dass ein Großer wie du ein solch unwürdiges Betragen<br />

in Erwägung gezogen hat? Weise Männer sind niemals zornig – auch<br />

nicht, wenn sie beleidigt werden. Du hast jedoch das Gleichgewicht deines<br />

Gemüts verloren, obwohl niemand dich beleidigt hat! In Wirklichkeit bist du<br />

eine verehrungswürdige Person, und ich gehöre zu denjenigen, die sich stets<br />

an die vorgeschriebenen Verhaltensweisen halten. Und aus diesem Grunde<br />

grüße ich dich, nicht jedoch aus einem anderen Grund.<br />

Vertue nicht deine Verdienste durch die nutzlose Zurschaustellung deiner<br />

Macht zu verfluchen! Wisse, dass ich sogar von den Feuern der kosmischen<br />

Auflösung unberührt bleibe Wie kindisch ist angesichts dessen deine Hoffnung,<br />

mich mit deinem Fluch zu beseitigen!<br />

Ich bin die Zeit. Ich habe nicht nur zahllose Wesen getötet, sondern sogar<br />

die Götter, die dieses Universum regieren. Du Heiliger, ich bin der Essende<br />

168


und du bist unsere Nahrung. So ist es durch die Natur bestimmt. Diese Beziehung<br />

beruht nicht auf wechselseitiger Ab- oder Zuneigung. Aufgrund ihrer<br />

wahren Natur flammt das Feuer himmelaufwärts und die Wasser fließen<br />

abwärts. Ebenso sucht die Nahrung den Essenden und die erschaffenen Dinge<br />

suchen ihr Ende. So wurde es vom Herrn festgelegt: Im Selbst von allen<br />

wohnt das Selbst als es selbst. In der reinen Sichtweise gibt es weder einen<br />

Täter noch einen Genießenden, während dagegen die unreine Sichtweise, die<br />

stets die Getrenntheit wahrnimmt, diese Getrenntheit als Wirklichkeit wahrzunehmen<br />

glaubt.<br />

Du dagegen bist in der Tat ein Kenner der Wahrheit, und du weißt, dass es<br />

weder eine Täterschaft noch eine Nicht-Täterschaft gibt. Die Wesen kommen<br />

und gehen wie die Blüten der Bäume – ihre Verursachung beruht auf nichts<br />

anderem als Mutmaßung. All dieses ist der Zeit zuzuschreiben. Man kann dies<br />

als real oder irreal ansehen. Denn wenn die Oberfläche eines Sees aufgewühlt<br />

wird, dann scheint auch der Mond sich aufgrund seiner Widerspiegelung zu<br />

bewegen. Man kann dies gleichzeitig als wahr und falsch betrachten.<br />

Die ZEIT fuhr fort:<br />

Ergib dich nicht dem Zorn, oh Weiser, denn das wäre der sichere Weg in<br />

das Unheil. Was sein soll, das wird auch sein. Erkenne diese Wahrheit. Wir<br />

sind nicht durch persönliche Eitelkeit angetrieben – wir erfüllen auf natürliche<br />

Weise unsere natürlichen Funktionen. Das ist in der Tat die Natur der<br />

Weisen. Was getan werden muss, muss von den Weisen hier getan werden,<br />

die egolos und ohne jeden Ich-Sinn wie im tiefen Schlaf verbleiben: dagegen<br />

sollst du dich nicht vergehen.<br />

Wo sind deine Weisheit, deine Größe und deine moralische Kraft geblieben?<br />

Oh Weiser, weshalb handelst du wie ein Narr, obwohl du den Pfad des Segens<br />

kennst? Gewiss doch ist dir bekannt, dass die reife Frucht zu Boden fällt –<br />

weshalb also ignorierst du dies und willst mich verfluchen?<br />

Und ganz gewiss ist dir bekannt, dass jeder über zwei Körper verfügt, nämlich<br />

über den physischen und den mentalen. Der physische Körper ist leblos<br />

und geht seiner Zerstörung entgegen. Das Gemüt ist endlich, aber zur<br />

Geordnetheit fähig. Jedoch ist dieses Gemüt in dir jetzt in einem ungeordneten<br />

Zustand! Das Gemüt bringt den Körper dazu, nach seiner Pfeife zu tanzen<br />

und verursacht unablässig Veränderungen in ihm – wie das Kind, welches mit<br />

Lehm spielt. Handlungen sind immer nur mentale Handlungen. Die Gedanken<br />

verursachen Bindung, während der reine Zustand des Gemüts Befreiung<br />

bedeutet. Es ist das Gemüt, das den Körper mit all seinen Gliedern erschafft.<br />

Das Gemüt bildet gleichzeitig die belebten und leblosen Wesenheiten. Diese<br />

ganze unendliche Vielfalt besteht aus nichts anderem als dem Gemüt. Das<br />

Gemüt mit seiner Funktion der Entschlossenheit wird Intellekt genannt. In<br />

seiner Funktion der Identifiziertheit wird es als der Ich-Sinn bezeichnet. Der<br />

physische Körper besteht nur aus physischer Materie, während das Gemüt<br />

ihn jedoch als seinen eigenen betrachtet. Wendet sich das Gemüt dagegen der<br />

169


Wahrheit zu, gibt es seine Identifikation mit dem Körper auf und erlangt das<br />

Höchste.<br />

Oh Weiser, während du in Kontemplation versunken warst, ging dein Sohn<br />

in seiner Fantasie zu weit, weit entfernten Orten. Er ließ diesen Körper, der<br />

als „der Sohn von Bh­gu“ betrachtet wurde, zurück und stieg in den Himmel<br />

auf. Dort erfreute er sich der himmlischen Nymphen. Im Laufe der Zeit, als<br />

seine Verdienste aufgrund der genossenen Freuden erschöpft waren, fiel er<br />

wie eine reife Frucht zusammen mit der Nymphe auf die Erde zurück. Seinen<br />

himmlischen Körper musste er zurücklassen. Er fiel auf die Erde, um dort mit<br />

einem physischen Körper wiedergeboren zu werden. Hier auf der Erde hatte<br />

er eine Reihe von Geburten zu durchleben. So wurde er nacheinander zu<br />

einem brāhmaïa-Knaben, einem König, einem Fischer, einem Schwan, wiederum<br />

zu einem König, einem großen Yogi mit psychischen Kräften, einem<br />

himmlischen Halbgott, dem Sohn eines Weisen, wieder zu einem König und<br />

wiederum zum Sohn eines Weisen. Aufgrund schlechter Taten wurde er danach<br />

zu einem Jäger, einem König, und schließlich zu Würmern und Pflanzen,<br />

zu einem Esel, einem Bambus, einem Reh in China, einer Schlange, einem<br />

Vogel, und wiederum zu einem Halbgott. Jetzt ist er erneut zum Sohn eines<br />

brāhmaïa namens Vasudeva geworden. Er ist gut bewandert in den Schriften<br />

und ist gegenwärtig mit Bußübungen am Ufer des heiligen Flusses Samañga<br />

beschäftigt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ermutigt von Yama (der Zeit) erschaute der Weise Bh­gu daraufhin mit dem<br />

Auge der Weisheit das Leben seines Sohnes. In einem Augenblick sah er in<br />

seinem Intellekt den gesamten Ablauf der Wiederverkörperungen seines<br />

Sohnes. Von Staunen über das ergriffen, was er da gesehen hatte, kam er<br />

zurück in seinen Körper.<br />

Nun vollständig frei von aller Anhaftung an seinen Sohn, sagte BHãGU:<br />

Hoher Herr, du bist in der Tat der Kenner der Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft, während wir hier nur wenig von all dem begreifen. Diese Welterscheinung,<br />

die unwirklich ist und doch als wirklich erscheint, täuscht sogar<br />

die heroischen Männer der Weisheit. Gewiss befindet sich all dies innerhalb<br />

von dir selbst. Nur du kennst die wahre Gestalt dieses Phantoms, welches von<br />

den Einbildungen des Verstandes geschaffen wurde.<br />

Dieser mein Sohn ist nicht tot – jedoch geriet ich in Erregung, weil ich ihn<br />

für tot hielt. Ich dachte, dass mein Sohn von mir genommen wurde, noch<br />

bevor seine Zeit gekommen war. Hoher Herr, obwohl wir den Verlauf der<br />

irdischen Ereignisse verstehen, werden wir zu Freude und Schmerz bewegt,<br />

von dem, was wir als ein glückliches oder ein unglückliches Geschick betrachten.<br />

In dieser Welt bringt der Zorn den Menschen dazu zu tun, was nicht getan<br />

werden sollte, während die Stille uns fähig macht, das zu tun, was getan werden<br />

sollte. Solange diese Täuschung der Weltexistenz besteht, so lange ist<br />

IV:11<br />

170


auch die Unterscheidung zwischen der angemessenen und unangemessenen<br />

Handlung gültig. Es ist nicht angemessen, dass wir uns von deiner natürlichen<br />

Funktion erregen lassen, welche die Ursache des scheinbaren Todes der<br />

Wesen ist.<br />

Durch deine Gnade habe ich meinen Sohn wiedergesehen, und ich habe erkannt,<br />

dass der Körper nichts anderes als das Gemüt ist. Und es ist dieses<br />

Gemüt, welches diese Welterscheinung heraufbeschwört.<br />

Die ZEIT sagte:<br />

Gut gesprochen, oh Weiser! Wahr ist es, dass der Körper nur dieses Gemüt<br />

ist. Es ist das Gemüt, welches durch reine Gedankentätigkeit den Körper<br />

„erschafft“ – so wie der Töpfer einen Topf herstellt. Es erzeugt neue Körper<br />

und bewirkt die Zerstörung dessen, was existiert, und all dies durch bloßen<br />

Gedankenwunsch. Es ist ganz offensichtlich, dass im Gemüt die Fähigkeiten<br />

der Täuschung oder Halluzination, des Träumens und des irrationalen Denkens<br />

existieren, die all die schönen Luftschlösser erzeugen. Auf dieselbe Weise<br />

erzeugt es in sich selbst die Erscheinung des Körpers. Der unwissende<br />

Mensch mit einer groben physischen Sichtweise jedoch betrachtet den physischen<br />

Körper als getrennt und unabhängig vom Gemüt.<br />

Die drei Welten (von Wachen, Träumen und Schlafen) sind nichts als der<br />

Ausdruck der Fähigkeiten des Gemüts, und dieser Ausdruck kann weder als<br />

real noch irreal erachtet werden. Wenn das Gemüt, durch die Wahrnehmung<br />

von Vielfalt konditioniert, zu „sehen“ beginnt, dann sieht es die Vielfalt.<br />

Die ZEIT fuhr fort:<br />

Das Gemüt verwickelt sich selbst in diese Welterscheinung, indem es zahllose<br />

Vorstellungen (wie etwa „ich bin schwach, unglücklich, töricht “ usw.)<br />

unterhält. Wenn dann das Verstehen auftaucht, dass all dies nur falsche Vorstellungen<br />

des Gemüts sind – ‚Ich bin, was ich bin‘ – dann taucht der Friede<br />

des Höchsten im Bewusstsein des Menschen auf.<br />

Das Gemüt ist wie ein ungeheurer Ozean mit einer unendlichen Vielfalt von<br />

Wesen darin. Auf seiner sich stets kräuselnden Oberfläche steigen und fallen<br />

große und kleine Wellen unablässig auf und ab. Die kleine Welle denkt, dass<br />

sie klein ist, und die große denkt, dass sie groß ist. Diejenige, die vom Wind<br />

gebrochen wird, denkt, dass sie zerstört ist. Eine andere glaubt, dass es kalt<br />

und wieder eine andere, dass es warm ist. Alle Wellen sind jedoch nichts als<br />

das Wasser des Ozeans. Es ist in der Tat wahr, dass es keinerlei Wellen im<br />

Ozean gibt, sondern dass der Ozean allein existiert. Und doch ist ebenso wahr,<br />

dass es die Wellen gibt!<br />

Auf dieselbe Weise existiert auch das absolute Brahman. Da es allmächtig<br />

ist, erscheint der natürliche Ausdruck seiner unendlichen Möglichkeiten als<br />

die unendliche Vielfalt in diesem Universum. Die Vielfalt hat keinerlei reale<br />

Existenz außer in der eigenen Einbildungskraft. „All dies ist wahrhaftig das<br />

absolute Brahman“ — bleibe stets in dieser Wahrheit verwurzelt. Gib alle<br />

anderen Vorstellungen auf. So wie die Wellen nicht verschieden vom Ozean<br />

171


IV:12, 13<br />

sind, so sind alle diese Dinge nicht verschieden von Brahman. So wie der<br />

Same in sich den ganzen Baum als Möglichkeit birgt, so existiert in Brahman<br />

das gesamte Universum für alle Zeiten. So wie der vielfarbige Regenbogen im<br />

Sonnenlicht entsteht, so wird all diese Vielfalt in dem Einen gesehen. So wie<br />

das leblose Netz aus der lebendigen Spinne heraus entsteht, so entspringt<br />

diese leblose Welterscheinung aus dem unendlichen Bewusstsein.<br />

So wie die Seidenraupe sich in seinen Kokon einspinnt und selbst bindet, so<br />

fantasiert das unendliche Sein dieses Universum und sieht sich schließlich in<br />

diesem gefangen. So wie sich ein Elefant mühelos von dem Pfahl losreißt, an<br />

den er gefesselt ist, so befreit sich das Selbst selbst von seiner Bindung. Denn<br />

das Selbst ist stets nur das, wofür es sich hält. Für den Höchsten Herrn gibt es<br />

weder Bindung noch Befreiung. Ich habe keine Ahnung, wie diese Auffassungen<br />

von Bindung und Befreiung überhaupt entstehen konnten! Da gibt es<br />

weder Bindung noch Befreiung – nur dieses unendliche Sein wird gesehen.<br />

Und doch wird dieses Ewigliche durch das Vergängliche verhüllt, und dies ist<br />

in der Tat ein großes Wunder (oder eine große Illusion).<br />

Im Moment, wo dieses Gemüt sich im unendlichen Bewusstsein manifestiert,<br />

entstehen auch die Vorstellungen von Vielfalt, und diese Vorstellungen<br />

existieren im unendlichen Bewusstsein. Aufgrund dessen scheinen in diesen<br />

Universum all diese verschiedenen Gottheiten und die zahllosen Wesen der<br />

Schöpfung zu existieren — einige von ihnen langlebig, andere dagegen kurzlebig,<br />

wieder andere sind anscheinend groß oder klein, und einige sind glücklich<br />

oder unglücklich. Alle diese lebendigen Wesenheiten sind nichts als Vorstellungen<br />

im unendlichen Bewusstsein. Manche betrachten sich selbst als<br />

unwissend und gebunden, andere sind ohne Unwissenheit und befreit.<br />

Die ZEIT fuhr fort:<br />

Oh Weiser! Götter, Dämonen und menschliche Wesen sind nicht verschieden<br />

von diesem kosmischen Ozean des Bewusstseins, der Brahman genannt<br />

wird – dies ist die Wahrheit, alle anderen Annahmen sind falsch. Sie (die<br />

Götter usw.) unterhalten falsche Vorstellungen (wie etwa „ich bin nicht das<br />

Absolute“) und überlagern sich selbst mit Unreinheit und dem Empfinden<br />

einer Entwertung. Aber auch diese sind für alle Zeit in diesem kosmischen<br />

Ozean des Bewusstseins, obschon sie sich selbst als getrennt von Brahman<br />

betrachten und daher irregeführt sind. Obgleich sie für immer rein sind,<br />

überlagern sie sich mit Unreinheit, was dann der Same all ihrer Handlungen<br />

und deren Konsequenzen ist; d. h. von Glück, Unglück, Unwissenheit und<br />

Erleuchtung.<br />

Von diesen Wesen sind manche rein wie Śiva und Vi«ïu, andere nur leicht<br />

befleckt wie Menschen und Götter, manche wandeln in finsterer Täuschung<br />

wie Bäume und Sträucher, andere sind durch Unwissenheit geblendet wie<br />

Würmer, wieder andere bewegen sich weit weg von der Weisheit, und wieder<br />

andere haben den Zustand von Erleuchtung und Befreiung erlangt wie<br />

Brahmā, Vi«ïu und Śiva.<br />

172


Sobald jemand die Weisheit erfasst, die die höchste Wahrheit betrifft, ist er<br />

unverzüglich erlöst – auch wenn er auf die zuvor beschriebene Weise im Rad<br />

der Unwissenheit und Täuschung kreiste.<br />

Von diesen müssen sich weder diejenigen, die wie Bäume fest in der Täuschung<br />

verwurzelt sind, noch diejenigen, die ihre Täuschung gänzlich zerstört<br />

haben, mit der Erforschung der Schriften erfassen. Die Schriften wurden von<br />

erleuchteten Wesen zur Anleitung derjenigen geschaffen, die aus dem<br />

Schlummer der Unwissenheit erwacht sind, nachdem ihre schlechte Natur<br />

und deren Ausdrucksformen aufgehört haben und deren Intellekt auf natürliche<br />

Weise nach der Führung durch die Schriften verlangt.<br />

Oh Weiser! Es ist nur das Gemüt, welches Vergnügen und Schmerzen in dieser<br />

Welt erfährt, aber nicht der physische Körper der Lebewesen. Der physische<br />

Körper ist nichts anderes als die Frucht der Einbildungen des Gemüts –<br />

der physische Körper ist keine existenzielle Tatsache, die unabhängig vom<br />

Gemüt existiert. Was auch immer dein Sohn in seinem eigenen Gemüt entstehen<br />

lassen will, das erfährt er – wir sind dafür nicht verantwortlich. Alle<br />

Lebewesen in dieser Welt erfahren nur diejenigen Handlungen, die aus dem<br />

Lagerhaus ihrer eigenen Möglichkeiten und Veranlagungen hervorgehen –<br />

niemand sonst ist verantwortlich für diese Handlungen; keine übermenschlichen<br />

Wesen und kein Gott.<br />

Komm, lass uns dorthin gehen, wo dein Sohn mit Bußübungen befasst ist,<br />

nachdem er vorübergehend die Vergnügen des Himmels genossen hat.<br />

(Nachdem er das gesagt hatte, nahm Yama (die Zeit) Bh­gu mit sich fort....<br />

Als der Weise Vāsi«Âha geendet hatte, schloss der achte Tag und die Versammlung<br />

löste sich auf.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, der Weise Bh­gu und die Gottheit, die über die Zeit regiert, wandten<br />

sich in Richtung des Flusses SamaÇga. Als sie vom Berg Mandara herabstiegen,<br />

sahen sie herrliche Wälder, die von vollkommenen und erleuchteten<br />

Weisen bewohnt waren. Sie sahen mächtige Elefanten in Brunst. Sie sahen<br />

andere vollkommene Weise, die von himmlischen Nymphen spielerisch mit<br />

Blumen beworfen wurden. Sie sahen buddhistische (oder erleuchtete) Mönche<br />

im Walde wandern. Dann stiegen sie in die Ebene hinab mit ihren Dörfern<br />

und Städten. Schon sehr bald erreichten sie die Ufer des Flusses Samañga.<br />

Dort sah der Weise Bh­gu seinen Sohn, der nun einen anderen Körper hatte<br />

und dessen Natur ganz verschieden von seiner früheren war. Jetzt hatte er<br />

eine friedvolle Veranlagung, und sein Gemüt war in der Stille der Erleuchtung<br />

verankert, obgleich er tief über das Schicksal der lebendigen Wesen des Universums<br />

nachdachte. Dieser strahlende junge Mann hatte offenbar die vollkommene<br />

Stille des Gemüts erlangt, in welcher das Spiel der Gedanken und<br />

Gegengedanken aufgehört hatten. Er war absolut rein, wie ein Kristall, der<br />

nicht einmal mehr daran interessiert war, die Dinge um sich herum zu spie-<br />

IV:14<br />

173


IV:15<br />

geln! Da war in seinem Verstand kein Gedanke an „dies ist zu erlangen“ oder<br />

„dies ist zu vermeiden“.<br />

Die ZEIT wies auf diesen jungen Mann und sagte zu Bh­gu: „Dies ist dein<br />

Sohn“. Śukra hörte die Worte „steh auf“ und öffnete sanft die Augen. Als er die<br />

beiden strahlenden Wesen vor sich stehen sah, begrüßte er sie und bat sie,<br />

auf einem Stein Platz zu nehmen. Mit sanften und liebevollen Worten sagte<br />

er: „Oh göttliche Wesen, wie gesegnet bin ich, euch beide hier bei mir zu sehen!<br />

Durch eure bloße Anwesenheit wurden die Täuschungen meines Gemüts<br />

zerstört; Täuschungen, die weder durch das Studium der Schriften, durch<br />

Askesepraktiken noch durch Weisheit oder Erkenntnis zerstört werden konnten.<br />

Nicht einmal ein Strom aus Nektar ist so segensvoll wie die Ansicht der<br />

Heiligen. Die Erde, über die eure Füße gegangen sind, ist heilig.“<br />

Der Weise Bh­gu sagte daraufhin zu ihm: „Besinne dich, denn du bist kein<br />

Unwissender!“ Śukra wurde unverzüglich der Erinnerung an seine früheren<br />

Existenzen gewahr, über die er für eine kurze Zeit mit geschlossenen Augen<br />

nachsann.<br />

ŚUKRA sagte:<br />

„Siehe da, ich habe zahllose Wiederverkörperungen durchlebt und bin<br />

durch zahllose Erfahrungen von Schmerz und Freude, Weisheit und Täuschung<br />

gewandert. Ich war ein grausamer König, ein gieriger Händler und ein<br />

wandernder Asket. Es gab kein Vergnügen, dass ich nicht genossen habe,<br />

keine Handlung, die ich unterlassen habe, kein Unglück oder Glück, dem ich<br />

nicht ausgesetzt war. Weder wünsche ich mir nun noch etwas noch trachte<br />

ich danach, etwas zu vermeiden – die Natur soll ihren Lauf nehmen. Komm,<br />

Vater, lass uns zum früheren Körper gehen, der jetzt ausgetrocknet ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Schon bald gelangten sie an den Ort, an dem der Körper von Śukra, des<br />

Sohnes von Bh­gu, in einem fortgeschrittenen Zustand der Verwesung am<br />

Boden lag. Als er ihn sah, jammerte Śukra: „Ach, sieh‘ nur diesen Körper, der<br />

einst sogar von den himmlischen Nymphen so bewundert und geliebt wurde,<br />

und der jetzt die Heimstatt von Würmern und Ungeziefer ist! Dieser Körper,<br />

der einst mit Sandelholzpaste bestrichen wurde, ist nun mit Schmutz bedeckt.<br />

Oh du Körper! Nun nennt man dich eine Leiche, und wirklich, du jagst<br />

mir Angst ein. Sogar die wilden Tiere fürchten sich vor deinem grausigen<br />

Anblick. Völlig frei von Empfindungen, ist dieser Körper nun in einem Zustand<br />

gänzlicher Freiheit von Gedanken und Ideen. Er ist nun frei vom Kobold<br />

des Gemütes und verbleibt unberührt von allem natürlichen Unheil. Da er frei<br />

von der Unrast des ruhelosen Affen geworden ist, den man Gemüt nennt, liegt<br />

dieser Baum von Körper entwurzelt da. Es ist in der Tat ein glückliches Geschick,<br />

dass ich diesen Körper sehen kann, befreit von Leiden in diesem dichten<br />

Wald.“<br />

174


IV:16<br />

RùMA fragte: Heiliger Herr, du hast gesagt, dass Śukra zahllose Verkörperungen<br />

durchlebt hat, und doch beklagt er das Schicksal dieses Körpers, der<br />

durch Bh­gu geboren wurde. Wie ist dies möglich?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, der Grund liegt darin, dass alle anderen Körper nur die Halluzinationen<br />

dieses ursprünglichen Körpers waren, der zu Śukra, dem Sohn des Weisen<br />

Bh­gu, gehört. Bald nach Beginn der Neuschöpfung am Ende der letzten<br />

kosmischen Auflösung wurde der jīva bzw. die lebendige Seele, die aus der<br />

Nahrung entstand, die in den Körper des Weisen Bh­gu einging, als Śukra<br />

geboren. Es geschah in dieser Verkörperung, dass diese Seele all die Riten<br />

und Rituale erfuhr, die angemessen für die Geburt eines brāhmaïa-Knaben<br />

sind.<br />

Weshalb beklagte Śukra (jetzt Vasudeva genannt) diesen Körper? Ob einer<br />

weise oder unwissend ist – so lange der Körper lebt, leben seine Funktionen<br />

unverändert weiter, die seiner Natur entsprechen. Und so funktioniert dann<br />

auch die verkörperte Person auf entsprechende Weise in dieser Welt, nämlich<br />

mit oder ohne Anhaftung. Der Unterschied liegt in ihren mentalen Neigungen<br />

– im Falle des Weisen wirken sie auf befreiende und im Falle des Unwissenden<br />

auf bindende Art. So lange es den Körper gibt, so lange werden der<br />

Schmerz schmerzhaft und das Vergnügen erfreulich sein – der Weise jedoch<br />

ist weder an das eine noch an das andere gebunden. Sich an der Freude erfreuend<br />

und leidend am Leiden scheinen sich die Großen nur wie Unwissende<br />

zu verhalten, aber in Wahrheit sind sie erleuchtet. Der ist befreit, dessen<br />

Sinnesorgane frei, aber dessen Handlungsorgane beherrscht sind. Derjenige<br />

jedoch ist gebunden, dessen Sinnesorgane zwar zurückhaltend, aber dessen<br />

Handlungsorgane unbeherrscht und unkontrolliert sind. Der Weise verhält<br />

sich in Gesellschaft auf angemessene Art, obwohl er innerlich frei von allem<br />

Anpassungszwang ist. Oh Rāma, entsage allem Verlangen und Bestreben und<br />

tue, was getan werden muss – in der Erkenntnis, dass du auf immer das reine,<br />

unendliche Bewusstsein bist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als sie den jungen Asketen Vasudeva das Schicksal seines früheren Körpers<br />

betrauern sah, griff die ZEIT (oder der Tod) ein und sprach zu Śukra:<br />

Die ZEIT (bzw. der TOD) sagte:<br />

Oh Sohn des Bh­gu! Gib diesen deinen Körper auf und gehe in deinen anderen<br />

Körper ein – so wie ein König sein Königreich betritt. Mit diesem Körper<br />

von Śukra widme dich erneut deinen Bußübungen und werde so zum spirituellen<br />

Guru der Dämonen. Am Ende dieser Epoche wirst du dann auch diesen<br />

Körper aufgeben, um niemals wieder eine Verkörperung zu erleben. Nachdem<br />

sie so gesprochen hatte, verschwand die ZEIT.<br />

Daraufhin gab Śukra den Körper Vasudevas auf, in dem er intensive Bußübungen<br />

am Ufer des Flusses SamaÇga ausgeübt hatte, und ging erneut in den<br />

175


verwesten Körper von Śukra ein, dem Sohn des Weisen Bh­gu. Im selben<br />

Moment fiel der Körper Vasudevas wie ein gefällter Baum zu Boden und<br />

wurde ein Leichnam. Der Weise Bh­gu besprengte den Körper Śukras mit<br />

heiligem Wasser aus seinem eigenen Wassertopf und murmelte dabei heilige<br />

Hymnen, die die Macht hatten, diesen Körper wiederzubeleben, mit Fleisch<br />

zu bekleiden usw. Und unverzüglich wurde der Körper so strahlend und<br />

jugendlich wie früher.<br />

Śukra erhob sich aus seiner Meditationshaltung und, seinen Vater, den Weisen<br />

Bh­gu, vor sich sehend, warf er sich ihm zu Füßen. Bh­gu war hocherfreut,<br />

seinen Sohn zu sehen, wie er von den Toten auferstanden war und<br />

umarmte ihn glückstrahlend und mit großer Herzlichkeit. Sogar der Weise<br />

Bh­gu wurde von dem Gefühl überwältigt: „Dies ist mein Sohn“, was nur natürlich<br />

ist, so lange es das Körperbewusstsein gibt. Beide erfreuten sich dieses<br />

erneuten, glücklichen Zusammenseins.<br />

Sowohl Bh­gu als auch Śukra führten dann die vorgeschriebenen Begräbnisriten<br />

für den brāhmaïa-Knaben Vasudeva aus, denn die Männer der Weisheit<br />

halten die sozialen Gewohnheiten und Traditionen stets in Ehren.<br />

Beide von ihnen strahlten wie Sonne und Mond. Sie, die gewiss die spirituellen<br />

Lehrer des ganzen Universums waren, durchwanderten die Welt. Fest<br />

verankert in der Erkenntnis des Selbst blieben sie von allen Veränderungen<br />

unberührt, die in der Zeit und der Umgebung stattfanden. Im Verlaufe der<br />

Zeit wurde Śukra der Guru der Dämonen, während sein Vater Bh­gu zu einem<br />

Weisen mit der höchsten Weisheit wurde.<br />

Dies ist die Geschichte des Weisen Śukra, der aufgrund seiner Leidenschaft<br />

für eine Nymphe zahllose Leben durchwanderte.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, weshalb materialisieren sich nicht die Wünsche anderer Leute<br />

so, wie sich der Wunsch von Śukra als Aufstieg in den Himmel usw. materialisierte?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Śukras Gemüt war rein, denn dies war seine erste Verkörperung. Sein Gemüt<br />

war nicht mit den Unreinheiten früherer Verkörperungen beladen. Ein<br />

Gemüt ist rein, in dem sich sämtliche Verlangen in einem Zustand der Stille<br />

befinden. Was auch immer sich das reine Gemüt wünscht, das materialisiert<br />

sich. Was im Hinblick auf Śukra geschehen ist, ist für jedermann möglich.<br />

Die Welt existiert in jedem jīva in einem Samenzustand und wird manifest,<br />

so wie der Baum aus dem Keimling sprießt. Die Welt wird daher fälschlicherweise<br />

von jedem einzelnen Individuum nur phantasiert. Weder entsteht<br />

die Welt noch vergeht sie – dies alles ist nichts als die Einbildung des irregeführten<br />

Gemütes. Innerhalb von jedem befindet sich eine Phantasiewelt. So<br />

wie die eigenen Träume anderen unbekannt sind, so ist die eigene Welt anderen<br />

unbekannt. Da gibt es Kobolde, Halbgötter und Dämonen, die sämtlich die<br />

IV:11, 17<br />

176


IV:18<br />

Verkörperungen der Täuschung sind. Auf dieselbe Weise sind auch wir ins<br />

Sein getreten, oh Rāma, aus reiner Gedankenkraft heraus, und wir erachten<br />

das Falsche als wirklich. Darin besteht in der Tat der Ursprung der Schöpfung<br />

im unendlichen Bewusstsein. Die Materialität ist keine Tatsache, obwohl sie<br />

in der gänzlichen Leerheit aller Dinge wahrgenommen wird. Jeder phantasiert<br />

seine eigene Welt zusammen. Sobald diese Wahrheit einmal erkannt<br />

wurde, gelangt diese phantasierte Welt an ihr Ende. Diese Welt existiert nur<br />

als Erscheinung oder Einbildung und nicht deshalb, weil man diese materiellen<br />

Substanzen, die man zu sehen glaubt, tatsächlich sieht. Das Ganze ist wie<br />

ein langer Traum oder ein Taschenspielertrick. Es ist wie der Pfahl, an den<br />

der Gemüts-Elefant angebunden ist.<br />

Das Gemüt ist die Welt, die Welt ist das Gemüt – sobald eines von beiden als<br />

unwahr erkannt wird, verschwindet beides! Wenn das Gemüt gereinigt ist,<br />

reflektiert es die Wahrheit und die irreale Welterscheinung verschwindet.<br />

Das Gemüt wird gereinigt durch die beständige Kontemplation der Wahrheit.<br />

RùMA fragte:<br />

Wie konnte diese Reihe von Geburten usw. im Gemüt von Śukra auftauchen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Śukra wurde von seinem Vater Bh­gu über die Aufeinanderfolge der Geburten<br />

unterwiesen. Es war diese Unterweisung, die Śukras Gemüt so konditioniert<br />

hat, dass es den Inhalt dieser Unterweisung aus sich selbst heraus erweitert<br />

hat. Nur dann, wenn das Gemüt gänzlich gereinigt von aller Konditionierung<br />

ist, erlangt es seine äußerste Reinheit zurück. Ein solch reines Gemüt<br />

erfährt die Befreiung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Vielfalt, die in dieser Schöpfung zu sehen ist, oh Rāma, hat nur den Anschein<br />

der Vielfalt. Die Evolution oder Involution hat nur das eine, unendliche<br />

Bewusstsein als seine Quelle und sein Ziel. Während der Evolution taucht in<br />

dem einen, unendlichen Bewusstsein diese scheinbare Vielfalt in Übereinstimmung<br />

mit den gegebenen Vorstellungen dieses Bewusstseins auf.<br />

Einige dieser Vorstellungen vermischen sich miteinander und produzieren<br />

auf diese Weise innerhalb dieser Vielfalt diese unendlichen Verschiedenheiten.<br />

Einige wiederum vermischen sich nicht. Jedoch alle diese Vorstellungen<br />

erscheinen tatsächlich in jedem Atom der Existenz, und alle diese Atome<br />

existieren unabhängig voneinander. Die Gesamtheit all dessen wird das absolute<br />

Brahman genannt.<br />

Jedes Individuum sieht nur diejenigen Objekte, die in seinem eigenen Gemüt<br />

verwurzelt sind. Wenn die Ideen des Gemüts keine Früchte tragen, gibt<br />

es einen Wandel im Gemüt. Daraufhin entsteht eine Aufeinanderfolge von<br />

Geburten, die diesen psychologischen Veränderungen Rechnung tragen. Es ist<br />

diese psychologische Verbindung, die die Überzeugung von der Realität von<br />

177


Geburt und Tod und von der Realität des Körpers erschafft. Sobald diese<br />

Überzeugung aufgegeben wird, hören die Verkörperungen auf.<br />

Wenn die Wahrheit vergessen wird, dann entsteht diese Verwirrung, die<br />

das Unwirkliche für wirklich hält. Durch die Reinigung der Lebenskräfte<br />

(prana) und durch die Erkenntnis dessen, was jenseits dieses prana oder<br />

Lebenskräfte liegt, erlangt man die Erkenntnis von allem, was man wissen<br />

muss, um die Aktivitäten des Gemüts wie auch die Grundlage für die Aufeinanderfolge<br />

von Geburten zu verstehen.<br />

Das Selbst aller Lebewesen wandert durch drei Zustände hindurch, nämlich<br />

Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Diese haben nichts mit dem Körper zu tun.<br />

(Sogar diese Aussage beruht nur auf der Annahme, dass Lebewesen in dem<br />

einen Selbst existieren, was nicht der Wahrheit entspricht.) Der weise<br />

Mensch, der den Zustand jenseits des Tiefschlafs erreicht, (das reine Bewusstsein)<br />

kehrt zur Quelle zurück. Der Narr jedoch, der diesen Weg nicht<br />

geht, wird im Lebenszyklus gefangen. Da das Bewusstsein unendlich ist, wird<br />

man von einem Lebenszyklus zum nächsten geführt – sogar noch über den<br />

eigentlichen Weltzyklus hinaus. Schöpfungen dieser Art sind endlos – die eine<br />

erscheint aus der andern wie die Blätter der Bananenpflanze. Natürlich wäre<br />

es unweise, Brahman, das Absolute, mit irgendetwas zu vergleichen.<br />

Man sollte stets nur das erforschen, was in Wahrheit die unverursachte<br />

Quelle aller Substanzen ist, was jenseits aller Verursachung ist. Nur dies ist<br />

die Erforschung wert, denn es allein ist die Essenz. Weshalb sollte man das<br />

Inessenzielle erforschen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, der Baum in einem Samen wächst aus ihm heraus, nachdem er<br />

den Samen zerstört hat; aber Brahman erschafft diese Welt, ohne sich selbst<br />

zu zerstören. Der Baum (die Welt) erscheint auch dann, wenn der Same<br />

(Brahman) bleibt, wie er ist.<br />

Folglich ist es unmöglich, das unvergleichbare Brahman mit irgendetwas zu<br />

vergleichen. Während der Baum usw. eine definierbare materielle Substanz<br />

ist, ist Brahman ein namen- und formloses Sein.<br />

Es ist Brahman allein, das zu dem wird, was anscheinend von einer gänzlich<br />

andersartigen Natur ist. Von einem anderen Standpunkt aus jedoch wird<br />

Brahman zu gar nichts, weil es ewiglich und wandellos ist.<br />

Daher kann man nichts betreffend das Brahman postulieren – weder ist es<br />

möglich zu sagen, dass es nicht zu all diesem geworden ist, noch ist es möglich<br />

zu sagen, dass es zu all diesem geworden ist.<br />

Wenn das Selbst als ein Objekt gesehen wird, wird der Seher nicht gesehen<br />

(erkannt) – solange das objektive Universum wahrgenommen wird, erkennt<br />

man das Selbst nicht. Sobald du nur das Wasser in der Luftspiegelung siehst,<br />

nimmst du nicht die aufsteigende flimmernde Luft wahr. Siehst du dagegen<br />

die heiße Luft, dann siehst du das Wasser nicht mehr! Sobald das eine wahr<br />

wird, wird das andere unwahr.<br />

178


Die Augen, die alle Objekte in der Welt wahrnehmen, nehmen nicht sich<br />

selber wahr. Solange man die Wahrnehmung von Objektivität unterhält, wird<br />

das Selbst nicht erkannt. Brahman ist so subtil und rein wie Raum. Es kann<br />

nicht durch irgendwelche Bemühung erkannt werden. Solange man das, was<br />

man wahrzunehmen glaubt, mit der Überzeugung betrachtet, dass es sich<br />

hierbei um Objekte der Wahrnehmung handelt (wobei man sich selbst als den<br />

von ihnen getrennten Seher oder das Subjekt ansieht), ist die Erkenntnis des<br />

Brahman in der Tat weit entfernt.<br />

Es geschieht nur, wenn die Trennung zwischen dem Seher und dem Gesehenen<br />

aufgegeben wird, nur dann, wenn die beiden als eine Substanz „gesehen“<br />

werden, dass die Wahrheit realisiert wird. Es gibt kein Objekt, welches<br />

von völlig anderer Natur als das Subjekt ist. Noch weniger kann das Subjekt<br />

(das Selbst) wie ein Objekt gesehen werden! Tatsächlich erscheint allein das<br />

Subjekt (das Selbst) in der Sicht als das Gesehene (das Objekt) – ein anderes<br />

Objekt der Wahrnehmung gibt es nicht. Wenn wiederum das Subjekt oder das<br />

Selbst allein all dies ist, dann ist es weder das Subjekt noch der Seher! Innerhalb<br />

einer solchen Sichtweise existiert keinerlei Getrenntheit.<br />

So wie Zucker zu verschiedenen Süßigkeiten wird, ohne dabei jemals seine<br />

natürliche Süße einzubüßen, so visualisiert sich dieses unendliche Bewusstsein<br />

oder Brahman selbst als all diese unendliche Vielfalt, ohne sich dabei im<br />

mindesten seiner essenziellen Natur zu entäußern. Für die Manifestation in<br />

diesem unendlichen Bewusstsein existiert keinerlei wie auch immer geartete<br />

Grenze.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Jeder jīva erfährt in sich selbst das, was immer und wie immer es mit Hilfe<br />

seiner eigenen Lebenskraft in ihm aufgetaucht ist. Oh Rāma, sieh mit dem<br />

Auge deiner inneren Weisheit die Wahrheit, dass es in jedem Atom der Existenz<br />

zahllose Welterscheinungen gibt. Im Gemüt eines jeden, im Raum selbst,<br />

in jedem Stein, in der Flamme des Feuers und im Wasser existieren ungezählte<br />

Welterscheinungen, so wie Öl im Sesamsamen existiert. Wenn das Gemüt<br />

absolut rein wird, dann wird es zu reinem Bewusstsein und wird eins mit<br />

dem unendlichen Bewusstsein.<br />

Diese Welterscheinung ist nichts als ein langer Traum, der sich überall manifestiert,<br />

da sie die Imagination von Brahmā dem Schöpfer und allen anderen<br />

ist. Die Objekte, die auf diese Weise im Traum des Schöpfers geboren<br />

wurden, wandern von Traum zu Traum, von Verkörperung zu Verkörperung.<br />

Dadurch schaffen sie die Illusion der scheinbaren Festigkeit dieser Welterscheinung.<br />

Diese traumartige Erscheinung erscheint während der Periode<br />

des Traums als völlig wahr.<br />

Innerhalb jedes Atoms sind sämtliche Arten von potentiellen Erfahrungen<br />

enthalten, so wie in einem Samen die verschiedenen Aspekte des Baums<br />

(Blüten, Blätter, Früchte usw.) sind. Innerhalb jedes Atoms der Existenz existiert<br />

das unendliche Bewusstsein – folglich ist alles unteilbar. Gib daher alle<br />

deine Vorstellungen von Vielfalt oder Einheit auf. Zeit, Raum, Handlung oder<br />

179


IV:19<br />

Bewegung und Materie sind nur verschiedene Aspekte des einen, unendlichen<br />

Bewusstseins: und Bewusstsein erfährt diese in sich selbst – gleichgültig,<br />

ob es sich um den Körper des Schöpfers Brahmā oder den eines Wurms<br />

handelt.<br />

Ein Atom des Bewusstseins erfährt, sobald es den voll herangereiften Zustand<br />

eines Körpers erlangt hat, seine eigenen Anlagen und Möglichkeiten.<br />

Jemand empfindet die vor ihm ausgebreiteten Objekte als außerhalb liegend,<br />

weil das unendliche Bewusstsein allgegenwärtig ist. Andere wiederum nehmen<br />

alles als inneliegend wahr, wie es sich abwechslungsweise entwickelt<br />

und wieder zurückentwickelt. Wieder andere gehen von einer Traumerfahrung<br />

zur nächsten, umherwandernd in dieser Welterscheinung.<br />

Ein paar wenige jedoch erkennen, dass die in sich selbst gesehene Welterscheinung<br />

illusorisch ist mit Ausnahme des einen, unendlichen Bewusstseins,<br />

welches allein auf ewig wahr ist. Aufgrund dieses Bewusstseins erscheint die<br />

Welt im jīva, und darin gibt es wiederum jīvas innerhalb von jīvas usw. – ad<br />

infinitum. Wenn jemand diese Wahrheit erfährt, dann ist er befreit von der<br />

Illusion. Gleichzeitig wird das Verlangen nach Sinnesvergnügen immer<br />

schwächer. Nur dies ist der gültige Erweis der erworbenen Weisheit. Weder<br />

ist ein gemalter Honigtopf Honig noch eine gemalte Flamme Feuer, und das<br />

Bildnis einer Frau ist nicht die Frau. Weise Worte sind nur Worte (Unwissenheit),<br />

solange sie nicht durch die Abwesenheit von Wünschen und Zorn bestätigt<br />

werden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der eigentliche Same aller jīvas, der das absolute Brahman ist, existiert<br />

überall, und innerhalb der jīvas existieren zahllose weitere jīvas. All dies ist<br />

deshalb, weil das gesamte Universum gänzlich vom unendlichen Bewusstsein<br />

durchdrungen ist.<br />

Aufgrund ihrer Erscheinungsform als jīvas nehmen sie durch ihre Kontemplation,<br />

unabhängig davon, welcher Art diese ist, schon sehr bald die Natur des<br />

Gegenstands der Kontemplation an. Diejenigen, die den Göttern ergeben sind,<br />

erreichen die Götter, diejenigen, die die Halbgötter verehren, erlangen die<br />

Halbgötter. Diejenigen, die das absolute Brahman kontemplieren, werden zu<br />

Brahman. Man sollte daher stets zu dem Zuflucht nehmen, was nicht begrenzt,<br />

konditioniert oder endlich ist.<br />

Durch die Kontemplation der Gestalt der Nymphe wurde Śukra gebunden,<br />

und als er die Reinheit seines Selbst erkannt hatte, welches unendliches Bewusstsein<br />

ist, wurde er unverzüglich befreit.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, bitte sage mir, was die wahre Natur der Wach- und Traumzustände<br />

ist. Was konstituiert den Wachzustand, und wie können Traum oder<br />

Täuschung im Wachzustand auftauchen?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

180


Der Zustand, der andauert, wird der Wachzustand genannt, und derjenige,<br />

der vergänglich ist, ist der Traumzustand. Während der Dauer des Traums<br />

nimmt dieser die Eigenschaft des Wachzustandes an, und sobald die vergängliche<br />

Natur des Wachzustandes realisiert wird, hat er die Eigenschaften des<br />

Traums. Abgesehen davon sind beide gleich.<br />

Sobald sich die Lebenskraft im Körper rührt, üben die verschiedenen Organe<br />

des Denkens, des Sprechens und der Handlung ihre Funktionen aus. Sie<br />

bewegen sich in Richtung ihrer Wahrnehmungsobjekte entsprechend den<br />

illusorischen Vorstellungen, die im Gemüt vorherrschen. Diese Lebenskraft<br />

nimmt im Selbst verschiedene Formen wahr. Weil die Natur dieser Wahrnehmungen<br />

als dauerhaft empfunden wird, nennt man sie den Wachzustand.<br />

Aber wenn die Lebenskraft (jīva-cetana) nicht vom Gemüt und dem Körper<br />

abgelenkt wird, verbleibt sie friedlich innerhalb des Herzens verwurzelt. Es<br />

gibt dann weder eine Bewegung des Bewusstseins in den Nerven des Körpers<br />

noch aktiviert die Lebenskraft die Sinne. Das Bewusstsein jedoch, welches<br />

sogar im Tiefschlaf wach und welches das Licht ist, das im Wachen und<br />

Träumen scheint, ist das transzendentale Bewusstsein, turiya.<br />

Sobald sich wieder die Samen der Unwissenheit und Täuschung regen und<br />

ausbreiten, entsteht der allererste Gedanke – der Gedanke „Ich bin“. Dann<br />

nimmt man innerhalb des Gemüts im Traum Gedankenformen wahr. Zu diesem<br />

Zeitpunkt arbeiten die externen Sinnesorgane nicht, während dagegen<br />

die inneren Sinne funktionieren und Wahrnehmungen im eigenen Innern<br />

entstehen lassen. Dies ist der Traumzustand. Sobald die Lebenskraft die Sinnesorgane<br />

aktiviert, beginnt wieder der Wachzustand.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich habe die Zustände des Gemüts nur deshalb beschrieben, damit du die<br />

Natur des Gemüts verstehen lernst – einen anderen Zweck der Unterweisung<br />

gibt es nicht. Denn das Gemüt nimmt die Form von dem an, worüber es intensiv<br />

kontempliert. Existenz, Nicht-Existenz, Erlangen und Entsagen – all dieses<br />

sind nur Stimmungen im Gemüt.<br />

RùMA fragte:<br />

Wenn das Gemüt also all dies ist, oh Herr, wie kann es dann befleckt werden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Dies ist eine schöne Frage, Rāma, aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt<br />

dafür. Wenn du dem, was ich dir mitgeteilt habe, zugehört hast, dann wirst du<br />

die Antwort auf diese Frage mit der äußersten Klarheit herausfinden.<br />

Dass das Gemüt unrein ist, ist die Erfahrung von allen, die nach der Befreiung<br />

streben. Je nach der Art seines besonderen Gesichtspunkts beschreibt es<br />

jeder unterschiedlich.<br />

So wie Luft, in Kontakt mit verschiedenen Blumen kommend, deren Düfte<br />

mit sich nimmt, so nimmt das Gemüt in Abhängigkeit von seinen verschiede-<br />

IV:20, 21<br />

181


IV:12<br />

nen Vorstellungen verschiedene Stimmungen an, erschafft dann die passenden<br />

Körper dazu und erfreut sich der Früchte seiner eigenen Vorstellungen,<br />

sobald die entsprechenden Energien die Sinne angeregt haben. Es ist das<br />

Gemüt, wie ich schon sagte, das den Brennstoff für das Funktionieren der<br />

Handlungsorgane liefert. Das Gemüt ist die Handlung und die Handlung ist<br />

das Gemüt – beide sind wie Blüte und Duft. Die Überzeugung des Gemüts<br />

bestimmt die Handlung, und die Handlung stärkt wiederum die Überzeugung.<br />

Das Gemüt ist überall dem dharma, dem Wohlstand, dem Vergnügen und<br />

der Freiheit gewidmet, aber jeder hat davon eine unterschiedliche Definition,<br />

von deren Wahrheit er dann völlig überzeugt ist. Daher kommt es, dass die<br />

Anhänger von Kapila, die Vedāntins, die Vijñānavādins, die Jainas und andere<br />

vollständig sicher sind, dass der ihrige der einzig richtige Pfad zur Befreiung<br />

ist. Ihre Philosophien sind der Ausdruck ihrer Erfahrungen, die wiederum die<br />

Frucht ihrer eigenen Praxis sind, die wiederum entsprechend den Überzeugungen<br />

in ihrem Gemüt verlaufen ist.<br />

Rāma, Bindung ist nichts anderes als die Wahrnehmung eines Objekts. Diese<br />

Wahrnehmung ist Māyā, Unwissenheit usw. Sie ist der graue Star, der die<br />

Sonne der Wahrheit blendet. Die Unwissenheit lässt einen Zweifel entstehen,<br />

dieser Zweifel leitet eine Wahrnehmung ein – und diese Wahrnehmung ist<br />

verzerrt. In der Dunkelheit ist man erschreckt, wenn man sich versehentlich<br />

dem Käfig eines Löwen genähert hat, obwohl dieser leer ist. Auf dieselbe<br />

Weise glaubt man unwissenderweise, in diesem leeren Körper gefangen zu<br />

sein. Die Vorstellungen von „Ich” und „Welt“ sind nur Schatten, nicht die<br />

Wahrheit. Solche Vorstellungen allein erzeugen „Objekte“ – und diese Objekte<br />

sind weder wahr noch falsch. Eine Mutter, die sich selbst als eine Haushälterin<br />

ansieht, benimmt sich auch wie eine solche; eine Frau, die sich selbst<br />

als die Mutter des Gemahls ansieht, benimmt sich vorübergehend auch wie<br />

eine solche. Gib daher, Rāma, die Vorstellungen von „Ich“ und „dies“ auf, und<br />

verbleibe verankert in der Wahrheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wer durch Selbsterforschung Weisheit erworben hat und die folgenden<br />

Qualifikationen besitzt, erfreut sich der Klarheit der Selbsterkenntnis, so wie<br />

Wasser klar wird, wenn man ein Stückchen Alaun hineinwirft. Sein Gemüt ist<br />

ungestört durch Modifikationen. Sein Wesen ist völlig umgewandelt. Da er<br />

erworben hat, was als einziges wert zu erwerben ist (d.h., die Selbsterkenntnis),<br />

hat er die Vorstellung von Objektivität völlig aufgegeben. Da der Seher<br />

als einziger sieht, betrachtet er keinen anderen Faktor als den Seher (das<br />

Subjekt). Er ist zur höchsten Wahrheit erwacht und daher gegenüber dieser<br />

Welterscheinung sozusagen wie ein Schlafender. Mit seiner vollkommenen<br />

Leidenschaftslosigkeit ist er gleichgültig gegenüber dem Vergnügen und<br />

dessen Gegenteil. Seine Verlangen haben aufgehört wie die Rastlosigkeit der<br />

strömenden Flüsse beim Eintritt in den Ozean t. Er hat dieses Netz der Welterscheinung<br />

durchschnitten wie die Maus den Faden durchbeißt, der sie<br />

gefangen hält.<br />

182


Nur dann, wenn das Gemüt ohne jede Anhaftung ist und von den Gegensatzpaaren<br />

nicht hin und her geworfen wird, wenn es sich nicht mehr von<br />

Objekten angezogen fühlt und gänzlich unabhängig von jeder Hilfe ist, kann<br />

es dem Käfig der Täuschung entkommen. Wenn sämtliche Zweifel zur Ruhe<br />

gekommen sind und es da weder Jubel noch Niedergeschlagenheit gibt, dann<br />

scheint das Gemüt wie der Vollmond. Wenn die Unreinheiten des Gemüts<br />

aufgehört haben, dann entstehen im Herzen alle diese verheißungsvollen<br />

Qualitäten; dann herrscht für alles die gleiche Sicht. So wie die Dunkelheit<br />

von der aufsteigenden Sonne vertrieben wird, so löst sich diese Weltillusion<br />

in nichts auf, wenn die Sonne des unendlichen Bewusstseins im Herzen aufleuchtet.<br />

Die Weisheit, die fähig ist, die Herzen aller Wesen im Universum zu<br />

erfreuen, offenbart und verbreitet sich. Kurz gesagt – wer dies kennt, was<br />

allein wert ist gekannt zu werden, der transzendiert alles Kommen und Gehen,<br />

Geburt und Tod.<br />

Sogar die Götter Brahmā, Vi«ïu, Indra und Śiva werden von diesen Heiligen,<br />

in denen durch Selbst-Erforschung oder direkte Beobachtung die Selbsterkenntnis<br />

aufgetaucht ist, befreundet und unterstützt.<br />

Sobald der Egoismus abwesend ist, gibt es keinerlei Verwirrung mehr im<br />

Gemüt, wenn dieses auf natürliche Weise funktioniert. So wie die Wellen im<br />

Ozean steigen und fallen, so entstehen diese Welten und verschwinden wieder<br />

– sie täuschen den Unwissenden, aber nicht den Weisen. Der Raum in<br />

einem Topf entsteht nicht, wenn ein Topf entsteht. Er wird auch nicht zerstört,<br />

wenn der Topf zerbricht. Wem bewusst ist, dass dieselbe Beziehung<br />

auch zwischen seinem Körper (dem Topf) und dem Selbst (dem Raum) besteht,<br />

ist nicht beeindruckt von Lob und Tadel.<br />

Diese glänzende Welterscheinung sucht einen nur so lange heim, als man<br />

sich nicht mit der Erforschung des Selbst beschäftigt. Sobald die Weisheit<br />

auftaucht, verschwindet die Täuschung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, der sieht die Wahrheit, der den Körper als das Produkt eines irregeführten<br />

Verständnisses und als die Quelle von Unheil erachtet und weiß,<br />

dass der Körper nicht das Selbst ist.<br />

Er sieht die Wahrheit, wenn er erkennt, dass Vergnügen und Schmerz in<br />

diesem Körper nur aufgrund des Verstreichens der Zeit und der Umstände, in<br />

die er versetzt ist, erfahren werden, und dass all dies ihn in keiner Weise<br />

betrifft.<br />

Der sieht die Wahrheit, der erkennen kann, dass er selbst das allgegenwärtige<br />

unendliche Bewusstsein ist, welches in sich selbst all das umfasst, was<br />

überall und immer gegeben ist.<br />

Der erkennt die Wahrheit, der weiß, dass das Selbst, welches subtiler als<br />

der millionste Teil einer Haarspitze geteilt durch eine Million ist, alles durchdringt.<br />

183


Der sieht die Wahrheit, der zu erkennen vermag, dass es keinerlei Trennung<br />

zwischen dem Selbst und anderen gibt, und dass das eine unendliche Licht<br />

des Bewusstseins als die einzige Realität existiert.<br />

Der sieht die Wahrheit, der erkennen kann, dass das nicht-duale Bewusstsein,<br />

welches in allen Wesen wohnt, allmächtig und allgegenwärtig ist.<br />

Der sieht die Wahrheit, der sich nicht durch den Gedanken irreführen lässt,<br />

dass er der Körper sei, der Krankheit, Furcht, Unruhe, Alter und Tod unterworfen<br />

ist.<br />

Der sieht die Wahrheit, der zu erkennen vermag, dass alle Dinge vom Selbst<br />

durchzogen werden wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind, und der<br />

weiß: „Ich bin nicht das Gemüt“.<br />

Der sieht die Wahrheit, der erkennen kann, dass all dies Brahman ist und<br />

weder „ich“ noch „andere“ wirklich sind.<br />

Der sieht die Wahrheit, der erkennt, dass alle Wesen der drei Welten seine<br />

eigene Familie sind, die seine Achtung und seinen Schutz verdienen.<br />

Der sieht die Wahrheit, der weiß, dass nur das Selbst existiert, und dass es<br />

da keinerlei Substanz für Objektivität gibt.<br />

Derjenige ist unberührt, der weiß, dass Schmerz und Freude, Geburt und<br />

Tod usw. nur das Selbst sind.<br />

Derjenige ruht fest in der Wahrheit, der fühlt: „Was habe ich zu gewinnen,<br />

wessen habe ich zu entsagen, wenn doch all dies nur das Selbst ist?“<br />

Wir verneigen uns vor dem Gesegneten, der erfüllt ist von der höchsten<br />

Erkenntnis, dass das gesamte Universum wahrhaftig Brahman allein ist, welches<br />

selbst wandellos in jeder scheinbaren Schöpfung, Existenz und Auflösung<br />

des Universums verbleibt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, wer den erhabenen Pfad wandelt, obwohl er noch in diesem Körper<br />

wohnt, der wie das Rad des Töpfers von der Schwungkraft der Vergangenheit<br />

angetrieben wird, der ist unbefleckt von allen Handlungen, die er ausführt.<br />

Der Körper existiert in seinem Fall nur für sein Vergnügen und für die Befreiung<br />

seiner Seele – er erfährt in ihm keinerlei Missbehagen.<br />

Für den Unwissenden ist dieser Körper die Quelle des Leidens, aber für den<br />

erleuchteten Menschen ist er die Quelle unaufhörlicher Freude. Solange der<br />

Körper existiert, erlangt der weise Mensch von ihm großes Vergnügen und<br />

das Entzücken der Erleuchtung, und wenn dann die Lebensspanne des Körpers<br />

an ihr Ende gelangt ist, betrachtet der Weise sein Verschwinden in keiner<br />

Weise als einen Verlust. Daher ist der Körper für die erleuchtete Person<br />

eine Quelle endloser Wonne. Und da er ihn durch diese Welt trägt, in der der<br />

Weise frei und vergnügt umherwandert, betrachtet ihn dieser als ein Fahrzeug<br />

der Weisheit. Durch den Körper macht der weise Mensch die verschiedenen<br />

Sinneserfahrungen und gewinnt die Freundschaft und Zuneigung<br />

anderer, und so ist er für ihn eine Quelle des Reichtums. Der erleuchtete<br />

IV:23<br />

184


Mensch regiert fröhlich in dieser Stadt, die man den Körper nennt – so wie<br />

Indra, der König des Himmels, in seiner eigenen Stadt regiert.<br />

Der Körper liefert den weisen Menschen weder den Gefahren von Lust und<br />

Gier aus noch erlaubt er, dass Unwissenheit oder Furcht ihn heimsuchen. Die<br />

Intelligenz, die den Körper des weisen Menschen steuert, wird nicht durch<br />

die Aufregung, die der Unwissende „Vergnügen“ nennt, nach außen gezogen,<br />

sondern sie ruht im Innern in einem Zustand der Kontemplation.<br />

Das verkörperte Lebewesen steht mit dem Körper, so lange er existiert, nur<br />

in einer leichten Verbindung. Es ist unberührt, wenn der Körper eines Tages<br />

verschwindet – so wie Luft einen Topf berührt, der existiert, aber keinen, der<br />

nicht existiert.<br />

So wie das tödliche Gift, dass von Gott Śiva getrunken wurde, ihm nicht nur<br />

nicht schadete, sondern sogar noch seine Schönheit erhöhte, so binden die<br />

verschiedenen Handlungen und Freuden einer erleuchteten Person diese<br />

nicht an den Zyklus von Geburt und Tod. So wie jemand dir nicht mehr schaden<br />

kann und sogar dein Freund wird, wenn du weißt, dass er ein Dieb ist<br />

und du mit ihm in diesem Wissen Umgang hast, so erfreust du dich der Objekte<br />

und ziehst Genuss aus ihnen, wenn du ihre wahre Natur einmal erkannt<br />

hast. Der weise Mensch, der alle Zweifel losgeworden ist und in dem kein<br />

persönliches Selbst zurückgeblieben ist, herrscht in diesem Körper in aller<br />

Hoheit.<br />

Man sollte daher sämtliches Verlangen nach Vergnügen aufgeben und<br />

Weisheit erlangen. Nur das disziplinierte Gemüt erfährt echtes Glück. Der<br />

gefangengesetzte König ist, einmal befreit, schon über ein Stück Brot hoch<br />

erfreut. Der König, der nie gefangen genommen wurde, ist nicht einmal so<br />

erfreut mit der Eroberung eines anderen Königreiches. Daher beißt der vernünftige<br />

Mensch auf die Zähne und strebt mit allen Kräften nach der Eroberung<br />

seines Gemüts und der Sinne, denn eine solche Eroberung ist bei weitem<br />

größer als die Eroberung äußerer Widersacher.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Dāma, Vyāla und KaÂa<br />

IV:24, 25<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, in dem großen Reich, welches als die entsetzliche Hölle bezeichnet<br />

wird, treiben die bösen Taten umher wie mächtige Elefanten in Brunst.<br />

Die Sinne, die für diese Taten verantwortlich sind, sind wie ein gewaltiges<br />

Lagerhaus voller Verlangen. Folglich sind diese Sinne äußerst schwer zu<br />

erobern. Diese undankbaren Sinne zerstören den Körper, ihre eigene Wohnung<br />

und Grundlage.<br />

185


IV:26, 27<br />

Derjenige jedoch, der mit Weisheit ausgestattet ist, ist fähig, das Verlangen<br />

zu bremsen, ohne das Wesen zu beschädigen – so wie eine Schlinge den Elefanten<br />

zurückhält, ohne ihn zu verletzen. Die Seligkeit, die der weise Mensch<br />

empfängt, der seine Sinne unter Kontrolle hat, ist den Freuden eines Königs<br />

unvergleichlich überlegen, der über eine aus Ziegeln und Mörtel erbaute<br />

Stadt herrscht. Die Intelligenz des Weisen wächst in dem Maße, wie sein<br />

Verlangen nach Sinnesvergnügen abnimmt. Jedoch verschwindet das Verlangen<br />

vollständig erst dann, wenn die höchste Wahrheit erkannt wird.<br />

Für den Weisen ist das Gemüt ein gehorsamer Diener, ein guter Ratgeber,<br />

ein fähiger Befehlshaber der Sinne, eine gefällige Frau, ein fürsorglicher Vater<br />

und ein vertrauenswürdiger Freund. Es veranlasst ihn stets zu guten Taten.<br />

Rāma, sei in der Wahrheit verankert und lebe in Freiheit in einem Zustand<br />

frei von Gedanken. Benimm dich nicht wie die Dämonen Dāma, Vyāla und<br />

KaÂa, deren Geschichte ich dir nun erzählen werde.<br />

In den Unterwelten gab es einmal einen mächtigen Dämon, der Saæbara<br />

genannt wurde. Er war ein Altmeister in der Kunst der Magie. Er erschuf eine<br />

magische Stadt mit Hunderten von Sonnen am Horizont, mit sprechenden<br />

und gehenden Wesen aus Gold, mit Schwänen, herausgehauen aus kostbaren<br />

Steinen, mit eiskaltem Feuer und mit seinen eigenen Himmelskörpern. Auf<br />

die Götter des Himmels wirkte dieser Dämon wie ein schreckliches Verhängnis.<br />

Sobald er schlief oder seine Stadt einmal verließ, zogen die Götter ihren<br />

Vorteil aus der Situation und vernichteten seine Armee. Wütend fiel dann der<br />

Dämon in die Himmel ein. Die Götter, voll Angst vor seinen magischen Kräften,<br />

versteckten sich. So konnte er sie nicht finden. In geeigneten Momenten<br />

gelang es ihnen dann wiederum, die Streitkräfte des Dämons zu vernichten.<br />

Um seine Streitkräfte zu schützen, erschuf der Dämon drei weitere Dämonen:<br />

Dāma, Vyāla und KaÂa.<br />

Diese drei hatten noch keine früheren Inkarnationen erlebt und waren daher<br />

frei von jeder mentalen Konditionierung. Sie hatten keine Furcht, Zweifel<br />

oder andere Veranlagungen; sie flohen nicht vor dem Feind; sie hatten keine<br />

Angst vor dem Tod; sie kannten nicht die Bedeutung von Krieg, Sieg oder<br />

Niederlage. Tatsächlich waren sie überhaupt keine selbständigen jīvas, sondern<br />

bloß roboterhafte, tätige Projektionen des Dämons Saæbara. Ihr Verhalten<br />

war wie von jemandem, der alle latenten Tendenzen oder Konditionierungen<br />

ausgelöscht, aber noch keine Erleuchtung erlangt hat. Der Dämon<br />

Saæbara war hocherfreut darüber, dass seine Armee nun über unbesiegbare<br />

Beschützer verfügte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Dämon Saæbara entsandte seine unverwundbare Armee erneut – geschützt<br />

von den drei neuen Dämonen – in den Kampf mit den Göttern. Auch<br />

die Armee der Götter bereitete sich auf den Kampf vor. Die Dämonen waren<br />

unbewaffnet und wurden von den Göttern in ein Mann-gegen-Mann-Gefecht<br />

verwickelt. Eine grimmige Schlacht entstand. Später wurde die Schlacht mit<br />

186


schreckenerregenden Raketen fortgesetzt, die alle Städte, Dörfer, Höhlen,<br />

Tiere und anderes zerstörten. Beide Seiten erfuhren abwechselnd die Freude<br />

des Sieges und das Leid der Niederlage.<br />

Die drei anführenden Dämonen suchten nach den anführenden Göttern,<br />

konnten sie aber nirgends entdecken. Die Dämonen gingen zu Saæbara, um<br />

ihm dies zu berichten. Die Götter riefen den Schöpfer Brahmā an, der sofort<br />

vor ihnen erschien, und flehten ihn an, ihnen zu offenbaren, wie sie die drei<br />

Dämonen vernichten könnten.<br />

BRAHMù sagte:<br />

Oh ihr Götter, Saæbara kann jetzt nicht vernichtet werden. Er wird in hundert<br />

Jahren von Gott Vi«ïu getötet werden. Ihr seid gut beraten, wenn ihr<br />

euch vorläufig von der Schlacht zurückzieht, so als ob ihr von den drei Dämonen<br />

besiegt worden wäret.<br />

Im Laufe der Zeit wird aufgrund ihrer Teilnahme an diesem Krieg der Ich-<br />

Sinn in ihnen erwachen. Dann werden sie der psychologischen Konditionierung<br />

unterworfen sein und latente Neigungen entwickeln. Jetzt im Moment<br />

sind diese drei Dämonen gänzlich frei vom Ich-Sinn und seinen Beimischungen<br />

(den Konditionierungen und Neigungen).<br />

Diejenigen, in denen der Ich-Sinn („ich“) und seine Produkte (die Neigungen)<br />

nicht existieren, kennen weder Wunsch noch Zorn. Sie sind unüberwindlich.<br />

Wer dagegen durch den Ich-Sinn („ich“) und durch die Konditionierung<br />

des Gemüts gebunden ist, kann, auch wenn er als große Persönlichkeit oder<br />

als ein großer Gelehrter angesehen wird, sogar von einem Kind besiegt werden.<br />

Tatsächlich sind die Vorstellungen von „ich“ und „mein“ der fruchtbare Boden,<br />

in denen Sorgen und Leiden wachsen. Wer den Körper mit dem Selbst<br />

identifiziert, versinkt im Elend – wer das Selbst als das Allgegenwärtige sieht,<br />

überwindet den Kummer. Für diesen gibt es nichts in den drei Welten, was<br />

nicht das Selbst ist, und nichts, was Gegenstand von Wünschen sein könnte.<br />

Derjenige, dessen Gemüt konditioniert ist, kann besiegt werden – in der<br />

Abwesenheit dieser Konditionierung jedoch wird sogar ein Moskito unsterblich.<br />

Das konditionierte Gemüt erfährt Leiden – wird es dagegen die Konditionierung<br />

los, dann erfährt es Wonne. Die Konditionierung oder das Verlangen<br />

schwächt eine Person. Daher solltet ihr keine Angst davor haben, gegen<br />

diese drei Dämonen zu kämpfen. Tut was immer ihr könnt, um in ihnen die<br />

Gefühle von „Ich“ und „mein“ zu erzeugen. Da sie nur die unwissenden Kreaturen<br />

des Dämons Saæbara sind, werden sie nur zu schnell den Köder schlucken.<br />

Dann können sie von euch allen leicht besiegt werden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, verschwand der Schöpfer Brahmā. Die<br />

Götter ruhten eine Weile in ihren Verstecken aus und bereiteten sich auf<br />

einen neuen Ansturm auf die Dämonen vor. Die dann einsetzende Schlacht<br />

IV:28, 5,6<br />

187


IV:31<br />

zwischen den Armeen der Götter und Dämonen war noch grausamer als die<br />

vorherige. Überall geschah eine schreckliche Zerstörung.<br />

Dieses fortgesetzte Treiben im Kampfe ließ in den drei Dämonenführern die<br />

grundlegende Vorstellung von „Ich bin“ entstehen. So wie ein Spiegel ein<br />

Objekt widerspiegelt, das davor gehalten wird, so spiegelt sich das eigene<br />

Verhalten als Ich-Sinn im eigenen Bewusstsein wider. Wird dieses Verhalten<br />

jedoch auf „Distanz“ vom Bewusstsein gehalten, und geschieht keinerlei Identifikation<br />

mit diesem Verhalten, dann taucht der Ich-Sinn nicht auf.<br />

Sobald jedoch dieser Ich-Sinn erschien, folgte sehr schnell der Wunsch nach<br />

Verlängerung des Lebens im Körper und das Verlangen nach Wohlstand,<br />

Gesundheit, Vergnügen usw. Diese Wünsche führten zu einer gewaltigen<br />

Schwächung ihrer Persönlichkeit. Es entstand Verwirrung in ihrem Gemüt,<br />

die in der Folge die Gefühle von „dies ist mein“ und „dies ist mein Körper“<br />

entstehen ließ. All dies führte unvermeidbar zu Ineffizienz und Unfähigkeit,<br />

ihre Aufgabe zu erledigen. Sie waren nun stark interessiert an Essen und<br />

Trinken. Die Objekte gaben ihnen Gefühle von Vergnügen und raubten ihnen<br />

ihre Freiheit. Mit dem Verlust der Freiheit verließ sie auch ihr Mut und sie<br />

erfuhren Furcht. Der Gedanke „wir werden in dieser Schlacht sterben" erfüllte<br />

sie mit schrecklicher Angst.<br />

Die Götter nutzten diese Situation und begannen, die Dämonen zu attackieren.<br />

Die drei Dämonen, die nun von der Todesangst besessen waren, flohen.<br />

Als die Dämonenarmee sah, dass ihre unbesiegbaren Beschützer vor den<br />

einfallenden Göttern flohen, verließ sie ihr Mut gänzlich – sie fielen zu Tausenden<br />

auf dem Schlachtfeld.<br />

Als der Dämon Saæbara vernahm, dass seine Armee von den Göttern vernichtet<br />

worden war, war er wutentbrannt. Er verlangte nach den drei unbesiegbaren<br />

Dämonen Dāma, Vyāla und KaÂa: „Wo sind sie?“<br />

Aus Furcht vor seinem Zorn nahmen diese drei Dämonen ihre Zuflucht in<br />

der untersten Unterwelt.<br />

Dort gewährten ihnen die Diener des Todesgottes Yama Zuflucht. Sie gaben<br />

ihnen außerdem drei Mädchen zu Ehefrauen. Sie lebten eine lange Zeit in der<br />

Unterwelt. Eines Tages besuchte sie Yama persönlich ohne sein ihn üblicherweise<br />

begleitendes Gefolge. Sie erkannten ihn nicht und erwiesen ihm nicht<br />

die ihm gebührenden Ehren. Zornig verbannte Yama sie in die schrecklichsten<br />

Höllen. Nachdem sie dort gelitten und anschließend zahlreiche Inkarnationen<br />

in verschiedenen untermenschlichen Arten erfahren hatten, leben sie<br />

heute als Fische in einem See in Kashmir.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So siehst du selbst, welche katastrophalen Ergebnisse die Unweisheit zeitigt.<br />

Du siehst, wie die unbesiegbaren Dämonen gänzlich niedergeworfen und<br />

entehrt werden konnten aufgrund ihres Ich-Sinnes, der Furcht in ihren Herzen<br />

entstehen ließ. Das tödliche Gewächs der Weltlichkeit keimt aus dem<br />

Samen des Ich-Sinns. Daher, oh Rāma, weise diesen Ich-Sinn mit allen dir zur<br />

188


IV:32<br />

Verfügung stehenden Mitteln von dir und sei verwurzelt in der Überzeugung:<br />

„’Ich’ ist ein Nichts“. Sei glücklich. Das eine unendliche Bewusstsein, welches<br />

die Natur reiner Seligkeit hat, wird vom Schatten des Ich-Sinns verdunkelt.<br />

Obwohl die Dämonen Dāma, Vyāla und KaÂa in Wirklichkeit frei vom Zyklus<br />

von Geburt und Tod waren, wurden sie demselben im Moment unterworfen,<br />

als ihr Ich-Sinn entstand. Sie, vor denen sich einst sogar die Götter gefürchtet<br />

hatten, sind nun nichts als elende Fische in einem See in Kashmir.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, die Dämonen Dāma, Vyāla und KaÂa waren unwirklich und<br />

reine Geschöpfe der Magie von Saæbara. Wie konnte es geschehen, dass sie<br />

zu wirklichen Wesen wie wir wurden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, ebenso wie die Dämonen Dāma, Vyala und Kata unwirklich und das<br />

Ergebnis von Magie waren, so sind dies auch wir, die Götter und alle anderen.<br />

Alle diese Vorstellungen von „Ich“ und „du“, oh Rāma, sind unwirklich. Dass<br />

du und ich wie wirkliche Wesen erscheinen, ändert nichts an der Wahrheit;<br />

denn selbst wenn eine tote Person vor dir erscheint, so ist sie trotzdem tot!<br />

Jedoch wäre es unklug, den Unwissenden die Wahrheit („Brahman allein ist<br />

wirklich") zu verkünden. Denn die scheinbare Realität der Welterscheinung,<br />

die allzu tief in den Herzen der Unwissenden verwurzelt ist, wird außer<br />

durch intensive Erforschung der Schriften nicht zerstreut werden. Wer erklärt:<br />

„Diese Welt ist unwirklich, nur Brahman allein ist wirklich“, wird von<br />

unwissenden Menschen nur ausgelacht. Wie ausführlich du ihnen auch immer<br />

erklärst, dass „all dies nur Brahman“ ist – der Unwissende vermag dies<br />

ebenso wenig zu erfassen wie ein Leichnam wieder lebendig werden kann.<br />

Diese Wahrheit kann nur von den Weisen erfahren werden.<br />

Oh Rāma, weder wir noch diese Dämonen sind wirklich. Die Wirklichkeit ist<br />

das eine unendliche Bewusstsein, welches keinerlei Wandel unterworfen ist.<br />

In diesem unendlichen Bewusstsein tauchen die Vorstellungen von dir, von<br />

mir, von diesen Dämonen usw. auf. Sie werden mit scheinbarer Wirklichkeit<br />

ausgestattet, weil das sie wahrnehmende Bewusstsein wirklich ist. Wenn<br />

dieses Bewusstsein sozusagen „wach“ ist, dann tauchen alle diese Vorstellungen<br />

auf, und wenn es „schläft“, dann lösen sich diese Vorstellungen auf. Im<br />

unendlichen Bewusstsein jedoch gibt es keinerlei Zustände wie Wachen oder<br />

Schlafen – es ist nichts anderes als reines Bewusstsein.<br />

Erkenne dies und sei dann frei von der Sorge und Furcht, wie sie durch die<br />

Wahrnehmung von Getrenntheit verursacht wird.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh heiliger Weiser, bitte sage mir, wann und auf welche Weise die drei Dämonen<br />

die Befreiung erlangen werden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

189


Rāma, sobald sie die Erzählung ihrer Geschichte hören und an ihre eigene<br />

Natur als reines Bewusstsein erinnert werden, sind sie befreit.<br />

Im Verlaufe der Zeit wird dann inmitten eines Landes, das Kashmir genannt<br />

wird, eine Stadt namens Adhi«ÂhÃna auftauchen. Inmitten dieser Stadt wird<br />

es einen Berg geben, dessen Gipfel Pradyumna heisst. Dort wiederum wird es<br />

einen Turm geben. In einer Ecke dieses Gebäudes wird dann der Dämon<br />

Vyāla als Sperling wiedergeboren.<br />

In diesem Gebäude wird ein König namens YaÓaskar regieren. Der Dämon<br />

Dāma wird als Moskito wiedergeboren und in einem Loch in einer Säule des<br />

Palastes leben.<br />

Irgendwo in dieser Stadt wird es außerdem den Palast RatnÃvalÅhÃra geben,<br />

der vom Staatsminister Narasiæha bewohnt ist. Der Dämon KaÂa wird als<br />

Vogel (myna) wiedergeboren und in diesem Palast zuhause sein.<br />

Eines Tages wird dann der Minister Narasiæha eben diese Geschichte der<br />

drei Dämonen Dāma, Vyāla und KaÂa erzählen. Durch Hören dieser Geschichte<br />

wird der Vogel erleuchtet werden. Er wird sich daran erinnern, dass seine<br />

ursprüngliche Persönlichkeit nichts als eine magische Schöpfung des<br />

Saæbara gewesen ist, und eben diese Erinnerung wird ihn vom Bann des<br />

Saæbara befreien. Der Dämon KaÂa erlangt daraufhin nirvÃïa (Befreiung).<br />

Andere Leute werden diese Geschichte weitererzählen, und auch der Sperling<br />

wird nach dem Hören dieser Geschichte die Befreiung erlangen. So wird<br />

der Dämon Vyāla Befreiung erlangen.<br />

Und auf dieselbe Weise wird auch der Moskito-Dämon Dāma der Geschichte<br />

lauschen und ebenfalls die Befreiung erlangen.<br />

Dies ist also die Geschichte, o Rāma, der drei Dämonen Dāma, Vyāla und<br />

KaÂa, die aufgrund ihres Ich-Sinns und ihrer Verlangen in die Hölle stürzten.<br />

All dies ist nichts anderes als das Spiel der Unwissenheit und Täuschung.<br />

In der Tat ist es das reine Bewusstsein selbst, welches die unreine Vorstellung<br />

von „Ich bin“ unterhält – spielerisch sozusagen – und ohne seine essenzielle<br />

Natur als Bewusstsein je aufzugeben; es erfährt das verzerrte Bild von<br />

sich selbst in sich selber. Obschon dieses verzerrte Bild unwirklich ist, hält es<br />

der Ich-Sinn („Ich bin“) für wahr und wird getäuscht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, diejenigen, die im Zustande der Befreiung gefestigt sind, wie er<br />

von den Schriften aufgezeigt wird, überqueren diesen Ozean der Welterscheinung<br />

mit Sicherheit, da ihr Bewusstsein zum Selbst strebt. Diejenigen<br />

jedoch, die im Netz ihrer Polemiken gefangen sind, die nichts als Sorge und<br />

Verwirrtheit hervorbringen, verwirken ihr eigenes höchstes Gut. Sogar auf<br />

dem Pfad, der von den Schriften dargelegt wird, ist es letztlich doch immer<br />

nur die eigene, direkte Erfahrung, die den Menschen sicher zum höchsten Ziel<br />

führt.<br />

IV:33<br />

190


Was bleibt denn von einem gierigen Manne schon als eine Handvoll Asche?<br />

Aber wer diese Welt als weniger wertvoll als einen Grashalm erachtet, wird<br />

niemals Kummer erleiden. Wer vollständig das Unendliche verwirklicht hat,<br />

wird von den kosmischen Gottheiten beschützt. Daher sollte man auch nicht<br />

in Zeiten großer Bestürzung seinen Fuß auf den falschen Pfad setzen. Wer<br />

durch ein tugendhaftes Leben einen guten Ruf erworben hat, gewinnt, was<br />

zuvor nicht gewonnen wurde, und ist fortan des Unglücks ledig. Nur derjenige<br />

kann als echtes menschliches Wesen bezeichnet werden, der nicht selbstgefällig<br />

ist wegen seinen Tugenden, der den Lehren ergeben ist, die er gehört<br />

hat und der danach strebt, den Pfad der Wahrheit zu gehen. Andere aber sind<br />

nichts als Tiere in menschlicher Verkleidung. Wer mit der Milch der Menschenliebe<br />

erfüllt ist, in dem wohnt ganz gewiss Gott Hari (von dem gesagt<br />

wird, dass er in einem Ozean aus Milch wohne).<br />

Was man genießen muss, wurde bereits genossen; was gesehen werden<br />

muss, wurde gesehen – was kann es noch Neues in dieser Welt geben, nach<br />

dem ein weiser Mensch zu suchen hätte? Daher sollte man sich auf seine<br />

Pflicht besinnen, so wie sie von den Schriften angeordnet wird, und alle seine<br />

Verlangen nach Vergnügen aufgeben. Verehre stets die Heiligen, denn dies<br />

wird dich vom Tode erretten.<br />

Während man die Anweisungen der Schriften befolgt, sollte man geduldig<br />

die Vervollkommnung erwarten, die zu ihrer eigenen Zeit eintreten wird.<br />

Halte jede Abwärtstendenz auf, indem du diese heilige Schrift der Befreiung<br />

aufmerksam studierst. Erforsche beständig und unaufhörlich die Natur der<br />

Wahrheit und wisse, dass „all dies nichts als eine Widerspiegelung ist“. Lass<br />

dich nicht von anderen davon abbringen – nur Tiere lassen sich von der Herde<br />

führen. Erwache aus dem Schlummer der Unwissenheit! Erwache und<br />

strebe danach, Alter und Tod zu besiegen.<br />

Wohlstand ist die Mutter des Bösen. Sinnesvergnügen sind die Quelle der<br />

Leiden. Missgeschick ist das Beste, was dir widerfahren kann. Von allen zurückgewiesen<br />

zu werden, bedeutet Sieg. Leben, Ehre und edle Eigenschaften<br />

blühen und tragen Früchte in demjenigen, dessen Betragen und Haltung gut<br />

und erfreulich ist, der für sich bleibt und nicht nach den Vergnügen dieser<br />

Welt verlangt, die zu nichts als Leiden führen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, alle eifrige Bemühung wird stets von Erfolg gekrönt. Gib daher<br />

niemals die rechte Bemühung auf. Natürlich ist es nötig, vor der Aufnahme<br />

strenger Mühen zuvor den Wert und die Rechtfertigung des Endergebnisses<br />

zu überprüfen. Wenn du hier eine sorgfältige Abwägung und Erforschung<br />

unternimmst, wirst du gewiss zu dem Ergebnis kommen, dass die Selbsterkenntnis<br />

allein in der Lage ist, alle Schmerzen und Vergnügen mit ihren Wurzeln<br />

auszurotten. Die eifrige Bemühung sollte daher immer nur in Richtung<br />

Selbsterkenntnis gelenkt werden. Schaffe alle diese Vorstellungen von Objektivität,<br />

die die Wünsche nach Sinnesvergnügen in dir erschaffen haben, ab.<br />

191


Kann es denn irgendeine Art von Glück geben, die unbefleckt vom Unglück<br />

ist?<br />

Gewiss sind die Abwesenheit der Selbstkontrolle und die Praxis der Selbstkontrolle<br />

im absoluten Brahman ein und dasselbe – eine echte Trennung gibt<br />

es nicht. Doch wird die Praxis der Selbstkontrolle dir große Freude und Segen<br />

bringen. Nimm daher deine Zuflucht zur Selbstkontrolle und gib den Ich-Sinn<br />

auf. Erforsche die Natur der Wahrheit und suche die Gesellschaft der Weisen.<br />

Gute und weise Menschen leben im Einklang mit den Anweisungen der<br />

Schriften, und in ihnen nehmen Gier, Täuschung und Zorn Tag um Tag ab.<br />

In der Gesellschaft der Weisen wächst die Selbsterkenntnis. Zur selben Zeit<br />

nimmt die Vorstellung, dass die Objekte der Wahrnehmung real sind, von<br />

selbst ab und verschwindet schließlich ganz. Wenn die Welt als Objekt der<br />

Wahrnehmung verblasst, existiert nur noch die höchste Wahrheit. Dann wird<br />

der jīva bzw. die individuelle Persönlichkeit davon absorbiert, da er kein<br />

Objekt mehr findet, das er des Hängens daran wert findet. Die Welt als ein<br />

Objekt wurde niemals erschaffen noch existiert sie als solche, noch wird dies<br />

jemals so sein. Es ist allein das Höchste Sein, welches als die einzige Wirklichkeit<br />

allezeit bestand und besteht.<br />

Somit habe ich dir nun auf tausenderlei Arten die essenzielle Unwirklichkeit<br />

der Welt-als-Objekt-der-Wahrnehmung nachgewiesen. Sie ist nichts<br />

anderes als der reine Raum des Bewusstseins – es gibt in ihr keinerlei<br />

Getrenntheit, auf die man mit Aussagen wie „dies ist die Wahrheit“ oder „dies<br />

ist nicht wirklich“ Bezug nehmen könnte. Nur diese wunderbare Manifestation<br />

dieses unendlichen Bewusstseins kann als die Welt betrachtet werden,<br />

nichts anderes. In ihm sind alle Getrenntheiten wie Subjekt und Objekt, Substanz<br />

und Schatten gleichermaßen willkürliche Annahmen wie die Trennung,<br />

die zwischen den Strahlen der Sonne und dem Sonnenlicht gemacht wird. In<br />

Wahrheit existiert nur das unteilbare und unveränderte Bewusstsein. Wenn<br />

es gemäß seiner eigenen Natur sozusagen die Augen öffnet und schließt,<br />

dann geschieht das, was man die Auflösung und Neuerschaffung des Universums<br />

nennt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn es nicht klar verstanden wird, dann erscheint das „Ich“ als eine unreine<br />

Vorstellung innerhalb des unendlichen Bewusstseins. Wird dieses „Ich“<br />

jedoch klar verstanden, dann wird es in seiner wahren Bedeutung als das<br />

unendliche Bewusstsein selbst gesehen. Wenn seine eigene Wirklichkeit<br />

erkannt wird, dann erscheint es nicht mehr als der Ich-Sinn, sondern als die<br />

alleinige unendliche Wirklichkeit. Tatsächlich gibt es kein besonderes Etwas<br />

wie das „Ich“.<br />

Wird diese Wahrheit jemandem mit einem reinen Verstand enthüllt, dann<br />

wird seine Unwissenheit unverzüglich zerstreut. Andere jedoch hängen an<br />

ihren eigenen falschen Vorstellungen wie ein Kind, das an die Existenz eines<br />

Geistes glaubt.<br />

192


Wenn dieses „Ich“ als ein besonderes Etwas einmal als falsch erkannt worden<br />

ist, wie kann man dann noch an die anderen mit ihm verknüpften Vorstellungen<br />

(wie Himmel, Hölle usw.) glauben? Das Verlangen nach dem Himmel<br />

und sogar nach Befreiung taucht nur so lange im eigenen Herzen auf, als<br />

das „Ich“ als ein besonderes Etwas betrachtet wird. So lange daher dieses<br />

„Ich“ besteht, gibt es nur Unglücklichsein im eigenen Leben. Und eben diese<br />

Vorstellung kann durch nichts anders als Selbsterkenntnis fallengelassen<br />

werden. Solange man von diesem Gespenst der „Ich-heit“ besessen ist, kann<br />

man sich weder durch die Schriften, mit Mantras oder anderen Dingen davon<br />

befreien.<br />

Nur durch die beständige Erinnerung an die Wahrheit, dass das Selbst eine<br />

reine Reflektion im unendlichen Bewusstsein ist, hört die „Ich-heit“ auf zu<br />

gedeihen. Die Welterscheinung ist nur ein Taschenspielertrick – alle Subjekt-<br />

Objekt-Beziehungen zwischen ihr und mir sind nichts als Narrheit. Sobald<br />

dieses Verstehen einmal Fuß gefasst hat, wird die „Ich-heit" mit Stumpf und<br />

Stiel ausgerottet. Wenn einmal verstanden wird, dass es dieses „Ich“ ist, welches<br />

die Vorstellung einer „Welt“ entstehen lässt, dann hören beide auf ganz<br />

natürliche und friedliche Weise auf.<br />

Die höhere Form der "Ich-heit", welche in dem Gefühl besteht: „Ich bin eins<br />

mit dem gesamten Universum; es existiert nichts von mir Getrenntes“ ist das<br />

Verstehen eines Erleuchteten. Eine weitere Form der „Ich-heit" besteht darin,<br />

wenn jemand fühlt, dass das „Ich“ extrem subtil und atomisch und daher<br />

verschieden und unabhängig von allem anderen in diesem Universum ist –<br />

auch diese Anschauung ist unwidersprochen förderlich für die Befreiung. Die<br />

zuvor besprochene „Ich-heit“ jedoch, bei der man das Selbst mit dem Körper<br />

identifiziert, muss entschieden aufgegeben werden. Mit Hilfe der beständigen<br />

Kultivierung der höheren Form der „Ich-heit“ wird die niedere Form schließlich<br />

ausgelöscht.<br />

Indem man die niedere „Ich-heit“ in Schach hält, sollte man Zuflucht nehmen<br />

zur höheren Form der „Ich-heit“ und dabei beständig in sich selbst das<br />

Gefühl erzeugen: „Ich bin das Alles“ oder „Ich bin von äußerster Subtilität und<br />

völlig unabhängig von allem“. Zu gegebener Zeit sollte dann diese höhere<br />

Form der "Ich-heit" ebenfalls vollständig aufgegeben werden. Danach kann<br />

man sich entweder beliebigen Tätigkeiten widmen oder in Abgeschiedenheit<br />

leben – die Gefahr eines Falles besteht für diesen nicht länger.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Bhīma, Bhāsa und D­¬ha<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

IV:34<br />

193


Oh Rāma, nachdem Saæbara von den drei Dämonen Dāma, Vyāla und KaÂa<br />

verlassen worden war, erkannte er, dass sie törichterweise egoistische Gedanken<br />

unterhalten hatten und so ins Unglück gerieten. Deshalb kam er zu<br />

dem Entschluss, weitere Dämonen zu erschaffen, aber diesmal mit Selbsterkenntnis<br />

und Weisheit, so dass sie nicht wieder in die Falle des Ich-Sinns<br />

geraten.<br />

Saæbara erschuf dann durch seine magischen Kräfte drei weitere Dämonen,<br />

die als Bhīma, Bhāsa und D­¬ha bekannt wurden. Sie waren allwissend,<br />

mit Selbsterkenntnis versehen, erfüllt von Leidenschaftslosigkeit und ohne<br />

Sünde. Sie betrachteten das gesamte Universum als nicht wertvoller als einen<br />

Grashalm.<br />

Diese begannen nun mit der Armee der Götter zu streiten. Obwohl der<br />

Kampf eine beträchtliche Zeit hin und her wogte, regte sich keinerlei Ich-Sinn<br />

in ihnen. Wann immer der Ich-Sinn sein Haupt erhob, unterwarfen sie ihn mit<br />

Hilfe der Selbsterforschung („Wer bin ich?“). Aus diesem Grunde waren sie<br />

frei von Todesangst, hingegeben an die rechte Handlung in jedem Augenblick,<br />

frei von sämtlichen Anhaftungen, ledig des Gefühls von „ich habe dies getan“,<br />

verpflichtet der Erfüllung der Arbeit, die ihr Meister Saæbara ihnen aufgetragen<br />

hatte, frei von Zuneigung und Abneigung und ausgestattet mit Gleichmut.<br />

So wurde die Armee der Götter schließlich rasch von ihnen besiegt. Die Götter<br />

flohen schutzsuchend zu Gott Vi«ïu. Auf seinen Befehl nahmen sie sodann<br />

ihren Wohnort in einer anderen Gegend auf.<br />

Danach musste Vi«ïu selbst mit dem Dämon Saæbara kämpfen. Nachdem<br />

er von Gott Vishnu erschlagen worden war, erlangte der Dämon unverzüglich<br />

Vishnu‘s Wohnsitz. Vi«ïu befreite auch die drei Dämonen Bhīma, Bhāsa und<br />

D­¬ha, die nach dem Tod ihrer Körper erleuchtet wurden, da sie keinerlei Ich-<br />

Sinn besaßen.<br />

Oh Rāma, es ist nur das konditionierte Gemüt, welches die Bindung schafft,<br />

und Befreiung taucht auf, sobald das Gemüt dekonditioniert ist. Die Konditionierung<br />

des Gemüts fällt dahin, sobald die Wahrheit klar gesehen und verwirklicht<br />

wird. Sobald die Konditionierung des Gemüts aufgehört hat, wird<br />

das Bewusstsein in hohem Maße friedlich – wie wenn die Flamme einer flackernden<br />

Kerze gelöscht wird. Zu erkennen: „Das Selbst allein existiert, was<br />

immer man auch sonst denken mag“ ist die klare Wahrnehmung. „Konditionierung“<br />

und „Gemüt“ sind nichts als Worte ohne einen Wahrheitsgehalt.<br />

Sobald die Wahrheit erforscht wird, verlieren sie ihre Bedeutung – das ist die<br />

klare Wahrnehmung. Sobald diese klare Wahrnehmung auftaucht, taucht<br />

auch die Befreiung auf.<br />

Das Beispiel Dāmas, Vyālas und KaÂas zeigte, wie das Gemüt vom Ich-Sinn<br />

konditioniert wird. Das Beispiel Bhīma, Bhāsa und D­¬ha zeigt das Gemüt,<br />

das frei von Konditionierung oder Ich-Sinn ist. Oh Rāma, sei nicht wie die<br />

ersteren, sondern wie diese letzteren. Das ist der Grund, weshalb ich dir diese<br />

Geschichte erzählt habe, mein teurer und hochintelligenter Schüler.<br />

194


IV:35<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, die wahren Helden sind jene, die das Gemüt, welches von Unwissenheit<br />

und Täuschung beherrscht wird, unter ihre Kontrolle gebracht haben.<br />

Die Kontrolle des Gemüts ist das einzige Mittel, mit dem man die Leiden dieser<br />

Welterscheinung (oder den Zyklus von Geburt und Tod) und die endlose<br />

Kette der Tragödien heilen kann. Ich werde dir nun die Quintessenz aller<br />

Weisheit darlegen – höre aufmerksam zu und lass sie dein Leben mit süßem<br />

Duft erfüllen. Bindung besteht im Verlangen nach Vergnügen, während die<br />

Aufgabe dessen Befreiung bedeutet. Betrachte aus diesem Grunde sämtliche<br />

Vergnügen in dieser Welt als giftigen Rauch.<br />

Das blinde Aufgeben des Verlangens ist nicht hilfreich. Erforsche stattdessen<br />

tiefgründig und ernsthaft die Natur der Sinnesvergnügen und gib alles<br />

Verlangen nach ihnen auf. Dann kannst du glücklich leben.<br />

Durch die Kultivierung segensvoller Eigenschaften und dem allmählichen<br />

Schwinden allen falschen Wissens wird das Gemüt wunschlos, frei von den<br />

Gegensatzpaaren, der Ruhelosigkeit, der Furcht und der Täuschung. Schließlich<br />

ruht das Gemüt in einem Zustand von Frieden und Seligkeit. Dann ist es<br />

gänzlich frei von dem Gift des Ich-Sinns, bösen Gedanken und Gefühlen, Anhaftung<br />

und Leid.<br />

Auf diese Weise wird das Gemüt seinen gewalttätigen Sohn namens Zweifel<br />

und dessen Gemahlin namens Verlangen los. Ironischerweise hat das erleuchtete<br />

Gemüt das Aufhören eben der Dinge zur Folge, die sein Wachstum unterstützt<br />

haben. Indem die Erforschung seiner wahren Natur immer weiter<br />

getrieben wird, gibt das Gemüt schließlich sogar seine Identifizierung mit<br />

dem Körper auf. Das unwissende Gemüt breitet sich aus – beim Aufdämmern<br />

der Weisheit jedoch hört dasselbe Gemüt auf, das Gemüt zu sein.<br />

Das Gemüt selbst ist dieses ganze Universum. Das Gemüt ist die Bergkette.<br />

Das Gemüt ist Raum. Das Gemüt ist Gott. Nur das Gemüt ist Freund oder<br />

Feind. Sobald das Bewusstsein sich selbst vergisst und der Modifikation und<br />

psychologischen Konditionierung unterworfen ist, wird es zu dem, was man<br />

Gemüt nennt, welches wiederum Geburt und Tod entstehen lässt. Dann ist es<br />

als der jīva bekannt, der zu dem Teil des unendlichen Bewusstseins geworden<br />

ist, welcher die Eigenschaften eines Objektes in diesem Bewusstsein angenommen<br />

hat, nur ein wenig durch psychologische Konditionierung umhüllt.<br />

Dieser jīva entfernt sich von der Wahrheit des unendlichen Bewusstseins und<br />

versinkt durch den Kontakt mit der Welterscheinung tiefer und tiefer in der<br />

Konditionierung.<br />

Selbstverständlich ist das Selbst weder der jīva noch der Körper noch dessen<br />

Bestandteile. Das Selbst ist wie Raum, gänzlich unabhängig von all diesem.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

195


Oh Rāma, das Gemüt selbst ist der jīva – das Gemüt erfährt nur das, was es<br />

aus sich selbst heraus nach außen projiziert hat. Dadurch wird es gebunden.<br />

Die Verfassung des Gemüts bestimmt die Art der Wiedergeburt des jīva.<br />

Wer ein König sein will, träumt, dass er ein König ist. Was jemand intensiv<br />

wünscht, wird er früher oder später auch erlangen. Wenn das Gemüt unrein<br />

ist, sind auch seine Wirkungen unrein; ist es dagegen rein, dann sind es auch<br />

seine Produkte. Der edle Mensch vergisst auch in schwierigen Umständen<br />

nicht seine spirituellen Ziele.<br />

In der Wahrheit gibt es weder Bindung noch Befreiung. Das Unendliche<br />

denkt „Ich bin der Körper“, und so wird dieser Gedanke zur Bindung. Wenn<br />

man erkennt, dass all dieses falsch ist, dann leuchtet man selbst als das unendliche<br />

Bewusstsein. Sobald das Gemüt durch reine Gedanken und Handlungen<br />

geläutert worden ist, nimmt es die Natur des Unendlichen an; so wie<br />

reines, weißes Tuch leicht zu färben ist.<br />

Sobald in einem reinen Gemüt die Konzepte und Vorstellungen von Körper,<br />

Wissen um die Schriften und Leidenschaftslosigkeit usw. auftauchen, dann<br />

erscheint die Welt. Sobald sich das Gemüt in das äußere, objektive Universum<br />

verwickeln lässt, entfernt es sich vom Selbst. Wenn das Gemüt jedoch die<br />

Subjekt-Objekt-Beziehung aufgibt, die es mit der Welt hat, wird es unverzüglich<br />

im Unendlichen absorbiert.<br />

Das Gemüt besteht nicht getrennt vom unendlichen Bewusstsein – es existierte<br />

nicht am Anfang, es wird nicht am Ende existieren, und es existiert<br />

nicht einmal in diesem Augenblick! Wer denkt, es existiere, lädt nichts als<br />

Leid auf sein Haupt. Wer erkennt, dass diese Welt in Wahrheit das Selbst ist,<br />

kann dieses Leid hinter sich lassen, und die Welt gibt ihm Freude und Befreiung.<br />

Das Gemüt ist nichts anderes als die Ideen und Vorstellungen – wer würde<br />

wohl trauern, wenn ein solches Gemüt an sein Ende gelangt? Die Wirklichkeit<br />

ist Bewusstsein, das in der Mitte zwischen Seher und Objekt liegt. Es ist diese<br />

Realität, die vom Gemüt verhüllt wird und die enthüllt ist, sobald das Gemüt<br />

aufhört.<br />

Sobald die Konditionierung des Gemüts aufhört, gelangen auch Unwissenheit,<br />

Verlangen, Wünsche und Abneigungen, Täuschung, Torheit, Furcht und<br />

Ideengebilde an ihr Ende; Reinheit, Segen und Güte tauchen auf. Man erfreut<br />

sich der Selbsterkenntnis.<br />

Wessen Intelligenz durch die Vernichtung aller inneren Unreinheiten klar<br />

geworden ist, dessen Herz wird vom Licht des Selbst erleuchtet, welches<br />

durch die Erforschung des Selbst erlangt wird. Wer die Bedeutungslosigkeit<br />

von Geburt und Tod erkannt hat, wohnt ohne Furcht und Angst in der Stadt<br />

des Körpers.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, das unendliche Bewusstsein ist transzendental. Bitte sage mir,<br />

wie dieses Universum darin existieren kann.<br />

IV:36<br />

196


IV:37<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, dieses Universum existiert im unendlichen Bewusstsein wie die<br />

zukünftigen Wellen in einem stillen Meer existieren – nicht-verschieden in<br />

Wahrheit, jedoch mit der Potentialität einer scheinbaren Verschiedenheit.<br />

Das unendliche Bewusstsein ist unmanifestiert, obgleich allgegenwärtig wie<br />

Raum, der auch unmanifestiert ist und doch überall existiert. So wie man von<br />

der Widerspiegelung eines Objektes in einem Kristall nicht sagen könnte,<br />

dass sie gänzlich unwirklich oder gänzlich wirklich sei, so kann man dasselbe<br />

auch nicht von diesem Universum sagen, welches im unendlichen Bewusstsein<br />

widerspiegelt wird. Noch einmal: So wie Raum unberührt von den Wolken<br />

ist, die in ihm treiben, so ist dieses unendliche Bewusstsein unberührt<br />

und unangetastet von dem Universum, welches in ihm erscheint. Ebenso wie<br />

das Licht nur durch ein strahlenbrechendes Medium wahrgenommen werden<br />

kann, so wird das unendliche Bewusstsein durch das Medium dieser verschiedenen<br />

Körper enthüllt. Obwohl es in seinem Wesen namen- und formlos<br />

ist, werden seinen Reflektionen Namen und Formen zugeschrieben.<br />

Bewusstsein, das im Bewusstsein reflektiert wird, leuchtet als Bewusstsein<br />

und existiert als Bewusstsein. Für den Unwissenden jedoch (auch wenn dieser<br />

sich selbst für weise und vernünftig hält ) sieht es so aus, als ob da etwas<br />

in die Existenz getreten sei und daher etwas anderes als nur Bewusstsein<br />

existiert. Für den Unwissenden erscheint dieses Bewusstsein als die schreckenerregende<br />

Welterscheinung – für den Weisen dagegen erscheint dasselbe<br />

Bewusstsein als das eine Selbst. Dieses Bewusstsein allein ist das reine Erfahren<br />

– nur dank ihm scheint die Sonne, und alle Wesen erfreuen sich ihres<br />

Lebens hier.<br />

Dieses Bewusstsein ist weder erschaffen noch dem Vergehen unterworfen,<br />

es ist ewiglich. Die Welterscheinung wird ihm nur überlagert, so wie die<br />

Wellen in Beziehung zum Ozean. In diesem Bewusstsein taucht, sobald es sich<br />

in sich selbst reflektiert, die Vorstellung „Ich“ auf, die Anlass zum Erscheinen<br />

der Vielfalt gibt. Als Raum befähigt dasselbe Bewusstsein den Samen zu keimen,<br />

als Luft lockt es den Samen hervor, als Wasser nährt es ihn, als Erde gibt<br />

es ihm Festigkeit, und als Licht enthüllt das Bewusstsein selbst das neue<br />

Leben. Es ist das Bewusstsein in dem Samen selbst, das nach gebührender<br />

Zeit sich als Frucht manifestiert.<br />

Das Bewusstsein allein ist die verschiedenen Jahreszeiten mit ihren Eigenschaften.<br />

Es geschieht aufgrund dieses Bewusstseins, dass das gesamte Universum<br />

auf diese Weise existiert und dabei eine unendliche Anzahl Lebewesen<br />

unterhält bis zur Zeit der kosmischen Auflösung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Und so kommt und geht diese Welterscheinung als die wahre Natur des<br />

unendlichen Bewusstseins. Nicht-verschieden vom unendlichen Bewusstsein<br />

weist diese Welterscheinung eine wechselseitige Beziehung mit diesem auf –<br />

es taucht in ihm auf, existiert in ihm und wird in ihm absorbiert. Obschon es<br />

197


wie die Tiefsee nicht erregt ist, so ist es doch erregt wie die Wellen, die an der<br />

Oberfläche erscheinen. So wie eine unter Drogen stehende Person sich für<br />

eine gänzlich andere Person hält, so betrachtet sich dieses Bewusstsein, seiner<br />

selbst bewusst werdend, als etwas ganz anderes.<br />

Dieses Universum ist weder wirklich noch unwirklich – es existiert im Bewusstsein,<br />

jedoch nicht unabhängig in eben diesem. Obschon es wie eine<br />

Hinzufügung zum Bewusstsein erscheint, existiert es doch in keiner Weise<br />

außerhalb von diesem. Die Beziehung ist so wie diejenige zwischen Gold und<br />

Schmuckstücken aus Gold.<br />

Dieses Selbst, das Höchste Brahman, welches alles durchdringt, befähigt<br />

dich zum Erfahren von Klang, Geschmack, Gestalt und Duft, o Rāma. Es ist<br />

transzendental und allgegenwärtig – es ist nicht-dual und rein. In ihm gibt es<br />

nicht einmal eine Vorstellung von etwas anderem. Diese ganze Vielfalt von<br />

Existenz und Nicht-Existenz, Gut und Böse, sind die leeren Vorstellungen<br />

unwissender Menschen. Es spielt keine Rolle, ob man sagt, dass diese Imagination<br />

auf dem Selbst gründet oder auf dem Nichtselbst.<br />

Da es nichts anderes als das Selbst gibt – wie kann es dann noch den<br />

Wunsch nach etwas anderem geben? Vorstellungen wie „dies ist zu erstreben“<br />

oder „dies ist abzulehnen“ berühren das Selbst daher nicht. Da das<br />

Selbst wunschlos ist, und da der Täter, das Instrument der Handlung und die<br />

Handlung selbst nicht-dual sind, wird es nicht in Handlung verstrickt. Da das,<br />

was existiert, und das, in welchem es existiert, identisch sind, kann man nicht<br />

einmal sagen, dass es ist. Da es in ihm keinerlei Verlangen irgendwelcher Art<br />

gibt, gibt es in ihm auch keinerlei Vorstellung von Untätigkeit.<br />

Da ist nichts anderes, o Rāma. Du bist wahrhaftig dieses absolute Brahman.<br />

Befreie dich daher von allen Vorstellungen der Dualität und lebe ein aktives<br />

Leben. Was hast du zu gewinnen, indem du irgendwelche Handlungen wieder<br />

und wieder ausführst? Und was gewinnst du, wenn du inaktiv bleibst? Oder<br />

durch Festhalten an den Schriften? Oh Rāma, verbleibe im Frieden und in<br />

Reinheit wie der Ozean, wenn er nicht durch Wind aufgewühlt wird. Dieses<br />

Selbst, von dem alles gänzlich durchdrungen ist, wird nicht durch Reisen in<br />

die Ferne gewonnen. Lass dein Gemüt nicht unter den Objekten der Welt<br />

umherwandern. Du selbst bist das Höchste Selbst, das unendliche Bewusstsein<br />

– du bist nichts anderes!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, das Gefühl der Täterschaft (die Vorstellung von „ich tue dies“),<br />

welches zu Glück und Unglück oder auch zum <strong>Yoga</strong>-Zustand führt, ist in den<br />

Augen der Weisen rein fiktiv; in den Augen des Unwissenden ist es jedoch<br />

real. Denn was ist schließlich die Quelle dieser Vorstellung? Diese Vorstellung<br />

entsteht, wenn das Gemüt, angespornt durch Neigungen,, etwas für sich gewinnen<br />

will. Die sich daraus ergebenden Handlungen schreibt man dann sich<br />

selbst zu. Wenn dann dieselbe Handlung zu Ergebnissen führt, entsteht die<br />

Vorstellung „Ich erfreue mich an diesem“. Beide Vorstellungen sind in Wahrheit<br />

die zwei Gesichter derselben Vorstellung.<br />

IV:36<br />

198


IV:39<br />

Ob man handelt oder nicht, ob man im Himmel oder in der Hölle ist – was<br />

auch immer die Art der psychologischen Konditionierung ist, dieses wird vom<br />

Gemüt erfahren. Für die unwissende und konditionierte Person gibt es daher<br />

immer die Vorstellung „Ich tat dies“, unabhängig davon, ob sie etwas tut oder<br />

nicht. Im Erleuchteten und Unkonditionierten taucht diese Vorstellung dagegen<br />

nicht auf. Sobald die Wahrheit diesbezüglich erkannt wird, wird die Konditionierung<br />

schwächer. Als Ergebnis davon ist der weise Mensch nicht länger<br />

an den Früchten solcher Handlungen interessiert, obwohl er fortfährt, in der<br />

Welt zu handeln. Er lässt die Handlungen in seinem Leben ohne Anhaftung an<br />

diese Handlungen einfach geschehen. Was auch immer die Ergebnisse dieser<br />

Handlungen sein mögen – er betrachtet sie als nicht verschieden von seinem<br />

eigenen Selbst. Jedoch ist dies nicht die Haltung derjenigen, die in den mentalen<br />

Zuständen versunken sind.<br />

Nur was das Gemüt tut, kann als Handlung bezeichnet werden. Daher ist<br />

das Gemüt allein der Täter aller Handlungen, nicht der Körper. Das Gemüt<br />

allein ist diese Welterscheinung, die in ihm aufgetaucht ist und in ihm verbleibt.<br />

Sobald die Objekte und das erfahrende Gemüt still geworden sind,<br />

verbleibt nur noch Bewusstsein.<br />

Die Weisen erklären, dass das Gemüt des Erleuchteten weder in einem Zustand<br />

der Seligkeit noch ledig der Seligkeit sei, weder in Bewegung noch<br />

bewegungslos, weder wirklich noch unwirklich, sondern zwischen allen<br />

diesen Konzepten. Sein unkonditioniertes Bewusstsein spielt seine Rolle selig<br />

in dieser Welterscheinung wie in einem Spiel. Da es die mentale Konditionierung<br />

ist (die im Unwissenden existiert), die die Natur der Handlung und<br />

Erfahrung bestimmt, und da all dies im Erleuchteten abwesend ist, befindet<br />

sich der Letzere auf ewig in der Seligkeit. Seine Handlungen sind Nicht-<br />

Handlungen. Er lädt daher weder Verdienst noch Schuld auf sich. Sein Verhalten<br />

ist das eines Kindes – auch wenn er Schmerzen zu erleiden scheint, so<br />

erleidet er sie nicht. Er ist dieser Welterscheinung und den Handlungen von<br />

Verstand und Sinnen vollständig unverhaftet. Er unterhält nicht einmal die<br />

Vorstellung von Bindung oder Befreiung. Er sieht das Selbst und das Selbst<br />

allein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, im absoluten, allmächtigen Brahman erscheinen dessen unendliche<br />

Möglichkeiten in der Gestalt dieses sichtbaren Universums. Alle diese verschiedenen<br />

Kategorien wie Realität, Irrealität, Vielfalt, Anfang und Ende<br />

existieren in diesem Brahman. Wie Wellen auf dem Meer erscheint auch der<br />

jīva in Brahman aufgrund des individualisierten Bewusstseins als selbstbegrenzt.<br />

Dieser jīva erleidet fortschreitend eine immer massivere Konditionierung.<br />

Er funktioniert in Übereinstimmung mit dieser Konditionierung und<br />

erfährt die Ergebnisse der entsprechenden Handlungen.<br />

RùMA fragte: Oh Herr, Brahman ist frei von Leid, und doch ist das, was aus<br />

ihm entstanden ist, wie eine Kerze an einer anderen entzündet wird, dieses<br />

ganze Universum bis oben angefüllt mit Leid. Wie ist dies möglich?<br />

199


IV:40<br />

VùLMýKI sagte: Nachdem er diese Frage vernommen hatte, dachte<br />

Vāsi«Âha eine Weile nach. Offensichtlich war Rāmas Verständnis aufgrund<br />

von Unreinheiten im Gemüt noch nicht vollständig genug. Aber wenn er die<br />

Wahrheit nicht vollständig erfassen kann, wird sein Gemüt niemals Ruhe<br />

finden. Solange das Gemüt von Gedanken an Vergnügen oder Glück bewegt<br />

wird, bleibt es unfähig, die Wahrheit zu verstehen. Ist das Gemüt aber rein,<br />

dann versteht er die Wahrheit sofort. Daher sagt man: Wer jemandem, der<br />

unwissend oder erst halb-erwacht ist, erklärt: „Alles ist Brahman“, geht zur<br />

Hölle. Ein weiser Lehrer sollte daher seine Schüler zuvor dazu anhalten, in<br />

der Selbstbeherrschung und im Stillsein zu verbleiben. Weiterhin sollte der<br />

Schüler geprüft werden, bevor ihm das Wahrheitswissen mitgeteilt wird.<br />

Dann sagte<br />

VASIåèHA:<br />

Du wirst die Wahrheit, ob Brahman frei von Leid ist oder nicht, für dich<br />

selbst entdecken. Andernfalls werde ich dir zu gegebener Zeit zu Hilfe kommen.<br />

Für den Moment betrachte dies:<br />

Brahman ist allmächtig und allgegenwärtig und die allem innewohnende<br />

Präsenz. Es ist dieses Brahman, welches mit Hilfe der unbeschreibbaren<br />

Macht namens Māyā diese Schöpfung ins Sein gerufen hat. Māyā ist fähig, das<br />

Unwirkliche als wirklich erscheinen zu lassen und umgekehrt – so wie der<br />

leere Raum des Himmels von blauer Farbe zu sein scheint.<br />

Bedenke, Rāma: In dieser Welt selbst siehst du diese unendliche Vielfalt von<br />

Lebewesen. Darin besteht die Manifestation der unendlichen Möglichkeiten<br />

des Höchsten Herrn. Heiße die Ruhe des Gemüts willkommen! Der schaut die<br />

Wahrheit, der in sich selbst im Frieden ist. Sobald das Gemüt nicht im Frieden<br />

ist, erscheint die Welt als ein Tollhaus der Vielfalt. In Wirklichkeit aber ist<br />

dieses Universum die offenbare Manifestation der unendlichen Möglichkeiten<br />

des Höchsten Herrn. So wie dort, wo Licht ist, die Dinge auf natürliche Weise<br />

sichtbar werden, so ist diese Welterscheinung aufgrund der Allmacht des<br />

Herrn als seine eigene Natur aufgetaucht. Jedoch ist gleichzeitig mit dieser<br />

Welterscheinung auch die Unwissenheit aufgetreten, die die Ursache der<br />

Kümmernisse ist. Gib diese Unwissenheit auf und sei frei.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, diese ganze Welterscheinung ist nichts als eine zufällige Manifestation,<br />

wie sie aus der Absicht der allmächtigen Bewusstseinsenergie (citśakti)<br />

des unendlichen Bewusstseins bzw. Brahman hervorgegangen ist.<br />

Diese Absicht verdichtet sich und erscheint im Gemüt als Substanz. Das Gemüt<br />

reproduziert daraufhin unverzüglich die Substanz wie ein objektives<br />

Ding. An diesem Punkt entsteht die Vorstellung, dass diese Schöpfung faktisch<br />

ihre fundamentale und wahre Natur als das unendliche Bewusstsein aufgegeben<br />

habe.<br />

Dieses unendliche Bewusstsein nimmt innerhalb von sich selbst anscheinend<br />

eine vollkommene Leere wahr, und es ist dann die Bewusstseinsenergie<br />

200


(cit-Óakti), die daraufhin Raum ins Sein treten lässt. In dieser Bewusstseinsenergie<br />

taucht sodann eine Absicht zur Vielheit auf. Es ist diese Absicht, die<br />

als der Schöpfer Brahmā angesehen wird, zusammen mit seinem Gefolge<br />

weiterer Lebewesen. Auf diese Weise sind sämtliche vierzehn Welten im<br />

Raum des unendlichen Bewusstseins mit ihrer unendlichen Vielfalt von Lebewesen<br />

erschienen. Einige von diesen sind in dichte Finsternis eingetaucht,<br />

andere wiederum sind sehr nahe an der Erleuchtung, während andere vollständig<br />

erleuchtet sind.<br />

In dieser Welt, o Rāma, unter den vielen Arten von Lebewesen sind nur die<br />

menschlichen Wesen fähig, über die Natur der Wahrheit belehrt zu werden.<br />

Unter diesen sind außerdem viele von Leid und Täuschung, Hass und Furcht<br />

besessen. Alle diese Dinge werde ich in allen Einzelheiten erörtern.<br />

Jedoch sind alle diese Diskussionen darüber, wer diese Welt erschaffen hat<br />

und wie, nur da, um die Schriften zu erschaffen und auszulegen. – sie basieren<br />

nicht auf der Wahrheit. Die Modifikationen, die im unendlichen Bewusstsein<br />

oder der Gestalt des kosmischen Seins auftauchen, finden nicht wirklich<br />

im Höchsten Herrn statt, obwohl eben dies so zu sein scheint. Es gibt tatsächlich<br />

nichts anderes als das unendliche Bewusstsein, selbst in der Fantasie! Zu<br />

denken, dass hier der Schöpfer und dort das erschaffene Universum sei, ist<br />

absurd. Wenn eine Lampe an der anderen entzündet wird, dann gibt es zwischen<br />

ihnen keinerlei Schöpfer-Schöpfungsbeziehung – Feuer ist nur eines.<br />

Schöpfung ist nur ein Wort ohne eine damit zusammenhängende substanzielle<br />

Realität.<br />

Bewusstsein ist Brahman, das Gemüt ist Brahman, der Intellekt ist Brahman<br />

– Brahman allein ist die Substanz von allem. Klang oder Worte sind Brahman<br />

und Brahman allein ist der Bestandteil sämtlicher Substanzen. Alles dies ist in<br />

der Tat Brahman – in Wirklichkeit gibt es keine Welt.<br />

So wie nach Entfernen des Schmutzes die darunterliegende Substanz zum<br />

Vorschein kommt, so wie nach dem Schwinden der nächtlichen Dunkelheit<br />

die von der Finsternis verhüllten Objekte deutlich gesehen werden, so wird<br />

die Wahrheit realisiert, sobald die Unwissenheit aufgelöst ist.<br />

Rāma fragte:<br />

Mein Herr, wie kann es im unendlichen Bewusstsein die Absicht zur Vielfalt<br />

geben?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Oh Rāma, in meinen Aussagen gibt es keinerlei Widersprüche. Du wirst die<br />

Schönheit der Wahrheit in meinen Aussagen selbst erfahren, wenn du die<br />

Wahrheit siehst. Beschreibungen der Schöpfung usw., wie sie in den Schriften<br />

gegeben werden, existieren nur für den Zweck der Belehrung der Schüler;<br />

erlaube nicht, dass dein Gemüt von ihnen beeindruckt wird. Wenn du erst<br />

einmal das erkannt hast, worauf alle Worte hindeuten, wirst du alle Wortgefechte<br />

aufgeben.<br />

IV:41<br />

201


IV:42<br />

Im unendlichen Bewusstsein selbst gibt es weder eine Absicht noch den<br />

Schleier der Täuschung. Und doch erscheint dies alles vor dir als die Welt.<br />

Dies kann nur dann erkannt werden, wenn die Unwissenheit an ihr Ende<br />

gelangt. Die Unwissenheit wird nicht aufhören außer mit Hilfe der Unterweisung,<br />

die in diesen Worten und Beschreibungen verborgen liegt. Diese Unwissenheit<br />

sucht sich selbst zu zerstören und fahndet daher nach dem Licht des<br />

Wahrheitswissens. Waffen werden durch andere Waffen zerstört, Schmutz<br />

beseitigt Schmutz, Gift kuriert die Vergiftung und Feinde werden von Feinden<br />

vernichtet – auf dieselbe Weise frohlockt diese Māyā, wenn sie selbst zerstört<br />

wird! Im selben Moment, indem du dir dieser Māyā bewusst wirst, verschwindet<br />

sie schon.<br />

Diese Unwissenheit oder Māyā verdunkelt die Wahrheit und erzeugt diese<br />

Vielfalt, jedoch kennt sie ihre eigene wahre Natur nicht, und das ist sehr seltsam.<br />

Solange man nicht herausfindet, was sie ist, wird man von ihr beherrscht.<br />

Im selben Moment, wo es Erforschung dieser Natur gab, hört sie<br />

auf.<br />

Māyā existiert in Wahrheit überhaupt nicht. So lange diese Wahrheit von<br />

dir nicht direkt erfahren wird, musst du mein Wort dafür nehmen. Wer weiß,<br />

dass Brahman allein die Wahrheit ist, der ist befreit. Alle anderen Gesichtspunkte<br />

binden eine Person an die Unwissenheit.<br />

Ohne Selbsterkenntnis wird diese Unwissenheit nicht verschwinden. Und<br />

Selbsterkenntnis tritt nur nach tiefem Studium der Schriften ein. Was auch<br />

immer der Ursprung dieser Unwissenheit sein mag – sicherlich existiert<br />

sogar das im Selbst. Daher, o Rāma, erforsche nicht die Frage „Wie ist diese<br />

Unwissenheit aufgetaucht?“, sondern erforsche mit der Frage „Wie kann ich<br />

sie loswerden?“. Erst wenn diese Unwissenheit oder Māyā aufgehört hat zu<br />

sein, wirst du verstehen, wie sie auftreten konnte. Du wirst realisieren, dass<br />

diese Unwissenheit nicht real ist. Sie entsteht nur im Zustand der Nicht-<br />

Weisheit. Keine einzige Person, ob sie nun ein großer Gelehrter oder ein Held<br />

sei, wurde jemals von dieser Unwissenheit verschont! Diese Unwissenheit ist<br />

die Quelle aller Kümmernisse – entwurzele und zerstöre sie.<br />

VASIåèHA fuhr fort: Ich werde dir nun nochmals erklären, auf welche Weise<br />

das unendliche Bewusstsein als jīva und alles andere erscheinen konnte. Am<br />

Meer beobachtest du, wie es an einigen Stellen ruhig und an anderen bewegt<br />

ist. Auf dieselbe Weise scheint das unendliche Bewusstsein an einigen Stellen<br />

die Vielfalt zu beherbergen, während es jedoch in sich selbst nicht-dual ist. Es<br />

ist ganz natürlich für das allmächtige, unendliche Bewusstsein, sich in seiner<br />

unendlichen Herrlichkeit zu manifestieren.<br />

Diese Manifestation der Allmacht des unendlichen Bewusstseins geht ein<br />

Bündnis mit Zeit, Raum und Verursachung ein, die für die Manifestation unentbehrlich<br />

sind. Anschließend erscheint all dies als Namen und Formen.<br />

Jedoch sind alle diese scheinbaren Manifestationen in Wirklichkeit nichtverschieden<br />

vom unendlichen Bewusstsein. Dieser Aspekt des unendlichen<br />

Bewusstseins, der sich selbst zur Manifestation der Namen und Formen und<br />

202


somit zu Zeit, Raum und Verursachung in Beziehung setzt, wird als „der Kenner<br />

des Feldes“ bzw. das Zeugenbewusstsein bezeichnet. Der Körper ist das<br />

Feld; das, was dieses Feld innen und außen und in allen seinen Aspekten<br />

kennt, ist der Kenner des Feldes.<br />

Dieses Zeugenbewusstsein wird in die latenten Neigungen hineingezogen<br />

und entwickelt den Ich-Sinn. Sobald dieser Ich-Sinn in sich selbst Vorstellungen<br />

und Absichten erzeugt, ist er als der Intellekt bekannt. Als Denkinstrument<br />

wiederum ist er als Gemüt oder Verstand bekannt. Wenn die Intelligenz<br />

sich weiter modifiziert oder pervertiert, dann wird sie zu den Sinnen. All<br />

dieses bildet dann den Körper. So wie eine Frucht während der Reife verschiedene<br />

Wandlungen der Größe, Farbe usw. erfährt, so wird das Bewusstsein<br />

scheinbar den Wandlungen unterworfen, während die Unwissenheit sich<br />

vertieft und verdichtet.<br />

Die törichte Person verwirft dann alles rechte Denken oder die Erforschung<br />

der Wahrheit und wirft sich aus freien Stücken in die angeblich seligmachenden<br />

Arme der Unwissenheit. Gefangen in seiner eigenen Falle der verschiedenen<br />

Tätigkeiten und aufgrund der Identifikation seiner selbst mit dem<br />

Täter erleidet er endlosen Kummer, der selbst-auferlegt und aus eigenem<br />

Willen entstanden ist. Oh Rāma, die Ursache allen Unheils in dieser Welt ist<br />

nur das Gemüt, welches voll von Sorgen, Kummer, Wunsch und Täuschung ist.<br />

Die Selbsterkenntnis beiseiteschiebend, erzeugt es Verlangen und Zorn, böse<br />

Gedanken und Gier, durch die der Mensch in das Feuer der Sinnesobjekte<br />

geworfen wird. Oh Rāma, befreie dieses Gemüt von dem Sumpf der Unwissenheit.<br />

Oh Rāma, der ist in der Tat ein Dämon in Menschengestalt, der nicht verzweifelt<br />

in diesem unreinen Zustand des Gemüts, wie er durch ständig wechselnde<br />

gute und böse Gedanken hervorgerufen wird, und der dem Altern,<br />

dem Tod und der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Diese zufällig entstandene Manifestation der Macht des unendlichen Bewusstseins<br />

erscheint als die Millionen Lebewesen dieses Universums. Diese<br />

zahllosen Wesen sind in ihrer eigenen mentalen Konditionierung gefangen.<br />

Sie finden sich in jedem Land und an jedem Ort dieses Universums und in<br />

allen nur vorstellbaren Situationen.<br />

Einige von ihnen sind Teil der neuen Schöpfung dieser Epoche, während<br />

andere schon sehr viel älter sind. Einige haben erst einige Male inkarniert,<br />

während andere bereits zahllose Inkarnationen hinter sich haben. Einige sind<br />

befreit. Andere wiederum sind in schrecklichem Leiden versunken. Einige<br />

sind himmlische Wesen, einige Halbgötter, und andere wiederum sind die<br />

Gottheiten, die dieses manifestierte Universum regieren. Einige sind Dämonen,<br />

andere Kobolde. Einige gehören einer der vier Kasten der menschlichen<br />

Gesellschaft an, während andere in primitiven, unzivilisierten Stämmen leben.<br />

IV:43<br />

203


Einige von ihnen haben die Gestalt von Kräutern und Gräsern, während andere<br />

als Wurzeln, Früchte und Blätter erscheinen. Einige sind Kletterpflanzen,<br />

während andere als Blumen leben. Einige sind Könige mit ihren Ministern,<br />

gekleidet in königliche Roben, andere wiederum sind in Lumpen oder Baumrinde<br />

gekleidet, weil sie entweder Bettler oder Einsiedler sind.<br />

Manche sind Schlangen, andere Insekten; wieder andere sind Tiere wie Löwen,<br />

Tiger usw. Einige sind Vögel, andere dagegen Elefanten oder Esel.<br />

Manche sind wohlhabend, während andere in Armut leben. Einige sind im<br />

Himmel, andere befinden sich in der Hölle. Manche leben in den Regionen der<br />

Sterne, andere in den Höhlungen sterbender Bäume. Manche leben unter<br />

befreiten Weisen, während andere bereits befreite Weise sind, die sich über<br />

ihr Körperbewusstsein erhoben haben. Einige sind mit erleuchteter Intelligenz<br />

gesegnet, während andere außerordentlich stumpfsinnig sind.<br />

Oh Rāma, so wie es in diesem Universum zahllose Lebewesen verschiedenster<br />

Art gibt, so leben auch in anderen Universen ähnliche Lebewesen mit<br />

anderen Körpern, die für jene Universen gemacht sind.<br />

Jedoch alle von ihnen sind durch ihre eigenen mentalen Konditionierungen<br />

gebunden. Alle diese Wesen durchwandern dieses Universum – manchmal<br />

himmelhoch jauchzend, manchmal zu Tode betrübt. Und mit ihnen allen<br />

spielt der Tod wie mit einem Ball. Gebunden durch ihre zahllosen Wünsche<br />

und Anhaftungen und begrenzt durch ihre eigene mentale Konditionierung<br />

wandern sie von einem Körper zum nächsten. Sie werden dies so lange fortsetzen,<br />

bis sie die Wahrheit ihres eigenen Selbst erfahren, welches das unendliche<br />

Bewusstsein ist. Nach der Erlangung der Selbsterkenntnis sind sie von<br />

der Täuschung befreit und kehren nicht wieder auf diese Stufe von Geburt<br />

und Tod zurück.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Und doch geschieht all diese Schöpfung nur wie im Traum. Diese Schöpfung<br />

ist nicht wirklich – sie erscheint nur so. Wer seine Unwissenheit vollständig<br />

aufgelöst hat und in dem alle Formen der Konditionierung erloschen sind –<br />

der ist ein befreiter Weiser. Obwohl er sich dieser Fata Morgana, die als Welterscheinung<br />

auftritt, bewusst zu sein scheint, sieht er sie in Wahrheit nicht<br />

als die Welt. Diese Welterscheinung wird auf ganz natürliche Weise immer<br />

von sämtlichen jīvas wahrgenommen, bis der jīva schließlich die Befreiung<br />

erlangt. Daher existiert in jedem jīva der Körper in potentieller Gestalt; jedoch<br />

nicht in seiner eigentlichen physischen Substanz, sondern als Gedanke<br />

und Absicht.<br />

Ich werde dir nun noch einmal beschreiben, wie der Schöpfer Brahmā im<br />

unendlichen Bewusstsein auftaucht. Du wirst dann aufgrund dessen sehen,<br />

wie in demselben Bewusstsein die unendlichen Lebewesen auftauchen. Das<br />

unendliche Bewusstsein, welches ohne Zeit, ohne Raum und ohne Ursache<br />

ist, nimmt diese auf spielerische Weise an. Auf diese Weise tritt dann die<br />

IV:44<br />

204


IV:45<br />

kosmische Person ins Sein. Diese kosmische Person ist gleichzeitig das kosmische<br />

Gemüt und das kosmische Leben.<br />

Diese kosmische Person wünscht den Klang zu erfahren – und so tritt Raum<br />

ins Sein, mit der Eigenschaft, Klang zu übertragen. Die kosmische Person<br />

wünscht Berührung zu erfahren – so entsteht die Luft. Diese beiden sind noch<br />

unsichtbar und subtil. Die kosmische Person, die nun zu sehen wünscht, lässt<br />

das Feuer ins Sein treten, und dieses Feuer erweitert sich dann zu den zahllosen<br />

Quellen des Lichts. Die kosmische Person wünscht des weiteren Geschmack<br />

und Kühle zu erfahren, um dem Feuer entgegen zu wirken – auf<br />

diese Weise entsteht das Wasser. Und zuletzt entsteht durch den bloßen<br />

Wunsch, riechen zu können, die Erde mit ihrer Vielzahl von Düften.<br />

Diese kosmische Person mit allen ihren Fähigkeiten ist immer noch extrem<br />

subtil und ungeteilt. Anscheinend gibt sie dann diese Existenzform auf und<br />

nimmt sich selbst wie unendliche Funken im Raum wahr. Sie hält sich selbst<br />

für jeden einzelnen dieser Funken, und so entsteht der Ich-Sinn. Dieser Ich-<br />

Sinn verfügt ebenfalls über eine eingeborene Intelligenz. Er ersinnt mit Hilfe<br />

der bereits erwähnten fünf kosmischen Elemente einen Körper für sich<br />

selbst. Diesen Körper stellt er sich grob, physisch und materiell vor – und so<br />

wird dann dieser Körper auch.<br />

Diese kosmische Person ist Brahmā. Er scheint all diese zahllosen Wesen zu<br />

erschaffen, und er beschützt sie auch. Er erschien zuerst im unendlichen<br />

Bewusstsein. Aber aufgrund von scheinbarer Selbst-Begrenzung und Vergessen<br />

seiner eigenen, unendlichen Natur (wie im fötalen Schlafe), identifiziert<br />

er sich selbst mit dem Körper, wie dieser von der Lebenskraft (prāïa) angetrieben<br />

und erhalten wird und aus materiellen Substanzen zusammengesetzt<br />

ist. Sobald er seinen Ursprung zu erforschen beginnt, enthüllt sich ihm seine<br />

wahre Natur und er ist befreit von der Selbst-Begrenzung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, obwohl dieses Universum zu existieren scheint, gibt es nichts,<br />

was als das Universum existieren könnte. All dies ist nichts als die Erscheinung<br />

oder Reflektion des unendlichen Bewusstseins, welches die einzige<br />

Realität ist. In diesem Bewusstsein erscheint diese Schöpfung wie in einem<br />

Traum. Es ist daher nur die Realität, in der dieser Traum erscheint, die wirklich<br />

ist – und diese ist unendliche Leere. Du siehst die Welt deshalb, weil die<br />

Augen (und die anderen Sinne) die Welt wahrnehmen. Auf dieselbe Weise<br />

denkst oder glaubst du, dass sie existiert, weil dein Gemüt so denkt. Und es<br />

ist dieses Gemüt, welches diesen Körper für seine eigenen Zwecke ins Leben<br />

gerufen hat.<br />

Alle diese Kräfte, die dem Gemüt eingeboren sind, und mit deren Hilfe diese<br />

Welt ins Sein getreten ist, stammen aus dem unendlichen Bewusstsein. Aus<br />

diesem Grunde haben die Weisen erklärt, dass das Gemüt allmächtig sei. Alle<br />

diese Götter, Dämonen und Menschenwesen sind allein vom Gemüt heraufbe-<br />

205


schworen worden – wenn das Gemüt diese Vorstellungen aufgibt, dann hören<br />

sie alle auf zu sein, wie eine Lampe ohne Öl.<br />

Der weise Mensch, der weiß, dass alle diese Objekte unwirklich sind, betrachtet<br />

sie nicht als Objekte des Vergnügens, die zu erlangen sind. Wer hinter<br />

den von seinem eigenen Verstand erschaffenen Objekten herläuft, wird gewiss<br />

Leid erfahren. Diese Welterscheinung trat infolge von Wunsch und Verlangen<br />

ins Dasein – sie hört nur dann auf, wenn Wünsche und Begierden<br />

nicht mehr auftauchen (nicht aber, wenn du dich gegen die Welt wendest<br />

oder sie hasst). Wenn diese Welterscheinung aufgelöst wird, dann wurde<br />

niemals etwas zerstört.<br />

Was kann man durch das Verschwinden einer unwirklichen Erscheinung<br />

verlieren? Wenn sie doch gänzlich irreal ist – wie könnte sie dann überhaupt<br />

zerstört werden, und weshalb sollte man über einen irrealen Verlust trauern?<br />

Ist es hingegen real, dann kann es auch durch nichts und niemanden zerstört<br />

oder unwirklich gemacht werden. Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist<br />

die Welt nichts anderes als Brahman, die ewige Wahrheit. Und in diesem Fall,<br />

kann es überhaupt irgendwelches Leid geben?<br />

Und außerdem – was unwirklich ist, kann weder wachsen noch blühen;<br />

weshalb sollte man also frohlocken? Was bleibt noch zu wünschen übrig?<br />

Wenn all dieses nichts als das eine unendliche Bewusstsein ist, was gibt es,<br />

dem man entsagen muss?<br />

Was es am Anfang nicht gab und am Ende aufhören wird, ist auch in der<br />

Mitte (in der Gegenwart) nicht existent. Was dagegen am Anfang und am<br />

Ende existiert, ist auch die Realität der Gegenwart. Sieh klar, dass „all dies<br />

unwirklich ist, einschließlich meiner selbst“ – dann wird es keinerlei Leiden<br />

in dir geben. Oder betrachte es so: "All dieses ist wirklich, einschließlich meiner<br />

selbst" – und auch dann wird keine Sorge dich heimsuchen.<br />

(Als der Weise dies gesagt hatte, ging der neunte Tag zur Neige und die Versammlung<br />

löste sich auf.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wer erkennt, dass das gesamte Universum einschließlich seines Wohlstandes,<br />

seiner Frau und seiner Kinder usw. nur die Schöpfung eines Taschenspielertricks<br />

des Gemütes ist, trauert nicht, wenn alles verloren geht, noch erfreut<br />

er sich am Gedeihen dieser Dinge. Im Gegenteil – es ist angemessener, sich<br />

beim Gedeihen dieser Dinge unglücklich zu fühlen, denn eben dieses Gedeihen<br />

kann die Unwissenheit intensivieren. Was daher im Toren Anhaftung und<br />

Verlangen entstehen lässt, erzeugt im Weisen Loslösung und kühlen Gleichmut.<br />

Die Natur der weisen Person besteht darin, nach keiner Erfahrung zu verlangen,<br />

die nicht mühelos erlangt werden kann, und sich derjenigen zu erfreuen,<br />

die bereits eingetroffen ist. Wer fähig ist, das Gemüt vom Verlangen<br />

nach Sinnesvergnügen zu entwöhnen, der ertrinkt nicht mehr im Ozean der<br />

Täuschung. Wer sein Eins-Sein mit dem gesamten Universum erkannt und<br />

IV:46<br />

206


sich selbst über Abneigungen und Zuneigungen erhoben hat, wird niemals<br />

getäuscht.<br />

Daher, o Rāma, erkenne dieses Selbst oder das unendliche Bewusstsein,<br />

welches sowohl das Wirkliche als auch das Unwirkliche durchdringt und<br />

daher transzendiert. Danach sollst du nichts halten und nichts aufgeben, ob<br />

es nun außen oder innen ist. Der weise Mensch, der in dieser Selbsterkenntnis<br />

verankert ist, ist frei von allen Neigungen oder mentaler Konditionierung<br />

oder Selbst-Begrenzung – er ist wie der Himmel oder Raum, welcher durch<br />

die sich in ihm abspielenden Vorgänge ist völlig unberührt ist.<br />

Erlaube deinem Gemüt in keiner Weise, das Gefühl von „mein“ in Gegenwart<br />

der Sinnesobjekte zu unterhalten – ob du nun tätig oder untätig bist. Auf<br />

diese Weise wirst du den Sumpf der Unwissenheit glücklich vermeiden. Wenn<br />

dein Herz keinerlei Sinnesvergnügen mehr als süß und angenehm kostet,<br />

dann hast du alles erkannt, was es zu erkennen gibt, und du bist frei von<br />

diesem Zyklus von Geburt und Wiedergeburt. Wer weder von den Vergnügen<br />

dieser Welt noch von denen des Himmels angezogen wird (ob mit oder ohne<br />

Körperbewusstsein), der ist befreit – sogar dann, wenn er nicht absichtlich<br />

nach dieser Art von Befreiung gestrebt oder verlangt hat.<br />

Oh Rāma, in diesem Ozean der mentalen Konditionierung wird derjenige<br />

als gerettet erachtet, der das Floß der Selbsterkenntnis gefunden hat. Wer<br />

dieses Floß verpasst, geht mit Sicherheit unter. Daher, o Rāma, untersuche<br />

mit einer Intelligenz so scharf wie des Messers Schneide die Natur des Selbst.<br />

Danach ruhe in dieser Selbsterkenntnis.<br />

Lebe so, wie die Weisen mit Selbsterkenntnis leben. Sie kennen das unendliche<br />

Bewusstsein und diese Welterscheinung. Sie entsagen daher weder der<br />

Aktivität in dieser Welt, noch wünschen sie sie herbei. Auch du hast nun die<br />

Selbsterkenntnis erlangt, Rāma, und ruhst daher im Frieden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

O Rāma, in der Vergangenheit hat es Millionen von BrahmÃs, Śivas, Indras<br />

und NÃrÃyaïas gegeben. Und doch waren alle diese Götter wahrhaftig nichts<br />

als die Zauberei von MÃyÃ! Alle diese Schöpfungen waren manchmal von<br />

BrahmÃ; oder sie werden Śiva, NÃrÃyaïa oder den Weisen zugeschrieben.<br />

Für manche ist Brahmà aus dem Lotos geboren, während er für andere dem<br />

Meer entstiegen oder aus einem Ei oder dem Raum hervorgegangen ist. In<br />

manchen Universen ist Brahmà die höchste Gottheit, während dies in anderen<br />

die Sonne, Indra, NÃrÃyaïa oder Śiva ist. In manchen Universen ist die<br />

Erde mit Bäumen gefüllt, in anderen dagegen mit Lebewesen oder Bergen.<br />

Manchmal besteht die Erde aus Schlamm oder Lehm, anderswo ist sie felsig<br />

oder golden oder aus Kupfer. Man vermag vielleicht, die Anzahl der Sonnenstrahlen<br />

zu zählen, aber es ist unmöglich, die Anzahl der Universen zu zählen,<br />

die existieren. Diese Schöpfung ist anfangslos. In dieser „Stadt Brahmans“<br />

(welche das unendliche Bewusstsein oder das Bewusstsein im Innern des<br />

eigenen Herzens ist) tauchen alle diese Universen auf und verschwinden<br />

IV:47<br />

207


wieder und wieder. Jedoch sind sie alle verschieden von dem einen unendlichen<br />

Bewusstsein.<br />

Diese Schöpfungen, seien sie nun grob oder fein, gefestigt oder auseinanderfallend,<br />

sind wie Girlanden der subtilen Elemente, die allesamt aus dem<br />

unendlichen Raum des Bewusstseins aufgetaucht sind. Zuweilen entsteht<br />

Raum als erstes, und dann sagt man vom Schöpfer, dass er aus dem Raum<br />

geboren ist, und zu anderen Zeiten wird als erstes die Luft erzeugt. Wieder<br />

woanders entstehen Feuer, Wasser oder Erde, und der Schöpfer erhält dann<br />

die entsprechende Betitelung. Vom Körper dieses Schöpfers her entstehen<br />

dann „Wörter“ wie BrÃhmaïa (Priester) usw. Diese Wörter werden dann zu<br />

„Lebewesen“ mit ihren entsprechenden Bezeichnungen.<br />

Natürlich ist dies alles unwirklich wie die Schöpfungen, die im Traum gesehen<br />

werden. Daher ist die Frage „Wie konnte dies alles in dem einen unendlichen<br />

Bewusstsein entstehen?“ unreif und kindisch. Die Schöpfung scheint<br />

einfach aufgrund der Absichten des Gemüts zu entstehen. Gewiss ist dies ein<br />

Mysterium und ein Wunder!<br />

All dieses habe ich dir nur in einem rein illustrativen Sinne als Beschreibung<br />

der Wahrheit dargelegt. In dieser Schöpfung jedoch gibt es keinerlei<br />

solche Ordnung oder Abfolge. Diese Schöpfung ist nichts als die Schöpfung<br />

des Gemütes – dies ist die Wahrheit. Alles andere ist nichts als eine fantasievolle<br />

Beschreibung. Aufgrund der Aufeinanderfolge von Erschaffung und<br />

Auflösung dieses Universums entsteht eine Zeitskala, die von einem Augenblick<br />

bis zu einem Äon reicht. Jedoch ist dieses Universum auf ewig in diesem<br />

Bewusstsein gegenwärtig so wie Funken in rotglühendem Eisen. In der reinen<br />

Sicht einer erleuchteten Person jedoch ist all dies nichts als Brahman – da<br />

gibt es keinerlei Welterscheinung. Die wiederholte Erschaffung und Auflösung<br />

einer unendlichen Anzahl von Universen zusammen mit der unendlichen<br />

Vielzahl der Schöpfer darin ist nichts als die fantasievolle Wahrnehmung<br />

der Unwissenden und Verblendeten.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von DÃÓÆra<br />

IV:48<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, wer mit den verschiedenen Geschäften in dieser Welt befasst ist<br />

und nach Vergnügen und Macht sucht, wird nicht nach der Wahrheit verlangen,<br />

die er ganz offensichtlich auch nicht zu erkennen vermag. Wer weise<br />

geworden ist, aber die Neigungen seiner Sinne noch nicht vollständig beherrscht,<br />

sieht gleichzeitig die Wahrheit und die Illusion. Und wer gänzlich<br />

und klar die Natur der Welt und des jīva erkennt und diese Welterscheinung<br />

als eine Realität entschieden zurückweist, ist befreit und wird nicht wieder-<br />

208


geboren. Der Unwissende strebt nach der Wohlfahrt des Körpers, aber nicht<br />

nach dem Selbst. Sei nicht wie dieser, o Rāma, sondern sei weise.<br />

Zur Illustration dieser Worte werde ich dir nun eine interessante Legende<br />

erzählen. In einem Land namens Magadha, das über eine Vielzahl von herrlichen<br />

Gärten verfügte, lebte ein Weiser namens DÃÓÆra. Er war mit atemraubenden<br />

Bußübungen beschäftigt. Er war ein großer Asket, der keinerlei Interesse<br />

an weltlichen Freuden hatte. Außerdem war er gelehrt.<br />

Er war der Sohn des Weisen Áaraloma. Das Unglück wollte es, dass er beide<br />

Eltern verlor, als er noch klein war. Die Gottheiten des Waldes bedauerten den<br />

Waisenknaben, der untröstlich in seinem Schmerz war. Sie sagten zu ihm:<br />

„Oh weiser Knabe! Du bist der Sohn eines Weisen – weshalb weinst du wie<br />

in unwissender Tor? Kennst du nicht die flüchtige Natur dieser Welterscheinung?<br />

Dies ist, oh Junge, die eigentliche Natur dieser Welterscheinung: Dinge<br />

entstehen, existieren eine Weile und werden dann vernichtet. Alle Wesen, die<br />

hier erscheinen (vom relativen Standpunkt aus) – sie alle sind dem unvermeidlichen<br />

Ende unterworfen (und sollte es sich bei dem Wesen sogar um<br />

Brahmā, den Schöpfer, handeln). Keinerlei Zweifel besteht hierüber. Gräme<br />

dich daher nicht über den unvermeidlichen Tod deiner Eltern.“<br />

Der Kummer des Jungen war damit etwas erleichtert. Er erhob sich und<br />

führte die Begräbnisriten für seine Eltern aus. Dann begann er ein streng<br />

religiöses Leben zu führen, in dem er sich selbst auf allen Seiten mit Vorschriften<br />

wie: „dies ist zu tun“ und „das ist zu vermeiden“ begrenzte. Da er die<br />

Wahrheit noch nicht erkannt hatte, war er gänzlich gefangen in der Ausübung<br />

der Rituale mit ihren endlosen Geboten und Verboten. All dies erzeugte in<br />

ihm das Empfinden, dass die ganze Welt voller Unreinheiten sei. Daher suchte<br />

er nach einem Ort ohne Unreinheiten. Der Wipfel eines Baumes! – so entschied<br />

er. Und mit diesem Wunsch, im Wipfel eines Baumes zu leben, führte<br />

er einen heiligen Ritus aus, während dem er ein Stück seines eigenen Fleisches<br />

abschnitt und im heiligen Feuer opferte. Bald darauf erschien die Feuer-Gottheit<br />

höchstpersönlich vor ihm und verkündete: „Du wirst den Wunsch,<br />

der in deinem Herzen aufgetaucht ist, bald erfüllt sehen.“<br />

Das Feuer verschwand, nachdem es die Verehrung des Asketen entgegengenommen<br />

hatte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Weise sah nun vor sich einen riesigen Kadamba-Baum von majestätischem<br />

Aussehen. Mit seinen Händen (Blättern) schien er die Tränen (Regentropfen)<br />

seines geliebten Firmamentes zu trocknen. Er füllte mit seinen tausenden<br />

von Armen (Ästen) gänzlich den Raum zwischen Himmel und Erde<br />

aus und stand wie die kosmische Gestalt des Herrn selbst da – mit Sonne und<br />

Mond als Augen. Überladen mit Blüten, regnete er diese auf die heiligen und<br />

göttlichen Weisen herab, die den Himmel durchquerten. Die Bienen, die ihn<br />

bewohnten, sangen den Weisen ihren Willkommensgruß. (Die detaillierte<br />

Beschreibung dieses Baumes ist graphisch und wunderschön. — S.V.)<br />

IV:49,<br />

50,51<br />

209


Der Weise bestieg diesen Baum, der wie eine Säule, Himmel und Erde verbindend,<br />

dastand. Schließlich befand er sich auf dem obersten Ast des Baumes.<br />

Er ließ einen Augenblick lang seine Augen in alle Richtungen schweifen.<br />

Er erfuhr die Vision des kosmischen Seins. (Die detaillierte Beschreibung in<br />

Kapitel 50 dessen, was er sah, ist ebenfalls außerordentlich interessant. —<br />

S.V.)<br />

Da er seine Wohnstatt auf dem Kadamba-Baum genommen hatte, wurde er<br />

bald unter dem Namen Kadamba-DÃÓÆra bekannt. Im Gipfel des Baumes<br />

wohnend, setzte er seine Askeseübungen fort. Da er an die rituellen Praktiken<br />

gewöhnt war, wie sie in den Veden vorgeschrieben werden, führte er sie aus,<br />

aber jetzt mental. Und so ist die Macht solch mentaler Praxis - sie reinigte das<br />

Gemüt des Weisen und sein Herz, und er erlangte die reine Weisheit.<br />

Eines Tages gewahrte er vor sich eine in Blumen gekleidete Nymphe. Sie<br />

war außerordentlich schön. Der Weise fragte sie: „Oh schöne Dame, deine<br />

Ausstrahlung vermag sogar Amor zu bezaubern. Wer bist du?“ Sie erwiderte:<br />

„Mein Herr, ich bin eine Waldgöttin. In dieser Welt ist nichts unmöglich für<br />

den, der zu einem erleuchteten Weisen wie dir seine Zuflucht nimmt. Ich<br />

komme gerade von einem Fest im Wald, auf dem ich verschiedene andere<br />

Göttinnen dieses Waldes getroffen habe, die alle mit ihrem eigenen Sprössling<br />

gekommen waren. Ich war die einzige, die kein Kind hatte. Daher fühle ich<br />

mich unglücklich. Jedoch – da du in diesem Wald bist, weshalb sollte ich länger<br />

unglücklich sein? Schenke mir einen Sohn – andernfalls werde ich mich<br />

selbst zu Asche verbrennen.“ Der Weise nahm eine Kletterpflanze und übergab<br />

sie ihr, indem er sprach: „Geh nun. So wie diese Kletterpflanze in einem<br />

Monat Blüten hervorbringen wird, so wirst auch du einem Sohn das Leben<br />

schenken.“ Die dankbare Göttin verschwand.<br />

Nach zwölf Jahren kehrte sie zu dem Weisen mit einem Sohn desselben Alters<br />

zurück. Sie sprach: „Mein Herr, dies ist dein Sohn. Ich habe ihn in allen<br />

Gebieten des Wissens unterwiesen. Bitte unterweise ihn nun in der Selbsterkenntnis,<br />

denn wer möchte schon, dass aus seinem Sohn ein Dummkopf<br />

wird?“ Der Weise versprach, den Wunsch der Göttin zu erfüllen. Von diesem<br />

Tag an begann er, den Knaben in allen Gebieten der Selbsterkenntnis zu unterweisen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Zu dieser Zeit bewegte ich mich über diesem Baum im Wald und hörte die<br />

Unterweisungen des Weisen für seinen Sohn.<br />

DùÁôRA sprach:<br />

Ich möchte das, was ich über diese Welt sagen will, mit einer Geschichte<br />

darstellen. Es gibt einen mächtigen König namens Khottha, der die drei Welten<br />

erobern kann. Die Gottheiten, die die Welt regieren, gehorchen vertrauensvoll<br />

seinen Befehlen. Keiner vermag seine zahllosen Taten zu verzeichnen,<br />

die Glück und Unglück brachten. Seine Tapferkeit kann niemand herausfordern,<br />

mit keiner Waffe und auch nicht durch Feuer, so wenig als eine Faust die<br />

IV:52<br />

210


IV:53<br />

leere Luft erschlagen kann. Nicht einmal Indra, Vişnu und Śiva kamen ihm in<br />

ihren Unternehmungen gleich.<br />

Dieser König verfügte über drei Körper, die vollständig die Welten umfassten:<br />

Einen ausgezeichneten, einen mittleren und einen geringeren. Dieser<br />

König erschien im Raum und lebte im Raum. Dort, im Raum, erbaute der<br />

König eine Stadt mit vierzehn Straßen und drei Stadtteilen. Darin befanden<br />

sich Lustgärten, herrliche Berggipfel für allerhand Vergnügungen und sieben<br />

Seen mit Perlen und Schlingpflanzen darin. Es befanden sich ferner in der<br />

Stadt zwei Lichter, welche heiß und kalt waren und deren Licht niemals abnahm.<br />

In dieser Stadt erschuf der König verschiedene Arten von Lebewesen. Einige<br />

wurden zuoberst, einige in der Mitte und andere weiter unten angesiedelt.<br />

Einige von ihnen waren lang- und andere kurzlebig. Sie waren bedeckt von<br />

schwarzem Haar. Sie verfügten über neun Tore. Alle waren gut durchlüftet.<br />

Sie besaßen fünf Lampen, drei Säulen und weiße, hölzerne Tragestützen.<br />

Weicher Lehm war ihre Haut.<br />

All dieses wurde durch Māyā oder die illusorische Macht des Königs hervorgerufen.<br />

In dieser Stadt vergnügte sich der König mit all den Geistern und Kobolden<br />

(die die Erforschung und Selbsterkenntnis scheuen), welche zum Schutz der<br />

Herrenhäuser (der verschiedenen Körper) geschaffen worden waren. Sobald<br />

er umzuziehen wünscht, denkt er an eine zukünftige Stadt und kontempliert,<br />

wie er zu dieser wandert. Umgeben von den Geistern rennt er schnell in die<br />

neue Stadt, nachdem er die vorherige aufgegeben hat, und bewohnt die neue,<br />

die er wie eine magische Schöpfung ins Leben gerufen hat. In dieser wiederum<br />

zerstört er sich selbst, sobald er über die Zerstörung der Stadt kontempliert.<br />

Manchmal klagt er: „Was soll ich tun? Ich bin unwissend, ich bin elend“.<br />

Manchmal ist er glücklich, manchmal bedauernswert.<br />

Auf diese Art lebt und webt er, geht, spricht, gedeiht, leuchtet oder leuchtet<br />

nicht – mein Sohn, so wird der König in diesem Ozean der Welterscheinung<br />

hin und her geworfen.<br />

DùÁôRA fuhr fort:<br />

Damit wurde die Erschaffung des Universums und des Menschen beschrieben.<br />

Khottha, der in der großen Leere erschien, ist nichts als eine Vorstellung<br />

oder eine Absicht. Diese Vorstellung taucht aus sich selbst in der großen<br />

Leere auf und löst sich, wiederum aus sich selbst heraus, in dieser wieder auf.<br />

Das gesamte Universum mit allem, was darin ist, ist die Schöpfung dieses<br />

Gedanken oder dieser Absicht, nichts anderes. Sogar das Dreigestirn (Brahma,<br />

Vişnu und Śiva) sind Glieder dieser Vorstellung. Nur dieser absichtsvolle<br />

Gedanke ist verantwortlich für die Schaffung der drei Welten, der vierzehn<br />

Regionen und der sieben Ozeane. Die vom König erbaute Stadt ist nichts<br />

anderes als das Lebewesen selbst mit seinen verschiedenen Organen und<br />

211


deren Eigenschaften. Von den verschiedenen erschaffenen Lebewesen sind<br />

einige (die Götter) in höheren Regionen, und andere in den niederen Reichen.<br />

Nach dem Bau dieser imaginären Stadt unterstellte der König sie dem<br />

Schutz der Geister. Diese Geister sind das Ahaækāra (Ego-Prinzip). Der König<br />

vergnügt sich von nun an in dieser Welt, in seinem Körper. In einem Moment<br />

gewahrt er die Welt im Wachzustand, und kurze Zeit danach richtet er seine<br />

Aufmerksamkeit abrupt auf die innere Welt, die er in seinen Träumen erlebt.<br />

So bewegt er sich von einer Stadt in die andere, von einem Körper zum anderen,<br />

von einer Ebene zur nächsten.<br />

Nach zahlreichen solchen Wanderungen entwickelt er schließlich Weisheit,<br />

verliert seine Illusionen betreffend diese Welten und ihre Vergnügungen, und<br />

erlangt durch das Aufhören all seiner Vorstellungen das Ende seiner Wanderung.<br />

Einmal scheint er sich der Weisheit zu erfreuen, während er im nächsten<br />

Moment schon wieder in den Sinnesfreuden gefangen ist. In weniger als einer<br />

Sekunde wird dann sein Verstehen verzerrt, wie im Falle eines kleinen, unvernünftigen<br />

Kindes. All diese Vorstellungen sind entweder wie dichte Finsternis<br />

(die Anlass zur Unwissenheit und zu Geburten in den niederen Reichen<br />

der Schöpfung geben) oder rein und transparent (die wiederum Anlass zur<br />

Weisheit geben und sehr nahe an die Wahrheit heranführen), oder sie sind<br />

unrein (und geben Anlass zum Auftauchen der Weltlichkeit), Sobald alle diese<br />

Vorstellungen aufhören, ist die Befreiung da.<br />

Auch wenn man sich selbst in jeder Art spiritueller Bestrebungen ergeht,<br />

und wenn man sogar die Götter als Lehrer hat, und auch wenn man im Himmel<br />

oder anderen Regionen sein sollte, kann Befreiung nicht anders als durch<br />

das Aufhören aller Vorstellungen erlangt werden. Das Wirkliche, das Unwirkliche<br />

und die Vermischung beider sind Vorstellungen und nichts anderes—<br />

diese Vorstellungen selbst sind weder wirklich noch unwirklich. Was sollte<br />

man dann in diesem Universum als real ansehen? Daher, mein Sohn, gib alle<br />

diese Vorstellungen, Gedanken und Absichten auf. Sobald sie aufhören, wendet<br />

sich das Gemüt auf natürliche Weise dem zu, was das Gemüt überschreitet<br />

– das unendliche Bewusstsein.<br />

DER JUNGE MANN fragte:<br />

Vater, bitte teile mir mit, wie dieses saÇkalpa (Vorstellung, Gedanke, Idee,<br />

Konzept) erscheint und wodurch es wächst und gedeiht.<br />

DùÁôRA sprach:<br />

Mein Sohn, wenn im unendlichen Bewusstsein dieses Bewusstsein seiner<br />

selbst als sein eigenes Objekt gewahr wird, dann wird der Same der Ideenbildung<br />

gesät. Dieser ganze Vorgang ist außerordentlich subtil. Jedoch schon<br />

bald wird er gröber und füllt sozusagen den gesamten Raum aus. Sobald sich<br />

das Bewusstsein in dieser Ideenbildung vergröbert, glaubt es, dass das Objekt<br />

verschieden vom Subjekt ist. Dann beginnt die Ideenbildung zu wachsen und<br />

zu gedeihen. Jede Ideenbildung vervielfältigt sich ganz von selbst. Dies führt<br />

IV:54<br />

212


dann zum Kummer, nicht zum Glück. In dieser Welt ist allein diese Ideenbildung<br />

für alle Sorgen verantwortlich!<br />

Diese Ideenbildung oder Vorstellung ist durch schiere Koinzidenz entstanden<br />

(die Krähe lässt sich auf einem Baum nieder, und eine Frucht fällt auf den<br />

Boden ohne kausale Verknüpfung). Und doch ist diese völlig unwirkliche<br />

Nicht-Substantialität fähig zu wachsen! Deine Geburt ist daher unwirklich –<br />

auch deine Existenz selbst ist unwirklich. Sobald du dies erkennst und verwirklichst,<br />

hört das Unwirkliche auf.<br />

Unterhalte daher keine Ideen. Halte nicht an der Vorstellung deiner eigenen<br />

Existenz fest. Denn allein dadurch geschieht es, dass die Zukunft in Erscheinung<br />

tritt. Man muss die Zerstörung all dieser Ideenbildungen nicht fürchten.<br />

Wenn es keine Gedanken gibt, hören die Vorstellungen oder die Ideenbildung<br />

auf. Mein Sohn, es ist einfacher, Vorstellungen aufzugeben, als eine Blume auf<br />

der Handfläche zu zerdrücken. Das letztere erfordert Anstrengung, das erstere<br />

ist dagegen mühelos. Wenn somit alle Vorstellungen aufhören, entsteht ein<br />

großer Friede, und alle Sorge wird an der Wurzel zerstört. Denn alles in diesem<br />

Universum ist nichts als eine Idee, eine Vorstellung, ein Konzept; es hat<br />

unterschiedliche Namen wie Gemüt, lebendige Seele oder jīva, Vernunft und<br />

Konditionierung. Da sind keinerlei reale Gegebenheiten, die diesen Wörtern<br />

entsprechen. Entferne daher alle Gedanken. Verschwende nicht dein Leben<br />

und deine Bemühung in anderen Aktivitäten.<br />

Sobald die Vorstellungen schwächer werden, ist man weniger anfällig für<br />

Glück und Unglück, während die Erkenntnis der Unwirklichkeit der Objekte<br />

die Anhaftung verhindert. Gibt es keinerlei Erwartungen mehr, dann gibt es<br />

auch keine Hochstimmungen oder Depressionen mehr. Das Gemüt selbst ist<br />

der jīva, wenn er im Bewusstsein reflektiert wird, und es ist das Gemüt, das<br />

Luftschlösser baut und sich in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft<br />

erstreckt. Die vielfältigen Wellen der Ideenbildungen nachzuvollziehen ist<br />

letztlich unmöglich, aber soviel kann gesagt werden: Es sind die Sinneserfahrungen,<br />

die sie vervielfältigen, und sobald diese aufgegeben werden, hören<br />

die Ideenbildungen auf. Wenn diese Vorstellungen real wären wie etwa die<br />

Schwärze der Kohle, dann könnten sie nicht entfernt werden. Tatsächlich<br />

aber ist es nicht so. Daher können sie sehr wohl beseitigt werden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem ich die Worte des Weisen vernommen hatte, ließ ich mich auf den<br />

Kadamba-Baumnieder. Wir waren alle drei ziemlich lange in Diskussionen<br />

über die Selbsterkenntnis vertieft, und ich erweckte in ihnen die höchste<br />

Erkenntnis. Dann verabschiedete ich mich von ihnen und zog weiter. Oh<br />

Rāma, all diese Erzählungen dienen zur Illustration der Natur dieser Welterscheinung.<br />

Die ganze Geschichte ist daher so wahr wie diese Welt selbst!<br />

Aber auch wenn du glaubst, dass diese Welt und du selbst real sind, dann<br />

sei es so – verbleibe dann fest in deinem eigenen Selbst! Denkst du dagegen,<br />

dass all dies sowohl real wie irreal sei, dann nimm die dementsprechende<br />

Haltung gegenüber der wechselhaften Welt ein. Glaubst du dagegen, dass die<br />

IV:55,56<br />

213


IV:57<br />

Welt irreal sei, dann sei fest im unendlichen Bewusstsein verankert. Und lass<br />

dein Verständnis nicht umwölkt werden von Glaubensvorstellungen wie zum<br />

Beispiel, dass die Welt einen Schöpfer oder keinen Schöpfer hat.<br />

Das Selbst hat keine Sinnesorgane – deshalb ist es wie leblos, obschon es all<br />

dies geschehen macht. Wir haben nur diese kurze Lebensspanne von vielleicht<br />

hundert Jahren – weshalb sollte das unsterbliche Selbst in dieser knappen<br />

Zeit hinter flüchtigen Sinnesvergnügen herlaufen? Selbst wenn die Welt<br />

und ihre Objekte real wären, gäbe es immer noch keinen Grund für das bewusste<br />

Selbst, die leblosen Objekte zu begehren! Und wenn sie irreal sind,<br />

kann jedes Verlangen nach ihnen nur im Unglücklichsein enden.<br />

Gib die Wünsche deines Herzens auf. In dieser Welt bist du, was du bist –<br />

erkenne dies und erfreue dich dann der Welt. Es ist in der Gegenwart des<br />

Selbst, dass alle Aktivitäten in dieser Welt stattfinden können, so wie es in der<br />

Gegenwart einer Lampe Licht gibt. Es ist nicht die Absicht der Lampe zu<br />

leuchten – auf dieselbe Weise hat das Selbst keinerlei Absicht, irgendetwas zu<br />

tun. Und doch geschehen in seiner Gegenwart zahllose Handlungen. Du magst<br />

eine dieser Haltungen annehmen: 1) Ich bin das allgegenwärtige Sein, welches<br />

nicht tätig ist, 2) Ich bin der Täter aller Handlungen in dieser Welt. In<br />

beiden Fällen wirst du denselben Zustand des vollkommenen Gleichmuts<br />

erlangen, der mit der Unsterblichkeit gleichzusetzen ist. Du wirst frei sein<br />

von Zu- und Abneigungen, von Anziehung und Abstoßung. Du wirst törichte<br />

Gefühle wie „dieser hat mir geschadet“ oder „dieser hat mir genutzt“ loswerden.<br />

Daher, o Rāma, magst du wie folgt empfinden: „Ich bin nicht der Täter,<br />

ich existiere nicht“ oder „Ich bin der Täter – ich bin alles“. Oder erforsche die<br />

Natur des Selbst („Wer bin ich?“) und erkenne, dass „ich nichts von all dem<br />

bin, was mir zugeschrieben wird.“ Ruhe im Selbst, das der höchste Zustand<br />

des Bewusstseins ist und wo die besten Heiligen ewig verweilen, denn sie<br />

haben diesen Zustand erkannt.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Weiser, auf welche Weise kann diese unwirkliche Welt im absoluten<br />

Brahman existieren? Wie kann Schnee in der Sonne existieren?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Rāma, dies ist nicht die richtige Zeit, um diese Frage zu stellen, denn du<br />

würdest die Antwort jetzt nicht verstehen. Für einen kleinen Jungen sind die<br />

Romanzen der Erwachsenen uninteressant. Alle Bäume tragen ihre Frucht<br />

zur angemessenen Zeit, und auch meine Instruktionen werden zu gegebener<br />

Zeit ihre Früchte erbringen. Wenn du dich mit Hilfe des Selbst und deiner<br />

eigenen Bemühung auf die Suche nach deinem eigenen Selbst begibst, wirst<br />

du die Antwort auf deine Frage klar erhalten. Die Frage der Täterschaft oder<br />

Nicht-Täterschaft habe ich nur deshalb erörtert, damit die mentale Konditionierung<br />

oder Ideenbildung verständlich wird.<br />

Die Bindung besteht in der Bindung an Gedanken und Vorstellungen dieser<br />

Art – die Befreiung ist die Freiheit davon. Gib daher alle Vorstellungen auf,<br />

214


sogar die der Befreiung. Gib als erstes durch die Kultivierung guter Beziehungen<br />

zu anderen Menschen (wie etwa Freundschaft) die Neigungen und Tendenzen<br />

auf, die grob und materialistisch sind. Später gib sogar Vorstellungen<br />

wie Freundschaft auf, aber bleibe weiterhin freundlich. Gib alle Wünsche auf<br />

und meditiere über die Natur (oder die Vorstellung) des kosmischen Bewusstseins.<br />

Sogar diese Dinge befinden sich sämtlich noch in den Reichen der Ideen<br />

oder Gedanken.<br />

Gib folglich im Verlaufe der Zeit auch sie auf. Verbleibe in dem, was nach<br />

der Aufgabe all dieser Dinge als einziges übrig bleibt. Und entsage dem<br />

Entsager all dieser Vorstellungen. Sobald die Idee des Ich-Sinns aufgehört hat,<br />

wirst du zu unendlichem Raum. Wer in seinem Herzen allem entsagt hat, der<br />

ist in der Tat der Höchste Herr – ob er nun weiterhin ein aktives Leben führt<br />

oder ob er allezeit in der Kontemplation verharrt. Für diesen sind weder<br />

Tätigkeit noch Untätigkeit von irgendeinem Nutzen. Oh Rāma, ich habe sämtliche<br />

Schriften überprüft und die Wahrheit erforscht. Ohne totale Entsagung<br />

von allen Vorstellungen, Ideen oder mentaler Konditionierung kann es keine<br />

Erlösung geben.<br />

Diese Welt der vielfältigen Namen und Formen ist nur aus Erwünschtem<br />

und Unerwünschtem zusammengesetzt! Die Leute streben nach der Befriedigung<br />

ihrer Wünsche, aber nach der Selbsterkenntnis strebt niemand. Selten<br />

sind die Weisen mit Selbsterkenntnis in allen drei Welten. Man kann ein Kaiser<br />

in der Welt oder der König des Himmels sein – aber all dies ist aus den<br />

fünf Elementen zusammengesetzt! Es ist traurig, dass die Menschen für den<br />

Erwerb bedeutungsloser Ziele ihr Leben völlig zerstören. Schande über sie!<br />

Nichts von dem erregt die Aufmerksamkeit des Weisen, der mit der Selbsterkenntnis<br />

gewappnet ist. Er ruht auf diesem höchsten Thron, den Sonne und<br />

Mond nicht erreichen können (die su«umnÃ?). Der Weise mit Selbsterkenntnis<br />

ist nicht angetan vom Gewinn oder den Vergnügen des gesamten Universums.<br />

Kaca's Lied<br />

* * *<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In diesem Zusammenhang, o Rāma, erinnere ich mich an ein höchst inspirierendes<br />

Lied vom Sohn des Gurus der Götter, Kaca. Dieser Kaca war in der<br />

Selbsterkenntnis verwurzelt. Er lebte in einer Höhle auf dem Berg Meru. Sein<br />

Gemüt war gesättigt mit der höchsten Weisheit und folglich nicht von den aus<br />

den fünf Elementen bestehenden Objekten der Welt angezogen. Verzweiflung<br />

spielend, sang Kaca eines Tages dieses Lied voller Bedeutung. Bitte höre zu.<br />

IV:55<br />

215


IV:59<br />

KACA sang: „Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen? Was soll ich festhalten?<br />

Was soll ich aufgeben? Dieses ganze Universum ist von dem einen Selbst<br />

durchdrungen. Unglücklichsein und Sorge sind das Selbst. Glück ist auch das<br />

Selbst. Denn alle Wünsche sind nur leeres Nichts. Wissend, dass all dies das<br />

Selbst ist, bin ich befreit von allen Mühen. In diesem Körper, innerhalb und<br />

außerhalb, oberhalb und unterhalb, überall – hier wie dort – gibt es nichts als<br />

das Selbst und das Selbst allein. Ein Nicht-Selbst existiert nicht. Das Selbst<br />

allein ist allüberall – alles existiert als das Selbst. All dies ist wahrhaftig das<br />

Selbst. Ich existiere im Selbst als das Selbst. Ich existiere als all dieses – als die<br />

Wirklichkeit in allem allüberall. Ich bin die Fülle. Ich bin die Selbst-Seligkeit.<br />

Ich erfülle das gesamte Universum wie der kosmische Ozean.“<br />

So sang er. Dann intonierte er das heilige Wort OM – tönend wie eine Glocke.<br />

Sein gesamtes Wesen hatte er mit diesem heiligen Klang vereint. Weder<br />

befand er sich innerhalb oder außerhalb von irgendetwas. Dieser Weise lebte<br />

auf dieser Ebene, vollkommen absorbiert im Selbst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was gibt es schon in dieser Welt, o Rāma, als Essen, Trinken und Sex? Was<br />

sollte daher ein weiser Mensch wohl anziehend finden? Diese Welt der fünf<br />

Elemente und der Körper aus Fleisch, Blut, Haar und all dem Rest werden von<br />

den Unwissenden als wirklich betrachtet. All das existiert nur zu ihrer Unterhaltung.<br />

Der Weise sieht in all diesem ein vergängliches und unwirkliches,<br />

aber schreckliches Gift.<br />

RùMA fragte:<br />

Wenn das Gemüt nach der Zerstörung aller Vorstellungen den Zustand des<br />

Schöpfers selbst wiedererlangt – wie kann dann in ihm noch die Vorstellung<br />

der Welt auftauchen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, der erstgeborene Schöpfer stieß beim Auftauchen aus dem unendlichen<br />

Bewusstsein den Klang „Brahmā“ aus. Deshalb ist er als Brahmā bekannt,<br />

der Schöpfer. Dieser Schöpfer unterhielt als erstes die Vorstellung von<br />

Licht, und so entstand Licht. In diesem Licht visualisierte er seinen eigenen<br />

kosmischen Körper, und so trat dieser ins Sein - von der strahlenden Sonne<br />

bis zu den verschiedenen Objekten, die das Universum füllen. Er kontemplierte<br />

dasselbe Licht als unendlich viele Feuerfunken, und all diese Funken wurden<br />

zu den verschiedenen Lebewesen. Ganz gewiss ist es nur dieser kosmische<br />

Verstand, der zu Brahmā und all diesen Wesen geworden ist. Was immer<br />

dieser Brahmā am Anfang erschaffen hat, wird noch heute gesehen.<br />

Diese unwirkliche Welt hat ihre scheinbare Substantialität allein aufgrund<br />

der beharrlichen Vorstellung ihrer angeblichen Existenz erlangt. Sämtliche<br />

Wesen dieses Universums halten sie aufgrund ihrer eigenen Vorstellungen<br />

und Ideen aufrecht.<br />

Nach der Erschaffung des Universums durch seine Gedankenkraft überlegte<br />

der Schöpfer wie folgt: „Ich habe all dieses nur durch die Kraft einer geringfü-<br />

216


gigen Erregung im kosmischen Gemüt erschaffen. Ich habe jetzt genug davon.<br />

Alles wird sich nun von selbst fortsetzen. Ich werde jetzt ruhen.“ So kontemplierend<br />

ruhte Brahmā der Schöpfer – er ruhte in seinem eigenen Selbst in<br />

tiefer Meditation.<br />

Dann eines Tages enthüllte der Schöpfer aus Mitgefühl für die erschaffenen<br />

Lebewesen die Schriften, die von der Selbsterkenntnis handeln. Erneut wurde<br />

er absorbiert in der Erkenntnis seines eigenen Selbst, jenseits aller Konzepte<br />

und Beschreibungen. Dies allein verdient, der höchste „Zustand des Schöpfers“<br />

(brāhmÅ-sthiti) genannt zu werden.<br />

Von da an nahmen die erschaffenen Wesen die Eigenschaften der Dinge an,<br />

mit denen sie sich verbanden. Durch Verbindung mit dem Guten wurden sie<br />

gut, durch Verbindung mit dem Weltlichen wurden sie weltlich. Auf diese<br />

Weise wird man an diese Welterscheinung gebunden, und so wird man auch<br />

befreit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nach der Erschaffung dieser Welterscheinung wurde diese wie ein Wassertopf,<br />

in dem die lebendigen Wesen fortwährend emporstiegen und<br />

hinuntersanken in einen toten Brunnen – gefesselt durch das Seil des Wunsches<br />

„Ich will leben“. Diese Lebewesen, die im Ozean des unendlichen Bewusstseins<br />

wie Wellen und Kräusel auf der Oberfläche des unendlichen Bewusstseins<br />

auftauchten, kamen auf die physische Ebene. Sobald die Elemente<br />

wie Luft, Feuer, Wasser und Erde geboren worden waren, verbanden sie sich<br />

mit diesen. So begann das Rad von Geburt und Tod sich zu drehen.<br />

Die jīvas kamen sozusagen auf den Strahlen des Mondes in die Pflanzen und<br />

Kräuter. Sie wurden sozusagen die Früchte dieser Pflanzen, die durch die<br />

Strahlen der Sonne reiften. So wurden sie bereit zur Inkarnation. Die subtilen<br />

Vorstellungen, Ideen und die mentale Konditionierung schlafen schon im<br />

ungeborenen Wesen. Zur Geburtsstunde wird dann der Schleier, der sie bedeckte,<br />

aufgehoben.<br />

Einige dieser Wesen werden rein und erleuchtet geboren (sātvika). Schon in<br />

ihren früheren Leben haben sie sich von der Verführung der Sinnesvergnügen<br />

abgewendet. Die Natur der anderen jedoch, die allein zur Verlängerung des<br />

Zyklus von Geburt und Tod geborensind, besteht aus einer Verbindung des<br />

Reinen, des Unreinen und des Finsteren. Es gibt wiederum andere, deren<br />

Natur rein ist und nur wenig mit Unreinheit vermischt – diese sind der Wahrheit<br />

ergeben und voll edler Eigenschaften. Selten sind jedoch die Menschen,<br />

die frei von Unwissenheit sind. Wiederum andere Menschen sind eingehüllt<br />

in der Dunkelheit der Unwissenheit und Stumpfheit – sie sind wie Steine oder<br />

Berge!<br />

Diejenigen Lebewesen, in denen Reinheit überwiegt mit nur wenig Unreinheit<br />

(die rājasa-sātvika Menschen), sind stets glücklich, erleuchtet und frei<br />

von Trauer oder Verzweiflung. Sie sind selbstlos wie Bäume und wie diese<br />

durchleben sie nur die Resultate vergangener Handlungen, ohne neue zu<br />

IV:60,61<br />

217


IV:62<br />

erzeugen. Sie sind wunschlos. Sie befinden sich im Frieden mit sich selbst,<br />

und sie geben diese Friedfertigkeit auch nicht in den schlimmsten Katastrophen<br />

auf. Sie lieben alle Wesen und schauen auf alle mit demselben Gleichmut.<br />

Sie ertrinken nicht im Meer des Leidens. Unter allen Umständen sollte<br />

man das Untertauchen im Ozean des Kummers verhindern, sondern sich mit<br />

der Erforschung des Selbst befassen: „Wer bin ich, wie konnte diese Welterscheinung<br />

entstehen?“ Man sollte den im Körper wohnenden Egoismus und<br />

die Hinneigung zur Welt aufgeben. Dann wird man erkennen, dass es im<br />

Raum keine Unterteilungen gibt – ob nun ein Gebäude dort steht oder nicht.<br />

Dasselbe Bewusstsein, welches in der Sonne erstrahlt, bewohnt auch den<br />

kleinsten Wurm, der in einem Erdloch herumkriecht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, wer weise ist und fähig, die Natur der Wahrheit zu erforschen,<br />

sollte zu einer edlen und gelehrten Person gehen und die Schriften studieren.<br />

Der Lehrer sollte frei vom Verlangen nach Sinnesvergnügen sein und über<br />

eine direkte Erfahrung der Wahrheit verfügen. Mit dieser Unterstützung<br />

sollte man dann die Schriften studieren und durch die Praxis des großen <strong>Yoga</strong><br />

kann man den höchsten Zustand erlangen.<br />

Oh Rāma, du bist in der Tat ein spiritueller Held und voll edler Tugenden.<br />

Du bist frei vom Kummer. Du hast den Zustand des Gleichmuts erreicht. Gib<br />

alle Täuschungen durch die höchste Intelligenz auf. Sobald dich die Dinge<br />

dieser Welt nichts mehr angehen, wirst du im nicht-dualen Bewusstsein<br />

verankert sein, und darin besteht die endgültige Befreiung. Darüber besteht<br />

kein Zweifel. Und alle Weisen der Selbsterkenntnis werden deinem edlen<br />

Vorbild folgen.<br />

Rāma, nur jemand, der intelligent ist wie du, der gutartig ist wie du und alles<br />

aus der gleichen Sicht betrachtet, und der nur Gutes sieht, ist bestimmt<br />

zur Vision der Weisheit, wie ich sie dir beschrieben habe.<br />

Oh Rāma, solange du verkörpert bist, lebe ohne dich von Zuneigungen und<br />

Abneigungen, Anziehung und Abstoßung erschüttern zu lassen, in Übereinstimmung<br />

mit den Regeln der Gesellschaft, in der du lebst, jedoch ohne Wünsche<br />

und ohne Verlangen. Suche beständig den höchsten Frieden, wie es die<br />

Heiligen tun.<br />

Indem man dem Vorbild der Heiligen nacheifert, kommt man dem höchsten<br />

Zustand näher. Wie auch immer die Natur einer Person hier in diesem Leben<br />

ist – diese wird er nach dem Ablauf seiner Lebensspanne erlangen. Aber wer<br />

sich ernsthaft schon jetzt bemüht, der vermag solche Veranlagungen zu<br />

überwinden und sich selbst über die Zustände der Finsternis und Stumpfheit<br />

(tamas) und der Unreinheit (rajas) zu erheben. Durch die eigene Weisheit<br />

kann man von diesen Zuständen emporsteigen in den Zustand der Reinheit<br />

und Erleuchtung (satva).<br />

Nur durch intensive Selbst-Bemühung erlangt man eine gute Verkörperung.<br />

Es gibt nichts, was intensive Selbst-Bemühung nicht erreichen kann. Durch<br />

218


die Praxis von brahmacarya (Enthaltsamkeit oder Hingabe an Brahman aus<br />

ganzer Seele), Mut, Leidenschaftslosigkeit und Ausdauer sowie durch intelligente<br />

Praxis, welche auf gesundem Menschenverstand gründet, erlangt man<br />

schließlich, was man zu erlangen sucht – die Selbsterkenntnis.<br />

Rāma, du bist schon ein befreiter Mensch – lebe nun wie einer!<br />

* * *<br />

219


Teil V: Über die Auflösung<br />

VùLMýKI sprach:<br />

Die Menschen (einschließlich der Götter, Halbgötter und der Mitglieder des<br />

königlichen Hofes) lauschten den Weisheitsworten des Weisen Vāsi«Âha mit<br />

vollkommener Aufmerksamkeit. Der Herrscher Daśaratha und seine Minister<br />

hatten für diese Zeit all ihre königlichen Verpflichtungen und Vergnügen<br />

vertagt, um sich ungeteilt den Belehrungen des großen Weisen zu widmen.<br />

Zur Mittagszeit ertönten die Muschelhörner, und die Versammlung erhob sich<br />

zur Mittagspause. Am Abend zog sich die Gesellschaft dann zur Ruhe zurück.<br />

Wenn die Könige und Prinzen sich erhoben, um den Hof zu verlassen, schienen<br />

ihre schillernden Gewänder und ihr Schmuck den Raum zu erleuchten.<br />

Der gesamte Hof wirkte wie ein Miniaturuniversum.<br />

Nachdem die Versammlung auseinander gegangen war, verehrte König<br />

Daśaratha traditionsgemäß die Weisen und empfing deren Segnungen. Danach<br />

erlaubte Vāsi«Âha den Prinzen, Rāma und seinen Brüdern, sich zur Ruhe<br />

zurückzuziehen. Auch sie fielen dem Weisen zu Füßen und empfingen seinen<br />

Segen.<br />

Wenn die Nacht kam, gingen alle zu Bett, außer Rāma, der nicht zu schlafen<br />

vermochte.<br />

RùMA kontemplierte wie folgt die erleuchtenden Worte des Weisen<br />

Vāsi«Âha:<br />

Worin besteht diese Welterscheinung? Wer sind all diese verschiedenartigen<br />

Menschen und anderen Lebewesen? Wie erscheinen sie hier, von wo sind<br />

sie gekommen und wohin werden sie gehen? Worin besteht die Natur des<br />

Gemütes, und wie kann es zur Ruhe kommen? Wie konnte Māyā (die kosmische<br />

Illusion) überhaupt entstehen, und wie kann sie an ein Ende gelangen?<br />

Ist das Ende einer solchen Illusion wünschenswert oder nicht? Wie konnte im<br />

unendlichen Selbst die Begrenztheit auftauchen?<br />

Worin genau bestehen die Mittel, die der Weise Vāsi«Âha zur Eroberung von<br />

Gemüt und Sinnen vorschreibt? Denn diese sind ganz gewiss die Quellen des<br />

Leidens. Es ist nicht möglich, die Freude der Sinnesvergnügen aufzugeben,<br />

und ohne die Aufgabe der Freude daran ist ein Ende des Leidens unmöglich –<br />

dies ist in der Tat ein Problem. Das Gemüt jedoch ist der kritische Faktor in<br />

dieser Konstellation, und solange es nicht zumindest einmal den höchsten<br />

Frieden, der frei von aller weltlichen Illusion ist, gekostet hat, wird es die<br />

Sinnesvergnügen gewiss nicht aufgeben und weiterhin hinter ihnen herlaufen.<br />

Oh, wann wird mein Gemüt rein sein? Und wann wird es im Höchsten Sein<br />

ruhen? Wann wird mein Gemüt im Unendlichen ruhen wie eine Welle, die<br />

wieder mit dem Ozean vereint ist? Wann werde ich befreit sein von allem<br />

Verlangen? Wann werde ich mit Gleichmut gesegnet sein? Wann werde ich<br />

ohne dieses schreckliche Fieber der Weltlichkeit sein ?<br />

V:1,2<br />

220


Oh Gemüt, wirst du wirklich fest in der Weisheit verankert bleiben, wie sie<br />

von den großen Weisen offenbart wird? Oh mein Intellekt, du bist mein<br />

Freund – kontempliere die Lehren des Weisen Vāsi«Âha so, dass wir beide<br />

zusammen vom Elend dieser weltlichen Existenz errettet werden mögen.<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Als der Morgen dämmerte, erhoben sich Rāma und die anderen und vollführten<br />

die religiösen Pflichten. Anschließend begaben sie sich zu den Gemächern<br />

des Weisen Vāsi«Âha. Auch der Weise hatte seine Morgengebete beendet<br />

und befand sich in tiefer Meditation. Als er sich schließlich erhob, bestieg<br />

er zusammen mit seinen Gefährten den Wagen und fuhr zum Palast des Königs<br />

Daśaratha. Als sie den königlichen Hof betraten, ging ihnen der König<br />

drei Schritte entgegen, um ihnen den gebührenden Respekt zu erweisen.<br />

Bald danach kamen auch alle anderen Mitglieder der Versammlung (die<br />

Götter, Halbgötter, die Weisen und andere) und nahmen ihre Plätze ein.<br />

DAŚARATHA eröffnete die Versammlung und sprach:<br />

Oh gesegneter Höchster Herr, ich hoffe, dass du dich von den Mühen der<br />

gestrigen Belehrung gut erholt hast. Was uns anbelangt, so sind wir von den<br />

Worten höchster Weisheit, die du gestern geäußert hast, sehr erhoben. Die<br />

Worte der erleuchteten Weisen zerstreuen die Sorgen aller Lebewesen und<br />

lassen Segen auf sie herabkommen. Sie beseitigen all die Unreinheiten, die<br />

wir durch unsere eigenen bösen Taten in uns gesät haben. Schlechte Neigungen<br />

wie Verlangen, Gier usw. werden allein durch deine Weisheit geschwächt.<br />

Auch unser irriger Glaube an die Wirklichkeit dieser Welterscheinung wird<br />

einer harten Prüfung unterzogen.<br />

Oh Rāma, nur der Tag, an dem solche Weisen verehrt werden, darf als ein<br />

fruchtbarer angesehen werden; alle anderen Tage sind Tage der Finsternis.<br />

Dies ist für dich die beste Gelegenheit: frage und erlerne alles von dem Weisen,<br />

was des Erlernens wert ist.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Oh Rāma, hast du tief über die Lehren nachgedacht, die ich dir gestern habe<br />

zukommen lassen? Hast du über sie während der Nachstunden reflektiert,<br />

und hast du sie deutlich auf der Tafel deines Herzens niedergeschrieben?<br />

Erinnerst du dich noch an die Worte, die ich zu dir gesprochen habe, nämlich<br />

dass das Gemüt der Mensch ist? Erinnerst du dich in allen Einzelheiten an<br />

das, was ich über die Schöpfung dieses Weltalls gesagt habe? Denn nur durch<br />

die wiederholte Erinnerung führen solche Unterweisungen zu Klarheit.<br />

RùMA erwiderte:<br />

Hoher Herr, so tat ich. Dem Schlafe wehrend, verbrachte ich die ganze Nacht<br />

meditierend über deine erleuchtenden Worte und habe mich bemüht, die<br />

Wahrheit zu sehen, auf die sie verweisen. So habe ich diese Wahrheit im<br />

Schrein meines Herzens verwahrt. Wer würde wohl nicht deine Unterweisungen<br />

mit Freuden auf seinem Haupte tragen, wissend, dass sie ihm den<br />

V:3,4<br />

221


V:5<br />

größten Segen bringen? Außerdem sind sie wunderbar zu hören; sie sind<br />

äußerst segensreich, und sie bringen uns die unvergleichliche Erfahrung.<br />

Daher, oh Höchster Herr, bitte ich dich: fahre fort mit deiner unübertrefflichen<br />

Unterweisung.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, bitte höre nun die Darlegung über die Auflösung des Universums<br />

und die Erlangung des allerhöchsten Friedens.<br />

Diese anscheinend endlose Welterscheinung wird durch unreine (rājasa)<br />

und stumpfe (tāmasa) Wesen am Leben erhalten; auf dieselbe Weise, wie ein<br />

Gebäude durch Säulen aufrechterhalten wird. Jedoch wird sie leicht und<br />

mühelos von denjenigen aufgegeben, die von reiner Natur sind, so wie die<br />

alte Haut mühelos von der Schlange abgestreift wird. Diejenigen, die von<br />

reiner (satva) Natur sind, und deren Tätigkeiten (rajas) auf Reinheit und Licht<br />

gründen (satva), leben ihr Leben nicht mechanisch, sondern erforschen den<br />

Ursprung und die Natur dieser Welterscheinung. Sobald diese Erforschung<br />

durch rechtes Studium der Schriften und in der Gesellschaft von Weisen unternommen<br />

wird, entsteht in einem ein klares Verstehen der Wahrheit – so<br />

wie im Licht einer Lampe. Die Wahrheit wird erst dann ganz klar gesehen,<br />

wenn man sie durch sich selbst in sich selbst wahrnimmt. Oh Rāma, du besitzt<br />

in der Tat eine reine Natur. Erforsche daher die Natur der Wahrheit und<br />

der Falschheit, und sei der Wahrheit ergeben. Was am Anfang nicht war und<br />

irgendwann aufhört zu sein, wie kann es als Wahrheit angesehen werden?<br />

Nur das kann als Wahrheit oder Wirklichkeit betrachtet werden, was immer<br />

da ist und immer sein wird.<br />

Geburt ist im Gemüt, o Rāma, und Wachsen ist ebenfalls im Gemüt. Wenn<br />

die Wahrheit klar gesehen wird, dann ist es das Gemüt, welches von seiner<br />

eigenen Unwissenheit befreit wird. Lass daher das Gemüt zuerst durch das<br />

Studium der Schriften, die Gesellschaft der Heiligen und die Kultivierung der<br />

Leidenschaftslosigkeit den Weg der Rechtschaffenheit wandern. Damit ausgerüstet,<br />

sollte man Zuflucht zu den Füßen eines Meisters (Guru) nehmen,<br />

dessen Weisheit vollkommen ist. Durch schrittweises und vertrauensvolles<br />

Befolgen der Lehren dieses Meisters wird man schließlich das Feld der vollkommenen<br />

Reinheit betreten.<br />

Rāma, gewahre durch reine Selbst-Erforschung das Selbst durch das Selbst<br />

– ebenso wie der kühle Mond den gesamten Raum wahrnimmt. Wie ein<br />

Strohhalm wird man durch die wildbewegten Wasser dieser Welterscheinung<br />

gewirbelt, solange man nicht im sicheren Boot der Selbst-Erforschung ist. So<br />

wie die Sandpartikel eins nach dem anderen im stillen Wasser zu Boden<br />

sinken, so ruht das Gemüt des Menschen, der das Wissen um die Wahrheit<br />

erworben hat, im vollkommenen Frieden. Wenn diese Erkenntnis einmal<br />

gewonnen ist, kann sie nicht wieder verloren gehen – so wie der Goldschmied<br />

Gold auch sieht, wenn es in der Asche liegt. Solange die Wahrheit noch nicht<br />

erkannt ist, gibt es noch Verwirrung - aber ist sie erkannt, gibt es keine Ver-<br />

222


wirrung mehr. Die Ursache deines Kummers ist die Unwissenheit über das<br />

Selbst – die Erkenntnis des Selbst hingegen führt zu Wonne und Gelassenheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Kläre die Verwirrung von Körper und Selbst – und du wirst im sofortigen<br />

Frieden sein. So wie ein Goldkorn, das in den Schmutz fällt, niemals schmutzig<br />

wird, so ist auch das Selbst unbefleckt vom Körper. Ich wiederhole und<br />

verkünde mit erhobenen Armen: „Wie Wasser und Lotos ist der Körper eines<br />

und das Selbst ein anderes!“ – aber niemand hörte mir zu! Solange dieses<br />

träge und leblose Gemüt den Pfad des Vergnügens wandelt, solange kann<br />

diese Finsternis der Weltillusion nicht vertrieben werden. Aber sobald man<br />

hieraus erwacht und die Natur des Selbst erforscht, verschwindet diese Finsternis<br />

unverzüglich. Daher sollte man sich beständig bemühen, das im Körper<br />

wohnende Gemüt zu erwecken, um den Prozess des Werdens hinter sich zu<br />

lassen – denn das Werden ist voll von Kummer und Leiden.<br />

So wie der Himmel nicht vom darin schwebenden Staub berührt wird, so ist<br />

das Selbst vom Körper unberührt. Vergnügen und Schmerz werden fälschlich<br />

als eigene Empfindungen wahrgenommen – so wie man glaubt, dass „der<br />

Himmel von Staub verschmutzt ist“. Tatsächlich gehören aber Vergnügen und<br />

Schmerz weder zum Körper noch zum Selbst, welches alles transzendiert –<br />

sie gehören allein zur Unwissenheit. Ihr Verlust ist kein Verlust. Weder Vergnügen<br />

noch Schmerz gehören irgendjemandem – alles ist stets nur das<br />

Selbst, welches höchster Friede und Unendlichkeit ist. Erkenne dies, o Rāma.<br />

Selbst und Welt sind weder identisch noch verschieden (dual). All dies ist<br />

nichts als die Widerspiegelung der Wahrheit. Nichts als das eine Brahman<br />

existiert. „Ich bin verschieden“ ist reine Einbildung – gib es auf, oh Rāma. Das<br />

eine Selbst nimmt sich selbst innerhalb von sich selbst als das unendliche<br />

Bewusstsein wahr. Es gibt daher keinerlei Kummer, Täuschung, Geburt<br />

(Schöpfung) noch Geschaffenes – was immer ist, ist. Sei frei von Bedrängnis,<br />

oh Rāma. Sei frei von Dualität – verbleibe stets fest im Selbst verankert und<br />

gib alle Sorge um dein eigenes Wohlergehen auf. Sei in dir selbst im Frieden,<br />

mit einem beständig ruhigen Gemüt. Keine Sorge sei in deinem Gemüt. Ruhe<br />

in innerer Stille. Bleibe bei dir selbst und allein, ohne gewollte Gedanken. Sei<br />

mutig und erobere das Gemüt und die Sinne. Sei wunschlos und zufrieden mit<br />

dem, was ungesucht zu dir kommt. Lebe mühelos, ohne nach Dingen zu greifen<br />

oder ihnen zu entsagen. Sei frei von aller mentalen Verwirrtheit (Irrationalität)<br />

und der blindmachenden Illusion. Ruhe zufrieden in deinem eigenen<br />

Selbst. Sei auf diese Weise frei von aller Qual. Verbleibe in einem weit offenen<br />

Zustand im Selbst – wie der weite Ozean. Erfreue dich im Selbst am Selbst wie<br />

die segensreichen Strahlen des Vollmonds.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, wer erkennt, dass sämtliche Tätigkeiten allein aufgrund der Gegenwart<br />

des Bewusstseins stattfinden, so wie ein Kristall die ihn umgebenden<br />

Objekte reflektiert, ohne dies zu beabsichtigen, der ist befreit. Diejenigen<br />

V:6,7<br />

223


jedoch, die auch nach Erlangung ihrer menschlichen Geburt nicht an dieser<br />

nicht-willentlichen Tätigkeit interessiert sind, gehen vom Himmel zur Hölle<br />

und wiederum von der Hölle zum Himmel.<br />

Es gibt einige, die sich der Untätigkeit hingegeben und sich von aller Tätigkeit<br />

abgewendet oder diese unterdrückt haben – sie gehen von Hölle zu Hölle,<br />

von Kummer zu Kummer, von Furcht zu Furcht. Einige sind aufgrund ihrer<br />

Neigungen und Absichten an die Früchte ihres eigenen Handelns gebunden.<br />

Diese werden als Würmer oder Ungeziefer geboren, dann als Bäume und<br />

Pflanzen, und wiederum als Würmer und Ungeziefer. Es gibt andere, die das<br />

Selbst kennen und in der Tat gesegnet sind. Sie haben mit aller Umsicht die<br />

Natur des Verstandes erforscht und alles Verlangen überwunden; beständig<br />

wandern sie in höhere Regionen des Bewusstseins.<br />

Wer seine letzte Geburt durchlebt, ist mit einer Mischung von Licht (satva)<br />

und etwas Unreinheit (rajas) ausgestattet. Vom Zeitpunkt der Geburt an<br />

nimmt seine Heiligkeit ständig zu. Mit Leichtigkeit tritt die edle und höchste<br />

Form des Wissens in ihn ein. Alle edlen Tugenden wie Freundlichkeit, Mitgefühl,<br />

Weisheit, Rechtschaffenheit und Großherzigkeit suchen ihn und wohnen<br />

in seinem Herzen. Er vollführt alle angemessenen Handlungen, gerät jedoch<br />

nicht ins Schwanken, wenn deren Ergebnisse in Form von Verlust oder Gewinn<br />

erscheinen; auch ist er weder erfreut noch betrübt. Sein Herz ist ungetrübt.<br />

Er wird von den Menschen verehrt und gesucht.<br />

Ein solcher in dem alle edlen Eigenschaften vereint sind, sucht und folgt einem<br />

erleuchteten Meister, der ihm den Weg zur Selbsterkenntnis weist.<br />

Schließlich verwirklicht er das Selbst, welches das eine kosmische Sein ist.<br />

Ein solcher Befreiter hat seine innerste Intelligenz erweckt, die bis dahin<br />

schlief, und diese innerste Intelligenz erkennt sich selbst sogleich als das<br />

unendliche Bewusstsein. Indem er dieses inneren Lichts dauernd gewahr ist,<br />

erhebt sich dieser Gesegnete in den gänzlich reinen Zustand.<br />

Dies ist der normale Verlauf der Evolution, oh Rāma. Jedoch gibt es Ausnahmen<br />

von dieser Regel. Für diejenigen, die in dieser Welt geboren sind,<br />

existieren zwei Möglichkeiten, um die Befreiung zu erreichen. Die erste ist:<br />

Dem Pfad folgen, der vom Meister gewiesen wird. Auf diese Weise erlangt der<br />

Suchende nach und nach die Befreiung. Die zweite ist: Die Selbsterkenntnis<br />

fällt einem buchstäblich in den Schoß und führt zu einer sofortigen Erleuchtung.<br />

Ich möchte dir nun eine uralte Legende erzählen, die den zweiten Fall der<br />

Erleuchtung illustriert. Höre bitte aufmerksam zu.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von König Janaka<br />

224


V:8<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, es gibt einen großen Monarchen, dessen Weitblick unbegrenzt ist<br />

und der das Videha-Land regiert. Sein Name ist Janaka. Für diejenigen, die<br />

seine Hilfe suchen, ist er wie ein Füllhorn. In seiner Gegenwart erblüht der<br />

Herz-Lotos aller seiner Freunde; fürwahr ist er für sie wie die leibhaftige<br />

Sonne. Für die guten Menschen ist er ein großer Wohltäter.<br />

Eines Tages betrat er einen Lustgarten, in dem er nach Belieben umherstreifte.<br />

Während er dort einherging, vernahm er die inspirierenden Worte,<br />

die von gewissen vollkommenen Heiligen geäußert wurden. Diese<br />

VOLLKOMMENEN WEISEN sangen:<br />

Wir kontemplieren dieses Selbst, welches sich selbst als reine Erfahrung<br />

der Seligkeit enthüllt, wenn der Seher (der Erfahrende) ohne jede Trennung<br />

oder Konzeptualisierung mit dem Objekt (der Erfahrung) in Kontakt kommt.<br />

Wir kontemplieren dieses Selbst, in dem alle Objekte nicht-willentlich reflektiert<br />

werden, sobald die (behauptete) Erfahrung der Getrenntheit von<br />

Subjekt und Objekt und die Absicht oder der Wille, der diese Getrenntheit<br />

erzeugt hat, aufgehört haben.<br />

Wir kontemplieren dieses Licht, das alle Lichter erleuchtet – das Selbst,<br />

welches die Gegensatzpaare des Konzepts von „ist“ und „ist nicht“ überschreitet<br />

und sich sozusagen in der Mitte von den beiden befindet.<br />

Wir kontemplieren diese Wirklichkeit, in der alles existiert, der alles angehört,<br />

aus dem alles aufgetaucht ist, welches die Ursache von allem ist und<br />

welches selbst alles ist.<br />

Wir kontemplieren dieses Selbst, welches die eigentliche Grundlage aller<br />

Sprache und Ausdrucksform ist, das Alpha und das Omega, welches das gesamte<br />

Feld von „a“ bis „ha“ umfasst und durch das Wort „aham“ („Ich“) angezeigt<br />

wird.<br />

Oh weh – wie doch die Menschen hinter den Objekten herlaufen und törichterweise<br />

den Höchsten Herrn vergessen, welcher doch im tiefsten Innern<br />

ihres Herzens wohnt!<br />

Wer immer noch sein Herz an diese Objekte hängt, obwohl er ihre Wertlosigkeit<br />

erkannt hat, kann nicht als menschliches Wesen bezeichnet werden!<br />

Man sollte jedwedes Verlangen mit der Rute der Weisheit niederschlagen –<br />

ob dieses Verlangen nun schon da ist oder aber künftig im eigenen Herzen<br />

auftaucht.<br />

Man soll die Freude genießen, die aus dem Frieden strömt. Der Mensch, der<br />

sein Gemüt beherrscht, ist im Frieden verankert. Wenn das Herz auf diese<br />

Weise im Frieden lebt, entsteht ohne weitere Verzögerung der reine Segen<br />

des Selbst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

V:9<br />

225


Nachdem König Janaka diese Worte der Weisen vernommen hatte, verfiel er<br />

in eine tiefe, tiefe Niedergeschlagenheit. Eilig ging er zurück zum Palast. Er<br />

entließ seine Diener und zog sich in die Abgeschiedenheit seines Gemachs<br />

zurück. In seiner Seelenqual sprach<br />

KÖNIG JANAKA:<br />

Oh weh! Oh weh! Hilflos schwinge ich wie ein Stein in dieser Welt voll<br />

Elend! Was bedeutet denn schon diese Lebensspanne in der Ewigkeit – und<br />

doch habe ich ihr mein Herz hingegeben! Schande über das Gemüt. Was ist<br />

denn das Königtum schon wert – auch wenn es ein ganzes Leben dauert? Und<br />

doch glaube ich wie ein Narr, dass ich ohne es nicht leben kann! Diese meine<br />

kurze Lebenszeit ist nichts als ein unbedeutender Moment – denn die Ewigkeit<br />

erstreckt sich davor und danach. Wie kann ich sie nun noch schätzen?<br />

Wer nur ist dieser Magier, der diese Illusion namens Welt um mich herum<br />

ausgebreitet und mich so in die Irre geführt hat? Wie konnte ich mich so<br />

täuschen lassen? Da doch Nähe und Ferne nur in meinem Gemüt sind, werde<br />

ich nun das Wahrnehmen aller äußeren Objekte aufgeben. Welche Hoffnung<br />

sollte ich noch für Glück hegen, da ich doch erkannt habe, dass alle Geschäftigkeit<br />

in dieser Welt nur zu endlosem Leiden führt? Tag um Tag, Monat um<br />

Monat und Jahr um Jahr sehe ich, wie das Glücklichsein-Wollen mir nichts als<br />

Leiden bringt – ohne Ende!<br />

Was auch immer hier gesehen und erfahren wird, ist dem Wandel und der<br />

Zerstörung unterworfen – in dieser Welt gibt es wahrhaftig nichts, worauf<br />

sich Weise verlassen. Wer heute himmelhoch jauchzt, wird schon morgen<br />

niedergetrampelt. Oh närrischer Verstand – weshalb sollten wir dieser Welt<br />

denn trauen?<br />

Oh weh! Ich bin ohne Seil gebunden; ich bin befleckt, obwohl rein; ich bin<br />

gefallen, obwohl ich zuoberst stehe. Oh du mein Selbst – was ist dies für ein<br />

Rätsel! So wie die immer strahlende Sonne plötzlich durch die vorüberziehende<br />

Wolke verdeckt wird, so sehe ich diese mysteriöse Täuschung sich mir<br />

nähern. Wer sind meine Freunde und Verwandten, was sind all diese Freuden?<br />

So wie ein Kind erschrickt, wenn es ein Gespenst sieht, so bin ich von all<br />

diesen eingebildeten Verwandten verwirrt. Obwohl alle diese Bindungen wie<br />

Fesseln sind, die mich Alter und Tod unterwerfen, hänge ich immer noch an<br />

ihnen. Sollen doch diese Verwandten leben oder sterben – was bedeutet es<br />

mir? Große Ereignisse und große Männer sind gekommen und gegangen und<br />

haben nichts als eine Erinnerung hinterlassen – worauf soll man da die Zuversicht<br />

gründen? Sogar die Götter und die göttliche Trinität sind millionenmal<br />

gekommen und wieder gegangen – was ist in diesem Universum von<br />

Dauer? Es ist eine vergebliche Hoffnung, sich an diesen Albtraum zu binden,<br />

der als die Welterscheinung bekannt ist. Schande über solch einen jämmerlichen<br />

Zustand!<br />

KÖNIG JANAKA fuhr fort:<br />

226


V:10<br />

Ich bin wie ein unwissender Dummkopf, der von diesem Kobold namens<br />

Ich-Sinn, der das täuschende Gefühl „Ich bin so und so“ erschafft, an der Nase<br />

herumgeführt wird. Obwohl ich weiß, dass die Zeit bereits zahllose Götter<br />

und Trinitäten unter ihren Füßen zertrampelt hat, hege ich immer noch Liebe<br />

für das Leben. Tage und Nächte werden in sinnlosem Verlangen, aber nicht in<br />

der Erfahrung der Seligkeit des unendlichen Bewusstseins verbracht. Vom<br />

Leiden bin ich zu immer größerem Leiden gegangen, ohne dass Leidenschaftslosigkeit<br />

in mir entstanden wäre.<br />

Was könnte ich als vorzüglich und wünschenswert in dieser Welt erachten,<br />

wenn ich doch sehe, wie alles Geschätzte wieder verschwindet und einen im<br />

Elend zurücklässt? Tag um Tag nehmen Sünde und Gewalt in den Menschen<br />

zu – Tag um Tag erfahren sie größeres Leiden. Die Kindheit wird in Unwissenheit<br />

verbracht – die Jugend in Sehnsucht nach dem Vergnügen verschwendet.<br />

Der Rest des Lebens besteht aus Familienstreitigkeiten – was<br />

erreicht die dumme Person denn schon in diesem Leben?<br />

Auch wenn man wichtige religiöse Riten vollzieht, wartet doch letztlich nur<br />

der Himmel auf einen, aber nicht mehr. Was ist schon der Himmel? Befindet<br />

er sich auf der Erde oder in den Unterwelten, und gibt es denn einen Ort, der<br />

frei vom Leiden ist? Aus Kummer wird Glück, und das Glück trägt auf seinen<br />

Schultern wiederum den Kummer herbei! Die Poren der Erde sind angefüllt<br />

mit den Kadavern der Lebewesen – darum sieht sie so solid aus! Es gibt Lebewesen<br />

hier in diesem Universum, deren Augenzwinkern eine ganze Epoche<br />

beträgt. Was ist dagegen meine Lebensspanne? Gewiss scheinen in dieser<br />

Welt erfreuliche und dauerhafte Objekte zu sein; aber sie bringen endlose<br />

Sorgen und Ängste mit sich! Wohlstand ist wahrhaftig ein Unheil, und Unheil<br />

kann durchaus wünschenswert sein – es kommt darauf an, was es für eine<br />

Wirkung auf das Gemüt hat Das Gemüt allein ist der Same für diese Illusion<br />

der Welterscheinung; das Gemüt lässt die irrige Idee von „Ich“ und „mein“<br />

entstehen.<br />

In dieser Welt, die auf dieselbe Weise als erschaffen erscheint, wie eine Kokosnuss<br />

zufällig gelöst wird, wenn in dem Moment eine Krähe auf der Palme<br />

landet, erzeugt die schiere Unwissenheit Gefühle wie „dies sollte ich haben“<br />

und „dies sollte ich vermeiden“. Es wäre weitaus besser, seine Zeit in der<br />

Abgeschiedenheit oder in der Hölle zu verbringen, als in dieser Welterscheinung<br />

zu leben.<br />

Nur Absicht oder Motivation ist der Keimling dieser Welterscheinung. Ich<br />

werde diese Motivation austrocknen! Alle Arten von Erfahrungen habe ich<br />

bereits genossen und erlitten. Nun werde ich endlich zur Ruhe gelangen. Ich<br />

werde nicht länger trauern. Ich bin erwacht. Ich werde diesen Dieb, das Gemüt,<br />

erschlagen, der mir die Weisheit geraubt hat. Von den Weisen wurde ich<br />

wohl unterrichtet: Jetzt werde ich die Selbsterkenntnis suchen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Sein Leibwächter sah, wie der König tief in der Meditation versunken war;<br />

er näherte sich ihm respektvoll und sagte: „Mein Herr, es ist Zeit für eure<br />

227


königlichen Pflichten. Die Dienerin eurer Majestät erwartet eure Befehle und<br />

hat ein wohlriechendes Bad bereitet. Die heiligen Priester erwarten eure<br />

Ankunft im Badegemach, um die geeigneten Gesänge anzustimmen. Mein<br />

Herr, erhebt euch und erledigt, was zu erledigen ist, denn edle Männer sind<br />

niemals unzeitig oder nachlässig.“<br />

Aber der König hörte nicht auf die Worte seines Leibwächters und fuhr fort<br />

zu sinnen:<br />

Was soll ich mit diesem Hof und den königlichen Pflichten, wenn ich doch<br />

weiß, dass all dies vergänglich ist? Nutzlos sind sie für mich. Ich werde alle<br />

Aktivitäten und Pflichten aufgeben und in der Seligkeit des Selbst verbleiben.<br />

Oh Gemüt, gib dein Begehren nach Sinnesvergnügen auf, so dass das immer<br />

wiederkehrende Elend von Alter und Tod ein Ende nimmt. Was auch immer<br />

dich dazu bringt, nach dem Glück zu jagen – genau dies wird sich als die Quelle<br />

des Unglücks herausstellen. Genug dieses sündigen, konditionierten, vergnügungssüchtigen<br />

Lebens! Suche die Freude, die natürlich und eingeboren<br />

in dir selbst wohnt.<br />

Als der Leibwächter sah, dass der König stumm blieb, schwieg er auch.<br />

DER KÖNIG sagte wieder zu sich selbst:<br />

Was habe ich in diesem Universum zu gewinnen; welche ewig bestehende<br />

Wahrheit in diesem Universum gibt es, auf die ich meine Zuversicht gründen<br />

kann? Welchen Unterschied macht es, ob ich mit unaufhörlicher Tätigkeit<br />

befasst oder untätig bin? Nichts in dieser Welt kann als wahrhaft beständig<br />

bezeichnet werden. Ob tätig oder müßig – dieser Körper ist vergänglich und<br />

verändert sich ständig. Wenn die Vernunft im Gleichmut verwurzelt ist – was<br />

geht verloren und wie?<br />

Ich verlange nicht nach dem, was ich nicht habe, und wünsche nicht aufzugeben,<br />

was ungesucht zu mir gekommen ist. Ich bin fest im Selbst verwurzelt<br />

– und so soll mein sein, was mein ist! Es gibt nichts, wofür ich zu arbeiten<br />

hätte, und auch die Nicht-Tätigkeit hat keine Bedeutung. Was auch immer<br />

durch Tätigkeit und Untätigkeit erlangt wird, ist falsch. Sobald das Gemüt in<br />

der Wunschlosigkeit gefestigt ist und nicht nach Sinnesvergnügen verlangt<br />

und sobald der Körper und seine Organe ihre natürlichen Tätigkeiten verrichten<br />

– dann sind Tätigkeit und Untätigkeit gleichbedeutend und gleichwertig.<br />

Lass daher den Körper sich mit seinen natürlichen Aufgaben befassen, denn<br />

ohne diese wird er zerfallen. Wenn das Gemüt aufhört, in Bezug auf stattgefundene<br />

Handlungen Vorstellungen wie „Ich tat dies“ oder „Ich erfreute mich<br />

daran“ zu unterhalten, wird die Tätigkeit zur Nicht-Tätigkeit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Indem er so nachdachte, erhob sich König Janaka von seinem Sitz, wie die<br />

Sonne, die am Horizont erscheint, und begann, sich seinen königlichen Pflichten<br />

zu widmen, ohne Anhaftung an sie zu entwickeln. Indem er sämtliche<br />

Konzepte des Wünschenswerten und Nicht-Wünschenswerten aufgegeben<br />

hatte und frei von aller psychologischen Konditionierung und Absicht war,<br />

V:11<br />

228


V:12<br />

agierte er wie im Tiefschlaf – aber hellwach – spontan und mit der Situation<br />

angemessenem Handeln. Er absolvierte die täglichen Aufgaben einschließlich<br />

der Verehrung der Heiligen, und am Abend zog er sich in die Abgeschiedenheit<br />

zurück, um die Nacht in tiefer Meditation zu verbringen, was nun natürlich<br />

und leicht für ihn geworden war. Sein Gemüt hatte sich auf natürliche<br />

Weise von aller Verwirrtheit und Täuschung abgewandt und war fest im<br />

Gleichmut verwurzelt. Und wenn er sich am nächsten Morgen erhob, reflektierte<br />

KÖNIG JANAKA wie folgt:<br />

Oh unstetes Gemüt! Dieses weltliche Leben ist wahrhaftig deinem wahren<br />

Glück nicht dienlich. Erlange daher den Zustand des Gleichmuts. Nur in einem<br />

solchen Zustand kannst du Frieden, Seligkeit und Wahrheit erfahren. Immer<br />

dann, wenn du aus reinem Mutwillen in dir selbst alle diese verdrehten Gedanken<br />

pflegst, beginnt sich diese Weltillusion zu erheben und zu verbreiten.<br />

Sobald du den Wunsch nach Vergnügen in dir entwickelst, geschieht es, dass<br />

sich diese Weltillusion auf‘s vielfältigste verzweigt. Es ist das Denken, das<br />

dieses Netz der Welterscheinung auftauchen lässt. Gib daher all diese Grillen<br />

und Fantasien auf und erlange den Gleichmut. Wirf auf der einen Seite die<br />

Sinnesvergnügen und auf der anderen die Seligkeit des Friedens in die Waagschale<br />

deiner Weisheit. Strebe dann nach dem, was du als Ergebnis davon als<br />

die Wahrheit erkannt hast. Gib alle Hoffnungen und Erwartungen auf und<br />

wandere, frei von dem Wunsch, etwas zu gewinnen oder zu vermeiden, umher.<br />

Lass diese Welterscheinung wirklich oder unwirklich sein, lass sie auftauchen<br />

oder verschwinden – aber deinen Gleichmut lass keinesfalls durch<br />

ihren Wert oder Unwert stören. Denn zu keinem Zeitpunkt trittst du mit<br />

dieser Welterscheinung in eine echte Beziehung – eine solche Beziehung<br />

erscheint nur aufgrund von Unwissenheit in dir. Oh Gemüt – falsch bist du,<br />

und falsch ist auch diese Welterscheinung. Daher existiert zwischen euch<br />

beiden eine rätselhafte und unerklärbare Beziehung – wie die zwischen einer<br />

unfruchtbaren Frau und ihrem Sohn. Wenn du denkst, dass du wirklich, die<br />

Welt aber unwirklich ist – wie kann dann zwischen den beiden eine echte<br />

Beziehung existieren? Andererseits – falls beide wirklich sind, wo wäre dann<br />

die Rechtfertigung für all den Jubel und all den Kummer? Gib deshalb den<br />

Kummer auf und nimm Zuflucht zu tiefer Meditation. In dieser Welt hier<br />

existiert überhaupt nichts, was dich in einen Zustand der Erfüllung versetzen<br />

könnte. Nimm daher entschlossen deine Zuflucht zum Mut und zur Ausdauer<br />

und überwältige deinen Eigensinn.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem König Janaka dieses Verständnis realisiert hatte, spielte er fortan<br />

seine Rolle als König und erledigte alles, was zu erledigen nötig war, ohne je<br />

wieder in Verwirrung zu geraten, und mit großer Disziplin in Gemüt und<br />

Geist. Sein Gemüt wurde durch königliche Vergnügungen nicht abgelenkt. In<br />

der Tat bewegte er sich durch die Welt wie jemand, der sich beständig im<br />

Tiefschlaf befindet.<br />

229


Von da an war er weder am Erwerb noch am Zurückweisen von irgendetwas<br />

interessiert – ohne jeden Zweifel und ohne Verwirrtheit lebte er in der<br />

Gegenwart. Seine Weisheit war ununterbrochen, und seine Intelligenz wurde<br />

nicht wieder durch Unreinheiten umwölkt. In seinem Herzen erschien das<br />

Licht der Selbsterkenntnis (cid-ātmā), frei von der geringsten Befleckung<br />

durch Unreinheit und Kummer, so wie die Sonne am Horizont aufsteigt. Alles<br />

im Universum erblickte er als Ergebnis der kosmischen Kraft (cid-śakti).<br />

Ausgestattet mit Selbsterkenntnis, sah er sämtliche Dinge im Selbst, das unendlich<br />

ist. Da er wusste, dass alle Dinge, die geschehen, auf natürliche Weise<br />

geschehen, war er weder himmelhoch jauchzend noch zu Tode betrübt und<br />

verblieb stets in ungebrochenem Gleichmut. Janaka wurde noch zu seinen<br />

Lebzeiten zu einem befreiten Weisen (jīvan mukta).<br />

Janaka setzte seine Herrschaft über das Königreich fort, ohne dass seine<br />

Selbsterkenntnis sich aufgrund des Einflusses von Gut und Böse um ihn herum<br />

verminderte oder vermehrte. Indem er für immer im Bewusstsein des<br />

Unendlichen verblieb, erfuhr er den Zustand des Nicht-Handelns, obschon er<br />

in den Augen anderer in einer Vielzahl von Tätigkeiten als aktiv erschien. Alle<br />

Neigungen und Absichten hatten aufgehört, in ihm zu existieren. Daher befand<br />

er sich, obwohl er aktiv zu sein schien, in Wahrheit stetig in einem Zustand<br />

von Tiefschlaf.<br />

Weder brütete er über der Vergangenheit noch sorgte er sich um die Zukunft<br />

– er lebte im gegenwärtigen Moment und lächelte immerfort glücklich.<br />

Janaka erlangte, was er auch tat, kraft seiner Selbsterforschung. Jeder sollte<br />

nach seinem Beispiel durch Forschen in die Natur der Wahrheit eindringen,<br />

bis er die äußerste Grenze einer solchen Erforschung erreicht hat. Selbsterkenntnis<br />

oder Erkenntnis der Wahrheit wird weder durch die Zufluchtnahme<br />

zu einem Guru (Lehrer) noch durch das Studium der Schriften erlangt, noch<br />

durch gute Taten, sondern allein durch die Erforschung, inspiriert durch die<br />

Gesellschaft von Weisen und Heiligen. Nur das eigene innere Licht ist das<br />

Mittel – nichts anderes. Wenn dieses innere Licht am Leben erhalten wird,<br />

können Finsternis der Trägheit und Leblosigkeit es nicht berühren.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Welche Sorgen auch immer auftauchen und schwer zu überwinden sein<br />

mögen – mit Hilfe der Weisheit als dem sicheren Boot (das innere Licht)<br />

werden sie bewältigt. Wer dieser Weisheit bar ist, wird sogar durch unbedeutende<br />

Schwierigkeiten in Bedrängnis versetzt. Wer jedoch über diese Weisheit<br />

verfügt, überquert den See der Sorgen auch dann unbeschadet, wenn er<br />

allein und ohne Unterstützung in dieser Welt lebt und die Schriften nicht<br />

kennt. Ohne die Hilfe anderer vermag ein weiser Mensch seine Arbeit zu tun.<br />

Ohne Weisheit vermag er es nicht – ja sogar sein Vermögen, das er in die<br />

Waagschale geworfen hat, geht verloren. Daher sollte man beständig dieses<br />

innere Licht oder die Weisheit zu erlangen suchen – so wie jemand, der<br />

Früchte ernten will, seinen Garten ständig hegt und pflegt. Die Weisheit ist<br />

230


die Wurzel, die bei beständiger Fürsorge, die guten Früchte der Selbsterkenntnis<br />

gedeihen lässt.<br />

All die Kraft und Energie, die die Menschen auf die weltlichen Aktivitäten<br />

lenken, sollten zuallererst in die Erlangung dieser Weisheit gelenkt werden.<br />

Man sollte zuerst die Trägheit des Geistes überwinden, die die Quelle aller<br />

Sorgen und Schwierigkeiten und der Keim für den ungeheuren Baum der<br />

Welterscheinung ist. Und außerdem: Was auch immer im Himmel oder in der<br />

Unterwelt oder in Kaiserreichen erlangt werden kann, dies wird hier und<br />

jetzt durch Weisheit erlangt. Mit Weisheit wird dieser Ozean der Welterscheinung<br />

überquert – nicht aber durch Wohltätigkeit und Pilgerfahrten oder<br />

Askesepraktiken. Die Menschen, die hier mit all den göttlichen Tugenden<br />

gesegnet sind, haben sie durch die Weisheit erlangt. Sogar die Könige haben<br />

ihren Thron durch Weisheit erlangt. So ist es wahrhaftig die Weisheit, die den<br />

sicheren Pfad in den Himmel wie auch zum höchsten Guten und zur Befreiung<br />

weist.<br />

Nur durch Weisheit gewinnt ein demütiger Gelehrter den Wettstreit gegen<br />

einen mächtigen Gegner. Die Weisheit oder das innere Licht ist der legendäre<br />

Edelstein, oh Rāma, der seinem Besitzer verschafft, was immer dieser begehrt.<br />

Wer diese Weisheit besitzt, erreicht mit Leichtigkeit das andere Ufer<br />

der Weltillusion; wer sie dagegen nicht besitzt, ertrinkt darin. Sobald die<br />

eigene Intelligenz und das eigene Verstehen durch dieses innere Licht richtig<br />

geleitet werden, erreicht man das andere Ufer; andernfalls wird man von<br />

Hindernissen zu Fall gebracht.<br />

Gebrechen, Begierden und Verderbtheit können den weisen Menschen, dessen<br />

Gemüt ungetäuscht ist, nicht erreichen. Durch das Auge der Weisheit (im<br />

inneren Licht) wird die gesamte Welt so gesehen, wie sie in Wahrheit ist.<br />

Weder Glück noch Missgeschick können denjenigen berühren, der über diese<br />

klare Sichtweise verfügt. So wie die dichte schwarze Wolke, die die Sonne<br />

verdunkelt, vom Wind zerstreut wird, so wird die Finsternis des Ich-Sinnes,<br />

die das Selbst verdunkelt, von der Weisheit (dem inneren Licht) zerstreut.<br />

Wer im höchsten Zustand des Bewusstseins verankert sein möchte, sollte als<br />

erstes durch Kultivierung der Weisheit oder durch Entzünden des inneren<br />

Lichtes sein Gemüt reinigen, so wie man ein Feld bestellt, auf dem man Getreide<br />

anpflanzen möchte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, erforsche auf diese Weise die Natur des Selbst, wie es Janaka getan<br />

hat. Schon bald wirst du dann ohne Hindernisse das Reich derer betreten,<br />

die wissen, was man wissen muss. Wieder und wieder sollte man die feindlichen<br />

Sinne überwinden – danach erlangt das Selbst durch seine eigene Bemühung<br />

die Selbst-Befriedigtheit. Sobald das unendliche Selbst realisiert<br />

wird, gelangt aller Kummer an sein Ende. Sogar die Samen der Verblendung<br />

werden zerstört, das Unheil hört auf und die Wahrnehmung des Üblen verschwindet.<br />

Oh Rāma, sei wie König Janaka – und erkenne mit Hilfe des inneren<br />

Lichtes das Selbst. Sei ein vortrefflicher Mensch. Wer konstante Selbster-<br />

V:13<br />

231


forschung betreibt und die wandelhafte Natur der Welt erkennt, wird wie<br />

Janaka die Selbsterkenntnis erlangen. Von Nutzen hierbei sind weder Gott,<br />

Riten und Rituale (oder irgendeine Tätigkeit) noch Wohlstand und Verwandte.<br />

Für diejenigen, die diese Welterscheinung mit Schrecken betrachten, ist<br />

die Eigenbemühung in Form von Selbst-Erforschung der einzige Weg, um die<br />

Selbsterkenntnis hervorzubringen. Bitte folge niemals den Lehren derjenigen,<br />

die sich auf Götter, Riten und gewohnheitsmäßige Handlungen oder andere<br />

pervertierte Praktiken verlassen. Dieser Ozean der Welterscheinung kann nur<br />

überquert werden, wenn du fest in der höchsten Weisheit gegründet bist,<br />

wenn du das Selbst allein durch das Selbst siehst, und wenn deine Vernunft<br />

durch die Sinneswahrnehmungen nicht zerstreut und gefärbt ist.<br />

Nun habe ich dir erzählt, wie König Janaka die Weisheit erworben hat, die<br />

wie durch einen Akt der Gnade vom Himmel herab gefallen zu sein scheint.<br />

Wer die Weisheit kultiviert, wie Janaka sie hatte, wird in seinem eigenen<br />

Herzen das innere Licht erfahren, welches die aus der Unwissenheit geborene<br />

Einbildung der Weltillusion unverzüglich beseitigt. Sobald das begrenzende<br />

und konditionierte Empfinden von „Ich bin so und so“ aufhört, taucht das<br />

Bewusstsein des alles erfüllenden Unendlichen auf. Gib daher auch du, o<br />

Rāma, wie König Janaka die falsche und eingebildete Vorstellung des Ich-<br />

Sinnes in deinem eigenen Herzen auf. Wenn dieser Ich-Sinn aufgelöst ist, wird<br />

das höchste Licht der Selbsterkenntnis ganz gewiss in deinem Herzen aufleuchten.<br />

Nur dieser Ich-Sinn ist diese dichte Finsternis – sobald er beseitigt<br />

ist, leuchtet das innere Licht aus sich selbst. Wer weiß: „Ich bin nicht“, „Auch<br />

andere existieren nicht“, „Nicht-Existenz gibt es ebenfalls nicht“, und dessen<br />

mentale Tätigkeit daraufhin zu einem Stillstand gekommen ist, will nichts<br />

mehr erwerben. Oh Rāma, es gibt keine andere Bindung als diejenige, wie sie<br />

durch das Verlangen nach Erwerb und die Furcht vor dem Unerwünschten<br />

entsteht. Unterliege nicht dieser Furcht, und lass nicht den Erwerb dessen,<br />

was als wünschenswert gilt, zu deinem Ziel werden. Indem du diese beiden<br />

Ideen aufgibst, ruhe in dem, was verbleibt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Diejenigen, in denen der Zwillingsdrang nach Erwerb und Zurückweisung<br />

an ein Ende gekommen ist, wünschen nichts und lehnen nichts ab. Das Gemüt<br />

vermag den Zustand der gänzlichen Stille nicht zu erreichen, solange diese<br />

beiden Triebe (des Erwerbs und der Vermeidung) nicht eliminiert sind. Auch<br />

kann das Gemüt Frieden und inneres Gleichgewicht nicht erfahren, solange<br />

man Empfindungen unterhält wie „dies ist real“ und „dies ist nicht real“. Wie<br />

könnten wohl Gleichmut, Reinheit oder Leidenschaftslosigkeit im Gemüt<br />

eines Menschen entstehen, dessen Gedanken zwischen „dies ist richtig“, „dies<br />

ist falsch“, „dies ist Gewinn “ und „dies ist Verlust “ hin und her pendeln?<br />

Wenn es doch nur dieses eine Brahman gibt (welches auf alle Zeiten das Eine<br />

und das Viele ist) – was sollte dann wohl richtig oder falsch sein? Solange das<br />

Gemüt von den Gedanken an das Wünschenswerte und Nicht-<br />

Wünschenswerte getrieben wird, kann es keinerlei Gleichmut geben.<br />

232


Wunschlosigkeit (die Abwesenheit aller Erwartungen), Furchtlosigkeit,<br />

wandellose Stetigkeit, Gleichmut, Weisheit, Nicht-Anhaftung, Nicht-Handeln,<br />

Güte, völlige Abwesenheit von Perversion, Mut, Ausdauer, Freundlichkeit,<br />

Vernunft, Zufriedenheit, Sanftheit und angenehme Rede – alle diese Eigenschaften<br />

sind natürlich für denjenigen, der frei von den Instinkten des Erwerbs<br />

und der Ablehnung ist. Und all diese Eigenschaften sind unbeabsichtigt<br />

und spontan.<br />

Man sollte das Gemüt stets davon abhalten, abwärts zu sinken, so wie der<br />

Lauf eines Flusses durch den Bau eines Dammes aufgehalten wird. Nachdem<br />

du entschlossen allen Kontakt mit externen Objekten aufgegeben hast, wende<br />

das Gemüt nach innen und reflektiere über alles im eigenen Inneren; auch<br />

dann, wenn du mit den verschiedenen Tätigkeiten des Alltags befasst bist. Mit<br />

Hilfe des scharfen Schwertes der Weisheit durchschneide dann dieses Netz<br />

der Konditionierung (welches Verlangen, Absichten, Antriebe, Erwartungen<br />

und Ablehnungen entstehen lässt), welches allein die Ursache des Stromes<br />

der Welterscheinung ist.<br />

Vernichte das Gemüt mit Hilfe des Gemüts. Sobald du den Zustand der<br />

Reinheit erlangt hast, verbleibe darin in Ruhe. Vernichte das Gemüt mit dem<br />

Gemüt und weise jeden Gedanken an das Gemütes zurück, wodurch das Gemüt<br />

selbst verneint wird – auf diese Weise wirst du die Welterscheinung<br />

endlich ausmerzen. Wenn dann die Welterscheinung eliminiert ist, wird auch<br />

die Täuschung nicht länger auftauchen, und auch das Gemüt wird diese Welterscheinung<br />

nicht wieder aufs Neue erschaffen. Auch wenn du alle von dir<br />

erwarteten Handlungen in dieser Welt verrichtest – sei stets fest verwurzelt<br />

im Bewusstsein der Unwirklichkeit alles dessen; gib auf diese Weise alle<br />

deine Erwartungen und Hoffnungen auf. Lebe, verwurzelt im Gleichmut und<br />

jeder Situation entsprechend handelnd, ohne daran zu denken, was auf diese<br />

Weise ungesucht zu dir kommt, ein nicht-willentliches Leben hier. So wie vom<br />

Höchsten Herrn gesagt wird, dass er gleichzeitig der Täter wie auch der<br />

Nicht-Täter aller Handlungen ist, so lebe auch du nicht-willentlich – indem du<br />

tust, was getan werden muss, ohne es tatsächlich zu tun.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Du bist der Kenner von allem, das Selbst. Du bist das ungeborene Sein, du<br />

bist der Höchste Herr, du bist nicht-verschieden vom Selbst, das alles durchdringt.<br />

Wer die Idee aufgegeben hat, dass es ein Objekt der Wahrnehmung<br />

gibt, welches vom Selbst verschieden ist, ist nicht länger den Leiden ausgeliefert,<br />

die aus Freude und Kummer entstehen. Er wird ein Yogi genannt, frei von<br />

aller Anziehung und Abstoßung; für ihn sind ein Erdkloß und ein Goldkorn<br />

von gleichem Wert und gleicher Bedeutung – er hat sämtliche Neigungen<br />

aufgegeben, die diese Welterscheinung bestätigen. Was immer er tut, an was<br />

er sich erfreut, was immer er gibt und was er zerstört – sein Bewusstsein<br />

bleibt frei und daher ungerührt in Schmerz und Freude. Indem er tut, was zu<br />

tun ist, ohne zwischen Wünschenswertem und Unerwünschtem zu unterscheiden,<br />

ist er tätig, ohne in der Tätigkeit zu ertrinken.<br />

233


Wer die feste Überzeugung hat, dass nur das unendliche Bewusstsein existiert,<br />

ist unverzüglich frei von allen Gedanken an Vergnügen und daher still<br />

und selbstbeherrscht. Das Gemüt ist von Natur aus leblos – es erborgt seine<br />

Intelligenz vom Bewusstsein und benutzt sie dazu, um Erfahrungen zu machen.<br />

Auf diese Weise gelangt das Gemüt in Verbindung mit allem, was durch<br />

die Macht oder Energie des Bewusstseins (cit-śakti) ins Leben gerufen worden<br />

ist. Das Gemüt existiert daher allein durch die Gnade des Bewusstseins –<br />

es unterhält seine verschiedenen Gedanken aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung<br />

dieses Universums. Nur das Bewusstsein ist sein Licht – wie könnte<br />

andernfalls das leblose Gemüt auf intelligente Weise funktionieren?<br />

Diejenigen, die in den Schriften wohl bewandert sind, erklären, dass die fiktive<br />

Bewegung der Energie im Bewusstsein als das Gemüt bekannt ist. Und<br />

weiterhin sind die Ausdrucksformen des Gemütes (wie das Zischen der<br />

Schlange) seine Gedanken oder Ideen. Bewusstsein minus Konzeptualisierung<br />

ist das ewige Brahman, das Absolute; Bewusstsein plus Konzeptualisierung<br />

ist Denken. Ein winziger Teil hiervon lebt im Herzen als die Wirklichkeit.<br />

Dies ist die endliche Intelligenz oder das individualisierte Bewusstsein. Jedoch<br />

„vergisst“ dieses begrenzte Bewusstsein schon bald seine eigene, essenziell<br />

bewusste Natur und lebt als ein lebloses Ding weiter. Dann wird es zum<br />

Denkapparat, dem die Neigungen zur Anziehung und Abstoßung eingeboren<br />

sind. Tatsächlich aber ist das unendliche Bewusstsein zu all diesem geworden.<br />

Solange es jedoch nicht zu seiner unendlichen Natur erwacht, vermag es<br />

sich selbst nicht zu erkennen. Daher sollte das Gemüt durch die in den Schriften<br />

empfohlenen Mittel erweckt werden, nämlich durch Leidenschaftslosigkeit<br />

und Sinnesbeherrschung. Wenn diese Intelligenz erwacht, leuchtet sie als<br />

Brahman das Absolute – andernfalls erfährt sie wieder und wieder diese<br />

endliche Welt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Solange diese innere Intelligenz nicht erweckt ist, weiß oder versteht man<br />

wirklich nichts. Außerdem ist natürlich all das, was mit Hilfe des Denkens<br />

erkannt wird, nicht die Realität. Gedanken dieser Art entlehnen ihren Wert<br />

vom Bewusstsein – so wie ein Weihrauchgefäß seinen Duft vom Weihrauch<br />

erhält. Dank dieser erborgten Intelligenz ist das Denken in der Lage, ein winziges<br />

Fragment dieses kosmischen Bewusstseins zu kennen. Das Gemüt erblüht<br />

nur dann voll, wenn das Licht des Unendlichen auf es fällt.<br />

Andernfalls ist das Denken, obschon es intelligent erscheint, nicht wirklich<br />

in der Lage, irgendein Ding sicher zu erfassen – so wie die Statue eines Tänzers<br />

nicht tanzt, auch wenn man sie dazu auffordert. Könnte das auf Leinwand<br />

gemalte Schlachtengemälde wirklich das Kampfgeschrei zwischen den<br />

Heeren wiedergeben? Könnte ein Leichnam sich erheben und umherwandern?<br />

Kann das auf einem Stein eingemeißelte Bildnis der Sonne die Dunkelheit<br />

vertreiben? Was kann dementsprechend das leblose Gemüt schon tun?<br />

So wie eine Fata Morgana nur im Sonnenlicht wie strömendes Wasser er-<br />

234


scheint, so erscheint auch das Gemüt nur dank dem inneren Licht des Bewusstseins<br />

als intelligent und aktiv.<br />

Unwissende Menschen missdeuten die Bewegung der Lebenskraft als Gemüt<br />

– aber es ist das prāïa oder die Lebenskraft. Für diejenigen jedoch, deren<br />

Intelligenz nicht durch Gedanken zersplittert oder konditioniert ist, ist es das<br />

Erstrahlen des Höchsten Seins oder des Selbst. Die Intelligenz, die sich mit<br />

bestimmten Bewegungen der Lebenskraft im Selbst identifiziert (durch Vorstellungen<br />

wie „dies bin ich“, „dies ist mein“), ist der jīva oder die individuelle<br />

Seele. Intelligenz, Gemüt, jīva usw. sind Begriffe, die auch von den Weisen<br />

verwendet werden. Jedoch besitzen sie vom absoluten Standpunkt aus keinerlei<br />

Realität. In Wahrheit existiert da kein Verstand, keine Intelligenz oder<br />

Vernunft und kein verkörpertes Lebewesen – nur das Selbst existiert alle Zeit.<br />

Nur das Selbst ist diese Welt; das Selbst allein ist die Zeit und der evolutionäre<br />

Prozess. Weil es von so extremer Subtilität ist, scheint es nicht zu existieren,<br />

obwohl es existiert. Einerseits ist es eine bloße Widerspiegelung oder<br />

Erscheinung, andererseits wird es als die Wahrheit erkannt. Das Selbst ist<br />

jedoch jenseits all dieser Beschreibungen – seine Wahrheit kann nur unmittelbar<br />

in der Selbsterkenntnis erfahren werden.<br />

Wenn das innere Licht zu leuchten beginnt, hört das Gemüt auf zu bestehen,<br />

so wie die Dunkelheit schwindet, sobald da Licht ist. Wenn das Bewusstsein<br />

jedoch objektiviert wird, um die Objekte der Sinne zu erfahren, dann wird das<br />

Selbst sozusagen vergessen. Die Gedanken, die dann entstehen, drehen sich<br />

allein um die Schöpfungen des Verstandes.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ein Gedanke, der im höchsten Sein auftaucht, ist individuelles Bewusstsein.<br />

Sobald dieses individuelle Bewusstsein frei vom Denken und der Individuation<br />

ist, geschieht Befreiung. Der Keim oder die einzige Ursache für diese Welterscheinung<br />

ist nur das Auftauchen eines Gedankens im unendlichen Bewusstsein,<br />

welcher das Entstehen des begrenzten, endlichen, individuellen<br />

Bewusstseins bewirkte. Indem das Bewusstsein sich vom Zustand äußerster<br />

Stille entfernte und sozusagen vom Denken vergiftet wurde, entstand der<br />

Denkapparat und mit diesem erdachte das Gemüt das Universum.<br />

Oh Rāma, durch die Kontrolle der Lebenskräfte wird auch das Gemüt zurückgehalten.<br />

So wie der Schatten verschwindet, wenn der schattenwerfende<br />

Gegenstand fortgenommen wird, so hört das Gemüt auf, sobald die Lebenskräfte<br />

zurückgehalten werden. Es geschieht aufgrund der Bewegung der<br />

Lebenskraft, dass man sich an die irgendwo gemachten Erfahrungen erinnert.<br />

Es wird als Gemüt bezeichnet, weil es die Bewegung der Lebenskraft wahrnimmt.<br />

Die Lebenskraft wird mit Hilfe der folgenden Mittel zurückgehalten:<br />

Durch Leidenschaftslosigkeit, durch die Übung des prāïāyāma (Atemkontrolle)<br />

oder durch das Erforschen der Bewegungsursache der Lebenskraft, durch<br />

die Beendigung des Kummers mit Hilfe intelligenter Mittel und durch die<br />

direkte Erfahrung oder Erkenntnis der höchsten Wahrheit.<br />

235


Dem Gemüt ist es möglich, Intelligenz in einem Stein zu sehen oder anzunehmen.<br />

Doch das Gemüt selbst besitzt nicht die geringste Intelligenz. Seine<br />

Bewegungen gehören zur Lebenskraft, die selbst leblos ist. Die Intelligenz<br />

oder die Macht des Bewusstseins gehört zum Selbst, das rein und auf ewig<br />

allgegenwärtig ist. Es ist das Gemüt, welches eine Beziehung zwischen diesen<br />

beiden Faktoren herbeifantasiert. Da jedoch diese Fantasie falsch ist, ist auch<br />

sämtliches Wissen falsch, das aus dieser falschen Beziehung entsteht. Genannt<br />

wird dies Unwissenheit, Māyā oder kosmische Illusion, die alle dieses<br />

tödliche Gift der Welterscheinung entstehen lassen.<br />

Diese Beziehung zwischen der Lebenskraft und dem Bewusstsein ist imaginär<br />

– wird sie nicht imaginiert, entsteht auch keine Welterscheinung! Die<br />

Lebenskraft wird durch ihre Verbindung mit dem Bewusstsein bewusst und<br />

erfährt diese Welt als ihr Objekt. Jedoch ist all dieses so irreal wie die Erfahrung<br />

eines Gespenstes von seiten eines Kindes – nur die Bewegung innerhalb<br />

des unendlichen Bewusstseins ist wahr. Kann dieses unendliche Bewusstsein<br />

denn durch irgendeinen endlichen Faktor beeinflusst werden? Anders gesagt<br />

– kann ein Schwacher einen Stärkeren überwältigen? Daher, o Rāma, existiert<br />

in Wirklichkeit kein Gemüt oder individuelles Bewusstsein. Sobald diese<br />

Wahrheit klar verstanden wird, gelangt das, was fälschlich als der Verstand<br />

imaginiert wurde, an ein Ende. Alles dies erscheint aufgrund von unvollkommenem<br />

Verstehen – sobald dieses Missverständnis aufhört, hört auch das<br />

Gemüt auf zu sein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Gemüt ist leblos und keine reale Wesenheit – daher ist es auf ewig tot!<br />

Und doch werden die Lebewesen in dieser Welt von eben diesem toten Ding<br />

getötet – wie rätselhaft ist doch diese Dummheit!! Das Gemüt besitzt kein<br />

Selbst, keinen Körper, keinen Halt und keine Form – und doch vertilgt das<br />

Gemüt die gesamte Welt. Was für ein Mysterium. Wer behauptet, dass er<br />

durch das Gemüt zerstört wurde, behauptet damit, dass sein Kopf von einem<br />

Lotosblütenblatt zertrümmert wurde. Zu behaupten, dass man vom Gemüt<br />

verletzt werden kann, welches leblos, stumpf und blind ist, ist dasselbe wie<br />

zu sagen, dass man von der Hitze des Vollmondes geröstet wird. Der Held, der<br />

den realen Gegner, der vor ihm steht, niederstrecken kann, wird selbst von<br />

diesem Gemüt niedergestreckt, welches nicht einmal existiert.<br />

Was ist die Macht dieses Dings, das aus Gedanken zusammengesetzt ist,<br />

dessen Existenz falsch ist und welches sich als nicht-existent erweist, sobald<br />

sein Dasein erforscht wird?<br />

Dummheit und Unwissenheit allein sind die Quellen aller Sorgen in der<br />

Welt; diese Schöpfung wurde allein durch Unwissenheit und Dummheit ins<br />

Leben gerufen. Obschon dies bekannt ist, wird dieses irreale und falsche Ding<br />

durch die Lebewesen immer wieder am Leben erhalten.<br />

Diese Weltillusion kann mit der Einbildung des Helden verglichen werden,<br />

der glaubt, er sei durch unsichtbare Ketten, die von den Augen seines Gegners<br />

ausgesendet werden, gefesselt oder der sich von einer unsichtbaren Armee<br />

236


V:14<br />

bedroht fühlt, die durch die schieren Gedanken seines Gegners erschaffen<br />

wurde. Diese so vom inexistenten Gemüt heraufbeschworene Welt wird nur<br />

von einem weiteren, ebenso inexistenten Gemüt zerstört. Diese illusorische<br />

Welterscheinung ist nichts anderes als das Gemüt. Wer nicht in der Lage ist,<br />

die wahre Natur des Gemüts zu verstehen, erweist sich auch als ungeeignet,<br />

über die in den Schriften dargelegte Wahrheit unterrichtet zu werden. Das<br />

Gemüt einer solchen Person ist unfähig, die subtile Wahrheit, die in den<br />

Schriften dargelegte Lehre zu erfassen; es scheint gänzlich zufrieden zu sein<br />

mit dieser illusorischen Welterscheinung. Ein solches Gemüt ist voller Furcht<br />

– es erschrickt vor dem melodiösen Klang der Veena und hat sogar Angst vor<br />

einem schlafenden Verwandten. Es ist verängstigt, wenn jemand laut schreit,<br />

und flüchtet sofort von diesem Ort. Der unwissende Mensch ist vollständig in<br />

der Hand seines eigenen, getäuschten Gemüts.<br />

Ein Mensch wird vom eigenen Gemüt, das so gefährlich wie Gift ist, auch<br />

wenn es mit ein wenig Glück vermischt ist, zu Asche verbrannt. Wer die<br />

Wahrheit nicht kennt, wird vom Gemüt wie ein Narr an der Nase herumgeführt.<br />

Dies ist fürwahr ein großes Mysterium.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Meine Unterweisungen richten sich nicht an diejenigen, o Rāma, deren Intelligenz<br />

durch den festen Glauben an die Realität dieser illusorischen Welt<br />

und durch stetiges Streben nach ihren Vergnügungen eingeschlafen ist. Welcher<br />

Narr wird einem Menschen einen farbenprächtigen Wald zeigen wollen,<br />

der sich weigert, die Augen zu öffnen? Wer würde einen Mann, dessen Nase<br />

durch Lepra weggefressen wurde, in der feinen Kunst unterweisen, verschiedene<br />

Parfums zu unterscheiden? Wer würde einen Trunkenbold in die Feinheiten<br />

der Metaphysik einführen? Wer würde einen Leichnam, der auf dem<br />

Verbrennungsplatz liegt, über die Angelegenheiten seines Dorfes befragen?<br />

Und wenn ein Narr dies täte – wer könnte ihn von seinem idiotischen Vorhaben<br />

abbringen? Und wer kann eine unwissende Person belehren, die nicht in<br />

der Lage ist, den tauben und blinden Verstand zu beherrschen?<br />

Tatsächlich existiert das Gemüt überhaupt nicht. Sei daher versichert, dass<br />

es für alle Zeiten erobert ist. Wer es schwierig findet, das inexistente Gemüt<br />

zu erobern, leidet an den Wirkungen eines Giftes, das er niemals zu sich genommen<br />

hat. Der weise Mensch sieht allezeit das Selbst; er weiß, dass sämtliche<br />

Bewegungen im Gemüt aus der Bewegung der Lebenskräfte stammen,<br />

und er weiß auch, dass die Sinne die ihnen entsprechenden Funktionen ausführen.<br />

Was ist also das Gemüt? Alle Bewegungen gehören zur Lebenskraft<br />

und alles Bewusstsein gehört zum Selbst, während alle Sinne über ihre eigenen<br />

Kräfte verfügen – durch welche Kraft wird all dieses zusammengehalten?<br />

Alle sind nur Aspekte des einen unendlichen allmächtigen Bewusstseins –<br />

Verschiedenheit ist ein Wort ohne Bedeutung. Wie konnte überhaupt die Idee<br />

der Getrenntheit in dir auftauchen?<br />

Was ist der jīva (die individuelle Seele) schon anderes als ein bloßes Wort,<br />

welches unnötigerweise die Vernunft der Leute verwirrt? Sogar das endliche<br />

237


oder individuelle Bewusstsein ist eine unwirkliche Einbildung, denn was<br />

kann es denn schon tun? Mit Bedauern beobachte ich das Schicksal der Menschen,<br />

die unter den Wirkungen des Gemüts leiden, welches sie durch reine<br />

Einbildung ins Leben gerufen haben und welches die Wahrheit verdunkelt.<br />

In dieser Welt werden Toren geboren, um zu leiden und zugrunde zu gehen.<br />

Jeden Tag kommen Millionen Tiere überall auf der Welt um, jeden Tag werden<br />

Millionen über Millionen Insekten durch den Wind getötet, jeden Tag fressen<br />

die großen Fische des Ozeans die kleinen – was sollte da zu bedauern sein? In<br />

dieser Welt töten die stärkeren Tiere die schwächeren – von der kleinsten<br />

Ameise bis zu den größten Gottheiten sind sie alle Geburt und Tod unterworfen.<br />

In jedem Augenblick sterben zahllose Lebewesen und zahllose werden<br />

geboren – ganz gleich, ob die Leute dies mögen oder nicht, ob sie trauern<br />

oder jubeln. Es wäre wahrhaftig weiser, über das Unvermeidliche weder zu<br />

trauern noch zu jubeln!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, wer versucht, den Kummer der Menschen von pervertierter Vernunft<br />

zu lindern, versucht nichts anderes, als den Himmel mit einem winzigen<br />

Sonnenschirm zu verdecken. Diejenigen, die sich wie Tiere benehmen,<br />

können nicht belehrt werden, denn wie die Tiere werden sie an der langen<br />

Leine ihres Gemüts geführt. Sogar die Steine vergießen Tränen, wenn sie<br />

diese unwissenden Menschen betrachten – versunken im Sumpf ihres eigenen<br />

Gemüts – deren Handlungen ihren eigenen Untergang herbeirufen. Der<br />

weise Mensch versucht daher nicht, diejenigen zu belehren, die ihr eigenes<br />

Gemüt noch nicht überwunden haben und daher in jeder Hinsicht elend sind.<br />

Andererseits ist der Weise stets bemüht, den Kummer derjenigen zu beseitigen,<br />

die ihr Gemüt beherrschen und daher reif sind für die Selbst-<br />

Erforschung.<br />

Das Gemüt ist nicht, o Rāma – bilde dir daher nicht unnötigerweise seine<br />

Existenz ein. Wenn du dir seine Existenz einzubilden beginnst, wird es dich<br />

vernichten, wie ein Geist. Solange du dein Selbst vergessen hast, so lange<br />

wird dieses imaginäre Gemüt existieren. Da du nun erkannt hast, dass das<br />

Gemüt durch die fortgesetzte Bestätigung seiner Existenz zunimmt, gib diese<br />

Art des Denkens auf.<br />

Sobald Objektivität in deinem Bewusstsein auftaucht, wird dieses konditioniert<br />

und begrenzt, und darin besteht die Bindung. Wird die Objektivität<br />

aufgegeben, wirst du gemütlos – und das ist Befreiung. In Kontakt mit den<br />

Eigenschaften der Natur zu kommen, bedeutet die Gefahr der Bindung – das<br />

Aufgeben dessen führt zur Befreiung. Wenn du dies weißt, kannst du tun, was<br />

dir beliebt. Verbleibe in dem Wissen „Ich bin nicht“ und „dies ist nicht“ fest<br />

und unbewegt wie der unendliche Raum. Gib alle unreinen Gedanken auf, die<br />

eine Dualität von Selbst und Welt erschaffen. In der Mitte zwischen dem<br />

Selbst als dem Seher und der Welt als dem Gesehenen bist du das Sehen (die<br />

Sicht) – verbleibe stets in dieser Erkenntnis. Zwischen dem Erfahrenden und<br />

238


der Erfahrung bist du als das Erfahren – verbleibe in diesem Wissen der<br />

Selbsterkenntnis.<br />

Wenn du durch Vergessen des Selbst an ein Objekt denkst, dann wirst du<br />

zum Gemüt (Subjekt) und damit zum Subjekt des Unglücklichseins. Es ist<br />

diese von der Selbsterkenntnis verschiedene Intelligenz, die zum Gemüt wird,<br />

und das ist die Quelle des Kummers. Wenn erkannt wird, dass „all dies nichts<br />

anderes als das Selbst ist“, gibt es kein Gemüt, kein Subjekt, kein Objekt und<br />

kein Denken mehr. Sobald du denkst: „ich bin der jīva“ usw. taucht das Gemüt<br />

auf und mit ihm zusammen die Sorge. Weißt du aber: „ich bin das Selbst, und<br />

der jīva und andere ähnliche Dinge existieren nicht“, dann hört das Gemüt auf<br />

und es entsteht ein erhabener Friede. Im Licht der Wahrheit „dieses gesamte<br />

Universum ist nur das Selbst“ existiert das Gemüt nicht. Nur so lange diese<br />

Schlange des Gemüts im Körper lebt, so lange gibt es Furcht – wo gibt es eine<br />

Ursache für Furcht, wenn sie durch die Praxis des <strong>Yoga</strong> beseitigt wurde?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn das Selbst sich selbstvergessen mit den gesehenen und erfahrenen<br />

Objekten identifiziert und daher unrein wird, taucht das Gift des Verlangens<br />

auf. Das Verlangen verstärkt die Täuschung. Götter wie Śiva u.a. mögen dem<br />

Feuer der kosmischen Auflösung gewachsen sein, aber niemand ist dem verzehrenden<br />

Feuer des Verlangens gewachsen. Alle die schrecklichen Leiden<br />

und Notlagen, die es in der Welt gibt, sind allein die Frucht des Verlangens.<br />

Oh Rāma, obwohl es unsichtbar und subtil ist, ist dieses Verlangen sogar in<br />

der Lage, Fleisch, Blut und Knochen des Körpers zu verzehren. In einem Moment<br />

scheint es abzuflauen, im anderen wiederum breitet es sich aus. Wer<br />

von ihm befallen ist, wird bedauernswert, schwächlich, glanzlos, minderwertig,<br />

getäuscht, elend und entehrt.<br />

Sobald dieses Verlangen aufgehört hat, ist die eigene Lebenskraft gereinigt<br />

und alle göttlichen Qualitäten und Tugenden halten Einzug ins Herz. Der<br />

Fluss des Verlangens fließt nur ins Herz der unweisen Person. So wie ein Tier<br />

aufgrund seines Verlangens nach Nahrung (der Köder) in die Falle geht (den<br />

toten Brunnen), so fällt der Mensch in die Hölle, wenn er der Spur seines<br />

Verlangens folgt. Die krasseste Blindheit von Senilität ist harmlos im Vergleich<br />

mit der blindmachenden Täuschung, die das Verlangen in einem Augenblick<br />

im eigenen Herzen entstehen lässt.<br />

Das Verlangen macht einen Menschen kriecherisch und lässt ihn schrumpfen<br />

– sogar Lord Vi«ïu wurde zu einem Zwerg, als er sich entschloss, betteln<br />

zu gehen. Daher sollte man dieses Verlangen, welches die Quelle aller Sorgen<br />

ist und das Leben aller Wesen zerstört, weit von sich weisen.<br />

Und doch geschieht es aufgrund dieses Verlangens, dass die Sonne den Planeten<br />

bescheint, der Wind weht, die Berge fest stehen und die Erde die Lebewesen<br />

trägt – alle drei Welten existieren nur aufgrund des Verlangens. Alle<br />

Wesen in den drei Welten sind an die Fessel des Verlangens gebunden. Es ist<br />

V:15<br />

239


V:16<br />

möglich, die stärkste Fessel der Welt zu brechen, aber die Fessel des Verlangens<br />

ist nur sehr schwer zu brechen.<br />

Gib daher, o Rāma, das Verlangen auf, indem du das Denken oder Konzeptualisieren<br />

aufgibst. Das Gemüt kann ohne Denken oder Konzeptualisierung<br />

nicht existieren. Lass als erstes die Bilder von „ ich“, „du“ und „dies“ nicht im<br />

Gemüt erscheinen, weil es aufgrund dieser Bilder geschieht, dass Hoffnungen<br />

und Erwartungen entstehen. Wenn du dich enthalten kannst, solche Bilder zu<br />

erzeugen, dann wirst du ebenfalls als ein Mann der Weisheit angesehen.<br />

Verlangen ist nicht verschieden vom Ich-Sinn. Der Ich-Sinn wiederum ist die<br />

Quelle aller Sünden. Durchhaue die Wurzel dieses Ich-Sinnes mit dem<br />

Schwert der Weisheit des Nicht-Egos. Sei frei von der Furcht.<br />

RùMA sprach:<br />

Hoher Herr, du gibst mir die Anweisung, den Ich-Sinn aufzugeben und das<br />

Verlangen, welches diesen entstehen lässt. Wenn ich den Ich-Sinn aufgebe,<br />

werde ich mit Sicherheit auch diesen Körper aufgeben und alles, was auf dem<br />

Ich-Sinn basiert. Denn der Körper und die Lebenskräfte gründen sich auf dem<br />

Ich-Sinn. Wenn die Wurzel (der Ich-Sinn) durchhauen ist, wird auch der<br />

Baum (der Körper usw.) fallen. Wie ist es für mich möglich, den Ich-Sinn<br />

aufzugeben und trotzdem weiterzuleben?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma! Das Aufgeben aller Vorstellungen, Konditionierungen und der Konzeptualisierung<br />

wird allgemein als bestehend aus zwei Arten beschrieben:<br />

Die eine gründet auf der Erkenntnis oder direkter Erfahrung, und die zweite<br />

auf Kontemplation. Ich werde dir diese beiden nun detailliert erläutern.<br />

Zunächst sollte man sich der eigenen falschen Vorstellung bewusst werden,<br />

die darin besteht zu glauben: „Ich gehöre zu den Objekten in dieser Welt, und<br />

mein Leben hängt von ihnen ab. Ohne sie kann ich nicht leben, und auch sie<br />

können nicht ohne mich leben“. Durch tiefgründige Erforschung kontempliere<br />

man dann wie folgt: „Weder gehöre ich zu diesen Objekten noch gehören<br />

diese Objekte zu mir“. Indem man auf diese Weise mit Hilfe intensiver Kontemplation<br />

den Ich-Sinn aufgibt, soll man außerdem ganz zwanglos die Handlungen<br />

ausführen, die auf natürliche Weise geschehen, wobei aber Herz und<br />

Verstand stets kühl und ruhig bleiben. Dieses Aufgeben des Ich-Sinnes und<br />

der Konditionierung wird die kontemplative Egolosigkeit genannt.<br />

Gibt es dagegen die Erkenntnis oder direkte Erfahrung der nicht-dualen<br />

Wahrheit, dann gibt man den Ich-Sinn und die Konditionierung auf und unterhält<br />

in Bezug auf den Körper kein Gefühl von „dies ist mein“. Dies wird die<br />

direkte Realisation der Egolosigkeit genannt.<br />

Der ist schon im Leben befreit, der auf zwanglose Weise mit Hilfe der kontemplativen<br />

Methode den Ich-Sinn aufgibt. Wer ferner seinen Ich-Sinn mit<br />

Hilfe der direkten Erfahrung an der Wurzel ausreißt, ist im Gleichmut fest<br />

verankert – er ist befreit. Janaka und andere wie er folgen der kontemplativen<br />

Methode. Wieder andere, die die direkte Erfahrung der Egolosigkeit haben,<br />

240


sind eins mit Brahman und haben sich über das Körperbewusstsein erhoben.<br />

Beide sind befreit, und beide sind eins mit Brahman geworden.<br />

Der wird ein befreiter Weiser genannt, der nicht vom Erwünschten und Unerwünschten<br />

hin und her getrieben wird, der in dieser Welt lebt und handelt,<br />

obwohl er inwendig wie im Tiefschlaf von dieser Welt vollkommen unberührt<br />

ist.<br />

(Nachdem der Weise Vāsi«Âha so gesprochen hatte, war der Abend angebrochen.<br />

Die Versammlung löste sich auf.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, diejenigen, die jenseits des Körperbewusstseins sind, sind gleichzeitig<br />

jenseits jeder Beschreibung. Ich werde dir nun die Natur derjenigen<br />

erläutern, die noch im Leben befreit sind.<br />

Die Wünsche, die aus natürlichen Funktionen entstehen und frei vom Verlangen<br />

sind, gehören zu einem befreiten Weisen. Der Wunsch jedoch, der mit<br />

Verlangen nach externen Objekten gekoppelt ist, führt zur Bindung. Sobald<br />

alle auf dem Ich-Sinn gründenden Vorstellungen im eigenen Herzen aufgehört<br />

haben, dann gehört die auf natürliche Weise dirigierte Bewusstheit zur<br />

Natur des befreiten Weisen. Nur das durch den Kontakt mit externen Objekten<br />

gequälte und verwirrte Verlangen führt zur Bindung – der nichtwillentliche<br />

Wunsch, der unberührt von einem Objekt ist, ist dagegen Befreiung.<br />

Derjenige Wunsch, der noch vor dem Kontakt mit den Objekten existierte,<br />

und der sogar jetzt und überhaupt immer existieren wird, ist natürlich und<br />

daher frei von Sorgen und Unreinheit. Ein derartiger Wunsch wird von den<br />

Weisen als frei von Bindung betrachtet.<br />

„Dies soll mein sein “ – sobald ein solches Verlangen im eigenen Herzen<br />

entsteht, lässt es die Unreinheit entstehen. Ein derartiges Verlangen sollte<br />

von einem weisen Menschen jederzeit und mit allen verfügbaren Mitteln<br />

aufgegeben werden. Gib den Wunsch auf, der zur Bindung führt, und gib auch<br />

den Wunsch nach Befreiung auf. Verbleibe still wie der Ozean. Wissend, dass<br />

das Selbst frei von Alter und Tod ist, lasse dich nicht davon in deinem Gemüt<br />

beunruhigen. Sobald das gesamte Universum als illusorisch erkannt worden<br />

ist, verliert jedes Verlangen seine Bedeutung.<br />

Die folgenden vier Arten von Gefühlen tauchen im Herzen eines Menschen<br />

auf: 1) Ich bin der Körper, der von meinen Eltern geboren worden ist, 2) Ich<br />

bin das subtile atomische Prinzip, das verschieden vom Körper ist, 3) Ich bin<br />

das ewige Prinzip, das über all diesen vergänglichen Objekten in dieser Welt<br />

steht, 4) das „Ich“ wie auch die „Welt“ sind rein wie leerer Raum. Von diesen<br />

führt das erste zur Bindung und die anderen zur Freiheit. Die Wünsche, die<br />

mit dem ersten Gefühl in Verbindung stehen, führen zur Bindung, und die<br />

Wünsche, die die anderen drei Gefühle begleiten, bewirken keinerlei Bindung.<br />

Nachdem die Erkenntnis „Ich bin das Selbst“ oder „ich bin das Selbst von<br />

allem“ aufgetaucht ist, fällt man nicht wieder in Irrtum und Kummer zurück.<br />

Es ist dieses Selbst allein, welches verschiedentlich als Leere, Natur, Māyā,<br />

V:17<br />

241


Brahman, Bewusstsein, Śiva, Puru«a usw. bezeichnet wird. Dieses allein ist<br />

auf ewig wirklich – etwas anderes gibt es nicht. Versuche die Nicht-Dualität<br />

zu verstehen, denn die Wahrheit ist nicht-dual. Jedoch bedeutet Handlung<br />

immer Dualität und funktioniert in scheinbarer Dualität – lasse daher deine<br />

Natur gleichzeitig an der Dualität und der Nicht-Dualität teilhaben. Die Realität<br />

ist weder Dualität (denn es ist das Gemüt, das die Teilung erschafft) noch<br />

Einheit (da das Konzept der Einheit als Antithese der Dualität entsteht).<br />

Wenn diese Konzepte aufhören, wird das unendliche Bewusstsein als einzige<br />

Wirklichkeit erkannt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der befreite Weise, der an den Geschehnissen der Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft nicht interessiert ist, betrachtet den Zustand der Welt mit<br />

Erheiterung. Da er beständig die angemessene Handlung ausführt und stets<br />

verankert in der glücklichen Mitte zwischen zwei extremen und widerstreitenden<br />

Gesichtspunkten ist, verharrt er unangefochten, dabei alle Formen<br />

von Konditionierung oder Absicht von sich weisend. Er ruht im höchsten<br />

Zustand der Fülle und ist daher weder erregt durch noch neugierig auf die<br />

Ereignisse in dieser Welt. Bei allen Zwistigkeiten befindet er sich in der neutralen<br />

Position, empfindet aber stets Mitgefühl und Wertschätzung für alle. Er<br />

ist unbeeindruckt von der Welterscheinung. Wenn man ihn anspricht, antwortet<br />

er auf einfache und zweckmäßige Weise; wird er nicht angesprochen,<br />

ist er still. Er sucht nach nichts und hasst nichts. Daher ist er in diese Welt<br />

nicht verwickelt. Er spricht von dem, was gut für alle ist, und auf Befragen<br />

erläutert er seine Sichtweise überzeugend. Er weiß, was angemessen und<br />

unangemessen ist. Er ist sich der Sichtweisen anderer Menschen bewusst. Er<br />

ist fest verankert im höchsten Zustand, bleibt in seinem eigenen Herzen kühl<br />

und ruhig und betrachtet den Zustand der Welt mit heiterer Gelassenheit.<br />

Solcherart ist der Zustand der Weisen, die die Befreiung noch zu ihren Lebzeiten<br />

erlangt haben.<br />

Die Philosophien der Toren zu erläutern, die ihr eigenes Gemüt nicht beherrschen<br />

und in den Sumpf der Sinnesvergnügen untergetaucht sind, geht<br />

über unser Vermögen hinaus. Sie sind ausschließlich an sexuellem Genuss<br />

und dem Erwerb materiellen Reichtums interessiert. Wir können auch nicht<br />

die Wege all der Rituale und Gebräuche darlegen, die allerhand Belohnungen<br />

in Form von Freude und Schmerz erbringen.<br />

Oh Rāma, lebe in dieser Welt mit uneingeschränkter Sicht, und weise entschieden<br />

alle Begrenztheit zurück. Sei innerlich frei von allem Verlangen und<br />

allen Hoffnungen, aber äußerlich tue, was zu tun ist. Prüfe alle Dinge und<br />

wähle stets das, was nicht begrenzt oder endlich ist; lebe in dieser Welt in<br />

beständiger Kontemplation des Unendlichen. Ohne irgendeine Art von Hoffnung<br />

in deinem Herzen zu hegen, lebe so als wärest du voller Hoffnungen;<br />

lebe in dieser Welt mit einem ruhigen und kühlen Herzen, und benimm dich<br />

nach außen hin wie alle anderen. Gib in deinem Innern alle Vorstellungen von<br />

V:18<br />

242


„Ich bin der Täter“ auf, jedoch beteilige dich an allen äußeren Tätigkeiten.<br />

Lebe so in dieser Welt, o Rāma, frei von der geringsten Spur des Ich-Sinns.<br />

Bindung gibt es in Wahrheit nicht, und daher existiert auch keine Befreiung.<br />

Diese Welterscheinung ist in ihrem Wesen irreal und wie ein Taschenspielertrick.<br />

Das allgegenwärtige, unendliche Selbst kann niemals gebunden werden<br />

– wie sollte es daher befreit werden? All diese Verwirrtheit entsteht nur aufgrund<br />

der Unwissenheit – sobald die Wahrheit erkannt wird, schwindet auch<br />

diese Konfusion wie die imaginäre Schlange im Seil.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Du bist ein weiser Mensch, o Rāma, sei fest verwurzelt in der Egolosigkeit<br />

und bleibe rein wie der Raum. Wie können Vorstellungen wie „Dies sind<br />

meine Verwandten“ entstehen, wenn der Ich-Sinn abwesend ist? Das Selbst<br />

ist weder in diese Vorstellungen noch in die Vorstellungen von Freude und<br />

Schmerz, Gut und Böse involviert. Sei frei von der durch die Welterscheinung<br />

verursachten Furcht und Täuschung. Für jemanden, der ungeboren ist, gibt es<br />

keine Verwandten und keine durch diese Verwandten verursachten Sorgen!<br />

Wenn du erkennst, dass du schon jemand warst und auch jetzt jemand bist,<br />

und auch in Zukunft jemand sein wirst, und wenn du ferner erkennst, dass<br />

dies auch für alle diese Verwandten zutrifft, dann wirst du befreit von der<br />

Täuschung. Und falls du die Empfindung haben solltest, dass du warst, jetzt<br />

bist, aber später nicht mehr sein wirst, brauchst du ebenfalls nicht zu trauern,<br />

weil dies das natürliche Ende dieser Welterscheinung ist. Daher wäre es<br />

dumm, hier in dieser Welt zu trauern – es ist viel besser, allezeit glücklich zu<br />

sein und stets die nötigen Handlungen zu vollziehen. Oh Rāma, ergib dich<br />

jedoch weder dem Frohlocken noch dem Kummer, sondern ruhe immer in<br />

einem ausgeglichenen Zustand des Gemüts. Du bist das ewige unendliche<br />

Licht – rein und außerordentlich subtil.<br />

Diese Welterscheinung existiert jetzt – später wird sie verschwinden, um<br />

erneut aufzutauchen, jedoch nur für die Unwissenden, nicht für die Erleuchteten.<br />

Diese Welterscheinung trägt in sich den Kummer – die Unwissenheit<br />

vermehrt und verschärft diesen. Du jedoch bist weise, o Rāma – sei daher<br />

glücklich. Die illusorische Erscheinung ist nichts als Illusion – Traum ist niemals<br />

etwas anderes als Traum! All dies ist die Macht des Allmächtigen – Erscheinungen<br />

sind stets nur Erscheinungen.<br />

Wer ist der Verwandte hier und von wem, und wer ist Feind von wem?<br />

Durch den Wunsch des Höchsten Herrn sind alle alles für alle zu allen Zeiten!<br />

Dieser Strom der menschlichen Beziehungen fließt und fließt. Was oben ist,<br />

geht nach unten, und was unten ist, steigt auf; wie das Wagenrad. Diejenigen<br />

im Himmel gehen später in die Hölle, und die in der Hölle kommen in den<br />

Himmel. Sie wandern von einer Wesensart in die nächste, von einem Teil des<br />

Universums in den anderen. Die Tapferen werden Feiglinge und die Feiglinge<br />

werden Helden. Es gibt nichts in diesem Universum, das sich nicht verändert,<br />

o Rāma. Diejenigen, die als Verwandte betrachtet werden, gehen nach einer<br />

Weile fort. Freunde, Feinde, Verwandte, Fremde, ich und du sind nur Worte<br />

243


ohne dazugehörige Substanz. „Er ist ein Freund“, „dieser ist kein Verwandter“<br />

sind nur Gedanken einer mittelmäßigen Person – eine großmütige Person<br />

trifft keine derartigen Unterscheidungen. Oh Rāma, alle Wesen sind unsere<br />

Verwandten – denn in diesem Universum existiert keine absolute Beziehungslosigkeit.<br />

Die Weisen wissen, dass „es kein irgendwo gibt, wo ich nicht<br />

bin“ und „es gibt nichts, was nicht mein ist“ – auf diese Weise überwinden sie<br />

die Begrenztheit oder Konditioniertheit.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Puïya und Pāvana<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, in diesem Zusammenhang gibt es eine alte Legende, die ich dir<br />

nun erzählen werde.<br />

Auf dem Kontinent, der unter dem Namen JambÆdvīpa bekannt ist, gibt es<br />

einen großen Berg, der Mahendra genannt wird. In den Wäldern, die die<br />

Hänge dieses Berges bedecken, leben viele Heilige und Weise. Es war ihnen<br />

gelungen, die Wasser des Flusses Vyoma GaÇgā (oder Akāsa GaÇgā) zum<br />

Baden und Trinken usw. auf den Berg zu lenken. Am Ufer dieses Flusses lebte<br />

ein heiliger Mann namens Dīrghatapā, der, wie der Name schon sagt, die<br />

Verkörperung unaufhörlicher Askese war.<br />

Dieser Asket hatte zwei Söhne, Puïya und Pāvana. Von den beiden hatte<br />

Puïya die volle Erleuchtung erlangt, während Pāvana, obschon er die Unwissenheit<br />

überwunden hatte, die volle Erleuchtung noch nicht erlangt hatte und<br />

daher nur teilweise Weisheit besass.<br />

Im Verlauf der unsichtbaren und unberührbaren Zeit war der Weise<br />

Dīrghatapā (der sich selbst von allen Formen der Anhaftung und des Verlangens<br />

befreit hatte) schließlich alt geworden. Wie ein Vogel aus dem Käfig<br />

fliegt, hatte er seinen Körper verlassen und den Zustand äußerster Reinheit<br />

erlangt. Seine Frau, die von ihm die Wissenschaft des <strong>Yoga</strong> erlernt hatte,<br />

folgte ihm.<br />

Als seine Eltern so plötzlich verschieden waren, verfiel Pāvana in tiefe<br />

Trauer und klagte laut. Puïya dagegen führte die vorgeschriebenen Begräbniszeremonien<br />

aus und blieb ungerührt durch diesen Verlust. Er suchte seinen<br />

trauernden Bruder Pāvana auf.<br />

PU×YA sprach: Bruder, weshalb nur lässt du dich von diesem schrecklichen<br />

Kummer überwältigen? Nur die Blindheit der Unwissenheit ist verantwortlich<br />

für den Strom deiner Tränen. Unser Vater ist von hier geschieden, zusammen<br />

mit unserer Mutter, in den Zustand der Befreiung oder in den höchs-<br />

V:19<br />

244


ten Zustand, der für alle Wesen natürlich und das wahre Sein derjenigen ist,<br />

die das persönliche Selbst überwunden haben. Weshalb trauerst du, da sie<br />

doch nur zu ihrer eigenen Natur zurückgekehrt sind? Du hast dich selbst<br />

aufgrund von Unwissenheit an die Vorstellungen von „Vater“ und „Mutter“<br />

gebunden, und nun trauerst du um diejenigen, die von dieser Unwissenheit<br />

frei geworden sind? Weder war er dein Vater, noch war sie deine Mutter, noch<br />

bist du ihr Sohn. Du hast zahllose Mütter und Väter gehabt. Sie haben zahllose<br />

Kinder gehabt, und zahllos waren deine bisherigen Inkarnationen! Wenn du<br />

über den Tod deiner Eltern trauerst, weshalb trauerst du dann nicht auch<br />

unaufhörlich über den Tod der zahllosen Lebewesen?<br />

Edler du – was du als die Welt wahrnimmst, ist nichts als eine illusorische<br />

Erscheinung. In Wahrheit gibt es weder Freunde noch Verwandte. In Wirklichkeit<br />

gibt es weder Tod noch Trennung. Alle diesen wundervollen Zeichen<br />

des Wachsens und Gedeihens rings um dich sind Zaubereien, von denen<br />

einige drei und andere fünf Tage dauern! Erforsche mit deiner kühnen Intelligenz<br />

die Wahrheit – gib Vorstellungen wie „ ich“, „du“ usw. auf, oder „er ist<br />

tot“, „er ist gegangen“. All dies ist nur deine eigene Vorstellung – nicht die<br />

Wahrheit.<br />

PU×YA fuhr fort:<br />

Diese falschen Vorstellungen von Vater, Mutter, Freund, Verwandten usw.<br />

werden von der Weisheit wie Staub im Wind fortgeweht. Diese „Verwandten“<br />

haben nichts mit der eigentlichen Wahrheit zu tun, sondern sind nichts als<br />

Worte! Wen man für einen Freund hält, der wird zum Freund, und wen man<br />

für jemand anderes hält, der wird zu jemand anderem! Wenn all dies als das<br />

allgegenwärtige Sein gesehen wird, wo bleibt dann die Unterscheidung zwischen<br />

„Freund und einem anderen“?<br />

Bruder, erforsche dein eigenes Inneres. Dieser Körper ist leblos und aus<br />

Blut, Fleisch, Knochen usw. zusammengesetzt – wo ist das „ich“ in ihm? Wenn<br />

du so nach der Wahrheit forschst, wirst du erkennen, dass es da weder etwas<br />

wie ein „ du“ noch ein „ ich“ gibt. Was wir „Puïya“ oder „Pāvana“ nennen, sind<br />

nur falsche Vorstellungen. Wenn du es jedoch vorziehst zu denken „ich bin“,<br />

dann denke daran, dass du in deinen vergangenen Inkarnationen schon zahllose<br />

Verwandte hattest. Weshalb trauerst du nicht um diese? Als du ein<br />

Schwan warst, hattest du viele Verwandte; als du ein Baum warst, hattest du<br />

viele Baum-Verwandte, als Löwe hattest du viele Löwen-Verwandte, und<br />

ebenso sehr viele Fisch-Verwandte als Fisch. Weshalb weinst du nicht auch<br />

ihretwegen? Du warst einmal ein Prinz, du warst ein Esel, du warst ein<br />

Peepul- und dann ein Banyan-Baum. Du warst ein Brāhmaïa, du warst eine<br />

Fliege und auch ein Moskito, du warst eine Ameise. Ein halbes Jahr lang warst<br />

du ein Skorpion, dann eine Biene und nun mein Bruder. In diesen und vielen<br />

weiteren Inkarnationen bist du zahllose Male wieder und wieder geboren<br />

worden.<br />

So wie du habe auch ich viele, viele Wiederverkörperungen erfahren. Mit<br />

meiner subtilen Intelligenz, die rein und klarsichtig ist, vermag ich alle diese<br />

V:20<br />

245


V:21<br />

und auch deine wahrzunehmen. Ich war ein Vogel, ein Kranich, ein Frosch, ein<br />

Baum, ein Kamel, ein König, ein Tiger – und jetzt bin ich dein älterer Bruder.<br />

Zehn Jahre lang war ich ein Adler, fünf Monate lang ein Krokodil und einhundert<br />

Jahre lang ein Löwe – jetzt bin ich dein älterer Bruder. Ich erinnere mich<br />

an all diese und noch viele andere Verkörperungen, die ich in einem Zustand<br />

der Unwissenheit und Täuschung durchlebt habe. In all diesen Inkarnationen<br />

gab es zahlreiche Verwandte. Wen sollte ich beklagen? Indem ich dies verstehe,<br />

unterlasse ich jede Trauer.<br />

Diesen gesamten Weg des Lebens entlang sind die Verwandten verstreut<br />

wie trockene Blätter auf einem Waldweg. Was kann in dieser Welt, Bruder, ein<br />

echter Grund für Trauer oder Freude sein? Lass uns daher all diese irrigen<br />

Vorstellungen aufgeben und im Frieden verbleiben. Gib die Idee der Welt auf,<br />

die in deinem Gemüt als das „ ich“ aufsteigt. Und sei still – weder sollst du<br />

aufwärts noch abwärts wandern! An dir haftet kein Unglücklichsein, keine<br />

Geburt, kein Vater, keine Mutter – du bist das Selbst und nichts anderes. Die<br />

Weisen wandern den Weg der Mitte – sie sehen, was im Moment geschieht,<br />

sie sind im Frieden, sie sind im Zeugenbewusstsein verankert. Sie leuchten<br />

wie die Lampe in der Dunkelheit, in deren Schein die Dinge lediglich geschehen<br />

(ohne dass die Lampe davon betroffen ist).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Indem er auf diese Weise von seinem Bruder unterrichtet wurde, erwachte<br />

Pāvana. Beide lebten fortan als erleuchtete Wesen, ausgestattet mit Weisheit<br />

und direkter Erkenntnis. Sie durchwanderten den Wald in völliger Freiheit<br />

ihres Tuns, aber ohne jeden Makel. Im Verlaufe der Zeit gaben sie schließlich<br />

ihre Verkörperung auf und erlangten die letzte Befreiung – wie eine Lampe<br />

ohne Brennstoff.<br />

Verlangen ist die Quelle allen Kummers, oh Rāma – der einzig intelligente<br />

Weg besteht darin, allem Verlangen vollständig zu entsagen und sich ihm in<br />

keiner Weise hinzugeben. So wie ein Feuer heftig zu brennen beginnt, in das<br />

man Öl gießt, so werden die Gedanken durch Denken vervielfältigt. Die Gedanken<br />

hören nur auf, wenn das Denken ausgelöscht wird. Besteige daher<br />

den Triumphwagen des Nicht-Denkens und nimm diese im Kummer versunkene<br />

Welt mit mitfühlender und unbegrenzter Sichtweise wahr.<br />

Erhebe dich, Oh Rāma.<br />

Dies in der Tat ist der Zustand des Brahman – rein, frei vom Verlangen und<br />

von Krankheit. Sogar einer, der ein Tor war, wird vom Irrtum befreit, wenn er<br />

diesen Zustand erreicht. Wer auf dieser Erde frei umherwandert, in Begleitung<br />

der Weisheit als seinem Freund und der Bewusstheit als seinem weiblichen<br />

Gefährten, gerät nie in Täuschung.<br />

In den drei Welten ist nichts von Wert enthalten – nichts, was man sich<br />

wünschen könnte, und was man nicht jederzeit erlangen könnte mit einem<br />

Gemüt, das frei von der Täuschung ist. Diejenigen, die vom Fieber des Verlangens<br />

befreit sind, unterziehen sich nicht länger dem Auf und Ab der verkör-<br />

246


perten Existenz. Erfüllung erlangt das Gemüt nur durch äußerste Leidenschaftslosigkeit,<br />

nicht aber durch Anhäufung von Wünschen und Hoffnungen.<br />

Für diejenigen, die bar jeder Anhaftung und allen Verlangens sind, sind diese<br />

drei Welten nicht viel größer als die Trittspur eines Kälbchens, und ein ganzer<br />

Weltzyklus dauert für sie nicht länger als ein Augenblick. Die Kühle des<br />

Eises auf den Gipfeln der Himālayas ist nichts verglichen mit der Kühle des<br />

Gemütes eines Weisen, der frei vom Verlangen ist. Das Licht des Vollmonds ist<br />

nicht so leuchtend und der Ozean ist nicht so voll, noch ist das Antlitz der<br />

Göttin des Glücks so strahlend wie das Gemüt, das frei von Verlangen ist.<br />

Sobald alle Wünsche und Hoffnungen, die wie die Zweige des Baumes im<br />

Gemüt sind, abgeschnitten sind, nimmt das Gemüt seine eigene wahre Natur<br />

wieder an. Wenn du entschlossen diesen Hoffnungen und Verlangen die Wiederkehr<br />

in dein Gemüt verweigerst, brauchst du dich vor nichts mehr zu<br />

fürchten. Wenn das Gemüt frei von den Gedankenbewegungen ist (die durch<br />

Hoffnungen oder Verlangen motiviert sind), dann wird es zum Nicht-Gemüt –<br />

und darin besteht die Befreiung. Das Denken, welches durch Hoffnungen und<br />

Verlangen ins Leben gerufen wird, wird „vÌtti“ (Gedankenregung) genannt.<br />

Sobald Hoffnungen und Verlangen aufgegeben werden, gibt es keinerlei vÌtti<br />

mehr. Sobald die Ursache verschwunden ist, hört auch die Wirkung auf. Entferne<br />

daher zur Wiederherstellung des Friedens im Gemüt die störende Ursache,<br />

die in der Hoffnung und dem Verlangen besteht.<br />

Die Geschichte von Bali<br />

* * *<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oder, o Rāma, führe eine Verwandlung des Gemüts herbei, wie dies König<br />

Bali getan hat. Ich werde die nun die Geschichte von König Bali erzählen –<br />

höre aufmerksam zu, und du wirst die ewige Wahrheit erkennen.<br />

In einem Teil dieser Welt hier (jagat) gibt es das, was als Pātāla (Unterwelt)<br />

bekannt ist. Dort befinden sich außerordentlich schöne Dämoninnen, seltsame<br />

Reptilien mit mehreren Köpfen, Dämonen mit riesigen Körpern, ungeheure<br />

Elefanten, Orte, die stark verunreinigt sind und in denen ein entsetzlicher<br />

„kaÂa-kaÂa“-Lärm beständig die Luft erfüllt; es gibt Höhlen und Bergstollen<br />

voll mit Edelsteinen und Orte, die vom Staub der heiligen Füße des Weisen<br />

Kapila geweiht wurden (von einigen wird angenommen, dass Kalifornien der<br />

Kapila-araïya ist, der von Kapila bewohnte Wald!), und wiederum andere, die<br />

von Gott HāÂakeśvara geheiligt wurden, welcher von den himmlischen Maiden<br />

verehrt wird.<br />

V:22<br />

247


Der Dämonen-König Bali, Sohn von Virocana, regierte dieses Gebiet. Der<br />

Beschützer dieses Königs war der Herr des Universums, Śri Hari selbst, daher<br />

verehrte ihn sogar der König der Himmel, Indra. Die Hitze der Ausstrahlung<br />

von diesem König Bali war so groß, dass die Ozeane austrockneten. Ein bloßer<br />

Blick aus seinen Augen konnte Berge versetzen. Bali herrschte eine sehr<br />

lange Zeit über die Unterwelt.<br />

Im Verlaufe der Zeit kam eine große Leidenschaftslosigkeit über König Bali.<br />

Er forschte wie folgt:<br />

Wie lange noch soll ich diese Unterwelt regieren, wie lange noch soll ich in<br />

diesen drei Welten wandern? Was gewinne ich durch die Herrschaft über<br />

dieses Königreich? Wenn doch alles, was es in den drei Welten gibt, der Zerstörung<br />

unterworfen ist – wie kann man dann erhoffen, Glück durch all das zu<br />

erfahren?<br />

Wieder und wieder erfährt man diese abgeschmackten Vergnügen, und dieselben<br />

Handlungen werden Tag für Tag in dieser Welt wiederholt – warum ist<br />

nicht einmal ein weiser Mensch davon beschämt? Derselbe Tag und dieselbe<br />

Nacht, immer wieder aufs Neue – das Leben in dieser Welt dreht sich wie ein<br />

Strudel.<br />

Wie kann man, indem man all das den ganzen Tag lang lebt, den Zustand<br />

erlangen, in dem diese wiederholte Existenz endlich aufhört? Wie lange müssen<br />

wir uns noch in diesem Strudel drehen, und welchen Nutzen hat all dies?<br />

Während er so reflektierte, erinnerte er sich:<br />

Ah, ich erinnere mich daran, was einst mein Vater Virocana sagte. Ich fragte<br />

ihn damals: „Vater, was ist das Ziel dieser Welterscheinung oder wiederholten<br />

Existenz? Wann wird sie an ein Ende gelangen? Wann wird die Täuschung des<br />

Gemüts aufhören? Durch was werden wir völlige Zufriedenheit erlangen –<br />

sodass wir nachher nichts mehr suchen müssen? Ich sehe, wie es unmöglich<br />

ist, dies durch die Erfahrung der weltlichen Vergnügen oder Handlungen zu<br />

erlangen, denn sie vertiefen die Täuschung nur noch! Bitte, teile mir mit, wie<br />

ich für immer im höchsten Frieden ruhen kann.“<br />

VIROCANA sagte zu Bali:<br />

Mein Sohn, es gibt da ein ungeheures Reich – groß genug, um die drei Welten<br />

zu verschlingen. Es gibt in ihm keine Seen, keine Ozeane, keine Berge,<br />

keine Wälder, keine Flüsse, keine Erde, keinen Himmel, keine Winde, keinen<br />

Mond, keine Götter, keine Dämonen, keine Halb-Götter, keine Pflanzen, kein<br />

Firmament, nicht hoch und niedrig, keine Worte, nicht mich, nicht die Götter<br />

wie etwa Vi«ïu. Nur das eine ist da, und dies ist das höchste Licht. Es ist allmächtig,<br />

allgegenwärtig, es ist alles – und es ist still, als ob es untätig sei.<br />

Veranlasst durch es, den König, tut sein Minister alles. Was es nicht gibt,<br />

bringt er hervor, und was ist, verwandelt er. Dieser Minister ist unfähig, sich<br />

an irgendetwas zu erfreuen noch weiß er etwas. Obwohl er unwissend und<br />

leblos ist, tut er alles nach dem Willen seines Meisters, des Königs. Der König<br />

jedoch verbleibt allein und für sich, im Frieden.<br />

V:23<br />

248


V:24<br />

BALI fragte:<br />

Vater, was ist das für ein Reich, das frei von psychosomatischen Krankheiten<br />

ist? Wo befindet sich der Minister, und wo befindet sich dieser König? Die<br />

Geschichte ist wunderbar und wurde noch nie vernommen. Sei so freundlich,<br />

mir all dies in allen Einzelheiten zu erläutern.<br />

VIROCANA erwiderte:<br />

Sämtliche Götter und Dämonen und auch eine Kraft, welche sie an Stärke<br />

um ein Vielfaches übertrifft, können den Minister auch nur herausfordern. Er<br />

ist weder Indra, der König der Götter, noch der Gott des Todes oder der Gott<br />

des Wohlstands, und auch kein Gott oder Dämon, den du leicht besiegen<br />

kannst. Zwar glaubt man, dass Vi«ïu die Dämonen getötet hat, aber in Wahrheit<br />

war es dieser Minister, der sie vernichtete. Auch Götter wie Vi«ïu wurden<br />

von ihm überwältigt und dazu gebracht, hier geboren zu werden. Amor<br />

hat seine Macht von diesem Minister bekommen. Auch der Zorn hat seine<br />

Macht von ihm. Es geschieht aufgrund seines Wunsches, dass es hier einen<br />

unaufhörlichen Konflikt zwischen Gut und Böse gibt.<br />

Dieser Minister kann nur durch seinen eigenen Herrn, den König, besiegt<br />

werden, durch niemanden sonst. Wenn im Verlauf der Zeit im Herzen des<br />

Königs ein solcher Wunsch erwacht, kann dieser Minister sehr leicht niedergeworfen<br />

werden. In den drei Welten ist er der Mächtigste, und diese drei<br />

Welten sind nichts anderes als seine Ausatmung! Wenn du fähig bist, ihn zu<br />

überwinden, bist du in der Tat ein Held.<br />

Sobald der Minister auftaucht, werden die drei Welten manifestiert, so wie<br />

ein Lotos beim Aufstieg der Sonne erblüht. Wenn er zur Ruhe geht, legen sich<br />

die drei Welten schlafen. Falls du ihn überwinden kannst, mit einem gänzlich<br />

einsgerichteten Gemüt und völlig frei von Täuschung und Unwissenheit, dann<br />

bist du in der Tat ein Held. Sobald er überwunden ist, sind alle Welten und<br />

alles in ihnen Befindliche überwunden. Bleibt er dagegen unbesiegt, dann<br />

kann nichts als besiegt gelten – auch dann nicht, falls du glauben solltest, dies<br />

oder jenes in dieser Welt erobert zu haben.<br />

Daher, mein Sohn, um die absolute Vollkommenheit und die ewige Seligkeit<br />

zu erlangen, versuche mit allen deinen Kräften und in jeder denkbaren Weise,<br />

was immer auch die Schwierigkeiten und Hindernisse sein mögen, diesen<br />

Minister zu besiegen.<br />

BALI fragte: Vater, mit welchen wirksamen Mitteln kann dieser mächtige<br />

Minister überwunden werden?<br />

VIROCANA erwiderte:<br />

Obschon dieser Minister fast unbesiegbar ist, werde ich dir, mein Sohn, nun<br />

mitteilen, wie du ihn besiegen kannst. Er wird überwältigt, wenn man ihn<br />

durch intelligentes Handeln erfasst – ohne dies verbrennt er alles wie eine<br />

giftige Schlange. Wer sich ihm auf intelligente Weise nähert, mit ihm wie ein<br />

Kind spielt und ihn sich auf spielerische Weise unterordnet, der nimmt den<br />

König wahr und verankert sich im höchsten Zustand. Denn sobald der König<br />

249


einmal gesehen wurde, gerät der Minister vollständig unter seine Kontrolle,<br />

und wenn der Minister unter seiner Kontrolle ist, dann wird der König noch<br />

deutlicher wahrgenommen. Solange der König nicht gesehen wird, wird auch<br />

der Minister nicht wirklich überwunden, und solange der Minister nicht<br />

überwältigt ist, kann auch der König nicht gesehen werden! Wird der König<br />

nicht gesehen, dann wütet der Minister und sorgt für Kummer überall; wenn<br />

der Minister nicht besiegt ist, bleibt der König unsichtbar. Die eigene kluge<br />

Praxis sollte daher zweifach vorgehen, nämlich den Minister unterwerfen und<br />

den König zu Gesicht bekommen. Durch intensive Eigenbemühung und stetige<br />

Praxis kannst du beides erreichen und dann dieses Gebiet betreten, in dem<br />

du nie wieder Kummer erfährst. Es ist das Gebiet, welches von den Heiligen<br />

bewohnt wird, die für immer im höchsten Zustand verankert sind.<br />

Mein Sohn, all dieses werde ich dir nun eindeutig erläutern! Das Gebiet, von<br />

dem ich sprach, ist der Zustand der Befreiung, der das Ende aller Sorgen<br />

bedeutet. Der König dort ist das Selbst, welches sämtliche anderen Reiche<br />

und Bewusstseinszustände transzendiert. Der Minister ist das Gemüt. Es ist<br />

das Gemüt, welches alles in dieser Welt erzeugt hat, wie etwa einen Topf aus<br />

Ton. Wenn das Gemüt erobert ist, dann ist damit alles erobert. Vergiss nicht,<br />

dass das Gemüt nahezu unbesiegbar ist, außer durch kluge Vorgehensweise<br />

und Praxis.<br />

BALI fragte: Vater, bitte teile mir mit, mit welcher intelligenten Praxis ich<br />

das Gemüt besiegen kann.<br />

VIROCANA erwiderte:<br />

Das bei weitem intelligenteste Mittel zur Unterwerfung des Gemüts ist vollständig<br />

ohne Wunsch, Hoffnung oder Erwartung zu sein im Hinblick auf alle<br />

Objekte und zu allen Zeiten. Dadurch kann dieser mächtige Elefant (das Gemüt)<br />

unterworfen werden. Dieses Mittel ist gleichzeitig äußerst einfach und<br />

extrem schwierig, mein Sohn – es ist außerordentlich schwierig für denjenigen,<br />

der sich nicht einer ernsthaften Praxis widmet, aber sehr einfach für<br />

denjenigen, der in seinen Bemühungen unbeirrbar ist. Eine Ernte ohne die<br />

Aussaat gibt es nicht – ohne ausdauernde Praxis wird das Gemüt daher nicht<br />

unterworfen. Nimm daher diese Praxis der Enthaltung an.<br />

Solange man sich nicht von den Sinnesvergnügen abgewendet hat, wird<br />

man in dieser Welt voller Sorgen umherwandern. Auch ein entschlossener<br />

Mensch wird sein Ziel nicht erreichen, solange er sich nicht in die Richtung<br />

des Ziels bewegt. Niemand vermag ohne fortgesetzte Praxis den Zustand<br />

vollkommener Leidenschaftslosigkeit zu erlangen.<br />

VIROCANA fuhr fort:<br />

Allein durch rechte Bemühung vermag man die Leidenschaftslosigkeit zu<br />

erreichen – durch kein anderes Mittel. Die Leute reden von göttlicher Gnade<br />

oder Schicksal, aber in dieser Welt nehmen wir den Körper wahr, nicht Gott.<br />

Wenn die Leute von Gott sprechen, meinen sie damit das Unvermeidbare, was<br />

jenseits ihrer Einflussnahme ist und sich auf den Ablauf der natürlichen Vor-<br />

250


gänge bezieht. In derselben Weise wird auch hier das als göttliche Gnade<br />

bezeichnet, was den völligen Gleichmut und das Aufhören von Freude und<br />

Schmerz bewirkt. Göttliche Gnade, natürliche Ordnung und rechte Selbst-<br />

Bemühung beziehen sich alle auf dieselbe Wahrheit – die Unterscheidung<br />

rührt nur von falscher Wahrnehmung oder Illusion her.<br />

Was immer das Gemüt sich durch rechte Selbst-Bemühung ausdenkt, wird<br />

seine Früchte tragen, und sobald das Gemüt diese Früchte zu genießen beginnt,<br />

gibt es die Erfahrung der Freude usw. Das Gemüt ist der Täter – was<br />

immer es als die natürliche Ordnung (niyati) wahrnimmt, erschafft und erzeugt<br />

es. Das Gemüt ist auch in der Lage, sich gegen die natürliche Ordnung<br />

zu wenden, aber man kann auch sagen, dass es der Urheber der natürlichen<br />

Ordnung ist.<br />

So wie der Wind sich im Raume bewegt, so funktioniert der jīva (die individuelle<br />

Seele) in dieser Welt, indem er tut, was der natürlichen Ordnung entspricht,<br />

auch wenn diese Aktionen selbstsüchtig oder egoistisch erscheinen.<br />

Veranlasst durch die Natur scheint er still zu stehen oder sich zu bewegen –<br />

was beides nur Eindrücke oder falsche Überlagerungen sind, wie die vom<br />

Wind bewegten Wipfel der Bäume auf einem Berg den Eindruck vermitteln,<br />

dass der Gipfel selbst schwankt.<br />

So lange es daher das Gemüt gibt, gibt es weder Gott noch eine natürliche<br />

Ordnung – hat das Gemüt dagegen aufgehört, kann sein, was ist!<br />

BALI fragte:<br />

Hoher Herr, teile mir mit, wie ich das Nicht-Verlangen nach Vergnügen fest<br />

in meinem Herzen verankern kann.<br />

VIROCANA erwiderte:<br />

Mein Sohn, die Selbsterkenntnis ist die Kletterpflanze, deren Früchte das<br />

Nicht-Verlangen nach Vergnügen sind. Nur wenn das Selbst erkannt wird,<br />

kann sich die höchste Form der Leidenschaftslosigkeit fest im eigenen Herzen<br />

verwurzeln. Man sollte daher beständig das Selbst betrachten durch intelligente<br />

Erforschung und auf diese Weise gleichzeitig das Verlangen nach Vergnügen<br />

aufgeben.<br />

Solange das Gemüt noch unerweckt ist, sollte man zwei Viertel des Gemüts<br />

mit der Freude am Vergnügen beschäftigen, ein Viertel mit dem Studium der<br />

Schriften und das restliche Viertel mit dem Dienst für den Guru. Wenn das<br />

Gemüt teilweise erweckt ist, dann werden zwei Viertel dem Dienen des Gurus<br />

gewidmet und die anderen erhalten jeweils ein Viertel. Wenn das Gemüt dann<br />

voll erwacht ist, werden zwei Viertel wieder dem Dienen des Gurus gewidmet,<br />

während die anderen beiden Viertel sich mit dem Studium der Schriften<br />

befassen; dabei pflege man als ständigen Begleiter die Leidenschaftslosigkeit.<br />

VIROCANA fuhr fort:<br />

Nur wer von Güte erfüllt ist, ist qualifiziert, die Darlegung der höchsten<br />

Weisheit zu hören. Daher sollte man stets danach streben, sein Gemüt mit<br />

251


V:25, 26<br />

Hilfe des reinigenden Wissens zu bilden und es durch die innere Verwandlung<br />

zu nähren, die durch das Studium der Schriften hervorgerufen wird.<br />

Wenn das Gemüt verwandelt ist, kann es die Wahrheit ohne Verzerrung reflektieren.<br />

Ohne Verzögerung sollte man dann danach streben, das Selbst zu<br />

erblicken. Diese beiden – Selbsterkenntnis und das Aufhören des Verlangens<br />

– sollten gleichzeitig erfolgen und Hand in Hand gehen.<br />

Wahre Leidenschaftslosigkeit entsteht in einem nicht aufgrund von Enthaltsamkeit,<br />

Wohltätigkeit, Pilgerfahrten u. ä., sondern nur durch die unmittelbare<br />

Wahrnehmung der eigenen Natur. Und nur die rechte Selbstbemühung<br />

führt zur direkten Selbsterfahrung. Daher sollte man jede Abhängigkeit an<br />

einen Gott oder das Schicksal aufgeben und durch rechte Bemühung entschlossen<br />

das Verlangen nach Vergnügen aufgeben. Sobald die Leidenschaftslosigkeit<br />

gereift ist, erhebt sich der Geist der Erforschung in einem.<br />

Der Geist der Erforschung stärkt die Leidenschaftslosigkeit. Beide sind voneinander<br />

abhängig wie der Ozean und die Wolken. Diese beiden wie auch die<br />

Selbst-Verwirklichung sind alle zusammen intime Freunde und existieren<br />

stets gemeinsam.<br />

Daher sollte man als erstes alle Anhänglichkeit an fremde Faktoren (wie<br />

Gott) aufgeben und durch Zusammenbeißen der Zähne und intensiver Selbstbemühung<br />

die Leidenschaftslosigkeit kultivieren. Man mag aber, ohne gegen<br />

die örtlichen Traditionen und Gebräuche zu verstoßen und ohne sich den<br />

Verwandten zu widersetzen, Wohlstand erwerben. Man sollte diesen Wohlstand<br />

dann dazu verwenden, die Gesellschaft der guten und heiligen Männer<br />

zu erlangen, die mit edlen Tugenden ausgestattet sind. Die Gemeinschaft mit<br />

Heiligen erzeugt Leidenschaftslosigkeit. Dann folgen der Geist der Erforschung,<br />

die Erkenntnis und das Studium der Schriften. Stufenweise erreicht<br />

man dann die höchste Wahrheit.<br />

Wenn du dich vollständig davon abwendest, Vergnügungen zu suchen, erlangst<br />

du durch Erforschung den höchsten Zustand. Sobald das Selbst vollständig<br />

gereinigt ist, wirst du dich im höchsten Frieden verankert finden. Du<br />

wirst nie wieder in den Sumpf der Konzeptualisierung fallen, der die Quelle<br />

des Kummers ist. Du wirst frei von allen Hoffnungen und Erwartungen weiterleben.<br />

Du bist rein! Ich verneige mich vor dir, o Verkörperung von Glückseligkeit!<br />

Erwirb in Übereinstimmung mit der herrschenden sozialen Tradition ein<br />

wenig Wohlstand und suche damit die Gesellschaft der Heiligen zu erlangen.<br />

Verehre sie. In ihrer Gesellschaft wirst du lernen, die Objekte des Vergnügens<br />

zu verachten. Und durch rechte Erforschung wirst du Selbsterkenntnis erlangen.<br />

BALI sprach zu sich selbst:<br />

Glücklicherweise erinnere ich mich an alles, was mein Vater mir gesagt hat.<br />

Da jetzt das Verlangen nach Vergnügen in mir aufgehört hat, werde ich den<br />

Zustand der Stille erreichen, der wie Nektar ist. Wirklich und wahrhaftig bin<br />

ich müde des erfolglosen Suchens nach Reichtum, Wunscherfüllung und nach<br />

252


V:27<br />

sexuellem Vergnügen. Wunderbar ist dieser Zustand des inneren Friedens,<br />

wenn alle Vergnügen und Schmerzen ihre Bedeutung verlieren.<br />

Das Leben ist der wiederholte Ablauf der immergleichen Erfahrungen – nie<br />

wird wirklich etwas Neues erfahren. Ich werde daher alles aufgeben und mit<br />

einem Gemüt, das sich von allem Suchen nach Freuden abgewendet hat, auf<br />

immer glücklich im Selbst verbleiben. Dieses Universum ist nur die Schöpfung<br />

meines Gemütes – was verliere ich, indem ich es aufgebe?<br />

Genug sogar von all diesem Bereuen ! Was in einer Kur als einziges zählt, ist<br />

die unverzügliche Behandlung der Krankheit. „Wer bin ich?“ „Was ist all<br />

dies?“ – diese Fragen werde ich meinem Guru Śukra stellen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er zu diesem Entschluss gelangt war, kontemplierte Bali über<br />

Śukra, den Guru der Dämonen. Śukra war aufgrund des unendlichen Bewusstseins,<br />

in dem er verankert war, allgegenwärtig und wusste daher, dass<br />

sein Schüler seiner Gegenwart bedurfte. Unverzüglich materialisierte er daraufhin<br />

seinen Körper vor König Bali.<br />

In der unmittelbaren Gegenwart des Gurus begann Bali zu strahlen und zu<br />

leuchten. Er erwies dem Guru die ihm zukommenden Ehren und huldigte mit<br />

besonderer Hingabe den Füßen des Gurus.<br />

BALI fragte Śukra: Hoher Herr, es geschieht durch die Widerspiegelung deiner<br />

göttlichen Ausstrahlung, dass ich mich veranlasst fühle, diese Fragen zu<br />

stellen. Ich habe keinerlei Verlangen nach Vergnügen und ich will die Wahrheit<br />

erfahren. Wer bin ich? Und wer bist du? Was ist diese Welt? Bitte unterweise<br />

mich in diesen Fragen!<br />

ŚUKRA erwiderte:<br />

Ich bin unterwegs zu einem anderen Reich, oh Bali, aber ich werde dir in<br />

wenigen Worten die eigentliche Essenz der Weisheit mitteilen. Bewusstsein<br />

allein existiert, Bewusstsein allein ist alles hier, all dies ist angefüllt mit Bewusstsein.<br />

Ich, du und diese ganze Welt sind nichts als Bewusstsein. Wenn du<br />

demütig und aufrichtig bist, wirst du aus dieser meiner Darlegung alles gewinnen,<br />

was es zu gewinnen gibt; wenn nicht, dann wäre der Versuch einer<br />

weiteren Erklärung wie Opfergaben in einen Haufen Asche zu geben (d.h.<br />

nutzlos, da Opfergaben sinnvollerweise nur in heiliges Feuer gegeben werden).<br />

Die Objektivität (Konzeptualisierung) des Bewusstseins wird Bindung<br />

genannt, und die Aufgabe dieser Objektivität Befreiung. Bewusstsein minus<br />

diese Objektivität ist die Realität von allem – das ist die Überzeugung in allen<br />

Philosophien. Wenn du in dieser Sichtweise verankert bist, erlangst auch du<br />

das unendliche Bewusstsein. Ich werde dich nun verlassen, um die Arbeit der<br />

Götter zu tun, denn solange dieser Körper andauert, soll man die rechte<br />

Handlung niemals unterlassen.<br />

Nachdem Śukra ihn verlassen hatte, überlegte BALI wie folgt:<br />

253


Was mein Guru mir gesagt hat, ist in der Tat zutreffend und angemessen.<br />

Gewiss – all dies hier ist nur Bewusstsein und nichts anderes. Nur wenn das<br />

unendliche Bewusstsein das Konzept „Dies ist die Sonne“ unterhält, wird<br />

diese Sonne von der Dunkelheit unterschieden; es ist das Bewusstsein, welches<br />

Licht von der Dunkelheit unterscheidet. Es ist Bewusstsein, das Erde als<br />

Erde, die Richtungen im Raum als Richtungen und die ganze Welt als Welt<br />

wahrnimmt. Wenn das Bewusstsein einen Berg nicht als Berg verstehen<br />

würde, würde dieser dann als Berg existieren?<br />

Bewusstsein ist all dieses – die Sinne, der Körper, die Wünsche, die im Gemüt<br />

auftauchen, alles was innen und alles was außen ist, Raum und die ewig<br />

wechselnden Phänomene. Es geschieht in der Tat aufgrund dieses Bewusstseins,<br />

dass ich in der Lage bin, mit den Objekten in Kontakt zu kommen und<br />

sie zu erfahren – nicht aber aufgrund des Körpers selbst. Auch ohne den<br />

Körper bin ich Bewusstsein, das das Selbst des gesamten Universums ist.<br />

Da nur Bewusstsein als Eines ohne ein Zweites existiert – wer ist mein<br />

Freund und wer ist mein Feind? Auch wenn der Kopf des Körpers namens<br />

Bali abgehauen würde – würde das unendliche Bewusstsein seinen Kopf<br />

verlieren? Sogar Hass und ähnliche Eigenschaften dieser Art sind nichts als<br />

Modifikationen des Bewusstseins. Daher, es sei noch einmal gesagt, gibt es<br />

weder Hass noch Anhaftung und weder Gemüt noch seine Modifikationen –<br />

da Bewusstsein unendlich und absolut rein ist, wie können Perversionen in<br />

ihm entstehen? „Bewusstsein“ ist nicht sein Name – es ist nichts als ein Wort!<br />

Bewusstsein hat keinen Namen.<br />

Ich bin das ewige Subjekt, frei von Objekt und Prädikat. Ich verneige mich<br />

vor dem allgegenwärtigen Bewusstsein, das frei von dem verführerischen<br />

Konzept der Objekte ist und daher ewig frei. Ich verneige mich vor mir selbst<br />

als das von der Subjekt-Objekt-Trennung freie Bewusstsein, welches stets in<br />

angemessener Weise ohne Getrenntheit handelt und das Licht ist, welches in<br />

allen Erscheinungen widerspiegelt wird. Ich bin dieses Bewusstsein, in dem<br />

das Verlangen nach Erfahrungen aufgehört hat. Ich bin unbegrenzt wie Raum,<br />

ich bin unberührt von Glück, Unglück und ähnlichem. Alle können mit mir<br />

tun, was sie wollen, denn ich bin von ihnen nicht verschieden. Die Bewegung<br />

der Energie in einer Substanz führt weder zu Verlust noch zu Gewinn. Wenn<br />

das Bewusstsein allein alles ist, dann bewirken Gedanken oder ihre Expansion<br />

nicht, dass das Bewusstsein expandiert oder kontrahiert. Ich werde daher<br />

weiterhin aktiv sein, bis ich den Zustand absoluter Stille im Selbst erlangt<br />

habe.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er so nachgedacht hatte, sprach Bali das geheiligte Wort OM aus<br />

und verblieb in der Stille, indem er über dessen subtile Bedeutung kontemplierte.<br />

Frei von allen Zweifeln, von der Wahrnehmung von Objekten und ohne<br />

eine Trennung zwischen Denker, Gedanke und Denken, Meditation, Meditierender<br />

und Objekt der Meditation, und ohne Intentionen und Konzepte, ruhte<br />

Bali fest im höchsten Zustand mit einem Gemüt, in dem alle Gedankenregun-<br />

254


gen aufgehört hatten, wie bei einer Lampe an einem windstillen Ort. Auf<br />

diese Weise lebte er eine beträchtliche Zeit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle Dämonen (Gefolgsleute oder Untertanen des Königs Bali) eilten zum<br />

Palast und umgaben den König, der in tiefer Kontemplation saß. Unfähig,<br />

dieses Mysterium zu verstehen, dachten sie an ihren Guru Śukra. Sie erblickten<br />

Śukra vor sich. Śukra sah, dass sich Bali in einem überbewussten Zustand<br />

befand. Er sprach zu den Dämonen und strahlte dabei vor Freude: „Dies ist in<br />

der Tat wundervoll, oh ihr Dämonen, dass dieser König Bali vermöge seiner<br />

eigenen entschlossenen Forschung eine solche Vollkommenheit erlangt hat.<br />

Lassen wir ihn in seinem eigenen Selbst ruhen. Die mentale Aktivität, welche<br />

die Wahrnehmung dieser Welt in ihm auftauchen ließ, hat aufgehört zu sein –<br />

versucht daher nicht, ihn anzusprechen. Wenn die finstere Nacht der Unwissenheit<br />

an ein Ende gelangt, steigt die Sonne der Selbsterkenntnis auf – in<br />

eben diesem Zustand befindet er sich jetzt. Im Verlaufe der Zeit wird er von<br />

selbst aus diesem Zustand zurückkommen, sobald der Same der Weltwahrnehmung<br />

wieder in ihm zu wachsen beginnt. Widmet euch daher wie bisher<br />

euren Tätigkeiten – er wird in tausend Jahren zum Weltbewusstsein zurückkehren.“<br />

Nachdem sie dies vernommen hatten, kehrten die Dämonen zu ihren Pflichten<br />

und Ämtern zurück und fuhren fort, die für das Reich erforderlichen<br />

Tätigkeiten auszuüben. Nach tausend Jahren (in der Zeitrechnung der Götter)<br />

der Kontemplation wurde König Bali durch die Musik der himmlischen Wesen<br />

und Gottheiten erweckt. Ein übernatürliches Licht ging von ihm aus und<br />

erleuchtete die ganze Stadt.<br />

Noch bevor die Dämonen zu ihm kamen, dachte Bali wie folgt nach:<br />

Dies war in der Tat ein wunderbarer Zustand, in dem ich für einen kurzen<br />

Moment verweilte. Ich werde für immer in diesem Zustand verbleiben, denn<br />

was habe ich mit den Angelegenheiten der äußeren Welt zu schaffen? In meinem<br />

Herzen herrschen nun höchster Friede und Seligkeit.<br />

(Unterdessen hatten die Dämonen den Ort erreicht, an dem er saß. Nachdem<br />

er sie betrachtet hatte, fuhr Bali fort zu reflektieren:)<br />

Ich bin Bewusstsein und in mir existieren keine irrigen Vorstellungen. Was<br />

gibt es für mich zu erlangen oder aufzugeben? Was für ein Scherz – ich suche<br />

nach der Befreiung, aber wer hat mich gebunden, wann und wie? Weshalb<br />

verlange ich dann nach der Befreiung? Es gibt weder Bindung noch Befreiung<br />

– was könnte ich durch meditieren oder nicht-meditieren erreichen? Befreit<br />

von der Täuschung von Meditation oder Nicht-Meditation sollen die Dinge<br />

sein, wie sie sind – für mich bedeutet dies weder Gewinn noch Verlust. Weder<br />

verlangt es mich nach Meditation noch nach Nicht-Meditation, und weder<br />

verlangt es mich nach Freude noch nach Nicht-Freude. Ich wünsche mir weder<br />

das höchste Sein noch die Welt. Weder bin ich tot noch lebendig – weder<br />

wirklich noch unwirklich. Ich verneige mich vor mir selbst, dem unendlichen<br />

V:28, 29<br />

255


Sein! Lass diese Welt mein Königreich sein, und ich bin, was ich bin; lass diese<br />

Welt nicht mein Königreich sein, und ich bin, was ich bin. Was habe ich mit<br />

Meditation zu tun, und was habe ich mit dem Königreich zu tun? Lasst geschehen,<br />

was zu geschehen hat. Ich gehöre zu niemandem und niemand gehört<br />

zu mir. Es gibt absolut nichts zu tun, was von dem zu tun wäre, der ich<br />

sein soll – weshalb sollte ich dann nicht einfach tun, was natürlich ist?<br />

Nach diesen Überlegungen ließ König Bali seinen strahlenden Blick über<br />

die Versammlung der Dämonen wandern, so wie die Sonne den Lotos bestrahlt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Anschließend regierte König Bali das Königreich, wobei er alles spontan<br />

und ohne Vorsätzlichkeit ausführte, was zu tun war. Er verehrte die<br />

Brāhmanen, die Götter und die Heiligen. Er trat seinen Verwandten mit Verehrung<br />

entgegen. Er belohnte seine Dienerschaft reichlich und war in der<br />

Wohltätigkeit freigebiger, als man normalerweise erwartete. Er war achtungsvoll<br />

und anständig gegenüber den Frauen.<br />

In seinem Herzen entstand der Wunsch nach der Ausübung eines heiligen<br />

Ritus. Rasch versammelte er die Männer und Gegenstände, die dafür benötigt<br />

wurden. Während der Ausübung der Riten geschah es, dass Lord Vi«ïu, der<br />

Bali die Herrschaft über die drei Welten entwenden und an Indra übergeben<br />

wollte, die Gestalt eines Zwerges annahm und Bali betrog. Er veranlasste ihn,<br />

die Regierungsgewalt über die Welt Vi«ïu als wohltätige Gabe zu übertragen.<br />

Oh Rāma, dieser Bali wird der nächste Indra sein. Deshalb bewohnt er jetzt<br />

die Unterwelt (in die er von Lord Vi«ïu selbst gesandt worden ist) als befreiter<br />

und erleuchteter Weiser, die Zeit erwartend, in der er den Himmel regieren<br />

wird. Ob er von Glück oder Unglück heimgesucht wird – stets bleibt er<br />

vollkommen unbetroffen. Sein Bewusstsein erfährt weder Jubel noch Niedergeschlagenheit<br />

in Glück oder Unglück. Die drei Welten hat er Milliarden von<br />

Jahren regiert – nun ist sein Herz im Frieden. Ein weiteres Mal wird er als<br />

Indra für sehr lange Zeit die drei Welten regieren.<br />

Jedoch ist er weder erregt über die Aussicht, Indra zu werden, noch war er<br />

betrübt, als er seine Position verlor und in die Unterwelt geschleudert wurde.<br />

Er heißt willkommen, was immer ihm ungesucht begegnet und ist im Frieden<br />

mit sich selbst.<br />

Nun habe ich dir also die Geschichte von König Bali erzählt, oh Rāma. Erlange<br />

dieselbe Sichtweise, die er hatte, und erfreue dich des höchsten Glückes.<br />

Gib das Verlangen nach den substanzlosen und nutzlosen Sinnesvergnügen<br />

in dieser Welt auf. Die anziehenden Objekte, die dich verführen und<br />

deine Aufmerksamkeit fesseln, verdienen deine Bewunderung nicht mehr als<br />

Steinfiguren in der Ferne. Verankere dein Gemüt, welches von einem Ding<br />

zum nächsten flitzt, fest in deinem Herzen.<br />

Du bist das Licht des Bewusstseins, oh Rāma; in dir selbst sind diese Welten<br />

verwurzelt. Wer ist dein Freund, wer sind andere? Du bist das Unendliche. In<br />

256


dir sind alle Welten wie die Perlen eines Rosenkranzes aufgereiht. Das Wesen,<br />

welches du selbst bist, wurde weder geboren noch wird es sterben. Das<br />

Selbst ist wirklich, Geburt und Tod sind reine Einbildung. Erforsche die Natur<br />

aller dieser Krankheiten, die das Leben heimsuchen, und lebe ohne Verlangen.<br />

Du bist das Licht und der Herr, Rāma, und diese Welt erscheint in diesem<br />

Licht. Sie hat keinerlei reale und unabhängige Existenz.<br />

Zuvor hast du wiederholt die falschen Vorstellungen von Erwünschtem und<br />

Unerwünschtem gehabt – gib diese beiden ebenfalls auf. Dann wirst du dich<br />

des Gleichmuts erfreuen; das Rad der Geburt wird zum Stillstand kommen. In<br />

was auch immer das Gemüt versinken will – hole es von dort heraus und<br />

lenke es in Richtung der Wahrheit. Auf diese Weise wird der wilde Elefant des<br />

Gemüts gezähmt. Lass dich nicht von den langatmigen, leeren Aussagen der<br />

schlechten selbsternannten Lehrer verwirren, die über keinerlei direkte<br />

Erfahrung verfügen. Durch Lauschen auf meine Darlegungen wirst du bestimmt<br />

die Erleuchtung erlangen.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Prahlāda<br />

V:30, 31<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, ich werde dir nun eine andere Geschichte erzählen, die den Pfad<br />

zur Erleuchtung illustriert, der frei von Hindernissen ist.<br />

In den Unterwelten gab es einmal einen mächtigen Dämonenkönig namens<br />

Hiraïyakaśipu. Er hatte die Herrschaft über die drei Welten Indra (Hari?)<br />

abgerungen. Er regierte diese drei Welten. Er hatte viele Söhne. Unter ihnen<br />

befand sich der berühmte Prahlāda, der wie ein Diamant unter Juwelenfunkelte.<br />

Der Dämonenkönig, der sich so der Souveränität über die drei Welten, der<br />

Segnung einer mächtigen Armee und wohlgeratener Kinder erfreute, wurde<br />

stolz und anmaßend. Seine gewalttätigen Methoden und seine Schreckensherrschaft<br />

beunruhigten die Götter, die den Schöpfer Brahmā anflehten, sie<br />

aus ihrer gefährlichen Lage zu befreien. In Erwiderung ihrer Gebete nahm<br />

Lord Hari die Gestalt von Narasimha an und vernichtete den Dämonenkönig.<br />

Narasimhas Körper war riesig und machtvoll. Er hatte scharfe und schreckliche<br />

Zähne und Nägel. Seine Ohrringe waren wie Feuerringe. Sein Bauch war<br />

wie ein Berg. Er besaß machtvolle Arme, mit denen er die gesamte Schöpfung<br />

ins Wanken bringen konnte. Sein Atem ließ die Berge erbeben. Die Haare<br />

seines Körpers waren wie Feuerzungen. Seine Glieder wirkten wie furchtbare<br />

Geschosse. Unfähig, dem glühenden Blick Narasimhas zu widerstehen, flohen<br />

die Dämonen in alle Richtungen. Die innersten Gemächer des Palastes brannten<br />

zu Asche nieder.<br />

257


Prahlāda, dessen Leben geschont wurde, führte die Begräbnisriten für seine<br />

gefallenen Verwandten aus. Er kümmerte sich um die Verwundeten. Fassungslos<br />

über das Ausmaß der Zerstörung standen er und andere, die am<br />

Leben geblieben waren, unbeweglich da.<br />

PRAHLùDA grübelte: Wer ist jetzt noch da, um uns zu helfen? Hari hat die<br />

eigentlichen Wurzeln der Dämonenfamilien vernichtet. Oh weh – unser Feind<br />

hat mit Leichtigkeit den Gipfel des militärischen Sieges erklommen. Die Götter,<br />

die sich demütig zu Füßen meines Vatersverneigten, haben nun unser<br />

Reich besetzt. Meine eigenen Verwandten sind glanzlos, müßig, ohne Begeisterung,<br />

notleidend und elend. Die Dämonen, die einst stark und mächtig<br />

waren, sind nun schwach und schüchtern wie einst die Götter – das Schicksal<br />

ist in der Tat mysteriös. Ein zaghaftes Reh, das in ein unbekanntes Dorf gerät,<br />

erschreckt schon beim Geräusch eines fallenden Blattes. Auf die gleiche Weise<br />

geraten die Dämoninnen, die die Stärke des Gegners gesehen haben, vor<br />

allem und jedem in Panik.<br />

Die Götter haben den wunscherfüllenden Baum zurückgenommen. So wie<br />

zuvor die Dämonen erfreut waren, die Angesichter der Göttinnen zu erblicken,<br />

so erfreuen sich jetzt die Götter am Anblick der Dämoninnen. Die Halb-<br />

Göttinnen und andere, die das Leben in den inneren Gemächern der Dämonen<br />

genossen, sind geflohen und in die Wälder des Berges Meru entschwunden,<br />

wo sie wie Vögel des Waldes leben. Meine eigenen Mütter (die Königinnen)<br />

sind zu leibhaftigen Abbildern des Kummers geworden. Oh weh – der<br />

Fächer meines Vaters dient nun Indra. Durch die Gnade Haris wurden wir<br />

unvergleichlichem und unsäglichem Leiden unterworfen. Schon der bloße<br />

Gedanke daran macht uns elend und verzweifelt.<br />

PRAHLùDA fuhr fort zu grübeln:<br />

So wie die schneebedeckten Gipfel der Himālayas niemals der sengenden<br />

Hitze der Sonne ausgesetzt sind, so sind die Götter, die im Schutze von Vi«ïu<br />

leben, niemals der Unterdrückung ausgesetzt. So wie ein kleiner auf einem<br />

Ast sitzender Affe einen großen Hund, der unter dem Baum steht, irritieren<br />

kann, so plagen die Götter dank ihrer Sicherheit im Schutze Vi«ïus die Dämonen.<br />

Es ist Vi«ïu, der das ganze Universum schützt und aufrechterhält. Auch<br />

wenn Vi«ïu den Gebrauch von Waffen aufgeben würde, wäre niemand fähig,<br />

ihm zu widerstehen (Narahimsa benutzte keine konventionellen Waffen). Er<br />

allein ist die Zuflucht aller Wesen in dieser Welt, und daher sollte man unter<br />

allen Umständen das Heil in ihm suchen – eine andere Möglichkeit gibt es<br />

nicht. Keiner ist ihm überlegen, er allein ist die Ursache der Schöpfung, der<br />

Erhaltung und Auflösung des Universums. Von jetzt an werde ich mich Vi«ïu<br />

ergeben und so leben, als ob seine Gegenwart mich erfüllt. Das ihm gewidmete<br />

Mantra „Namo Nārāyaïāya“ kann dem Ergebenen jeden Segen bringen –<br />

mag es mein Herz niemals verlassen.<br />

258


Wer jedoch selbst nicht Vi«ïu ist, kann auch keinen Nutzen aus der Verehrung<br />

Vi«ïus ziehen. Man muss Vi«ïu verehren, indem man selbst Vi«ïu ist.<br />

Daher bin ich Vi«ïu! Der als Prahlāda bekannt war, wird hinfort niemand<br />

anderes als Vi«ïu sein - Dualität gibt es nicht mehr. Nun trägt mich Vi«ïus<br />

Reittier Garu¬a. Seine Insignien zieren meine Glieder. Lak«mi, seine Gefährtin,<br />

steht an meiner Seite. Alle göttliche Pracht Vi«ïus ist damit mein geworden.<br />

Das Muschelhorn, der Diskus, der Streitkolben und das Schwert – diese Zeichen,<br />

die unverwechselbar mit Vi«ïu in Verbindung stehen, sind nun mit mir.<br />

Der Lotos, aus dem der Schöpfer Brahmā geboren wird, entspringt meinem<br />

Nabel. Das gesamte Universum, welches wiederholt erscheint und verschwindet,<br />

befindet sich in meinem Bauch.<br />

Meine Farbe ist nun die Farbe Vi«ïus – die Bläue. Gekleidet bin ich in das<br />

gelbe Gewand Vi«ïus. Ich bin Vi«ïu. Wer kann noch mein Feind sein, und wer<br />

kann mich noch herausfordern? Da ich Vi«ïu bin, hat derjenige, der mir feindlich<br />

entgegentritt, zweifellos das Ende seiner Lebenszeit erreicht. All diese<br />

Dämonen, die mir gegenüberstehen, finden es schwierig oder unmöglich, den<br />

von mir ausgehenden Glanz auszuhalten. Und die Götter singen wahrhaftig zu<br />

meinem Ruhm, da ich nun Vi«ïu bin.<br />

Ich habe allen Sinn der Dualität transzendiert und bin selbst zu Vi«ïu geworden.<br />

In dessen Bauch auf immer die drei Welten existieren, der alle bösen<br />

Mächte des Universums überwindet und die Sorgen und Kümmernisse aller<br />

zerstreut – ich bin er, und vor ihm verneige ich mich..<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Indem er sich auf diese Weise selbst in das Abbild Vi«ïus versetzt hatte,<br />

dachte Prahlāda an die Verehrung Vi«ïus. Er dachte: „Hier steht ein weiterer<br />

Vi«ïu, der ebenfalls auf seinem Reittier Garu¬a sitzt, der mit allen göttlichen<br />

Eigenschaften und Kräften ausgestattet ist und alle die Insignien trägt, die die<br />

Stellung Vi«ïus anzeigen. Ich werde ihn nun entsprechend der Tradition, auf<br />

die sich diese Verehrung bezieht, verehren, jedoch rein mental.“<br />

Nachdem er zu diesem Entschluss gekommen war, verehrte Prahlāda Vi«ïu<br />

mental mit all den Gegenständen, die von der Tradition und den Schriften<br />

angeordnet werden. Danach verehrte er Vi«ïu mit äußeren Riten und Gebräuchen.<br />

Nach Beendigung seiner Verehrung frohlockte Prahlāda.<br />

Von diesem Zeitpunkt an verehrte Prahlāda Vi«ïu täglich auf diese Weise.<br />

Alle Dämonen des Königreiches, die ihn beobachteten und seinem Beispiel<br />

folgten, wurden ebenfalls zu standhaften Anhängern Vi«ïus. Wie ein wildes<br />

Feuer verbreitete sich im Himmel die Nachricht, dass die Dämonen, die vor<br />

kurzem noch Feinde von Vi«ïu waren, nun zu seinen Verehrern geworden<br />

waren! Die Götter des Himmels waren verblüfft – wie konnten die Dämonen<br />

zu Verehrern werden? Rasch gingen sie zu Vi«ïu und befragten ihn.<br />

DIE GÖTTER sprachen:<br />

V:32, 33<br />

259


Höchster Herr, was ist dieses Mysterium? Die Dämonen sind traditionellerweise<br />

deine Feinde. Dass sie sich nun in deine Anhänger verwandelt haben,<br />

kann nichts als unrealistisch und ein Trick sein. Wohin ist die teuflische Natur<br />

der Dämonen gegangen, und woher sollte ihre Ergebenheit für dich kommen,<br />

die nur in der letzten Verkörperung eines jīva entstehen kann? Gute und<br />

göttliche Qualitäten passen in keiner Weise zu diesen Dämonen – es klingt so<br />

unglaubwürdig. Gewiss befinden sich die Qualitäten eines Wesens stets in<br />

Übereinstimmung mit der fundamentalen Natur dieses Wesens. Zu hören,<br />

dass diese Dämonen über Nacht zu deinen Verehrern geworden sind, ist<br />

geradezu schmerzlich. Wenn man sagen würde, dass sie nach und nach höhere<br />

Zustände des Seins erreicht hätten, edle Eigenschaften kultiviert und so<br />

schließlich zu deinen Anhängern geworden sind, dann würden wir dies sehr<br />

wohl zu verstehen wissen. Aber es erscheint unglaubwürdig, dass jemand mit<br />

einer verruchten Veranlagung urplötzlich dein Ergebener geworden sein soll.<br />

DER HÖCHSTE HERR erwiderte:<br />

Oh ihr Götter, plagt euch nicht mit Zweifeln und Hoffnungslosigkeit.<br />

Prahlāda wurde zu meinem Ergebenen. Gewiss ist dies seine letzte Geburt,<br />

und er verdient es, jetzt die Befreiung zu erlangen. Die Keime seiner Unwissenheit<br />

sind verbrannt – er wird nicht wiedergeboren werden. Es ist sinnlos<br />

und schmerzlich zu hören, dass ein guter Mensch zu einem böse Gesinnten<br />

geworden ist. Es ist jedoch recht und gut zu vernehmen, dass einer, der zuvor<br />

ohne gute Qualitäten war, nun gut geworden ist. Prahlādas Wandel ist zu<br />

eurem Guten. (alternative Deutung: Es ist unrichtig zu sagen, dass einer, der<br />

begrenzt und konditioniert war, nun unkonditioniert geworden ist, aber es ist<br />

wahr zu sagen, dass das unkonditionierte Wesen ohne Qualitäten als konditioniert<br />

erscheint.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem Vi«ïu dies den Göttern versichert hatte, verschwand er. Die Götter<br />

kehrten daraufhin zu ihren Wohnstätten zurück. Gegenüber Prahlāda<br />

wurden sie freundlich gesinnt.<br />

Täglich verehrte Prahlāda nun Lord Vi«ïu durch Gedanken, Worte und Taten.<br />

Als unverzügliche Frucht dieser Verehrung wuchsen alle edlen Eigenschaften<br />

wie Weisheit und Leidenschaftslosigkeit in ihm. Er suchte nicht<br />

mehr das Vergnügen, und auch sein Gemüt hegte keinen Wunsch nach Vergnügen.<br />

Nachdem er alles Verlangen nach Vergnügen aufgegeben hatte, baumelte<br />

sein Gemüt haltlos in der Luft. Lord Vi«ïu erschien nun, um den Zustand<br />

Prahlādas in Augenschein zu nehmen. Er bereiste die Unterwelt bis zu<br />

dem Ort, an dem Prahlāda seine Verehrung ausführte. Als dieser ihn sah, war<br />

er überwältigt vor Freude und betete Vi«ïu wiederum an.<br />

PRAHLùDA betete:<br />

Ich nehme Zuflucht in den Höchsten Herrn, in welchem die drei Welten voll<br />

Freude sind, der das höchste Licht ist, welches die Finsternis von Unwissenheit<br />

und Unreinheit vernichtet, der die Zuflucht der hilflos Notleidenden ist,<br />

260


V:34<br />

der der Höchste Herr ist, dessen Zuflucht allein gesucht werden soll, die ungeborene,<br />

die sicherste Sicherheit. Du bist strahlend wie der blaue Lotos oder<br />

das blaue Juwel, dein Körper ist blau wie der Zenit des klaren Winterhimmels,<br />

und du hältst in deinen Händen die göttlichen Insignien – zu dir nehme<br />

ich Zuflucht. Ich nehme Zuflucht zu ihm, dessen Stimme die Wahrheit ist (die<br />

heiligen Schriften), dessen Nabel-Lotos der Sitz von Brahmā dem Schöpfer ist,<br />

und der in den Herzen aller Lebewesen wohnt. Ich nehme Zuflucht zu ihm,<br />

dessen Nägel wie die Sterne des Firmaments funkeln, dessen liebevoll lächelndes<br />

Antlitz der Mond ist, in dessen Herzen ein Juwel ist, dessen Strahlen<br />

unaufhörlich fließen wie der heilige Fluss GaÇgā, und der in den reinen<br />

herbstlichen Himmel gekleidet ist. Ich nehme Zuflucht zu ihm, in dem dieses<br />

ausgedehnte Universum ruht, ohne jemals weniger zu werden; der auf immer<br />

ungeboren und wandellos ist; dessen Körper aus segenbringenden Eigenschaften<br />

zusammengesetzt ist, und der auf dem Blatt eines Banyan-Baumes<br />

ruht. Ich nehme Zuflucht zu ihm, der die Göttin Lak«mi an seiner Seite hat,<br />

deren Schönheit wie die Schönheit der untergehenden Sonne ist. Ich nehme<br />

Zuflucht zum Höchsten Herrn, welcher wie die Sonne über dem Lotos der<br />

drei Welten scheint, der wie die Lampe auf die Finsternis der Unwissenheit<br />

wirkt, dessen Natur das unendliche Bewusstsein ist und der die Leiden und<br />

Verwirrung aller Wesen des Universums vernichtet.<br />

DER HÖCHSTE HERR sprach:<br />

Oh Prahlāda, du bist ein Ozean der guten Eigenschaften und in der Tat das<br />

Juwel unter den Dämonen. Bitte mich daher um einen Segen, der das Leiden<br />

der Wiedergeburt beenden wird.<br />

PRAHLùDA sprach:<br />

Höchster Herr, du bist das Innewohnende aller Wesen und gewährst die Erfüllung<br />

all unserer Wünsche. Bitte gewähre mich den Gunstbeweis, den du als<br />

unbegrenzt und unendlich ansiehst.<br />

DER HÖCHSTE HERR sprach:<br />

Prahlāda, du sollst mit dem Geist der Erforschung ausgestattet sein, bis du<br />

im unendlichen Brahman ruhst, damit alle deine Illusionen an ein Ende gelangen<br />

und du die höchste Frucht (Segnung) erhältst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, verschwand der Höchste Herr. Prahlāda<br />

beendete seine Verehrung und, nachdem er Hymnen zum Lobpreis des Herrn<br />

gesungen hatte, begann er auf die folgende Weise nachzudenken.<br />

PRAHLùDA überlegte:<br />

Der Herr hat befohlen: „Sei unaufhörlich mit der Erforschung beschäftigt“.<br />

Daher werde ich mich mit der Erforschung des Selbst befassen. Was bin ich,<br />

der da spricht, geht, steht und auf dieser Bühne, die man die Welt nennt, tätig<br />

ist – dies sollte ich als erstes herausfinden.<br />

261


Gewiss bin ich nicht diese Welt, die äußerlich und leblos ist und aus Bäumen,<br />

Sträuchern und Bergen besteht. Auch der Körper bin ich nicht, der aufgrund<br />

des Lebensatems geboren wurde und nur einen sehr kurzen Moment<br />

lang lebt. Ich bin nicht Klang (das Wort oder der Name oder der Ausdruck),<br />

der von der leblosen Substanz namens Ohr wahrgenommen wird, und der<br />

nur wie die augenblickliche Bewegung der Luft und leer von Form und Existenz<br />

ist. Ich bin nicht der Sinn oder die Erfahrung der Berührung, die ebenfalls<br />

nur flüchtig ist und nur aufgrund der Gegenwart des unendlichen Bewusstseins<br />

sein kann. Auch bin ich nicht der Geschmackssinn, der auf der sich<br />

stets wandelnden und ruhelosen Zunge beruht, die nur ihren Objekten hingegeben<br />

ist. Ich bin nicht der Sehsinn (oder das Sehobjekt), der ebenfalls nur<br />

momentan und nichts als ein verzerrtes Verständnis des Sehers ist. Auch bin<br />

ich nicht der Geruchssinn, der nur eine von der Nase erschaffene Einbildung<br />

und von unbestimmter Form ist.<br />

Ich bin ohne alle diese imaginären Qualitäten. Ich habe überhaupt nichts<br />

mit den Funktionen dieser Sinne zu tun. Ich bin reines Bewusstsein. Ich bin<br />

Friede jenseits von allem Denken.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Ich bin die alles durchdringende Realität, die frei von Objektivität und daher<br />

frei von Konzepten und Wahrnehmbarem ist. Ich bin reines Bewusstsein.<br />

Es geschieht durch dieses Bewusstsein, dass alle Dinge, vom kleinen Topf bis<br />

zur mächtigen Sonne, wahrgenommen werden. Nun endlich erinnere ich<br />

mich an die Wahrheit, dass ich das Selbst bin, welches allgegenwärtig ist und<br />

in dem keinerlei Konzeptualität ist. Es geschieht durch dieses Selbst, dass alle<br />

Sinne und deren Erfahrungen möglich werden, weil es das innere Licht ist. Es<br />

geschieht aufgrund dieses inneren Lichtes, dass diese Objekte ihre scheinbare<br />

Wirklichkeit erhalten.<br />

Dank diesem inneren Licht des Bewusstseins, welches gänzlich frei von allen<br />

Modifikationen ist, ist die Sonne heiß, der Mond kühl, der Berg schwer<br />

und das Wasser flüssig. Es ist die Ursache aller Wirkungen, die sich als diese<br />

Schöpfung manifestieren, aber es selbst ist unverursacht. Es geschieht aufgrund<br />

des inneren Lichtes dieses Bewusstseins, dass die charakteristische<br />

Natur der verschiedenen Objekte erscheint. Da es selbst formlos und die<br />

Ursache aller Wirkungen ist, ist dieses Universum darin mit all seiner Vielfalt<br />

erschienen. Es allein ist die Manifestation der Dreiheit (Brahmā der Schöpfer,<br />

Vi«ïu der Erhalter und Śiva der Auflöser), hat aber selbst keine Ursache.<br />

Ich verneige mich vor diesem Selbst, welches sein eigenes Licht ist, frei von<br />

der Dualität von Kenner und Gekanntem, Subjekt und Objekt. In ihm existieren<br />

alle Dinge des Universums, und in es treten sie ein. Woran dieses innere<br />

Selbst denkt, dies geschieht – scheinbar als eine äußere Realität. Sobald dieses<br />

Bewusstsein an Dinge denkt, treten dieselben ins Sein; sie gelangen an ihr<br />

Ende, wenn sie als nicht-existierend gedacht werden. Sie scheinen zu wachsen<br />

und dann kleiner zu werden, wie ein Schatten im Licht der Sonne zu<br />

wachsen und zu schwinden scheint.<br />

262


Dieses Selbst oder innere Licht des Bewusstseins ist unbekannt und ungesehen<br />

– nur von denjenigen wird es erlangt, die ihre Herzen gereinigt haben.<br />

Von den Heiligen jedoch wird es im höchst reinen kosmischen Raum (Dimension)<br />

des Bewusstseins wahrgenommen.<br />

Dieses Selbst existiert in einem ungeteilten Zustand in den drei Welten –<br />

von Brahmā dem Schöpfer bis zum Grashalm – als das unendliche und selbststrahlende<br />

Bewusstsein. Es ist eines, ohne Anfang und Ende, es existiert als<br />

dies alles, als die innere Erfahrung aller beweglichen und unbeweglichen<br />

Lebewesen.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Das eine Selbst, das alleinige Erfahren, ist daher der Erfahrende in allen;<br />

daher spricht man davon, dass das Selbst tausend Hände und tausend Augen<br />

habe. Mit diesem herrlichen Körper der Sonne wandert dieses Selbst, das<br />

„Ich“, im Raum, wie auch in dem Körper aus Luft. Ein und dasselbe Selbst,<br />

verkörpert in der Gottheit, die das Muschelhorn, den Diskus, den Lotos und<br />

den Streitkolben hält, wird in dieser Welt verehrt. Es ist dieses Selbst oder<br />

„Ich“, welches als das eine geboren wurde und auf immer im Lotos wohnt (der<br />

Schöpfer Brahmā). Es ist wiederum das Selbst, welches diese Schöpfung<br />

auflöst oder am Ende des Weltzyklus aus der Manifestation zurückzieht.<br />

Das Selbst, als „Ich“ bezeichnet, welches in Indra verkörpert ist, schützt die<br />

Welt. Ich bin eine Frau, Ich bin ein Mann, Ich bin ein Jugendlicher, Ich bin ein<br />

seniler alter Mann, und aufgrund der Verkörperung bin Ich hier scheinbar<br />

geboren worden. Ich bin das Allgegenwärtige. Vom Grunde des unendlichen<br />

Bewusstseins aus lasse ich Bäume und Pflanzen wachsen, indem ich in ihnen<br />

als ihre Essenz lebe. Wie Lehm in der Hand eines spielenden Kindes ist diese<br />

Welterscheinung zu meiner eigenen Freude von mir durchdrungen. Die Welt<br />

erhält ihr Dasein vom Selbst (mir), es ist in ihm und durch mich tätig, und<br />

wenn ich sie aufgebe oder aufhöre, sie wahrzunehmen, hört auch ihr Dasein<br />

auf. Denn diese Welt existiert in mir, dem Selbst oder unendlichen Bewusstsein,<br />

wie eine Spiegelung in einem Spiegel zu existieren scheint.<br />

Ich bin der Duft der Blüten, Ich bin der Glanz der Blumen und Blätter, ich<br />

bin das Licht im Strahlen, und sogar in diesem Licht bin ich selbst die Erfahrung.<br />

Welche beweglichen und unbeweglichen Wesen auch immer in diesem<br />

Universum existieren mögen – ich bin deren höchste Wahrheit oder Bewusstsein,<br />

frei von Konzeptualisierung. Ich bin die eigentliche Essenz aller Dinge in<br />

diesem Universum. So wie Butter in der Milch existiert und Flüssigkeit im<br />

Wasser, so existiere ich als die Energie des Bewusstseins in allem, was existiert.<br />

Diese Welterscheinung der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft<br />

existiert im unendlichen Bewusstsein ohne eine Unterscheidung der<br />

Objektivität. Dieses allgegenwärtige, allmächtige kosmische Sein ist das<br />

Selbst, welches mit „Ich“ bezeichnet wird. Dieses kosmische Königreich, bekannt<br />

als das Universum, ist ungesucht auf mich gekommen und wird von mir<br />

durchdrungen. Als das Selbst oder das unendliche Bewusstsein durchdringe<br />

ich dieses ganze Universum, so wie der eine kosmische Ozean den Kosmos<br />

263


erfüllt, wenn die kosmische Schöpfung aufgelöst wird. So wie ein lahmes<br />

(gebrechliches) Meereswesen einen unbegrenzten kosmischen Ozean vorfindet,<br />

so finde ich kein Ende der Ausdehnung meines Selbst, das unendlich ist.<br />

Diese Welterscheinung ist wie ein Staubpartikel im unendlichen Bewusstsein<br />

–sie befriedigt mich nicht, so wie eine winzige Frucht nicht den Hunger eines<br />

Elefanten stillen kann. Daher wächst diese Gestalt, die im Hause des Schöpfers<br />

Brahmā zu entstehen begann, sogar noch jetzt weiter.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Wahrhaftig, nur dieses unendliche Bewusstsein existierte – wie ist in ihm<br />

der begrenzte, endliche Ich-Sinn entstanden, ohne jede Rechtfertigung und<br />

Grundlage? Was hat diese Täuschung entstehen lassen, welche sich selbst in<br />

Aussagen wie „Dies bist du“, „Dies bin Ich“ zum Ausdruck bringt? Was ist<br />

dieser Körper, und was ist die Körperlosigkeit, wer lebt und wer ist es, der<br />

stirbt? Ganz sicher haben meine Vorfahren nur wenig Verständnis gehabt,<br />

dass sie dieses unendliche Bewusstsein aufgaben und auf dieser kleinen Erde<br />

umherwanderten. Welchen Vergleich kann es zwischen der Vision des Unendlichen<br />

und dieser furchterregenden Eitelkeit geben, die man den weltlichen<br />

Ruhm nennt, angefüllt mit schrecklichen Wünschen und Verlangen? Diese<br />

Vision des unendlichen Bewusstseins ist rein und von der Natur des höchsten<br />

Friedens – gewiss gehört sie zu den bestmöglichen in diesem Universum.<br />

Ich verneige mich vor meinem eigenen Selbst, welches in allen Wesen<br />

wohnt, welches das Bewusstsein frei von Objektivität oder Konzeptualität ist,<br />

und welches die Intelligenz aller Wesen ist. Ich bin das Nie-Geborene, in dem<br />

die Welterscheinung verschwunden ist. Ich habe erlangt, was als einziges zu<br />

erlangen wert ist. Ich habe triumphiert, und ich lebe nun im Triumph. Ich<br />

empfinde keinerlei Freude, über ein Königreich zu regieren, und dafür die<br />

höchste Seligkeit des kosmischen Bewusstseins aufzugeben. Schande über<br />

diese bösen Dämonen, die im Schmutz dieses weltlichen Lebens schwelgen!<br />

Oh weh – wie dumm und unwissend doch mein Vater war, der sich mit dieser<br />

physischen Existenz zufrieden gab und sich an ihr erfreute! Was hat er<br />

denn dadurch erreicht, dass er ein langes Leben lebte und über diesen kleinen<br />

Klumpen namens Erde regierte? Das Entzücken endloser solcher Welten<br />

ist nichts verglichen mit der Seligkeit des Selbst. Wer nichts als diese Selbsterkenntnis<br />

besitzt, besitzt alles. Wer dagegen dies missachtet und nach anderen<br />

Dingen sucht, ist kein Mann der Weisheit. Welchen Vergleich kann es<br />

geben zwischen dieser sterblichen, physischen Existenz (die wie eine öde<br />

Wüste ist) und der Seligkeit der Erleuchtung (die wie ein wunderschöner<br />

Lustgarten ist)? Die Souveränität der Welt wie auch aller Dinge in den drei<br />

Welten liegt einzig und allein im Bewusstsein – weshalb erleben die Menschen<br />

diese Wahrheit nicht, nämlich, dass es außerhalb dieses Bewusstseins<br />

nichts gibt?<br />

Alles wird überall und zu jeder Zeit mit Leichtigkeit durch das Bewusstsein<br />

erlangt, welches allgegenwärtig und ohne Unterscheidungen ist. Das Licht,<br />

welches in der Sonne und im Mond scheint, die Energie, die die Götter belebt,<br />

264


die immanenten Eigenschaften von Gemüt und Elementen, die Qualitäten und<br />

Ordnungen, die in der Natur existieren (wie die Luft, die die Fortbewegung<br />

von Luftfahrzeugen ermöglicht) und die unendliche Vielfalt der Manifestationen<br />

von Energie und Intelligenz sind allesamt nichts als Erweiterungen und<br />

Funktionen des einen kosmischen Bewusstseins, welches in sich selbst ungeteilt<br />

und unmodifiziert ist. So wie die Sonne alle Wesen ohne Unterschied<br />

bescheint, so erleuchtet dieses kosmische Bewusstsein alle Dinge ohne Unterschied,<br />

augenblicklich und spontan als das eigentliche Selbst aller Dinge<br />

im Universum.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Das unendliche Bewusstsein durchdringt gleichzeitig die drei Perioden der<br />

Zeit und erfährt die unendlichen Welten. Es umschliesst alles, es sieht alles,<br />

und weil es ungetrübt und unmodifiziert ist, verbleibt nur es für alle Zeit.<br />

Dieses Bewusstsein erfährt gleichzeitig das, was süß und bitter ist, es ist still<br />

und im Frieden. Da dieses Bewusstsein in sich selbst frei von allen Modifikationen<br />

(Konzepten und Vorstellungen) und subtil ist und alle Dinge zur selben<br />

Zeit erfährt, ist es immer im Frieden und homogen, auch während es<br />

scheinbar die Vielfalt der unterschiedlichen Phänomene erfährt.<br />

Wenn das anscheinend Verwandelte dieses Sein sucht und in ihm ruht, welches<br />

selbst keiner Modifikation unterzogen wurde, dann wird das erstere von<br />

Sorge befreit. Und wenn das, was ist, gesehen wird von dem, was nicht ist<br />

(oder von einem Gemüt, das frei von allen Gedankenbewegungen ist), dann<br />

gibt das, was ist, seine Bosheit auf.<br />

Wenn das Bewusstsein die Wahrnehmung der drei Modi der Zeit aufgibt,<br />

wenn es frei von der Bindung an Objektivität oder Konzeptualisierung ist,<br />

ruht es in absoluter Stille. Es ist dann so, als wäre es unwirklich, da es enseits<br />

jeder Beschreibung ist, weshalb manche Leute auch erklären, dass das Selbst<br />

nicht existiere. Ob da nun das Selbst (Brahman) existiert oder nicht – das, was<br />

nicht der Auflösung unterworfen ist, ist die höchste Befreiung.<br />

Aufgrund der Modifikation ( Denken) wird dieses Bewusstsein scheinbar<br />

verschleiert und nicht erkannt. Diejenigen, die im Schlamm von Anziehung<br />

und Abstoßung stecken, sind unfähig zur Erlangung des Verstehens. Sie sind<br />

im Netz der Gedanken gefangen. Solcherart waren meine Vorfahren. Aufgrund<br />

ihrer Vorlieben und ihres Hasses sowie der getäuschten Wahrnehmung von<br />

Dualität führten sie das Leben von Ungeziefer.<br />

Derjenige, in dem die Gespenster des Verlangens und der Feindseligkeit<br />

verschwunden sind und die Fata Morgana von irrigem Denken und psychologischer<br />

Perversion durch das Licht des wahren, inneren Erwachens beseitigt<br />

worden ist, der allein lebt. Denn wie können Konzepte und Wahrnehmungen<br />

im unendlichen Bewusstsein auftauchen, welches allein ist?<br />

Ich verneige mich vor dem Selbst! Ich verneige mich vor mir selbst – dem<br />

ungeteilten Bewusstsein, dem Juwel aller sichtbaren und unsichtbaren Welten!<br />

Du wurdest in der Tat sehr bald erlangt! Du wurdest berührt, du wurdest<br />

265


V:35<br />

erreicht, du wurdest realisiert, du wurdest über alle Arten von Perversion<br />

erhoben – du bist, was du bist. Ich verneige mich vor dir. Ich verneige mich<br />

vor dir – oh mein Selbst, Śiva, Gott der Götter, das Höchste Selbst.<br />

Ich verneige mich vor dem Selbst, welches sich seines eigenen Körpers erfreut,<br />

welches verankert in sich selbst ist, in voller Kontrolle seiner selbst,<br />

gänzlich frei vom Schleier der selbstauferlegten Unwissenheit (Gedanken und<br />

Konzepte).<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

OM ist das nonduale Bewusstsein, frei von aller Verzerrung. Was auch immer<br />

in diesem Universum ist, ist nur das eine Selbst. Sogar in diesem aus<br />

Fleisch und Blut bestehenden Körper ist es die Intelligenz, die leuchtet – wie<br />

dies auch in und durch die Lichtquellen wie die Sonne usw. geschieht. Es<br />

macht das Feuer heiß und schmeckt die Süßigkeit des Nektars; es erfährt<br />

sozusagen alle Sinneswahrnehmungen. Stillstehend, ist es nicht unbeweglich;<br />

gehend, bewegt es sich nicht; ruhend, ist es doch stets tätig; handelnd, ist es<br />

unberührt davon. In der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ist es<br />

hier, dort und überall in allen scheinbaren Modifikationen immer gleich.<br />

Gänzlich furchtlos und ungehindert ist es dieses Bewusstsein, welches die<br />

Manifestation hervorbringt und die unendliche Vielfalt der Lebewesen von<br />

Brahmā dem Schöpfer bis zum Grashalm aufrecht erhält. Es ist immer dynamisch<br />

und aktiv – und gleichzeitig ist es unbewegter als ein Stein und noch<br />

weniger berührt von aller Tätigkeit als der unendliche Raum.<br />

Es ist dieses Selbst oder Bewusstsein, welches das Gemüt erregt wie der<br />

Wind die Blätter vor sich hertreibt; es lässt die Sinne arbeiten wie der Reiter<br />

das Pferdlenkt. Obgleich das Selbst der Herr dieses Körpers ist, ist es wie ein<br />

Sklave mit den verschiedenen Tätigkeiten befasst.<br />

Dieses Selbst allein sollte gesucht, angebetet und kontempliert werden. Nur<br />

durch Zuflucht zu ihm geschieht es, dass man diese Welterscheinung mit<br />

seinen Zyklen von Geburt und Tod und Täuschung überquert. Es kann sehr<br />

leicht gefunden werden, es kann sehr leicht als ein guter Freund gewonnen<br />

werden, da es im Herz-Lotos eines jeden wohnt. Erlangt wird es im eigenen<br />

Körper – es ist nicht einmal nötig, es anzurufen, da es sich von selbst manifestiert<br />

und enthüllt, wenn man nur einen Augenblick lang darüber meditiert.<br />

Obschon es der Höchste Herr und mit allen Vorzüglichkeiten ausgestattet ist,<br />

ist derjenige, der es verehrt, frei von Arroganz und Stolz.<br />

Dieses Selbst bewohnt alle Körper, so wie der Blütenduft in den Blumen<br />

wohnt. Es wird nicht von jedem erkannt, weil niemand die Wahrheit betreffend<br />

das Selbst erforscht. Wenn es durch Selbst-Erforschung realisiert wird,<br />

dann ist da eine plötzliche Erfahrung der höchsten Seligkeit, und man erfährt<br />

eine unvergängliche Vision der Wahrheit. Sämtliche Fesseln fallen ab, sämtliche<br />

Feinde sind bezwungen, und kein Verlangen beunruhigt das Gemüt. Wenn<br />

dies gesehen wird, wurde alles gesehen; wenn dies gehört wird, wurde alles<br />

gehört; wenn dies berührt wird, wurde alles berührt –denn die Welt ist, weil<br />

dieses ist. Es ist wach, wenn man schläft, es treibt die Unweisen in das Erwa-<br />

266


chen, es entfernt die Verzweiflung des Leidens und schenkt alle gewünschten<br />

Objekte. Es erscheint in dieser Schöpfung als der jīva (lebendige Seele), es<br />

scheint sich der Vergnügen zu erfreuen, und es scheint sich in die Objekte<br />

dieser Welt auszubreiten.<br />

In allen Körpern existiert es als das Selbst, sich selbst in gänzlicher Stillheit<br />

erfahrend. Es ist die eine und einzige kosmische Realität im gesamten Universum.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Dieses Selbst ist die Leere im Raum. Es ist die Bewegung in allen bewegten<br />

Dingen. Es ist das Licht in allen leuchtenden Dingen. Es ist in allem Flüssigen<br />

der Geschmack. Es ist die Festigkeit der Erde. Es ist die Hitze im Feuer. Es ist<br />

die Kühle des Mondes. Es ist die eigentliche Existenz der Welten. So wie alle<br />

diese eigentümlichen Charakteristiken in den entsprechenden Substanzen<br />

existieren, so existiert es als der Höchste Herr im Körper. So wie die Existenz<br />

überall existiert, und wie die Zeit zu allen Zeiten existiert, so existiert dieses<br />

Selbst in allen Körpern mit allen ihren physischen und psychologischen Fähigkeiten.<br />

Dieses Selbst ist die ewige Existenz. Es erleuchtet sogar die Götter. Ich, das<br />

Selbst, allein bin – in Mir gibt es weder Begriff noch Konzept. So wie der unendliche<br />

Raum von in ihm treibenden Staubpartikeln unberührt bleibt und<br />

der Lotos nicht nass wird vom Wasser, so bin Ich durch nichts berührt. Lasst<br />

den Körper von Glück oder Unglück betroffen sein – wie könnte dies das<br />

Selbst betreffen? Wie die Flamme einer Lampe nicht durch die Fäden des<br />

geflochtenen Dochtes gebunden werden kann, so ist das Selbst, welches alle<br />

materiellen Existenzformen übersteigt oder transzendiert, nicht durch diese<br />

Materialität gebunden. Welche Beziehung könnte zwischen uns (dem Selbst)<br />

und dem Verlangen, welches der Vorstellung von Existenz und Nicht-Existenz<br />

und den Sinnen entspringt, bestehen? Wer oder was könnte den Raum binden,<br />

und durch wen könnte das Gemüt gebunden werden?<br />

Sogar wenn der Körper in hundert Stücke geschnitten wird, ist das Selbst<br />

nicht verletzt. Auch wenn der Topf pulverisiert wird, ist der Raum darin nicht<br />

zerstört. Auch wenn dieser Kobold namens Gemüt, der nur als ein Wort und<br />

nicht als Realität existiert, aufhört zu sein – was hätten wir verloren? Früher<br />

gab es dieses Gemüt, welches aus den Vorstellungen von Glück und Unglück<br />

bestand – da nun alle diese Ideen in mir aufgehört haben, wo ist mein Gemüt?<br />

Welcher Tor würde denn Vorstellungen unterhalten wie „Man erfreut sich<br />

eines anderen“, „Man erfasst einen anderen“, „Man sieht den anderen“, „Man<br />

erleidet eine Notlage“? Die Natur allein genießt, das Gemüt erfasst oder versteht,<br />

das Leiden gehört zum Körper, die schlechte Person ist ein Narr – aber<br />

in demjenigen, der die Befreiung erlangt hat, gibt es nichts von all diesem. Ich<br />

verlange nicht nach Vergnügen, noch wünsche ich, es loszuwerden. Was<br />

kommt, soll kommen – und was geht, soll gehen. Lass die Vorstellung verschiedenster<br />

Erfahrungen im Körper auftauchen oder verschwinden – weder<br />

bin Ich in ihnen noch sind sie in Mir.<br />

267


So lange Zeit war ich versklavt durch diesen schrecklichen Feind namens<br />

Unwissenheit, der mir den Reichtum der Weisheit geraubt hat. Jetzt aber,<br />

durch Vishnu‘s Gnade und durch meine eigene, hervorragende Eigenbemühung<br />

habe ich die Weisheit erlangt. Durch den Zauberspruch der Selbsterkenntnis<br />

wurde dieser Kobold namens Ich-Sinn vertrieben. Indem ich das<br />

Elend der Täuschung losgeworden bin, verbleibe ich als der Höchste Herr.<br />

Alles was wert ist, erkannt zu werden, wurde erkannt; alles was wert ist<br />

gesehen zu werden, wurde gesehen – ich habe nun das erlangt, worüber<br />

hinaus nichts weiter zu erlangen ist.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Zu meinem Glück habe ich die tödliche Schlange des Verlangens nach Sinnesvergnügen<br />

weit hinter mir gelassen, und sämtliche Hoffnungen und Täuschungen<br />

wurden beruhigt. Ich habe nun die Ebene der höchsten Wahrheit<br />

erreicht. Der Höchste Herr, der das Selbst ist, wurde von mir durch Singen<br />

von Hymnen, Verehrung, Gebete, den Frieden des Gemüts und durch eine<br />

selbstbeherrschte Lebensweise erkannt. Durch die Gnade von Gott Vi«ïu<br />

wurde die Erkenntnis des Höchsten Seins fest in meinem Herzen verankert.<br />

Bis jetzt wurde ich von aus der Unwissenheit geborenen Begrenztheiten<br />

und Täuschungen gequält. Der Wald der Unwissenheit kennt zahlreiche<br />

Ameisenhügel, die von den tödlichen Schlangen der Sinnesverlangen bewohnt<br />

werden, und viele tote Gruben, die als Tod bekannt sind, sowie die<br />

vielen Waldbrände der Leiden und der Kümmernisse. In diesen streifen die<br />

Diebe der Gewalttätigkeit und der Gier sowie der tödlichste Feind, der Ich-<br />

Sinn, umher. Davon bin ich nun dank der Gnade von Gott Vi«ïu wie auch<br />

meiner Eigenbemühung frei, und meine Intelligenz wurde vollkommen erweckt.<br />

Im Licht dieser erweckten Intelligenz vermag ich nichts mehr wahrzunehmen,<br />

das als Ich-Sinn bezeichnet werden könnte, so wie man die Finsternis<br />

nicht mehr wahrnimmt, wenn die Sonne aufgegangen ist. Da nun der<br />

Kobold des Ich-Sinns gegangen ist, verbleibe ich in mir selbst im Frieden.<br />

Wenn die Wahrheit gesehen und der Ich-Sinn verschwunden ist – wo gibt es<br />

dann noch Raum für Täuschung, Sorgen, Hoffnungen, Wünsche und mentale<br />

Not? Himmel und Hölle wie auch diese Täuschungen betreffend die Befreiung<br />

existieren nur so lange, als der Ich-Sinn existiert – Bilder werden auf die<br />

Leinwand gemalt, nicht auf den Himmel! Sobald die Intelligenz befreit ist von<br />

der Wolke des Ich-Sinnes und dem Gewitter des Verlangens, leuchtet sie mit<br />

dem Licht der Selbsterkenntnis, so hell wie der Himmel in den herbstlichen<br />

Vollmondnächten.<br />

Oh du Selbst, frei vom Schlamm des Ich-Sinns – ich grüße Dich! Oh Selbst, in<br />

dem die grässlichen Sinne und das allesverschlingende Gemüt die Stillheit<br />

erlangt haben – ich grüße Dich! Oh Selbst, in dem der Lotos der Seligkeit voll<br />

erblüht ist – ich grüße Dich! Oh Selbst, dessen zwei Schwingen Bewusstsein<br />

und seine Widerspiegelung sind, und welches im Lotos des Herzens wohnt –<br />

ich grüße Dich! Oh Selbst, Sonne, die die Finsternis der Unwissenheit des<br />

268


V:36<br />

Herzens vertreibt – ich grüße Dich! Oh Selbst, Geber der höchsten Liebe und<br />

Erhalter aller Dinge im Universum – ich grüße Dich!<br />

So wie Stahl den glühenden Stahl durchschneidet, so habe ich den Verstand<br />

mit der Hilfe seines eigenen gereinigten Zustands bezwungen. Ich habe das<br />

Verlangen, die Unwissenheit und die Torheit durch ihre Gegenteile entzwei<br />

gehauen. Egolos funktioniert mein Körper nun mit Hilfe der ihm angeborenen<br />

Kräfte. Die früheren Neigungen, die mentale Konditionierung und die Begrenzungen<br />

wurden vollständig vernichtet. Ich beginne mich zu wundern, wie ich<br />

so lange Zeit in der Falle des Ich-Sinns gefangen sein konnte! Frei von Abhängigkeit,<br />

von der Gewohnheit des Denkens, von den Wünschen und dem Verlangen,<br />

vom irrigen Glauben an die Existenz des Egos, vom Einfluss der vergnügungssüchtigen<br />

Neigungen und der Unruhe hat mein Gemüt nun den<br />

Zustand äußerster Stille erlangt. Damit ist alles Sorgen an sein Ende gelangt<br />

und der Morgen der höchsten Seligkeit hat gedämmert!<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Zu guter Letzt wurde das Selbst, welches jenseits aller Zustände oder Modi<br />

des Bewusstseins ist, realisiert. Oh Selbst! Zum Glück wurdest du schließlich<br />

erkannt – ich verneige mich vor Dir! Ich grüße Dich, ich umarme Dich –nur<br />

Du allein bist mein Freund und Verwandter in diesen drei Welten! Du allein<br />

zerstörst, du allein beschützt, du gibst, du preisest und du bewegst – nun, oh<br />

Selbst, wurdest du gesehen und erlangt. Was wirst du nun tun, und wohin<br />

willst du gehen? Von deiner Wirklichkeit sind alle Welten durchdrungen – du<br />

allein wirst überall gesehen, oh Selbst – wohin wirst du nun davonrennen?<br />

Seit anfangsloser Zeit stand zwischen uns die riesige Mauer der Unwissenheit.<br />

Nun, da die Mauer gefallen ist, wirst du, wie sich jetzt herausgestellt hat,<br />

als etwas gesehen, was nah und ganz und gar nicht fern ist. Grüße an das<br />

Selbst, welches in vollkommener Weise vollendet hat, was zu vollendenwar;<br />

der wahre Täter aller Tätigkeiten, der Höchste Herr, das ewige und auf immer<br />

reine Wesen. Ich verehre Vi«ïu, Śiva und Brahmā den Schöpfer! Oh Selbst, die<br />

Unterscheidung zwischen dir (dem Selbst) und mir ist rein verbal wie die<br />

Unterscheidung zwischen dem Wort und der Substanz, auf die es verweist;<br />

die Unterscheidung ist irreal und eingebildet wie die verbale Unterscheidung<br />

zwischen der Welle und dem Wasser in der Welle. In Wahrheit breitest du<br />

allein dich als diese unendliche Vielfalt der geschaffenen Objekte aus, die in<br />

dieser Welt sind.<br />

Grüße an den Seher, den Erfahrer! Grüße an das Eine, das erschafft, an das<br />

Eine, das alle Dinge entfaltet und erweitert! Grüße an Das, welches die innere<br />

Wirklichkeit von allem ist! Grüße an das Allgegenwärtige! Oh weh – aufgrund<br />

deiner Identifikation mit der Verkörperung hattest du, oh Selbst, sozusagen<br />

deine eigene Natur vergessen. Daher wurdest du in zahllosen Geburten endlosen<br />

Leiden unterworfen und hast äußere Wahrnehmungen ohne Selbsterkenntnis<br />

erfahren müssen. Diese äußere Welt ist nichts als Erde, Holz und<br />

Stein. Oh Selbst! – in all diesem bist Du die einzige Realität! Mit dem Erlangen<br />

der Selbsterkenntnis verlangt man nach nichts anderem mehr.<br />

269


Nun, Höchster Herr, wurdest du gesehen und erlangt. Infolge davon wirst<br />

du nun nicht länger getäuscht sein – Grüße an Dich! Höchster Herr, wie kann<br />

es sein, dass das Selbst, welches doch das Licht der Augen ist und den ganzen<br />

Körper als die innewohnende Intelligenz erfüllt, nicht erkannt oder erfahren<br />

wird? Wie kann es sein, dass diese Intelligenz, die als Berührungssinn alle<br />

Objekte erfährt, selbst nicht erkannt wird? Wie kann diese Intelligenz verschieden<br />

von einem selbst sein, die als der Sinn des Hörens, Sehens usw. tätig<br />

ist und die Gänsehaut erzeugt? Wie kann es sein, dass man nicht die Süße<br />

dieser Intelligenz wahrnimmt, die die Süße oder andere Eigenarten der Objekte<br />

wahrnimmt, die man ihr zuführt? Wie kann es sein, dass man nicht<br />

unmittelbar die Gegenwart dieser Intelligenz erfährt, welche sich des Geruchssinns<br />

erfreut? Wie kann es sein, dass das Selbst, dessen Ruhm von den<br />

Schriften besungen wird und welches Weisheit und Erkenntnis selbst ist, sich<br />

selbst vergisst? Oh Selbst – nun, da du erkannt bist, sind die Sinnesvergnügen,<br />

in denen ich geschwelgt habe, nichts mehr wert!<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Oh Selbst, es ist Dein eigenes Licht der Reinheit, welches in der Sonne<br />

leuchtet, es ist Deine nektargleiche Kühle, die im Mond strahlt. Die Schwere<br />

der Berge ist von Dir, und Du bist die Eile des Windes. Es ist wegen Dir, dass<br />

die Erde fest und Raum leer ist. Glücklicherweise wurdest Du von mir erkannt,<br />

glücklicherweise bin ich Dein geworden. Glücklicherweise, oh Höchster<br />

Herr, gibt es keine Trennung zwischen Dir (dem Selbst) und mir – Du bist<br />

ich, ich bin Du. Was auch immer man als „Du“ (das Selbst) oder als „Ich“ bezeichnet,<br />

was auch immer die Wurzel und was der Ast ist – vor diesem verneige<br />

ich mich wieder und wieder. Grüße an mein Selbst, welches unendlich<br />

und egolos ist – Grüße an das formlose Selbst!<br />

Du (das Selbst) wohnst in mir in einem Zustand von Ausgeglichenheit als<br />

reines Zeugenbewusstsein, ohne Form und ohne Trennung von Raum und<br />

Zeit. Das Gemüt wird erregt, die Sinne beginnen sich zu rühren, und die Energie<br />

beginnt zu strömen, dadurch die Zwillingskräfte von prāïa und apāna (die<br />

beiden Modifikationen der Lebenskraft) in Bewegung setzend. Getrieben von<br />

der Macht der Wünsche trägt der Kutscher (das Gemüt) den aus Fleisch, Blut,<br />

Knochen und Haut erbauten Körper davon. Ich bin jedoch reines Bewusstsein<br />

– weder vom Körper noch von irgendetwas anderem abhängig. Lass diesen<br />

Körper entsprechend den Wünschen, die ihn antreiben, geboren werden oder<br />

sterben.<br />

Im Verlaufe der Zeit entsteht der Ich-Sinn, und im Verlaufe der Zeit hört er<br />

wieder auf zu sein – so wie sich das Universum am Ende des kosmischen<br />

Zyklus auflöst. Aber nach einem lange andauernden Zyklus dieser Schöpfung<br />

habe ich den Frieden gefunden und ruhe, so wie der Kosmos am Ende seiner<br />

Existenz zur Ruhe kommt. Grüsse an Dich, Mich, alles was transzendental und<br />

alles in allem ist! Und Verneigungen vor allen, die von uns sprechen!<br />

Das höchste Selbst als Zeugenbewusstsein ist völlig unberührt von allen<br />

Fehlern seiner Erfahrungen. Das Selbst ist alles in allem überall und existiert<br />

270


in allen Dingen, so wie Duft in Blumen und Öl im Sesamsamen existieren. Oh<br />

Selbst, Du zerstörst, Du schützt, Du gibst, Du brüllst und Du bist hier tätig,<br />

obgleich Du völlig frei vom Ich-Sinn bist – dies ist in der Tat ein großes Wunder.<br />

Das Licht des Selbst seiend, öffne ich sozusagen meine Augen – und das<br />

Universum tritt in Erscheinung. Ich schließe meine Augen, und das Universum<br />

hört auf. Oh Selbst, Du bist das Höchste Atom, in dem dieses gesamte<br />

Universum existiert wie der große Banyan-Baum potentiell im winzigen<br />

Banyan-Samen existiert. So wie die Wolkenformationen am Himmel oft Pferden,<br />

Elefanten und anderen Tieren ähneln, so erscheinst Du selbst, oh Selbst,<br />

im kosmischen Raum als die unendliche Vielfalt aller Objekte. Frei vom Sein<br />

und Nicht-Sein existiert das Selbst als das Sein und das Nicht-Sein und auch<br />

als all die verschiedenen Wesen, eines sozusagen vom andern getrennt und<br />

verschieden.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Gib Eitelkeit, Ärger, Unreinheit und Gewalt auf – große Seelen werden von<br />

diesen Übeln nicht überwältigt. Bedenke die vergangenen Leiden wieder und<br />

wieder – sei dann mit einer freudigen Haltung des Gemüts frei von all diesem,<br />

indem du erforschst: „Wer bin ich?“, „Wie konnte all dies geschehen?“ Alles,<br />

was vergangen ist, ist Vergangenheit, und alle Sorgen und Ängste, die dich<br />

verbrannt haben, haben aufgehört zu sein. Heute nun bist du der Herrscher<br />

dieser Stadt, die man den Körper nennt. So wie man den Himmel mit der<br />

Faust nicht ergreifen kann, so ist die Sorge nicht fähig, Hand an dich zu legen.<br />

Du bist jetzt der Meister deiner Sinne und deines Gemüts – du erfreust dich<br />

höchster Wonne.<br />

Höchster Herr, oh Selbst – für immer bist du sozusagen schlummernd,<br />

scheinbar erwachend durch deine eigene Energie, um dir der stattfindenden<br />

Erfahrungen bewusst zu werden. Es ist eigentlich diese Energie, die mit den<br />

Objekten dieser Erfahrungen in Kontakt kommt. Aber aufgrund des<br />

Gewahrwerdens schreibst du dir diese Erfahrungen selbst zu. Diejenigen, die<br />

durch Disziplinierung der Lebenskräfte die „ Öffnung Brahmās“ in der Krone<br />

des Hauptes erreichen, nehmen in jedem Moment das wahr, was vergangen<br />

ist und was in der Zukunft in der Stadt von Brahmā, dem Schöpfer, sein wird.<br />

Oh Selbst, Du bist der Duft in der Blume, die man den Körper nennt; Du bist<br />

der Nektar im Mond, den man den Körper nennt; Du bist die Essenz der<br />

Pflanze, die man den Körper nennt; Du bist die Kühle im Eis, das man den<br />

Körper nennt. So wie es Butter in der Milch gibt, so gibt es Freundschaft und<br />

Anziehung in diesem Körper. Du wohnst in diesem Körper wie das Feuer im<br />

Holz wohnt. Du bist das Licht aller leuchtenden Objekte, Du bist das innere<br />

Feuer, welches die Kenntnis der Objekte möglich macht. Du bist die Stärke<br />

des Elefanten, den man das Gemüt nennt. Du bist gleichzeitig das Licht und<br />

die Hitze des Feuers der Selbsterkenntnis.<br />

Alle Rede endet in dir, oh Selbst! Sie erscheint wieder an anderer Stelle. So<br />

wie verschiedene Schmuckstücke aus Gold geformt werden, so werden die<br />

zahllosen Objekte der Schöpfung aus Dir geformt; die Unterscheidung ist rein<br />

271


verbal. „Dies bist du“, „Dies bin ich“ – solche Ausdrucksweisen werden verwendet,<br />

wenn man sich selbst bewundert oder sich selbst zu seiner eigenen<br />

Freude beschreibt. So wie ein riesiger Waldbrand in einem Moment verschiedenartigste<br />

Formen annehmen kann, obwohl er nur eine einzige Flamme ist,<br />

so erscheint Dein nonduales Sein als alle diese unterschiedlichen Objekte in<br />

diesem Universum. Du bist die Schnur, auf dem alle diese verschiedenen<br />

Objekte des Universums aufgereiht sind. Du bist der Grund der Wahrheit, in<br />

dem alle diese Welten ruhen. Die Welten sind auf immer potentiell in Dir<br />

anwesend; durch Dich werden sie manifestiert wie der Geruch der Nahrung<br />

durch Kochen manifestiert wird. Obwohl jedoch diese Welten wahrhaftig zu<br />

existieren scheinen, würden sie doch aufhören zu sein, wenn es Dich nicht<br />

gäbe! Du bist ihre Wirklichkeit. Sogar dieser Körper würde leblos wie ein<br />

Holzklotz zu Boden fallen. Glück und Unglück zerfallen, sobald sie Dich erreichen,<br />

so wie die Finsternis verschwindet, sobald das Licht kommt. Jedoch ist<br />

die Erfahrung des Glücklichseins usw. nur deshalb möglich, weil es das von<br />

Dir stammende Licht des Gewahrseins gibt.<br />

PRAHLùDA fuhr fort nachzudenken:<br />

Vergnügen und Schmerz, Glücklichsein und Unglücklichsein verdanken ihre<br />

Existenz Dir, oh Selbst – sie sind aus Dir heraus geboren und verlieren ihre<br />

Natur, sobald ihre von Dir nicht unabhängige Existenz erkannt wurde. So wie<br />

eine optische Täuschung in einem Augenblick entsteht und vergeht, so erscheinen<br />

und verschwinden die illusorischen Erfahrungen von Schmerz und<br />

Freude in einem Augenblick. Sie erscheinen im Licht des Gewahrseins und<br />

verschwinden, sobald sie als nicht verschieden von diesem Gewahrsein erkannt<br />

werden. Sie werden im selben Moment, in dem sie sterben, geboren,<br />

und sie sterben im Moment, in dem sie geboren werden. Wer ist der Wahrnehmende<br />

all dieser Mysterien?<br />

Alles ist stets wandelhaft über alle Zeiten hinweg – wie könnten diese momentanen<br />

Ursachen jemals feste und stabile Resultate erzielen? Wellen mögen<br />

manchmal wie Blumen aussehen, aber kann eine Girlande aus ihnen<br />

geflochten werden? Wenn jemand glaubt, dass stabile Wirkungen aus solch<br />

instabilen Ursachen wie die flüchtigen Phänomene entstehen, dann wäre es<br />

auch möglich, aus Blitzen eine leuchtende Girlande zu binden und als<br />

Schmuckstück zu tragen! Oh Selbst – Du genießt Freuden und Schmerzen, als<br />

ob sie real wären, wenn Du sie im Bewusstsein einer weisen Person empfängst<br />

und wahrnimmst, und gibst dabei nie den Zustand des vollkommenen<br />

Gleichmuts auf. Was jedoch Deine Erfahrungen sind, wenn dieselben Dinge<br />

im Herzen einer unweisen oder unerweckten Person geschehen – dies zu<br />

beschreiben, ist für mich unmöglich! Oh Selbst – Du bist in Wahrheit nicht<br />

anhaftend und frei von allen Wünschen und Hoffnungen; Du bist eins und<br />

homogen ohne Teile, du bist ohne Ich-Sinn. Du übernimmst die Täterschaft<br />

aller Handlungen, und du scheinst die Vielfalt zu erfahren, sei diese nun wirklich<br />

und faktisch oder unwirklich und fiktiv.<br />

272


Heil, Heil Dir, oh Selbst, Du manifestierst dich als dieses endlose Universum.<br />

Heil dem Selbst, welches höchster Friede ist. Heil Dir, oh Selbst, das jenseits<br />

der Schriften ist. Heil Dir, oh Selbst, das die Grundlage und das Ziel aller<br />

Schriften ist. Heil Dir, oh Selbst, welches geboren ist und in allen Wesen<br />

wohnt. Heil Dir, oh Selbst, das Wandel und Zerstörungen ausgesetzt ist. Heil<br />

Dir, oh Selbst, Du bist ungeboren. Heil Dir, oh Selbst, das unveränderlich und<br />

unzerstörbar bist. Heil Dir, oh Selbst, welches Existenz ist – Heil Dir, oh Selbst,<br />

das Nicht-Existenz ist. Heil Dir, oh Selbst, Du bist besiegbar und erreichbar.<br />

Heil Dir, oh Selbst, Du bist unbesiegbar und nicht erreichbar.<br />

Ich bin überglücklich. Ich befinde mich in einem Zustand äußersten<br />

Gleichmuts und höchsten Friedens. Ich stehe unbewegt. Ich habe Selbsterkenntnis<br />

erlangt. Ich bin der Sieger. Ich lebe um zu erobern. Ich grüße mich<br />

selbst – ich grüße Dich. Solange Du, oh Selbst, als die reine, unberührte Wirklichkeit<br />

existierst – wo sollte da Bindung, wo sollte Unglück, wo sollte Glück,<br />

und wo sollten Geburt und Tod sein? Ich werde für immer in höchstem Frieden<br />

ruhen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er so kontempliert hatte, fand sich Prahlāda in einem Zustand, in<br />

dem es keine mentalen Modifikationen mehr gab, sondern nur noch höchste<br />

Seligkeit – ohne jede Gedankenbewegung. So saß er da – unbewegt wie eine<br />

Statue.<br />

Auf diese Weise verging eine sehr lange Zeit. Die Dämonen versuchten ihr<br />

Möglichstes, um ihn zu stören – es gelang ihnen nicht. Tausend Jahre vergingen.<br />

Die Dämonen kamen zu dem Schluss, dass er tot sei.<br />

In der Unterwelt nahm die Anarchie überhand. Hiraïyakaśipu war tot, und<br />

sein Sohn war für die Welt ebenfalls gestorben. Niemand bestieg den Thron.<br />

Die Dämonen durchzogen ungehindert das Land – geleitet nur von ihren<br />

Launen und Gelüsten. Es herrschte äußerste Unordnung – die Schwächeren<br />

wurden von den Stärkeren überwältigt, wie im großen Ozean die großen<br />

Fische die kleinen verschlingen.<br />

In der Zwischenzeit bedachte der Beschützer des Universums, Lord Vi«ïu,<br />

auf seiner Schlangen-Couch im Milch-Ozean ruhend, den Zustand des Universums.<br />

Er betrachtete in seinem eigenen Gemüt den Himmel und die Erde und<br />

war zufrieden, dass in diesen Regionen alles in Ordnung war. Anschließend<br />

betrachtete er den Zustand der Unterwelt. Er nahm wahr, wie Prahlāda tief im<br />

transzendentalen Zustand des Bewusstseins versunken war. Von der Bedrohung<br />

durch die Dämonen befreit, erfreuten sich die Götter des Himmels eines<br />

zweifelhaften Wohlstandes. Dies sehend, dachte<br />

LORD VIå×U:<br />

Weil Prahlāda im transzendentalen Zustand des Bewusstseins versunken<br />

ist, haben die führerlosen Dämonen ihre Macht verloren. In Abwesenheit<br />

einer Bedrohung durch die Dämonen haben die Götter im Himmel nichts<br />

mehr zu fürchten und daher nichts mehr zu hassen. Wenn sie nichts mehr<br />

V:37, 38<br />

273


fürchten oder hassen, werden sie bald selbst den transzendentalen Zustand<br />

des Bewusstseins erlangen, der jenseits der Gegensatzpaare ist, und die Befreiung<br />

erlangen! Dann würden die Erdlinge religiöse Gebräuche bedeutungslos<br />

finden, da es keine Götter mehr gibt, um sie zu belohnen. Dieses Universum,<br />

welches bis zur natürlichen kosmischen Auflösung existieren soll, würde<br />

dann abrupt aufhören zu sein. Ich kann darin nichts Gutes sehen – daher<br />

denke ich, dass die Dämonen ihr Leben als Dämonen fortsetzen sollen. Wenn<br />

die Dämonen als die Feinde der Götter auftreten, werden in dieser Schöpfung<br />

religiöse und gerechte Handlungen gepflegt und die Schöpfung wird somit<br />

weiter existieren und gedeihen; andernfalls aber nicht.<br />

Daher werde ich unverzüglich in die Unterwelt gehen und sie wieder so<br />

herstellen, wie sie sein sollte. Wenn Prahlāda kein Interesse hat, dieses Reich<br />

zu regieren, dann werde ich jemanden an seiner Stelle ernennen. Gewiss ist<br />

dies die letzte Inkarnation Prahlādas – er wird in dieser Verkörperung bis<br />

zum Ende dieses Weltzyklus leben. So ist die Weltordnung. Ich werde mich<br />

daher in die Unterwelt begeben, um Prahlāda durch mein Donnern aufzuwecken.<br />

Ich werde ihn davon überzeugen, das Reich zu regieren und sich gleichzeitig<br />

des Bewusstseins der Befreiung zu erfreuen. Auf diese Weise werde ich<br />

in der Lage sein, diese Schöpfung bis zu ihrem natürlichen Ende am Leben zu<br />

erhalten.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er zu diesem Entschluss gekommen war, erreichte Lord Vi«ïu<br />

rasch die Unterwelt. Durch seinen Glanz erlangten die Dämonen neue Stärke<br />

und Vitalität. Sie waren aber verwirrt durch seine göttliche Erscheinung und<br />

rannten davon. Vi«ïu kam zu dem Ort, an dem Prahlāda saß, und donnerte:<br />

„Edler – erwache!“ und blies gleichzeitig sein Muschelhorn. Die Dämonen<br />

fielen daraufhin zu Boden und die Götter frohlockten.<br />

In der Krone von Prahlādas Kopf begann sich die Lebenskraft wieder zu regen.<br />

Anschließend verteilte sie sich über seinen ganzen Körper. Die Sinne<br />

erlangten ihre Energie zurück und nahmen wieder die ihnen entsprechenden<br />

Objekte wahr. Das Gemüt begann zu arbeiten. Die nā¬Ås (Nerven)fingen an zu<br />

vibrieren. Das Gemüt wurde sich seines Gehäuses, des Körpers gewahr. Nun<br />

war Prahlāda wieder vollständig seiner Umgebung bewusst und blickte auf<br />

den Höchsten Herrn.<br />

LORD VIå×U sprach zu Prahlāda:<br />

Bedenke, oh Prahlāda, deine Rolle und deine Aufgabe als Herrscher der Unterwelt.<br />

Es gibt nichts, was du zu erwerben oder zurückzuweisen hättest:<br />

Ergib dich! In diesem Körper musst du bis zum Ende dieses Weltzyklus verbleiben<br />

– dies ist unvermeidlich, da ich das Gesetz dieser Weltordnung kenne.<br />

Daher musst du dieses Reich regieren, als ein Weiser, der von allen Täuschungen<br />

befreit ist.<br />

Die Zeit der kosmischen Auflösung ist noch nicht gekommen – weshalb<br />

wünschest du dir vergeblich, diesen Körper aufzugeben? Die Zeichen, Symp-<br />

V:39<br />

274


V:40<br />

tome und Ereignisse, die einer solchen natürlichen Auflösung vorausgehen,<br />

wurden noch nicht gesehen – weshalb wünschest du dir dann vergeblich,<br />

diesen Körper aufzugeben?<br />

Ich existiere. Diese ganze Welt und die Wesen darin existieren. Denke daher<br />

nicht daran, deinen Körper schon jetzt preiszugeben.<br />

Derjenige ist für den Tod geeignet, der in Unwissenheit und Kummer versunken<br />

ist. Wer trauert und denkt: „Ich bin schwach, elend, dumm“ usw. ist<br />

für den Tod bereit. Wer von zahllosen Wünschen und Hoffnungen gejagt wird<br />

und dessen Gemüt ruhelos ist, der ist geeignet für den Tod. Wer den Gegensatzpaaren<br />

wie Glück und Unglück unterworfen ist, wer diesem Körper verhaftet<br />

ist, wer physisch und mental gequält ist, wessen Herz von den Feuern<br />

von Lust und Zorn ausgetrocknet ist, der ist bereit für die Erfahrung des<br />

Todes. Die Menschen sehen es als Tod an, wenn jemand den Körper aufgibt!<br />

Das Leben ist aber sinnvoll für denjenigen, der das Gemüt durch Selbsterkenntnis<br />

beherrscht und der der Wahrheit gewahr ist. Derjenige sollte leben,<br />

der keine Vorstellungen von Egoismus unterhält und nichts anhaftet, der frei<br />

von Zu- und Abneigungen ist und ein stilles Gemüt besitzt, dessen Gemüt den<br />

Zustand des Nicht-Gemüts erreicht hat. Richtig ist, dass derjenige lebt, der in<br />

der Wahrheit verankert ist und hier auf zwanglose Art und Weise lebt, der<br />

durch äußere Ereignisse weder freudig erregt noch niedergeschlagen ist, der<br />

frei ist vom Wunsch, etwas zu erwerben oder abzuweisen. Derjenige, der den<br />

Menschen, die von ihm hören oder die ihm zuhören, große Freude bringt, für<br />

den ist allein das Leben richtig und nicht der Tod.<br />

DER HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Das Funktionieren oder die Existenz des Körpers wird von den Menschen<br />

als Leben bezeichnet, während die Aufgabe des Körpers, um einen neuen<br />

Körper zu erlangen, als Tod bezeichnet wird. Du bist frei von diesen beiden<br />

Vorstellungen, oh Prahlāda – was ist für dich Tod oder Leben? Ich habe nur<br />

aus Gründen der Erklärung diese volkstümlichen Beschreibungen verwendet<br />

– in Wahrheit lebst du nicht und stirbst du nicht. Obwohl du in diesem Körper<br />

bist, bist du körperlos, da du keinen Körper hast. Du bist der Beobachter, d.h.<br />

immaterielle Intelligenz; so wie Luft im Raum existiert, aber nicht an den<br />

Raum gebunden ist und daher frei von allen räumlichen Begrenzungen ist. In<br />

gewisser Weise jedoch kann man in einem konventionellen Sinne davon<br />

sprechen, dass du der Körper bist, da du mit Hilfe des Körpers Empfindungen<br />

erfährst; so wie man sagen kann, dass der Raum verantwortlich für das<br />

Wachstum der Pflanze ist, insofern als er ihr Wachsen nicht behindert.<br />

Du bist erleuchtet. Was bedeutet dir der Körper oder die Verkörperung?<br />

Nur in den Augen der Unwissenden ist es so, dass deine Form überhaupt<br />

existiert. Immer bist du alles, du bist das höchste innere Licht des Bewusstseins<br />

– was bedeuten dir der Körper oder die Körperlosigkeit, und was<br />

kannst du erlangen oder aufgeben? Ob es nun Frühling ist oder der Tag der<br />

kosmischen Auflösung gekommen ist – was kann dies für jemanden bedeuten,<br />

der die Wahrnehmung von Sein und Nicht-Sein überschritten hat? Denn<br />

275


dieser ist unter allen Umständen fest in der Selbsterkenntnis verankert. Ob<br />

nun die Wesen des Universums leben oder verderben oder wachsen und<br />

gedeihen – er verbleibt fest verankert in der Selbsterkenntnis.<br />

Der Höchste Herr wohnt im Körper. Er bleibt lebendig, wenn der Körper<br />

stirbt, und unverändert, wenn der Körper sich wandelt. Wenn du die falschen<br />

Ideen „Ich gehöre zum Körper“ oder „Der Körper gehört zu mir“ aufgibst,<br />

dann gibt es keine Bedeutung mehr in Ausdrücken wie „Ich werde ihn aufgeben“<br />

oder „Ich werde ihn nicht aufgeben“, „Ich habe dies getan“ und „Ich werde<br />

nun dies tun“.<br />

Erleuchtete Menschen tun überhaupt nichts, auch wenn sie ständig tätig<br />

sind – es geschieht aber nicht durch eine Form von Inaktivität, dass sie diesen<br />

Zustand des Nicht-Tuns erlangen! Nicht-Tun befreit dich von den Erfahrungen<br />

– wo nichts gesät wurde, wird auch nichts geerntet. Wenn daher die<br />

Ideen von „Ich tue“ und „Ich erfahre“ aufgehört haben, dann verbleibt nur der<br />

Friede, und sobald dieser Friede dauerhaft verwurzelt ist, ist da die Befreiung.<br />

Für solch eine erleuchtete Person gibt es weder Erwerb noch Verzicht.<br />

Denn nur wenn die Vorstellung von Subjekt und Objekt aufgehört hat, dann<br />

kommt die Befreiung. Diese erleuchteten Personen (wie du selbst auch) leben<br />

in der Welt, als ob sie sich auf ewig im Zustand des Tiefschlafs befinden.<br />

Ebenso, nimm, oh Prahlāda, diese Welt wie im Halbschlaf wahr! Erleuchtete<br />

Wesen ergehen sich weder in Vergnügen noch versinken sie im Kummer – sie<br />

funktionieren nicht-willentlich, sondern wie ein Kristall, der die Objekte, die<br />

in seine Nähe gerückt werden, widerspiegelt ohne es zu wollen. In der Selbsterkenntnis<br />

sind sie hell wach, jedoch gegenüber der Welt schlafen sie; sie<br />

funktionieren in der Welt wie Kinder, ohne Ich-Sinn und dessen ganzes Gefolge.<br />

Oh Prahlāda, du hast das Reich von Vi«ïu erreicht – regiere nun die Unterwelt<br />

einen Weltzyklus lang, was gleichbedeutend mit einem Tag im Leben<br />

des Schöpfers Brahmā ist.<br />

PRAHLùDA sprach:<br />

Herr, ich wurde von Müdigkeit überwältigt und bin für einen kurzen Moment<br />

eingeschlafen. Durch Deine Gnade habe ich die Realisation erlangt, in<br />

welcher es keine Unterscheidung zwischen Kontemplation und Nicht-<br />

Kontemplation gibt. Ich habe Dich für eine lange Zeit in meinem Herzen gesehen<br />

– zu meinem großen Glück sehe ich Dich nun vor mir. Ich habe in meinem<br />

Innersten die Wahrheit des unendlichen Bewusstseins erfahren, in welchem<br />

kein Kummer, keine Täuschung, keine Sorge über Leidenschaftslosigkeit,<br />

kein Wunsch nach Aufgabe des Körpers und keine Furcht vor dieser<br />

Welterscheinung ist. Wenn diese einzige ungeteilte Wirklichkeit erkannt wird<br />

– wo sind dann noch Leiden und Zerstörung? Was ist dann der Körper, was ist<br />

die Welterscheinung, was ist Furcht oder ihre Abwesenheit? Dieser Zustand<br />

des Bewusstseins tauchte spontan in mir auf.<br />

V:41<br />

276


„Oh, wie verabscheue ich diese Welt; ich will sie aufgeben!“ – solche Gedanken<br />

tauchen nur im Unwissenden auf. Nur der Unwissende denkt, dass es<br />

Leiden gibt, solange es den Körper gibt, und dass es kein Leiden mehr gibt,<br />

wenn der Körper aufgegeben ist. „Dies ist Vergnügen“, „dies ist Schmerz“,<br />

„dies ist“, „dies ist nicht“ – nur das Gemüt des Unwissenden, nicht dasjenige<br />

des Weisen, schwankt auf diese Weise hin und her. Vorstellungen von „Ich“<br />

und „andere“ existieren nur in den Gemütern von Unwissenden, die die Weisheit<br />

weit hinter sich gelassen haben. „Dies muss erworben werden“, „Dies<br />

muss aufgegeben werden“ – Gedanken dieser Art entstehen nur im Gemüt der<br />

Unwissenden. Wenn doch alles von Dir durchdrungen wird – wo ist dann<br />

dieses „andere“, was man erwerben oder vermeiden sollte? Das ganze Universum<br />

ist von Bewusstsein durchdrungen – was wäre aufzugeben oder abzulehnen?<br />

Auf natürliche Weise erforschte ich mich selbst in mir selbst, und ich habe<br />

nur einen kurzen Moment geruht, ohne jede Vorstellung von Existierendem<br />

oder Nicht-Existierendem, von Erwerb oder Nicht-Erwerb. Ich habe nun die<br />

Selbsterkenntnis erlangt – nun werde ich tun, was immer dir gefällt. Ich bitte<br />

dich, nimm meine verehrende Anbetung an!<br />

Nachdem er Prahlādas Verehrung angenommen hatte, sprach LORD VIå×U<br />

zu ihm:<br />

Erhebe dich, oh Prahlāda – ich werde dich nun zum König der Unterwelt<br />

ernennen, und die hier anwesenden Götter und Weisen sollen deinen Ruhm<br />

besingen. (Nachdem er ihn zum König der Unterwelt gekrönt hatte, fuhr er<br />

fort:) Sei der Herrscher der Unterwelt so lange die Sonne und der Mond<br />

scheinen. Schütze dieses Reich, ohne von Wunsch, Furcht oder Hass verwirrt<br />

zu werden, und schaue auf alle mit demselben Gleichmut. Erfreue dich der<br />

königlichen Privilegien – und möge Wohlfahrt immer mit dir sein ! Aber<br />

handle stets auf eine Weise, die weder den Göttern im Himmel noch den<br />

Menschen auf der Erde Grund zu Unruhe oder Besorgnis gibt. Vollziehe angemessene<br />

Tätigkeit, ohne dich von Gedanken und persönlichen Motiven<br />

leiten zu lassen. Auf diese Weise wirst du durch die Handlungen nicht gebunden.<br />

Oh Prahlāda – du weißt bereits alles – wer kann dich noch belehren? Von<br />

jetzt an werden die Götter und die Dämonen in Freundschaft miteinander<br />

leben, die Göttinnen und Dämoninnen in Harmonie. Oh König, halte die Unwissenheit<br />

fern von dir und lebe ein erleuchtetes Leben. Regiere diese Welt<br />

für eine lange, lange Zeit!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, verließ Lord Vi«ïu das Reich der Dämonen.<br />

Durch die Gnade und Segnungen des Höchsten Herrn lebten fortan die<br />

Götter im Himmel, die Dämonen in der Unterwelt und die Menschen auf der<br />

Erde glücklich und ohne Leid.<br />

So habe ich dir also, o Rāma, die segensreiche Geschichte von Prahlāda erzählt,<br />

die sämtliche Unreinheiten im eigenen Herzen vernichten kann. Wer<br />

V:42<br />

277


V:43<br />

über diese vielsagende Geschichte meditiert, wird schon bald einen höheren<br />

Bewusstseinszustand erlangen – auch wenn er zuvor böse und sündhaft<br />

gewesen ist. Sogar eine einfache Erforschung dieser bedeutenden Geschichte<br />

zerstört alle Sünden – wird die Erforschung dagegen mit yogischen Mitteln<br />

vorgenommen, dann führt sie gewiss zur höchsten Verwirklichung. Sünde ist<br />

nichts als Unwissenheit, die durch Erforschung beseitigt werden kann – daher<br />

sollte man die Erforschung niemals aufgeben.<br />

RùMA fragte:<br />

Wie konnte es geschehen, oh Höchster Herr, dass Prahlāda, der sich im<br />

höchsten Zustande des nondualen Bewustseins befand, durch den Klang des<br />

Muschelhorns aufgeweckt wurde?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, Befreiung geschieht auf zweierlei Arten – „mit Körper“ und „ohne<br />

Körper“. Der Zustand der Befreiung, in dem das Gemüt vollkommen unangehaftet<br />

ist (weder an Handlungen, die Erwerb beinhalten, noch an Entsagung)<br />

und in dem überhaupt kein Verlangen mehr ist, wird als „Befreiung mit Körper“<br />

genannt. Dasselbe nennt man „Befreiung ohne Körper“, wenn der Körper<br />

gefallen ist.<br />

Im Falle der „Befreiung mit Körper“ sind alle Neigungen und mentalen Konditionierungen<br />

wie geröstete Keimlinge, aus denen keine künftigen Verkörperungen<br />

mehr entstehen können. Es verbleiben aber noch die Konditionierungen,<br />

in der Art von Reinheit, Ausdehnungsfähigkeit und Selbsterkenntnis,<br />

obwohl sogar diese Konditionierung nicht-willentlich und völlig absichtslos<br />

ist (wie bei einer schlafenden Person). Solange diese Spuren noch vorhanden<br />

sind, kann der Weise, der „befreit mit Körper“ ist, auch nach hundert Jahren<br />

innerer Kontemplation noch zum Weltbewusstsein erweckt werden. In eben<br />

diesem Zustand befand sich Prahlāda, und daher konnte er durch den Klang<br />

des Muschelhorns erweckt werden.<br />

Außerdem ist Lord Vi«ïu das Selbst von allen – welcher Gedanke auch immer<br />

in ihm entsteht, der materialisiert sich unverzüglich. Seine Manifestation<br />

ist unverursacht und hat selbst nur den Zweck, dieses Universum mit seinen<br />

zahllosen Lebewesen zu erschaffen. Durch das Erlangen der Selbsterkenntnis<br />

wird Lord Vi«ïu erkannt – und durch die Verehrung von Lord Vi«ïu wird die<br />

Selbstverwirklichung erlangt.<br />

Oh Rāma, erlange die Vision, die Prahlāda hatte, und befasse dich mit unaufhörlicher<br />

Erforschung – so wirst du den höchsten Zustand erreichen.<br />

Diese Welt täuscht einen nur so lange, als die Sonne der Selbst-Erforschung<br />

noch nicht im eigenen Herzen aufgegangen ist. Wer einmal die Gnade des<br />

Selbst und von Lord Vi«ïu erlangt hat, der wird nicht mehr vom Gespenst<br />

dieser illusorischen Welterscheinung getäuscht.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, du sagtest, dass Prahlāda die Erleuchtung durch die Gnade<br />

278


von Lord Vi«ïu erlangt hat. Wenn alles durch Eigenbemühung erreicht wird,<br />

weshalb war er dann nicht in der Lage, die Erleuchtung ohne die Gnade Lord<br />

Vi«ïus zu erlangen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ganz gewiss hat Prahlāda, was immer er erlangt hat, durch Eigenbemühung<br />

erlangt, oh Rāma, und durch nichts anderes. Vi«ïu ist das Selbst und das<br />

Selbst ist Vi«ïu – die Unterscheidung ist rein verbal. Es war das Selbst<br />

Prahlādas, welches in sich selbst Hingabe für Vi«ïu erzeugte. Prahlāda bekam<br />

von Vi«ïu, der sein eigenes Selbst ist, den Gunstbeweis der Selbsterforschung<br />

– und durch diese erlangte er schließlich die Selbsterkenntnis. Manchmal<br />

erlangt man die Selbsterkenntnis durch Selbsterforschung, wie sie durch<br />

Eigenbemühung unternommen wird, und manchmal manifestiert sich diese<br />

Eigenbemühung als Hingabe an Vi«ïu, der ebenfalls das Selbst ist. Auch so<br />

erlangt man die Erleuchtung.<br />

Auch wenn jemand lange Zeit hindurch Vi«ïu verehrt, verleiht er ihm nicht<br />

die Erleuchtung, wenn er nicht durch Selbst-Erforschung weise geworden ist.<br />

Daher ist das allererste Mittel für die Selbsterkenntnis stets die Selbsterforschung;<br />

Gnade und andere ähnliche Faktoren sind zweitrangig. Meistere<br />

deshalb die Sinne und führe das Gemüt durch eine aus ganzem Herzen erfolgende<br />

spirituelle Suche auf den Weg der Selbsterforschung. Nimm deine<br />

Zuflucht zur Eigenbemühung, überquere diesen Ozean der Welterscheinung<br />

und erreiche das andere Ufer.<br />

Wenn du denkst, dass Lord Vi«ïu ohne Eigenbemühung erreicht werden<br />

kann, weshalb werden dann nicht auch die Vögel und Tiere zu ihm erhoben?<br />

Wenn es wahr ist, dass ein Guru jemanden ohne dessen eigene Bemühung<br />

erheben kann, weshalb erhebt er dann nicht auch ein Kamel oder einen Ochsen?<br />

Nein, nein – nichts wird mit Hilfe eines Gottes oder Guru oder durch<br />

Wohlstand oder andere Mittel erreicht, sondern kann stets nur durch Eigenbemühung<br />

für die vollständige Beherrschung des Gemüts erlangt werden.<br />

Was nicht durch entschlossene Bemühung der Selbstbeherrschung in Verbindung<br />

mit Vorurteilslosigkeit (Freiheit von allen Formen mentaler Konditionierung)<br />

erreicht werden kann, kann mit keinen anderen Mitteln in den drei<br />

Welten erreicht werden.<br />

Verehre daher mit dem Selbst das Selbst, halte dich mit Hilfe des Selbst an<br />

das Selbst, und sei fest durch das Selbst im Selbst verankert. Der Kult der<br />

Hingabe an Vi«ïu wurde mit der Absicht eingeführt, diejenigen Menschen zu<br />

inspirieren, die sich vom Studium der Schriften, von der Eigenbemühung und<br />

Selbst-Erforschung und den guten Taten abgewendet haben. Entschlossene<br />

und andauernde Eigenbemühung wird als das Beste erachtet – fehlt sie, dann<br />

werden andere Formen der Verehrung vorgeschrieben. Wenn es dann die<br />

vollständige Beherrschung der Sinne gibt, dann hat auch die Verehrung keine<br />

Bedeutung mehr, und falls es die Beherrschung der Sinne nicht gibt – welchen<br />

Zweck sollte dann die Verehrung haben? Ohne Selbsterforschung und die<br />

279


daraus erfolgende innere Stille ist weder die Hingabe an Lord Vi«ïu noch die<br />

Selbsterkenntnis möglich. Nimm daher deine Zuflucht zur Selbsterforschung<br />

und dazu, alle Verwirrung zu beseitigen, und verehre auf diese Weise das<br />

Selbst – wenn du darin erfolgreich bist, dann hast du die Vollkommenheit<br />

erlangt; falls nicht, dann bist du nicht mehr als ein wilder Esel.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn du Lord Vi«ïu und andere verehrst, weshalb verehrst du dann nicht<br />

auch dein eigenes Selbst? Lord Vi«ïu wohnt in Wahrheit in allen Wesen als<br />

deren innerstes Sein. Gewiss sind dies die schlechtesten unter den Menschen,<br />

die Vi«ïu außen suchen und ihn in ihrem eigenen Innern missachten. Die<br />

primäre Wohnung des Höchsten Herrn befindet sich im Herzensinnern aller<br />

Wesen – das ist sein ewiger Körper. Die Gestalt, die zusammen mit dem Muschelhorn,<br />

dem Diskus und dem Streitkolben usw. gesehen wird, ist die sekundäre<br />

Form des Selbst. Wer die höchste Wahrheit aufgibt und hinter den<br />

sekundären Aspekten herrennt, benimmt sich wie jemand, der ein wirksames<br />

Medikament fortwirft und sich auf die vergebliche Suche nach einer anderen<br />

Kur begibt. Wer nicht in der Lage ist, mit vollkommener Aufmerksamkeit das<br />

innewohnende Selbst zu betrachten und daher die Weisheit betreffend das<br />

Selbst nicht erlangen kann, sollte sich mit der Verehrung der äußeren Gestalt<br />

von Lord Vi«ïu befassen. Durch die mit dieser Praxis erzielten Ergebnisse<br />

wird das Gemüt nach und nach gereinigt und vorurteilsfrei. Wenn diese Praxis<br />

fortgesetzt wird mit Intelligenz und Weisheit, entstehen im Laufe der Zeit<br />

Freude und Frieden im Herzen, und man erlangt Reife und Befähigung zur<br />

Selbsterforschung. Tatsächlich ergibt sich dies auch aus dem Selbst – die<br />

Verehrung von Lord Vi«ïu (wie sie genannt wird) ist nur ein Vorwand dafür.<br />

Welche Segnungen auch immer von Lord Vi«ïu erhalten werden – sie<br />

kommen in der Tat vom Selbst allein zu demjenigen, der die Erforschung der<br />

wahren Natur des Selbst praktiziert. Alle diese unterschiedlichen Praktiken<br />

und alle Segnungen, die aus ihnen zu entspringen scheinen, gründen allesamt<br />

auf dem Verstehen und dem Meistern des eigenen Gemüts; so wie die Erde<br />

die Grundlage für all die unterschiedlichen Nahrungsmittel ist. Sogar für das<br />

Pflügen der Erde und das Entfernen der Steine muss man das eigene Gemüt<br />

meistern !<br />

Man mag sich während tausend Leben auf dem Rad von Tod und Geburt<br />

drehen – aufhören wird dies erst, wenn man das Gemüt vollkommen gemeistert<br />

und es den Zustand des höchsten Friedens und Gleichmuts erlangt hat.<br />

Niemand in den drei Welten, nicht einmal die Götter oder die Personen der<br />

Trinität, können einen Menschen vor den Torturen des verwahrlosten Gemüts<br />

bewahren.<br />

Deshalb, oh Rāma, gib all die illusorischen Erscheinungen der objektiven<br />

Welt auf, ob diese nun in dir oder außerhalb von dir auftreten. Meditiere über<br />

die einzige Wirklichkeit des Bewusstseins, damit die Geburtenfolge aufhören<br />

möge. Koste durch entschlossenes Abweisen der Objektivität des Bewusst-<br />

280


seins (aller Konzepte und Begriffe) das reine Bewusstsein (welches die eigentliche<br />

Essenz von allem ist, was existiert) – kontempliere das wandellose,<br />

unendliche Bewusstsein. So wirst du sicher diesen Strom der Welterscheinung<br />

und der Wiedergeburt überqueren.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Gādhi<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, dieser Zyklus von Geburt und Wiedergeburt ist wahrhaftigohne<br />

Ende. Māyā hört erst mit der Meisterschaft über das eigene Herz (das Gemüt)<br />

auf – nicht eher. Um dies zu illustrieren, erzähle ich dir nun eine Geschichte.<br />

Es gibt in dieser Welt eine Region, die Kosala genannt wird. In ihr gab es<br />

einen Brāhmaïa namens Gādhi. Er war sehr gelehrt und das lebendige Abbild<br />

des dharma. Schon von früher Kindheit an war er erfüllt vom Geist der Entsagung<br />

und der Leidenschaftslosigkeit. Eines Tages ging dieser Brāhmaïa in<br />

den Wald, um dort seinen Askesepraktiken nachzugehen. Er hegte den<br />

Wunsch, Vi«ïu zu sehen, und stieg in die Wasser eines Flusses, um dort verschiedene<br />

Mantras zu rezitieren, welche in kurzer Zeit sein ganzes Wesen<br />

vollständig reinigten.<br />

Nach acht Monaten erschien LORD VIå×U vor ihm und sprach ihn an: „Bitte<br />

mich um eine Gunst deiner Wahl.“<br />

Der BRĀHMA×A erwiderte: „Hoher Herr, ich wünsche die Macht deiner Illusion<br />

(Māyā) kennenzulernen, die alle Wesen irreführt und in der Unwissenheit<br />

festhält.“<br />

LORD VIå×U sprach: „Du wirst meine Māyā kennenlernen, und dann wirst<br />

du sofort die illusorische Wahrnehmung von Objekten aufgeben.“<br />

Nachdem Vi«ïu verschwunden war, stieg Gādhi aus dem Fluss heraus; er<br />

war hoch erfreut. Mehrere Tage lang führte Gādhi verschiedene heilige Handlungen<br />

aus, wobei er beständig in der Seligkeit versunken blieb, die das Ergebnis<br />

seiner Vision von Lord Vi«ïu war.<br />

Eines Tages ging er zum Fluss, um sein Bad zu nehmen und meditierte immer<br />

noch über die Worte Vi«ïus. Nachdem er ins Wasser getaucht war, sah er<br />

sich plötzlich selbst tot und von allen betrauert. Sein Körper war gefallen und<br />

sein Gesicht blass und leblos geworden.<br />

Er sah sich von vielen Verwandten und Freunden umgeben, die alle weinten<br />

und laut klagten, und in untröstlichen Kummer versunken waren. Seine Frau<br />

V:44<br />

281


V:45<br />

vergoss Tränen wie wenn ein Damm einbricht und hielt seine Füße umklammert.<br />

Seine Mutter, an der Seite seiner Frau und auch voller Kummer, berührte<br />

sein Gesicht und weinte bittere Tränen und schrie laut. So war er umgeben<br />

von lauter trauernden Angehörigen.<br />

Er sah sich selbst bewegungslos liegen wie schlafend oder in tiefer Meditation,<br />

oder als ob er sozusagen eine lange Mittagsruhe machte. Er vernahm all<br />

dieses Weinen und Wehklagen der Angehörigen und fragte sich verwundert:<br />

„Was hat dies alles zu bedeuten?“ Er wurde nun neugierig, die Frage der<br />

Natur von Freundschaft und Verwandtschaft zu erforschen.<br />

Bald schon trugen die Angehörigen seinen Körper fort zum Verbrennungsplatz.<br />

Nach der Ausführung der Sterberiten, hoben sie seinen Körper auf den<br />

Scheiterhaufen. Sie setzen den Scheiterhaufen in Brand, und schon bald war<br />

der Körper des Gādhi von den Flammen verzehrt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, Gādhi, der immer noch im Fluss stand, sah schließlich, wie er in<br />

der Region Bhūtamaï¬alaæ als Fötus im Leib einer Stammesangehörigen<br />

lag. Rings umher war er von Gewebe und Fleisch im Körper dieser Frau umgeben.<br />

Schließlich wurde er als ihr Sohn geboren. Eine Zeit lang suhlte er in<br />

seinen eigenen Exkrementen. Er war dunkelhäutig wie seine Eltern, und er<br />

war sehr geliebt in seiner Familie.<br />

Schnell wuchs er zu einem kräftigen jungen Mann heran. Er war ein guter<br />

Jäger. Er heiratete eine Stammesfrau. Frei wanderte er im Wald umher. Er<br />

führte ein nomadisches Leben – manchmal schlief er unter einem Baum,<br />

verbarg sich manchmal im Gebüsch und machte gelegentlich eine Höhle zu<br />

seinem Wohnplatz. Und schließlich wurde er Vater – seine Kinder gerieten<br />

ebenso grob und böse wie er selbst.<br />

Er hatte eine große Familie. Er besaß zahlreiche Freunde und Verwandte<br />

Schließlich wurde er alt. Er selbst starb nicht, verlor aber nach und nach alle<br />

seine Freunde und Verwandten an den Tod. Enttäuscht verließ er sein Heimatgebiet<br />

und wanderte in fremde Länder. Ziellos durchstreifte er viele Länder.<br />

Eines Tages, als er auf diese Weise von einem Ort zum nächsten wanderte,<br />

kam er in ein Königreich, das offensichtlich mit Reichtum und Wohlstand<br />

gesegnet war. Er ging die Promenade der Hauptstadt dieses Königreiches<br />

entlang. Vor sich bemerkte er einen riesigen königlichen Elefanten, der prächtig<br />

herausgeputzt war.<br />

Dieser königliche Elefant hatte eine Aufgabe. Der König, der dieses Königreich<br />

regiert hatte, war eben verstorben und hatte keinen Erben hinterlassen.<br />

Gemäß alten Bräuchen wurde nun der Elefant mit der Aufgabe betraut, einen<br />

geeigneten Nachfolger zu finden. Er suchte nach einer passenden Person, so<br />

wie ein Juwelier nach einem kostbaren Edelstein sucht.<br />

Der Jäger musterte den Elefanten eine Zeitlang mit einer Mischung aus<br />

Neugierde und Staunen. Der Elefant ergriff ihn schließlich mit seinem Rüssel<br />

282


V:46<br />

und setzte ihn auf seinen Rücken. Im selben Moment erklang in der ganzen<br />

Stadt ein Dröhnen der Trommeln und der Posaunen. Alle Leute riefen in<br />

größter Freude „Lang lebe der König!“ – der Elefant hatte den neuen König<br />

erwählt.<br />

Schon bald war der neue König von den Mitgliedern des königlichen Hofes<br />

umgeben. Die schönen Damen des Hofes umgaben ihn und kleideten ihn ein.<br />

Sie schmückten ihn mit königlichen Roben und Edelsteinen. Sie bekränzten<br />

und salbten und parfümierten ihn. Der Jäger wurde zu einem strahlenden<br />

König. Und sie krönten ihn, während er auf einem Thron auf dem Rücken des<br />

Elefanten saß. Auf diese Weise wurde ein Stammesangehöriger und Jäger<br />

zum König von KÅrapura! Von da an erfreute er sich aller königlichen Vergnügen<br />

und Privilegien.<br />

Nach und nach lehrte ihn seine neue Position die Kunst, ein Reich zu regieren<br />

und er wurde ein wohlbekannter König mit dem Namen Gavala.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Gavala der König, dem die Damen des Palastes und seine Minister ergeben<br />

dienten, hatte seine bescheidene Herkunft völlig vergessen. So vergingen<br />

acht Jahre. Sein Königreich regierte er weise und gerecht, mit Hingabe und<br />

Reinheit.<br />

Eines Tages verließ er seine Gemächer, um in die Stadt zu wandern. Seine<br />

königliche Kleidung und seine königlichen Insignien hatte er abgelegt – Menschen,<br />

die ihrer Vorzüglichkeit bewusst sind, benötigen keine äußeren Zeichen.<br />

Außerhalb des Palastes bemerkte er eine Gruppe von Stammesangehörigen,<br />

die vertraute Lieder sangen. Ohne Aufsehen zu erregen, gesellte er sich<br />

zu ihnen und begann mitzusingen.<br />

Ein älterer Stammesangehöriger erkannte ihn, erhob sich aus der Menge<br />

und sprach ihn an: „Oh KaÂanja! Belohnt dich der König dieses Palastes mit<br />

Geschenken und Gaben für deine musikalischen Fähigkeiten? Oh wie bin ich<br />

erfreut, dich zu sehen! Wer würde sich nicht freuen, einen alten Freund wiederzutreffen?“<br />

Gavala ignorierte dies, aber die Damen und Mitglieder des<br />

königlichen Hofes, die aus der Entfernung der Szene zusahen, waren schockiert.<br />

Der König kehrte rasch in den Palast zurück.<br />

Die königlichen Bediensteten und Mitglieder des Hofes jedoch vermochten<br />

sich nicht von dem Schock zu erholen, dass ihr König nichts als ein unwürdiger<br />

Stammesangehöriger gewesen war, den sie nicht einmal hätten berühren<br />

mögen. Sie begannen ihn zu meiden – sie behandelten ihn, als wäre er ein<br />

verwesender Kadaver.<br />

Von seinen Ministern, Dienern und den Dienerinnen, die ihn bisher geschmückt<br />

hatten, vernachlässigt, nahm Gavala nach und nach wieder seine<br />

wirkliche Gestalt an –ein dunkler und hässlicher Stammesangehöriger, abscheulich<br />

anzusehen wie ein Verbrennungsplatz. Sogar die Bürger des Königreichs<br />

mieden ihn und rannten fort, sobald sie ihn nur zu Gesicht bekamen.<br />

Obwohl er im Palast lebte und von vielen Menschen umgeben war, fühlte er<br />

283


sich völlig einsam – man behandelte ihn wie eine elende Person, obwohl er<br />

doch der König war. Sie antworteten ihm nicht einmal, wenn er sie anzusprechen<br />

versuchte!<br />

Die Ältesten kamen zusammen und hielten Rat. Sie sprachen zueinander:<br />

„Oh weh! Wir sind befleckt durch die Berührung dieses Stammesangehörigen,<br />

der von Hundefleisch gelebt hat! Es gibt keine Sühne für diese Befleckung<br />

außer dem Tod. Lasst uns daher einen riesigen Scheiterhaufen errichten,<br />

unsere besudelten Körper auf diesen werfen und so unsere Seelen reinigen.“<br />

Nachdem sie dies beschlossen hatten, sammelten sie Feuerholz und errichteten<br />

damit einen riesigen Scheiterhaufen. Einer nach dem anderen warf sich<br />

dann ins Feuer. Nachdem so alle Ältesten umgekommen waren, brachen in<br />

der Stadt Chaos und Anarchie aus.<br />

König Gavala überlegte: „Oh weh! All dies ist nur wegen mir geschehen!<br />

Weshalb sollte ich noch länger leben – der Tod ist dem Leben jetzt vorzuziehen!<br />

Für jemanden, der in den Augen der Leute entehrt ist, ist der Tod besser<br />

als das Leben.“ Nachdem er zu diesem Entschluss gekommen war, übergab<br />

König Gavala seinen Körper ruhig dem Feuer. Als das Feuer die Glieder von<br />

Gavala zu verzehren begann, erlangte Gādhi, der immer noch, eingetaucht in<br />

das Wasser des Flusses, Gebete rezitierte, sein Bewusstsein wieder.<br />

(Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Ein weiterer Tag war zu<br />

Ende gegangen.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nun wurde Gādhi befreit von seiner illusorischen Vision. Er gewann jetzt<br />

sein Bewusstsein wieder von „Ich bin Gādhi“. Er beendete seinen religiösen<br />

Dienst und stieg aus dem Fluss. Er fragte sich jetzt fortwährend, wie verwundert,<br />

„Wer bin ich? Was habe ich da gesehen? Und wie?“ Er kam schließlich zu<br />

dem Ergebnis, dass sein ermüdeter Verstand ihm offensichtlich einige Streiche<br />

gespielt haben musste. Auch nachdem er den Ort bereits verlassen hatte,<br />

dachte er immer noch über seine Vision nach und grübelte über die Natur<br />

seiner Eltern, der Freunde und der Leute nach, die er in dieser Vision gesehen<br />

hatte. Er dachte bei sich: „Gewiss war all dies illusorisch, weil ich jetzt nichts<br />

mehr davon wahrnehme!“<br />

Nach einigen Tagen besuchte ihn ein ehrenwerter Brāhmaïa, den Gādhi mit<br />

allen ihm zukommenden Ehren empfing. Im Verlaufe ihrer Unterhaltung<br />

fragte GùDHI den Gast: „Oh Heiliger, weshalb siehst du so müde und erschöpft<br />

aus?“ Der GAST antwortete: „Du Heiliger, ich werde dir die ganze<br />

Wahrheit erzählen. Im Norden gibt es ein Königreich, genannt KÅra. Ich verbrachte<br />

dort einen Monat und wurde festlich von den Bürgern dieses Königreiches<br />

bewirtet. Von ihnen vernahm ich sodann eine ungewöhnliche Geschichte.<br />

Sie erzählten mir folgendes: „Acht Jahre lang hat ein Stammesangehöriger<br />

dieses Königreich regiert. Schließlich wurde seine Herkunft ruchbar.<br />

Wegen ihm sind sehr viele Brāhmaïas an diesem Ort umgekommen.“ Als ich<br />

dies hörte, fühlte ich mich ebenfalls verunreinigt, und so ging ich fort an<br />

V:47<br />

284


einen heiligen Ort namens Prayāga und unterzog mich dort strenger Askese<br />

und langem Fasten. Dieses Fasten habe ich heute zum ersten Mal gebrochen.“<br />

Der Gast verbrachte die Nacht bei Gādhi und verließ ihn am folgenden Tag.<br />

GùDHI dachte weiter nach: „Was ich in einer Halluzination gesehen habe,<br />

hat mein Gast als tatsächliches Ereignis vernommen! Ich sollte jetzt diese<br />

Geschichte selbst untersuchen.“ Nachdem er dies beschlossen hatte, ging<br />

Gādhi als erstes zu dem Ort, der Bhūtamaï¬alam genannt wird. Menschen<br />

mit hoch entwickeltem Bewusstsein können mit Hilfe angemessener Eigenbemühung<br />

sogar das erreichen, was sie im Geist visualisieren. Daher sah<br />

Gādhi an seinem Ziel das, was er schon in seiner Vision wahrgenommen<br />

hatte.<br />

Er sah ein Dorf, welches sich tief in seinBewusstsein eingeprägt hatte. Er<br />

sah sein eigenes Heim als Stammesangehöriger, und er sah die verschiedenen<br />

Gegenstände des Alltags, die er benutzt hatte. Das Haus befand sich in einem<br />

sehr schlechten Zustand. Er sah ferner darin die Knochen der Tiere, deren<br />

Fleisch von der Familie gegessen wurde - er betrachtete diesen schrecklichen<br />

Ort, der wirklich wie ein Friedhof war. Dann wandte er sich in Richtung des<br />

nächsten Dorfes und fragte die Dorfbewohner: „Wisst ihr irgendetwas über<br />

einen Stammesangehörigen, der da drüben gewohnt hat?“<br />

Die DORFBEWOHNER antworteten: „Heiliger Herr, natürlich wissen wir davon.<br />

Es gab einmal einen schrecklich anzusehenden und grimmigen Stammesangehörigen,<br />

der bis zum hohen Alter dort gelebt hat. Als er alle Verwandten<br />

verloren hatte, ging er fort und wurde König von Kīra. Er regierte<br />

dort acht Jahre lang. Schließlich wurde er enttarnt, und als Ergebnis davon<br />

mussten viele Menschen sterben. Er tötete sich dann auch selbst. Aber bitte,<br />

weshalb fragst du danach? Kannte er dich, oder glaubst du, ihn gekannt zu<br />

haben?“ Als Gādhi dies vernahm, war er tief verwirrt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Gādhi erkannte nun die verschiedenen Gegenstände und Plätze, die mit seinem<br />

„Leben“ in diesem Dorf in Zusammenhang standen: Wo er lag, wenn er<br />

betrunken war, wo er schlief, wo er aß, welche Kleidung er trug usw. Von<br />

diesem Ort aus wanderte Gādhi dann zum Königreich von Kīra. Er ging in die<br />

Hauptstadt und befragte die Bürger: „Ist es wahr, dass dieses Land eine Zeit<br />

lang von einem Stammesangehörigen regiert worden ist?“ Die Bürger erwiderten<br />

mit großer Erregung: „Oh ja! Und er regierte hier acht lange Jahre,<br />

denn er wurde vom königlichen Elefanten erwählt. Als seine Herkunft<br />

schließlich aufgedeckt wurde, beging er Selbstmord. Das war vor zwölf Jahren.“<br />

In diesem Moment kam der König mit seinem Gefolge aus dem Palast, der<br />

niemand anderes als der verehrte Lord Vi«ïu war! Dies alles sehend, fragte<br />

sich Gādhi: Tatsächlich ist dies das Königreich Kīra, welches ich vor nicht<br />

langer Zeit regiert habe und nun so sehe, als hätte ich hier in einer früheren<br />

Geburt gelebt! Er überlegte: „Dies war nichts als ein Traum, und doch er-<br />

V:48<br />

285


V:49<br />

scheint es jetzt lebhaft vor mir im Wachzustand! Oh weh! Ich bin gewiss gefangen<br />

in einem Netz von Einbildungen. Ich erinnere mich, dass Lord Vi«ïu<br />

mir die Gunst gewährt hat, seine Māyā zu sehen. Gewiss sehe ich hier das<br />

Ergebnis davon.“ Er verließ unverzüglich die Stadt, ging in eine nahebei gelegene<br />

Höhle und begann dort mit intensiver Askesepraxis.<br />

Schon bald erschien Lord Vi«ïu vor ihm und fragte ihn, welchen Gunstbeweis<br />

er sich erbat. GHùDI fragte den Herrn: „Die Halluzination, die ich im<br />

Traum hatte – wie kann es sein, dass ich sie nun auch im Wachzustand habe?“<br />

LORD Vishnu erwiderte:<br />

Oh Gādhi! Was du jetzt siehst, ist eine Illusion – tatsächlich ist dies nichts<br />

als das Selbst, jedoch wahrgenommen von einem Gemüt, das nicht gereinigt<br />

ist und die Wahrheit noch nicht realisiert hat. Außerhalb des Selbst existiert<br />

nichts – so wie der Baum im Samen existiert, so existiert all dieses bereits im<br />

Gemüt, und das Gemüt sieht es so, als wäre es außerhalb. Es ist nur das Gemüt,<br />

das all dies sieht und alles als der Zukunft oder der Vergangenheit angehörig<br />

visualisiert. Das Gemüt allein wird als Traum, Illusion, Krankheit usw.<br />

erfahren. Im Gemüt existieren zahllose „Ereignisse“ wie die Blüten eines<br />

Baumes, der in voller Blüte steht. Und so wie ein entwurzelter Baum keine<br />

Blüten mehr hervorbringt, so bringt das von Ideen und Konzepten freie Gemüt<br />

keine Wiedergeburt usw. mehr hervor.<br />

Ist es denn so unglaubwürdig, dass dieser Verstand, der all die zahllosen<br />

Gedankenformen in sich trägt, nicht auch die Idee „Ich bin ein Stammesangehöriger“<br />

hervorbringt? Oder dass er auf dieselbe Weise weitere Ideen wie<br />

„Ich hatte einen Brāhmaïa-Gast, der mir die Geschichte berichtete usw.“ oder<br />

„Ich gehe nach Bhūtamaï¬alam“, oder „Ich befinde mich im Königreich Kīra“<br />

gebiert? All dies war nichts als Halluzination! Oh Heiliger, du hast nun beide<br />

Formen der Illusion kennen gelernt – diejenige, die du selbst für eine Illusion<br />

gehalten hast, und diejenige, die du als Realität ansiehst – beide sind jedoch<br />

nichts als Illusion. Du hast niemals einen Gast bewirtet, und niemals bist du<br />

irgendwo hingegangen! All dieses war tatsächlich nichts als Einbildung. In<br />

Wirklichkeit bist du niemals in Bhūtamaï¬alam oder Kīra gewesen – auch<br />

dies war nur Illusion. Erhebe dich, oh Weiser, und betätige dich hier in der<br />

geeigneten Weise, denn ohne solche Tätigkeit kann nichts von dem erlangt<br />

werden, was in diesem Leben wirklich wichtig ist!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Um sich nun selbst zu vergewissern, begab sich Gādhi noch einmal nach<br />

Bhūtamaï¬alam usw. Noch einmal vernahm er dieselben Geschichten von<br />

den Leuten, die dort wohnten. Ein weiteres Mal verehrte er Lord Vi«ïu, und<br />

wieder erschien dieser vor ihm. GHùDI fragte den Herrn: „Höchster Herr,<br />

zwei Monate lang wanderte ich in beiden Reichen und hörte dieselben Geschichten,<br />

die die Leute als wahr erzählen. Ich bitte dich demütig, kläre diese<br />

Verwirrung auf.“<br />

DER LORD erwiderte:<br />

286


V:50<br />

Oh Gādhi, diese Vorgänge sind in deinem Verstand widerspiegelt, obwohl<br />

sie gänzlich ohne Beziehung mit dir stattgefunden haben, so wie es eine rein<br />

zufällige Beziehung zwischen der Krähe, die auf einem Kokosnussbaum landet,<br />

und einer plötzlich herunterfallenden Kokosnuss gibt. Diese Leute erzählen<br />

daher dieselbe Geschichte, und du hältst sie wiederum für die deine! Eine<br />

derartige Koinzidenz ist nicht ungewöhnlich – manchmal wird dieselbe Illusion<br />

von vielen Menschen wahrgenommen. Manchmal haben viele Menschen<br />

denselben Traum oder mehrere Menschen erfahren dieselbe Halluzination,<br />

oder Trunkenbolde haben alle den Eindruck, dass sich die Welt um sie herum<br />

dreht. Mehrere Kinder spielen dasselbe Spiel.<br />

Eine solche Verwirrung kann in den Gemütern der Menschen auch in Bezug<br />

auf die Zeit entstehen. Die Zeit ist ein Konzept des Verstandes. Die Zeit steht<br />

in wechselseitiger Beziehung zu gewissen Phänomenen.<br />

(Lord Vi«ïu verschwand, und Gādhi kontemplierte lange, lange Zeit. Noch<br />

einmal betete er, und der Herr erschien aufs Neue. GHùDI bat: „Höchster<br />

Herr, ich bin gänzlich verwirrt durch deine Māyā. Bitte nimm diese Verwirrung<br />

von mir.“ Und der Herr erwiderte:)<br />

Was immer du in Bhūtamaï¬alam und Kīra gesehen hast, war möglicherweise<br />

wahr. Der als KaÂanja bekannte Stammesangehörige wurde tatsächlich<br />

vor einiger Zeit geboren. Er verlor seine Verwandten und wurde zum König<br />

von Kīra. All dieses war in deinem Bewusstsein enthalten und widerspiegelt.<br />

So wie der Verstand manchmal vergisst, was er tatsächlich erfahren hat, so<br />

glaubt er auch manchmal, etwas erfahren zu haben, was er tatsächlich niemals<br />

erfahren hat. So wie man Träume und Visionen erfährt, so erfährt man<br />

Halluzinationen sogar im Wachzustand. Obgleich KaÂanja vor mehreren Jahren<br />

gelebt hat, erscheint er doch in deinem Bewusstsein als wie in der Gegenwart<br />

seiend.<br />

„Dies bin ich“ – ein solches Konzept entsteht nicht in der Person mit Selbsterkenntnis,<br />

sondern im Verstand der unwissenden Person. „Ich bin dies alles“<br />

– wer dies als Kenner der Wahrheit weiß, der ertrinkt nicht in der Sorge und<br />

verlangt nicht vergeblich nach den vergänglichen Objekten, die den Kummer<br />

in sich tragen. Daher wird er nicht von Jubel und Trauer hin und her getrieben.<br />

Weil du noch nicht vollständig erleuchtet bist, hängt dein Gemüt noch an<br />

der Illusion der objektiven Wahrnehmung, den Konzepten. Māyā breitet sich<br />

in alle Richtungen aus – wer dagegen im Zentrum verbleibt, ist frei von der<br />

Täuschung. Erhebe dich und meditiere darüber zehn Jahre lang.<br />

(Gādhi befasste sich danach mit intensiver Meditation und erlangte schließlich<br />

die Selbstverwirklichung. Dann lebte er weiter als befreiter Weiser – frei<br />

von Furcht und Sorge.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Diese kosmische Illusion (Māyā) schafft große Täuschung und ist selbst von<br />

der Natur des Ungleichgewichts. Sie ist extrem schwierig zu verstehen. Wel-<br />

287


chen Vergleich gibt es zwischen einer Halluzination, die für die kurze Dauer<br />

eines Traums besteht, und derjenigen, die eine ganze Lebenszeit lang mit all<br />

den verschiedenen Erfahrungen eines Stammesangehörigen besteht? Und<br />

wiederum – wie können wir das, was in einer Halluzination und das, was „vor<br />

unseren Augen“ gesehen wird, miteinander vergleichen? Was davon wäre als<br />

wahrhaft unwirklich, und was als etwas zu bezeichnen, das sich einer tatsächlichen<br />

Verwandlung unterzogen hat? Ich versichere dir daher, oh Rāma, dass<br />

diese kosmische Illusion das unvorsichtige Gemüt in endlose Schwierigkeiten<br />

hineinzieht.<br />

RùMA fragte: Aber, oh Hoher Herr, kann man dieses Rad der kosmischen<br />

Illusion anhalten, welches sich mit dieser unwiderstehlichen Gewalt dreht<br />

und dreht?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, das Gemüt ist die Nabe, um die herum sich dieser böse Zyklus<br />

bewegt und Illusionen in den Gemütern der Irregeführten erzeugt. Es geschieht<br />

nur durch entschlossenes Bremsen dieser Nabe durch intensive Eigenbemühung<br />

und kühne Intelligenz, dass das gesamte Rad schließlich zum<br />

Stillstand gebracht wird. Sobald die Bewegung der Nabe angehalten ist, dreht<br />

sich auch das Rad nicht mehr – ist das Gemüt einmal gestillt, dann hört es<br />

einfach auf. Wer diesen Trick nicht kennt und ihn nicht praktiziert, ist endlosem<br />

Kummer unterworfen. Wird jedoch die Wahrheit erkannt – siehe da! –<br />

dann gelangt der Kummer an sein Ende.<br />

Die Krankheit der Wahrnehmung dieser Weltillusion wird nur geheilt, wenn<br />

das Gemüt gemeistert ist; das ist die einzige Arznei. Daher, oh Rāma, gib alle<br />

anderen Aktivitäten wie Pilgerreisen, Geschenke und Wohltätigkeit auf und<br />

bringe das Gemüt unter deine Kontrolle, zu deinem eigenen Besten. Diese<br />

Welterscheinung lebt im Gemüt wie der Raum in einem Topf – wenn der Topf<br />

zerbricht, verschwindet die illusorische Erscheinung einer Teilung des Raumes,<br />

und auf dieselbe Weise verschwindet das Konzept einer Welt, sobald das<br />

Gemüt aufhört zu sein. So wie ein Insekt, das in einem Topf gefangen ist, seine<br />

Bewegungsfreiheit nach dem Zerbrechen des Topfes wiedererlangt, so wirst<br />

du dich deiner Freiheit erfreuen, wenn das Gemüt zusammen mit der darin<br />

enthaltenen Weltillusion nicht länger besteht.<br />

Lebe in der Gegenwart – mit einem Bewusstsein, das sich momentweise<br />

und mühelos den äußeren Objekten zuwendet. Sobald das Gemüt damit aufhört,<br />

sich an die Vergangenheit und die Zukunft zu binden, wird es zum Nicht-<br />

Gemüt. Wenn dein Gemüt von Augenblick zu Augenblick nur kurz bei dem<br />

verbleibt, was gerade ist und es dann ohne Anstrengung gleich wieder beiseitelegt,<br />

dann wird das Gemüt zum Nicht-Gemüt – voller Reinheit. Nur so lange<br />

das Gemüt im Zustand der Erregtheit verweilt, erfährt es die Vielfalt seiner<br />

eigenen Projektionen oder seiner Erweiterung – so wie der Regen nur so<br />

lange fällt, wie da Wolken sind. Und nur so lange das unendliche Bewusstsein<br />

sich selbst auf das endliche Gemüt begrenzt, findet diese Erregtheit und Erweiterung<br />

überhaupt statt. Wenn das unendliche Bewusstsein aufhört, das<br />

288


endliche Gemüt zu sein, dann wisse, dass die Wurzeln der zyklischen Welterscheinung<br />

(Geburt und Tod) verbrannt sind und da nur noch Vollkommenheit<br />

ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Bewusstsein, das frei von den Begrenzungen des Gemüts ist, wird die innere<br />

Intelligenz genannt; es ist die eigentliche Natur des Nicht-Gemüts und<br />

daher nicht von den Unreinheiten der Konzepte und Ideen befleckt. Das ist<br />

die Wirklichkeit, der grösste Segensreichtum – und dieser Zustand wird das<br />

höchste Selbst genannt; das ist Allwissenheit. Diese Vision kann nicht erlangt<br />

werden, solange das verdorbene Gemüt existiert. Solange es das Gemüt gibt,<br />

florieren die Hoffnungen und Wünsche – und so lange gibt es die Erfahrungen<br />

von Freude und Leid. Das Bewusstsein, welches zur Wahrheit erweckt wurde,<br />

verfällt nicht mehr den Ideen und Konzepten. Obwohl es verschiedenen psychologischen<br />

Erlebnissen unterzogen zu werden scheint, gibt es der Entstehung<br />

der Weltillusion und des Zyklus der Welterscheinung keinen Raum.<br />

Diejenigen, die durch das Studium der Schriften, die Gemeinschaft mit Heiligen<br />

und die unaufhörliche und wachsame Praxis der Wahrheit erweckt sind,<br />

haben ein Bewusstsein erlangt, welches sich im reinen Zustand der Nicht-<br />

Objektivität befindet. Daher sollte man mit aller Kraft das eigene Gemüt aus<br />

Unwissenheit und Schwanken herausholen und es mit dem Studium der<br />

Schriften und der Gesellschaft der Heiligen beschäftigen.<br />

Das Selbst ist die einzige Hilfe für die Realisierung des höchsten Selbst oder<br />

des unendlichen Bewusstseins. Es ist das eigene Selbst, welches danach<br />

strebt, den Kummer und die Sorgen loszuwerden – und dafür ist die Verwirklichung<br />

des eigenen Selbst durch sich selbst der einzige Weg.<br />

Daher, oh Rāma, während du noch in dieser Welt tätig bist (sprechend,<br />

nehmend und gebend), sei ohne das Gemüt und erkenne, dass du reines Bewusstsein<br />

bist. Gib Ideen wie „Dies gehört mir“, „Dies ist er“, „Dies bin ich“ auf,<br />

und sei im Bewusstsein der ungeteilten Wirklichkeit verankert. Solange der<br />

Körper dauert, betrachte die Gegenwart und die Zukunft mit demselben<br />

Gleichmut. Verbleibe auf immer in diesem Bewusstsein des Selbst in allen<br />

Zuständen – Jugend, Mannes- und Greisenalter, in Freude und Schmerz, im<br />

Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Gib die Unreinheit der objektiven Wahrnehmung,<br />

der Hoffnungen und Wünsche auf; sei stets in der Selbsterkenntnis<br />

verankert. Gib Ideen von glückverheißenden und unglückverheißenden Geschehnissen<br />

auf, gib Vorstellungen von Wünschenswertem und Unerwünschtem<br />

auf. Wisse, dass du die Essenz des Bewusstseins bist. Erkenne, dass weder<br />

Subjekt, Objekt noch Tätigkeiten dich berühren; verbleibe ohne irgendwelche<br />

Beunruhigung im reinen Bewusstsein. Wisse: „Ich bin all das “, und<br />

lebe im Wachzustand als ob du im Tiefschlaf wärest. Sei frei von Bedingtheiten<br />

wie Dualität und Nicht-Dualität und verbleibe vollkommen ausgeglichen<br />

im Zustand des reinen Bewusstseins und der Freiheit. Erkenne, dass dieses<br />

kosmische Bewusstsein nicht teilbar ist in ein „Ich“ und „anderes“, und bleibe<br />

daher fest und unerschütterlich.<br />

289


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Durchtrenne sämtliche Fesseln von Wunsch und Verlangen allein mit der<br />

Intelligenz, die unbegrenzt und voll Geduld und Beständigkeit ist, und gehe<br />

jenseits von dharma und adharma. Wenn man fest in der Selbsterkenntnis<br />

verwurzelt ist, verwandelt sich sogar das stärkste Gift in den Nektar der<br />

Unsterblichkeit. Nur wenn diese Selbsterkenntnis von der Unwissenheit<br />

überwältigt wird, entsteht die Täuschung der Welterscheinung im Gemüt. Ist<br />

jemand jedoch fest in der Selbsterkenntnis, welche grenzenlos, unendlich und<br />

unkonditioniert ist, dann kommt die Täuschung oder die Unwissenheit, die<br />

die Welterscheinung entstehen ließen, an ein Ende. Dann wird das Licht deiner<br />

Weisheit in allen vier Himmelsrichtungen dieser Erde leuchten.<br />

Für denjenigen, der gewohnt ist, den Nektar der Unsterblichkeit in der<br />

Form der Selbsterkenntnis zu genießen, sind die Freuden der Sinnesvergnügen<br />

qualvoll. Nur zur Gesellschaft derjenigen, die Selbsterkenntnis erlangt<br />

haben, nehmen wir unsere Zuflucht – alle anderen sind nur Esel in menschlichen<br />

Leibern. So wie Elefanten mit großen Schritten schreiten, so schreiten<br />

die Weisen, die die höheren Stufen des Bewusstseins erlangt haben, mit großen<br />

Schritten in noch höhere Stufen auf. Sie besitzen überhaupt keine äußeren<br />

Hilfen und keine Sonne erleuchtet ihren Pfad – allein die Selbsterkenntnis<br />

ist ihr Licht. Tatsächlich werden sogar die Sonne und die Welten zu Nicht-<br />

Objekten für diejenigen, die jenseits der objektiven Wahrnehmung und des<br />

objektiven Wissens gegangen sind– so wie Lampen ihre Leuchtkraft verlieren,<br />

wenn die Mittagssonne scheint.<br />

Der Weise der Selbsterkenntnis (der Kenner der Wahrheit) ist der höchste<br />

unter denjenigen, die strahlend, glorreich, stark, groß und ausgestattet sind<br />

mit weiteren Eigenschaften, die als die Zeichen der Vorzüglichkeit anerkannt<br />

werden. Diese Weisen leuchten in dieser Welt wie die Sonne, das Feuer, der<br />

Mond und alle Sterne zusammen genommen. Auf der anderen Seite sind<br />

diejenigen, die die Selbsterkenntnis noch nicht erlangt haben, schlimmer<br />

dran als Würmer und Insekten.<br />

Das Gespenst der Täuschung plagt einen nur so lange, wie die Selbsterkenntnis<br />

noch nicht im Menschen aufgestiegen ist. Der unwissende Mensch<br />

ist ewig sorgenvoll, obwohl er alles unternimmt, um die Sorge loszuwerden.<br />

Wahrlich ist er nichts als ein wandelnder Leichnam. Nur der Weise der<br />

Selbsterkenntnis ist ein wirklich lebendiges, fühlendes Wesen. So wie dichte<br />

Wolkenformationen am Himmel das Sonnenlicht verdunkeln, so wird das<br />

Licht der Selbsterkenntnis verdunkelt, wenn das Gemüt aufgrund von Unreinheiten<br />

und Unwissenheit roh ist. Daher sollte man das Verlangen nach<br />

Vergnügen (und zwar diejenigen, die man in der Vergangenheit erfahren hat,<br />

und andere, die man sich für die Zukunft wünscht und nach denen es einen<br />

gelüstet) aufgeben und auf diese Weise nach und nach das Verlangen des<br />

Gemüts nach Vergnügen durch Abgewöhnen schwächer machen. Durch das<br />

Pflegen einer falschen Beziehung mit dem, was nicht das Selbst ist (wie der<br />

Körper und diejenigen, die mit ihm in Verbindung stehen wie Ehepartner,<br />

290


Kinder, Familie und Verwandte usw.) wird das Gemüt grob. Die Wahrnehmungen<br />

von „Ich“ und „mein“ machen das Gemüt schwer und unwissend.<br />

Vertieft wird dies ferner durch das Alter, den Kummer, die Ambitionen, psychische<br />

Schmerzen, Anstrengungen, etwas zu erlangen oder abzuweisen,<br />

Anhaftungen, Gier, Lust nach Wohlstand und Sex und durch das Genießen der<br />

Sinneserfahrungen, die alle in der Unwissenheit und Täuschung gründen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, dieses Gemüt ist wie ein Baum, der fest in diesem verderbten Feld<br />

namens Körper verwurzelt ist. Qualen und Ängste sind seine Blüten, beladen<br />

ist er mit den Früchten des Alters und der Krankheit, er ist geschmückt mit<br />

den Blumen der Wünsche und Sinnesvergnügen; Hoffnungen und Verlangen<br />

sind seine Zweige, und die Perversionen sind seine Blätter. Fälle diesen tödlich<br />

giftigen Baum, der so unbeweglich wie ein Berg aussieht, mit der scharfen<br />

Axt der Erforschung.<br />

Oh Rāma, dieses Gemüt ist wie der Elefant, der den Wald namens Körper<br />

durchstreift. Seine Sichtweise ist von Täuschung umwölkt; es ist einseitig<br />

(indem es sich stets nur auf der konditionierten und unwissenden Seite aufhält);<br />

es ist unfähig, in seiner eigenen Seligkeit zu ruhen; es ist gewalttätig;<br />

obwohl es die Wahrheit zu erlangen wünscht, von der es durch die Weisen<br />

gehört hat, ist es in der Wahrnehmung der Vielfalt gefangen und konditioniert<br />

durch seine eigenen Konzepte von Freude und Schmerz; es ist ausgestattet<br />

mit den scharfen Stoßzähnen der Lust usw. Oh Rāma, du bist der Löwe<br />

unter den Prinzen! Reiße diesen Elefanten mit Hilfe deines Scharfsinns in<br />

Stücke!<br />

Oh Rāma, dieses Gemüt ist wie eine Krähe, die im Nest dieses Körpers<br />

schwelgt. Es wälzt sich im Unrat, es wächst durch den Verzehr von Fleisch, es<br />

durchbohrt die Herzen anderer, es kennt nur seine eigene Sichtweise, die es<br />

als die Wahrheit erachtet, es ist voller Finsternis aufgrund seiner stetig wachsenden<br />

Dummheit, es ist voller böser Neigungen und ergeht sich in aggressiven<br />

Ausdrucksformen. Es ist auf dieser Erde eine Last, oh Rāma – weise es<br />

weit, weit weg von dir!<br />

Oh Rāma, dieses Gemüt ist wie ein Gespenst. Bedient wird es von dem<br />

weiblichen Kobold Begierde; es ruht im Wald der Unwissenheit; aus Täuschung<br />

wandert es in zahllosen Körpern umher. Wie kann man die Selbsterkenntnis<br />

erlangen, wenn man dieses Gespenst nicht mit Hilfe von Weisheit<br />

und Leidenschaftslosigkeit, der Gnade des Guru, der Eigenbemühung, dem<br />

Singen von Mantras usw. besiegt?<br />

Oh Rāma, dieses Gemüt ist wie die giftige Schlange, die schon zahllose Lebewesen<br />

getötet hat. Vernichte es mit dem Adler der wirksamen meditativen<br />

Formel oder Anweisung.<br />

Oh Rāma, dieses Gemüt ist wie ein Affe. Es hüpft von einem Ort zum nächsten,<br />

sucht nach Früchten (den Belohnungen und Vergnügen usw.), springt und<br />

291


tanzt nach der Pfeife dieses Weltzyklus und unterhält die Leute. Halte es auf<br />

allen Ebenen zurück, wenn du nach der Vollkommenheit strebst.<br />

Oh Rāma, dieses Gemüt ist wie eine Wolke der Unwissenheit – vertreibe sie<br />

durch die wiederholte Zurückweisung aller Konzepte und Ideen.<br />

So wie eine furchtbare Waffe durch eine noch mächtigere zerstört wird, so<br />

beruhige das Gemüt mit Hilfe des Gemüts selbst. Gib für immer jede mentale<br />

Erregtheit auf. Verbleibe in Frieden mit dir selbst wie ein Baum, der nicht<br />

mehr durch die unsteten Affen gestört wird.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Uddālaka<br />

Oh Rāma, verlasse dich nicht auf subtile und scharfsinnige Konzepte und<br />

Ideen des Gemütes. Das Gemüt wurde durch die Zeit zusammengesetzt und<br />

erlangte so große Stärke. Bringe es mit Hilfe der Weisheit unter Kontrolle,<br />

bevor die Zeit diese Kletterpflanze, genannt Körper, zu Fall bringt. Durch das<br />

inbrünstige Kontemplieren meiner Worte wirst du die höchste Seligkeit erlangen.<br />

Ich werde dir nun erzählen, oh Rāma, wie einst der Weise Uddālaka die<br />

höchste Sichtweise der Wahrheit erlangte.<br />

Irgendwo in einem Winkel der Erde gibt es einen großen Berg, der<br />

Gandhamādana genannt wird. Auf einem seiner Gipfel gab es einen großen<br />

Baum. Dort lebte der Weise Uddālaka. Schon als Knabe trachtete er durch<br />

seine eigene Bemühung, die allerhöchste Weisheit zu erlangen. Natürlich<br />

verstand er zu der Zeit noch sehr wenig, und er hatte eine ruheloses Gemüt,<br />

obgleich er ein reines Herz besaß. Er befasste sich mit Askesepraktiken, dem<br />

Studium der Schriften usw., und eines Tages stieg die Weisheit in ihm auf.<br />

Als er so allein dasaß, dachte der WEISE UDDALĀKA folgendermaßen nach:<br />

Was ist die Befreiung, die man als das allerhöchste unter den erstrebenswerten<br />

Zielen betrachtet, nach deren Erlangung man kein Leid mehr erfährt<br />

und nicht wiedergeboren wird? Wann werde ich in diesem Zustand ruhen?<br />

Wann werden die mentalen Erregungen, verursacht durch Wünsche und<br />

Verlangen, aufhören? Wann werde ich frei sein von Gedanken wie „Dies habe<br />

ich getan“ und „Dies sollte ich tun“? Wann wird mein Gemüt, auch wenn es<br />

hier in Beziehungen ist, aufhören, mentalen Verzerrungen unterworfen zu<br />

sein, so wie der Lotos, obwohl im Wasser lebend, nicht von diesem nass wird?<br />

Wann werde ich endlich, mit dem Boot der höchsten Weisheit, das andere<br />

Ufer der Befreiung erreichen? Wann werde ich fähig sein, auf die verschiedenen<br />

Handlungen der Leute zu blicken, spielerisch wie ein Kind? Wann wird<br />

V:51<br />

292


das Gemüt die äußerste Stille erlangen? Wann wird die illusorische Trennung<br />

zwischen der subjektiven und objektiven Erfahrung enden aufgrund der<br />

Erfahrung des unendlichen Bewusstseins? Wann werde ich in der Lage sein,<br />

dieses Konzept namens Zeit anzuschauen, ohne in es involviert zu sein? Wann<br />

werde ich in einer Höhle leben mit einem Gemüt in äußerster Ruhe, und wie<br />

ein Felsen sein in dem Zustand, in dem es überhaupt keine Gedankenbewegungen<br />

mehr gibt?<br />

So nachdenkend setzte Uddālaka seine Praxis der Meditation fort. Sein Gemüt<br />

blieb aber unruhig. An manchen Tagen jedoch gab sein Gemüt die äußeren<br />

Objekte auf und ruhte in einem Zustand der Reinheit. An anderen Tagen<br />

wiederum befand es sich in einem Zustand großer Unruhe. Stark verunsichert<br />

von diesen wechselnden Stimmungen, durchwanderte Uddālaka den<br />

Wald. Eines Tages kam er zu einem einsamen Platz, wo zuvor noch niemand<br />

gewesen war. Dort sah eine Höhle, die wie geschaffen war für das Erlangen<br />

von höchstem Frieden und Stille. Es war ein wunderschöner Ort mit herrlichen<br />

Pflanzen und Blumen überall, mit einem milden Klima, und er sah aus,<br />

als wäre er aus einem Smaragd herausgearbeitet worden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Uddālaka betrat die wunderschöne Höhle und saß dort in der Meditationshaltung.<br />

In der Absicht, einen Geisteszustand ohne alle Bewegung von Gedanken<br />

zu erreichen, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die unterschwelligen<br />

Neigungen seines Gemüts.<br />

UDDALĀKA dachte in sich wie folgt nach:<br />

Oh Gemüt! Was hast du zu schaffen mit dieser Welterscheinung? Weise<br />

Menschen meiden den Kontakt mit dem, was Vergnügen genannt wird und<br />

sich nur zu bald in Schmerz verwandelt. Wer den höchsten Frieden, der nur<br />

im eigenen Innern liegt, leichtfertig aufgibt und nach Sinnesvergnügen sucht,<br />

verlässt seinen herrlichen Garten und gerät in ein Feld voller giftiger Kräuter.<br />

Du magst gehen, wohin du möchtest – niemals wirst du den höchsten Frieden<br />

genießen außer durch vollkommene Stille. Gib daher sämtliche Hoffnungen<br />

und Wünsche auf. Denn alle diese scheinbar so wundervollen Objekte in der<br />

Natur sind, seiend oder nicht-seiend, nicht zu deinem Wohlergehen da.<br />

Ende nicht wie der Hirsch, der wegen des Klanges von Musik und Glocken<br />

in die Falle gerät; verende nicht wie der Elefant, der mit Hilfe des weiblichen<br />

Elefanten gefangen wird; ende auch nicht wie der Fisch, dessen Geschmackssinn<br />

den Tod am Angelhaken herbeiführt; ende nicht wie die Motte, die von<br />

der Flamme angelockt wird und darin umkommt; ende auch nicht wie die<br />

Biene, deren Geruchssinn sie zur Blume führt, in der sie gefangen wird und<br />

stirbt, wenn sich die Blume zur Nachtzeit schließt.<br />

Oh närrisches Gemüt! Alle diese kamen um, weil sie sich der Anziehungskraft<br />

nur eines einzigen Sinnes hingegeben hatten: Der Hirsch durch den<br />

Gehörsinn, die Biene durch den Geruchssinn, die Motte durch den Gesichtssinn,<br />

der Elefant durch den Berührungssinn und der Fisch durch den Ge-<br />

V:52<br />

293


schmackssinn. Du aber bist das Opfer all dieser fünf verführerischen Sinne –<br />

wie kannst du glücklich sein? So wie die Seidenraupe den Kokon spinnt, in<br />

dem sie sich selbst einsperrt, so hast du den Kokon deiner eigenen Konzepte<br />

gewoben und bist darin gefangen. Wenn du dich von all dem befreien kannst,<br />

Reinheit erlangst, die Lebensangst und die Todesfurcht überwindest und auf<br />

diese Weise völligen Gleichmut entwickelst, dann hast du den größten Sieg<br />

errungen. Wenn du aber an diesem stetig wechselhaften Phänomen namens<br />

Welt festhältst, dann wirst du gewiss in nicht endender Sorge umkommen.<br />

Weshalb unterweise ich dich auf diese Weise, oh Gemüt? Weil man nach einer<br />

eifrigen Untersuchung der Wahrheit entdeckt, dass es überhaupt kein<br />

Ding wie ein Gemüt gibt! Das Gemüt ist nur ein Produkt der Unwissenheit –<br />

sobald die Unwissenheit verschwindet, dann verschwindet auch das Gemüt.<br />

Von jetzt an befindest du dich in diesem Prozess des Verschwindens. Es ist<br />

unweise und närrisch, jemanden zu unterweisen, der sich im Prozess der<br />

Auflösung befindet! Da du nun Tag um Tag schwächer und schwächer wirst,<br />

schwöre ich dir ab – weise Menschen unterweisen nicht jemanden, der als<br />

hoffnungslos aufgegeben worden ist.<br />

Oh Gemüt – ich bin das egolose, unendliche und einheitliche Bewusstsein;<br />

nichts habe ich mit dir, der Ursache des Egos, zu tun.<br />

UDDALĀKA fuhr fort nachzudenken:<br />

Das unendliche Selbst kann unmöglich in das Gemüt hineingezwängt werden,<br />

wie auch ein Elefant nicht in eine Walnuss gezwängt werden kann. Das<br />

Bewusstsein, das sich durch den Vorgang der Selbstbegrenzung auf die Endlichkeit<br />

(und damit auf Konzepte und Ideen) beschränkt hat, wird das Gemüt<br />

genannt und ist das Ergebnis der Unwissenheit –ich akzeptiere es daher<br />

nicht. Der Ich-Sinn ist nichts als ein Kinderglaube und wird nur von jemandem<br />

für wahr gehalten, der die Wahrheit nicht erforscht hat.<br />

Ich habe alles sorgfältig erforscht, ich habe alles von Kopf bis Fuß beobachtet,<br />

und ich habe dabei nichts entdeckt, von dem ich sagen könnte: „Dies bin<br />

ich“. Wer soll „Ich“ sein? Ich bin das alles durchdringende Bewusstsein, welches<br />

selbst kein Objekt des Wissens oder des Kennens und frei von der<br />

Selbstbezogenheit ist. Ich bin das, was unteilbar ist, was weder Name hat<br />

noch wandelhaft ist, was jenseits aller Konzepte von Einheit und Vielfalt ist,<br />

was jenseits aller Messungen (klein und groß) ist und außer dem nichts existiert.<br />

Folglich, oh Gemüt, schwöre ich dir ab, denn du bist die Quelle der Sorge.<br />

In diesem Körper, in dem es Fleisch, Knochen, Blut usw. gibt – wer sagt da:<br />

„Dies bin ich“? Bewegung ist die Natur der Energie, Denken ist dem Bewusstsein<br />

eigen, Alter und Tod sind natürlich für den Körper – wer sagt da: „Dies<br />

bin ich“? Dies ist die Zunge, dies sind die Ohren, dies ist die Nase, dies ist<br />

Bewegung und dies sind die Augen – wer sagt da: „Dies bin ich“? Ich bin<br />

nichts von diesem – weder bin ich du, oh Gemüt, noch diese Konzepte. Tatsächlich<br />

bin ich nichts anderes als das unendliche Bewusstsein – rein und<br />

294


unabhängig. „Ich bin all dies“ oder „Da ist kein Ich“ – beides ist der Ausdruck<br />

derselben Wahrheit, und nichts anderes ist wahr.<br />

Oh weh! So lange war ich das Opfer der Unwissenheit! Glücklicherweise habe<br />

ich entdeckt, was mir die Selbsterkenntnis geraubt hat! Nie wieder werde<br />

ich das Opfer der Unwissenheit sein. So wie die auf dem Berg ruhende Wolke<br />

nicht Teil des Berges ist, so bin ich frei von allem Kummer, und obwohl es so<br />

aussieht, als würde Kummer zu mir gehören, bin ich völlig unabhängig davon.<br />

In Abwesenheit der Selbsterkenntnis entstand der Ich-Sinn, aber jetzt bin ich<br />

völlig frei davon. Lass den Körper, die Sinne usw. sein oder verderben – nichts<br />

habe ich mit diesen zu tun. Die Sinne (die Augen usw.) existieren, um ihrer<br />

selbst willen mit ihren Erfahrungsgegenständen in Kontakt zu kommen – wer<br />

ist das Ich, welches irrtümlicherweise denkt: „Dies bin ich“ oder „Ich sehe“<br />

usw.? Diese Augen usw. sehen oder erfahren ihre Objekte auf natürliche Weise,<br />

ohne dazu durch vorherige Konditionierung genötigt zu sein. Folglich sind<br />

Handlungen, die spontan und ohne jede mentale Konditionierung ausgeführt<br />

werden, in ihrer Erfahrung rein und frei von Erinnerungen an vergangenes<br />

Glück oder Unglück. Daher, oh ihr Sinne, setzt eure Tätigkeiten fort, ohne über<br />

die Fußangel der Erinnerung zu stolpern. Diese Erinnerung oder mentale<br />

Konditionierung ist keine Tatsache, sondern in Wahrheit nicht-verschieden<br />

und nicht unabhängig vom unendlichen Bewusstsein. Sie kann daher leicht<br />

aufgelöst werden, indem man sie im Bewusstsein nicht wiederbelebt. Folglich,<br />

oh Gemüt, gib die Wahrnehmung der Vielfalt auf und erkenne, wie unreal<br />

die Idee deiner eigenen unabhängigen Existenz im unendlichen Bewusstsein<br />

ist – darin besteht die Befreiung.<br />

UDDALĀKA fuhr fort nachzudenken:<br />

In Wahrheit kann Bewusstsein nicht konditioniert werden – es ist unbegrenzt<br />

und subtiler als das subtilste Atom und folglich jenseits der Beeinflussung<br />

durch die mentale Konditionierung. Das Gemüt ruht im Ich-Sinn und das<br />

reflektierte Bewusstsein in den Sinnen – von daher taucht die Illusion der<br />

Selbstbegrenzung des Bewusstseins auf. Wenn dies wieder und wieder erfahren<br />

und ins Denken übernommen wird, erlangen der Ich-Sinn und die Illusion<br />

der Selbstbegrenzung eine scheinbare Realität. Jedoch bin ich Bewusstsein –<br />

unberührt von all diesem.<br />

Lass den Körper weiter in einer Welt leben, die durch seine unwissenden<br />

Aktivitäten ins Leben gerufen worden ist, oder er kann sie aufgeben – Ich bin<br />

Bewusstsein, das unberührt von all diesem ist. Bewusstsein, das unendlich<br />

und allesdurchdringend ist, hat weder Geburt und Tod, noch hat es einen<br />

Besitzer. Da es allesdurchdringend ist, hat es nichts zu gewinnen, wenn es als<br />

getrennte Einheit „lebt“. Geburt und Tod sind mentale Konzepte – das Selbst<br />

hat nichts mit ihnen zu schaffen. Nur das, was die Vorstellung des Ich-Sinns<br />

unterhält, kann ergriffen und gebunden werden – das Selbst ist frei vom Ich-<br />

Sinn und daher jenseits von Sein und Nicht-Sein.<br />

Der Ich-Sinn ist nichtige Illusion, das Gemüt ist wie eine Luftspiegelung,<br />

und die Objekte der Welt sind leblose Substanzen – wo ist da derjenige, der<br />

V:53<br />

295


sagt: „Ich bin“? Der Körper ist ein Aggregat aus Fleisch, Blut usw., das Gemüt<br />

verschwindet bei der Erforschung seiner wahren Natur, die Selbstbegrenzung<br />

des Bewusstseins und ähnliche andere Konzepte sind leblos (unsinnig) – was<br />

ist dann das Ego? Die Sinne existieren und sind immer mit selbstzufriedener<br />

Tätigkeit befasst; die Substanzen der Welt sind die Substanzen der Welt – wo<br />

ist das Ego? Die Natur ist Natur und ihre Qualitäten agieren und reagieren<br />

aufeinander (wie das Auge und das Licht, das Ohr und der Klang usw.), und<br />

was ist, ruht im Selbst – wo ist das Ego?<br />

Das Selbst, welches Bewusstsein ist, existiert als das Höchste Selbst von allem-<br />

überall zu jeder Zeit in allen Körpern. Wer bin ich, aus was bin ich gemacht,<br />

was ist meine Gestalt, gemacht von wem; was soll ich erwerben und<br />

was verwerfen? Da ist nichts, was „Ich“ genannt werden könnte und Sein und<br />

Nicht-Sein unterworfen ist. Wenn es doch in Wahrheit keinen Ich-Sinn gibt –<br />

auf was und wen könnte sich der Ich-Sinn beziehen? Wenn also erkannt wird,<br />

dass es keinerlei Beziehung gibt, dann schwindet die falsche Vorstellung von<br />

Dualität. Deshalb, was als einziges immer ist, ist das eine kosmische Sein<br />

(Brahman oder das Selbst). Ich bin diese Wirklichkeit – weshalb leide ich<br />

unter Illusionen? Wenn doch nur dieses Eine als das allgegenwärtige, reine<br />

Sein existiert, wie kann dann etwas auftauchen, das Ich-Sinn genannt wird? In<br />

Wahrheit hat keine Substanz echte Substantialität – das Selbst allein existiert.<br />

Nimmt man dagegen an, dass Substantialität doch existiere, dann gilt immer<br />

noch, dass es keinerlei Beziehung zwischen dieser und dem Selbst gibt. Die<br />

Sinne funktionieren als Sinne, das Gemüt existiert als Gemüt, das Bewusstsein<br />

ist unberührt von all dem – was ist Beziehung, und wie ist sie entstanden?<br />

Nur weil sie Seite an Seite existieren, ist es nicht korrekt, eine Beziehung<br />

zwischen ihnen anzunehmen - ein Stein und ein Eisenstab können nebeneinander<br />

liegen, ohne irgendeine Art von Beziehung miteinander zu haben.<br />

UDDALĀKA fuhr fort nachzudenken:<br />

Es geschieht nur beim Auftauchen dieses falschen Ich-Sinnes, dass die irrigen<br />

Vorstellungen von „Dies ist mein“ und „Das ist sein“ entstehen. Und sobald<br />

gesehen wird, dass all diese die Tricks des falschen Ich-Sinns sind, hören<br />

diese falschen Ideen auf zu existieren. In Wahrheit ist da nichts als das Selbst<br />

– und ich erkenne, dass all dies das eine kosmische Sein oder Brahman ist.<br />

Die Täuschung, genannt Ich-Sinn, ist wie die Bläue des Himmels – es ist besser,<br />

diese Vorstellung nicht zu nähren, sondern sie aufzugeben. Nachdem ich<br />

nun die Wurzel des Ich-Sinns aufgegeben habe, ruhe ich im Selbst, das die<br />

Natur des Friedens besitzt.<br />

Der Ich-Sinn ist die Quelle endloser Sorgen, Leiden und böser Taten. Leben<br />

endet mit dem Tod und Tod führt zu Geburt; was ist, wird schließlich durch<br />

sein eigenes Ende abgebrochen – diese vom Ich-Sinn unterhaltenen Ideen<br />

führen zu großem Kummer. Gedanken wie „Ich habe dies nun erhalten“ oder<br />

„Ich sollte jenes auch noch erhalten“ verursachen Angst und quälen den Unwissenden.<br />

„Dies ist“ und „Dies ist nicht“ – Vorstellungen dieser Art bewirken<br />

im Selbstsüchtigen große Ruhelosigkeit. Hört jedoch der Ich-Sinn auf, dann<br />

296


wird auch diese illusorische Welterscheinung nicht länger genährt und alles<br />

Verlangen kommt an ein Ende.<br />

Dieses Universum ist gewiss ohne eine Ursache entstanden - wie kann man<br />

die Wahrheit einer Schöpfung akzeptieren, die ohne eine Ursache oder einen<br />

Zweck ins Sein getreten ist? Seit unausdenklicher Zeit sind alle diese Körper<br />

stets im kosmischen Sein enthalten, so wie Töpfe für immer im Ton enthalten<br />

sind. So wie der Ozean in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Ozean<br />

existiert und ein und dasselbe Wasser eine Zeitlang die Gestalt einer Welle<br />

annimmt, so ist alles hier für alle Zeiten das kosmische Sein. Nur ein Narr<br />

unterhält die Idee „Dies bin ich“ in Bezug zu dieser temporären Erscheinung,<br />

die Körper usw. genannt wird.<br />

Auf dieselbe Weise war das Gemüt am Anfang Bewusstsein und wird auch<br />

am Ende wieder Bewusstsein sein (nachdem seine Natur und seine Funktionsweise<br />

als das Gemüt aufgehört haben). Weshalb sollte es dann in der Mitte<br />

(also jetzt) anders genannt werden?<br />

Alle diese Phänomene scheinen eine flüchtige Natur zu haben wie Traumerscheinungen,<br />

Visionen in einem Delirium, Halluzinationen eines Trunkenbolds,<br />

optische Täuschungen, psychosomatische Erkrankungen, emotionale<br />

Störungen und psychotische Zustände. Jedoch hast du, oh Gemüt, diesen<br />

Dingen eine dauerhafte Realität verliehen, so wie ein Liebhaber leidet, wenn<br />

er sich einbildet, von seiner Geliebten getrennt zu sein. Aber natürlich ist dies<br />

nicht dein Fehler – es ist der meine, da ich immer noch die Idee habe, dass du,<br />

mein Gemüt, ein reales Ding seiest. Sobald ich erkenne, dass alle diese Phänomene<br />

nichts als illusorische Erscheinungen sind, wirst du zum Nicht-<br />

Gemüt und sämtliche Erinnerungen an Sinneserfahrungen usw. gelangen an<br />

ihr Ende. Wenn Bewusstsein sich selbst erkennt und seine selbstbegrenzende<br />

mentale Konditionierung ablegt, wird das Gemüt frei von seinen Färbungen<br />

und ruht in seiner essenziellen Natur, die Bewusstsein ist. Sobald das Gemüt<br />

all seine Glieder sammelt und sich selbst dem Feuer des reinen Bewusstseins<br />

darbietet, wird es gereinigt und erlangt die Unsterblichkeit.<br />

UDDALĀKA fuhr fort nachzudenken:<br />

Wenn das Gemüt erkennt, dass der Körper verschieden von ihm ist, wenn<br />

es die eigene Konditioniertheit (die Konzepte) aufgibt und seine eigene flüchtige<br />

Natur wahrnimmt, dann ist dies ein großer Sieg. Gemüt und Körper sind<br />

einer des anderen Widersacher – folglich bringt die Vernichtung der beiden<br />

höchstes Glück. Denn sobald sie zusammenkommen, entsteht aufgrund ihrer<br />

wechselseitigen Feindschaft eine Unzahl Leiden.<br />

Das Gemüt gebiert den Körper aus seiner eigenen Gedankenkraft heraus,<br />

und während der gesamten Lebenszeit des Körpers füttert das Gemüt diesen<br />

mit seinen (des Gemüts) eigenen Sorgen. Und so von Sorgen gequält, wünscht<br />

der Körper das Gemüt, seinen eigenen Vater, zu vernichten! In dieser Welt<br />

gibt es weder Freund noch Feind – was uns Freude bereitet, ist unser Freund,<br />

und was uns Schmerzen verursacht, ist unser Feind!<br />

297


Wenn folglich Gemüt und Körper beständig mit der gegenseitigen Zerstörung<br />

befasst sind – wie kann es da Glücklichsein geben? Nur die Vernichtung<br />

des Gemüts kann dauerhaftes Glück bieten – daher versucht der Körper jeden<br />

Tag aufs Neue das Gemüt zu beseitigen (im Tiefschlaf). Bis jedoch die Selbsterkenntnis<br />

erlangt ist, fördert eines unwissentlich stets die Stärke des andern;<br />

und sie scheinen für einen gemeinsamen Zweck zusammenzuarbeiten –<br />

so wie Feuer und Wasser, obwohl von Natur aus einander entgegengesetzt,<br />

für einen gemeinsamen Zweck zusammenarbeiten (nämlich zum Kochen).<br />

Wenn das Gemüt aufhört zu sein, dann hört auch der Körper aufgrund des<br />

Aufhörens der Gedankenkraft und der mentalen Konditionierung auf; jedoch<br />

hört das Gemüt nicht einfach auf, wenn der Körper stirbt. Daher sollte man<br />

mit allen Kräften danach streben, das Gemüt zu töten. Das Gemüt ist wie ein<br />

Wald mit den Gedankenformen als Bäume und dem Verlangen als Büsche und<br />

Sträucher. Indem ich dies alles vernichte, erlange ich Seligkeit. Wenn das<br />

Gemüt erst einmal tot ist, dann ist es für mich gleichgültig, ob der aus Fleisch<br />

und Blut zusammengesetzte Körper existiert oder nicht. Dass ich nicht der<br />

Körper bin, ist offensichtlich, denn der Leichnam ist leblos!<br />

Wo die Selbsterkenntnis ist, dort sind weder das Gemüt noch die Sinne;<br />

auch nicht die Neigungen und Gewohnheiten (die Konzepte und Ideen). Ich<br />

habe diesen höchsten Zustand erlangt – ich bin siegreich hervorgegangen! Ich<br />

habe Befreiung (nirvāïa) erlangt. Ich habe mich über sämtliche Beziehungen<br />

mit Gemüt, Körper und den Sinnen erhoben, sowie das Öl, welches aus dem<br />

Samen gepresst wird, keinerlei Gemeinsamkeit mehr mit dem Samen hat. Für<br />

mich sind nun das Gemüt, der Körper und die Sinne Spielzeuge. Reinheit,<br />

vollkommene Erfüllung aller Wünsche (daher ihre völlige Abwesenheit),<br />

Freundlichkeit gegenüber allen, Weisheit, Stille und Seligkeit, Sanftheit der<br />

Rede, edler Großmut, Glanz, Einsgerichtetheit, Verwirklichung der kosmischen<br />

Einheit, Furchtlosigkeit, Abwesenheit des geteilten Bewusstseins, Klarheit<br />

des Verstandes – alle diese sind meine ständigen Begleiter. Da stets und<br />

immer alles an jedem Ort auf seine Art und Weise geschieht, gibt es in mir<br />

weder Wunsch noch Abneigung gegen irgendetwas, sei dies nun erfreulich<br />

oder unerfreulich. Da alle Täuschungen geendet haben, da das Gemüt aufgehört<br />

hat zu sein und alle bösen Gedanken verschwunden sind, ruhe ich im<br />

Frieden in meinem Selbst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Weise Uddālaka setzte sich dann zum meditieren in die Lotosposition,<br />

mit halbgeschlossenen Augen. Er sprach das heilige Wort OM aus, welches<br />

den höchsten Zustand verleiht. Er intonierte OM so, dass die Vibrationen sein<br />

ganzes Wesen bis zur Krone seines Kopfes erfüllten. Als ersten Teil seiner<br />

Übung atmete er vollständig aus. Es war, als würde die gesamte Lebenskraft<br />

den Körper aufgeben und frei im Raum (Dimension) des reinen Bewusstseins<br />

schweben. Das Feuer, das nun in seinem Herzen entstand, verbrannte seinen<br />

ganzen Körper. (Diese Übungen praktizierte Uddālaka ohne die gewaltsamen<br />

Disziplinen des Hatha <strong>Yoga</strong>, denn Hatha <strong>Yoga</strong> führt zu Schmerzen).<br />

V:54<br />

298


Mit der zweiten Äußerung des heiligen Wortes OM erlangte er den Zustand<br />

völligen inneren Gleichgewichts, und nun geschah in ihm eine spontane Zurückhaltung<br />

des Atems (der Lebenskraft) ohne Erregung oder Vibration. Die<br />

Lebenskraft stand still – weder außerhalb noch innerhalb, weder unterhalb<br />

noch oberhalb. Nachdem das Feuer den Körper zu Asche verbrannt hatte,<br />

brannte es sich selber aus und verschwand; nur noch die reine Asche war<br />

sichtbar. Es war so, als wären die Knochen zu reinem Kampfer geworden,<br />

welcher in Anbetung verbrannt wurde. Die Asche wurde sodann von einem<br />

machtvollen Wind hinweggeblasen und im Raum zerstreut. (All dies geschah<br />

ohne die gewaltsamen Disziplinen des Hatha <strong>Yoga</strong>, denn Hatha <strong>Yoga</strong> führt zu<br />

Schmerzen).<br />

Im dritten Stadium, als das heilige Wort OM seinen Höhepunkt oder die<br />

vollkommene Stille erreichte, kam die Einatmung ganz von selbst (das Einziehen<br />

der Lebenskraft). Während dieses Stadiums verteilten sich die Lebenskräfte,<br />

die im Zentrum des Nektars des Bewusstseins konzentriert waren,<br />

im Raum wie eine kühle Brise. Diese Kräfte erreichten schließlich die<br />

Region des Mondes. Dort breiteten sie sich als segensreiche Strahlen aus und<br />

regneten anschließend auf die Asche nieder, die vom Körper übrig geblieben<br />

war.<br />

Unverzüglich erhob sich aus der Asche ein strahlendes Wesen mit vier Armen,<br />

wie Lord Vi«ïu. Uddālaka leuchtete wie eine Gottheit; sein gesamtes<br />

Wesen hatte sich in eine Gottheit verwandelt. Die Lebenskraft erfüllte nun die<br />

innere kuï¬alinÅ, die sich in Form einer Spirale ausdehnte. So wurde<br />

Uddālakas Körper vollkommen gereinigt. Dann nahm er, der bereits in der<br />

Lotosposition saß, eine noch festere Haltung ein, band seine Sinne fest zusammen<br />

und setzte seine Bemühung fort, sein Bewusstsein absolut frei von<br />

der geringsten Gedankenbewegung zu halten. Mit aller Kraft zog er sein Gemüt<br />

von den Quellen der Zerstreutheit zurück. Seine halbgeschlossenen<br />

Augen blieben still und bewegungslos. Mit seinem Gemüt, verankert in der<br />

inneren Stille, glich er die Bewegung der Zwillings-Lebenskräfte, prāïa und<br />

apāna, aus. Er zog seine Sinne von jedem Kontakt mit ihren Objekten zurück –<br />

so wie Öl vom Samen getrennt wird. Daraufhin erlangte er ein unmittelbares<br />

Gewahrsein der mentalen Konditionierung, wie sie durch vergangene Erfahrungen<br />

erzeugt worden war, und er dekonditionierte das Gewahrsein und<br />

machte es rein. Schließlich schloss er fest sein Rektum und die übrigen Körperöffnungen<br />

(die Augen usw.). Indem er so seine Lebenskraft und sein Gewahrsein<br />

durch vollkommene Selbstbeherrschung an der Veräußerlichung<br />

hinderte, bewahrte er sein Gemüt im Herzen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Uddālakas Gemüt hatte einen Zustand absoluter Stillheit erreicht – keinerlei<br />

Zerstreuung konnte ihn berühren. In seinem Herzen nahm er auf direkte<br />

Weise die Finsternis der Unwissenheit wahr, die das Licht der Selbsterkenntnis<br />

verdunkelt hatte. Mit dem Licht der Erkenntnis, welche in ihm auftauchte,<br />

zerstreute er sogar diese Finsternis. Dann nahm er in sich ein Licht wahr.<br />

299


Wenn dieses Licht schwächer wurde, überkam ihn der Schlaf. Jedoch vertrieb<br />

der Weise nun auch noch die Dumpfheit des Schlafes. Sobald die Trunkenheit<br />

des Schlafes vertrieben worden war, ließ das Gemüt des Weisen plötzlich<br />

verschiedene leuchtende Formen aufsteigen. Der Weise beseitigte diese Formen<br />

aus seinem Bewusstsein. Anschließend wurde er von einer großen Trägheit<br />

befallen; wie ein Betrunkener. Auch diese Trägheit überwand er. Danach<br />

ruhte sein Gemüt in einem weiteren Zustand, der von allen bis jetzt beschriebenen<br />

verschieden war. Nachdem er eine Weile in diesem Zustand geruht<br />

hatte, erwachte sein Gemüt jedoch wieder zur Erfahrung der Totalität der<br />

Existenz. Unverzüglich danach erfuhr er reines Gewahrsein. Dieses Gewahrsein,<br />

welches bis dahin mit anderen, unreinen Faktoren vermischt war, hatte<br />

nun seine Reinheit und Unabhängigkeit wiedererlangt, wie wenn lehmiges<br />

Wasser in einem Topf völlig verdunstet ist, so dass der Lehm eins mit dem<br />

Topf wird, der aus derselben Substanz gemacht ist. So wie eine Welle im<br />

Ozean verschwindet und eines und nichtverschieden von diesem wird, so gab<br />

das Bewusstsein seine Objektivität auf und erlangte seine absolute Reinheit<br />

wieder. Uddālaka war erleuchtet. Er erfreute sich der höchsten Seligkeit, wie<br />

sie nur Götter wie Brahmā erfahren. Sein Zustand befand sich jenseits jeder<br />

Beschreibung. Er war eins mit dem Ozean der Seligkeit.<br />

Schon bald nahm Uddālaka in diesem unendlichen Bewusstsein große Weise<br />

wahr. Er ignorierte sie. Er fuhr damit fort, die Erfahrung der höchsten<br />

Seligkeit zu vertiefen. Er erlangte den Zustand desjenigen, der „noch im Körper<br />

weilend befreit ist“. Er nahm die Götter und Weisen und sogar die Personen<br />

der Trinität wahr. Er ging auch über diesen Zustand hinaus. Er war nun<br />

vollständig verwandelt in Seligkeit selbst und befand sich daher bereits jenseits<br />

des Reiches der Seligkeit. Er erfuhr nun weder Seligkeit noch Nicht-<br />

Seligkeit. Er wurde zu reinem Bewusstsein. Wer dieses auch nur für einen<br />

winzigen Moment erfährt, interessiert sich nicht einmal mehr für die Freuden<br />

des Himmels. Dies ist der höchste Zustand – dies ist das Ziel – dies ist die<br />

ewige Heimat. Wer darin ruht, wird nie wieder getäuscht und ist nicht länger<br />

in der Subjekt-Objekt-Beziehung gefangen. Er ist voll erwacht und unterhält<br />

niemals wieder Ideen der Objektivität oder Konzeptualisierung. Ganz gewiss<br />

ist dies nicht eine „Erlangung von etwas“.<br />

Uddālaka blieb sechs Monate in diesem Zustand, dabei wachsam jede Verführung<br />

durch erwachende psychische Kräfte vermeidend. Sogar Weise und<br />

Götter verehrten ihn. Er wurde in den Himmel eingeladen – er schlug die<br />

Einladung aus. Völlig frei von allen Wünschen wanderte Uddālaka als ein<br />

noch zu Lebzeiten befreiter Weiser umher. Oft verbrachte er Tage und Monate<br />

in Meditation in den Höhlen der Berge. Zu anderen Zeiten wiederum widmete<br />

er sich den gewöhnlichen Betätigungen des Alltags, befand sich dabei jedoch<br />

stets in einem Zustand vollkommenen Gleichmuts. Alles betrachtete er mit<br />

demselben Auge des Gleichmuts. Sein inneres Licht leuchtete immerfort –<br />

weder wurde es heller noch schwächte es sich ab. Ohne die geringste Vorstellung<br />

von Dualität lebte er frei vom Körperbewusstsein; verankert in reinem<br />

Sein.<br />

300


V:55<br />

Als Antwort auf Rāmas Frage betreffend das reine Sein erwiderte<br />

VASIåèHA:<br />

Wenn das Gemüt aufgrund der totalen Abwesenheit aller Ideen der materiellen<br />

Existenz aufgehört hat, dann existiert das Bewusstsein in seiner eigenen<br />

Natur als Bewusstsein, und dies ist, was als reines Sein bezeichnet wird.<br />

Sobald Bewusstsein, ohne jede Vorstellung von Objektivität, sich in sich selbst<br />

verliert und seine getrennte Identität verliert, wird es zu reinem Bewusstsein.<br />

Sobald alle äußeren (materiellen) und inneren (Vostellungs-) Objekte im<br />

Bewusstsein verschmelzen, ist da das reine Sein des Bewusstseins. Dies ist<br />

die höchste Sicht, die allen Befreiten zuteil wird, ob sie nun einen Körper zu<br />

besitzen scheinen oder nicht. Diese Sicht wird nur von demjenigen erfahren,<br />

der „erwacht“ ist, demjenigen, der sich in einem Zustand tiefer Kontemplation<br />

befindet, und demjenigen, der ein Mensch der Selbsterkenntnis ist. Sie<br />

wird nicht von der unwissenden Person erfahren. Weise und die Personen<br />

der Trinität sind in diesem Bewusstsein verankert. Oh Rāma – als Uddālaka<br />

diesen Zustand des Bewusstseins erlangt hatte, lebte er noch einige Zeit.<br />

Eines Tages entstand dann in seinem Gemüt der Wunsch: „Ich will diesen<br />

verkörperten Zustand aufgeben.“ Er begab sich in eine Berghöhle und setzte<br />

sich in die Lotosposition, mit halbgeschlossenen Augen. Er schloss die neun<br />

Tore des Körpers, indem er die Ferse gegen das Rektum presste usw. Er zog<br />

alle Sinne ins Herz zurück. Er hielt seine Lebenskraft (prāïa) an. Er hielt<br />

seinen Körper in einem Zustand vollkommenen Gleichgewichts. Er drückte<br />

die Spitze seiner Zunge gegen den Gaumen, Ober- und Unterkiefer waren<br />

leicht geöffnet. Sein Gewahrsein war nun weder innen noch außen, weder<br />

unterhalb noch außerhalb, weder mit Substanz behaftet noch leer. Er war in<br />

reinem Bewusstsein verankert und erfuhr reine Seligkeit in seinem Innern. Er<br />

hatte das Bewusstsein des reinen Seins erreicht – jenseits des Zustandes der<br />

Seligkeit. Sein gesamtes Sein war nun absolut rein geworden.<br />

Uddālaka blieb einige Zeit lang in diesem Zustand – wie eine Figur in einem<br />

Gemälde. Nach und nach, Tag um Tag, erlangte er die vollkommene Stille; er<br />

ruhte in seinem eigenen reinen Sein. Er hatte sich über den Zyklus von Geburt<br />

und Tod erhoben. Alle seine Zweifel waren beseitigt, irrige Gedanken hatten<br />

aufgehört, alle Unreinheiten seines Herzens waren fortgewaschen – er hatte<br />

den Zustand der Seligkeit erlangt, der jenseits jeder Beschreibung ist und in<br />

dem man sogar die Freuden eines Königs des Himmels als wertlos erachtet.<br />

In dieser Verfassung verblieb der Körper für einen Zeitraum von sechs Monaten.<br />

Danach gelangten eines Tag mehrere Göttinnen, geführt von Pārvati, an diesem<br />

Ort, um die Gebete eines ihrer Anhänger zu erwidern. Diese Göttin, verehrt<br />

sogar von den Göttern selbst, sah den Körper von Uddālaka, der von den<br />

glühenden Strahlen der Sonne ausgetrocknet war, und setzte ihn unverzüglich<br />

auf die Krone ihres Hauptes.<br />

301


Dies ist die glorreiche Geschichte des Weisen Uddālaka, oh Rāma, die die<br />

höchste Weisheit im Herzen desjenigen erweckt, der in ihrem Schatten Zuflucht<br />

sucht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, lebe auf diese Weise und erlange den Frieden, indem du beständig<br />

die Natur des Selbst ergründest. Dieser Zustand des Bewusstseins kann<br />

durch die Kultivierung von Leidenschaftslosigkeit, das Studium der Schriften,<br />

die Befolgung der Anweisungen des Guru und eine beharrliche Praxis der<br />

Erforschung erlangt werden. Wenn die erwachte Intelligenz jedoch scharf<br />

und kühn ist, dann kann er sogar ohne diese Hilfsmittel erlangt werden.<br />

RùMA fragte: Heiliger Herr, es gibt solche, die in der Selbsterkenntnis ruhen,<br />

erleuchtet sind und doch mit vielfältigen Tätigkeiten befasst sind, und es<br />

gibt andere, die sich zurückziehen und Kontemplation (samādhi) praktizieren.<br />

Welche von diesen sind besser?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, Im samādhi (Kontemplation oder Meditation)erkennt man die Objekte<br />

der Sinne als Nicht-Selbst und man erfreut sich daher der inneren Stille<br />

und Ruhe alle Zeit. Im Erkennen, dass die Objekte nur dem Gemüt angehören,<br />

und ruhend im dadurch entstehenden fortwährenden inneren Frieden, befassen<br />

sich manche mit Tätigkeiten, während andere in der Zurückgezogenheit<br />

leben. Beide erfreuen sich der Seligkeit der Kontemplation. Wenn das Gemüt<br />

desjenigen zerstreut sein sollte, der vorgibt, sich in samādhi zu befinden,<br />

dann ist er nichts als ein verrückter Mensch. Wenn andererseits das Gemüt<br />

desjenigen, der ein verrückter Mensch zu sein scheint, frei von allen Ideen<br />

und Zerstreutheiten ist, dann ist dieser erleuchtet und lebt in ungebrochenem<br />

samādhi. Ob jemand mit Tätigkeit befasst ist oder isoliert im Wald lebt –<br />

in der Erleuchtung gibt es keine Unterscheidung. Das Gemüt, welches frei von<br />

Konditionierung ist, ist unberührt auch wenn es tätig ist. Die Nicht-Tätigkeit<br />

des Gemüts wird Stillheit (samādhāna) genannt; dies ist totale Freiheit, es ist<br />

Glückseligkeit.<br />

Der Unterschied zwischen Kontemplation und ihrer Abwesenheit wird dadurch<br />

angezeigt, ob es eine Bewegung von Gedanken im Gemüt gibt – mache<br />

daher das Gemüt frei von Konditionierung. Das unkonditionierte Gemüt ist<br />

fest, und schon das allein ist Meditation, Freiheit und ewiger Friede. Das<br />

konditionierte Gemüt ist die Quelle der Sorge, während das unkonditionierte<br />

Gemüt nicht handelnd ist und den höchsten Zustand der Erleuchtung erlangt.<br />

Daher sollte man daran arbeiten, alle mentale Konditioniertheit zu beseitigen.<br />

Dies ist Kontemplation oder samādhi, wenn sämtliche Hoffnungen und Wünsche<br />

bezüglich der Welt aufgehört haben und da Freiheit von Kummer, Furcht<br />

und Verlangen ist und das Selbst in sich selbst ruht.<br />

Entsage mental aller falschen Identifikation des Selbst mit den Objekten<br />

hier, und lebe anschließend, wo du willst – entweder zuhause oder in einer<br />

Berghöhle. Für den Haushälter, dessen Gemüt die äußerste Stillheit erlangt<br />

V:56<br />

302


hat, ist sein eigenes Haus der Wald. Wenn das Gemüt im Frieden ist und es<br />

keinerlei Ich-Sinn gibt, dann werden sogar Städte zu leeren Plätzen. Andererseits<br />

sind Wälder wie Städte für denjenigen, dessen Herz voll von Wünschen<br />

und anderen Übeln ist. Die Störungen im Gemüt ruhen in Tiefschlaf; Erleuchtung<br />

erlangt Erleuchtung – tue, wie es dir beliebt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wer sieht, dass das Selbst das überragende oder das immanente Sein ist<br />

(als das Selbst von allem), ist verankert im Gleichmut. Derjenige, in dem alle<br />

Vorlieben und Abneigungen aufgehört haben, der alle Wesen als eins betrachtet<br />

und die Welt im Wachzustand so sieht wie Objekte in einem Traum, der ist<br />

im Gleichmut verankert und lebt im Wald, obwohl er sich in einem Dorf befindet.<br />

Wer mit nach innen gerichtetem Bewusstsein in die Welt hinaus geht,<br />

sieht eine Stadt oder ein Dorf als einen Wald.<br />

Wer innere Stille und Frieden erlangt hat, findet überall in der Welt Frieden<br />

und Stille. Wessen Gemüt erregt und ruhelos ist, findet die Welt voll von Ruhelosigkeit.<br />

Denn man erfährt im Außen nur das, was man im Innern erfährt.<br />

In Wahrheit sind der Himmel, die Erde, die Luft und Raum, die Berge und<br />

Flüsse alle Bestandteile dieses inneren Apparates, des Gemüts – es sieht nur<br />

so aus, als wären sie außerhalb. All dies existiert wie der Baum im Samen –<br />

sie erscheinen im Außen wie der Duft einer Blume. In Wahrheit gibt es nichts<br />

außerhalb oder innerhalb; was auch immer das Bewusstsein wahrnehmen<br />

möchte, dass erscheint auch so. Daher ist nur das Selbst all dieses – innen und<br />

außen.<br />

Wer von dieser inneren Wonne erfüllt ist und nicht von Jubel oder Kummer<br />

bewegt wird, wer Handlungen nur mit dem physischen Körper vollzieht – der<br />

ist im Gleichmut verankert. Er ist rein wie der Himmel, er ist frei von Wünschen,<br />

seine Taten sind spontan und der Situation angemessen, und in Beziehung<br />

zu Jubel oder Sorge verhält er sich so, als bestünde er aus Holz oder<br />

Ton. Er ist im Frieden, er sieht alles als sein eigenes Selbst, er erachtet den<br />

Besitz der anderen als Schmutz, und zwar auf natürliche Weise und nicht<br />

aufgrund von Furcht. Ein solcher allein sieht die Wahrheit.<br />

Der unwissende Mensch erkennt nicht die Unwirklichkeit der Objekte<br />

(klein oder groß), weil er die Wirklichkeit noch nicht erkannt hat.<br />

Wer den Zustand des reinen Seins erlangt hat, ist niemals befleckt, ganz<br />

gleich ob er nun lebt oder stirbt, zu Hause oder irgendwo sonst, in Luxus oder<br />

Armut, ob er sich freut und tanzt oder allem entsagt hat und sich selbst auf<br />

einen Berg zurückzieht, ob er teure Salben und Parfüme benutzt oder verfilzte<br />

Locken wie Lord Siva trägt, ob er ins Feuer fällt oder nicht, ob er Sünden<br />

begeht oder tugendhafte Taten ausführt, ob er stirbt oder bis zum Ende des<br />

Weltzyklus lebt. Denn er tut nichts. Nur das konditionierte Gemüt ist befleckt<br />

aufgrund seines Ich-Sinns und der Ideen, die daran gebunden sind. Wenn<br />

sämtliche Ideen aufgehört haben und die Weisheit aufsteigt, dann werden die<br />

Unreinheiten des Gemüts auf natürliche Weise entfernt.<br />

303


Der erleuchtete Weise gewinnt nichts dadurch, dass er etwas tut oder nicht<br />

tut. So wie ein Baum nicht aus einem Stein entspringen kann, so tauchen im<br />

Leben eines Weisen keine Wünsche auf. Wenn sie von Zeit zu Zeit auftauchen<br />

sollten, dann schwinden sie unverzüglich wie Schriftzüge auf der Wasseroberfläche.<br />

Der Weise und das gesamte Universum sind voneinander nichtverschieden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, das unendliche Bewusstsein gewahrt die Schärfe der Pfefferschote<br />

– und eben dies lässt den Ich-Sinn mit all seinen Unterschiedlichkeiten in<br />

Zeit und Raum entstehen. Das unendliche Bewusstsein gewahrt den Geschmack<br />

des Salzigen im Salz – und eben dies lässt den Ich-Sinn mit all seinen<br />

Unterschiedlichkeiten entstehen, welcher in Zeit und Raum zu existieren<br />

scheint. Das unendliche Bewusstsein gewahrt die Süße des Zuckerrohrs –<br />

und dies lässt das Gewahrsein seiner spezifischen Besonderheiten entstehen.<br />

Auf ähnliche Weise wird das unendliche Bewusstsein, die allem innewohnende<br />

Allgegenwart, der Natur eines Steins, eines Berges, eines Baums gewahr,<br />

wie auch von Wasser, von Raum, und es entsteht Selbst-Bewusstheit oder<br />

Individualität.<br />

So wirkt die natürliche Kombination der atomischen Partikel und Moleküle<br />

(in denen das Bewusstsein wohnt) scheinbar wie Abteilungen und damit<br />

entstehen die Getrenntheiten des „Ich“, „du“ usw., und es sind diese, die dann<br />

dem Bewusstsein als seine vermeintlich äußeren Objekte erscheinen. In<br />

Wahrheit sind jedoch all diese nichts als Reflektionen im Bewusstsein selbst,<br />

das ihnen, wenn es sie in sich selbst gewahr wird, den Anschein von Individualität<br />

verleiht. Bewusstsein schmeckt sich selbst; dieses Gewahrsein ist nicht<br />

verschieden von Bewusstsein und nur dieses lässt den Ich-Sinn usw. entstehen.<br />

Der Kristall dieses unendlichen Bewusstseins reflektiert sein eigenes<br />

Licht des Bewusstseins, das in all diesen Kombinationen der atomischen<br />

Partikel gegenwärtig ist, und diese erlangen dann eine scheinbare Selbst-<br />

Bewusstheit und denken „Ich bin“ usw.<br />

In Wahrheit gibt es zwischen ihnen keinerlei Subjekt-Objekt-Beziehung,<br />

weil das innere Gewahrsein in all diesen Kombinationen nicht verschieden<br />

vom unendlichen Bewusstsein ist. Folglich erfährt keines das andere, erlangt<br />

keines das andere oder verändert oder verwandelt keines das andere. Oh<br />

Rāma, alle meine Erklärungen hier sind nichts als ein Spiel mit Worten, das<br />

deinem Verständnis weiterhelfen soll – natürlich gibt es kein Ding wie „Ich“<br />

oder „die Welt“ (die Kombination der atomischen Partikel usw.). Weder gibt<br />

es ein Gemüt noch ein Objekt der Erkenntnis noch die Weltillusion. So wie<br />

Wasser in der Form eines Strudels eine eigene Individualität zu erhalten<br />

scheint, so lässt das Bewusstsein den Anschein des „Ich“ usw. in sich selbst<br />

entstehen. Bewusstsein ist jedoch niemals etwas anderes als Bewusstsein –<br />

gleichgültig, ob sich dieses nun für Lord Śiva oder den kleinen jīva hält!<br />

Alle diese Verschiedenheiten wie „Ich“, „du“ usw. und materielle Substanzen<br />

sind nur in der Sichtweise des Unwissenden da – was auch immer die unwis-<br />

V:57<br />

304


sende Person sich im unendlichen Bewusstsein vorstellt, das allein nimmt sie<br />

dann wahr. Im Licht des Gewahrseins wird das Leben als Bewusstsein gesehen;<br />

wird es jedoch als „Leben“ angesehen, dann scheint es auch nicht mehr<br />

als „Leben“ zu sein! In Wirklichkeit gibt es keinen essenziellen Unterschied<br />

zwischen Leben und Bewusstsein. In derselben Weise existiert kein realer<br />

und essenzieller Unterschied zwischen dem Individuum (jīva) und dem kosmischen<br />

Sein (Śiva). Wisse, dass all dies das ungeteilte und unteilbare unendliche<br />

Bewusstsein ist.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Suraghu<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In diesem Zusammenhang gibt es eine interessante Legende, oh Rāma, die<br />

ich dir nun erzählen möchte.<br />

In den Bergketten des Himālaya gibt es einen Berg, den man Kailāsa nennt.<br />

Am Fuß dieses Berges lebte ein Bergstamm, der HemajaÂa (die Gelbhaarigen)<br />

genannt wurde. Ihr König hieß Suraghu. Er war mächtig, stark und weise. Er<br />

besaß Selbsterkenntnis und war sehr gebildet in Dichtkunst und Literatur. Er<br />

kannte keinerlei Müdigkeit. In seiner Regierungskunst war er gerecht, segensreich<br />

für diejenigen, die Segen verdienten, und verhängnisvoll für diejenigen,<br />

die das Verhängnis verdienten. Im Verlaufe all seiner vielfältigen Aktivitäten<br />

jedoch wurde seine spirituelle Sichtweise mehr und mehr verdunkelt.<br />

Suraghu begann nachzudenken: „Die Leute haben aufgrund meiner Handlungen<br />

viel zu leiden. Ihr Leiden ist wahrhaftig auch mein Leiden. Ich sollte<br />

sie mit Reichtum überhäufen, und dann würden sie frohlocken, wie ich frohlocken<br />

würde, wenn ich reich würde. Ihre Freude wäre auch meine Freude.<br />

Aber indem ich sie abwechselnd belohne und bestrafe, belohne und bestrafe<br />

ich mich selbst in ständigem Wechsel.“ So denkend, geriet der König in große<br />

Bedrängnis.<br />

Eines Tages besuchte der Weise Māï¬avya den König. Suraghu hieß den<br />

Weisen willkommen, verbeugte sich vor ihm, ehrte ihn und sprach: „Hoher<br />

Herr, ich bin gequält von dem Gedanken, dass all die Segnungen und Bestrafungen,<br />

die ich meinem Volk zuteil werden lasse, eines Tages auf mich kommen<br />

werden. Bitte hilf mir, eine ausgeglichene Sichtweise zu erwerben und<br />

errette mich von Vorurteil und Voreingenommenheit!“<br />

MĀ×ÖAVYA erwiderte:<br />

Alle mentalen Schwächen gelangen an ein Ende, sobald die auf Eigenbemühung<br />

gegründete Weisheit in einem Menschen auftaucht, der fest in der<br />

Selbsterkenntnis verankert ist. Die Qualen in seinem Gemüt verliert er durch<br />

V:58<br />

305


V:59<br />

die Ergründung der Natur des Selbst. Daher sollte man seinen eigenen Verstand<br />

wie folgt erforschen: „Was sind dies für Stimmungen und Schwankungen<br />

und Gefühle, die da in mir auftauchen?“ Infolge dieser Ergründungen<br />

erweitert sich dein Verstand. Sobald du durch eine derartige Ergründung<br />

deine wahre Natur realisiert hast, wirst du nicht länger durch Frohlocken und<br />

Niedergeschlagenheit gestört. Das Gemüt gibt dann Vergangenheit und Zukunft<br />

und damit auch seine bruchstückhafte Funktionsweise auf. Dann wirst<br />

du den höchsten Frieden erfahren. Sobald du erst einmal in diesem Zustand<br />

der Stillheit wohnst, wirst du diejenigen bedauern, die in großem Reichtum<br />

und weltlicher Macht schwelgen. Sobald du die Selbsterkenntnis erlangt hast<br />

und dein Bewusstsein sich ins Unendliche ausgedehnt hat, fällt dein Gemüt<br />

nicht länger in die Dunggrube dieser Welt; ebenso wenig wie ein Elefant in<br />

eine Pfütze fallen würde. Es ist stets nur das kleine Gemüt, welches die kleinen<br />

Vergnügen und Lüste sucht.<br />

Das Gemüt gibt alles auf, sobald die Sichtweise des Höchsten erlangt wird.<br />

Daher sollte man entschlossen allem entsagen, bis man die höchste Sichtweise<br />

erlangt hat. Selbsterkenntnis wird nicht erlangt, bis man nicht allem entsagt<br />

hat – wenn sämtliche Gesichtspunkte aufgegeben worden sind, verbleibt<br />

nur das Selbst. Dies gilt sogar für alle weltlichen Bemühungen: man erhält<br />

nur dann das Objekt seiner Wünsche, wenn zuvor sämtliche Hindernisse<br />

beseitigt worden sind. Noch viel mehr gilt dies für die Selbsterkenntnis.<br />

Als der Weise Māï¬avya geendet und sich verabschiedet hatte, kontemplierte<br />

SURAGHU wie folgt:<br />

Was ist dies, was man als „Ich“ bezeichnet? Ich bin nicht der Berg Meru, der<br />

Berg Meru ist nicht mein. Ich bin weder der Bergstamm noch ist dieser mein.<br />

Dies hier ist nur, was mein Königreich genannt wird – hiermit gebe ich diese<br />

Idee auf. Nun bleibt noch diese Hauptstadt – weder bin ich diese Stadt noch<br />

ist sie mein. Folglich gebe ich auch diese Idee auf. Auf dieselbe Weise gebe ich<br />

alle meine Ideen betreffend meine Verwandtschaft auf – Frau, Sohn usw.<br />

Lass mich diesen Körper untersuchen. Ich bin nicht diese leblosen Substanzen<br />

wie Fleisch und Knochen, denn ich bin fühlend. Auch nicht bin ich das<br />

Blut oder die Tätigkeitsorgane. Alle diese sind leblose Substanzen, während<br />

ich fühlend bin. Ich bin weder die Freuden noch gehören mir diese an; auch<br />

nicht bin ich dieser Intellekt und die Sinnesorgane noch gehören diese mir an,<br />

denn sie sind leblos und ich selbst fühlend. Ich bin nicht das Gemüt, welches<br />

die Wurzelursache dieses unwissenden Zyklus von Geburt und Tod ist. Ich bin<br />

weder diese Fähigkeit zur Unterscheidung noch der Ich-Sinn, denn dies sind<br />

nur Ideen, die im Verstand auftauchen.<br />

Was bleibt dann übrig? Was verbleibt, ist der fühlende jīva. Jedoch ist dieser<br />

in die Subjekt-Objekt-Beziehung verstrickt. Was das Objekt der Erkenntnis<br />

oder des Verstehens ist, ist nicht das Selbst. Daher gebe ich das auf, was gekannt<br />

werden kann – das Objekt. Was nun noch verbleibt, ist das reine Bewusstsein<br />

frei vom Schatten des Zweifels. Ich bin das unendliche Selbst, denn<br />

es ist da keine Schranke für dieses Selbst. Sogar die Götter wie etwa Brahmā<br />

306


der Schöpfer, Indra, der König der Götter, Yama, der König des Todes, Vāyu,<br />

der Gott des Windes und all die zahllosen Wesen sind aufgereiht auf der Perlenschnur<br />

dieses unendlichen Bewusstseins.<br />

Dieses cit-Óakti (das allmächtige Bewusstsein) ist frei vom Fehler der Objektivität.<br />

Es ist jenseits von Sein und Nicht-Sein, obwohl es die Realität in<br />

allen Wesen ist. Es durchdringt alle Wesen im Universum. Es ist die Schönheit<br />

in allem, es ist das Licht in allem. Es ist die Essenz aller Formen und aller<br />

Modifikationen; und doch ist es jenseits von all diesem. Immer ist es alles in<br />

allem. Es ist selbst als die vierzehn Ebenen der Existenz ausgebreitet – sogar<br />

die Idee dieses Universums ist nichts anderes als dieses allmächtige Bewusstsein.<br />

Falsch sind die bruchstückhaften Ideen von Schmerz und Vergnügen, denn<br />

dieses allmächtige Bewusstsein ist allgegenwärtig und unendlich. Das ist das<br />

Selbst – wenn ich in der Täuschung bin, dann wird es selbst zum König. Es<br />

geschieht durch seine Gnade, dass der Körper, das Gemüt usw. arbeiten. Es<br />

geschieht durch seine Macht, dass alles im gesamten Universum nach seiner<br />

Melodie tanzt. Wie närrisch von mir, diese Verwirrung aufgrund von Segen<br />

und Bestrafung erfahren zu haben. Ich wurde nun erweckt. Ich habe alles<br />

erkannt, was wert zu erkennen ist; ich habe alles erlangt, was wert zu erlangen<br />

ist. All dies ist von Brahman durchdrungen. Wo ist die Rechtfertigung für<br />

Trauer und Täuschung; wer ist der Täter von irgend etwas? Nichts als das<br />

unendliche Bewusstsein existiert. Ich verneige mich vor dir, oh herrlicher<br />

Gott, ich verneige mich vor dem unendlichen Selbst!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Infolge dieser Ergründung erlangte Suraghu den höchsten Zustand des Bewusstseins.<br />

Niemals wieder trauerte er, sondern führte von da an alle seine<br />

Handlungen in einem stets ausgeglichen Zustand des Gemüts aus. Mitfühlend,<br />

jedoch nicht herablassend, die Gegensatzpaare nicht vermeidend und nicht<br />

missgünstig, weder intelligent noch unintelligent, weder motiviert noch unmotiviert<br />

–lebte er ein Leben des Gleichmuts und der inneren Stille. Er hatte<br />

erkannt, dass „all dieses nichts als die Manifestation des Bewusstseins ist“ –<br />

daher befand er sich sowohl in Schmerz als auch in Freude im Frieden. Er<br />

hatte die Fülle des Verstehens erreicht.<br />

Auf diese Weise regierte er in dieser Welt eine beträchtliche Zeit und gab<br />

dann auf eigenen Wunsch seinen Körper auf. Er erlangte die Einheit mit dem<br />

unendlichen Bewusstsein. Oh Rāma – lebe und regiere die Welt auf eben<br />

dieselbe Weise mit einem erleuchteten Verstand.<br />

RùMA fragte: Aber das Gemüt ist so überaus unstetig, oh Hoher Herr. Wie<br />

kann man den Zustand vollkommener Ausgeglichenheit erlangen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, einmal fand ein dieses Problem betreffender Dialog zwischen<br />

dem König Suraghu und dem Weisen Parigha statt. Höre ihn dir an.<br />

V:60,61<br />

307


In Persien gab es einen König namens Parigha, der ein enger Freund des<br />

Königs Suraghu war. Einmal gab es im Königreich von Parigha eine große<br />

Hungersnot. Entsetzlich gequält und ins Herz getroffen angesichts der Leiden<br />

seines Volkes und erkennend, dass alle Versuche, Linderung zu bringen, erfolglos<br />

blieben, ging Parigha ohne Wissen seines Volkes fort in den Wald und<br />

führte Askesepraktiken aus. Er lebte von trockenen Blättern und bekam so<br />

den Namen Parïāda. Nach tausend Jahren der Buße und Kontemplation<br />

erlangte er die Selbsterkenntnis. Anschließend durchwanderte er die drei<br />

Welten.<br />

Eines Tages traf er den König Suraghu, den er schon früher gekannt hatte.<br />

Die beiden erleuchteten Könige verehrten einander nach Gebühr. Dann fragte<br />

PARIGHA Suraghu: „So wie du die Selbsterkenntnis durch den Weisen<br />

Māï¬avya erlangt hast, so erhielt ich sie durch die Gnade des Herrn aufgrund<br />

meiner Bußübungen. Bitte sage mir: Befindet sich dein Gemüt nun in vollkommener<br />

Stille? Leben deine Untertanen in Frieden und Wohlstand? Bist du<br />

nun fest in der Leidenschaftslosigkeit verankert?“<br />

SURAGHU erwiderte:<br />

Wer könnte wirklich den Lauf des göttlichen Willens verstehen? Du und ich<br />

waren durch eine so große Entfernung voneinander getrennt, aber nun wurden<br />

wir zusammengebracht. Was ist unmöglich für das Göttliche? Wahrhaftig<br />

sind wir durch deine heilige Anwesenheit gesegnet. Durch deine Gegenwart<br />

in unserer aller Mitte wurden wir alle Sünden und Fehler los, und nun fühle<br />

ich, wie der ganze Reichtum der Erde vor uns steht in deiner Gestalt. Die<br />

Gemeinschaft mit heiligen und guten Menschen ist in der Tat dem höchsten<br />

Zustand der Befreiung gleichzusetzen.<br />

PARIGHA sagte:<br />

Oh König, nur Handlungen, die von jemanden, der fest im Gleichmut verankert<br />

ist, ausgeführt werden, geben Anlass zur Freude, jedoch nicht diejenigen<br />

anderer. Bist du in diesem Zustand des höchsten Friedens gefestigt, in dem<br />

keinerlei Gedanken oder Ideen in deinem Gemüt auftauchen und der als<br />

samādhi bezeichnet wird?<br />

SURAGHU sagte:<br />

Heiliger Herr, bitte sage mir: Weshalb wird nur der Zustand des Gemüts, der<br />

frei von Gedanken und Ideen ist, samādhi genannt? Würde das Gemüt desjenigen,<br />

der die Wahrheit kennt, jemals den Zustand des samādhi verlieren, ob<br />

er sich nun in ständiger Tätigkeit oder in Kontemplation befindet? Nein. Die<br />

Erleuchteten befinden sich für immer im samādhi, auch wenn sie mit Tätigkeiten<br />

in der Welt befasst sind. Andererseits befindet sich das Gemüt eines<br />

Menschen, der bloß in der Lotosposition sitzt, nicht einfach nur deshalb im<br />

Frieden.<br />

Die Erkenntnis der Wahrheit, Hoher Herr, ist das Feuer, das die Hoffnungen<br />

und Wünsche wie trockenes Stroh verbrennt, und eben das ist mit dem Wort<br />

samādhi gemeint – nicht einfach nur das Stillschweigen! Man bezeichnet das<br />

V:62,63<br />

308


V:64<br />

als den Zustand des samādhi, was ewige Zufriedenheit ist, klare Wahrnehmung<br />

der Dinge, wie sie sind, Egolosigkeit, Meisterung der Gegensatzpaare,<br />

Freiheit von Furcht und von dem Wunsch zu erwerben oder zurückzuweisen.<br />

Vom Moment des Dämmerns der Selbsterkenntnis an wird der Zustand des<br />

samādhi im Weisen stetig – weder verliert er ihn noch wird er unterbrochen;<br />

nicht einmal für einen Moment. So wie die Zeit nie vergisst weiterzugehen, so<br />

vergisst der Mensch der Selbsterkenntnis nicht das Selbst. So wie ein materielles<br />

Objekt für immer materiell bleibt, so ist der Weise der Selbsterkenntnis<br />

für immer ein Weiser der Selbsterkenntnis.<br />

Folglich bin ich auf immer erwacht, rein, im Frieden mit mir selbst und im<br />

Zustand des samādhi. Wie könnte es wohl anders sein? Wie kann es irgend<br />

etwas anderes als das Selbst geben? Wenn doch alle Zeit und in jeder denkbaren<br />

Weise stets nur das Selbst alles in allem ist – wie kann es überhaupt einen<br />

anderen Zustand als samādhi geben? Und was kann man als samādhi bezeichnen?<br />

PARIGHA sagte: Gewiss, oh König, hast du die volle Erleuchtung erlangt. Du<br />

strahlst und leuchtest in Seligkeit, im Frieden, mit Liebe und mit Reinheit. In<br />

dir gibt es keinen Ich-Sinn, keinen Wunsch und keine Abneigung.<br />

SURAGHU fuhr fort: Oh Weiser, es gibt in der Tat nichts, was wert wäre, es<br />

zu wünschen oder ihm zu entsagen. Denn solange diese Dinge als Objekte<br />

gesehen werden, sind sie nichts als Konzepte, Ideen und Vorstellungen. Wenn<br />

nichts Erstrebenswertes existiert, ist auch nichts der Entsagung wert. Gutes<br />

und Böses, klein und groß, wert oder unwert – all dies gründet auf der Idee<br />

des Wünschenswerten. Ist die Wünschbarkeit bedeutungslos geworden, dann<br />

taucht auch alles andere nicht mehr auf. Wahrhaftig gibt es keinerlei Essenz<br />

in dem, was in dieser Welt gesehen wird – die Berge, die Ozeane, die Wälder,<br />

die Männer und Frauen und all die Objekte. Folglich kann es kein Verlangen<br />

nach ihnen geben. Gibt es kein Verlangen mehr, dann herrscht im Herzen<br />

höchster Friede.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem sie so die illusorische Natur der Welterscheinung erörtert und<br />

sich gegenseitig verehrt hatten, fuhren Suraghu und Parigha fort, sich ihren<br />

jeweiligen Pflichten zu widmen. Sei fest in dieser Weisheit verankert und<br />

weise die unreine Idee des Ich-Sinnes aus deinem Herzen. Wenn das reine<br />

Herz die unendliche Dimension des Bewusstseins kontempliert, der die Quelle<br />

aller Seligkeit ist und sich in unmittelbarer Reichweite aller befindet, dann<br />

ruht es im Höchsten Selbst. Das Gemüt, welches sich auf diese Weise dem<br />

unendlichen Bewusstsein hingibt, welches nach innen gerichtet und angefüllt<br />

mit Selbsterkenntnis ist, wird nicht von Kummer berührt.<br />

Auch wenn du dich mit Alltagstätigkeiten deines Lebens befasst und sogar<br />

dann, wenn du Abneigungen oder Zuneigungen verspürst, dann wird dein<br />

inneres Wesen doch niemals unrein. So wie das Licht allein die Dunkelheit<br />

vertreibt, so ist die Erkenntnis, dass diese Welt nur die Schöpfung der Unwissenheit<br />

ist, die einzige Medizin gegen ihre Krankheiten. Sobald diese Er-<br />

309


kenntnis einmal da ist, hört die aus der Unwissenheit geborene Wahrnehmung<br />

der Welt als etwas Reales ein für allemal auf. Danach bist du selbst<br />

dann, wenn du mit weltlicher Tätigkeit befasst bist, unangehaftet daran und<br />

folglich auch davon nicht berührt – so wie die Augen des Fisches keinen<br />

Schaden durch das Meerwasser erleiden. Du wirst nie wieder Täuschung<br />

erfahren.<br />

Nur an denjenigen Tagen, an denen das Licht der Selbsterkenntnis im eigenen<br />

Herzen erstrahlt, lebt man wahrhaftig. An solchen Tagen sind alle Handlungen<br />

voller Segen. Nur dies sind wahre Freunde, Schriften und Tage, die im<br />

eigenen Herzen wahre Leidenschaftslosigkeit und Selbsterkenntnis erzeugen.<br />

Oh Rāma, rette deinen jīva aus diesem entsetzlichen Schlamm der Welterscheinung.<br />

Sobald du die diesbezügliche Wahrheit realisiert hast, wirst du nie<br />

wieder dahin zurückkehren müssen.<br />

Oh Rāma, die Gemeinschaft mit Weisen wird dir das Wissen um die Mittel<br />

zur Erlangung der Selbsterkenntnis verschaffen. Daher sollte man nicht irgendwo<br />

leben, wo es diese Gemeinschaft nicht gibt. In der Gemeinschaft der<br />

Weisen wird das Gemüt des Suchenden sofort still. Man sollte sich selbst<br />

emporarbeiten und nicht im Schlammloch der Unwissenheit verbleiben. Der<br />

weise Mensch sollte beständig die Natur der Welt, des Selbst usw. ergründen.<br />

In dieser Angelegenheit sind weder Freunde, Verwandte, noch Schriften von<br />

irgend einem Nutzen – nur das reine Gemüt, beständig mit der Selbstergründung<br />

befasst und ausgestattet mit Leidenschaftslosigkeit, verhilft einem,<br />

diesen Ozean der Unwissenheit zu überqueren.<br />

Im selben Moment, in dem man den Körper als leblose Substanz betrachtet,<br />

erlangt man die Selbsterkenntnis. Wenn die Finsternis der Unwissenheit oder<br />

des Ich-Sinns vertrieben ist, strahlt das Licht der Selbsterkenntnis. Dieser<br />

Zustand der Selbsterkenntnis oder der vollkommenen Erleuchtung ist jenseits<br />

jeder Beschreibung. So wie die Süße des Zuckers nur durch direkte<br />

Erfahrung gekannt werden kann, so wird die Natur der Erleuchtung nur<br />

durch direkte Erfahrung gekannt. Wenn Gemüt und Ich-Sinn aufhören, dann<br />

erscheint diese Selbsterkenntnis. Erreicht werden kann sie durch die Praxis<br />

des <strong>Yoga</strong>; vergleichbar ist sie in gewisser Hinsicht mit dem Tiefschlaf – in<br />

Wahrheit aber ist sie unbeschreibbar und unvergleichlich.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Bhāsa und Vilāsa<br />

V:65, 66<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, solange einer nicht das Gemüt mit Hilfe des Gemüts unterwirft,<br />

kann er keine Selbsterkenntnis erlangen, und so lange einer die falsche Idee<br />

310


„Ich“ und „mein“ unterhält, so lange kommt der Kummer nicht an ein Ende –<br />

wie die Sonne in einem Gemälde niemals untergeht. Es gibt eine Sage, die<br />

diese Wahrheit veranschaulicht. Ich werde sie dir nun erzählen.<br />

Da gab es einst einen riesigen Berg, höher als die drei Welten übereinander<br />

getürmt. Auf seinen Gipfeln wohnten die Götter, in seiner Mitte lebten die<br />

menschlichen Wesen, und an seinem Fuß hausten die Wesen der Unterwelt.<br />

Der Berg wurde Sahya genannt. Er enthielt sozusagen alle Dinge des Universums.<br />

Auf ihm befand sich die Einsiedelei des Weisen Atri. Darin lebten zwei<br />

Weise namens B­haspati und Śukra, die jeder einen Sohn hatten; einer hieß<br />

Vilāsa und der andere Bhāsa. Beide Knaben wuchsen zu jungen Männern<br />

heran. Sie hingen sehr aneinander und waren unzertrennlich.<br />

Im Verlaufe der Zeit verließen die beiden Weisen B­haspati und Śukra diese<br />

Welt. Tief trauernd führten die beiden jungen Männer die Begräbnisriten aus.<br />

Aufgrund des Verlustes ihrer Väter verloren sie jegliches Interesse an Reichtum,<br />

Besitz usw. Beide gingen daher in den Wald, um ein nomadisches Leben<br />

zu führen; jeder in eine andere Richtung. Nach einer beträchtlichen Zeit trafen<br />

sie einander wieder.<br />

VILùSA sagte zu seinem Freund Bhāsa:<br />

Was für eine Freude, dich zu treffen, oh mein teuerster Freund! Sage mir,<br />

wie es dir ergangen ist, seit wir uns getrennt haben. Haben deine<br />

Askesepraktiken Früchte getragen? Ist dein Gemüt das brennende Verlangen<br />

der Weltlichkeit losgeworden? Hast du Selbsterkenntnis erlangt? Sage mir:<br />

Bist du wohlauf und glücklich?<br />

BHùSA erwiderte:<br />

Ich preise mich glücklich, dich wiederzusehen, mein lieber Freund und<br />

Bruder! Wie aber können wir, wandernd in dieser Welterscheinung, jemals<br />

wohlauf und glücklich sein, solange wir nicht die höchste Weisheit erlangt<br />

haben und die psychologische Verwirrung aufgehört hat? Wie können wir<br />

wahrhaftig zufrieden sein, solange wir nicht diesen Ozean des Weltzyklus<br />

überquert haben? Solange nicht die aus dem Gemüt geborenen Wünsche und<br />

Hoffnungen vollständig zerstört worden sind – wie können wir wohlauf und<br />

glücklich sein?<br />

Bis zum Erlangen der Selbsterkenntnis müssen wir wieder und wieder in<br />

diese Welt von Geburt und Tod zurückkehren, um Kindheit, Jugend, Erwachsensein,<br />

Alter und Tod wieder und wieder zu erfahren und wieder und wieder<br />

dieselben sinnlosen Betätigungen und Erfahrungen durchmachen. Verlangen<br />

zerstört die Weisheit. Verloren in der Befriedigung sinnlicher Begierden<br />

schwindet das Leben schnell dahin. Das Gemüt fällt in den toten Brunnen<br />

der Sinnesvergnügen. Es ist wahrhaftig ein Rätsel, wie und weshalb dieser<br />

Körper, der doch ein hervorragendes Fahrzeug ist, um uns ans andere Ufer<br />

der Selbsterkenntnis zu tragen, stattdessen in den Schlamm der Weltlichkeit<br />

stürzt! Im Zeitraum eines Augenblinzelns nimmt diese winzige Welle namens<br />

Gemüt schreckenerregende Ausmaße an. Närrischerweise schreibt der<br />

311


V:68<br />

Mensch die Sorgen und das Leiden dem Selbst zu, welches davon jedoch in<br />

keiner Weise berührt ist, und fühlt sich dann elend.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Indem sie sich auf diese Weise miteinander unterhielten und die Natur der<br />

Welt ergründeten, erlangten sie schon bald die höchste Weisheit. Daher, oh<br />

Rāma, sage ich dir, dass es für das Durchtrennen der Bindung und das Überqueren<br />

dieses Weltozeans kein anderes Mittel als die Selbsterkenntnis gibt.<br />

Für die erleuchtete Person ist dieser Ozean des Leides wie eine kleine Pfütze.<br />

Er betrachtet den Körper so, wie jemand eine entfernte Menge betrachtet.<br />

Daher ist er nicht von den Qualen berührt, denen der Körper unterworfen ist.<br />

Die Existenz des Körpers verringert die Allgegenwart des Selbst so wenig wie<br />

die Wellen die Fülle des Ozeans verringern.<br />

Worin besteht die Beziehung eines Schwans, eines Steins oder eines Holzstückes<br />

mit dem Wasser, welches sie umgibt? Auf dieselbe Weise hat das<br />

Höchste Selbst keinerlei Beziehung mit dieser Welterscheinung. Ein fallender<br />

Baum scheint Wellen im Wasser zu erzeugen – ähnlich ist die Erfahrung von<br />

Schmerz und Vergnügen des Körpers für das Selbst. So wie seine Nähe zum<br />

Wasser das Holz in diesem widerspiegelt, so wird der Körper im Selbst widerspiegelt.<br />

Aber ebenso wie ein ins Wasser fallender Stein weder dem Wasser<br />

noch dem Stein selbst Schaden zufügt, so gibt es auch im Kontakt des<br />

Körpers mit anderen materiellen Substanzen (wie Frau, Kinder oder materielle<br />

Objekte) keinerlei Schaden oder Schmerzen für irgendjemanden.<br />

Von der Widerspiegelung eines Objekts im Spiegel kann man sagen, dass sie<br />

weder real noch irreal, sondern unbeschreibbar ist. Ebenso ist der im Selbst<br />

widerspiegelte Körper weder real noch irreal, sondern unbeschreibbar. Die<br />

unwissende Person akzeptiert als real, was immer sie in dieser Welt wahrnimmt,<br />

aber der Weise nicht. So wie ein Stück Holz und das Wasser, in dem es<br />

widerspiegelt wird, keine reale Beziehung miteinander haben, so haben das<br />

Selbst und der Körper keine reale Beziehung miteinander. Darüber hinaus<br />

gibt es dort, wo eine solche Beziehung existieren würde, keinerlei Dualität.<br />

Das eine unendliche Bewusstsein allein existiert ohne jede Subjekt-Objekt-<br />

Trennung. In diesem stellt man sich dann Vielfalt vor, und so glaubt das, was<br />

eigentlich unberührt vom Kummer ist, elend zu sein – so wie jemand, der<br />

meint, einen Geist zu sehen, tatsächlich einen Geist sieht! Aufgrund der Macht<br />

des Denkens erwirbt diese illusorische Beziehung sodann die Macht des<br />

Faktischen. Das Selbst ist auf immer unberührt von Schmerz und Freude,<br />

aber indem es sich für den Körper hält, unterzieht es sich selbst den Erfahrungen<br />

des Körpers. Die Aufgabe dieses falschen Glaubens ist Befreiung.<br />

Wer sich daher nicht der falschen Identifikation oder Anhaftung hingibt, ist<br />

sofort vom Leid befreit. Es ist diese Konditionierung, die der Same des Alterns,<br />

des Todes und der Täuschung ist; hört sie auf, dann geht man jenseits<br />

dieses Ozeans der Täuschung. Das konditionierte Gemüt schafft sogar in den<br />

Asketen Bindung, während das unkonditionierte Gemüt sogar in einem<br />

Haushälter rein ist. Das Gemüt, auf diese Weise konditioniert, bedeutet Bin-<br />

V:67<br />

312


dung, während Befreiung die Freiheit von der Konditionierung (innerer Kontakt,<br />

Anhaftung oder Identifikation) bedeutet. Dieser innere Kontakt (der<br />

eine fiktive Getrenntheit voraussetzt) allein ist die Ursache für Bindung und<br />

Befreiung. Die vom unkonditionierten Gemüt ausgeführten Handlungen sind<br />

Nicht-Handlungen, während das konditionierte Gemüt sogar dann tätig ist,<br />

wenn es nach außen Abstand von Tätigkeiten nimmt. Handlung oder Nicht-<br />

Handlung sind im Gemüt – der Körper selbst ist nicht tätig. Daher sollte man<br />

entschlossen diese falsche innere Getrenntheit aufgeben.<br />

RùMA fragte:<br />

Worin besteht die Konditionierung, oh Hoher Herr, und wie kann sie Bindung<br />

verursachen? Und worin besteht die Befreiung und wie wird sie erlangt?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn man von der Wirklichkeit des Körpers überzeugt ist und die Unterscheidung<br />

zwischen dem Körper und dem Selbst aufgegeben hat, dies wird<br />

als Konditionierung bezeichnet. Wer glaubt, dass das unbegrenzte Selbst<br />

begrenzt sei, und wer daher nach Vergnügen sucht, wird gebunden. Wer<br />

dagegen ergründet: „All dieses ist in der Tat das Selbst; was sollte ich daher<br />

wünschen, und welchem sollte ich entsagen?“ ist im unkonditionierten Zustand<br />

der Befreiung verankert. Wer weiß: „Weder bin ich, noch ist da ein<br />

anderer“ oder „Lass doch dieses sein oder nicht sein“, und daher nicht nach<br />

Vergnügen sucht, der ist befreit. Weder ist er von der Nicht-Tätigkeit verführt<br />

noch verliert er sich in den Ergebnissen der Tätigkeit; weder ist er himmelhoch<br />

jauchzend noch zu Tode betrübt. Den Früchten seiner Handlungen entsagt<br />

er mit Hilfe seines Gemüts (nicht aber durch Tätigkeit!). Es geschieht<br />

durch die Zurückweisung von Konditionierung, dass die Bindung abgestreift<br />

und das höchste Gut erlangt wird. Die Konditionierung ist die Quelle allen<br />

Kummers.<br />

Konditionierung kann mit Hilfe der folgenden Beispiele illustriert werden.<br />

1) der Esel wird vom Meister am Seil geführt und trägt aus Furcht schwere<br />

Lasten; 2) der im Boden verwurzelte Baum erträgt Hitze, Kälte, Wind und<br />

Regen; 3) der Wurm liegt in seinem Loch in der Erde und wartet seine Zeit<br />

ab; 4) der hungrige Vogel sitzt auf dem Zweig eines Baums, voller Furcht vor<br />

Feinden; 5) das ahnungslose Reh grast friedlich und fällt mit Leichtigkeit dem<br />

Schuss des Jägers zum Opfer; 6) zahllose Leute werden wieder und wieder als<br />

Würmer und Insekten geboren; 7) die zahllosen Wesen steigen und sinken in<br />

dieser Schöpfung auf und nieder wie die Wellen auf der Oberfläche des Ozeans;<br />

8) die schwachen menschlichen Wesen, unfähig, Fortschritte zu machen,<br />

sterben wieder und wieder; 9) diese Sträucher und Kletterpflanzen, die ihre<br />

Nahrung aus der Erde empfangen und auf dieser wachsen; und 10) diese<br />

Weltillusion, die wie ein Fluss ist, der in seinen Wassern die unermesslichen<br />

Sorgen und Leiden mit sich führt. All dieses kann die Erweiterung der Konditionierung<br />

genannt werden.<br />

313


Die Konditionierung (oder der innere Kontakt, die Anhaftung oder die<br />

Selbst-Begrenzung) ist von zweierlei Art: die verehrungswürdige und die<br />

sterile oder unfruchtbare. Die sterile oder unfruchtbare Konditionierung ist<br />

überall bei den Toren zu beobachten, während die verehrungswürdige Konditionierung<br />

unter denen zu sehen ist, die die Wahrheit kennen. Diejenige Konditionierung,<br />

die in den Gemütern der Wesen ohne Selbsterkenntnis existiert<br />

und Dingen wie dem Körper entsteigt und die ferner wiederholt Geburt und<br />

Tod hervorruft – diese ist unfruchtbar und steril. Die andere Form der Konditionierung,<br />

die in verehrungswürdigen Wesen mit Selbsterkenntnis zu finden<br />

ist, entsteigt der Verwirklichung reiner Weisheit und befähigt einen dazu,<br />

Geburt und Tod zu vermeiden.<br />

(Die verehrungswürdige Konditionierung respektiert und erkennt die „natürlichen“<br />

Begrenzungen; d.h. sie versteht, dass Augen und Ohren usw. auf<br />

natürliche Weise in ihrer Wahrnehmung begrenzt sind. Die Konditionierung<br />

des Toren ist hingegen eine selbstauferlegte – er erachtet das unendliche<br />

Selbst als identisch mit dem physischen Körper. Das im Text verwendete Wort<br />

samsaktti wird üblicherweise mit „Anhaftung“ übersetzt. Anhaftung jedoch<br />

beinhaltet Trennung und Dualität, die wiederum eine Begrenzung des Unendlichen<br />

und die Konditionierung des Unkonditionierten bedeuten.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Gott, der in seinen Händen das Muschelhorn, den Diskus usw. hält,<br />

schützt die drei Welten aufgrund der „verehrungswürdigen Konditionierung“.<br />

Dank dieser Art von Konditionierung geschieht es, dass die Sonne scheint und<br />

der kosmische Körper des Schöpfers diese gewaltige Schöpfung leitet und<br />

erhält. Und sogar Lord Śiva leuchtet als Gottheit aufgrund dieser Art der<br />

Konditionierung. Die Götter, die die Welt am Leben erhalten und alle auf ihre<br />

Art tätig sind, erhalten ihre spezifischen Fähigkeiten aufgrund dieser verehrungswürdigen<br />

Konditionierung oder Selbstbegrenzung.<br />

Auf der anderen Seite fällt das Gemüt unter dem Einfluss der sterilen oder<br />

unfruchtbaren Konditionierung mit Leichtigkeit dem Wunsch nach Vergnügen<br />

zum Opfer, wie er durch den getäuschten Glauben entsteht, dass diese<br />

Erfahrung erfreulich sei werde.<br />

Sogar die Funktion der kosmischen Elemente ist der Konditionierungzu<br />

verdanken. Und aufgrund ihrer geschieht es ferner, dass die Götter im Himmel,<br />

die Menschen auf der Erde und die Dämonen der Unterwelt auftauchen<br />

und fallen wie Wellen auf dem Ozean. So wie im Ozean die großen Fische die<br />

kleinen fressen, so dienen all diese zahllosen Wesen einander als Nahrung<br />

und werden hilflos aufgrund ihrer Konditionierung im Raum umhergetrieben.<br />

Und aufgrund ihrer Konditionierung kreisen auch die Sterne auf ihren<br />

Umlaufbahnen. Aufgehend und niedergehend, jetzt strahlend und im nächsten<br />

Moment verdunkelt (und man sagt sogar, dass er Flecken und Fehler<br />

habe) bewegt sich der Mond um die Erde und hört aufgrund der Konditionierung<br />

nicht damit auf.<br />

314


Oh Rāma, betrachte diese mysteriöse Schöpfung, wie sie als Antwort auf die<br />

mentalen Konzepte der Wesen von niemand-weiß-von-wem ins Dasein gerufen<br />

worden ist. Dieses Universum wurde allein durch mentale Konditionierung<br />

im leeren Raum heraufbeschworen – es besitzt keinerlei Realität. Und<br />

innerhalb dieses Universums zehrt das Verlangen nach Vergnügen an den<br />

vitalen Lebenskräften aller Wesen, die der Welt, dem Körper usw. verhaftet<br />

sind. Niemand vermag ihre Zahl zu nennen, so wenig man die Zahl der Sandkörner<br />

entlang der Küsten des Ozeans zu nennen vermag. Der Schöpfer dieses<br />

Universums hat dieses Universum, sozusagen, nur aufgrund der mentalen<br />

Konditionierung all dieser zahllosen Wesen ins Leben gerufen. Diese Wesen<br />

sind in der Tat der vorzügliche, trockene Brennstoff für die flammenden Feuer<br />

der Hölle hier. Welche Leiden auch immer in der Welt gefunden werden –<br />

bedenke, dass sie allein für diese Wesen gedacht sind. So wie die Flüsse rasch<br />

dem Meer entgegen fließen, so fließt das Leiden rasch denjenigen entgegen,<br />

die mental konditioniert sind. Diese ganze Schöpfung ist daher von Unwissenheit<br />

durchdrungen. Durchtrennt jedoch einer dieses Verlangen nach Vergnügen,<br />

dann erweitert sich die begrenzte mentale Konditionierung in einer<br />

gewaltigen Ausdehnung. Die mentale Konditioniertheit (oder Anhaftung an<br />

das Endliche und Verderbliche) ist glühende Hitze für die Glieder, oh Rāma;<br />

aber die unendliche Ausdehnung (oder Hingabe an das Unendliche) ist die<br />

Zauberkur für den brennenden Schmerz. Das Gemüt, welches an nichts anhaftet<br />

und verankert ist im Frieden des Unendlichen, geht mit Leichtigkeit der<br />

Freude entgegen. Wer in der Selbsterkenntnis Fuß gefasst hat, ist hier und<br />

jetzt befreit.<br />

(In diesem Kapitel wird die wahre Bedeutung von „Konditionierung“ vermittelt,<br />

obschon das verwendete Wort saæsańgaæ ist, welches auch als „Kontakt“<br />

oder „Anhaftung“ übersetzt werden kann. Gemeint sind aber tatsächlich<br />

„Identifikation“ oder „Konditionierung“.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, indem es zu allen Zeiten das Angemessene erledigt, sollte das<br />

Gemüt nicht der Tätigkeit, den Gedanken oder dem Objekt anhaften. Weder<br />

sollte es an den Himmeln oben noch an dem unten Befindlichen noch an<br />

irgendeiner anderen Richtung haften. Es sollte sich weder an externe Beziehungen,<br />

an die natürliche Bewegung der inneren Sinne noch an die Lebenskraft<br />

binden. Das Gemüt sollte nicht im Kopf sein, nicht am Gaumen, nicht<br />

zwischen den Augenbrauen, nicht an der Nasenspitze oder im Mund oder in<br />

den Augen. Es sollte weder in der Dunkelheit noch im Licht und nicht einmal<br />

im innersten Herzen sein; weder im Wachzustand, noch im Traum oder im<br />

Schlaf, und nicht einmal der weite, reine Raum sollte sein Zuhause werden.<br />

Unangehaftet an das Spektrum der Farben, die Bewegung oder die Stetigkeit,<br />

den Anfang, die Mitte, das Ende und alles andere dazwischen, sollte das Gemüt<br />

weder in der Entfernung noch in der Nähe ruhen, nicht vor und in Objekten,<br />

und auch nicht im Selbst. Sinneserfahrungen, der illusorische Zustand<br />

V:69, 70<br />

315


des Glücks, Konzepte und Ideen sollten keinerlei Macht über das Gemüt haben.<br />

Das Gemüt sollte in reinem Bewusstsein als reines Bewusstsein ruhen und<br />

dabei nur ein klein wenig äußerliche Gedankenregung aufweisen, als ob es<br />

sich der gänzlichen Flüchtigkeit der Objekte dieser Welt bewusst bliebe.<br />

Wenn auf diese Weise sämtliche Anhaftungen zerrissen sind, wird der jīva<br />

zum Nicht-jīva – was immer auch in der Folge geschieht, ob es Aktivität oder<br />

Inaktivität ist. In einem derartigen Zustand der Nicht-Anhaftung ist der jīva<br />

nicht an die Früchte der Tätigkeit gebunden. Oder indem er sogar diesen<br />

Zustand eines minimen Verständnisses der Objekte aufgibt, ruht der Jiva im<br />

höchsten Frieden. Ein derartig befreiter Mensch ist, ob er in den Augen anderer<br />

nun als tätig oder untätig erscheint, für immer frei von Sorgen und Furcht.<br />

Sämtliche Leute lieben und schätzen ihn. Auch wenn er in den Augen der<br />

Menschen erregt zu sein scheint – im Innern ist er fest in der Weisheit verankert.<br />

Sein Bewusstsein wird durch Glück oder Unglück nicht gefärbt. Er wird<br />

nicht durch den Glanz der Welt verführt. Infolge der Selbsterkenntnis lebt er<br />

auf immer in beständiger Kontemplation und ist daher frei von aller Anhaftung<br />

an sämtliche Dinge dieses Universums. Indem er jenseits der Gegensatzpaare<br />

ist, scheint er sich sogar im Wachzustand wie im Tiefschlaf zu befinden.<br />

Dieser Zustand, in dem das Gemüt frei von seinen charakteristischen Bewegungen<br />

der Gedanken ist und da nur die Erfahrung des Friedens ist, wird<br />

„Tiefschlaf im Wachzustand“ genannt. Wer darin lebt, lebt ein nichtwillentliches<br />

Leben, frei von mentaler Irritation oder Verwirrung, unbekümmert<br />

durch ein kurzes oder langes Leben. Sobald dieser Zustand des „Tiefschlafs<br />

im Wachzustand“ reifer wird, wird er turīya oder der „vierte Zustand“<br />

genannt. Der Weise, der fest darin verankert ist, erlebt das Universum wie<br />

einen kosmischen Spielplatz und das Leben darin wie einen kosmischen Tanz.<br />

Gänzlich frei von Sorge und Furcht und der Illusion der Welterscheinung fällt<br />

derjenige, der im turīya lebt, nicht wieder in den alten Irrtum zurück. Auf<br />

immer ist er getränkt von Seligkeit. Er geht sogar noch weiter in diesen großartigen,<br />

unbeschreiblichen Zustand höchster Seligkeit. Dieser Zustand befindet<br />

sich sogar noch jenseits von turīya – und jenseits von jedem Verstehen<br />

und jeder Beschreibung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es mag möglich sein, den Zustand desjenigen, der noch lebend befreit ist, in<br />

Worte zu fassen, womit der Zustand des turīya oder des „Tiefschlafs im<br />

Wachzustand“ oder der Zustand totaler Freiheit gemeint ist. Aber der Zustand<br />

darüber hinaus (derjenigen, die sogar das Körperbewusstsein überwunden<br />

haben) ist nicht durch Worte zu beschreiben. Das ist der Zustand<br />

„jenseits von turīya“. Strebe danach, oh Rāma, diesen zu erreichen!<br />

Sei jedoch zuerst verankert im „Tiefschlaf im Wachzustand“. Kümmere dich<br />

nicht um die Existenz oder die sonstigen Angelegenheiten des Körpers; wissend,<br />

dass der Körper nichts als ein Produkt der Illusion ist. Du bist ein Mann<br />

der Weisheit, oh Rāma – du hast die innerliche Erweckung erlangt. Das Gemüt<br />

V:71<br />

316


des Menschen der Selbsterkenntnis schlägt nicht wieder einen abwärts führenden<br />

Weg ein. Nur das reine Bewusstsein existiert dann noch – lass daher<br />

in dir niemals die Ideen von „Ich bin so-und-so“ oder „Dies ist mein“ auftauchen.<br />

Sogar das Wort „Selbst“ wird nur verwendet, um die Verständigung zu<br />

ermöglichen – die Wahrheit befindet sich jenseits all dieser Beschreibungen.<br />

Da ist keine Dualität, da sind keine Körper, und folglich gibt es auch keinerlei<br />

Beziehungen zwischen ihnen – in der Sonne gibt es keine Schatten! Obwohl<br />

ich dir gegenüber für den Zweck unseres Gesprächs von einer Dualität ausgehe,<br />

existiert diese in Wahrheit nicht.<br />

So wie es keine Beziehung zwischen Licht und Dunkelheit gibt, so gibt es<br />

auch keine zwischen dem Körper und dem darin Verkörperten. Wenn die<br />

Wahrheit erkannt wird, hören alle irrigen Ideen auf. Das Selbst ist Bewusstsein<br />

– rein, ewig, selbstleuchtend und frei von Wandel. Der Körper dagegen<br />

ist vergänglich und unrein. Wie kann zwischen beiden eine Beziehung bestehen?<br />

Der Körper wird durch die Lebenskräfte oder die anderen Elemente am<br />

Leben erhalten – daher kann dieser Körper keine wie auch immer geartete<br />

Beziehung mit dem Selbst haben. Auch wenn daher diese beiden (Selbst und<br />

Körper) als zwei unterschiedliche Realitäten betrachtet werden, könnte es<br />

keinerlei Beziehung zwischen ihnen geben. Aber wenn diese Dualität unreal<br />

ist, dann ist das Denken daran belanglos. Lass diese Wahrheit tief in dir verwurzelt<br />

sein: Zu keiner Zeit hat es irgendwo für irgendjemanden Bindung<br />

oder Befreiung gegeben.<br />

Es ist klar, dass all dieses nichts als das eine, unendliche Selbst oder Bewusstsein<br />

ist. Wenn du Konzepten wie „Ich bin glücklich oder unglücklich“<br />

oder „Ich bin unwissend“ Ohr leihst, werden dir diese nicht endende Sorgen<br />

bringen. Der Körper trat aufgrund von Wind (Lebensatem) ins Dasein; er<br />

existiert aufgrund dessen, er spricht als Ursache davon, und sämtliche Sinne<br />

arbeiten aufgrund dessen: Die Intelligenz in ihm ist nichts anderes als das<br />

unteilbare Bewusstsein. Dieses unendliche Bewusstsein allein ist überall<br />

ausgebreitet als Raum usw., und der letztere ist im Bewusstsein widerspiegelt,<br />

wobei diese Widerspiegelung „Gemüt“ genannt wird. Wenn das Gemüt<br />

den Käfig des Körpers aufgibt und davon fliegt, dann erfährt es das Selbst,<br />

welches Bewusstsein ist. Wo es Duft gibt, gibt es Blumen; wo das Gemüt ist,<br />

da gibt es Bewusstsein. Jedoch ist das Gemüt allein die Ursache für das Entstehen<br />

dieser Welt – da das Bewusstsein allgegenwärtig und unendlich ist, ist<br />

es zwar die letztgültige Ursache, jedoch nicht die Ursache der Welterscheinung.<br />

Daher besteht in Wahrheit die Ursache dieser Welterscheinung in der<br />

Nicht-Ergründung der Natur der Realität, also in der Unwissenheit. So wie<br />

eine Lampe unverzüglich die Dunkelheit beseitigt, so zerstreut das Licht der<br />

Selbsterkenntnis unverzüglich die Dunkelheit der Unwissenheit. Daher sollte<br />

man das ergründen, was als jīva oder als Gemüt oder der innere psychologische<br />

Faktor bezeichnet wird.<br />

RùMA fragte:<br />

317


Heiliger Herr, wie kommt es, dass an alle diese Konzepte und Denkkategorien<br />

so fest geglaubt wird? Bitte erleuchte mich!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

All dies ist wirklich das Selbst. Jedoch wie Wellen die Oberfläche des Ozeans<br />

aufrühren, so taucht die Vielfalt, die das Universum genannt wird, im Gemüt<br />

auf. Ab und zu scheint das Selbst das bewegte Selbst zu sein. Dann wieder<br />

verbleibt das Selbst in einem unbewegten Zustand. Das Unbewegte sind die<br />

leblosen Substanzen wie etwa die Steine, während die bewegten Substanzen<br />

die Menschen usw. sind. In all diesen unterhält das allmächtige Selbst die Idee<br />

der Unwissenheit und verbleibt daher in einem Zustand scheinbarer Unwissenheit.<br />

Das Unendliche, auf diese Weise in Unwissenheit gekleidet, wird der<br />

jīva genannt, der in dieser Welterscheinung wie ein in die Falle gegangener<br />

Elefant ist.<br />

Da er lebt, wird er jīva genannt. Da er egoistische Ideen unterhält, wird er<br />

Ego genannt. Da er unterscheidet und entscheidet, wird er als buddhi (Intellekt)<br />

oder unterscheidendes Wesen bezeichnet. Aufgrund seiner Fähigkeit,<br />

Konzepte und Ideen zu bilden, wird er als Gemüt bezeichnet. In seiner natürlichen<br />

Gestalt wird er als Natur bezeichnet. Der jīva ist als Körper bekannt,<br />

weil er wandelhaft ist. Er wird auch als Bewusstsein bezeichnet, weil seine<br />

Natur Bewusstsein ist.<br />

Das Höchste Selbst allein ist die Wahrheit, die sich genau in der Mitte zwischen<br />

dem Leblosen und dem Intelligenten befindet – dieses allein erschafft<br />

Vielfalt und ist unter all diesen unterschiedlichen Namen bekannt. Aber all<br />

diese Kategorien wurden von Menschen mit verdrehtem Intellekt für das<br />

Vergnügen des Polemisierens und die Verwirrung der Unwissenden erfunden.<br />

Daher, oh Rāma, ist es dieser jīva allein, der die Ursache dieser Welterscheinung<br />

ist, denn was könnte dieser taube und stumpfe Körper schon tun? Wenn<br />

der Körper verdirbt, verdirbt nicht das Selbst; so wenig wie der Baum verdirbt,<br />

wenn ein Blatt herabfällt. Nur die getäuschten Personen denken andersherum.<br />

Andererseits stirbt alles, sobald das Gemüt stirbt, und eben darin besteht<br />

die letztliche Befreiung. Der Mensch, der jammert: „Ich sterbe, ich verderbe!“<br />

hält närrischerweise an einer falschen Idee fest. Er wird die Welterscheinung<br />

an einem anderen Ort zu einem anderen Zeitpunkt weiterhin erleben. Der<br />

jīva, der in der mentalen Konditionierung gefangen ist, gibt einen Körper auf<br />

und sucht nach einem anderen; so wie ein Affe im Wald einen Baum verlässt<br />

und auf einen anderen springt. Und schon im nächsten Moment gibt er auch<br />

diesen wieder auf und hält Ausschau nach einem anderen in einem anderen<br />

Teil des unendlichen Raumes und in einer anderen Zeitperiode. So wie die<br />

Kinderfrau das kleine Kind von einem Ort zum andern trägt, um es zu unterhalten,<br />

so führt diese mentale Konditionierung (oder die psychologische<br />

Gewohnheit) den jīva hierhin und dorthin. Auf diese Weise, mit dem Seil der<br />

mentalen Konditionierung gefesselt, unterzieht sich der jīva wiederholten<br />

Geburten in verschiedenen Spezies, dabei nicht endende Leiden erfahrend.<br />

318


V:72<br />

(Nachdem der Weise Vāsi«Âha so gesprochen hatte, endete ein weiterer Tag,<br />

und die Versammlung löste sich für die Abendgebete auf.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, weder wirst du geboren, wenn der Körper geboren wird, noch<br />

stirbst du, wenn dieser stirbt. Zu glauben, dass der Raum in einem Topf ins<br />

Dasein kam, als dieser gefertigt wurde, und dass der Raum dann mit dem<br />

Topf zerbricht, ist völlige Torheit. Außerdem ist das innewohnende Bewusstsein<br />

frei von den Ideen des Wünschenswerten und des Nicht-<br />

Wünschenswerten in Bezug auf Körper, Gemüt und Sinne. Das innewohnende<br />

Bewusstsein tritt mit diesen so in Kontakt, wie Reisende in einem Gasthaus<br />

oder Baumstämme in einem Fluss aufeinander treffen und sich wieder trennen<br />

– das Zusammentreffen oder Trennen ruft im Bewusstsein keinerlei<br />

Glück oder Unglück hervor. Weshalb frohlocken oder trauern die Menschen<br />

dann unter diesen Umständen?<br />

Das Selbst erscheint aufgrund seiner unwissenden Selbstbegrenzung als<br />

das Gemüt so, als würde es von den Objekten in der Welt berührt werden,<br />

aber dasselbe Selbst, einmal zu seiner wahren Natur erwacht, gibt seine aus<br />

Unwissenheit geborene Getäuschtheit auf und erlangt die Selbsterkenntnis.<br />

Dann sieht das Gemüt den Körper wie aus großer Höhe. Den Körper als eine<br />

Zusammensetzung von Elementen erkennend, transzendiert es das Körperbewusstsein<br />

und wird erleuchtet.<br />

Ein solch erleuchteter Mensch ist unberührt von der Weltlichkeit oder Unwissenheit,<br />

und zwar sogar dann, wenn er in dieser Welt tätig ist. Er ist durch<br />

nichts in dieser Welt angezogen oder abgestoßen. Er weiß: „Was als das 'ich'<br />

und in den drei Perioden der Zeit als 'die Welt' bezeichnet wird, ist nichts als<br />

die Erweiterung der Verbindung zwischen dem reinen Erfahrenden und der<br />

Erfahrung selbst.“ Ob das Objekt des Erfahrens real oder irreal ist, hängt<br />

gänzlich vom Erfahren ab – wie kann es dann noch Freude oder Kummer<br />

geben? Das Falsche ist falsch, das Wahre ist wahr – und eine Vermischung<br />

dieser beiden ist sicherlich falsch! Lass dich nicht täuschen. Gib die falsche<br />

Wahrnehmung auf und erkenne die Wahrheit – dann wirst du niemals wieder<br />

getäuscht werden.<br />

Alles was ist, ist nur die Beziehung zwischen reinem Erfahren und seiner<br />

Erfahrung. Diese Erfahrung ist wahrhaftig die Wonne der Selbst-Seligkeit. Sie<br />

ist reines Erfahren selbst. Daher wird dies als Brahman das Absolute bezeichnet.<br />

Diese Wonne, die im Kontakt dieses reinen Erfahrens mit der Erfahrung<br />

entsteht, ist die höchste: Für den Unwissenden ist sie Weltlichkeit, und<br />

für den Weisen ist sie Befreiung. Dieses reine Erfahren ist das unendliche<br />

Selbst. Sobald es sich den Objekten zuneigt, wird es zur Bindung; wenn es<br />

jedoch frei ist, ist es Befreiung. Wenn ein solches Erfahren frei von Verfall<br />

oder Neugierde ist, dann ist es Befreiung. Und sobald dieses Erfahren sogar<br />

noch frei von diesem Kontakt (der Subjekt-Objekt-Beziehung) ist, dann hört<br />

die Welterscheinung gänzlich auf. Dann taucht das turīya-Bewusstsein oder<br />

der „Tiefschlaf im Wachzustand“ auf.<br />

319


Das Selbst ist weder dies noch das – es transzendiert jedes Objekt des Erfahrens<br />

hier. In der unbegrenzten und unkonditionierten Sichtweise des<br />

Kenners der Wahrheit ist all dies nichts als das eine Selbst, das unendliche<br />

Bewusstsein – da ist nichts, was als das Nicht-Selbst betrachtet werden kann.<br />

Die Substantialität sämtlicher Substanzen ist nichts anderes als das Selbst<br />

oder das unendliche Bewusstsein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, es gibt noch eine andere Geisteshaltung, mit der du ebenfalls die<br />

göttliche Einsicht erlangst und fest in der Selbsterkenntnis verankert bist.<br />

Diese ist wie folgt:<br />

„Ich bin Raum. Ich bin die Sonne. Ich bin die Himmelsrichtungen, oben wie<br />

unten. Ich bin die Götter. Ich bin die Dämonen. Ich bin alle Wesen. Ich bin die<br />

Dunkelheit. Ich bin die Erde, die Ozeane usw. Ich bin der Staub, der Wind, das<br />

Feuer und die ganze Welt. Ich bin allgegenwärtig. Wie könnte es irgendetwas<br />

anderes geben als mich?“<br />

Indem du diese Haltung einnimmst, wirst du jenseits von Freud und Leid<br />

gehen.<br />

Beide Haltungen führen zur Befreiung: Die eine ist „Ich bin das extrem subtile,<br />

transzendente Selbst“, und die andere ist „Ich bin alles und jedes“. Es gibt<br />

noch eine weitere Haltung mit Bezug auf das „Ich“, und diese besteht in „Ich<br />

bin dieser Körper“. Diese Haltung ist die Ursache endlosen Kummers. Gib alle<br />

drei Haltungen auf, Oh Rāma, und verbleibe als reines Bewusstsein. Denn das<br />

Selbst ist transzendental und, da es allgegenwärtig ist, das Licht in allen Dingen<br />

der Welt, obschon diese Dinge in Wahrheit trügerisch sind.<br />

Selbsterkenntnis wird nicht durch Erläuterungen und Beschreibungen erlangt,<br />

auch nicht durch die Anweisungen anderer. Sie wird immer nur durch<br />

direkte Erfahrung erkannt. Was immer auch in dieser Welt erfahren und<br />

gekannt wird, alles ist das Selbst – das Bewusstsein, ohne Dualität des Erfahrenden<br />

und der Erfahrung. Es ist das Selbst allein, welches immer und überall<br />

existiert, aber aufgrund seiner extremen Subtilität wird es nicht erfahren. In<br />

allen Wesen ist es der jīva. Alle Tätigkeiten geschehen im Licht der Sonne,<br />

aber wenn die Tätigkeiten aufhören, erleidet die Sonne keinen Verlust. Ebenso<br />

geschieht es aufgrund des Selbst, dass der Körper usw. arbeitet; aber wenn<br />

dieser stirbt, dann erleidet das Selbst keinerlei Verlust. Weder ist das Selbst<br />

geboren noch stirbt es; weder erwirbt noch wünscht es etwas; weder ist es<br />

gebunden noch befreit – das Selbst ist immer das Selbst.<br />

Das Selbst ist unbeeinflusst von Zeit, Raum usw. – wie kann es dann gebunden<br />

werden? Wenn es demnach keine Bindung gibt – wie könnte es dann<br />

Befreiung geben? Darin besteht die Herrlichkeit des Selbst. Aber weil sie die<br />

Natur des Selbst nicht kennen, weinen und klagen die Menschen hier. Gib die<br />

beiden falschen Konzepte der Bindung und der Befreiung auf und lebe hier<br />

ein erleuchtetes Leben. Da ist keinerlei Befreiung im Himmel oder auf der<br />

Erde oder in den Unterwelten – Befreiung ist stets nur ein Synonym für das<br />

V:73<br />

320


eine Gemüt, echte Selbsterkenntnis und einen wahrhaft erwachten Zustand.<br />

Die vollständige Abwesenheit sämtlicher Wünsche und Hoffnungen ist Befreiung.<br />

Solange einer nicht dieses wahre innere Erwachen oder die Selbsterkenntnis<br />

erlangt hat, hält er sich selbst für gebunden und strebt nach Befreiung.<br />

Gib diese falschen Ideen von Bindung und Befreiung auf und werde ein<br />

„Mensch der höchsten Entsagung“, oh Rāma. Lebe danach ein sehr langes<br />

Leben und regiere die ganze Welt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Selbst, das spielerisch den Körper wahrnimmt, unterhält dann die Idee,<br />

dass es zum Körper geworden sei. All dies, was die Weltillusion ausmacht,<br />

tritt ins Dasein wie eine Luftspiegelung in der Wüste. Diese Illusion breitet<br />

sich dann aus wie Wellen im Ozean und nimmt verschiedene Namen an wie<br />

Gemüt, die Fähigkeit der Unterscheidung, der Ich-Sinn, die latenten Neigungen<br />

und die Sinne. Das Gemüt und der Ich-Sinn sind in Wahrheit nicht zwei,<br />

sondern ein und dasselbe; die Unterscheidung ist rein verbal. Das Gemüt ist<br />

der Ich-Sinn und der Ich-Sinn ist das Gemüt. Nur unwissende Menschen glauben,<br />

dass das eine aus dem anderen geboren worden sei – so wie unwissende<br />

Menschen vielleicht sagen würden, dass die Weiße aus dem Schnee entstanden<br />

sei.<br />

So ist es auch mit Gemüt und Ich-Sinn – hört das eine auf, hört auch das andere<br />

auf. Anstatt die Ideen von Bindung und Befreiung zu unterhalten, gib<br />

alles Verlangen auf und führe durch Weisheit und Leidenschaftslosigkeit das<br />

Ende des Gemüts herbei. Sogar wenn nur der Wunsch „Möge ich doch befreit<br />

sein!“ in dir auftaucht, wird das Gemüt dadurch wiederbelebt. Wenn das<br />

Gemüt dann weitere Ideen unterhält, wird dadurch der Körper geschaffen.<br />

Dann entstehen wiederum andere Konzepte wie „Ich tue dies“, „Ich erfreue<br />

mich dessen“ und „Ich kenne dies alles“. Alle diese Konzepte sind unwirklich<br />

wie eine Luftspiegelung in der Wüste. Da ihre Unwirklichkeit jedoch nicht<br />

erkannt wird, üben diese Illusionen auf das Gemüt eine anziehende Wirkung<br />

aus, so wie eine Luftspiegelung die Tiere irreführt. Wird sie dagegen als eine<br />

Illusion erkannt, dann zieht sie das Gemüt nicht mehr an, so wenig wie eine<br />

Luftspiegelung denjenigen nicht mehr in Bann zieht, der sie als eine solche<br />

erkannt hat. So wie eine Lampe die Dunkelheit vertreibt, so entwurzelt die<br />

Erkenntnis der Wahrheit vollständig alle Konzepte und Konditionierungen.<br />

Wenn einer ernsthaft fragt: „Dieser Körper ist nichts als eine leblose Substanz<br />

– weshalb sollte man seinetwillen auf die Suche nach Vergnügen gehen?“,<br />

dann schwindet alles Verlangen dahin. Und wenn es kein Verlangen<br />

mehr gibt, dann erlebt man im Innern große Seligkeit und höchsten Frieden.<br />

Der Weise der Selbsterkenntnis gewinnt Mut und Festigkeit und strahlt in<br />

seinem eigenen Glanz. Er erfreut sich höchster Zufriedenheit. Er ist erleuchtet,<br />

und dieses innere Licht leuchtet hell in ihm. Er sieht das Selbst als das<br />

Selbst von allen; allgegenwärtig, der Höchste Herr von allem, formlos und<br />

doch alle Formen durchdringend.<br />

V:74<br />

321


Wenn er sich an die Vergangenheit erinnert, wo er noch von Leidenschaft<br />

geschüttelt wurde, lacht er über seine eigene Unwissenheit. Er ist weit entfernt<br />

von schlechter Gesellschaft, frei von mentaler Verzweiflung, jedoch fest<br />

verankert in der Selbsterkenntnis. Er wird von allen verehrt, von allen gesucht,<br />

von allen gelobt, aber er verbleibt gleichgültig. Weder gibt er, noch<br />

nimmt er; weder beleidigt er, noch preist er jemanden; weder frohlockt er,<br />

noch trauert er. Er ist ein Weiser, befreit noch im Leben – der alle vorsätzlichen<br />

Tätigkeiten aufgegeben hat, der frei von der Konditionierung ist und alle<br />

Wünsche und Hoffnungen fahren gelassen hat. Oh Rāma, gib alle Wünsche auf<br />

und verbleibe im Frieden in dir selbst. Keine Freude in dieser Welt ist vergleichbar<br />

mit dem Entzücken, welche dein Herz erfüllen wird, sobald du alle<br />

Wünsche und Hoffnungen vollständig aufgegeben hast. Nicht in einem Königreich,<br />

nicht im Himmel, nicht in der Gesellschaft der Geliebten erfährt man<br />

dieses Entzücken, wie wenn man frei von Hoffnung ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wer mit Wunschlosigkeit (Hoffnungslosigkeit) ausgestattet ist, der behandelt<br />

die ganze große Welt wie den Hufabdruck eines Kälbchens, den höchsten<br />

Berg wie den Stumpf eines gefällten Baumes, den Weltraum wie eine kleine<br />

Schachtel und die drei Welten wie einen Grashalm. Über die Aktivitäten der<br />

weltlich gesinnten Menschen lacht er nur. Mit wem oder was kann man eine<br />

solche Person vergleichen? Wie kann irgendetwas den Gleichmut einer Person<br />

erschüttern, die gänzlich frei von Gedanken ist wie „Ich wünschte, dies<br />

wäre mir geschehen“? Oh Rāma, es ist der Wunsch oder die Hoffnung, die uns<br />

in Bewegung hält, die wir auf das Rad der Weltillusion gebunden sind.<br />

Wenn du die Wahrheit erkennst, dass das Selbst allein all dieses ist und<br />

dass Vielfalt nur ein Wort ohne jede Substanz ist, dann wirst du vollkommen<br />

frei von Wunsch und Erwartung werden. Ein solcher Held, ausgestattet mit<br />

der höchsten Leidenschaftslosigkeit, vertreibt den Kobold der Illusion schon<br />

durch seine bloße Gegenwart. Er ist nicht vergnügt durch Vergnügen, nicht<br />

beunruhigt durch Schwierigkeiten. Sensationen bewegen ihn so wenig wie<br />

der Wind einen Berg entwurzeln kann. Die Zwillingskräfte der Anziehung und<br />

Abstoßung vermögen ihn nicht zu berühren. Auf alles schaut er mit demselben<br />

Gleichmut.<br />

Frei von der leisesten Anhaftung erfreut er sich dessen, was ungesucht zu<br />

ihm kommt, so wie die Augen ihre Objekte ohne Wunsch oder Hass anschauen.<br />

Daher erzeugen die Erfahrungen in ihm weder Jubel noch Leid. Obwohl er<br />

ausgiebig mit den alltäglichen Beschäftigungen in der Welt befasst zu sein<br />

scheint, wird sein Bewusstsein davon nicht im mindestens berührt. Was<br />

immer ihm gemäß der Gesetzmäßigkeiten von Zeit, Raum und Verursachung<br />

zustoßen mag, sei dieses nun erfreulich oder unerfreulich – innerlich verbleibt<br />

er stets unberührt.<br />

So wie ein Seil, das versehentlich für eine Schlange gehalten wurde, denjenigen<br />

nicht beunruhigen kann, der es als Seil und nicht als Schlange zu sehen<br />

vermag, so kehrt die einmal zerstörte Illusion nicht zurück, und so geht auch<br />

322


die einmal erlangte Selbsterkenntnis nicht wieder verloren. Kann denn jemand<br />

die vom Baum gefallene Frucht wieder an ihren alten Platz setzen?<br />

Der Kenner der Wahrheit betrachtet selbst die schönste Frau wie ein gemaltes<br />

Bild, was auch der Wahrheit entspricht, denn beide bestehen aus denselben<br />

Substanzen (Erde und Wasser usw.) Wenn einmal die Wahrheit gesehen<br />

wird, dann taucht der Wunsch zu besitzen nicht länger im Herzen auf. So wie<br />

eine Frau, die einen Liebhaber hat, ihrer Hausarbeit nachgeht und dabei<br />

beständig an den Liebhaber denkt, so ist auch der Weise in dieser Welt tätig,<br />

während sein Bewusstsein ständig in der Wahrheit fest verankert ist. In beiden<br />

Fällen wäre es unmöglich, dieses Verhalten zu verhindern – d.h., die Frau<br />

den Liebhaber oder den Weisen die Wahrheit vergessen zu machen.<br />

Der erleuchtete Weise weiß, dass dieses Selbst nicht stirbt, wenn der Körper<br />

stirbt; nicht weint, wenn die Augen Tränen vergießen; nicht verbrannt<br />

wird, wenn der Körper verbrannt wird; nicht verloren ist, wenn alles verloren<br />

ist. Was immer ihm widerfährt, ob er nun mittellos oder wohlhabend ist, ob<br />

er in einem Palast wohnt oder im Wald – stets ist er im Innern unberührt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Sehr viele dieser befreiten Weisen leben im Universum, oh Rāma. Ich werde<br />

dir nur einige wenige Beispiele dafür geben: Janaka der Kaiser, dein eigener<br />

Ahn, der Kaiser Dilīpa, Manu, der erste Regent der Welt, der Kaiser Māndhātā,<br />

der viele Kriege führte, die Dämonenkönige Bali, NamÆci, V­tra (der sogar mit<br />

Indra, dem König der Götter, focht), Prahlāda und Saæbara, die Lehrer der<br />

Götter und Dämonen, wie auch die Trinität (die mit der Schöpfung, Erhaltung<br />

und Auflösung des Universums befasst ist), Weise wie Viśvāmitra und Nārada<br />

als auch die Gottheiten, die über die natürlichen Elemente wie Feuer und Luft<br />

herrschen.<br />

Es gibt noch tausende, oh Rāma, die im Universum existieren und befreit<br />

sind. Einige von ihnen sind Weise, andere sind Könige, manche wiederum<br />

erstrahlen als Sterne und Planeten, wieder andere sind Gottheiten oder Dämonen.<br />

Oh Rāma, befreite Wesen gibt es sogar unter Würmern und Insekten,<br />

so wie es närrische Dummköpfe unter den Göttern gibt. Das Selbst ist in allen<br />

– es existiert als alles überall alle Zeit und auf alle Arten. Das Selbst allein ist<br />

der Höchste Herr und alle Gottheiten. Es gibt Leere (Raum) in den Substanzen<br />

und Substantialität in der Leere oder im Raum. Was ungeeignet ist, erscheint<br />

im Verlauf der Ergründung als geeignet. Die Menschen sind rechtschaffen,<br />

weil sie die Folgen der Sünde fürchten. Sogar was nicht ist, führt<br />

schließlich zu dem, was ist: Die Kontemplation von Raum oder Leere führt<br />

zur Erlangung der höchsten Wahrheit! Was nicht ist, tritt ins Dasein, geleitet<br />

von Raum und Zeit. Was stark und mächtig ist, geht nur seiner eigenen Zerstörung<br />

entgegen. Gib, oh Rāma, auf diese Weise betrachtend, Freude und<br />

Sorge, Trauer und Anhaftung auf. Das Unwirkliche erscheint als wirklich und<br />

das Wirkliche als unwirklich – gib daher Hoffnung als auch Hoffnungslosigkeit<br />

auf und erlange den Gleichmut.<br />

V:75<br />

323


In dieser Welt, oh Rāma, ist die Befreiung immer und überall erreichbar.<br />

Durch Eigenbemühung haben schon Millionen von Wesen die Befreiung erlangt.<br />

Die Befreiung ist, je nach der eigenen Weisheit oder Unweisheit, leicht<br />

oder schwierig. Entzünde daher, oh Rāma, die Lampe der Weisheit in dir.<br />

Durch die Vision des Selbst wird der Kummer enthauptet.<br />

Es hat schon zahllose Wesen in dieser Welt gegeben, die die Selbsterkenntnis<br />

und Befreiung noch zu Lebzeiten erlangt haben wie etwa Kaiser Janaka.<br />

Deshalb werde auch du hier und jetzt befreit. Das Erlangen des inneren Friedens<br />

durch äußerste Nicht-Anhaftung an irgendetwas wird Befreiung genannt.<br />

Möglich wird dies unabhängig davon, ob der Körper existiert oder<br />

nicht existiert. Wer frei von sämtlichen Anhaftungen ist, der ist befreit. Man<br />

soll auf intelligente und weise Art nach der Erlangung dieser Befreiung streben.<br />

Wer sich nicht bemüht, der vermag nicht einmal die Hufspur eines Kälbchens<br />

zu überspringen. Daher, oh Rāma, nimm deine Zuflucht zum spirituellen<br />

Heldenmut, zu rechter Übung, und kämpfe mit rechter Selbstergründung<br />

danach, die Vollkommenheit der Selbsterkenntnis zu erlangen. Für den, der<br />

danach strebt, ist das gesamte Universum nur wie die Hufabdruck eines Kälbchens.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

All diese Welten, oh Rāma, erscheinen in Brahman dem Absoluten; wahrgenommen<br />

werden sie jedoch aufgrund der Unwissenheit oder Nicht-Weisheit<br />

als eine unabhängige, substanzielle Realität. Diese fehlerhafte Vorstellung<br />

hört mit der Erlangung der Weisheit auf. Es ist die fehlerhafte Wahrnehmung,<br />

die all dies hier als „die Welt“ in Erscheinung treten lässt; die richtige Wahrnehmung<br />

dagegen führt zum Aufhören dieses Fehlers. Rāma, dieser Fehler<br />

wird nur durch die rechte Bemühung zusammen mit der rechten Haltung und<br />

Weisheit beseitigt. Schande über die Person, oh Rāma, die versunken im<br />

Sumpf der Weltillusion bleibt, obwohl doch die Möglichkeit zur Überwindung<br />

dieses Fehlers existiert. Gesegnet bist du, oh Rāma, dass sich in deinem Herzen<br />

bereits der Geist der rechten Ergründung manifestiert hat. Sobald die<br />

Wahrheit durch diese Ergründung realisiert wird, werden Stärke, Intelligenz<br />

und Ausstrahlung gekräftigt.<br />

Der Weise, der die Wahrheit erkannt hat und hier und jetzt befreit von Irrtum<br />

ist, der nimmt diese Welt wahr, als wäre er im Tiefschlaf, ohne das geringste<br />

Verlangen. Mit seiner inneren Intelligenz nimmt er nicht einmal die<br />

Objekte und Erfahrungen wahr, die ungesucht zu ihm kommen, denn sein<br />

Herz ist gänzlich in sich selbst zurückgezogen. Er hegt keinerlei Hoffnungen<br />

für die Zukunft und erinnert sich nicht an die Vergangenheit; er lebt nicht in<br />

der Gegenwart und ist doch stets tätig. Schlafend ist er wach, wachend schläft<br />

er. Er tut alles und tut doch nichts. Innerlich hat er allem entsagt, obwohl er<br />

äußerlich als tätig erscheint. Für immer befindet er sich im Zustand des<br />

Gleichgewichts. Seine Handlungen sind vollkommen nicht-willentlich.<br />

Der Weise haftet an nichts und niemandem. Daher ist sein Betragen herzlich<br />

gegenüber den Herzlichen und rau gegenüber den Rauen. Er ist wie ein<br />

V:76, 77<br />

324


V:78<br />

Kind unter Kindern, ein alter Mann unter den Alten, ein Held unter Helden,<br />

ein Jugendlicher unter Jugendlichen und ein Trauernder unter den Trauernden.<br />

Seine sanften und liebevollen Worte sind voller Weisheit. Nichts hat er<br />

von edlen Taten zu gewinnen, und doch ist er edel; er empfindet kein Verlangen<br />

nach Vergnügen und wird daher nicht von ihm verführt. Er ist nicht an<br />

Bindung und nicht einmal an Befreiung interessiert. Wenn das Fangnetz der<br />

Unwissenheit und des Irrtums vom Feuer der Weisheit verbrannt ist, fliegt<br />

der Vogel des Bewusstseins fort in die Freiheit.<br />

Weder jubelt er, wenn seine Bemühungen Früchte tragen, noch klagt er, falls<br />

nicht. Wie ein spielendes Kind scheint er zu geben und zu nehmen. Er ist<br />

nicht überrascht, wenn der Mond heiß oder die Sonne kalt scheinen sollten.<br />

Wissend, dass das unendliche Bewusstsein all dies und noch mehr mit Leichtigkeit<br />

herbeiführen kann, ist er nicht im mindesten über seltsame Phänomene<br />

erstaunt. Weder ist er schüchtern noch wird er von Zornausbrüchen heimgesucht.<br />

Wissend, dass die Wesen dauernd geboren werden und sterben, gibt er<br />

Trauer und Kummer keinerlei Raum. Er weiß, dass die Welt in ihm auftaucht<br />

so wie Traumobjekte im Schlaf auftauchen, und dass daher alle diese Objekte<br />

nur von momentaner Existenz sind. Deshalb gibt es für ihn keinen Grund zu<br />

jubeln oder zu trauern. Sobald alle diese Konzepte wie Vergnügen und<br />

Schmerzen, Wünschenswertes und Nicht-Wünschenswertes aufhören, hören<br />

auch alle Ideen im Gemüt auf. Irrtümer tauchen nie wieder auf, so wie aus<br />

verbrannten Samen kein Öl mehr gewonnen werden kann.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, so wie ein illusorischer Feuerkreis durch einen kreisenden Feuerbrand<br />

entsteht, so entsteht durch Vibration im Bewusstsein diese illusorische<br />

Erscheinung der Welt. Vibration und Bewusstsein sind unzertrennlich<br />

wie die Weiße des Schnees, das Öl im Sesamsamen, der Duft der Blüte und die<br />

Hitze des Feuers. Ihre Beschreibung als verschiedene Kategorien beruht auf<br />

Irrtum. Das Gemüt und die Bewegung der Gedanken sind untrennbar – das<br />

Aufhören des einen ist das Aufhören des anderen.<br />

Oh Rāma, es gibt zwei Wege, mit denen dieses Aufhören erlangt werden<br />

kann: Der Weg des <strong>Yoga</strong>, der die Zurückhaltung der Gedankenwellen beinhaltet,<br />

und der Weg der Erkenntnis, der die rechte Erkenntnis der Wahrheit<br />

beinhaltet.<br />

Die Energie (wörtlich Luft), die in diesem Körper in den Energiekanälen<br />

(nādī bedeutet wörtlich „Kanal für Bewegung“, aber nicht notwendigerweise<br />

Nerv, obwohl man dies zur Vereinfachung so nennen kann) zirkuliert, wird<br />

prāïa genannt. Entsprechend seiner verschiedenen Funktionen im Körper<br />

wird es auch apāna usw. genannt. Dieses prāïa ist untrennbar eins mit dem<br />

Gemüt. In Wahrheit ist das Bewusstsein, welches aufgrund der Bewegung von<br />

prāïa zum Denken neigt, das Gemüt. Die Gedankenbewegungen im Gemüt<br />

entstehen aufgrund der Bewegungen des prāïa, während die Bewegungen<br />

325


V:79<br />

des prāïa aus den Bewegungen der Gedanken im Bewusstsein entstehen.<br />

Beide bilden so einen Zyklus wechselseitiger Bedingtheit – wie Wellen und<br />

Strömungen im Wasser.<br />

Die Weisen erklären, dass das Gemüt durch die Bewegung des prāïa verursacht<br />

wird und das Zurückhalten des prāïa daher zur Stillheit des Gemüts<br />

führt. Wenn das Gemüt die Bewegung der Gedanken aufgibt, dann hört auch<br />

die Erscheinung der Weltillusion auf. Wenn alle Hoffnungen und Wünsche im<br />

Herzen aufgehört haben durch das ernsthafte Praktizieren der Anweisungen<br />

der Schriften und der Weisen, durch Leidenschaftslosigkeit aus früheren<br />

Geburten und man durch Kontemplation oder Meditation so weit gekommen<br />

ist, dass man der einen Wahrheit vollkommen und ausschließlich ergeben ist,<br />

dann wird die Bewegung des prana angehalten.<br />

Die Bewegung des prāïa wird ferner angehalten durch die mühelose Praxis<br />

des Einatmens usw. ohne Anstrengung, in der Abgeschiedenheit; oder durch<br />

die Wiederholung des heiligen Wortes OM zusammen mit der Erfahrung<br />

seiner Bedeutung, wenn das Bewusstsein den Zustand des Tiefschlafs erlangt.<br />

Folgende Praktiken führen alle zum Anhalten der Bewegungen des prāïa: Die<br />

Praxis des Ausatmens, wenn das prāïa frei im Raum schwebt ohne die Glieder<br />

des Körpers zu berühren; durch Einatmen und das dadurch entstehende<br />

ruhige Fließen des prāïa; und durch Zurückhaltung, wodurch das prana für<br />

eine längere Zeitdauer zu einem Stillstand kommt; durch das Schließen der<br />

Nasenhöhleneingänge mit der Zungenspitze, wenn das prāïa sich in Richtung<br />

des Schädeldachs bewegt; durch die Praxis der Meditation, in der es keine<br />

Gedankenbewegung gibt; durch die stetige Konzentration des Bewusstseins<br />

auf einen Punkt 30 Zentimeter vor der Nasenspitze; durch das Eintreten des<br />

prāïa in die Stirn durch den Gaumen und die oberste Öffnung; durch das<br />

Fixieren des prāïa zwischen den Augenbrauen; oder durch das plötzliche<br />

Aufhören der Gedankenbewegung oder das Aufhören aller mentalen Konditionierung<br />

durch Meditation im Herzzentrum über eine längere Zeitdauer<br />

hinweg.<br />

RùMA fragte: Hoher Herr, was ist dieses Herz, von dem ihr sprecht?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, in diesem Zusammenhang spricht man von zwei Aspekten des<br />

„Herzens“, von denen der eine akzeptabel und der andere zu ignorieren ist.<br />

Das Herz, welches Bestandteil dieses physischen Körpers ist und sich auf der<br />

einen Seite desselben befindet, muss ignoriert werden! Das akzeptable Herz<br />

dagegen ist reines Bewusstsein. Es befindet sich innen und außen und ist<br />

weder innen noch außen. Dieses ist das wirkliche Herz, und in ihm wird alles<br />

im Universum widerspiegelt, und es ist das Schatzhaus, das allen Reichtum<br />

enthält. Nur Bewusstsein ist das Herz aller Wesen, nicht aber das Stück<br />

Fleisch, welches die Leute Herz nennen! Sobald daher das Gemüt, frei von<br />

aller Konditionierung, in reines Bewusstsein übergeht, wird die Bewegung<br />

des prāïa angehalten.<br />

326


Durch eine dieser Methoden, vorgeschlagen von verschiedenen Lehrern,<br />

kann die Bewegung des prāïa angehalten werden. Diese yogischen Methoden<br />

führen zum gewünschten Erfolg, wenn sie ohne Gewalt oder übertriebene<br />

Anstrengung praktiziert werden. Sobald jemand in einer solchen Praxis verankert<br />

ist, gleichzeitig in Leidenschaftslosigkeit wächst und die mentale Konditionierung<br />

vollkommen aufgelöst ist, dann erfolgt daraus die Zurückhaltung<br />

des prāïa.<br />

In seiner Praxis kann man entweder das Zentrum zwischen den Augenbrauen,<br />

den Gaumen, die Nasenspitze oder die Stirn (30 cm vor der Nase) zur<br />

Orientierung verwenden – das Ergebnis wird sein, dass das prāïa zurückgehalten<br />

wird. Außerdem, wenn durch ständige und ausdauernde Praxis mit<br />

der Zungenspitze das Zäpfchen berührt werden kann, dann wird die Bewegung<br />

des prāïa eingeschränkt. Gewiss scheinen alle diese Praktiken wie<br />

Ablenkungen zu sein, jedoch erreicht man durch stetiges Üben die Abwesenheit<br />

aller Ablenkungen. Es geschieht nur durch solch ausdauernde Übungen,<br />

dass man frei vom Kummer wird und die Seligkeit des Selbst erfährt. Praktiziere<br />

daher <strong>Yoga</strong>. Wenn durch eine solche Praxis die Bewegung des prāïa<br />

angehalten wird, dann verbleibt nur noch nirvāïa oder die Befreiung. Darin<br />

liegt alles; von daher kommt alles; es ist selbst alles, und es ist überall: In ihm<br />

ist weder diese Welterscheinung, noch entstammt es dieser, noch ist die<br />

Welterscheinung wie jenes! Wer fest darin verankert ist, ist noch zu Lebzeiten<br />

befreit.<br />

Wessen Gemüt durch die Praxis des <strong>Yoga</strong> fest im Frieden verankert ist, der<br />

hat die rechte Sicht der Wahrheit. Die rechte Sicht besteht darin zu sehen,<br />

dass das höchste Selbst ohne Anfang und Ende ist, und dass alle diese zahllosen<br />

Objekte in Wahrheit das Selbst und nichts anderes sind. Irrtümliche Sicht<br />

führt zur Wiedergeburt; rechte Sicht beendet die Wiedergeburt. Es ist darin<br />

keinerlei Subjekt-Objekt-Beziehung (Kenner und Gekanntes), denn das Selbst<br />

(Bewusstsein) ist der Kenner, das Kennen und das Gekannte zugleich – eine<br />

Getrenntheit ist reine Unwissenheit. Wird dieses unmittelbar erkannt, dann<br />

gibt es keine Bindung und keine Befreiung. Wenn der Weise in seinem eigenen<br />

Selbst ruht, wobei sein Verstand fest im inneren Selbst verankert ist –<br />

welche Vergnügen könnten ihn dann noch fesseln in dieser Welt?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wer mit der Selbstergründung befasst ist, wird nicht durch Zerstreuungen<br />

verführt. Die Augen sehen einfach, sonst nichts – die Ideen des Erfreulichen,<br />

Unerfreulichen usw. tauchen nicht im Auge auf, sondern anderswo, und ebenso<br />

ist es auch mit den übrigen Sinnen. Die Sinnesfunktionen sind daher nicht<br />

von Natur aus schlecht. Wenn das egoistische Denken mit diesen Sinnesfunktionen<br />

(welche in einem Augenblick entstehen und wieder vergehen) verknüpft<br />

wird, dann gibt es mentale Erregung.<br />

Oh ihr Augen! Die Gegenstände eurer Wahrnehmung entstehen und vergehen<br />

und sind nichts als Schatten. Lasst euren Blick nicht auf ihnen verweilen,<br />

V:80<br />

327


V:81<br />

damit nicht das innewohnende ewige Bewusstsein die Sterblichkeit zu erleiden<br />

hat. Sei der Beobachter von allem, der du in Wahrheit bist. Oh Gemüt!<br />

Zahllose Bilder werden von den Augen in Übereinstimmung mit ihrer natürlichen<br />

Funktion gesehen – weshalb lässt du dich hineinziehen? Auch wenn<br />

diese Bilderfolgen im Gemüt reflektiert und von ihm ausgewertet werden –<br />

weshalb reagierst du auf sie mit dem Ich-Sinn? Es gibt ohne jeden Zweifel<br />

eine intime Beziehung zwischen den Augen und ihren Objekten – aber weshalb<br />

musst du dich selbst anbieten und sie anerkennen? Wahrlich sind Bild,<br />

Sicht und Gemüt ohne jede Beziehung zueinander wie das Gesicht, der Spiegel<br />

und die Widerspiegelung. Und doch taucht irgendwie die illusorische Idee<br />

von „Ich sehe dies“ auf. Die Unwissenheit ist das Wachs, in dem all dies zusammen<br />

eingeschmolzen wird, aber die Selbsterkenntnis ist das Feuer, in<br />

dessen Hitze das Wachs wieder schmilzt!<br />

In der Tat geschieht es durch wiederholtes Denken, dass diese irrige Beziehung<br />

gekräftigt wird, aber nun werde ich sie durch rechte Ergründung zerstören.<br />

Sobald die Unwissenheit zerstört ist, taucht diese illusorische Beziehung<br />

zwischen Bild, Sicht und Gemüt niemals wieder auf. Das Gemüt allein<br />

liefert den Sinnen die nötige Intelligenz – folglich muss das Gemüt zerstört<br />

werden. Oh Gemüt – weshalb lässt du dich vergeblich durch die fünf Sinne<br />

erregen? Nur derjenige, der denkt: „Es ist mein Gemüt“, wird durch dich getäuscht.<br />

Du existierst überhaupt nicht, oh Gemüt. Mich kümmert nicht, ob du<br />

bleibst oder mich verlässt. Du bist unwirklich, leblos, illusorisch. Nur der<br />

Narr lässt sich von dir belästigen, nicht aber der weise Mensch. Das Verstehen<br />

setzt der Finsternis der Unwissenheit ein Ende. Verlasse diesen Körper, oh<br />

Gespenst, zusammen mit deinem Verlangen und deinen Emotionen wie dem<br />

Zorn. Oh Gemüt, heute habe ich dich umgebracht, denn ich habe erkannt, dass<br />

du in Wahrheit niemals existiert hast.<br />

Eine sehr lange Zeit hindurch hat dieses Gespenst des Gemüts zahllose böse<br />

Vorstellungen wie Lust, Zorn u.a. erzeugt. Da nun dieses Gespenst endlich<br />

gefallen ist, lache ich nur über meine eigene, vergangene Dummheit. Das<br />

Gemüt ist tot – alle meine Ängste und Besorgnisse sind tot – der Dämon Ich-<br />

Sinn ist ebenfalls tot. All dieses erlangte ich durch das Mantra der Selbst-<br />

Ergründung. Nun bin ich frei und glücklich. All meine Hoffnungen und Wünsche<br />

haben mich verlassen. Ich verneige mich vor meinem eigenen Selbst! Da<br />

ist keine Täuschung, keine Sorge, kein Ich und kein anderer mehr! Weder bin<br />

ich das Selbst noch irgendjemand sonst – ich bin Alles in Allem: Ich verneige<br />

mich vor meinem eigenen Selbst! Ich bin der Anfang. Ich bin das Bewusstsein.<br />

Ich bin alle Universen. Es gibt keinerlei Getrenntheit in mir. Verehrung für<br />

mein eigenes Selbst allein! Dem, was gleichermaßen allgegenwärtig in allen<br />

ist – dieser subtilen, innewohnenden Allgegenwart, dem Selbst, entbiete ich<br />

meine höchste Verehrung!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, nachdem der weise Mensch auf diese Weise überlegt hat, sollte er<br />

in der folgenden Weise fortfahren:<br />

328


„Wenn das Selbst (Bewusstsein) allein all dieses ist, und wenn das Gemüt<br />

durch dieses Verstehen gereinigt worden ist – was ist dann noch als Gemüt zu<br />

bezeichnen? Das Gemüt ist gewiss inexistent. Ob es nun unsichtbar, das Nicht-<br />

Gemüt oder die illusorische Erscheinung ist – so viel ist gewiss: entweder<br />

existiert es nicht oder es ist eine bloße Illusion. Da nun all die Verrücktheit<br />

und Täuschung aufgehört hat, vermag ich nicht länger zu erkennen, was<br />

eigentlich das Gemüt ist.<br />

„Alle meine Zweifel sind verschwunden. Ich bin frei vom Fieber der Erregtheit.<br />

Was immer ich bin, bin ich, aber ohne alles Verlangen. Wenn das Gemüt<br />

aufhört zu sein, dann hört auch das Verlangen auf. Wenn das Gemüt tot ist,<br />

wenn das Verlangen tot ist – dann ist die Täuschung verschwunden und die<br />

Egolosigkeit geboren. Daher bin ich nun in diesen Zustand des Wachseins<br />

erwacht. Wenn es nur eine Wahrheit gibt und Vielfalt keinerlei Realität beanspruchen<br />

kann – was soll ich dann noch erforschen?<br />

„Ich bin das ewige Selbst, welches allgegenwärtig und subtil ist. Ich habe<br />

den Zustand der Wirklichkeit erreicht, der in nichts reflektiert wird, der anfangslos<br />

ist und endlos und gänzlich rein. Was auch immer ist, und was auch<br />

immer nicht ist – das Gemüt und die innere Wirklichkeit sind nichts als das<br />

eine unendliche Bewusstsein, welches höchster Friede jenseits von allem<br />

Verstehen ist und von dem alles durchdrungen wird. Lass das Gemüt leben<br />

oder sterben. Was hat es für einen Sinn, all dies zu erforschen und zu untersuchen,<br />

wenn doch das Selbst in äußerstem Gleichmut verharrt? Ich verharrte,<br />

solange ich närrischerweise mit dieser Ergründung befasst war, in einem<br />

konditionierten Zustand. Nun, da ich das unkonditionierte Sein erlangt habe –<br />

wer ist jetzt noch der Ergründer?<br />

„Solche Gedanken sind von äußerster Nutzlosigkeit; jetzt, da das Gemüt tot<br />

ist. Sie könnten aber dieses Gespenst neu beleben, welches man das Gemüt<br />

nennt. Und darum gebe ich alle diese Gedanken und Ideen ein für allemal auf.<br />

Ich kontempliere OM und verbleibe im Selbst, im vollkommenen inneren<br />

Frieden.“<br />

Auf diese Weise sollte ein weiser Mensch stets die Natur der Wahrheit untersuchen,<br />

was auch immer er dabei tun mag. Aufgrund dieser Untersuchung<br />

verbleibt das Gemüt verankert in sich selbst. Es ist dann frei von aller Erregung<br />

und führt seine natürlichen Funktionen aus.<br />

Die Heiligen mit unkonditioniertem Bewusstsein leben und arbeiten hier<br />

frei von Stolz und Täuschung mit einem Herzen, das stets frohlockt. Sie leuchten<br />

mit göttlicher Ausstrahlung und gehen ihren natürlichen Beschäftigungen<br />

nach.<br />

Die oben beschriebene Form der Ergründung wurde von dem Weisen<br />

Samvarta praktiziert, und er hat sie mir selbst einmal beschrieben.<br />

* * *<br />

329


Die Geschichte von Vītahavya<br />

V:82<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es gibt noch eine weitere Form der Ergründung, wie sie der Weise<br />

Vītahavya gepflegt hat. Dieser Weise wanderte einst in den Wäldern der<br />

Bergregionen umher, die die Vindhyas genannt werden. Eines Tages wurde er<br />

der Angelegenheiten dieser Weltgänzlich überdrüssig. Mit Hilfe einer Kontemplation,<br />

die völlig frei von allen irrigen Vorstellungen und Gedanken war,<br />

legte er die Welt wie eine abgetragene Illusion beiseite. Er betrat seine Einsiedelei,<br />

setzte sich in die Lotos-Position und verblieb so, fest wie ein Berggipfel.<br />

Nachdem er alle Sinne in sich zurückgezogen und<br />

die Aufmerksamkeit seines Gemüts auf sein Inneres gerichtet hatte, begann<br />

er wie folgt zu kontemplieren:<br />

Wie launisch doch mein Gemüt ist! Sogar dann, wenn es nach innen gekehrt<br />

ist, verbleibt es nicht in der Ruhe, sondern gerät schon nach kurzer Zeit wieder<br />

in Erregung, wie die Oberfläche des Meeres. An die Sinne (wie z. B. das<br />

Sehvermögen) gebunden, hüpft es wieder und wieder wie ein Ball hin und<br />

her. Aufs Neue durch die Sinne gefüttert, ergreift das Gemüt die Objekte, die<br />

es eben noch verworfen hat, und rennt, wie eine wahnsinnige Person, hinter<br />

dem her, was es schon beiseitegelegt hatte. Es springt wie ein Affe von einem<br />

Objekt zum nächsten.<br />

Ich werde mich nun mit der Untersuchung der fünf Sinne befassen, durch<br />

welche sich das Gemüt so sehr zerstreuen lässt. Oh ihr Sinne! Ist für euch die<br />

Zeit der Selbsterkenntnis immer noch nicht gekommen? Erinnert ihr euch<br />

denn nicht der Leiden, die euch beim Verfolgen des Vergnügens auf dem Fuße<br />

folgten? Gebt doch endlich diese sinnlosen Erregungen auf! In Wirklichkeit<br />

seid ihr leblos und nicht fühlend – ihr seid nur der Weg, auf dem das Gemüt<br />

auf der Suche nach objektiven Erfahrungen wandert. Ich dagegen bin euer<br />

Herr, ich bin Bewusstsein, und ich allein als die reine Intelligenz tue all dies.<br />

Ihr, oh ihr Sinne, seid nicht echt! Zwischen euch und dem Bewusstsein, welches<br />

das Selbst ist, besteht nicht die geringste Verbindung. Im Licht des Bewusstseins,<br />

welches nicht-willentlich ist, arbeitet ihr auf die gleiche Weise<br />

wie die Menschen, die im Licht der Sonne ihren verschiedenen Tätigkeiten<br />

nachgehen. Gebt euch nicht der Illusion hin, oh ihr Sinne, dass ihr intelligent<br />

seid, denn ihr seid es nicht! Sogar die Idee „Ich bin lebendig“, die ihr fälschlicherweise<br />

unterhaltet, führt zu nichts als Leid.<br />

Es gibt nichts als Bewusstsein, das anfangslos und endlos ist. Oh du verrücktes<br />

Gemüt – was bist du dann noch? Diese Ideen, die in dir entstehen, wie<br />

„Ich bin der Täter“ oder „Ich bin der Genießer“, scheinen ein großartiges<br />

Verjüngungsmittel zu sein, aber sie sind nichts als tödliche Gifte. Sei nicht so<br />

getäuscht, oh Gemüt – weder bist du in Wahrheit der Täter von irgendetwas<br />

noch der Erfahrende. Du bist leblos, und deine Intelligenz kommt von einer<br />

330


anderen Quelle. Wie stehen dann Vergnügen mit dir in Verbindung? Du selbst<br />

existierst überhaupt nicht – wie kannst du dann eine Beziehung mit etwas<br />

haben? Wenn du erkennst: „Ich bin nichts als reines Bewusstsein“, dann bist<br />

du in der Tat das Selbst. Und wie kann dann noch Kummer in dir sein, der du<br />

das unbegrenzte und unkonditionierte Bewusstsein bist?<br />

VĪTAHAVYA fuhr fort zu kontemplieren:<br />

Oh Gemüt, ich werde dir sanft beibringen, dass du in der Tat weder der Täter<br />

noch der Erfahrende bist. Du bist in der Tat leblos – wie kann eine Statue<br />

aus Stein tanzen? Wenn deine Intelligenz gänzlich abhängig ist vom unendlichen<br />

Bewusstsein, dann lebe lang in dieser Erkenntnis. Was ferner mit der<br />

Intelligenz oder der Energie eines anderen getan wird, das wird in Wahrheit<br />

von diesem letzteren getan. Die Sichel schneidet mit der Energie des Bauern<br />

das Korn, und daher ist der Bauer eigentlich der Schnitter. Und ebenso ist der<br />

Mann, der das Schwert führt, der Tötende, aber nicht das Schwert, welches<br />

tötet. Du bist leblos, oh Gemüt, deine Intelligenz stammt vom unendlichen<br />

Bewusstsein. Das Selbst oder das unendliche Bewusstsein kennt sich selbst<br />

durch sich selbst und erfährt sich selbst in sich selbst durch sich selbst. Der<br />

Höchste Herr bemüht sich beständig um deine Erleuchtung, denn die Weisen<br />

sollen die Unwissenden auf hundert Arten unterweisen. Das Licht des Selbst<br />

allein existiert als Bewusstsein oder Intelligenz, und dies wurde als das Gemüt<br />

bekannt. Sobald du diese Wahrheit realisierst, wirst du dich im selben<br />

Moment auflösen.<br />

Oh du Narr, wenn du doch in Wahrheit das unendliche Bewusstsein bist –<br />

weshalb trauerst du? Dies ist das Allgegenwärtige, dies ist Alles – sobald du<br />

dies realisiert hast, wirst du selbst zu Allem. Du bist nicht, der Körper ist<br />

nicht – nur die eine unendliche Bewusstheit existiert, und in diesem homogenen<br />

Sein erscheinen die verschiedenen Konzepte wie „Ich“ und „Du“. Wenn du<br />

das Selbst bist, dann existiert auch nur das Selbst allein, aber nicht du! Wenn<br />

du leblos bist, aber verschieden vom Selbst, dann existiert du ebenfalls nicht!<br />

Denn das Selbst oder das unendliche Bewusstsein allein ist Alles – etwas<br />

anderes gibt es nicht. Die Existenz von etwas Drittem, getrennt vom Bewusstsein<br />

und der leblosen Substanz, ist unmöglich.<br />

Folglich, oh Gemüt, bist du weder der Täter noch der Erfahrende. Du wirst<br />

von den Weisen nur als Kanal benutzt, um die Unwissenden zu unterweisen.<br />

Tatsächlich jedoch ist dieser Kanal irreal und leblos – das Selbst ist die einzige<br />

Realität. Kann die Sichel selber ernten, wenn es keinen Bauern gibt? Auch<br />

das Schwert verfügt nicht über eine eigene Macht zu töten. Oh Gemüt – weder<br />

bist du der Täter noch der Erfahrende; trauere daher nicht. Der Höchste Herr<br />

(Bewusstsein) ist nicht wie du – trauere daher auch nicht um ihn! Er gewinnt<br />

nichts dadurch, dass er etwas tut oder unterlässt. Er allein durchdringt alles –<br />

etwas anderes gibt es nicht. Was sollte er also tun oder wünschen?<br />

Du hast keinerlei Beziehung zum Selbst, es sei denn in der Art und Weise<br />

des Duftes in Beziehung zur Blume. Eine Beziehung herrscht nur zwischen<br />

zwei unabhängigen Dingen einer ähnlichen Natur, die eins sein wollen. Du, oh<br />

331


Gemüt, bist stets erregt, während das Selbst stets im Frieden ist. Es kann<br />

folglich keinerlei Beziehung zwischen euch beiden geben. Wenn du jedoch im<br />

Zustand des samādhi oder in vollkommenem Gleichmut weilst, dann wirst du<br />

fest im Bewusstsein verankert sein ohne die Ablenkungen der Vielfalt, ohne<br />

die Ideen des Einen oder des Vielen. Dann wirst du realisieren, dass es nichts<br />

als das Selbst gibt, das unendliche Bewusstsein, welches als diese zahllosen<br />

Wesen leuchtet.<br />

VĪTAHAVYA fuhr fort zu kontemplieren:<br />

Oh ihr Sinne, ich fühle, dass ihr im Lichte meiner Ermahnungen alle verschwunden<br />

seid, denn ihr seid nur aus der Finsternis der Unwissenheit heraus<br />

entstanden. Oh Gemüt, gewiss ist der Anschein deiner Existenz nur zu<br />

deinem eigenen Kummer aufgetaucht! Sieh nur, was geschieht, sobald du<br />

existierst: Alle die zahllosen Wesen werden getäuscht und gehen in diesen<br />

Ozean der Sorgen ein mit all seinem Wohlstand und seinen Widerwärtigkeiten,<br />

seinen Krankheiten, seinem Altern und seinem Tod. Sieh nur, wie die Gier<br />

an den edlen Eigenschaften nagt und sie schließlich zerstört, wie Lust und<br />

Verlangen ihre Kraft verzehren und zerstreuen.<br />

Oh Gemüt, wenn du aufhörst zu sein, dann erblühen alle edlen und guten<br />

Eigenschaften. Dann gibt es den Frieden und die Reinheit des Herzens. Die<br />

Menschen fallen nicht Zweifel und Fehlern zum Opfer. Dann ist da die Freundschaft,<br />

die das Glück aller fördert. Ängste und Sorgen werden ausgetrocknet.<br />

Sobald die Finsternis der Unwissenheit vertrieben ist, erstrahlt das innere<br />

Licht. Mentale Störungen und Qualen hören auf, so wie der Ozean wieder<br />

ruhig wird, wenn der Wind sich legt. Dann entsteht aus dem Innern die<br />

Selbsterkenntnis, und die Realisation der Wahrheit setzt der Idee der Weltillusion<br />

ein Ende – nur noch das unendliche Bewusstsein leuchtet. Dann gibt es<br />

eine Erfahrung der Seligkeit, die der Unwissende mit all seinen Wünschen<br />

niemals erlangen kann. So wie aus verbrannten Blättern frische Keime sprießen<br />

können, so kann hier neues Leben auftauchen. Wer jedoch die Verwicklung<br />

in neue Täuschungen vermeiden will, ruht beständig in der Selbsterkenntnis.<br />

Das sind die Früchte deiner eigenen Abwesenheit, oh Gemüt, und<br />

darüber hinaus gibt es zahllose weitere. Oh Gemüt – du bist die Grundlage all<br />

unserer Hoffnungen und Wünsche. Wenn du aufhörst, dann hören auch alle<br />

diese Hoffnungen und Wünsche auf. Du hast nun die Wahl, ob du mit der<br />

Wirklichkeit eins sein oder als eine unabhängige Entität aufhörst zu existieren.<br />

Deine Existenz in der Identität mit und der Nichtverschiedenheit vom<br />

Selbst führt das Glück herbei, oh Gemüt. Sei daher fest in der Realisation<br />

deiner eigenen Unwirklichkeit verankert. Gewiss ist es töricht, das Glück zu<br />

verwerfen. Wenn du doch als das innerste Sein oder Bewusstsein von allem<br />

existierst – wer würde deine Inexistenz wünschen? Jedoch bist du keine reale<br />

Entität – dein Glück ist daher Täuschung. Du warst nie real, sondern du<br />

tratest aufgrund von Unwissenheit und Irreführung ins Dasein. Jetzt jedoch<br />

hast du, aufgrund der Ergründung deiner Natur und derjenigen der Sinne und<br />

V:83<br />

332


V:84<br />

des Selbst, aufgehört zu sein. Du existierst nur so lange, wie man nicht diese<br />

Ergründung unternimmt. Sobald der Geist der Ergründung auftaucht, gibt es<br />

da völligen Gleichmut oder Homogenität. Du bist aus der Unwissenheit geboren,<br />

die auf der Abwesenheit von Weisheit und Unterscheidung beruht. Sobald<br />

diese Weisheit auftaucht, hörst du auf zu existieren. Daher verehre ich<br />

diese Weisheit! Oh Gemüt, vielfältig sind die Mittel, mit denen man dich zu<br />

erwecken suchte. Nun, da du die falschen Eigenschaften eines Gemüts verloren<br />

hast, existierst du als das Höchste Sein oder das unendliche Bewusstsein,<br />

befreit von allen Begrenzungen und Konditionierungen. Das, was in der Unwissenheit<br />

erzeugt wurde, stirbt in der Weisheit. Ungeachtet deiner selbst, oh<br />

du gutes Gemüt, ist diese Ergründung in dir aufgetaucht, und dies ganz gewiss<br />

zur Erlangung der Seligkeit. In Wirklichkeit gibt es kein Gemüt; nein,<br />

kein Gemüt! Nur das Selbst existiert, es allein ist, etwas anderes gibt es nicht.<br />

Ich bin dieses Selbst – folglich gibt es außer mir nichts in diesem Universum.<br />

Ich bin das unendliche Bewusstsein, dessen bewegter Zustand als dieses<br />

Universum erscheint.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nach dieser Ergründung verblieb der Weise Vītahavya in einem Zustand<br />

völliger Stillheit (samādhi) – nicht einmal sein prāïa bewegte sich. Sein Bewusstsein<br />

war weder im Innern fixiert noch nahm es im Außen Objekte wahr.<br />

Seine Augen waren leicht auf den Bereich der Nase ausgerichtet. Mit seinem<br />

aufrechten Körper bot er das Bild einer lebendigen Statue. Er blieb so dreihundert<br />

Jahre lang, ohne dabei seinen Körper aufzugeben. Sein samādhi<br />

wurde weder durch die zahllosen natürlichen noch durch die von Menschen<br />

oder anderen Lebewesen verursachten Störungen beeinträchtigt. Dreihundert<br />

Jahre verbrachte er so, als wären sie eine Stunde. Der Körper, der im<br />

Bewusstsein reflektiert wurde, wurde durch dieses geschützt.<br />

Nach dieser Periode begann sein Gemüt, sich im Herzen zu bewegen und<br />

Ideen einer Schöpfung tauchten auf. Anschließend verbrachte er einhundert<br />

Jahre als Weiser am Berg Kailāsa. Dann war er für hundert Jahre ein Halbgott.<br />

Schließlich regierte er als Indra, König des Himmels, für einen Zeitraum von<br />

fünf Weltzeitaltern.<br />

RùMA fragte: Wie war es möglich, sich in die Zeitläufte von Göttern wie Indra<br />

einzumischen, oh du Heiliger?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die Energie des unendlichen Bewusstseins ist allgegenwärtig – sie manifestiert<br />

sich, wo und wie auch immer sie will. Was auch immer sich dieses Bewusstsein<br />

ausdenkt und wo und wie, genau dies geschieht. So sah er all dies<br />

in seinem eigenen Herzen, das frei von aller Konditionierung war. Da er das<br />

unendliche Bewusstsein realisiert hatte, entstanden scheinbar all diese Ideen<br />

darin unwillentlich. Später diente er dann Lord Siva eine ganze Epoche lang.<br />

All dieses hat der befreite Weise Vītahavya selbst erfahren.<br />

333


V:85<br />

RùMA fragte: Wenn dies die Erfahrung des Vītahavya, eines befreiten Weisen,<br />

gewesen ist, dann scheint es, als würden sogar für die Weisen Bindung<br />

und Befreiung existieren!<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, für den befreiten Weisen existiert diese Welt in aller Reinheit,<br />

Frieden und Vollkommenheit als Brahman, das Unendliche – wie könnte es<br />

für ihn also Bindung oder Befreiung geben? Da Vītahavya eins mit dem unendlichen<br />

Bewusstsein geworden ist, erlebte er die Erfahrungen aller und<br />

dies ist sogar heute noch so!<br />

RùMA fragte: Wenn die Schöpfung des Weisen fiktiv und eingebildet war,<br />

wie konnten dann die verkörperten Wesen darin bewusst und fühlend sein?<br />

VASIåèHA erwiderte: So wie die Schöpfung des Vītahavya fiktiv war, oh<br />

Rāma, so verhält es sich auch mit dieser! Diese und jene sind beide nichts als<br />

reines, unendliches Bewusstsein. Ihre Erscheinung ist nichts als das Ergebnis<br />

des irregeführten Gemüts. In Wahrheit hat weder jene Schöpfung jemals<br />

existiert noch existiert diese. In den drei Perioden der Zeit existiert Brahman<br />

allein. Bis diese Wahrheit erkannt wird, erscheint die Welt als eine solide<br />

Realität.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, bitte teile mir mit, wie Vītahavya seinen Körper in der Höhle<br />

wiederbeleben konnte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Weise hatte das unendliche Bewusstsein realisiert – er wusste, dass das<br />

Gemüt namens Vītahavya nichts als ein Trick des unendlichen Bewusstseins<br />

war. Während er Lord Śiva diente, hatte er einmal den Gedanken, den Körper<br />

des Vītahavya zu sehen. Als er so dachte, konnte er in seinem eigenen Bewusstsein<br />

alle seine früheren Verkörperungen wahrnehmen, von denen einige<br />

geendet hatten und andere noch immer aktiv waren. Und er sah weiterhin,<br />

wie der Körper namens Vītahavya wie ein Wurm im Schlamm versank.<br />

Dies sehend, reflektierte er: „Gewiss ist dieser mein Körper leer von Lebenskraft<br />

und daher unfähig zu funktionieren. Ich werde mich nun in die<br />

Umlaufbahn der Sonne begeben und mit Hilfe der Sonnenenergie, die piÇgalā<br />

genannt wird, diesen Körper wieder betreten. Oder sollte ich ihn besser aufgeben?<br />

Denn was habe ich schon mit dem Körper von Vītahavya zu schaffen?<br />

Andererseits ist dieser Körper weder der Wiederbelebung noch der Beseitigung<br />

wert. Für mich ist es völlig gleich, ob dieser Körper wiederbelebt oder<br />

aufgegeben wird. Da dieser Körper aber noch nicht zerfallen ist und seine<br />

Stoffe an die Elemente zurückgegeben hat, werde ich ihn nun betreten und<br />

eine Weile darin leben.“<br />

Der subtile Körper des Weisen versetzte sich daraufhin in die Umlaufbahn<br />

der Sonne. Über die Absicht des Eintritts des Weisen in die solare Umlaufbahn<br />

und die angemessene Handlung reflektierend, bestimmte die Sonne ihre<br />

334


eigene Energie zur Ausführung der beabsichtigten Tat. Der subtile Körper des<br />

Weisen verehrte daraufhin die Sonne.<br />

Die Energie der Sonne führte und kam, wie von der Sonne bestimmt, in die<br />

Region der Vindhya-Berge. Sie ging genau dorthin, wo der Körper des Weisen<br />

von Schlamm bedeckt lag, um ihn wieder aufzurichten. Der subtile Körper<br />

von Vītahavya, der der Sonnenenergie folgte, ging nun auch in diesen Körper<br />

ein. Der Körper wurde unverzüglich wieder lebendig. Vītahavya verbeugte<br />

sich daraufhin vor der Sonnenenergie, piÇgalā, welche die Begrüßung erwiderte.<br />

PiÇgalā kehrte in die Sonnenumlaufbahn zurück, während der Weise sich in<br />

Richtung des Sees bewegte, um sein Bad und seine Reinigungen vorzunehmen.<br />

Nachdem er sein Bad genommen und die Sonne verehrt hatte, nahm der<br />

Weise sein altes Leben wieder auf. Er lebte ein erleuchtetes Leben in Freundlichkeit,<br />

mit ausgeglichenem Gemüt, im Frieden und mit Mitgefühl und Freude.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Am Abend betrat dann der Weise wieder den Wald, in dem er sich heimisch<br />

fühlte, um seine Praxis der intensiven Meditation fortzusetzen. Er dachte: „Ich<br />

habe bereits die Falschheit der Sinne realisiert; eine weitere Ergründung sie<br />

betreffend wäre ein Widerspruch.“ Er hatte alle überflüssigen Vorstellungen<br />

(wie „Dies ist“ und „Dies ist nicht“) aufgegeben, und saß er in der Lotosposition,<br />

wobei in ihm die Erkenntnis auftauchte: „Ich bin im Bewusstsein des<br />

vollkommenen Gleichgewichts verankert. Wachend bin ich, als ob ich schliefe.<br />

In diesem Zustand des transzendentalen Bewusstseins werde ich verbleiben,<br />

bis der Körper zerfällt.“<br />

Auf diese Weise entschlossen, meditierte er sodann sechs Tage lang, die wie<br />

ein kurzer Augenblick vergingen. Danach lebte er ein langes Leben als befreiter<br />

Weiser. Frei war er von Frohlocken und Trauern. Von Zeit zu Zeit wandte<br />

er sich wie folgt an sein Gemüt: „Oh Gemüt, betrachte dich in deiner eigenen<br />

Seligkeit, da du nun in einem ausgeglichenen Zustand bist! Bleibe so für alle<br />

Zeit.“<br />

An seine Sinne richtete er die folgenden Worte: „Oh Sinne! Weder gehört<br />

das Selbst zu euch, noch gehört ihr zum Selbst. Möget ihr auf immer verderben!<br />

Eure Verlangen haben aufgehört. Ihr werdet nicht länger über mich<br />

herrschen. Der Irrtum eurer Existenz entstand aus der Unwissenheit über das<br />

Selbst, so wie das Nicht-Wahrnehmen des Seils die irrtümliche Wahrnehmung<br />

einer Schlange entstehen lässt. Aller Irrtum existiert nur in der Finsternis<br />

der Unweisheit – er verschwindet gänzlich im Licht der Weisheit.<br />

„Oh ihr Sinne! Ihr seid verschieden vom Selbst, der Täter der Handlungen<br />

ist verschieden von all diesem, der Erfahrende der Erfahrungen ist wiederum<br />

verschieden, und das unendliche Bewusstsein ist wiederum verschieden von<br />

allem diesem zusammengenommen. Was ist wessen Irrtum, und wie ist er<br />

entstanden? Es geschieht wie folgt: die Bäume wachsen im Wald; mit Seilen,<br />

V:86<br />

335


die aus andern Fasern gemacht sind, wird das Holz zusammengebunden; der<br />

Schmied stellt die Axt her, und mit all diesen Dingen errichtet der Zimmermann<br />

dann nur für seinen eigenen Lebensunterhalt ein Haus – nicht weil er<br />

ein Haus bauen will! Auf die gleiche Art und Weise geschehen in dieser Welt<br />

alle Dinge unabhängig voneinander; ihr Zusammentreffen ist unbeabsichtigt<br />

wie bei der reifen Kokosnuss, die zufällig fällt, wenn die Krähe auf der Kokospalme<br />

landet und unwissende Menschen glauben macht, dass die Krähe die<br />

Kokosnuss gelöst hat. Wen soll man dafür verantwortlich machen? Wenn<br />

diese Wahrheit einmal erkannt wird, dann bleibt der Irrtum Irrtum, die Erkenntnis<br />

wird klare Erkenntnis, das Reale ist real, das Irreale ist irreal, was<br />

zerstört wurde, ist zerstört, und was übrig bleibt, bleibt übrig.“<br />

Auf diese Weise reflektierend und verankert in dieser Erkenntnis lebte der<br />

Weise in dieser Welt ein sehr langes Leben. Er war gänzlich in diesem Zustand,<br />

der vollkommen frei von Unwissenheit und Irrtum ist und sicherstellt,<br />

dass einer nicht wiedergeboren wird. Wann immer es einen Kontakt mit den<br />

Objekten der Sinne gab, nahm er Zuflucht zum Frieden der Kontemplation<br />

und erfreute sich an der Seligkeit des Selbst. Sein Herz war frei von Anziehung<br />

und Abstoßung sogar dann, wenn alle Arten von Erfahrungen ungesucht<br />

zu ihm kamen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Einmal entstand der Wunsch im Weisen Vītahavya, seinen Körper aufzugeben<br />

und sicherzustellen, dass er nie wieder in eine Verkörperung zurückkehren<br />

würde. Er zog sich in eine Höhle auf dem Berg Sahya zurück, setzte sich in<br />

die Lotosposition und<br />

VĪTAHAVYA sprach wie folgt zu sich selbst:<br />

Oh Anziehung, gib deine Kraft der Anziehung auf. Oh Hass, gib den Hass auf.<br />

Lange genug habt ihr mit mir gespielt. Oh ihr Vergnügen, Grüße an euch!<br />

Wahrhaftig habt ihr mich alle die Jahre getragen und mich sogar das Selbst<br />

vergessen lassen. Oh ihr Sorgen, Grüße an euch! Ihr habe mich zur Suche<br />

nach der Selbsterkenntnis angespornt, und es geschah durch eure Gnade,<br />

dass ich diese Selbsterkenntnis erlangt habe. In der Tat habt ihr mir die Wonne<br />

geschenkt.<br />

Oh Körper, mein Freund, erlaube mir, mich in meine ewige Heimat der<br />

Selbsterkenntnis zu begeben. Dies ist der natürliche Verlauf der Dinge, denn<br />

jeder muss zu einer gewissen Zeit den Körper aufgeben. Oh Körper, du warst<br />

für eine sehr lange Zeit mein Verwandter. Ich gebe dich nun dahin. Du selbst<br />

hast diese endgültige Trennung herbeigeführt, indem du mich<br />

großmütigerweise zur Erkenntnis des Selbst geführt hast. Wie wunderbar<br />

dies doch ist! Um mir die Erlangung der Selbsterkenntnis zu ermöglichen,<br />

hast du dich selbst zerstört.<br />

Oh du Mutter Verlangen! Erlaube mir zu gehen. Du bist nun allein mit dir<br />

selbst und wirst verwelken, denn ich habe den Zustand des höchsten Friedens<br />

erlangt. Oh Lust! Um dich zu überwinden, habe ich mich mit deinem<br />

336


Feind namens Leidenschaftslosigkeit befreundet – vergib mir! Ich gehe in die<br />

Freiheit, segne mich. Oh Verdienst! Ich verneige mich, denn du hast mich vor<br />

der Hölle errettet und in den Himmel geleitet. Ich verneige mich vor der<br />

Fehlhandlung, die Quelle der Schmerzen und Strafen. Ich verneige mich vor<br />

der Täuschung, unter der ich lange Zeit gelitten habe und die nun gänzlich<br />

aus meinem Blickfeld verschwunden ist.<br />

Oh Höhle, du Freund des samādhi (Meditation), Ich verneige mich! Du hast<br />

mir Unterschlupf gewährt, als ich vom Feuer der weltlichen Existenz gepeinigt<br />

wurde. Oh Stock, auch du warst mein Freund, indem du mich vor Schlangen<br />

usw. geschützt und mich davor bewahrt hast, in Löcher usw. zu fallen. Ich<br />

verneige mich!<br />

Oh Körper, kehre zu den Elementen zurück, aus denen du entstanden bist.<br />

Ich verneige mich vor Tätigkeiten wie das Baden; ich verneige mich vor allen<br />

Tätigkeiten in dieser Welt! Ich verneige mich vor den Lebenskräften (prāïa),<br />

die meine Begleiter waren. Was immer ich in dieser Welt getan habe, habe ich<br />

mit euch, durch euch und aufgrund eurer Energie getan. Bitte, kehrt nun zu<br />

eurer eigenen Quelle zurück, denn ich werde jetzt mit dem unendlichen Bewusstsein<br />

(Brahman) verschmelzen. Alle Dinge, die in dieser Welt zusammentreffen,<br />

müssen eines Tages voneinander scheiden. Oh ihr Sinne, kehrt zu<br />

euren eigenen Quellen, den kosmischen Elementen, zurück.<br />

Ich werde nun, wie eine Lampe ohne Öl, auf dem Höhepunkt des OM-Lautes<br />

durch das Selbst in das Selbst eintreten. Ich bin frei von allen Aktivitäten<br />

dieser Welt und von allen Vorstellungen von Wahrnehmung und Erfahrung.<br />

Mein Herz ist in dem Frieden verankert, der durch die Schwingung des OM<br />

angezeigt wird. Verlassen haben mich Illusion und Irrtum.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Mit gänzlich zum Schweigen gebrachten Wünschen des Gemüts und selbst<br />

im Feld des nondualen Bewusstseins verankert, sprach der Weise Vītahavya<br />

das Wort OM aus. Während er die esoterische Bedeutung von OM kontemplierte,<br />

gewahrte er den Irrtum, wie er durch die Verwechslung der Erscheinung<br />

mit der Wirklichkeit entsteht. Durch die völlige Aufgabe aller Konzepte<br />

und Wahrnehmungen entsagte er den drei Welten. Er wurde sodann vollkommen<br />

still, so wie das Rad des Töpfers zu einem Stillstand gelangt. Mit OM<br />

vertrieb er die Gespinste der Sinnesorgane und ihrer Objekte, so wie der<br />

Wind die Düfte zerstreut. Danach durchdrang er die Finsternis der Unwissenheit.<br />

Er nahm das innere Licht nur für den Bruchteil einer Sekunde wahr,<br />

entsagte aber auch diesem unverzüglich. Er transzendierte sowohl Licht und<br />

Finsternis. Es verblieb da nur noch die Spur einer Gedankenformation – auch<br />

diese durchtrennte der Weise mit seinem Verstand im Zeitraum eines Augenblinzelns.<br />

Nun verblieb der Weise in reinem, unendlichen Bewusstsein, das<br />

nicht im Geringsten einer Veränderung unterlag. Es war wie der Bewusstseinszustand<br />

eines neugeborenen Kindes. Er gab sämtliche Objektivität des<br />

Bewusstseins und auch die geringfügigste Erregung innerhalb des Bewusstseins<br />

auf. Er durchquerte den Zustand, den man „paÓyantī“ nennt, und er-<br />

V:87,88<br />

337


eichte das Bewusstsein des Tiefschlafs. Er ging auch über dieses hinaus und<br />

erreichte schließlich das transzendentale oder das „turīya“ genannte Bewusstsein.<br />

Es ist dies ein Zustand der Seligkeit, der jenseits aller Beschreibungen<br />

ist; welcher gleichzeitig das „ist“ und das „ist nicht“ ist, gleichzeitig<br />

etwas und nichts, Licht und Dunkelheit. Dieser Zustand ist angefüllt mit<br />

Nicht-Bewusstsein und (objektlosem) Bewusstsein. Beschrieben werden<br />

kann er nur durch Verneinung (nicht dies, nicht dies). Der Weise wurde zu<br />

dem, was jenseits aller Beschreibung ist.<br />

Dieser Zustand wird von den Mystikern unterschiedlich beschrieben als<br />

Leere, Brahman, Bewusstsein, der Purusa der SāÇkhya, Īśvara des Yogi, Śiva,<br />

ùtman oder das Selbst, Nicht-Selbst, die Mitte usw. Es ist der Zustand, der<br />

von den verschiedenen Gesichtspunkten der Schriften her als Wahrheit bezeichnet<br />

wird, der Alles ist - und in dem blieb der Weise fest verankert.<br />

Als der Weise mit dem unendlichen Bewusstsein eins geworden war, zerfiel<br />

der Körper und die Elemente kehrten jedes zu seiner Quelle zurück.<br />

So habe ich dir also, oh Rāma, die segenbringende Geschichte des Weisen<br />

Vītahavya erzählt. Denke eingehend über sie nach. Was immer ich dir gesagt<br />

habe und was immer ich dir nun sagen werde, stammt aus direkter Wahrnehmung,<br />

direkter Erfahrung und tiefer Kontemplation.<br />

Meditiere darüber, oh Rāma, und erlange die Weisheit. Befreiung wird nur<br />

durch Weisheit oder Selbsterkenntnis erlangt. Nur durch diese Weisheit<br />

geschieht es, dass einer über das Leid hinausgeht, die Unwissenheit zerstört<br />

und die Vollkommenheit erreicht.<br />

Was als „Vītahavya“ beschrieben wurde, ist nur eine Vorstellung in unserem<br />

Gemüt, die Vorstellung von „so bin ich“ und „so bist du“. All die Sinne und<br />

diese ganze Welt sind nichts als das Gemüt. Was anderes könnte die Welt<br />

denn wohl sein, oh Rāma?<br />

RùMA fragte: Hoher Herr, weshalb können wir nicht alle diese befreiten<br />

Weisen hier den Himmel durchqueren sehen?<br />

VASIåèHA erwiderte: Fliegen im Himmel und andere Kräfte dieser Art gehören<br />

zur Natur mancher Wesen, oh Rāma. Außergewöhnliche Fähigkeiten<br />

und Kräfte, die in dieser Welt beobachtet werden, sind natürlich für diese,<br />

aber nicht für die Weisen der Selbsterkenntnis. Übernatürliche Kräfte (wie<br />

Fliegen in der Luft) werden nur von denjenigen entwickelt, die ohne Selbsterkenntnis<br />

oder Befreiung sind, indem sie dazu gewisse Substanzen oder<br />

Praktiken brauchen. All dies interessiert den Menschen der Selbsterkenntnis<br />

nicht, der gänzlich zufrieden in sich selbst ist. Diejenigen, die auf der Jagd<br />

nach Vergnügen solche von Unwissenheit befleckte Kräfte erwerben, sind<br />

gewiss voller Unwissenheit. Die Weisen der Selbsterkenntnis begeben sich<br />

niemals auf solche Pfade.<br />

Ob man nun ein Kenner der Wahrheit oder ein Unwissender ist – Kräfte wie<br />

Fliegen in der Luft kommen zu demjenigen, der sich mit solchen Praktiken<br />

befasst. Der Weise der Selbsterkenntnis jedoch hat keinerlei Verlangen, sol-<br />

V:89<br />

338


V:90<br />

che Kräfte zu erwerben. Es liegt in der Natur dieser Kräfte, ihre Früchte jedermann<br />

zu verleihen, der sich mit ihnen beschäftigt. Das Gift tötet alle, während<br />

der Wein alle trunken macht. Ebenso bringen diese Kräfte für alle die<br />

Fähigkeit zu fliegen usw. Diejenigen jedoch, die die höchste Selbsterkenntnis<br />

erlangt haben, oh Rāma, interessieren sich nicht dafür. Interessiert daran sind<br />

nur diejenigen, die voller Wünsche sind. Der Weise jedoch ist frei von jedem<br />

Wunsch. Die Selbsterkenntnis ist der größte Gewinn – wie kann der Weise<br />

noch irgendetwas verlangen? Im Falle von Vītahavya bestand kein Wunsch<br />

nach diesen Kräften – sie kamen ungesucht zu ihm.<br />

RùMA fragte: Wie geschah es, dass Würmer und Ungeziefer Vītahavyas<br />

Körper nicht angreifen konnten, als er verlassen in der Höhle lag? Und wie<br />

konnte es geschehen, dass Vītahavya nicht sofort die körperlose Befreiung<br />

erlangt hat?<br />

VASIåèHA erwiderte: Oh Rāma, der Körper des unwissenden Menschen<br />

wird entsprechend seiner mentalen Konditionierung aufgebaut und wieder<br />

zersetzt. Im Falle eines Menschen, der keinerlei Konditionierung unterworfen<br />

ist, gibt es auch kein Momentum für die Zersetzung. Es sei daran erinnert,<br />

dass das Gemüt aller Lebewesen auf die Eigenschaften desjenigen Objekts<br />

reagiert, mit denen es in Kontakt kommt. Wenn eine gewalttätige Kreatur in<br />

Kontakt mit jemandem kommt, der den Zustand äußersten Gleichmuts erlangt<br />

hat, wird sie ebenfalls zeitweise gleichmütig und ruhig, obschon sie<br />

nach dem Verlust des Kontaktes zur Gewalttätigkeit zurückkehren kann.<br />

Deshalb auch blieb Vītahavyas Körper unbeschädigt. Dies trifft sogar für<br />

materielle Substanzen wie Erde, Holz usw. zu, denn Bewusstsein durchdringt<br />

alles. Da Vītahavyas Bewusstsein keinen Wandel durchmachte, geschah auch<br />

kein Wandel in seinem Körper. Weil keinerlei prāïa sich in ihm regte, konnte<br />

auch keine Zersetzung stattfinden. Der Weise ist unabhängig und es steht ihm<br />

frei, zu leben oder seinen Körper zu verlassen. Dass er seinen Körper nicht<br />

sofort aufgegeben hat, sondern erst später, ist rein zufällig und kann möglicherweise<br />

seinem Karma usw. zugeschrieben werden. In Wahrheit jedoch ist<br />

er gänzlich jenseits von Karma, Schicksal und ohne jedwede mentale Konditionierung.<br />

Es sei nochmals gesagt, dass es sich hiermit ebenso verhält wie<br />

mit der Krähe, die die Kokosnuss beim Landen auf der Kokospalme zu lösen<br />

scheint – rein zufällig.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als das Gemüt von Vītahavya durch die Praxis der Ergründung gänzlich losgelöst<br />

und frei geworden war, entstanden in ihm die edlen Eigenschaften wie<br />

Freundlichkeit usw.<br />

RùMA fragte:<br />

Wenn das Gemüt sich in Brahman dem Absoluten auflöst – in wem entstehen<br />

dann Eigenschaften wie Freundlichkeit?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

339


V:91<br />

Oh Rāma, es gibt zwei Arten von „Tod des Gemüts“. Die eine besteht darin,<br />

dass die Gestalt des Gemüts fortbesteht, während bei der anderen sogar die<br />

Gestalt des Gemüts aufhört. Das erstere geschieht, wenn der Weise noch am<br />

Leben ist, während das zweite geschieht, wenn er entkörpert ist. Die Existenz<br />

des Gemüts bedeutet Elend – sein Aufhören bringt Freude. Das Gemüt, welches<br />

schwer konditioniert und in seiner eigenen Konditionierung gefangen<br />

ist, führt wiederholte Geburten herbei. Ein solches Gemüt bringt nichts als<br />

Unglück. Das, was die anfangslosen Eigenschaften als „mein eigenes“ erachtet,<br />

ist der jīva. Es taucht im Gemüt ohne Selbsterkenntnis auf, das folglich unglücklich<br />

ist.<br />

So lange es das Gemüt gibt, nimmt das Leid kein Ende. Hört das Gemüt auf,<br />

dann hört auch die Welterscheinung auf. Das Gemüt ist der Samen des Elends<br />

Ich werde nun beschreiben, wie das Gemüt aufhört zu sein. Wenn sowohl<br />

Glück als auch Unglück einen Menschen nicht in seinem vollkommenen<br />

Gleichmut stören, dann wird dieses Gemüt als „tot“ bezeichnet. In wem die<br />

Ideen des „Dies bin ich“ und „Dies bin ich nicht“ nicht mehr auftauchen – sein<br />

Bewusstsein auf diese Weise begrenzend – dessen Gemüt ist tot. Derjenige, in<br />

dem die Ideen von Unheil, Armut, Jubel, Stolz, Dumpfheit und Erregtheit nicht<br />

mehr auftauchen – dessen Gemüt ist tot, und der ist noch lebend befreit.<br />

Die eigentliche Natur des Gemüts ist die Stupidität. Folglich entstehen<br />

Reinheit und edle Eigenschaften, wenn es stirbt. Einige Weise bezeichnen als<br />

„reines Gemüt “ den Zustand der äußersten Reinheit in einem Weisen, dessen<br />

Gemüt tot ist. Das Gemüt eines befreiten Weisen ist folglich erfüllt von edlen<br />

Eigenschaften wie Freundlichkeit usw. Eine solche natürliche Güte (sattā) im<br />

befreiten Weisen wird satva, Reinheit usw. genannt. Daher wird auch dies als<br />

„Tod des Gemüts bei Beibehaltung der Form“ bezeichnet.<br />

Der Tod des Gemüts, bei dem sogar die Form verschwindet, gehört dem<br />

entkörperten Weisen an. Hier bleiben keinerlei Spuren des Gemüts zurück. Es<br />

ist unmöglich, dies irgendwie positiv zu beschreiben; es gibt darin weder<br />

Qualitäten noch deren Abwesenheit; weder Tugenden noch deren Abwesenheit;<br />

weder Licht noch Dunkelheit; keine Ideen; keinerlei Konditionierung;<br />

weder Existenz noch Nicht-Existenz. Es ist ein Zustand höchster Stillheit und<br />

vollkommenen Gleichgewichts. Diejenigen, die jenseits des Gemüts und des<br />

Verstandes gegangen sind, erlangen diesen höchsten Zustand des Friedens.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, worin besteht der Same dieses furchterregenden Baumes, der<br />

„Gemüt“ genannt wird, und was ist der Same dieses Samens usw.?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, der Same dieser Welterscheinung ist der Körper darin mit all seinen<br />

Ideen und Konzepten von Gut und Böse. Auch dieser Körper hat einen Samen,<br />

und der besteht im Gemüt, das beständig in Richtung der Hoffnungen und<br />

Wünsche fließt und ferner das Lagerhaus der Ideen von „Seiend“ und „Nichtseiend“<br />

und der sich daraus ergebenden Sorgen ist. Die Welterscheinung<br />

340


entsteht nur im Gemüt, was besonders im Traumzustand deutlich wird. Was<br />

immer hier als die vermeintliche Welt gesehen wird, ist nichts anderes als die<br />

Ausbreitung des Gemüts in demselben Sinne, in dem Töpfe die Verwandlungsformen<br />

von Ton sind.<br />

Es gibt zwei Samen für diesen Baum genannt „Gemüt“, das in sich selbst die<br />

zahllosen Ideen und Vorstellungen trägt, nämlich 1) die Bewegung des prāïa<br />

(der Lebenskraft) und 2) eigensinnige Einbildungskraft. Sobald es eine Bewegung<br />

des prāïa in den entsprechenden Kanälen gibt, gibt es auch eine<br />

Bewegung im Bewusstsein, woraufhin das Gemüt auftaucht. Auch dies ist<br />

wiederum nur die Bewegung des prāïa, sobald diese vom Gemüt wahrgenommen<br />

oder gesehen wird. Und das Gemüt beginnt dann, die Welterscheinung<br />

wahrzunehmen, die so real ist wie die Bläue des Himmels. Das Aufhören<br />

des prāïa ist gleichzeitig das Aufhören der Welterscheinung. Das allgegenwärtige<br />

Bewusstsein wird durch die Bewegung des prāïa sozusagen „erweckt“.<br />

Geschieht dies nicht, dann ist da das höchste Wohl.<br />

Sobald Bewusstsein auf diese Art „erweckt“ wird, beginnt es Objekte wahrzunehmen;<br />

es entstehen Ideen und infolgedessen Sorgen. Wenn dieses Bewusstsein<br />

andererseits in sich selbst ruht, fast wie in tiefem Schlaf, dann<br />

erlangt man das, was am wünschenwertesten ist, und dies ist der höchste<br />

Zustand. Daher wirst du den ungeborenen Zustand des Bewusstseins dann<br />

realisieren, wenn du entweder in deinem psychischen Raum (der Konzepte<br />

und Ideen) die Bewegung des prāïa anhältst oder aber aufhörst, die Ruhe des<br />

Bewusstseins zu stören. Wenn diese Ruhe oder Homogenität aufgerührt wird<br />

und das Bewusstsein die Vielfalt zu erfahren beginnt, dann taucht das Gemüt<br />

auf und all die zahllosen psychologischen Konditionierungen treten ins Dasein.<br />

Um die Stillheit des Gemüts herbeizuführen, praktizieren die Yogis<br />

prāïayāma (die Zurückhaltung der Bewegung der Lebenskraft), Meditation<br />

und andere geeignete und angemessene Methoden. Große Yogis erachten<br />

prāïayāma als die am besten geeignete Methode, um die Stille des Gemüts,<br />

des Friedens usw. zu erreichen.<br />

Ich werde dir nun den anderen Gesichtspunkt beschreiben, nämlich denjenigen<br />

der Weisen, der aus ihrer direkten Erfahrung entsprungen ist. Sie erklären,<br />

dass das Gemüt geboren ist wegen hartnäckigem Hängen an Vorstellungen<br />

oder illusorischer Einbildungskraft.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als Konditionierung oder Begrenzung wird die Wahrnehmung eines Objekts<br />

bezeichnet, wenn jemand hartnäckig an seiner Idee betreffend das Objekt<br />

festhält und die tiefgehende Ergründung in die Natur der Wahrheit aufgibt.<br />

Wird dann eine solche Idee dauerhaft und intensiv unterhalten, dann<br />

entsteht dadurch im Bewusstsein diese Welterscheinung. Die Person wird<br />

sodann in ihrer eigenen Konditionierung gefangen und hält das, was sie sieht,<br />

für die Realität. So entsteht die Täuschung. Weiterhin, aufgrund der Intensität<br />

341


der Konditionierung und der Einbildungskraft, gibt diese Person ihre eigene<br />

wahre Natur auf und nimmt schließlich nur noch die Welterscheinung wahr.<br />

All dies widerfährt nur der unweisen Person. Man nennt das „Gemüt“, was<br />

eine auf diese Weise verdrehte Wahrnehmung enthält. Wenn dieses Gemüt<br />

sich in seiner verdrehten Wahrnehmung bestätigt sieht, entsteht daraus der<br />

Same für wiederholte Geburten, Altern und Tod.<br />

Wenn keine Ideen vom Wünschenswerten und Nicht-Wünschenswerten<br />

entstehen, dann taucht auch das Gemüt nicht auf, und es herrscht höchster<br />

Friede. Nur dies bildet die Form des Gemüts: Konzeptualisierung, Einbildung,<br />

Gedanke und Erinnerung. Wenn diese abwesend sind – wie kann ein Gemüt<br />

existieren? Wenn einer, verankert im Bereich des Nicht-Werdens, das kontempliert,<br />

was sich nicht in Werden verwandelt hat, und der folglich das was<br />

ist, sieht wie es ist, dann wird das Gemüt zum Nicht-Gemüt. Sobald die psychologische<br />

Konditionierung oder die Begrenzung nicht mehr dicht, sondern<br />

eher transparent ist, dann wird man ein befreiter Weiser, der noch aufgrund<br />

des vergangenen Momentums ( wie sich das Rad des Töpfers noch weiterdreht,<br />

obwohl es keinerlei Antriebsimpuls mehr erfährt) lebt und funktioniert,<br />

aber nicht mehr wiedergeboren wird. In seinem Fall wurde der Samen<br />

sozusagen geröstet und kann nicht mehr zur Welterscheinung auskeimen.<br />

Wenn dann sein Körper fällt, wird der Weise in das Unendliche absorbiert.<br />

Was die zwei Samen dieser Welterscheinung (d.h. die Bewegung des prāïa<br />

und das Hängen an Einbildungen) betrifft, so fällt, wenn man erst einmal das<br />

eine losgeworden ist, auch das andere automatisch weg, da sie wechselseitig<br />

voneinander abhängig sind. Das Gemüt erzeugt die Weltillusion, und das<br />

Gemüt wiederum wird durch die Bewegung des prāïa in der dem Menschen<br />

eigenen Konditionierung erzeugt. Das zeigt, dass der Grund für die Bewegung<br />

des prāïa die mentale Konditionierung oder die Einbildungskraft ist. Auf<br />

diese Weise wird dieser Teufelskreis vollendet: Das eine füttert das andere,<br />

das eine treibt das andere zum Handeln. Bewegung ist natürlich für das<br />

prāïa. Und wenn es sich im Bewusstsein bewegt, taucht das Gemüt auf, und<br />

dann hält die Konditionierung das prāïa in Bewegung. Wird eines der beiden<br />

angehalten, so fallen beide.<br />

Nur die psychologische Konditionierung oder Bewegung ist die Quelle all<br />

der unsagbaren Schmerzen und Sorgen sowie die Wurzel der Unwissenheit.<br />

Wenn diese beiden an ihr Ende gelangen, dann fällt unverzüglich auch das<br />

Gemüt. Auf die gleiche Weise gelangt das Gemüt durch die Zurückhaltung der<br />

Bewegung des prāïa (Lebenskraft) zu einem Stillstand. Es nimmt dann die<br />

Welt, die in ihm wohnt, nicht mehr wahr.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Rāma, die Vorstellung eines Objekts (der Erkenntnis, der Erfahrung) ist der<br />

Same für die Bewegung des prāïa als auch für das Hängen an einer Idee,<br />

denn es geschieht nur durch das Auftauchen eines Wunsches nach einer<br />

Erfahrung, dass diese Bewegung des prāïa und die mentale Konditionierung<br />

342


stattfinden. Wird der Wunsch nach Erfahrung aufgegeben, dann hören beide<br />

unverzüglich auf.<br />

Natürlich ist hier das innewohnende Bewusstsein der Same für diesen<br />

Wunsch nach Erfahrung, denn ohne dieses Bewusstsein wäre dieser Wunsch<br />

überhaupt nicht aufgetaucht. Jedoch hat es kein Objekt der Erfahrung, weder<br />

im Innen noch im Außen; denn es ist das Bewusstsein selbst, welches, aufgrund<br />

einer Gedankenregung innerhalb von sich selbst, sich selbst als ein<br />

Objekt zu erfahren wünscht. So wie ein Mann von seinem eigenen Tod oder<br />

einer Reise ins Ausland träumt, so erfährt dieses Bewusstsein sich selbst<br />

aufgrund seiner eigenen Intelligenz als ein Objekt. Sobald diese Erfahrung<br />

stattfindet, findet auch die Welterscheinung statt, oh Rāma. Wird diese<br />

Wahrheit realisiert, so hört auch die Illusion auf.<br />

Was ist die Wahrheit? Sie besteht darin, dass all dies nur das absolute Bewusstsein<br />

ist, neben dem es nichts anderes gibt. Was immer gesehen oder<br />

nicht gesehen wird, ist das unendliche Bewusstsein – so sollte der Weise<br />

erkennen und seine Sichtweise reinigen. Die unreine Sichtweise nimmt die<br />

Welt wahr – die reine Sichtweise nimmt das unendliche Bewusstsein wahr,<br />

und das ist Befreiung. Folglich, oh Rāma, strebe danach, den Wunsch nach<br />

Erfahrung auszulöschen. Werde die Trägheit los. Befreie dich selbst von allen<br />

Erfahrungen.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, wie können diese beiden Aussagen miteinander vereinbart<br />

werden: Kann ich denn gleichzeitig die Freiheit von allen Erfahrungen und<br />

die Freiheit von der Trägheit erlangen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Wer keinerlei Wunsch nach oder Hoffnung auf irgendetwas in dieser Welt<br />

hegt und auch nicht den Wunsch hat, in der Untätigkeit zu verharren, der<br />

existiert nicht als jīva. Weder ist er inaktiv, noch sucht er nach Erfahrungen.<br />

Wer nicht nach Erfahrungen oder der Wahrnehmung von Objekten sucht,<br />

obschon er sich in ununterbrochener Tätigkeit befinden mag, ist weder inaktiv,<br />

noch tut oder erfährt er etwas. Die objektiven Erfahrungen berühren das<br />

Herz überhaupt nicht – daher ist derjenige ein befreiter Weiser hier und jetzt,<br />

dessen Bewusstsein nicht inaktiv ist.<br />

Frei von aller Konditionierung, fest verankert im Zustand des<br />

unmodifizierten Bewusstseins, verbleibt der Yogi wie ein Kind oder eine<br />

stumme Person – in ihm ist Seligkeit, wie die Bläue des Himmels. Diese Seligkeit<br />

ist keine Erfahrung, sondern die eigentliche Natur des Bewusstseins.<br />

Folglich wirkt sie nicht wie eine Störung, sondern sie verbleibt stets integriert<br />

im Bewusstsein. Darin liegt die Freiheit von allen Erfahrungen. Zur selben<br />

Zeit ist der Yogi beständig mit Tätigkeit befasst – und das ergibt die Freiheit<br />

von der Inaktivität.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

343


Strebe immer danach, diesen Zustand zu erlangen, oh Rāma, wie schwierig<br />

er auch zu erreichen sein mag, und überquere so diesen Ozean des Leides.<br />

Dieser Wunsch nach Erfahrung taucht im Bewusstsein als ein Gedanke auf<br />

und sammelt durch stetige Wiederholung Kraft. Nachdem das Bewusstsein in<br />

sich selbst die illusorische Schöpfung hervorgebracht hat, führt es sich selbst<br />

auch zur Befreiung. Was immer es wahrnimmt, das materialisiert sich. Indem<br />

das Bewusstsein, welches unendliches Bewusstsein ist, sich zunächst selbst<br />

gebunden und dem Kummer unterzogen hat (wie die Seidenraupe, die sich in<br />

ihren Kokon einspinnt), erlangt es im Laufe der Zeit wiederum die Freiheit.<br />

Was als das Universum gesehen wird, ist nichts als reines Bewusstsein, oh<br />

Rāma.<br />

Reines Sein allein ist der Same für dieses unendliche Bewusstsein. Untrennbar<br />

sind sie wie die Sonne und ihre Strahlen. Jedoch verfügt dieses reine<br />

Sein über zwei Aspekte – der eine ist die Vielfalt und der andere die Einheit.<br />

Was man als „dies“, „das“, „ich“ und „du“ beschreibt, ist die Vielfalt. Wird diese<br />

Vielfalt aufgegeben und gibt es dann das reine Sein, dann spricht man von der<br />

Einheit. Wenn die Vielfalt aufgegeben wird und die Einheit vorherrscht, dann<br />

gibt es auch das Nicht-Erfahren und folglich ist Einheit weder ein „Ding“ noch<br />

ein Objekt der Erfahrung. Diese Einheit ist folglich ewiglich und unvergänglich.<br />

Gib daher, oh Rāma, alle Formen von Getrenntheit auf – Getrenntheit von<br />

Zeitbegriffen oder Teile von etwas oder von Substanzen. Ruhe dann in reinem<br />

Sein. Diese Getrenntheiten führen zum Auftauchen von Konzepten. Sie sind<br />

nicht verschieden vom reinen Bewusstsein, und außerdem sind sie keine<br />

Tatsachen. Die Kontemplation der Getrenntheit führt nicht zu einer reinen<br />

Sichtweise.<br />

Nur das reine Sein ohne jede Getrenntheit darin ist der Same für all das,<br />

was wir bis jetzt erörtert haben, aber für das reine Sein selbst gibt es keinen<br />

Samen. Es ist die Ursache von allem und ist selbst unverursacht. In ihm wird<br />

all dies reflektiert. Alle diese verschiedenen Erfahrungen werden im reinen<br />

Sein erfahren, so wie verschiedene Geschmäcker von ein und derselben Zunge<br />

geschmeckt werden. Eine unendliche Zahl von Universen wird darin geboren,<br />

existiert darin, löst sich in ihm wieder auf und gelangt darin in eine<br />

wechselseitige Beziehung.<br />

Dieses reine Sein ist die Schwere in allen schweren Dingen; es ist die Leichtigkeit<br />

in allem, was leicht ist. Nur dieses ist das Grobe, und nur dieses ist das<br />

Subtile. Es ist das Erste unter den Ersten, das Letzte unter den Letzten. Es ist<br />

das Licht im Leuchtenden und die Finsternis im Finstern. Es ist die Substanz<br />

aller Substanzen und auch Raum. Es ist nichts und alles; es ist und ist nicht.<br />

Es wird gesehen und es wird nicht gesehen. Das bin ich, und das bin ich nicht.<br />

Oh Rāma, mit allem was in deiner Macht steht, strebe danach, in diesem<br />

höchsten Zustand verankert zu sein. Tue sodann, was dir angemessen erscheint.<br />

Diejenigen, die diesen Zustand erreichen, welcher rein und alterslos<br />

ist und die Wahrheit des eigenen Selbst ist, erlangen den allerhöchsten Frie-<br />

344


den. Indem du diesen Zustand erreichst, wirst du für immer von der Angst<br />

vor dieser weltlichen Existenz befreit sein.<br />

RùMA fragte:<br />

Heiliger Herr, bitte sage mir, wie man möglichst rasch alle diese Samen der<br />

Zerstreutheit vernichten und den höchsten Zustand erlangen kann!<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Diese Samen des Kummers, oh Rāma, können vernichtet werden, und zwar<br />

einer nach dem andern. Wenn du jedoch auf einen Schlag sämtliche mentale<br />

Konditionierung unterbrechen und durch intensive Eigenbemühung im Zustand<br />

reiner Existenz verweilen kannst (und sei es auch nur für eine Sekunde),<br />

dann bist du im selben Moment darin verankert. Falls du jedoch deinen<br />

Stand einzig in der reinen Existenz nehmen möchtest, dann kannst du auch<br />

dies erreichen, durch noch größere Bemühung. Und du kannst auch durch die<br />

Kontemplation des unendlichen Bewusstseins im höchsten Zustand ruhen,<br />

jedoch erfordert dies noch größere Selbstbemühung.<br />

Meditation über Objekte der Erfahrung ist nicht möglich, da diese nur im<br />

Bewusstsein oder dem Selbst existieren. Wenn du jedoch danach strebst, die<br />

Konditionierung zu vernichten (die Konzepte, Ideen und Gewohnheiten usw.),<br />

dann werden innerhalb eines Augenblicks alle deine Fehler und Gebrechen<br />

verschwinden. Aber dieser Weg ist noch schwieriger als die zuvor beschriebenen.<br />

Denn solange das Gemüt nicht frei von Gedankenbewegungen ist, ist<br />

das Aufhören der Konditionierung schwierig zu erreichen und umgekehrt.<br />

Andererseits hört das Gemüt nicht auf zu arbeiten, solange die Wahrheit nicht<br />

erkannt wurde, und umgekehrt. Da also die Realisation der Wahrheit, das<br />

Aufhören des Gemüts und das Ende der Konditionierung miteinander verflochten<br />

sind, ist es extrem schwierig, sie einzeln und separat anzugehen,<br />

Daher, oh Rāma, entsage mit allem was in deiner Macht steht den Objekten<br />

des Vergnügens und nimm deine Zuflucht gleichzeitig zu allen drei Mitteln.<br />

Erst wenn diese drei gleichzeitig eine beträchtliche Zeit lang praktiziert worden<br />

sind, dann tragen sie Früchte, nicht vorher. Oh Rāma, diese Welterscheinung<br />

ist seit langer, langer Zeit als Wahrheit erfahren worden – es bedarf<br />

daher beständiger, gleichzeitiger Praxis durch die drei genannten Mittel, um<br />

sie zu überwinden.<br />

Die Weisen erklären, dass die Aufgabe der Konditionierung und die Zurückhaltung<br />

des prāïa dieselbe Wirkung haben – daher sollte man dies gleichzeitig<br />

praktizieren. Das prāïa wird durch die Praxis des prāïayāma und der<br />

yoga āsana beherrscht, wie es der Guru lehrt, oder aber durch andere Mittel.<br />

Sobald Wünsche, Abneigungen und Verlangen im Gemüt nicht mehr auftauchen,<br />

auch wenn die entsprechenden Objekte gesehen werden, dann lässt<br />

sich daraus schließen, dass die mentale Konditionierung schwächer ist. Daraufhin<br />

taucht die Weisheit auf, die die Konditionierung weiter schwächt.<br />

Schließlich hört das Gemüt auf zu sein.<br />

V:92<br />

345


Ohne die richtigen Verfahrensweisen ist es nicht möglich, „das Gemüt zu<br />

töten“. Die Erkenntnis des Selbst, die Gemeinschaft mit Heiligen, die Aufgabe<br />

der Konditionierung und die Zurückhaltung des prāïa sind die Mittel zur<br />

Überwindung des Gemüts. Diese nicht zu würdigen und anstelle dessen zu<br />

groben Methoden wie HaÂha <strong>Yoga</strong>, Askesepraktiken, Pilgerfahrten, Riten und<br />

Ritualen zu greifen, ist reine Zeitverschwendung. Nur die Selbsterkenntnis<br />

verleiht dir die höchste Seligkeit. Nur der Mensch der Selbsterkenntnis kann<br />

als wahrhaft lebender Mensch bezeichnet werden. Erlange daher die Selbsterkenntnis,<br />

oh Rāma.<br />

<strong>Vasistha</strong> fuhr fort:<br />

Jemand, der durch Selbstergründung auch nur ein wenig Kontrolle über<br />

sein Gemüt erlangt hat, hat dadurch schon das Ziel seines Lebens erreicht.<br />

Denn die Selbstergründung wird in seinem Herzen Fuß fassen. Sobald eine<br />

solche Ergründung von Leidenschaftslosigkeit begleitet und im Verlaufe der<br />

Praxis stabil geworden ist, kommen alle edlen Eigenschaften von selbst zu<br />

ihm. Die Unwissenheit und deren Gefolge kümmert ihn nicht, wenn er vollständig<br />

in der Selbstergründung verankert ist und alles was ist, ohne Verzerrung<br />

betrachtet. Wenn er erst einmal einen festen Stand im spirituellen Bereich<br />

hat, dann wird er nicht von den Räubern namens Sinnesvergnügen<br />

übemannt werden.<br />

Die Sinnesvergnügen überwältigen jedoch denjenigen, der nicht fest verankert<br />

ist. Wer sich nicht beständig mit der Selbstergründung befasst und daher<br />

nicht andauernd des Selbstes gewahr ist, der kann nur als toter Mann bezeichnet<br />

werden. Daher, oh Rāma, praktiziere unablässig diese Ergründung.<br />

Sie vertreibt die Finsternis der Unwissenheit und enthüllt die Wahrheit. Und<br />

die Erkenntnis der Wahrheit vertreibt alles Leid. Mit der Erkenntnis kommt<br />

auch deren Erfahrung. Wenn das innere Licht, entzündet durch richtiges<br />

Studium der Schriften und die Ergründung der in ihnen niedergelegten<br />

Wahrheit, die Erkenntnis und die aus ihr entstehende Erfahrung beleuchtet,<br />

dann wird ihre vollkommene Identität realisiert. Dieses innere Licht wird von<br />

den Heiligen als Selbsterkenntnis erachtet, und die Erfahrung dessen ist ein<br />

integraler Bestandteil der Selbsterkenntnis und nicht verschieden davon. Wer<br />

die Selbsterkenntnis erlangt hat, ist auf ewig eins mit dieser Erfahrung. Noch<br />

lebend ist er befreit, und er lebt fortan wie der Kaiser dieser Welt.<br />

Ein solcher Weiser ist nicht verwirrt durch die verschiedenen Erfahrungen,<br />

denen er scheinbar unterworfen ist, ob diese nun vom Beobachter als erfreulich<br />

oder unerfreulich angesehen werden. Er ist weder gebunden noch überwältigt<br />

von Vergnügen, noch existiert in ihm ein Verlangen nach Vergnügen.<br />

Er lebt völlig befriedigt in seinem eigenen Selbst. Er ist an nichts und niemanden<br />

gebunden, und er trägt weder Groll noch Hass in seinem Herzen. Er<br />

erschrickt weder vom Geschrei eines Feindes noch vom Brüllen eines Löwen<br />

im Urwald. Weder frohlockt er beim Anblick eines blühenden Gartens, noch<br />

ist er beunruhigt, wenn er eine Wüste durchqueren muss. Im Innern immer<br />

frei, ist er mit den Tätigkeiten befasst, die im gegebenen Moment auf ihn<br />

V:93<br />

346


zukommen. Seine Haltung gegenüber einem Mörder und einem Philanthropen<br />

ist gleich. In seiner kosmischen Sichtweise erscheinen alle großen und<br />

kleinen Dinge gleich, denn er weiß, dass das gesamte Universum nichts als<br />

reines Bewusstsein ist.<br />

Wer ohne jede Anhaftung handelt und lediglich mit den Handlungsorganen<br />

tätig ist, der wird von nichts berührt – weder von Freude noch Sorge. Seine<br />

Handlungen sind nicht-willentlich. Er sieht nicht, obwohl seine Augen sehen;<br />

er hört nicht, obwohl seine Ohren hören; er berührt nicht, obwohl der Körper<br />

berührt. Gewiss ist die Anhaftung (Kontakt oder Verbindung) die Ursache für<br />

diese Weltillusion; sie allein ist es, die die Objekte erzeugt. Die Anhaftung<br />

erzeugt Bindung und endloses Leid. Daher haben die Heiligen erklärt, dass<br />

die Aufgabe der Anhaftung in sich selbst Befreiung bedeutet. Gib die Anhaftung<br />

auf, oh Rāma, und sei so ein befreiter Weiser.<br />

RùMA fragte: Hoher Herr, bitte sage mir, was man unter dieser Anhaftung<br />

versteht?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Anhaftung ist das, oh Rāma, was die Konditionierung des Gemüts dichter<br />

und dichter werden lässt, indem wiederholt die Erfahrungen von Vergnügen<br />

und Schmerz in Bezug auf Existenz und Nicht-Existenz der Objekte des Vergnügens<br />

verursacht werden. Dadurch geschieht es, dass die Verbindung dieser<br />

Dinge als unvermeidbar angesehen und so eine nachdrückliche Anhaftung<br />

an die Objekte des Vergnügens geschaffen wird. Im Falle eines befreiten Weisen<br />

ist diese Konditionierung jedoch frei von der Erfahrung von Freude und<br />

Kummer. Folglich ist sie rein, d.h. die Konditionierung ist schwach, wenn nicht<br />

sogar gänzlich zerstört. Auch wenn sie in einem extrem schwachen Zustand<br />

bis zum Tode des Körpers andauern sollte, würden die Tätigkeiten, die aus<br />

einer so schwachen und reinen Konditionierung entspringen, keinerlei Wiedergeburt<br />

verursachen.<br />

Die starke Konditionierung, die im Unweisen existiert, wird die eigentliche<br />

Anhaftung genannt. Wenn du diese Anhaftung aufgibst, die in dir verkehrte<br />

Ideen hervorruft, dann werden dich die spontan ausgeführten Handlungen<br />

nicht mehr negativbeeinflussen. Wenn du dich über Freude und Leid erhebst<br />

und beide gleich behandelst, wenn du frei von Anziehung, Abneigung und<br />

Furcht bist, dann bist du unangehaftet. Wenn du nicht in Trauer versinkst,<br />

nicht himmelhoch jauchzt und von deinen eigenen Wünschen und Hoffnungen<br />

nicht abhängig bist, dann bist du unangehaftet. Wenn du dein Gewahrsein<br />

der sich selbst immer gleichen Wahrheit nicht aufgibst, auch nicht während<br />

der Ausübung deiner täglichen Beschäftigungen, dann bist du unangehaftet.<br />

Wenn du Selbsterkenntnis erlangt hast und, ausgestattet mit der Sichtweise<br />

des Gleichmuts, dich im Hier und Jetzt mit spontanen und der Situation angemessenen<br />

Handlungen befasst, dann bist du unangehaftet.<br />

Lebe hier als ein befreiter Weiser, ohne von irgendetwas angezogen zu werden,<br />

indem du mühelos in der Nicht-Anhaftung verankert bleibst. Der befreite<br />

347


Weise lebt in der inneren Stille – ohne Stolz und Eitelkeit, ohne Eifersucht<br />

und mit völlig beherrschten Sinnen. Auch wenn sämtliche Objekte der Welt<br />

vor ihm ausgebreitet liegen, wird der Weise, der frei von Verlangen ist, nicht<br />

von ihnen verführt, und er handelt völlig natürlich und angemessen. Was<br />

unvermeidbar und angemessen ist, das tut er, während er seine eigentliche<br />

Freude und sein Entzücken aus seinem Innern gewinnt, und so ist er frei von<br />

dieser Welterscheinung. So wie Milch ihre Farbe auch beim Kochen nicht<br />

verliert, so gibt er seine Weisheit auch dann nicht auf, wenn er durch<br />

schlimmste Lebensumstände geprüft wird. Ob er nun größtem Schmerz unterworfen<br />

oder zum Herrscher des Himmels ernannt wird – er behält seinen<br />

unerschütterlichen Gleichmut immer bei.<br />

Folglich, oh Rāma, befasse dich beständig mit der Selbstergründung und<br />

ruhe fest verankert in der Selbsterkenntnis. Niemals wieder wirst du dann<br />

Geburt und Bindung unterzogen werden.<br />

(Auf den vorhergegangenen Seiten wurde „Vicāra“ mit „Ergründung“ oder<br />

„Selbstergründung“ übersetzt. Es ist dies die gängige Übersetzung. Tatsächlich<br />

jedoch ist mit dem Wort vor allem eine wirksame Organisation der eigenen<br />

inneren Intelligenz gemeint. In Sanskrit bedeutet „car“ „bewegen“. Verwechselt<br />

werden sollte dies jedoch nicht mit intellektueller Analyse. Es handelt<br />

sich hier vielmehr um direkte Beobachtung oder „inneres Schauen.)<br />

* * *<br />

348


Teil VI: Über die Befreiung<br />

Bhagavān Sri Ramaïa Mahar«i sagte:<br />

Cidābhāsa ist das Gefühl des Selbst, welches als Leuchten des Gemüts erscheint.<br />

Das eine wird drei, die drei werden fünf, und die fünf werden zu<br />

vielen. Dies bedeutet, dass das reine Selbst (satva, das als eines erscheint)<br />

durch Kontakt zu dreien wird (satva, rajas und tamas). Mit diesen dreien<br />

dann treten wiederum die fünf Elemente ins Dasein, und mit diesen das gesamte<br />

Universum. Dies erzeugt die Illusion, dass der Körper das Selbst ist. In<br />

Begriffen von Raum oder Himmel (ākāÓa) wird dies mit drei Kategorien erklärt,<br />

wie sie in der Seele widerspiegelt sind, nämlich die grenzenlose Welt<br />

des reinen Bewusstseins, die grenzenlose Welt des mentalen Bewusstseins<br />

und die grenzenlose Welt der Materie (cidākāÓa, cittākāÓa und bhutākāÓa).<br />

Wenn das Gemüt (citta) in seine drei Aspekte geteilt wird, nämlich Verstand,<br />

Intuition und den Erzeuger des „Ich“ (manas, buddhi und ahaækāra), wird es<br />

das innere Organ oder anta÷karaïa genannt. Karaïaæ bedeutet<br />

upakaraïaæ. Beine, Hände und die anderen Organe des Körpers werden<br />

bāhyakarana oder äußere Organe genannt, während die Sinne (indriyas), die<br />

innerhalb des Körper arbeiten, anta÷karaïas oder innere Organe genannt<br />

werden. Das Gefühl des Selbst oder das Leuchten des Gemüts, welches mit<br />

diesen inneren Organen arbeitet, nennt man die individuelle Seele oder jīva.<br />

Wenn das mentale Bewusstsein, welches eine Widerspiegelung des fühlbaren<br />

oder greifbaren Aspektes des reinen Bewusstseins ist, die Welt der Materie<br />

wahrnimmt, wird es mentale Welt (mano ākāÓa) genannt, aber wenn es den<br />

fühlbaren Aspekt des reinen Bewusstseins wahrnimmt, wird es totales Bewusstsein<br />

(cinmaya) genannt. Aus diesem Grunde wird gesagt: „Das Gemüt<br />

ist die Ursache von Bindung und Befreiung des Menschen.“ Das Gemüt erzeugt<br />

viele Illusionen.<br />

Sobald diese Wahrheit durch die Selbst-Erforschung bestätigt wird, löst sich<br />

die Vielfalt in Fünf auf, die Fünf in Drei, und diese wiederum in Eines. Nimm<br />

an, du hast Kopfschmerzen – wenn sie durch Einnehmen der Medizin verschwinden,<br />

verbleibst du als das, was du ursprünglich warst; der Kopfschmerz<br />

ist wie die Illusion, dass der Körper das Selbst ist. Sie verschwindet,<br />

sobald die Medizin namens Selbst-Erforschung verabreicht worden ist.<br />

Es ist wahr, dass diese Erkenntnis nur für reife, nicht für unreife, Gemüter<br />

möglich ist. Für letztere schreiben die Schriften die innere Wiederholung<br />

eines Mantras (japa), die Verehrung von Gottesbildern, die Atemkontrolle<br />

(prÃïÃyÃma), die Visualisierung von Lichtsäulen und ähnliche yogische,<br />

spirituelle und religiöse Praktiken vor. Mit Hilfe dieser Praktiken werden die<br />

Menschen dann allmählich reif und erkennen schließlich das Selbst durch<br />

Selbst-Erforschung.<br />

* * *<br />

349


VùLMýKI sprach:<br />

VI:1,1<br />

Der Weise Vāsi«Âha hatte die Lehren, die im upaÓama prakaraïam enthalten<br />

waren, beendet und äußerte die Worte: „Oh Rāma, du hast das upaÓama<br />

prakaraïam vernommen – höre nun den Abschnitt an, der von der Befreiung<br />

handelt.“ Sämtliche Könige und Weisen, die sich am Hofe befanden, waren tief<br />

beeindruckt von den Darlegungen des großen Weisen Vāsi«Âha. Mit ihrer<br />

ganzen Aufmerksamkeit hingen sie an seinen Worten und Gebärden und<br />

wirkten eher wie die gemalten Figuren eines Bildnisses als lebendige,<br />

menschliche Wesen. Und es schien, als seien sogar die Sonne, die Luft, die<br />

Vögel und die wilden Tiere – die gesamte Natur – gänzlich vom Anhören der<br />

Darlegung des Weisen in Anspruch genommen, indem ihre Seelen sich in die<br />

erhabene Darstellung der Natur des innersten Selbst versenkten.<br />

Als die Sonne unterging, erklang der Palast plötzlich vom Schall der Trommeln<br />

und Trompeten. Einige Augenblicke lang ertränkte dieser die Stimme<br />

des Weisen Vāsi«Âha. Als der Klang der Trommeln, Trompeten und Muschelhörner<br />

schließlich erstarb, stellte der Weise Rāma die folgende Frage:<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Ich habe dir hiermit ein aus Worten gewobenes Netz, deutend auf die<br />

höchste Wahrheit, gegeben. Fange den Vogel deines Gemüts mit Hilfe dieses<br />

Netzes und lass ihn dann in deinem Herzen ruhen. So wirst du die Selbsterkenntnis<br />

erlangen. Oh Rāma, hast du diese Wahrheit, die ich dir mitgeteilt<br />

habe, in dein Innerstes aufgenommen, auch wenn sie mit verschiedenen<br />

Verbildlichungen und Ausdrücken durchsetzt war – so wie der sprichwörtliche<br />

Schwan fähig ist, die mit Wasser versetzte Milch vom Wasser zu scheiden<br />

und nur die Milch zu trinken?<br />

Du solltest diese Wahrheit wieder und wieder von Anfang bis Ende kontemplieren,<br />

über sie nachdenken und den durch sie vorgegebenen Pfad entlang<br />

wandern, oh du Edler. Auch wenn du mit den verschiedensten Tätigkeiten<br />

befasst bist, werden sie dich nicht binden, wenn dein Gemüt mit dieser<br />

Wahrheit gesättigt ist. Andernfalls wirst du fallen – so wie der Elefant von der<br />

Klippe stürzt. Außerdem – wenn du diese Lehre nur für deine intellektuelle<br />

Unterhaltung verwendest, aber in deinem Alltag nicht lebst, dann wirst du<br />

wie der blinde Mann taumeln und stürzen.<br />

Um den Zustand der Vollkommenheit oder der Befreiung, wie er durch mich<br />

gelehrt worden ist, zu erlangen, musst du ein Leben der Nicht-Anhaftung<br />

annehmen und tun, was immer im Augenblick auf dich zukommt. Sei versichert,<br />

dass dies in den Lehren aller Schriften der entscheidende Faktor ist.<br />

Als das Zeichen zur Verabschiedung gegeben wurde, verließen alle Könige<br />

und Weisen die Versammlung, um sich in ihre Wohnräume zu begeben. Sie<br />

kontemplierten die Lehren Vāsi«Âhas und diskutierten sie untereinander und<br />

verbrachten nur einige wenige Stunden angenehmen, tiefen Schlafes.<br />

350


VI:1, 2<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Schon bald begann die Dunkelheit zu weichen, so wie die mentale Konditionierung<br />

beim Aufstieg des inneren Erwachens zu weichen beginnt. Lichtstrahlen<br />

vom östlichen Horizont beleuchteten die östlichen und westlichen<br />

Bergspitzen.<br />

Rāma, Lak«maïa und alle anderen erwachten zu dieser gesegneten Stunde<br />

und vollführten ihre morgendlichen religiösen Riten. Dann begaben sie sich<br />

zur Einsiedelei des Weisen Vāsi«Âha. Sie entboten ihre Verehrung, fielen zu<br />

seinen Füßen und folgten ihm zum königlichen Hof. Obwohl der gesamte Hof<br />

mit Publikum angefüllt war, herrschte eine Stille, in der man eine Stecknadel<br />

fallen hören konnte. Die Luft des Versammlungssaales war wiederum erfüllt<br />

von himmlischen Wesen und Weisen, die Vollkommenheit erlangt hatten. Alle<br />

Anwesenden nahmen wie zuvor ihre Plätze ein. Rāma blickte mit Innigkeit<br />

dem Weisen Vāsi«Âha ins Antlitz.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Rāma, erinnerst du dich an das, was ich dir bis jetzt gesagt habe und an die<br />

Worte, die fähig sind, die Erkenntnis der Wahrheit oder die Selbsterkenntnis<br />

wachzurufen? Ich werde dir nun erläutern, wie die Vollkommenheit dauerhaft<br />

herbeigeführt werden kann.<br />

Durch Zufluchtnehmen zur Leidenschaftslosigkeit (d.h. zum unkonditionierten<br />

Gemüt) und durch ein klares Verständnis der Wahrheit kann dieser<br />

Ozean von saæsāra (die Bindung an Leben und Tod) überquert werden. Bemühe<br />

dich daher nachhaltig im Sinne dieses Strebens. Sobald die Wahrheit<br />

klar wahrgenommen wird und Missverständnisse vollständig beseitigt sind,<br />

wird durch die Auflösung sämtlicher latenten Neigungen oder mentalen<br />

Konditionierung schließlich der sorgenfreie Zustand erlangt.<br />

Nur das eine unendliche Sein oder kosmische Bewusstsein existiert. Es ist<br />

weder berührt von den Konzepten von Zeit und Raum noch der Polarisierung<br />

und Teilung unterworfen. Nur das Unendliche allein existiert und hat irgendwie<br />

die Dualität angenommen. Wenn jedoch das Unendliche nicht geteilt<br />

werden kann, wie kann dann die Dualität entstehen? Wisse dies, sei frei vom<br />

Ich-Sinn, und erfreue dich des Selbst.<br />

Es gibt weder Gemüt, Unwissenheit noch die individuelle Seele – all dies<br />

sind Konzepte, die im Schöpfer Brahmā auftauchten. Sämtliche Objekte und<br />

auch das Gemüt mit all seinen Wünschen – all dies ist das unendliche kosmische<br />

Bewusstsein. Dieses allein leuchtet in der Unterwelt, auf der Erde und<br />

im Himmel als das Bewusstsein.<br />

So lange die aus der Unwissenheit geborenen Konzepte existieren, so lange<br />

es die Wahrnehmung dessen gibt, was nicht das Unendliche ist, und so lange<br />

es die Hoffnung in diese Falle gibt, die man „Welt“ nennt, so lange unterhält<br />

man auch die Vorstellungen des Gemüts usw. So lange man den Körper als<br />

das „Ich“ ansieht, und so lange man das Selbst mit dem in Verbindung bringt,<br />

was man wahrnimmt, so lange man Hoffnung hegt für die Objekte, die man<br />

351


mit dem Gefühl „dies ist mein“ verbindet, so lange gibt es auch die Täuschung,<br />

die mit dem Gemüt usw. in Zusammenhang steht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die illusorische Wahrnehmung der Existenz des Gemüts usw. besteht nur so<br />

lange, als noch nicht mit Hilfe der Weisen, die selbst vollkommen unangehaftet<br />

sind, die erhabene Realisierung der Wahrheit erfahren und die mentale<br />

Verdrehtheit geschwächt wurde. So lange die Erfahrung dieser Welt noch<br />

nicht erschüttert wurde durch die klare Wahrnehmung der Wahrheit, so<br />

lange erscheint die Existenz des Gemüts usw. als selbstverständlich. Diese<br />

Vorstellung besteht so lange, wie es aufgrund des Verlangens nach objektiven<br />

Erfahrungen eine blinde Abhängigkeit und als Konsequenz daraus mentale<br />

Verrücktheit und Täuschung gibt.<br />

Im Falle derjenigen jedoch, die nicht von Vergnügungen angezogen werden,<br />

deren Herzen aufgrund ihrer Reinheit kühl sind, und die den Käfig des Verlangens,<br />

der Wünsche und Hoffnungen zertrümmert haben, hört die irreführende<br />

Vorstellung der Existenz des Gemüts auf. Wie kann in demjenigen, der<br />

sogar seinen Körper als die irrige Erfahrung einer Nicht-Wesenheit versteht,<br />

noch ein Gemüt auftauchen? Wer diese Vision des Unendlichen hat, und in<br />

wessen Herzen die Welterscheinung verschwunden ist, der unterhält nicht<br />

mehr die täuschenden Ideen des jīva usw.<br />

Wisse, dass sobald die falschen Wahrnehmungen an ein Ende gelangt sind<br />

und die Sonne der Selbsterkenntnis im Herzen aufgegangen ist, das Gemüt zu<br />

einem nichts wird. Es wird nicht mehr gesehen – wie verbrannte trockene<br />

Blätter. Der Zustand des Gemüts der Befreiten, die noch leben und die gleichzeitig<br />

die höchste Wahrheit und die relative Existenz zu sehen vermögen,<br />

wird als satva bezeichnet (Transparenz). Es ist unrichtig, dies als Gemüt zu<br />

bezeichnen – in Wahrheit ist es satva. Diese Kenner der Wahrheit sind gemütslos<br />

und befinden sich in einem Zustand perfekten Gleichgewichts – sie<br />

leben ihr irdisches Leben auf eine spielerische Weise. Die ganze Zeit über<br />

nehmen sie in ihrem Innern das Licht wahr, auch dann, wenn sie mit den<br />

verschiedensten Beschäftigungen befasst zu sein scheinen. Konzepte der<br />

Dualität, der Einheit oder andere dieser Art tauchen nicht in ihnen auf, da es<br />

keinerlei Neigungen mehr in ihren Herzen gibt. Der Same der Täuschung ist<br />

im Zustand von satva verbrannt und lässt die Täuschung nie wieder entstehen.<br />

Oh Rāma, du hast nun den Zustand von satva erlangt – dein Gemüt wurde<br />

im Feuer der Weisheit verbrannt. Worin besteht diese Weisheit? Sie besteht<br />

darin, dass das unendliche Brahman in der Tat das unendliche Brahman ist –<br />

die Welterscheinung ist nichts als eine Erscheinung, deren Realität Brahman<br />

ist. Die Erscheinung (wie beispielsweise dein Körper als „Rāma“) ist nichtfühlend,<br />

unwirklich. Ihre Realität ist die Realität ihres Substrates, welches<br />

Bewusstsein ist. Weshalb trauerst du also? Wenn du jedoch zu empfinden<br />

vermagst, dass all dieses nur Bewusstsein ist, dann gibt es keinerlei Notwendigkeit<br />

für das Entstehen von Vielfalt in dir. Erinnere dich an deine essenzielle<br />

352


Natur als das unendliche Bewusstsein. Gib die Vorstellung der Verschiedenheit<br />

auf. Du bist was du bist – sogar dies ist noch ein Konzept, denn in Wahrheit<br />

bist du das selbstleuchtende Sein hinter allem. Grüße an Dich, oh kosmisches<br />

Wesen, der du das unendliche Bewusstsein bist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Du bist der Ozean des Bewusstseins, in dem die zahllosen großen und kleinen<br />

Wellen erscheinen, die man „Universen“ nennt. Du bist in der Tat jenseits<br />

des Zustandes von Sein und Nicht-Sein, die beide bloße Konzepte des Gemüts<br />

sind. Gehe jenseits dieser Konditionierung und so jenseits aller Dualität. Wie<br />

können in dir noch Neigungen und Begrenzungen existieren? Alle diese Konzepte<br />

(wie „dies ist eine latente Neigung oder Begrenzung“ und „dies ist ein<br />

jīva oder eine lebendige Seele“) tauchen im Bewusstsein auf – wie können sie<br />

dann vom Bewusstsein verschieden sein? Und wenn doch – wie können wir<br />

dann sagen, dass sie im Bewusstsein auftauchen?<br />

Das, was man „Rāma“ nennt, ist in Wahrheit nichts anderes als der herrliche<br />

und unendliche Ozean, in dem die zahllosen Universen wie große und kleine<br />

Wellen erscheinen und verschwinden. Verbleibe im Zustand vollkommenen<br />

Gleichmuts. Du bist wie der unendliche Raum. Feuer ist untrennbar von der<br />

Hitze, Duft ist untrennbar vom Lotos, Schwärze ist untrennbar vom Collyrium<br />

(medizinisches Augenwasser), Weiße untrennbar vom Schnee, Süße untrennbar<br />

vom Zuckerrohr und Licht untrennbar vom Leuchtenden. Auf dieselbe<br />

Weise ist das Erfahren untrennbar vom Bewusstsein. So wie die Wellen<br />

untrennbar vom Ozean sind, so sind die Universen untrennbar vom Bewusstsein.<br />

Das Erfahren ist nicht verschieden vom Bewusstsein, der Ich-Sinn ist nicht<br />

verschieden vom Erfahren, der jīva ist nicht verschieden vom Ich-Sinn, und<br />

das Gemüt ist wiederum nicht verschieden vom jīva (nicht verschieden oder<br />

untrennbar). Die Sinne sind nicht verschieden vom Gemüt, der Körper nicht<br />

verschieden von den Sinnen, die Welt nicht verschieden vom Körper und<br />

überhaupt gibt es nichts anderes als diese Welt. Diese Gegenüberstellung<br />

voneinander abhängiger Kategorien existiert schon seit einer sehr langen<br />

Zeit, und doch hat dies niemand in Szene gesetzt noch vermag jemand zu<br />

sagen, ob es seit einer langen oder kurzen Zeit existiert. Die Wahrheit lautet,<br />

oh Rāma, dass all dies nichts anderes als die Selbst-Erfahrung des Unendlichen<br />

ist.<br />

Es gibt die Leere im Leeren, Brahman durchdringt Brahman, die Wahrheit<br />

leuchtet in der Wahrheit, und die Fülle erfüllt die Fülle. Der weise Mensch,<br />

obschon er in dieser Welt tätig ist, tut nichts, da er nach nichts sucht. Auf<br />

dieselbe Weise, oh Rāma, verbleibe wie der Raum rein in deinem Herzen,<br />

während du äußerlich angemessenen Handlungen nachgehst. In Umständen,<br />

die Frohlocken oder Niedergeschlagenheit hervorrufen, verbleibe unberührt<br />

von diesen wie ein Holzklotz. Wer sogar demjenigen gegenüber freundlich<br />

bleibt, der ihn ermorden will, der sieht die Wahrheit. Jemanden zu verehren,<br />

der noch nicht jenseits von Zu- und Abneigungen (rāga und dve«a) ist, ist<br />

VI:1, 3<br />

353


VI:4, 5<br />

sinnlos. Nur der, der frei von egoistischer und willentlicher Tätigkeit und<br />

gänzlich unangehaftet an alles ist, ist befreit – auch wenn er die ganze Welt<br />

zerstört, so hat er in Wahrheit nichts getan.<br />

Derjenige, in dem sämtliche Konzepte und gewohnheitsmäßigen Neigungen<br />

aufgehört haben, hat alle mentalen Konditionierungen und Fesseln überwunden.<br />

Er ist wie die Lampe, die kein Öl mehr hat.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, das Gemüt, der Intellekt und der Ich-Sinn wie auch die Sinne sind<br />

alle ohne unabhängige Intelligenz. Wo können dann der jīva und alles andere<br />

wohnen? So wie es nur einen Mond gibt, aber aufgrund eines Augenschadens<br />

oder einer Störung des reflektierenden Mediums als zwei oder mehrere erscheint,<br />

so ist das Selbst (die innere Intelligenz oder das Bewusstsein) eines,<br />

erscheint jedoch aufgrund der durch Gedankenwellen hervorgerufenen Störung<br />

als viele.<br />

So wie die Nacht ein Ende nimmt, sobald die Dunkelheit schwindet, so<br />

nimmt die Unwissenheit ein Ende, sobald das Gift des Verlangens nach Vergnügen<br />

schwindet. Dieser tödliche Virus namens Verlangen nach Vergnügen<br />

wird durch die magische Formel der Erläuterungen, wie sie in den Schriften<br />

enthalten sind, unverzüglich kuriert. Im selben Moment, da die mentale Verrücktheit<br />

und Verdrehtheit an ein Ende gelangt, verschwindet auch das Gemüt<br />

mit seinem ganzen Gefolge, so wie die Perlen auf den Boden rollen, wenn<br />

die sie verbindende Schnur zerrissen ist. Daher, oh Rāma, haben sich diejenigen,<br />

die die Schriften aufgeben, ein Leben als Würmer und Ungeziefer erwählt<br />

und sich damit in die Selbstzerstörung begeben.<br />

Wenn der Wind nachlässt, wird die Oberfläche des Sees wieder ruhig – und<br />

ebenso hört die Unstetigkeit der Augen auf, welche durch die Sehnsucht nach<br />

Ehefrau und anderen Objekten des Vergnügens entsteht, wenn die durch<br />

Unwissenheit entstandene Erregtheit aufhört. Offensichtlich, oh Rāma, hast<br />

du diesen Ruhezustand nun erlangt. Du hast meinen Worten aufmerksam<br />

gelauscht, und aufgrund dessen wurde in dir der Schleier der Unwissenheit<br />

gelüftet. Alle gewöhnlichen Menschen werden durch die Worte ihres Familiengurus<br />

tief bewegt – wie sollte es bei jemandem, der wie du eine weite<br />

Sicht besitzt, anders sein?<br />

RùMA sprach:<br />

Hoher Herr, durch das Hören deiner Weisheitsworte hat die Welt, die außerhalb<br />

von mir erscheint, ihre Wirklichkeit verloren, und mein Gemüt ist<br />

nicht mehr. Ich ruhe im höchsten Frieden. Ich nehme die Welt wahr wie sie ist<br />

– als das unendliche Bewusstsein, unendlich vor mir ausgebreitet. Alle meine<br />

Zweifel sind verschwunden. Ich bin frei von Anziehung und Abstoßung. Ich<br />

bin im Natürlichen verankert, ich bin gut (svasthah: Ich ruhe im Selbst), und<br />

ich bin glücklich. Ich bin Rāma, in dem alle Welten ihre Zuflucht finden. Ich<br />

verehre Mich, Ich verehre Dich. Die mentale Konditionierung hat aufgehört.<br />

Das Gemüt ist an ein Ende gelangt. Ich sehe das Selbst als Alles-in-allem.<br />

354


Wenn ich an die Vergangenheit denke, lächle ich über die törichten Ideen der<br />

Dualität, die ich einmal hatte. All dieses geschah dank deiner nektargleichen<br />

Worte. Während ich in dieser Welt lebe, bin ich gleichzeitig in der Welt des<br />

Lichts. Dank der Strahlen, die von deinem erleuchteten Herzen als Worte der<br />

höchsten Weisheit ausgehen, bin ich hier und jetzt voll höchster Seligkeit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, du bist mir teuer – daher lege ich dir die Wahrheit noch einmal<br />

dar. Höre aufmerksam zu. Gehe zunächst von der Existenz der Vielfalt aus.<br />

Dein Bewusstsein wird sich erweitern. Und die Wahrheit, die ich dir nun<br />

darlege, wird sogar diejenigen vom Kummer befreien, die noch nicht vollständig<br />

erwacht sind.<br />

Wenn einer unwissend ist, dann unterhält er die falsche Idee, dass der Körper<br />

das Selbst ist – seine eigenen Sinne werden zu seinen schlimmsten Feinden.<br />

Andererseits genießt derjenige, der Selbsterkenntnis besitzt und die<br />

Wahrheit kennt, die Freundschaft seiner Sinne, die nun befriedet und beruhigt<br />

sind, denn sie schaden ihm nicht mehr. Wer nichts als Abscheu für den<br />

physischen Körper und seine Funktionen empfindet, ist ihm gegenüber gewiss<br />

nicht nachsichtig und lädt nicht das Leiden ein.<br />

Weder wird das Selbst vom Körper berührt noch ist der Körper auf irgendeine<br />

Weise mit dem Selbst in Beziehung – sie sind wie Licht und Dunkelheit.<br />

Das Selbst, welches sämtliche Modifikationen und mentalen Verdrehtheiten<br />

transzendiert, entsteht nicht und vergeht nicht. Was auch immer geschieht,<br />

geschieht diesem Körper, der leblos, unwissend, nicht-fühlend, endlich, verderblich<br />

und undankbar ist. Lass diese Dinge einfach geschehen. Wie kann<br />

dieser Körper jemals (durch Sinne oder Verstand) das ewigliche Bewusstsein<br />

verstehen? Denn sobald das eine als real gesehen wird, hört die Existenz des<br />

anderen auf. Wenn daher beider Natur gänzlich verschieden voneinander ist<br />

– wie können ihre Erfahrungen von Schmerz und Vergnügen dieselben sein?<br />

Da sie keinerlei Beziehung zueinander haben und auch nicht haben können –<br />

wie können sie dann miteinander existieren? Sobald das eine erscheint, verschwindet<br />

das andere; so wie beim Anbruch der Morgendämmerung die<br />

Nacht verschwindet. Selbsterkenntnis kann sich niemals in Selbst-<br />

Unwissenheit verwandeln, so wie der Schatten niemals heiß werden kann.<br />

Brahman, der die Wirklichkeit ist, wird nie unwirklich – auch dann nicht,<br />

wenn man sich der Vielfalt bewusst ist – noch kann der Körper jemals die<br />

Natur des unendlichen Bewusstseins annehmen. Obgleich das Selbst allgegenwärtig<br />

ist, wird es vom Körper nicht berührt, so wie der Lotos nicht vom<br />

Wasser berührt wird. Auf dieselbe Weise wird auch dieses unendliche Selbst<br />

nicht von Bedingtheiten wie Alter, Tod, Vergnügen und Schmerz, Existenz und<br />

Nicht-Existenz berührt, die alle dem Körper zugehörig sind. Obgleich all die<br />

Körper aufgrund von irregeführtem Verständnis wahrgenommen werden,<br />

befinden sie sich alle im unendlichen Bewusstsein – so wie Wellen auf dem<br />

Ozean erscheinen. Die Vielfalt und die Eigenart der Erscheinungen beruht auf<br />

dem reflektierenden Medium. Die Wahrheit oder das unendliche Selbst wird<br />

VI:1,6<br />

355


von all diesem nicht berührt, so wie die Sonne nicht von der Vielfalt und der<br />

Bewegtheit ihrer Widerspiegelung in mehreren Spiegeln oder anderen reflektierenden<br />

Medien berührt wird.<br />

Wenn die Wahrheit des Selbst verstanden wird, hört die Vorstellung der<br />

Unwissenheit betreffend das Selbst unverzüglich auf.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das korrekte Verständnis des Körpers und der Intelligenz, die im Körper<br />

wohnt, befähigt einen dazu, die gesamte Schöpfung in all ihren materiellen<br />

und spirituellen Aspekten so leicht zu erkennen, wie man die von einer Lampe<br />

beleuchteten Objekte erkennt. Es geschieht nur aufgrund des falschen<br />

Verstehens, dass irreführende und falsche Ideen auftauchen und im eigenen<br />

Herzen zu wachsen beginnen – Ideen, die gänzlich bar jeder Substanz sind.<br />

Benebelt von all diesen falschen Ideen, die in der Abwesenheit des Lichtes<br />

wahrer Erkenntnis entstehen, wird man wie ein Grashalm im Wind mal hierhin<br />

und mal dorthin getrieben.<br />

Ohne das „Kosten“ (die direkte Erkenntnis) der kosmischen Intelligenz<br />

streben die Sinne mit allen Kräften danach, ihre Objekte zu erkennen und<br />

hoffen vergeblich, durch den Kontakt mit diesen Objekten sinnvolle Erfahrungen<br />

machen zu können! Gewiss wohnt die unendliche und unerschöpfliche<br />

Intelligenz (Bewusstsein) in all diesen Objekten, jedoch erscheint sie<br />

aufgrund des Fehlens der Selbsterkenntnis als unwissend und daher begrenzt<br />

und endlich.<br />

Die Lebenskraft und ihre Gefolgschaft funktionieren nur, um die nötige<br />

Energie für die Bewegungen zu liefern, die dem Leben innewohnen; es gibt<br />

kein anderes Motiv. In Abwesenheit der Selbsterkenntnis ist all das Reden<br />

und Schreien der Menschen wie der Lärm einer Schusswaffe! Es führt unvermeidlich<br />

zur Zerstörung und dient keinem sinnvollen Endzweck. Narren<br />

erfreuen sich der Früchte ihrer Tätigkeiten, ohne zu wissen, dass sie auf einem<br />

glühendheißen Felsen ihren Ruhe- und Schlafplatz eingenommen haben.<br />

Die Gesellschaft solcher Narren ist dasselbe, wie in einem Wald auf einem<br />

Baum zu sitzen, der gefällt werden soll. Was auch immer du für diese Menschen<br />

tust, ist wie das Prügeln der Luft mit einem Stock. Was man ihnen gibt,<br />

landet im Dreck, und die Unterhaltung mit ihnen ist so sinnreich wie der<br />

Hund, der den Himmel anbellt.<br />

Die Unwissenheit über das Selbst ist die Quelle sämtlicher Katastrophen<br />

und Schwierigkeiten. Sage mir doch, oh Rāma, ob es eine einzige Schwierigkeit<br />

gibt, die nicht der Unwissenheit über das Selbst entspringt? Die gesamte<br />

Schöpfung wird von dieser Unwissenheit durchdrungen und hält sie aufrecht.<br />

Wer unwissend ist, wird wieder und wieder von schrecklichem Leid heimgesucht<br />

und erfährt nur selten etwas Freude. Die Quelle der Sorgen wegen<br />

Körper, Wohlstand und Ehefrau hören nicht auf, solange man das Selbst nicht<br />

kennt. Denn wer fest daran glaubt, dass der Körper das Selbst ist, für ihn<br />

nimmt die Unwissenheit kein Ende. Wie kann dann echte Selbsterkenntnis<br />

356


entstehen? So lange die Unwissenheit herrscht, kommt der Tor immer und<br />

immer wieder zu Fall. Sogar die kühlen Strahlen des Mondes erfährt er wie<br />

giftige Dämpfe. Die Tore der Hölle stehen weit, weit offen – begierig, ihn zu<br />

empfangen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es ist nur in den Augen des Narren so, dass die giftige Schlingpflanze (Frau)<br />

den Schmuck verführerischer Augen und perlweißer Zähne trägt. Denn nur in<br />

den Herzen der Gottlosen wächst dieser schreckenerregende Baum der Verblendung,<br />

die Heimstatt für die zahllosen Vögel der sündhaften Neigungen.<br />

Im Urwald seines lasterhaften Herzens tobt das Feuer des Hasses. Sein Gemüt<br />

ist überschwemmt von Eifersucht, die wiederum das Unkraut der zerstörerischen<br />

Kritiksucht gegenüber anderen entstehen lässt. Der einzige Lotos, den<br />

sein Herz kennt, ist die Missgunst, die von den Wespen endloser Kümmernisse<br />

heimgesucht wird.<br />

Nur diesen sündigen Narren kommt das zu, was man „Tod“ nennt. Geburt<br />

und Kindheit führen zur Jugend, die Jugend zum Alter, und das Alter endet im<br />

Tod – all dieses wird wiederholt vom Unwissenden erfahren. Der unwissende<br />

Mensch ist wie ein mit dem Seil, genannt Welt, gebundener Topf, mit dem er<br />

in den toten Brunnen des saæsāra hinunter gelassen und im nächsten Moment<br />

wieder emporgezogen wird. Dieser Ozean der Welterscheinung ist für<br />

den Weisen wie der Huftritt eines Kälbchens und für den Unwissenden ein<br />

unergründlicher und endloser See der Kümmernisse. So wie ein gefangener<br />

Vogel nicht die Freiheit erlangen kann, so ist der an seinen Weltenhunger<br />

hingegebene Mensch unfähig, Erlösung von seinen Fesseln zu finden. Sein<br />

Gemüt, das von den unzähligen Neigungen und Konditionierungen besudelt<br />

ist, ist nicht in der Lage, dieses gewaltige, sich drehende Rad von Leben und<br />

Tod klar zu erkennen.<br />

Seine eigene Verblendung überzieht die ganze Welt mit einem Netzwerk<br />

illusorischer Beziehungen und Kontakte und trägt so dazu bei, dass er noch<br />

tiefer in die Bindung gerät und darin versinkt. Mit einem winzigen Stück<br />

Fleisch (dem Auge) sieht der närrische Mensch einen winzigen Teil dieser<br />

Erde, den er als Berge, Seen, Wälder und Städte betrachtet. Die Unwissenheit<br />

ist wie ein mächtiger Baum, der seine Zweige in alle Richtungen auslädt und<br />

zahllose Blätter der illusorischen Objekte erschafft. Auf diesem Baum wohnen<br />

wiederum die unzähligen Vögel der Neigungen (die die vielen Erfahrungen<br />

des Vergnügens für den Unwissenden darstellen). Geburten sind die<br />

Blätter, die Handlungen die Knospen, Verdienst und Mangel die Früchte,<br />

Wohlstand und Glück die Blüten.<br />

Diese Unwissenheit ist wie der Mond, der nach dem Untergang der Sonne<br />

der Weisheit aufgeht. Die wiederholten Geburten sind die Strahlen des Mondes,<br />

und die Unwissenheit ist der Herr der Fehler und Unvollkommenheiten.<br />

Neigungen und Gewohnheiten sind die Nektarstrahlen, die von diesem Mond<br />

herabgesandt werden, und von diesem Nektar trinken die Vögel der Hoffnun-<br />

357


VI:1,7<br />

gen und Wünsche. Es geschieht in der Finsternis der Unwissenheit, dass der<br />

Narr glaubt, er erfahre Vergnügen oder Glück in den Objekten dieser Welt.<br />

Der äußerliche Anschein von Annehmlichkeit und Güte in den Objekten<br />

wird durch Unwissenheit verursacht. Denn all diese Objekte haben einen<br />

Anfang und ein Ende; sie sind verderblich, sie sind begrenzt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn du hier strahlende Frauen siehst, die mit Perlen und Juwelen geschmückt<br />

sind, dann erblickst du nichts als die von deiner eigenen Täuschung<br />

erschaffenen Illusionen – sie sind nur Wellen auf dem Ozean der Lüste. Diese<br />

Täuschung lässt in dem, was nur eine Modifikation von Fleisch, Haut, Fett<br />

usw. darstellt, Anziehung und verführerische Eigenschaften wahrnehmen und<br />

all dies als reizvoll erscheinen; und dank dieser Täuschung werden ihre Brüste<br />

als goldene Töpfe und ihre Lippen als Nektarquellen usw. beschrieben.<br />

Aufgrund dieser Illusion sucht man nach Wohlstand und Erfolg, was sich am<br />

Anfang für die Dummköpfe süß anfühlt, die aber bald zur Ursache der Gegensatzpaare<br />

(Glück und Unglück, Vergnügen und Schmerz, Erfolg und Versagen)<br />

werden und schließlich schnell an ihr Ende gelangen. Aus der Jagd nach dem<br />

Erfolg erwachsen die zahllosen Verzweigungen des Vergnügens und die unzähligen<br />

Verzweigungen des Unglücks.<br />

Diese Täuschung strömt wie ein Fluss seit undenklicher Zeit und ist verschlammt<br />

und verdunkelt durch all die nutzlosen Handlungen und Gegenhandlungen.<br />

Er lässt wiederholt Geburten entstehen und schwillt aufgrund<br />

der bitteren Erfahrungen aus diesen Handlungen, die auf Erfolg und Glück<br />

abgezielt waren, immer mehr an.<br />

Alle diese Handlungen haben die Wirkung eines unguten Windes, der eine<br />

Wolke von Staub aufwirbelt, deren Partikel physische und mentale Defekte,<br />

Alter und die verschiedenen menschlichen Beziehungen sind. All dieses führt<br />

zum Tod (oder dem Vergehen der Zeit), der einen unstillbaren und gefräßigen<br />

Appetit besitzt und – sozusagen – die Welten verzehrt, sobald sie reif sind.<br />

Die Jugend wird von den Gespenstern der Kümmernisse und Ängste verfolgt,<br />

die zu spuken beginnen, wenn der Weisheits-Mond nicht scheint, und<br />

sie schreitet unablässig weiter in immer dichter werdende Täuschung. Die<br />

eigene Zunge wird im Dienst all der gemeinen und unkultivierten Menschen<br />

missbraucht und wird immer schwächer.<br />

In der Zwischenzeit breitet die Armut die tausend Verzweigungen aus und<br />

liefert die Früchte von Unglück und harter Arbeit. Und die Gier, die doch leer<br />

und ohne jede Substanz und der Todfeind des spirituellen Fortschritts ist,<br />

proklamiert ihren Sieg in dieser Finsternis der Täuschung.<br />

Schließlich schleicht sich heimlich die Katze der Senilität an und fängt die<br />

Maus der Jugend.<br />

Diese Schöpfung ist substanzlos – und doch erwirbt sie eine falsche Realität.<br />

Sie lässt sogar die Früchte des dharma (rechtschaffenen Lebens) und<br />

358


artha (Streben nach Wohlstand) wachsen. Diese vom Himmel umhüllte und<br />

mit den Augen der Sonne und des Mondes ausgestattete Welt wird nur durch<br />

die Illusion ihrer Substantialität am Leben erhalten. Im See dieser Welterscheinung<br />

blühen die Lilien der Körper, die wiederum von den Bienen der<br />

Lebenskräfte besucht werden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das morbide Konzept der Welterscheinung ist in den Sinnen gefangen; es<br />

ist gebunden durch die Selbst-Begrenzung und Konditionierung sowie die<br />

starke Fessel der Hoffnungen und Wünsche. Diese Welterscheinung ist wie<br />

eine empfindliche Schlingpflanze, die beständig im Wind des prāïa oder der<br />

Lebenskraft schwankt und dabei fortwährend alle Arten von Lebewesen<br />

ausschüttet, die sie ihrer Vernichtung überlässt.<br />

Es gibt viele edle Seelen, die sich über diesen Morast namens Welterscheinung<br />

erhoben haben und, befreit von allen Zweifeln, sich für eine kurze Zeit<br />

erfreuen. Es gibt die göttlichen Wesen, die wie Lotosse in der blauen Weite<br />

des Firmamentes leben.<br />

In dieser Schöpfung sind die Handlungen wie der Lotos, der von den vergeblichen<br />

Bemühungen nach den Früchten dieser Handlungen besudelt ist. Es<br />

sind diese Bemühungen, die im Netz der psychologischen Konditionierung<br />

gefangen und mit dem unverwechselbaren Geruch des Dynamismus ausgestattet<br />

sind. Jedoch ist diese Welterscheinung nur wie ein kleiner Fisch, der in<br />

diesem endlichen Raum in die Existenz tritt und schon bald von dem widerspenstigen<br />

und unbesiegbaren alten Geier namens k­tānta (Abschluss oder<br />

Endergebnis der Handlung) verschluckt wird. Und doch erscheinen alle diese<br />

Szenen des Lebens täglich aufs Neue und verschwinden wieder – wie Wellen<br />

auf der Oberfläche des Ozeans auftauchen und verschwinden. Der Töpfer, die<br />

Zeit, hält alle diese Dinge wie das Töpferrad in ständiger Umdrehung. Unzählige<br />

Wälder, genannt Schöpfung, sind schon von diesem Waldbrand, genannt<br />

Zeit, in Schutt und Asche gelegt worden. Das ist das Wesen dieser Schöpfung!<br />

Aber da die Unwissenden fest an all ihren falschen Ideen festhalten, vermögen<br />

weder die Vergänglichkeit dieser Welt noch die harten Schläge, die sie in<br />

ihrem Leben erleiden, sie zu erwecken.<br />

Diese psychologische Konditionierung oder Selbst-Begrenzung dauert wie<br />

der Körper des Herrschers über die Götter (Indra) den gesamten Weltzyklus<br />

über an. Wie zufällig treten dann inmitten von all diesem göttliche Manifestationen<br />

auf, in welchen die reinste Natur enthüllt wird.<br />

Während die unbeweglichen Kreaturen still stehend das Mysterium der Zeit<br />

kontemplieren, werden die beweglichen von den Zwillingskräften der Anziehung<br />

und Abstoßung geschüttelt, von Liebe und von Hass. Sie werden von der<br />

entsetzlichen Krankheit namens Vergnügen und Schmerz, Alter und Tod<br />

befallen, verlieren ihre Kräfte und gehen zugrunde. Unter den letzteren ertragen<br />

die Würmer und das Ungeziefer schweigend und geduldig die Früchte<br />

ihrer vergangenen schlechten Taten, als ob sie sie die ganze Zeit kontemplie-<br />

359


en würden. Aber die unbemerkbare Zeit (der Tod), welche sogar jenseits der<br />

Kontemplation ist, rafft alles und jeden dahin.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Bäume, überladen mit Blüten und Früchten, sind wahre Sinnbilder des<br />

Elends, die Kälte, Wind und Hitze zu ertragen haben. Gefangen im Lotos, den<br />

man Welt nennt, summen die Wesen wie Bienen unaufhörlich und ruhelos<br />

umher.<br />

Dieses Universum ist sozusagen die Bettelschale von Kālī (die hier<br />

doppelsinnnig verwendete weibliche Form von kāla, die Zeit und Tod bedeutet),<br />

die Gottheit, deren Natur Tätigkeit und Bewegung ist. Diese Kālī sucht<br />

nur danach, die Schale mit all den Wesen der Welt zu füllen und sie wieder<br />

und wieder ihrem Herrn darzubieten.<br />

Das Universum kann mit einer alternden Frau verglichen werden. Ihre Haare<br />

bestehen aus der Finsternis der Unwissenheit über das Selbst. Sonne und<br />

Mond bilden ihre ruhelosen Augen. Ihr inneres und äußeres Wesen enthält<br />

die Götter Brahmā, Vi«ïu, Indra, die Erde, die Berge usw. Die Wahrheit betreffend<br />

Brahman das Absolute hütet sie wie einen Schatz, den sie in ihrer Brust<br />

verborgen hält. Ihre Mutter ist die Bewusstseinsenergie (oder sie ist die Mutter,<br />

die man als Bewusstseinsenergie bezeichnet). Wie eine Wolke ist sie<br />

außerordentlich unruhig und unstet. Ihre Zähne sind die Sterne. Morgenröte<br />

und Abenddämmerung sind ihre Lippen. Ihre Handfläche ist der Lotos. Ihr<br />

Mund ist der Himmel. Ihr Perlenhalsband sind die sieben Ozeane. Ihr Nabel<br />

ist der Pol der Erde. Ihre Körperhaare sind die Wälder. Diese alternde Frau<br />

wird wieder und wieder geboren; sie stirbt wieder und wieder.<br />

All dieses findet im Lichte des Bewusstseins statt. In diesem erscheinen<br />

Götter, die während eines Augenblinzelns vom Schöpfer Brahma erschaffen<br />

werden, und es finden sich da Wesen, die einfach durch das Augenschließen<br />

von Brahmā getötet werden. In diesem höchsten Bewusstsein gibt es Rudras,<br />

die Tausende von Lebenszyklen innerhalb eines Augenzwinkerns beginnen<br />

und beschließen. Und es gibt andere Gottheiten, die in einem Augenblick<br />

Götter wie Rudra erschaffen und vernichten! Gewiss ist eine solche Manifestation<br />

unendlich. Wie kann es denn für das unendliche Bewusstsein unmöglich<br />

sein, irgendetwas im unendlichen Raum hervorzubringen? Und doch ist<br />

all dies nichts als Einbildung, das Ergebnis der Unwissenheit. Sämtliche<br />

Reichtümer und alles Unglück, die Kindheit, die Jugend, das Alter und der Tod<br />

wie auch das Leiden, und was man das Verlorensein in Glück und Unglück<br />

nennt und alles andere – all das ist die Ausdehnung der dichten Finsternis<br />

der Unwissenheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, ich werde dir nun erzählen, wie diese Schlingpflanze namens<br />

Unwissenheit sich in sämtliche Richtungen fortentwickelt. Sie gedeiht im<br />

Wald der Welterscheinung und wurzelt in den Bergen des Bewusstseins. Die<br />

drei Welten sind ihr Körper, das gesamte Universum ihre Haut. Vergnügen<br />

VI:1,8<br />

360


und Schmerz, Sein und Nicht-Sein, Weisheit und Unwissenheit sind ihre Wurzeln<br />

und Früchte. Wenn diese Unwissenheit die Vorstellung von Freude hat,<br />

wird Freude erfahren; wenn sie die Vorstellung von Schmerz hat, wird<br />

Schmerz erfahren. Wenn die Vorstellung von Sein vorherrscht, wird Sein<br />

erfahren. Wenn die Vorstellung von Nicht-Sein vorherrscht, wird Nicht-Sein<br />

erfahren. Diese Unwissenheit wird mit den Mitteln der Unwissenheit selbst<br />

vergrößert und führt zu noch größerer Unwissenheit. Sobald sie die Weisheit<br />

sucht, wächst und gedeiht sie an Weisheit und wird am Ende selbst zu Weisheit.<br />

Diese Schlingpflanze der Unwissenheit manifestiert sich zu ihrem Zeitvertreib<br />

und in ihren verschiedenen psychologischen Zuständen oder Modi.<br />

Irgendwann stolpert sie über die (oder kommt in Kontakt mit) Weisheit und<br />

wird gereinigt, gerät aber wiederum in die Anhaftung. Sie ist die Quelle sämtlicher<br />

Emotionen und Sinneserfahrungen. Ihr Mark besteht aus der Erinnerung<br />

an vergangene Erfahrungen. Vicāra oder die Ergründung der Natur des<br />

Selbst ist die Termite, die sie zerstört. Die Sterne und Planeten, die am Firmament<br />

scheinen, sind ihre Blüten.<br />

Diese Schlingpflanze wird vom Gemüt geschüttelt. Sie wird von den Vögeln<br />

der Vorstellung heimgesucht. Die tödlichen Schlangen der Sinne umkreisen<br />

sie. In ihr wohnt der Python der verbotenen Handlungen. Sie wird vom Licht<br />

des Himmels erleuchtet. Sie ist angefüllt mit dem Unterhalt der Lebewesen.<br />

Sie enthält darüber hinaus noch anderes, nämlich all die Dinge, die die Narren<br />

in die Irre führen, wie auch die Dinge, die die Weisheit fördern und auch eine<br />

endlose Vielfalt an Lebewesen. In ihr befinden sich alle, die geboren sind, die<br />

künftig geboren werden, die Toten und die Sterbenden. Manchmal ist diese<br />

Schlingpflanze ernstlich beschädigt, dann wieder ist sie gänzlich intakt und<br />

wirksam wie im Falle der völlig unreifen Personen. Es ist aber unmöglich, sie<br />

ganz zu zerstören. In ihr befinden sich die Vergangenheit, die Gegenwart und<br />

die Zukunft. Sie ist das tödliche Gewächs, welches einen besinnungslos<br />

macht, welches aber stirbt, sobald es entschlossen untersucht wird.<br />

Diese Schlingpflanze manifestiert alles: Die Sterne und Planeten, die Lebewesen,<br />

die Pflanzen, die Elemente, den Himmel und die Erde, die Götter als<br />

auch die Würmer und das Ungeziefer. Was auch immer sich in diesem Universum<br />

befindet, wird von dieser Unwissenheit durchdrungen. Sobald sie transzendiert<br />

wird, erlangst du die Selbsterkenntnis.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, ich bin von deiner Aussage, dass sogar Götter wie Vi«ïu und<br />

Śiva Teil dieser Unwissenheit oder avidyā seien, verwirrt. Bitte erkläre dies<br />

eingehender.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die Wahrheit oder Sein-Bewusstsein-Seligkeit (Satchidananda) befindet<br />

sich absolut jenseits von Denken und Verstehen – sie ist höchster Friede und<br />

Allgegenwart; sie transzendiert die Vorstellungskraft und jede Beschreibung.<br />

VI:1,9<br />

361


VI:1,10<br />

Auf natürliche Weise entsteht in ihr die Fähigkeit der Konzeptualisierung.<br />

Dieses Selbst-Verstehen wird als dreifach betrachtet, nämlich als subtil, mittel<br />

und grob. Der Intellekt, der diese drei erwägt, betrachtet sie als satva, rajas<br />

und tamas. Die drei zusammen bilden das, was man prak­ti oder Natur nennt.<br />

Avidyā oder Unwissenheit ist prak­ti oder Natur, und sie ist dreifach. Dies ist<br />

die Quelle aller Wesen – jenseits davon ist das Höchste.<br />

Diese drei Qualitäten der Natur (sātva, rajas und tamas) werden wiederum<br />

in die drei Unterkategorien des Subtilen, Mittleren und Groben unterteilt, so<br />

dass schließlich neun Kategorien entstehen. Es sind diese neun Qualitäten,<br />

die das gesamte Universum bilden.<br />

Die Weisen, die Asketen, die Vollkommenen, die Bewohner der Unterwelten,<br />

die himmlischen Wesen und die Götter bilden alle den sātvischen Teil der<br />

Unwissenheit. Unter diesen stellen die himmlischen Wesen und die Bewohner<br />

der Unterwelten den groben (tamas), die Weisen den mittleren (rajas),<br />

und die Götter Vi«ïu, Śiva usw. den subtilen Teil dar. Diejenigen, die unter die<br />

Kategorie des sātva fallen, werden nicht wiedergeboren – sie gelten als befreit.<br />

Sie existieren so lange, wie diese Welt andauert. Die anderen (wie die<br />

Weisen), die noch lebend befreit sind (jīvanmukta), werden im Laufe der Zeit<br />

ihre Körper verlieren und erreichen dann das Reich der Götter, verbleiben da<br />

während der Existenz der Welt und werden danach befreit. So wird aus diesem<br />

Teil von avidyā oder Unwissenheit tatsächlich vidyā oder Selbsterkenntnis!<br />

Avidyā taucht in vidya auf wie die Wellen auf dem Ozean, und wie Wellen<br />

im Ozean wieder vergehen, so löst sich auch avidyā wieder in vidyā auf.<br />

Die Unterscheidung zwischen den Wellen und dem Wasser ist irreal und<br />

rein verbal. Ebenso ist die Unterscheidung zwischen Unwissenheit und Erkenntnis<br />

irreal und verbal. Es gibt hier weder Unwissenheit noch Erkenntnis!<br />

Sobald du aufhörst, Erkenntnis und Unwissenheit als zwei getrennte Entitäten<br />

zu sehen, existiert nur noch das, was eben existiert. Die Reflektion von<br />

vidyā in sich selbst wird als avidyā bezeichnet. Sobald diese beiden Ideen<br />

aufgegeben werden, verbleibt als einziges die Wahrheit – diese mag etwas<br />

oder gar nichts sein! Die Wahrheit ist allmächtig, leerer als der Raum und<br />

doch nicht leer, da sie voll von Bewusstsein ist. Wie der Raum in einem Topf<br />

ist sie unzerstörbar und überall gegenwärtig. Sie ist die Wirklichkeit in allen<br />

Dingen. So wie ein Magnet kraft seiner Gegenwart die Eisenfeilspäne anzieht,<br />

so verursacht die Wahrheit die kosmische Aktivität, ohne selbst die Absicht<br />

dazu zu haben. Daher sagt man von ihr, dass sie überhaupt nichts tut.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Daher ist diese gesamte Welterscheinung mit all den beweglichen und unbeweglichen<br />

Wesen ein reines Garnichts – nichts darin ist wirklich physisch<br />

oder materiell geworden. Sobald die Konzeptualisierung eliminiert ist, welche<br />

die Ideen von Sein und Nicht-Sein entstehen lässt, wird erkannt, dass alle<br />

diese jīvas (die lebendigen Seelen) usw. nur inhaltslose Worte sind. Alle Beziehungen<br />

zu anderen Menschen, die aufgrund von Unwissenheit im eigenen<br />

Herzen sind, erweisen sich als nicht existent. Auch wenn man irrtümlicher-<br />

362


weise das Seil für eine Schlange hält, kann doch niemand von dieser Schlange<br />

gebissen werden!<br />

Es ist die Abwesenheit der Selbsterkenntnis, die man Unwissenheit oder<br />

Täuschung nennt. Sobald das Selbst erkannt wird, erreicht man die Ufer der<br />

unbegrenzten Intelligenz. Sobald Bewusstsein sich selbst objektifiziert und<br />

sich als sein Beobachtungsobjekt erachtet, gibt es avidyā oder Unwissenheit.<br />

Wird diese Subjekt-Objekt-Vorstellung transzendiert, dann werden sämtliche<br />

Schleier, die die Wirklichkeit verhüllen, aufgehoben. Das Individuum ist<br />

nichts anderes als das persönliche Gemüt. Die Individualität hört auf, sobald<br />

das Gemüt aufhört; sie bleibt, so lange es die Idee der Persönlichkeit gibt. So<br />

lange es einen Topf gibt, gibt es auch die Idee vom Raum, der in ihm umschlossen<br />

oder gefangen ist. Ist der Topf zerbrochen, dann verbleibt nur der<br />

unendliche Raum, auch dort, wo man sich zuvor einen Topf-Raum vorgestellt<br />

hat.<br />

RùMA fragte: Hoher Herr, bitte sage mir, wie aus dieser kosmischen Intelligenz<br />

leblose Dinge wie Felsen werden können.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

In Substanzen wie Felsen mit unbewegtem Bewusstsein wurde das Denken<br />

aufgegeben, aber sie sind nicht fähig, in den Zustand des Nicht-Denkens (nomind)<br />

überzugehen. Es ist wie ein Zustand des Tiefschlafs, der weit weg vom<br />

Zustand der Befreiung ist.<br />

RùMA fragte weiter:<br />

Wenn diese Dinge in einem Zustand des Tiefschlafs ohne alle Konzepte oder<br />

Ideen existieren, dann sollten sie doch nahe an der Befreiung sein?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Mok«a, Befreiung oder die Realisierung des Unendlichen bedeutet nicht die<br />

Existenz in der Form einer unbeweglichen Kreatur! Befreiung ist dann erreicht,<br />

wenn einer nach intelligenter Ergründung der Natur des Selbst, und<br />

nach innerem Erwachen als Folge davon, den Zustand des höchsten Friedens<br />

erlangt. Kaivalya oder totale Freiheit ist die Erlangung des reinen Seins,<br />

nachdem sämtliche mentalen Konditionierungen bewusst transzendiert und<br />

infolge einer gründlichen Erforschung aufgegeben wurden. Die Weisen sagen,<br />

dass einer nur dann in reinem Sein oder in Brahman verankert ist, wenn er<br />

die Wahrheit, wie sie in den Schriften dargelegt wird, in der Gesellschaft und<br />

mit Hilfe erleuchteter Weiser ergründet hat.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Solange die psychologischen Begrenzungen und Konditionierungen im Herzen<br />

verbleiben – und seien sie auch nur im subtilen „Samen-Zustand“ – sollten<br />

sie als Tiefschlafzustand betrachtet werden. Sie veranlassen die Wiedergeburt,<br />

auch wenn ein Zustand der Stille erfahren wird und sogar dann, wenn<br />

das Gemüt vom Selbst absorbiert zu sein scheint. Dieser Zustand ist ein lebloser<br />

Zustand und die Quelle des Kummers. Genauso muss der Zustand von<br />

363


leblosen und unbeweglichen Objekten wie Felsen usw. betrachtet werden. Sie<br />

sind nicht frei von der Selbst-Begrenzung (vāsanā), sondern diese ist latent in<br />

ihnen verborgen, so wie Blumen latent in den Samen verborgen liegen (und<br />

keimen, wachsen und Blumen hervorbringen) oder wie Töpfe im Lehm. Wo<br />

aber die Samen der vāsanās (Selbst-Begrenzung, Konditionierungen oder<br />

Neigungen) existieren, dort ist der Zustand des Tiefschlafs. Das ist nicht die<br />

Vollkommenheit. Sind aber alle vāsanās vernichtet und existiert nicht einmal<br />

mehr die Potentialität von vāsanās, dann nennt man diesen Zustand den<br />

vierten und transzendentalen (d.h. jenseits von Wachen, Träumen und Tiefschlaf).<br />

Dieser führt die Vollkommenheit herbei. Vāsanās, Feuer, Schulden,<br />

Krankheit, Feinde, Freundschaft (bzw. Leim), Hass und Gift – alle diese Dinge<br />

verursachen Leiden, wenn nach ihrer Beseitigung auch nur kleinste Restbestände<br />

zurückbleiben.<br />

Andererseits ist man im Zustand des reinen Seins verankert, wenn alle<br />

vāsanās vollständig beseitigt worden sind – und man wird nie wieder von<br />

Sorge übermannt, ob man nun lebt oder nicht. Cit-śakti (die Bewusstseinsenergie)<br />

liegt verborgen in den unbeweglichen Kreaturen usw. als latentes<br />

vāsanā. Es dieses cit-śakti, welches die Natur jedes einzelnen Objekts bestimmt;<br />

es ist die fundamentale Eigenschaft sogar der Moleküle jedes einzelnen<br />

Objekts.<br />

So lange dieses nicht als ātma-śakti (die Energie des Selbst oder das unendliche<br />

Bewusstsein) erkannt wird, erzeugt es die Illusion der Welterscheinung.<br />

Wird es als die Wahrheit realisiert, welche das unendliche Bewusstsein ist,<br />

dann vernichtet diese Erkenntnis sämtlichen Kummer. Diese Wahrheit nicht<br />

zu sehen, bedeutet avidyā oder Unwissenheit – und diese Unwissenheit ist die<br />

Ursache der Welterscheinung, die wiederum die Quelle aller weiteren Phänomene<br />

ist. So wie das Auftauchen des ersten Gedankens den Schlaf stört und<br />

beendet, so zerstört das leiseste Erwachen der inneren Intelligenz die Unwissenheit.<br />

Wenn man sich der Finsternis mit einer Lampe in der Hand nähert,<br />

um sie anzuschauen, dann verschwindet die Finsternis. Wird das Licht der<br />

Ergründung auf die Unwissenheit gerichtet, dann verschwindet die Unwissenheit.<br />

Wenn man zu fragen beginnt: „Was ist dieses ‚Ich‘ in diesem Körper<br />

aus Fleisch, Blut, Knochen usw.?“ dann hört die Unwissenheit sofort auf. Was<br />

einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Wenn sämtliche Dinge, die einen Anfang<br />

haben, ausgeschlossen werden, dann verbleibt als einziges die Wahrheit, die<br />

das Ende von avidyā oder Unwissenheit bedeutet. Du magst es als ein Ding<br />

oder ein Nicht-Ding ansehen, aber man muss das suchen, was IST, wenn die<br />

Unwissenheit vernichtet ist. Die Süße, die man schmeckt, wird nicht von<br />

jemand anderem genossen – die Beschreibung vom Ende von avidyā anzuhören,<br />

bewirkt nicht deine eigene Erleuchtung. Jeder muss es selbst realisieren.<br />

In Kürze, avidya besteht in dem Glauben, dass „es eine Realität gibt, die nicht<br />

Brahman oder das kosmische Bewusstsein ist“. Sobald es eine gewisse Erkenntnis<br />

gibt, dass „dies in der Tat Brahman ist“, hört avidyā auf.<br />

364


* * *<br />

VI:1,11<br />

Diskurs über Brahman<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wieder und wieder erläutere ich all dies zum Nutzen und Frommen deines<br />

spirituellen Erwachens, oh Rāma, denn ohne diese stetigen Wiederholungen<br />

(oder spirituelle Praxis) kann die Realisation des Selbst nicht geschehen.<br />

Diese Unwissenheit, genannt avidyā oder ajñāna, ist deshalb so undurchdringlich<br />

geworden, weil sie in Tausenden von Inkarnationen durch die Sinne<br />

innerhalb und außerhalb dieses Körpers wieder und wieder gelebt und erfahren<br />

worden ist. Die Selbsterkenntnis jedoch befindet sich nicht innerhalb<br />

der Reichweite der Sinne. Sie taucht auf, wenn die Sinne und das Gemüt,<br />

welches der sechste Sinn ist, aufhören.<br />

Oh Rāma, lebe fest verankert in der Selbsterkenntnis, so wie König Janaka<br />

lebt, nachdem er erkannt hatte, was es zu erkennen gibt. Er kennt die Wahrheit<br />

allezeit, ob er nun tätig ist oder nicht, ob er wach ist oder nicht. Lord<br />

Vi«ïu inkarniert in dieser Welt und nimmt eine Verkörperung an, fest verankert<br />

in der Selbsterkenntnis. Auf die gleiche Weise verbleibt Lord Śiva in der<br />

Selbsterkenntnis, und ebenso ist auch Lord Brahmā in der Selbsterkenntnis<br />

verankert. Sei verankert in der Selbsterkenntnis, oh Rāma, wie diese.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, bitte sage mir, worin diese Selbsterkenntnis besteht, in der alle<br />

diese großen Seelen verankert sind.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, du weißt dies bereits. Aber du fragst wieder danach, weil du es vollauf<br />

geklärt haben willst.<br />

Alles was hier ist und alles was als die Welt erscheint, ist nur das reine<br />

Brahman oder das absolute Bewusstsein und nichts anderes. Bewusstsein ist<br />

Brahman, die Welt ist Brahman, sämtliche Elemente sind Brahman, ich bin<br />

Brahman, mein Feind ist Brahman, meine Freunde und Verwandten sind<br />

Brahman, die drei Perioden der Zeit sind Brahman, denn all dies wurzelt in<br />

Brahman. So wie der Ozean aufgrund der Wellenbildung größer erscheint, so<br />

scheint Brahman aufgrund der unendlichen Vielfalt der Substanzen größer zu<br />

werden. Brahman nimmt Brahman wahr, Brahman erfährt oder erfreut sich<br />

Brahmans, und Brahman manifestiert sich in Brahman durch die Macht von<br />

Brahman selbst. Brahman ist die Gestalt meines Feindes, der mir missfällt,<br />

der ich doch Brahman bin. Wenn dies sich so verhält – wer fügt da dem anderen<br />

was zu?<br />

Die verschiedenen Stimmungen des Gemüts wie Anziehung und Abstoßung,<br />

Abneigung und Zuneigung wurden durch Einbildung heraufbeschworen. Sie<br />

365


wurden durch die Abwesenheit der Gedanken wiederum zerstört. Wie können<br />

sie dann vergrößert werden? Wenn Brahman allein in allem lebt, was<br />

Brahman ist, und wenn Brahman allein sich als Brahman in allem entfaltet –<br />

wo sind dann Freude und Leid? Brahman ist befriedigt mit Brahman, Brahman<br />

ist verankert in Brahman. Da gibt es weder ein „Ich“ noch ein anderes!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle Objekte dieser Welt sind Brahman. „Ich“ bin Brahman. Wenn dies der<br />

Fall ist, dann sind sowohl Leidenschaft als auch Leidenschaftslosigkeit, Verlangen<br />

und Widerwille, nichts als Ideen. Der Körper ist Brahman, und der Tod<br />

ist auch Brahman – wenn beide zusammenkommen wie das reale Seil und die<br />

irreale, eingebildete Schlange – wo ist dann ein Anlass für Trauer? Ebenso ist<br />

der Körper Brahman, und das Vergnügen ist Brahman – wo ist der Anlass für<br />

Frohlocken, wenn der Körper Vergnügen erfährt? Wenn auf der Oberfläche<br />

eines stillen Ozeans Wellen erscheinen, dann bewegen sie sich, aber als Wellen<br />

hören sie nicht auf, Wasser zu sein! Auf die gleiche Weise bleibt Brahman<br />

in seiner Essenz unverändert, wenn es in der Welterscheinung als bewegt<br />

erscheint – es gibt da weder eine „Ich“-heit noch eine „Du“-heit. Wenn der<br />

Wasserstrudel im Wasser erstirbt, ist gar nichts gestorben! Wenn der Tod-<br />

Brahman den Körper-Brahman überwältigt, geht nichts verloren.<br />

Wasser vermag ruhig oder bewegt zu sein – auf die gleiche Weise kann<br />

Brahman still oder ruhelos sein. Das ist seine Natur. Es ist Unwissenheit oder<br />

Täuschung, die das Eine in „dies ist der fühlende jīva“ und „dies ist leblose<br />

Materie“ teilt. Der Weise unterhält keine solch fehlerhaften Ideen. Daher ist<br />

die Welt für den Unwissenden voller Sorgen, während dieselbe Welt für den<br />

Weisen voll Seligkeit ist; gleich wie die Welt für den Blinden finster und für<br />

den Sehenden voller Licht ist.<br />

Wenn das eine Brahman alles durchdringt, dann gibt es weder Tod noch<br />

überhaupt eine lebendige Person. Die Wellen spielen auf der Oberfläche des<br />

Ozeans – weder werden sie geboren noch sterben sie! Ebenso steht es mit<br />

den Elementen in dieser Schöpfung. „Dies ist“ und „dies ist nicht“ – derartige<br />

Vorstellungen tauchen im Selbst auf. Diese Vorstellungen sind weder wirklich<br />

verursacht noch haben sie eine Motivation, genauso wie ein Kristall verschiedenfarbige<br />

Objekte ohne Motivation reflektiert.<br />

Das Selbst bleibt sich selbst auch dann, wenn die Energien der Welt endlose<br />

Verschiedenheiten auf der Oberfläche des Ozeans des Bewusstseins hervorbringen.<br />

In dieser Welt, die man den Körper usw. nennt, gibt es keine unabhängige<br />

Einheiten. Was man als den Körper oder die Ideen ansieht, als die<br />

Objekte der Wahrnehmung, als das Verderbliche und das Unverderbliche, die<br />

Gedanken und Gefühle und ihre Bedeutungen – alle diese sind Brahman in<br />

Brahman, das unendliche Bewusstsein. Dualität gibt es nur in den Augen der<br />

Irregeführten und Unwissenden. Das Gemüt, der Intellekt, der Ich-Sinn, die<br />

kosmischen Grundelemente, die Sinne und alle die verschiedenen Phänomene<br />

sind Brahman allein – Vergnügen und Schmerz sind Illusionen (sie sind<br />

Worte ohne Substanz). So wie ein einzelner Ton ein Echo in den Bergen er-<br />

366


zeugt, die wiederum verschiedene Echos zurückwerfen, so erfährt das eine<br />

kosmische Bewusstsein in sich selbst die Vielfalt der Ideen von „Dies bin ich“<br />

oder „Dies ist das Gemüt“ usw. Das eine kosmische Bewusstsein sieht in sich<br />

selbst die Vielfalt so, wie ein Träumer innerhalb von sich selbst von verschiedenen<br />

Objekten träumt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn Gold nicht als solches erkannt wird, dann wird es mit Erde vermischt;<br />

wenn Brahman als solcher nicht erkannt wird, dann taucht die Unreinheit der<br />

Unwissenheit auf. Diejenigen, die Brahman erkannt haben, erklären, dass ein<br />

solch Großer selbst der Höchste Herr und Brahman ist; im Falle des Unwissenden<br />

nennt man die Nicht-Erkenntnis der Wahrheit Unwissenheit (oder es<br />

ist die Meinung der Kenner Brahmans, dass der Höchste Herr oder das höchste<br />

Sein in den Unwissenden als Unwissenheit gesehen wird). Wenn Gold als<br />

solches erkannt wird, dann „wird“ es sofort Gold; wenn Brahman als solches<br />

erkannt wird, dann „wird“ es sofort Brahman.<br />

Da es allmächtig ist, wird Brahman unverzüglich und ohne eigene Motivation<br />

zu dem, wofür es sich selbst hält. Die Kenner Brahmans erklären, dass<br />

Brahman der Höchste Herr ist, das große Wesen, welches ohne Tätigkeit,<br />

Täter und Tätigkeitsorgan ist, ohne kausale Motivation und ohne Umwandlung<br />

oder Veränderung.<br />

Wenn diese Wahrheit nicht erkannt wird, verwandelt sie sich im Unwissenden<br />

zu Unwissenheit, aber wenn sie realisiert wird, verschwindet die Unwissenheit.<br />

Wenn ein Verwandter nicht als solcher erkannt wird, gilt er als<br />

Fremder; wird er dann erkannt, so verschwindet die Idee des Fremden unverzüglich.<br />

Wenn man weiß, dass Dualität eine illusorische Erscheinung ist, dann geschieht<br />

die Realisation von Brahman dem Absoluten. Wenn man weiß: „Dies<br />

ist nicht ich“, wird die Irrealität des Ich-Sinns realisiert, und wahre Leidenschaftslosigkeit<br />

entsteht. „Ich bin wahrhaftig Brahman“ – sobald diese Wahrheit<br />

erkannt wird, verschmelzen sämtliche Dinge in diesem Gewahrsein.<br />

Wenn die Ideen „ich“ und „du“ verschwunden sind, taucht die Realisierung<br />

der Wahrheit auf und man erkennt, dass alles, was immer es auch sei, wahrhaftig<br />

Brahman ist.<br />

Was ist die Wahrheit? „Ich habe nichts mit dem Kummer, mit Tätigkeiten,<br />

mit Täuschung oder Wunsch zu tun. Ich bin Friede, frei von Sorgen. Ich bin<br />

Brahman“ – das ist die Wahrheit. „Ich bin ohne jeden Mangel, Ich bin Alles,<br />

weder suche Ich etwas noch trachte ich danach, etwas aufzugeben. Ich bin<br />

Brahman“ – so lautet die Wahrheit. „Ich bin Blut, Ich bin Fleisch, Ich bin Knochen,<br />

Ich bin der Körper, Ich bin Bewusstsein, Ich bin auch das Gemüt, Ich bin<br />

Brahman“ – das ist die Wahrheit. „Ich bin das Firmament, Ich bin Raum, Ich<br />

bin die Sonne und das gesamte Weltall, Ich bin alle Dinge hier. Ich bin Brahman“<br />

– darin besteht die Wahrheit. „Ich bin der Grashalm, Ich bin die Erde,<br />

Ich bin der Baumstumpf, Ich bin der Wald, Ich bin die Berge und Ozeane. Ich<br />

bin das nonduale Brahman“ – das ist die Wahrheit. „Ich bin das Bewusstsein,<br />

367


welches alle Dinge durchzieht und durch dessen Macht alle Wesen ihren<br />

Tätigkeiten nachgehen; Ich bin die Essenz aller Dinge“ – so lautet die Wahrheit.<br />

Dies ist gewiss: Alle Dinge existieren in Brahman, alle Dinge fließen von ihm<br />

aus, alle Dinge sind Brahman. Brahman ist allmächtig, es ist das eine Selbst, es<br />

ist die Wahrheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Wahrheit, die allgegenwärtig und reines Bewusstsein ohne jede Objektivität<br />

ist, wird verschiedentlich als Bewusstsein, Selbst, Brahman, Existenz,<br />

Wahrheit, Ordnung und auch als reine Erkenntnis bezeichnet. Sie ist rein und<br />

in ihrem Licht erkennen alle Wesen ihr eigenes Selbst. Ich bin Brahman, das<br />

reines Bewusstsein ist, nachdem seine Erscheinung als Gemüt, Intellekt,<br />

Sinne und alle anderen Ideen verneint worden ist. Ich bin das unvergängliche<br />

Bewusstsein oder Brahman, in dessen Licht allein alle Elemente und das<br />

gesamte Universum leuchten. Ich bin das Bewusstsein oder Brahman, von<br />

dem beständig Funken sprühen und im Universum Bewusstsein reflektieren.<br />

In einem reinen Gemüt drückt es sich als Stille aus. Obwohl es mit den unaufhörlichen<br />

Erfahrungen des Ich-Sinnes der zahllosen Lebewesen in Kontakt zu<br />

stehen scheint, die auf diese Weise die Freude erfahren, die von Brahman<br />

stammt, ist es doch gänzlich jenseits ihrer Reichweite und unberührt von<br />

ihnen. Denn obwohl es letztendlich die Quelle allen Glücks und allen Entzückens<br />

ist, ist es selbst von der Natur des Tiefschlafs (ohne jede Vielfalt), friedlich<br />

und rein. Ein unendlich winziger Teil der Seligkeit Brahmans wird in den<br />

Subjekt-Objekt-Beziehungen und der daraus entstehenden Freude erfahren.<br />

Ich bin das ewige Brahman, frei von den falschen Vorstellungen von Freude<br />

und Schmerz usw. und daher rein. Ich bin das Bewusstsein, in dem wahres<br />

und reines Erfahren ist. Ich bin dieses reine Bewusstsein, in dem die reine<br />

Intelligenz ohne Störung durch Gedankenwellen arbeitet. Ich bin dieses<br />

Brahman, welches die intelligente Energie ist, die in sämtlichen Elementen<br />

(Erde, Wasser, Feuer usw.) wirkt. Ich bin das reine Bewusstsein, welches sich<br />

als die Eigenschaften des Geschmacks usw. der verschiedenen Früchte manifestiert.<br />

Ich bin das unveränderliche Brahman, welches realisiert wird, sobald der<br />

Jubel über das Erlangen der ersehnten Ziele und die Niedergeschlagenheit<br />

über das Nichterlangen der Ziele transzendiert sind. Wenn die Sonne scheint<br />

und die Objekte der Welt in ihrem Licht gesehen werden, dann bin ich das<br />

reine Bewusstsein, welches sich in der Mitte zwischen diesen beiden befindet<br />

und das ureigene Selbst des Lichtes wie auch des beleuchteten Objekts ist. Ich<br />

bin dieses reine Bewusstsein oder Brahman, welches ohne Unterbruch in den<br />

Zuständen des Wachens, Träumens und Tiefschlafs existiert und daher der<br />

vierte Zustand oder die transzendentale Wahrheit ist.<br />

So wie der Geschmack des Zuckerrohrsaftes, kultiviert auf Hunderten von<br />

unterschiedlichen Feldern, überall gleich ist, so ist das den Lebewesen innewohnende<br />

Bewusstsein ein und dasselbe – dieses Bewusstsein bin ich. Ich<br />

368


VI:1,12,<br />

13<br />

bin die Bewusstseinsenergie (cit-śakti), die größer als das Universum ist und<br />

doch kleiner als das winzigste atomare Partikel und folglich unsichtbar. Ich<br />

bin das Bewusstsein, welches überall wie Butter in der Milch existiert und<br />

dessen wesenhafte Natur das Erfahren ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So wie die Ornamente aus Gold nichts als Gold sind, so bin Ich das reine<br />

Bewusstsein im Körper. Ich bin das Selbst, welches alle Dinge im Innen und<br />

im Außen durchdringt. Ich bin das Bewusstsein, welches alle Erfahrungen<br />

reflektiert, ohne selbst dem geringsten Wandel zu unterliegen und von der<br />

Unreinheit unberührt ist.<br />

Ich verneige mich vor diesem Bewusstsein, welches der Geber der Früchte<br />

aller Gedanken ist, das Licht, welches in allen Leuchtkörpern scheint, der<br />

höchste Gewinn, das Bewusstsein, welches alle Glieder durchdringt, welches<br />

stets wachend und gewahr ist, welches beständig in allen Substanzen vibriert<br />

und welches homogen und ungestört ist, als sei es im Tiefschlaf, aber es ist<br />

hellwach. Dieses Bewusstsein ist die Realität, welche jeder einzelnen Substanz<br />

im Universum ihre Eigenschaften verleiht und, obwohl es in allem<br />

wohnt und somit das allernächste ist, aufgrund seiner Unerreichbarkeit für<br />

das Gemüt und die Sinne weit weg ist. Kontinuierlich und homogen im Wachen,<br />

Träumen, Tiefschlaf und dem vierten (transzendentalen) Zustand des<br />

Bewusstseins, leuchtet es, wenn alle Gedanken aufgehört haben, wenn sämtliche<br />

Erregungen an ihr Ende gelangt sind und wenn aller Hass beendigt ist.<br />

Ich verneige mich vor diesem Bewusstsein – das ohne jeden Wunsch und<br />

ohne Ich-Sinn ist und welches nicht geteilt werden kann.<br />

Ich habe dieses Bewusstsein erlangt, welches allem innewohnt, und obwohl<br />

es alles ist, jenseits der Vielfalt ist. Es ist das kosmische Netz, in dem die endlose<br />

Zahl der Lebewesen wie Vögel gefangen sind, in dem alle Welten sich<br />

manifestieren, und in dem entgegen dem Augenschein nichts jemals geschehen<br />

ist. Dieses Bewusstsein ist die Natur des Seins und des Nicht-Seins sowie<br />

der Ruheort von allem, was gut und göttlich ist. Es spielt die Rollen sämtlicher<br />

Lebewesen und ist die Quelle aller Liebe und allen Friedens, obwohl es<br />

auf ewig frei und eins ist. Es ist das Leben aller lebendigen Wesen, der<br />

unerschaffene Nektar, der von niemandem gestohlen werden kann, die auf<br />

immer existierende Wirklichkeit. Dieses Bewusstsein, welches in den Sinneserfahrungen<br />

reflektiert wird, ist dennoch leer von diesen und kann von ihnen<br />

nicht erfahren werden. In ihm freuen sich alle Wesen, obgleich es selbst reine<br />

Seligkeit jenseits aller Freude ist; wie Raum ist es, jedoch jenseits von Raums;<br />

glorreich ist es, jedoch ohne alle Eroberungen und Glorien. Obwohl es alles zu<br />

tun scheint, tut es nichts.<br />

All dies bin „Ich“ und all dies ist mein. Jedoch bin Ich nicht, und Ich bin<br />

nichts „anderes als Ich“. Ich habe dies realisiert. Diese Welt kann Illusion oder<br />

real sein – Ich bin jenseits und frei vom Fieber des Elends.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

369


Verankert in dieser Realisation der Wahrheit lebten die großen Weisen auf<br />

immer in Frieden und Gleichmut. Sie waren frei von psychologischen Neigungen<br />

und daher suchten sie, noch wiesen sie den Tod oder das Leben zurück.<br />

Sie verblieben unerschütterlich in ihrer direkten Erfahrung wie ein zweiter<br />

Berg Meru. Aber sie durchwanderten die Wälder, die Inseln und die Städte,<br />

reisten in den Himmeln, als wären sie Engel oder Götter, sie besiegten ihre<br />

Feinde und regierten als Herrscher. Sie befassten sich mit verschiedenen<br />

Tätigkeiten, da sie erkannten, dass dies in Übereinstimmung mit den heiligen<br />

Schriften war. Sie erfreuten sich des Lebens, sie besuchten die himmlischen<br />

Gärten und wurden von den himmlischen Maiden unterhalten. Sie erfüllten<br />

pflichtschuldigst die Aufgaben des Haushälterlebens. Sie nahmen sogar an<br />

großen Kriegen teil. Sie behielten ihren Gleichmut in katastrophalen Umständen,<br />

unter denen andere ihren Frieden und die Ausgeglichenheit des Gemüts<br />

verloren hätten.<br />

Ihr Gemüt war völlig im Zustand von sātva oder Göttlichkeit und war folglich<br />

frei von der Täuschung, von der egoistischen Idee (des „Ich tue dies“) und<br />

vom Wunsch nach Gewinn, obwohl sie Gewinn oder Belohnung für ihre Handlungen<br />

in keiner Weise zurückwiesen. Weder ergingen sie sich nach dem Sieg<br />

über ihre Feinde in überflüssigem Jubel, noch fielen sie nach einer Niederlage<br />

in Verzweiflung und Trauer. Sie waren auf natürliche Weise mit ihren Tätigkeiten<br />

beschäftigt und all ihre Handlungen entsprangen dem Geist der Nicht-<br />

Willentlichkeit.<br />

Folge ihrem Beispiel, oh Rāma. Lass deine Persönlichkeit (den Ich-Sinn)<br />

egolos sein, und lass die Handlungen spontan aus dir heraus erfolgen. Denn<br />

das unendliche, unteilbare Bewusstsein allein ist die Wahrheit, und es ist<br />

dieses, welches sich mit dem Anschein der Vielfalt, die weder real noch irreal<br />

ist, bekleidet hat. Lebe daher gänzlich unangehaftet. Weshalb trauerst du wie<br />

ein Unwissender?<br />

RùMA sprach:<br />

Hoher Herr, durch deine Gnade bin ich vollständig zur Wirklichkeit erwacht.<br />

Meine Täuschung ist verschwunden. Ich werde tun, was du mir gebietest<br />

zu tun. Gewiss werde ich von nun an im Zustande desjenigen ruhen, der<br />

noch lebend befreit ist. Bitte, hoher Herr, sage mir, wie man diesen Zustand<br />

der Befreiung durch Zurückhaltung der Lebenskraft (prāïa) und durch Auslöschung<br />

aller Selbstbegrenzung oder psychologischer Konditionierung erlangt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Normalerweise nennt man dies <strong>Yoga</strong>, also die Methode, mit der dieser Zyklus<br />

von Geburt und Tod aufhört. Dies bedeutet die absolute Transzendenz des<br />

Gemüts, und diese besteht aus zwei Arten. Die eine Art ist die Selbsterkenntnis,<br />

die Zurückhaltung der Lebenskraft die andere. Heute bedeutet <strong>Yoga</strong> nur<br />

noch die letztere Art. Und doch führen beide Methoden zum selben Ergebnis.<br />

Für manche ist die Selbsterkenntnis mit Hilfe der Ergründung schwierig,<br />

370


während für andere wiederum <strong>Yoga</strong> schwierig ist. Meine Überzeugung ist,<br />

dass der Pfad der Ergründung für alle der einfachste ist, weil die Selbsterkenntnis<br />

die immer gegenwärtige Wahrheit ist. Ich werde dir nun die Methode<br />

des <strong>Yoga</strong> beschreiben.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von BhuÓuï¬a<br />

VI:1,14,<br />

15<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im unendlichen und unteilbaren Bewusstsein gibt es sozusagen in einer<br />

Ecke eine Welterscheinung, die wie eine Luftspiegelung ist. Der Schöpfer<br />

Brahmā, der die augenscheinliche Ursache dieser Welterscheinung ist, wohnt<br />

darin. Ich bin sein Sohn, aus seinem Gemüt entsprungen. Als ich einst im<br />

Himmel Indras war, hörte ich von Weisen wie Nārada die Geschichten über<br />

die langlebigen Wesen. Im Verlaufe der Gespräche sagte der große Weise<br />

Śātātapa:<br />

„In einer Ecke des Berges Meru gibt es den wunscherfüllenden Baum namens<br />

CÆta, dessen Blätter aus Gold und Silber sind. Auf diesem Baum lebt<br />

eine Krähe namens BhuÓuï¬a, die gänzlich frei von aller Anziehung und<br />

Abstoßung ist. Nichts auf der Erde und im Himmel hat länger als sie gelebt.<br />

Sie ist nicht nur schon sehr alt, sondern gleichzeitig eine erleuchtete und<br />

friedvolle Persönlichkeit. Falls irgendeiner von euch so leben kann wie sie,<br />

würde das als ein höchst verdienstvolles und lobenswertes Leben bezeichnet<br />

werden.“<br />

Ich hörte diese Worte und fühlte mich durch sie außerordentlich inspiriert.<br />

Bald darauf machte ich mich auf, um diesen BhuÓuï¬a zu treffen. Schnell<br />

erreichte ich den Gipfel des Berges Meru, wo BhuÓuï¬a lebte. Der Berg leuchtete<br />

und strahlte – vergleichbar mit dem Glanz der Yogis, die durch die Praxis<br />

des <strong>Yoga</strong> das psychische Tor der Krone des Hauptes und das obere Ende der<br />

nā¬i, genannt su«umnā (die auch als der Berg Meru bezeichnet wird) geöffnet<br />

haben. Der Gipfel ragte bis in den Himmel hinein.<br />

Dort sah ich den Baum namens CÆta, dessen Blätter und Blüten wie Juwelen<br />

glänzten. Es war ein wahrer Wolkenkratzer-Baum. Die himmlischen Wesen,<br />

die darin wohnten, erfüllten die Luft mit ihren Gesängen. Vollkommene Weise,<br />

die jede beliebige Gestalt annehmen konnten, wohnten ebenfalls darauf.<br />

Es war ein riesiger Baum mit unermesslichen Dimensionen.<br />

Ich sah auf diesem Baum die verschiedensten Vogelarten. Ich sah den berühmten<br />

Schwan, der das Fortbewegungsmittel für den Schöpfer Brahmā ist.<br />

Ich sah den Vogel Śuka, der das Fortbewegungsmittel für den Feuergott und<br />

gelehrt in den Schriften ist. Ich sah den Pfau, der das Fortbewegungsmittel<br />

des Gottes Kārtikeya ist. Und ich sah ferner den Vogel, den man Bharadvāja<br />

371


nennt, sowie noch viele andere. Und in großer Entfernung sah ich auf dem<br />

Baum Krähen sitzen. Unter diesen entdeckte ich den großen BhuÓuï¬a, der<br />

dort in gänzlicher Stille und im Frieden saß. Er war herrlich, strahlend und<br />

friedvoll.<br />

Dies war der berühmte BhuÓuï¬a, der Langlebige. Er hatte schon mehrere<br />

Weltzyklen erlebt. Er erinnerte sich sogar noch derjenigen, die schon vor<br />

Äonen gelebt hatten. Er blieb still. Er war frei von der Ich-heit und vom<br />

Meins-sein. Er war für alle ein Freund und Verwandter.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich ließ mich direkt vor BhuÓuï¬a nieder. Er wusste, dass ich Vasi«Âha war<br />

und begrüßte mich angemessen. Durch seine bloße Gedankenkraft materialisierte<br />

er Blumen, mit denen er mir seine Verehrung entgegenbrachte. Er bat<br />

mich, mich neben ihn zu setzen. Dann sagte BhuÓuï¬a zu mir:<br />

„Ich betrachte es als einen großen Segen, dass du uns nach einer langen Zeit<br />

deinen darśan (Besuch) gibst. Gebadet im Nektar deines darśans (Gegenwart<br />

oder Gesellschaft) werden wir wie ein guter Baum erneuert. Du bist unter<br />

denjenigen, die Verehrung verdienen, der Größte, und du bist allein aufgrund<br />

meiner angesammelten Verdienste zu mir gekommen. Bitte teile mir den<br />

Grund deines Kommens mit. Ganz gewiss doch leuchtet in deinem Herzen das<br />

Licht der Selbsterkenntnis, entzündet durch beständige und intensive Ergründung<br />

der Natur dieser unwirklichen Welterscheinung? Was ist der Zweck<br />

deines Besuchs? Ah, schon beim Anblick deiner gesegneten Füße habe ich<br />

dein Ziel erraten. Du kamst hierher, um das Geheimnis der außerordentlichen<br />

Langlebigkeit zu ergründen. Doch ich möchte die Absicht deines Besuches<br />

von deinen eigenen Lippen hören.“<br />

Ich antwortete wie folgt: „Du bist wahrhaftig gesegnet, da du dich des<br />

höchsten Friedens um dich herum erfreust, mit der höchsten Weisheit (der<br />

Selbsterkenntnis) ausgestattet bist und nicht im Netz dieser Illusion, genannt<br />

Welterscheinung, gefangen bist. Bitte gewähre mir ein paar Fragen betreffend<br />

deine eigene Person.“<br />

„In welcher Sippe wurdest du geboren? Wie vermochtest du die Erkenntnis<br />

dessen zu erlangen, welches als einziges wert ist zu wissen? Wie alt bist du<br />

heute? Erinnerst du dich noch an Dinge aus der Vergangenheit? Wer hat verfügt,<br />

dass du langlebig sein und auf diesem Baum leben wirst?“<br />

BHUŚU×ÖA erwiderte:<br />

Da du mir diese mich betreffenden Fragen gestellt hast, oh Weiser, werde<br />

ich sie dir beantworten. Bitte höre aufmerksam zu. Die Geschichte, die ich dir<br />

nun erzählen werde, ist so wunderbar, dass sie die Sünden von allen vernichten<br />

wird, auf die sie zutrifft und die ihr zuhören.<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, oh Rāma, begann BhuÓuï¬a mit der folgenden<br />

Erzählung. Seine Worte waren ernst und fein. Sie besaßen Macht, weil<br />

er jenseits aller Wünsche und Absichten nach Vergnügen war. Sein Herz war<br />

VI.1:16,<br />

17<br />

372


VI.1:18<br />

rein, weil es seine Erfüllung erlangt hatte. Er war der Geburt und der Auslöschung<br />

der Schöpfungen voll bewusst. Seine Worte waren liebevoll. Er hatte<br />

die Würde des Schöpfers Brahmā selbst. Seine Worte waren wie Nektar. Er<br />

begann seine Erzählung wie folgt:<br />

BHUŚU×ÖA sprach:<br />

In diesem Universum gibt es eine Gottheit namens Hara. Hara ist der Gott<br />

der Götter und wird von sämtlichen Göttern im Himmel verehrt. Seine Gemahlin<br />

hat die eine Hälfte seines Körpers inne. Von seinen verfilzten Locken<br />

fließt der heilige Fluss GaÇgā. Auf seinem Haupt erstrahlt der leuchtende<br />

Mond. Eine tödliche Kobra schlingt sich um seinen Hals – scheinbar ihres<br />

Giftes beraubt wegen des Nektars, der vom Mond herabfließt. Der einzige<br />

Schmuck dieser Gottheit ist die heilige Asche auf seinem Körper. Er weilt auf<br />

Verbrennungsstätten und bei Scheiterhaufen. Er trägt eine Kette aus Schädeln.<br />

Seine Amulette und Armreifen sind Schlangen.<br />

Mit seinem bloßen Blick vernichtet er die Dämonen. Er ist dem Wohlergehen<br />

des ganzen Universums ergeben. Berge und Hügel, die auf ewig in Meditation<br />

versunken scheinen, sind Symbole für ihn. Seine Helfer und Diener<br />

sind Kobolde mit Köpfen und Händen wie Messerklingen und Gesichtern wie<br />

Bären, Kamele, Mäuse usw. Er hat drei strahlende Augen. Diese Kobolde verneigen<br />

sich vor ihm. Und die weiblichen Gottheiten, die sich von den Wesen in<br />

den vierzehn Welten ernähren, tanzen vor ihm.<br />

Diese weiblichen Gottheiten besitzen ebenfalls Gesichter verschiedener<br />

Tierarten. Sie wohnen auf den Gipfeln der Berge, im Raum, in verschiedenen<br />

Welten, auf Verbrennungsstätten und in den Körpern der inkarnierten Lebewesen.<br />

Von diesen weiblichen Gottheiten gehören acht zu den herausragenden,<br />

und zwar sind dies Jayā, Vijayā, Jayanti, Aparājitā, Siddhā, Rakttā,<br />

Alaæbusā und Utpalā. Alle anderen gehorchen diesen acht Gottheiten. Von<br />

den acht war die siebente, Alaæbusā, die angesehenste. Ihr Fortbewegungsmittel<br />

ist die Krähe, und diese ist außerordentlich mächtig und von blauer<br />

Farbe.<br />

Einmal begab es sich, dass sich diese weiblichen Gottheiten im Raum versammelten.<br />

Sie verehrten dort pflichtgemäß die Gottheit, die Tumburu genannt<br />

wird (und die ein Aspekt von Rudra ist) und befassten sich mit<br />

linkshändischen Ritualen, die die höchste Wahrheit enthüllten. Sie verehrten<br />

Tumburu und die unter dem Namen Bhairava bekannte Göttin. Schließlich<br />

waren sie alle vom Wein berauscht und führten verschiedene Riten aus. Bald<br />

begannen sie eine wichtige Frage zu erörtern: Wie kommt es, dass der Gemahl<br />

von Umā (Hara) uns so geringschätzig behandelt? Sie beschlossen: „Wir<br />

werden unsere Tapferkeit auf so überzeugende Weise beweisen, dass er uns<br />

nicht mehr verachten wird.“ Sie überwältigten Umā mit ihren magischen<br />

Kräften und trennten sie von ihrem Lord Hara. Alle weiblichen Gottheiten<br />

sangen und tanzten in Ekstase. Manche tranken, manche sangen, andere<br />

lachten oder schrien, rannten, stürzten oder aßen Fleisch. Schon bald hatten<br />

diese berauschten Gottheiten überall auf der Welt Unordnung angerichtet.<br />

373


BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Während die Gottheiten auf diese Weise feierten und ihrem Vergnügen<br />

nachgingen, wurden auch ihre Fortbewegungsmittel trunken und begannen<br />

zu tanzen. Alle Schwäne tanzten zusammen mit der Krähe (Caï¬a), die das<br />

Fortbewegungsmittel von Alaæbusā war. Als die weiblichen Schwäne trunken<br />

waren, entstand in ihnen der Wunsch, sich zu paaren. Eine nach der anderen<br />

paarte sich mit der Krähe (Canda), denn alle waren berauscht. Schon bald<br />

darauf wurden sie schwanger.<br />

Als das Feiern vorbei war, begaben sich alle Gottheiten zu Lord Hara (Śiva)<br />

und überbrachten ihm den Körper von Umā, den sie durch ihre Zauberkräfte<br />

in Nahrung verwandelt hatten. Lord Siva wusste um die Wahrheit und war<br />

über die Gottheiten erzürnt. Diese erschufen Umā neu und boten sie dem<br />

Herrn an, und so erlangte er seine Gemahlin zurück. Alle Gottheiten kehrten<br />

zu ihren Wohnstätten zurück. Die Schwäne, die die Fortbewegungsmittel von<br />

Brahmī waren, unterrichteten diese über alles, was sich zugetragen hatte.<br />

Die Göttin Brahmī sprach zu ihnen: „Da ihr alle dicke Bäuche habt, werdet<br />

ihr euren Pflichten nicht nachkommen können. Begebt euch daher für einige<br />

Zeit wohin ihr wollt.“ Nachdem sie so gesprochen hatte, saß die Göttin in<br />

tiefer Kontemplation.<br />

Zu gegebener Zeit legten die Schwäne einundzwanzig Eier, die schon bald<br />

ausgebrütet waren. So wurden einundzwanzig von uns in der Familie von<br />

Caï¬a, der Krähe, geboren. Zusammen mit unseren Müttern verehrten wir<br />

die Göttin Brahmī. Wir erlangten durch ihre Gnade Selbsterkenntnis und die<br />

Befreiung. Anschließend gingen wir zu unserem Vater, der uns herzlich umarmte.<br />

Wir verehrten danach alle zusammen die Göttin Alaæbusā.<br />

Caï¬a sagte zu uns: „Kinder, seid ihr dem Fangnetz namens Welterscheinung<br />

entgangen, indem ihr die Fesseln der vāsanās oder der mentalen Konditionierung<br />

abgeworfen habt? Andernfalls lasst uns die Göttin verehren, durch<br />

deren Gnade ihr die höchste Weisheit erlangen werdet.“<br />

Wir erwiderten: „Vater, wir haben durch die Gnade der Göttin Brahmī die<br />

Erkenntnis erlangt, die als einzige wert ist zu erlangen. Wir suchen nun einen<br />

abgeschiedenen und geeigneten Platz, um dort zu leben.“<br />

Caï¬a erwiderte: „Es gibt in der Welt einen wunderbaren Berg namens<br />

Meru, der die Stütze aller vierzehn Welten und aller Wesen ist, die darin<br />

wohnen. Alle Götter und Weisen leben dort. Auf ihm wächst der wunscherfüllende<br />

Baum. Auf einem seiner Äste habe ich einst ein Nest gebaut, während<br />

sich die Göttin Alaæbusā in tiefer Meditation befand. Es ist schön und vorzüglich<br />

in jeder Hinsicht. Kinder, begebt euch zu diesem Nest und lebt darin. Ihr<br />

werdet niemals einem Hindernis begegnen.“<br />

Wir folgten dem Willen unseres Vaters und kamen alle hierher, um in diesem<br />

Nest zu leben.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

VI.1:19<br />

VI.1:20<br />

374


Es gab da eine Welt in uralten Zeiten, die nicht jenseits unserer Erinnerung<br />

ist, weil wir sie selbst gesehen haben.<br />

VASIåèHA fragte: Was geschah mit deinen Brüdern, da ich nur dich hier sehe?<br />

BHUŚU×ÖA erwiderte:<br />

Eine sehr lange Zeit verstrich, oh Weiser, und im Verlaufe dieser Zeit gaben<br />

meine Brüder ihre physische Existenz auf und stiegen in den Himmel Lord<br />

Śivas auf. Auch langlebige Personen, die heilig und fromm und stark sind,<br />

werden schließlich von der Zeit (oder dem Tod) verzehrt.<br />

VASIåèHA fragte weiter: Wie kam es, dass du von Hitze, Kälte, Wind und<br />

Feuer nicht berührt worden bist?<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Nun, als Krähe verkörpert zu sein, die von den Menschen verachtet wird, ist<br />

kein glücklicher Zustand, obwohl der Schöpfer reichlich für das Überleben<br />

der bescheidenen Krähe gesorgt hat. Weil wir jedoch beständig im Selbst<br />

verweilen und glücklich und zufrieden sind, haben wir manche Katastrophen<br />

glücklich überstanden. Wir blieben fest im Selbst verankert und haben alle<br />

unnötigen Aktivitäten aufgegeben, die nichts als eine Qual für Körper und<br />

Geist sind. Für diesen physischen Körper gibt es kein Elend, weder im Leben<br />

noch im Tod – daher verbleiben wir, wie wir sind und suchen nichts anderes<br />

als das, was ist.<br />

Wir haben die Schicksale aller Welten gesehen. Wir haben mental die Identifikation<br />

mit dem Körper aufgegeben. Verankert in der Selbsterkenntnis und<br />

auf diesem Baum sitzend, betrachte ich das Vergehen der Zeit. Durch die<br />

Praxis des prāïāyāma habe ich mich über die Zeiteinteilungen erhoben. Daher<br />

bin ich in meinem Herzen im Frieden und unberührt von den Ereignissen<br />

der Welt. Sämtliche Wesen können verschwinden oder geboren werden – wir<br />

fürchten weder das eine noch das andere. All diese Wesen mögen in den<br />

Ozean namens Zeit (oder Tod) eingehen – wir aber ruhen am Ufer dieses<br />

Ozeans und bleiben unberührt davon. Weder nehmen wir an noch weisen wir<br />

zurück; wir scheinen zu existieren, aber wir sind nicht, was wir zu sein scheinen.<br />

Deshalb bleiben wir in Ruhe auf diesem Baum.<br />

Obgleich wir uns mit verschiedenen Tätigkeiten befassen, ertrinken wir<br />

nicht im See der mentalen Modifikationen und verlieren niemals den Kontakt<br />

mit der Realität.<br />

Hoher Herr, der Nektar, für dessen Erwerb die Götter den Ozean aufwühlten,<br />

ist weniger kostbar als der nektargleiche Segen, der aus der Gegenwart<br />

von Weisen wie dir hervorgeht. Ich erachte nichts als lobenswerter als die<br />

Gesellschaft von Weisen, die frei von allen Wünschen und Verlangen sind. Oh<br />

Heiliger, obwohl ich bereits die Selbsterkenntnis erlangt habe, empfinde ich<br />

erst heute die wahre Erfüllung meines Lebens, da ich dich gesehen und mich<br />

deiner Gesellschaft erfreuen durfte.<br />

375


BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Dieser wunscherfüllende Baum hier wird weder von den verschiedenen<br />

Naturkatastrophen noch von den von den Lebewesen verursachten Umwälzungen<br />

erschüttert. Es gab verschiedene von den letzteren, als die Dämonen<br />

die Erde zu zerstören oder zu überwältigen versuchten, und auch anlässlich<br />

der Intervention des Herrn, der die Erde von den Dämonen befreite. Von all<br />

diesen Geschehnissen blieb dieser Baum völlig unberührt. Nicht einmal die<br />

große Flut und die sengende Hitze der Sonne, wie sie die kosmische Auflösung<br />

begleiten, konnten diesen Baum ins Wanken bringen. Daher konnten<br />

wir, die wir hier auf diesem Baum leben, allem Unheil entgehen. Das Böse<br />

überwältigt immer nur diejenigen, die an unheiligen Orten leben.<br />

VASIåèHA fragte:<br />

Aber wie hast das Ende des Kosmos überlebt, wenn alles aufgelöst wird?<br />

BHUŚU×ÖA erwiderte:<br />

Während dieser Periode, oh Weiser, gab ich dieses Nest auf, so wie ein undankbarer<br />

Mensch seinen Freund verlässt. Sodann verblieb ich vereint mit<br />

dem kosmischen Raum, vollkommen frei von allen Gedanken und mentalen<br />

Modifikationen. Als dann die zwölf kosmischen Sonnen unerträgliche Hitze<br />

über die gesamte Schöpfung ausstrahlten, praktizierte ich vāruïi-dhāraïā<br />

und blieb unbetroffen (Vāruïa ist der Herr der Wasser; vāruïi-dhāraïā ist<br />

die Kontemplation von Vāruïa). Als die Winde mit Gewalt zu blasen begannen<br />

und sogar die Berge versetzten, praktizierte ich pārvatī-dhāraïā und<br />

blieb unbetroffen (Parvata heißt Berg und pārvatī-dhāraïā bedeutet die<br />

Kontemplation des Berges). Als das gesamte Universum mit den Wassern der<br />

kosmischen Auflösung überflutet wurde, praktizierte ich vāyu-dhāraïā und<br />

blieb unbetroffen (Vāyu bedeutet Wind und vāyu-dhāraïā ist die Kontemplation<br />

des Windes). Sodann verblieb ich bis zum Beginn des nächsten kosmischen<br />

Zyklus im Tiefschlaf. Als der neue Schöpfer einen neuen Kosmos zu<br />

erzeugen begann, kehrte ich wieder in dieses Nest zurück.<br />

VASIåèHA fragte:<br />

Woher kommt es, dass nicht auch andere fähig sind, zu tun was du tatest?<br />

BHUŚU×ÖA erwiderte:<br />

Oh Weiser, der Wille des Höchsten Wesens kann nicht umgangen werden.<br />

Es ist sein Wille, dass ich so sein soll, wie ich bin, und dass die anderen sein<br />

sollen, wie sie sind. Weder kann man ergründen noch ermessen, was geschehen<br />

wird. In Übereinstimmung mit der Natur jedes Wesens tritt das ins Sein,<br />

was ins Sein zu treten hat. Daher findet sich entsprechend meiner Gedankenkraft<br />

oder Konzeption dieser Baum in jedem Weltzyklus an dieser Stelle und<br />

in dieser Beschaffenheit.<br />

VASIåèHA fragte:<br />

Du erfreust dich einer so außerordentlichen Langlebigkeit, dass allein dies<br />

schon nahelegt, dass du die endgültige Befreiung erlangt hast! Und du bist ein<br />

VI.1:21<br />

376


weiser, tapferer und großer Yogi. Bitte teile mir mit, an welche außergewöhnlichen<br />

Geschehnisse in diesem und den vorherigen Weltzyklen du dich erinnerst.<br />

BHUŚU×ÖA sprach:<br />

Ich erinnere mich daran, dass es irgendeinmal nichts auf dieser Erde gab,<br />

keine Pflanzen und Bäume, nicht einmal Berge. Die Erde war für den Zeitraum<br />

von elftausend Jahren mit Lava bedeckt. In diesen Tagen gab es unterhalb<br />

der Polarregion weder Tag noch Nacht, denn auf dem Rest der Erde<br />

schien weder die Sonne noch der Mond. Nur die Hälfte der Polarregion war<br />

erleuchtet.<br />

Zu dieser Zeit regierten die Dämonen die Erde – sie waren verblendet,<br />

mächtig und reich. Die Erde war ihr Spielplatz.<br />

Außer der Polarregion war der Rest der Erde von Wasser bedeckt. Für eine<br />

sehr lange Zeit dann war die gesamte Erde ausgenommen die Polarregion<br />

bedeckt von Wäldern. Schließlich entstanden große Berge, aber es gab keinerlei<br />

menschliche Bewohner. Während zehntausend Jahren war die Erde mit<br />

den Kadavern der Dämonen bedeckt.<br />

Einmal waren die Götter, die die Himmel zu durchqueren pflegten, aus<br />

Furcht verschwunden und wurden nicht mehr gesehen. Und die Erde wurde<br />

zu einem einzigen Berg! Ich erinnere mich an viele solche Geschehnisse, aber<br />

lass mich das erzählen, was wirklich wichtig ist.<br />

Während meiner Lebenszeit habe ich das Erscheinen und Verschwinden<br />

zahlloser Manus (Urväter der menschlichen Rasse) verfolgt. Es gab eine Zeit,<br />

in der die Welt ohne Götter und Dämonen und nichts anderes als ein strahlendes,<br />

kosmisches Ei war. Zu einer anderen Zeit wiederum war die Erde von<br />

Brāhmaïas (Mitglieder der Priesterklasse) bevölkert, die dem Alkohol ergeben<br />

waren, von ŚÆdras (Dienerklasse), die die Götter verlachten, und von<br />

Frauen, die Vielmännerei betrieben. Ich erinnere mich ferner an eine andere<br />

Epoche, als die Erde von Urwäldern bedeckt war und man sich die Weite des<br />

Ozeans nicht einmal vorstellen konnte, und als menschliche Wesen spontan<br />

entstanden. Zu einer anderen Zeit gab es dagegen weder Berge noch Erde –<br />

die Götter und die Weisen hausten im Raum. Zu einem anderen Zeitpunkt<br />

wiederum gab es weder Götter noch Weise usw., überall herrschte Finsternis.<br />

Als erstes tauchte die Idee der Schöpfung auf. Dann entstanden Licht und<br />

die Aufteilung des Universums. Schließlich wurden, eines nach dem anderen,<br />

die verschiedenen Wesen wie auch Sterne und Planeten erschaffen,<br />

Ich sah während einer dieser Epochen, dass Lord Vi«ïu (der allgemein als<br />

der Erhalter des Universums betrachtet wird) das Universum erschuf, während<br />

es in einer anderen Brahmā war, der das Universum erzeugte. Und wiederum<br />

in einer anderen Epoche war es Śiva, der zum Schöpfer wurde.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

VI.1:22<br />

377


Natürlich erinnere ich mich an Weise wie dich, an Göttinnen wie Gauri, an<br />

Dämonen wie Hiranyāksa, Könige wie Śibi, an die letzte Vergangenheit und an<br />

vergangene Zeitalter. Oh Weiser – dies ist das achte Mal, dass du eine Geburt<br />

als der Weise Vasi«Âha angenommen hast, und es ist dies das achte Mal, dass<br />

wir uns treffen. Einmal wurdest du aus dem Raum geboren, zu einer anderen<br />

Zeit aus dem Wasser, dann wiederum aus dem Wind, dann aus einem Berg<br />

und schließlich aus dem Feuer.<br />

Was auch immer in der gegenwärtigen Schöpfung geschieht, geschah auf<br />

genau dieselbe Weise während dreier vergangener Schöpfungen. Ich aber<br />

entsinne mich der Geschehnisse von zehn solchen Schöpfungen. (Hinweis:<br />

Nun folgt eine Aufzählung aller wichtigen Weltgeschehnisse, die nicht alle in<br />

anderen Schöpfungen wiederholt wurden und so auf die unterschiedlichen<br />

Zeiten hinweist, in denen BhuÓuï¬a Augenzeuge war. Einige wenige von<br />

ihnen werden hier zur Veranschaulichung wiedergegeben). In jedem Zeitalter<br />

hat es Weise gegeben, die die Wahrheit verkündet und die Veden dargelegt<br />

haben. Es gab Vyāsas, die die Legenden (bzw. die prähistorischen Erzählungen)<br />

niedergeschrieben haben. Und immer wieder dichtete Vālmikī das heilige<br />

Rāmāyaïa. Zusätzlich dazu wurde von dem Weisen Vālmikī ein heiliges<br />

Buch geschrieben, in dem deine Instruktionen an Rāma verzeichnet sind;<br />

ursprünglich bestand es aus hunderttausend Versen. Auch in diesem Zeitalter<br />

wird es von Vālmikī geschrieben, diesmal zum zwölften Mal. Es gab außerdem<br />

noch ein großartiges Werk namens „Bharata“, das in Vergessenheit geraten<br />

ist.<br />

Um die Dämonen zu vernichten, nahm Lord Vi«ïu wieder und wieder die<br />

Geburt als Rāma an, und in diesem Zeitalter wird er zum elften Mal wiedergeboren<br />

werden. Und Lord Vi«ïu wird zum sechzehnten Mal als K­«ïa inkarnieren.<br />

Und doch ist dies alles nur wie eine illusorische Erscheinung – die Welt als<br />

solche ist nicht die Wirklichkeit. Sie erscheint nur dem getäuschten Verstand<br />

als real. Sie erscheint und verschwindet wie die Wellen auf dem Ozean im<br />

einem Augenblick. Die drei Welten sind in manchen Epochen ähnlich und in<br />

anderen wiederum gänzlich verschieden. Aufgrund dieser Unterschiede habe<br />

ich in jedem Zeitalter neue Freunde, neue Verwandte, neue Bedienstete und<br />

neue Wohnungen. Manchmal lebe ich in den Himālayas, dann in den Malaya-<br />

Bergen, und zu anderen Zeiten wiederum nehme ich aufgrund der ererbten<br />

Neigungen meine Wohnstatt hier in diesem Nest auf.<br />

Sogar die Himmelsrichtungen wechseln von Zeitalter zu Zeitalter. Da ich als<br />

einziger die Nacht des Schöpfers Brahmā überlebt habe, kenne ich die Wahrheit<br />

über alle diese Veränderungen. Je nach Position der Pole und der Bewegungen<br />

der Sterne, der Sonne und des Mondes werden die Himmelsrichtungen<br />

(wie Nord, Süd usw.) festgelegt. Wenn diese sich ändern, ändern sich<br />

auch die Himmelsrichtungen. Aber ich weiß, dass diese Welt weder wirklich<br />

noch unwirklich ist. Die einzige Realität ist die Bewegung der Energie innerhalb<br />

des kosmischen Bewusstseins. Diese erscheint aufgrund von falschem<br />

378


Verstehen als diese Schöpfung hier, um dann wieder zu verschwinden. Ein<br />

falsches Verständnis dieser Art erzeugt außerdem die Verwirrung in den<br />

menschlichen Beziehungen und Pflichten. In manchen Zeitaltern benimmt<br />

sich der Sohn wie der Vater, der Freund wie ein Feind und der Mann wie eine<br />

Frau. Manchmal benehmen sich die Menschen in den „dunklen Zeitaltern“ so,<br />

als würden sie sich im „goldenen Zeitalter“ befinden und umgekehrt.<br />

VASIåèHA fragte:<br />

Oh BhuÓuï¬a, wie kam es, dass dein Körper nicht vom Tod verzehrt wurde?<br />

BHUŚU×ÖA erwiderte:<br />

Oh Weiser, du hast das Wissen von allem, und doch stellst du diese Frage,<br />

um die Beredsamkeit deines Dieners anzuspornen. Ich werde deine Frage<br />

beantworten, denn Gehorsamkeit ist die beste Verehrung der Heiligen.<br />

Der Tod will nicht denjenigen töten, der weder rāga-dve«a (Anziehung und<br />

Abneigung) noch falsche Ideen oder mentale Gewohnheiten besitzt. Der Tod<br />

will nicht denjenigen töten, der nicht an mentaler Verwirrung leidet, der<br />

keine Wünsche und Hoffnungen unterhält, die Anlass zu Sorgen und Ängsten<br />

geben, der nicht von der Gier vergiftet ist, dessen Körper und Gemüt nicht<br />

vom Feuer des Zorns und des Hasses brennen, der nicht von der Lust aufgewühlt<br />

ist, der fest im reinen Gewahrsein des Brahman verankert ist und dessen<br />

Gemüt nicht wie ein Affe umherspringt.<br />

Oh Weiser, all diese Übel suchen denjenigen nicht, dessen Herz den Zustand<br />

äußerster Ruhe und Gleichmuts erreicht hat. Auch die Krankheiten von Körper<br />

und Gemüt betreffen ihn nicht länger. Sein Gewahrsein vermindert oder<br />

vermehrt sich nicht, weder im Tiefschlaf noch im Wachzustand. Er, dessen<br />

Gemüt und Herz im höchsten Frieden verankert sind, wird von den blindmachenden<br />

Übeln, wie sie aus Lust und Hass entstehen, nicht berührt. Er sucht<br />

nicht, noch weist er zurück, weder gibt er auf, noch sammelt er an, obwohl er<br />

beständig mit angemessener Handlung befasst ist. Keine einzige der bösen<br />

Mächte befällt ihn. Zu ihm kommen auf natürliche Weise nur Freude, Glück<br />

und alle segenbringenden Eigenschaften.<br />

Daher, oh Weiser, sollte man fest im unvergänglichen und ewigen Selbst<br />

verankert sein, welches frei von Finsternis und von allem Suchen ist. Man<br />

sollte das Gespenst der Dualität oder Getrenntheit erschlagen und das Herz<br />

an die eine Wahrheit heften, die als einzige am Anfang, in der Mitte und am<br />

Ende wohltuend ist.<br />

Weder in der Gesellschaft der Götter und Dämonen noch der himmlischen<br />

Künstler oder Maiden kann dauerhafte Freude gefunden werden. Weder im<br />

Himmel, auf der Erde noch in der Unterwelt kann man das ewigliche Gute<br />

finden – nirgendwo in dieser Schöpfung ist dies möglich. Sämtliche Aktivitäten<br />

sind mit physischer und mentaler Gebrechlichkeit und vielen Formen des<br />

Leids durchsetzt – das ewigliche Gute ist in ihnen nicht vorhanden. Dieses<br />

ewigliche Gute ist in überhaupt keiner Aktivität der Sinne zu finden, denn<br />

deren Erfahrungen haben einen Anfang und ein Ende.<br />

VI.1:23<br />

379


VI.1:24<br />

Weder die Herrschaft über die ganze Welt noch die Erlangung der Form eines<br />

Gottes, weder das Studium der Schriften noch Betätigung in der Gesellschaft,<br />

weder das Anhören noch das Rezitieren von Geschichten, weder die<br />

Langlebigkeit noch der Tod, weder der Himmel noch die Hölle ist vergleichbar<br />

mit dem Gemüt eines Heiligen.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Der beste aller Zustände, oh Weiser, ist in der Tat die Vision des einen unendlichen<br />

Bewusstseins. Sogar die Kontemplation des Selbst, welches unendliches<br />

Bewusstsein ist, bannt die Kümmernisse, beendet den langlebigen<br />

Traum der Welterscheinung, reinigt Gemüt und Herz und vertreibt Ängste<br />

und Missgeschick. Diese Kontemplation des Selbst ist frei von Gedankenwellen.<br />

Es ist leicht für jemanden wie dich – es ist schwierig für jemanden wie<br />

mich.<br />

Jedoch verfügt diese Kontemplation des Selbst sozusagen über Gesinnungsfreunde,<br />

die dieser Art der Kontemplation sehr nahe kommen, und zu ihnen<br />

gehört die Kontemplation der Lebenskräfte oder von prāïa, die jemanden<br />

dazu befähigt, Sorge zu überwinden und Glück zu fördern. Diese Kontemplation<br />

habe ich mir zu Eigen gemacht.<br />

Diese Art der Kontemplation von prāïa hat mir Langlebigkeit und auch<br />

Selbsterkenntnis gebracht. Ich werde sie dir nun beschreiben.<br />

Hoher Herr – betrachte diesen erfreulichen Körper, der von drei Säulen<br />

(den drei Körpern oder den drei nādīs?) getragen wird, mit neun Toren ausgestattet<br />

ist und vom Ich-Sinn beschützt wird, der acht Gemahlinnen<br />

(purya«Âaka) sowie verschiedene Verwandte (die Wurzelelemente) besitzt.<br />

Eingeschlossen in der Mitte dieses Körpers sind die subtilen īda und<br />

piÇgalā. Es gibt drei lotos-gleiche Räder. Diese Räder bestehen aus Knochen<br />

und Fleisch. Wenn der vitale Wind diese Räder befeuchtet, dann beginnen die<br />

Blumenblätter oder Umkreise dieser lotos-gleichen Räder zu vibrieren. Die<br />

vitalen Winde erweitern sich aufgrund ihrer Ausdehnung noch weiter. Aufgrund<br />

dessen beginnen diese nādīs unterhalb und oberhalb zu strahlen. Die<br />

Weisen nennen diese vitalen Winde entsprechend ihrer unterschiedlichen<br />

Funktionen mit verschiedenen Namen wie prāïa, apāna, samāna usw. Die<br />

Funktionen leiten ihre Energien wiederum vom zentralen psychischen Herzzentrum<br />

her, das der Herzlotos ist.<br />

Die Energie, die im Herzlotos vibriert, wird prāïa genannt. Mit ihrer Hilfe<br />

sieht das Auge, die Haut fühlt, der Mund spricht, die Nahrung wird durch sie<br />

verdaut. Sie führt die verschiedenen Funktionen des Körpers aus. Sie hat zwei<br />

verschiedene Rollen, eine ober- und eine unterhalb, und wird dementsprechend<br />

als prāïa bzw. apāïa bezeichnet. Ich binihnen ergeben, die frei von<br />

Ermüdung sind, die wie die Sonne und der Mond im Herzen scheinen, die wie<br />

die Karrenräder des Gemüts sind, welches der Wächter der Stadt genannt der<br />

Körper ist, und die die bevorzugten Pferde des Königs sind, den man den Ich-<br />

380


Sinn nennt. Da ich ihnen so ergeben bin, lebe ich wie im Tiefschlaf – für immer<br />

in gleichförmigem Bewusstsein.<br />

Wer prāïa und apāïa verehrt, wird in dieser Welt nicht wiedergeboren und<br />

ist frei von aller Bindung.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Prāïa befindet sich ständig in Bewegung, innerhalb und außerhalb des<br />

Körpers. Prāïa ist der vitale Wind, der sich im oberen Teil aufhält, während<br />

apāïa auf ähnliche Weise beständig im Innern und außerhalb des Körpers in<br />

Bewegung ist, jedoch im unteren Teil wohnt. Bitte höre dir die Erläuterung<br />

zur Praxis der Verlängerung oder Kontrolle dieser Lebenskraft an, die die<br />

Wohlfahrt desjenigen fördert, der wachend oder schlafend ist.<br />

Das Ausströmen des im Herzlotos zentralisierten vitalen Windes, welches<br />

von selbst und ohne Bemühung vonstatten geht, wird als recaka oder Ausatmen<br />

bezeichnet. Der Kontakt mit der Quelle der prāïischen Kraft, die zwölf<br />

Finger breit weiter unten ist, wird als pÆraka oder Einatmen bezeichnet.<br />

Wenn apāïa aufhört, sich zu bewegen und prāïa nicht aufsteigt und sich<br />

außerhalb des Herzens begibt (und bevor dies zu geschehen beginnt), wird es<br />

kumbhaka (die Einbehaltung wie bei einem gefüllten Topf) genannt. Man<br />

sagt, es gäbe drei Punkte für recaka, kumbhaka und pÆraka, nämlich 1) außerhalb<br />

(der Nase), 2) unterhalb des Ortes, den man dvādaśānta nennt<br />

(oberhalb oder vor der Stirn in einem Bereich, der zwölf Finger breit ist), 3)<br />

die Quelle des prāïa (Herzlotos).<br />

(Hinweis: Dvādaśānta bezeichnet eine Art magnetisches Feld um den Körper<br />

herum von zwölf Fingerbreiten. Dieses magnetische Feld besteht ebenfalls<br />

aus prāïa-apāna).<br />

Bitte lausche stets auf die natürliche und mühelose Bewegung der Lebenskraft.<br />

Die Bewegung der vitalen Winde zwölf Finger breit vom Körper entfernt<br />

stellt recaka dar. Der Zustand, in dem die apāna-Kraft im dvādaśānta<br />

verbleibt wie der unfertige Topf im Töpferlehm, wird als externes kumbhaka<br />

bezeichnet.<br />

Wenn die nach außen strömenden Winde sich bis zur Nasenspitze bewegt<br />

haben, wird dies als recaka bezeichnet. Bewegen sie sich dagegen in der<br />

Breite von dvādaśānta, dann nennt man sie externes recaka. Hat die äußere<br />

Bewegung von prāïa von selbst aufgehört und ist apāna noch nicht aufgestiegen,<br />

dann nennt man dieses externes recaka. Wenn dann jedoch apāna nach<br />

innen strömt, ohne dass innerhalb prāïa aufsteigt, dann nennt man dies<br />

internes kumbhaka. Sobald apāna in dvādaśānta aufsteigt und eine äußere<br />

Erweiterung erfährt, wird es als externes pÆraka bezeichnet. Wer diese<br />

kumbhakas kennt, wird nicht wieder geboren.<br />

Ob man geht, steht, wacht oder schläft – durch die genannten Praktiken<br />

werden diese vitalen Winde, die von Natur aus ruhelos sind, gezügelt. Dann<br />

ist derjenige, der diese kumbhakas kennt, nicht mehr der Täter seiner Hand-<br />

VI.1:25<br />

381


lungen, ob er nun etwas tut oder isst. Er erlangt in nur wenigen Tagen den<br />

höchsten Zustand. Wer diese kumbhakas praktiziert, wird nicht mehr von<br />

externen Objekten angezogen. Diejenigen, die mit dieser Sichtweise ausgestattet<br />

sind – seien sie nun bewegt oder unbewegt (aktiv oder inaktiv) – befinden<br />

sich nicht länger in Bindung. Sie haben erlangt, was als einziges wert<br />

ist zu erlangen.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Wenn durch die Hingabe an die Praxis von prāïa und apāna die Unreinheiten<br />

des eigenen Herzens und Gemüts vernichtet sind, dann ist man frei von<br />

der Täuschung, erlangt inneres Erwachen und ruht im eigenen Selbst auch<br />

dann, wenn man äußerlich den Tätigkeiten nachgeht, so wie sie auf einen<br />

zukommen.<br />

Hoher Herr, prāïa entsteht im Lotos des Herzens und endet in einer Distanz<br />

von zwölf Fingerbreiten außerhalb des Körpers. Apāna taucht im dvādaśānta<br />

(zwölf Fingerbreiten außerhalb des Körpers) auf und endet im Herzenslotos.<br />

Apāna entsteht, wo prāïa endet. Prāïa ist wie die Flamme – es steigt auf und<br />

hinaus. Apāna ist wie Wasser und fließt hinab in Richtung des Herzlotos.<br />

Apāna ist der Mond, der den Körper von außen beschützt. Prāïa ist wie die<br />

Sonne oder das Feuer und fördert die innere Wohlfahrt des Körpers. Prāïa<br />

erzeugt in jedem Moment das Feuer im Herzensraum und nach der Erzeugung<br />

dieser Hitze die Hitze vor dem Gesicht. Apāna, das der Mond ist, nährt<br />

erst den Raum vor dem Gesicht und dann den Raum im Herzen.<br />

Wenn jemand fähig ist, den Punkt zu erreichen, wo apāna sich mit prāïa<br />

vereinigt, dann gibt es für ihn kein Leid mehr und keine Wiedergeburt.<br />

Tatsächlich ist es nur prāïa, das eine Modifikation erfährt und als apāna<br />

auftritt, nachdem es seine sengende Hitze aufgegeben hat. Und dann gewinnt<br />

dasselbe prāïa, nachdem es die Kühle des Mondes abgelegt hat, seine Natur<br />

als das reinigende Feuer der Sonne. Der Weise ergründet die Natur von prāïa<br />

so lange, wie dieses nicht seine solare Natur aufgegeben hat, um die lunare<br />

anzunehmen. Wer die Wahrheit bezüglich des Auf- und Untergangs von Sonne<br />

und Mond in seinem eigenen Herzen kennt, wird nicht wiedergeboren.<br />

Wer den höchsten Herrn, die Sonne, im eigenen Herzen sieht, sieht die Wahrheit.<br />

Um Vollkommenheit zu erlangen, muss man nicht die äußere Dunkelheit<br />

am Kommen und Gehen hindern, sondern man muss die Dunkelheit der Unwissenheit<br />

im Herzen zerstören. Wenn die externe Dunkelheit vergangen ist,<br />

taucht die Welt auf, aber wenn die Dunkelheit der Unwissenheit im Herzen<br />

vertrieben ist, taucht die Selbsterkenntnis auf. Daher sollte man danach streben,<br />

prāïa und apāna zu beobachten, weil das Erkennen von diesen beiden<br />

die Befreiung gewährt.<br />

Apāna endet im Herzen dort, wo prāïa entsteht. Wo prāïa geboren wird,<br />

dort stirbt apāna, und wo apāna geboren wird, dort hört prāïa auf. Wenn<br />

382


prāïa sich nicht mehr bewegt und apāna aufzusteigen beginnt, dann erfährt<br />

man externes kumbhaka. Einer, der hierin gefestigt ist, erfährt kein Leid mehr.<br />

Hat apāna aufgehört, sich zu bewegen, um prāïa aufsteigen zu lassen, dann<br />

erfährt man inneres kumbhaka. Wer darin gefestigt ist, erfährt ebenfalls kein<br />

Leid mehr.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Wer kumbhaka (Zurückhaltung des Atems) praktiziert, nachdem er das<br />

prāïa auf eine Entfernung von mehr als zwölf Fingerbreiten vom Körper<br />

entfernt, also am Entstehungspunkt von apāna, ausgeatmet hat, ist nicht<br />

länger dem Kummer unterworfen. Oder wenn man in sich selbst sehen kann,<br />

wo sich das Einatmen in den Impuls zum Ausatmen verwandelt –dann wird<br />

man nicht wiedergeboren. Wer zu sehen vermag, wo apāna und prāïa ihre<br />

Bewegungen beenden und stetig in diesem Zustand des Friedens verbleibt, ist<br />

ebenfalls nicht länger dem Kummer unterworfen.<br />

Wer kühn und entschlossen den exakten Moment und den Punkt beobachtet,<br />

an dem das prāïa vom apāna verzehrt wird, wird nie wieder trauern.<br />

Oder wer kühn und entschlossen den exakten Moment und den Punkt beobachtet,<br />

an dem das apāna vom prāïa verzehrt wird, dessen Gemüt wird<br />

nicht wieder aufsteigen. Nimm daher diesen Punkt und diesen Moment wahr,<br />

an dem prāïa von apāna und apāna vonprāïa außerhalb und innerhalb des<br />

Körpers verzehrt wird,. Denn in dem genauen Moment, in dem das prāïa<br />

aufhört, sich zu bewegen und apāna mit der Bewegung noch nicht begonnen<br />

hat, dort taucht ein kumbhaka auf, das mühelos ist. Die Weisen erachten dies<br />

als einen sehr bedeutsamen Zustand. Sobald es die mühelose Zurückhaltung<br />

des Atems gibt, ist der höchste Zustand erreicht. Dies ist das Selbst, dies ist<br />

reines, unendliches Bewusstsein. Wer dies erlangt, gerät nicht mehr ins<br />

Elend.<br />

Ich kontempliere dieses unendliche Bewusstsein, welches die innewohnende<br />

Präsenz im prāïa ist, jedoch weder prāïa noch etwas anderes ist. Ich<br />

kontempliere dieses unendliche Bewusstsein, welches die innewohnende<br />

Präsenz im apāna ist, aber weder apāna noch etwas anderes als apāna ist. Das<br />

was IST, nachdem prāïa und apāna zu sein aufgehört haben, und welches sich<br />

in der Mitte zwischen prāïa und apāna befindet –dieses unendliche Bewusstsein<br />

kontempliere ich. Ich kontempliere dieses unendliche Bewusstsein,<br />

welches das prāïa des prāïa ist, welches das Leben des Lebens ist, welches<br />

allein verantwortlich für die Erhaltung des Körpers ist, welches das Gemüt<br />

des Gemüts ist, welches die Intelligenz im Intellekt ist und die Realität im Ich-<br />

Sinn. Ich verneige mich vor diesem Bewusstsein, in dem alle Dinge sind, aus<br />

dem sie kommen, welches alles und überall ist, und welches alles in allem<br />

und ewiglich ist, welches das Reinerhaltende von allem und dessen Vision der<br />

größte Gewinn ist. Ich verneige mich vor diesem Bewusstsein, in welchem<br />

prāïa aufhört, sich zu bewegen und apāna nicht aufsteigt, und welches vor<br />

(oder an der Wurzel) der Nase weilt. Ich verneige mich vor diesem Bewusst-<br />

383


VI.1:26<br />

sein, welches die Quelle von prāïa und apāna ist, welches die Energie in<br />

prāïa und apāna ist und die Sinnestätigkeit ermöglicht. Ich verneige mich vor<br />

diesem Bewusstsein, welches in der Tat die Essenz der internen und externen<br />

kumbhakas und das einzige Ziel der Kontemplation von prāïa ist, die Tätigkeit<br />

von prāïa bewirkt und die Ursache sämtlicher Ursachen ist. Ich nehme<br />

meine Zuflucht in diesem Höchsten Wesen.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Durch die regelmäßige und systematische Praxis des prāïāyāma wie ich es<br />

beschrieben habe, habe ich den Zustand der Reinheit erlangt und werde auch<br />

nicht vom Beben des Berges Meru (oder des Nordpoles) beunruhigt. Dieser<br />

Zustand des samādhi oder des vollkommenen Gleichmuts geht nie verloren,<br />

ob ich nun gehe oder stehe, wache, schlafe oder träume. Mit meiner Schau,<br />

die sich dem Selbst zuwendet, ruhe ich im Selbst und bin im Selbst in allen<br />

Lebensumständen, was auch immer in der Welt oder in der Umgebung stattfinden<br />

mag. So habe ich seit der Zeit der letzten kosmischen Auflösung gelebt.<br />

Ich kontempliere weder die Vergangenheit noch die Zukunft – mein Gewahrsein<br />

richtet sich direkt und stetig nur auf die Gegenwart. Ich tue, was ich<br />

in der Gegenwart zu tun habe, ohne dabei an Ergebnisse zu denken. Ohne<br />

mich um Dinge wie Sein oder Nicht-Sein, wünschenswert oder nicht wünschenswert<br />

zu kümmern, verbleibe ich im Selbst. Daher bin ich immer glücklich,<br />

gesund und frei von der Verwirrtheit.<br />

Mein Zustand ist die Frucht der Kontemplation des Moments der Vereinigung<br />

von prāïa und apāna (nämlich wenn das Selbst enthüllt wird). Ich unterhalte<br />

keine müßigen Ideen wie „Ich habe dies oder jenes erreicht und<br />

sollte auch noch dieses erreichen“ usw. Ich preise oder tadle niemanden<br />

(weder mich selbst noch andere) oder irgendetwas zu irgendeinem Zeitpunkt.<br />

Mein Gemüt frohlockt weder, wenn es Begehrenswertes erlangt, noch<br />

ist es betrübt, wenn es Übles erfährt – mein Zustand ist daher jederzeit glücklich<br />

und gesund. Ich huldige der höchsten Entsagung und habe sogar dem<br />

Wunsch zu leben entsagt. Aufgrund dessen unterhält mein Gemüt keinerlei<br />

Verlangen und ist friedvoll und ausgeglichen. Ich erkenne das eine gemeinsame<br />

Sein in allen Dingen (in einem Stück Holz, in einer schönen Frau, in<br />

einem Berg, einem Grashalm und in Feuer und Raum) und bin nicht beunruhigt<br />

von Gedanken wie „Was soll ich nun tun?“ oder „Was wird morgen sein?“<br />

Ich kümmere mich weder um Gedanken an Alter oder Tod oder an das Verlangen<br />

nach Glück, noch betrachte ich etwas als „mein“ oder „nicht mein“. Ich<br />

weiß, dass alles zu jeder Zeit und überall immer nur das eine kosmische<br />

Bewusstsein ist. Darin bestehen die Geheimnisse meines Zustandes von<br />

Glücklichsein und Gesundheit. Ich denke nicht an Dinge wie „Ich bin der<br />

Körper“, auch dann nicht, wenn ich mit physischer Tätigkeit befasst bin, denn<br />

ich weiß, dass diese Welterscheinung illusorisch ist. Ich lebe in ihr wie im<br />

Tiefschlafzustand. Weder fühle ich mich vom Erfolg noch von den Widrigkeiten,<br />

wie sie mir gerade entgegenkommen, berührt, da ich sie mit gleicher<br />

Sichtweise betrachte (so wie ich meine beiden Arme als Arme anschaue). Was<br />

384


immer ich tue, ist unbefleckt von Wünschen oder vom Schlamm des Ich-<br />

Sinns. Daher verliere ich nicht den Kopf, wenn ich mächtig bin und gehe nicht<br />

betteln, wenn ich arm bin. Ich erlaube nicht, dass Hoffnungen oder Erwartungen<br />

mich antasten, und ich betrachte jedes Ding, auch wenn es alt und schäbig<br />

ist, mit frischem Blick so, als wäre es gänzlich neu und unverbraucht. Ich<br />

freue mich mit den Fröhlichen und trauere mit den Bekümmerten, denn ich<br />

bin der Freund von allen. Ich weiß, dass ich niemandem gehöre und niemand<br />

zu mir gehört. Ich weiß, dass ich selbst die ganze Welt, alle Tätigkeiten darin<br />

und die ihr innewohnende Intelligenz bin. Darin besteht das Geheimnis meiner<br />

Langlebigkeit.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Daraufhin sprach ich zu BhuÓuï¬a: „Deine Lebensbeschreibung ist in der<br />

Tat wunderbar, oh Hoher Herr. Gesegnet sind alle, die dich zu sehen vermögen.<br />

Du bist selbst wie ein zweiter Schöpfer. Personen wie du sind sehr selten.<br />

In deiner Gegenwart habe ich wahrhaftig großes Verdienst angesammelt.<br />

Mögest du auf immer gesegnet sein! Gib mir nun bitte die Erlaubnis zu gehen.“<br />

Oh Rāma, nachdem BhuÓuï¬a dies gehört hatte, verehrte er mich und begleitete<br />

mich trotz meiner Einwände ein Stück des Weges, wobei er zum<br />

Zeichen der Freundschaft meine Hand fest in der seinen hielt. Schließlich<br />

trennten wir uns, und die Trennung von Freunden ist immer ein schweres<br />

Ereignis. All dies geschah im vorherigen Zeitalter (Krta), während wir nun im<br />

Tretā-Zeitalter weilen.<br />

Dies war die Geschichte von BhuÓuï¬a, oh Rāma – praktiziere auch du den<br />

von BhuÓuï¬a beschriebenen prāïāyāma und strebe danach, so wie er zu<br />

leben.<br />

RùMA fragte: Hoher Herr, das von dir ausgehende Licht hat die dichte Finsternis<br />

um uns alle vertrieben. Wir sind nun spirituell erwacht, hocherfreut<br />

durch deine Worte und ruhen in unserem eigenen Selbst; wir sind sozusagen<br />

zu deinem Abbild geworden, indem wir erkannt haben, was als einziges es zu<br />

erkennen gibt.<br />

In der inspirierenden Geschichte von BhuÓuï¬a, die du uns erzählt hast,<br />

hast du einen Körper mit drei Säulen und neun Toren usw. erwähnt. Bitte<br />

teile mir mit, wie dieser entstanden ist, wie er fortbesteht und wer darin<br />

wohnt?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Oh Rāma, dieses als der Körper bekannte Haus wurde tatsächlich von niemandem<br />

erbaut! Er ist nichts als eine Erscheinung wie die zwei Monde, die<br />

von fehlsichtigen Personen gesehen werden. Der Mond ist nur einer – die<br />

Zweiheit ist eine optische Täuschung. Der Körper wird nur dann als existent<br />

erfahren, wenn die Idee eines physischen Körpers im Gemüt vorherrscht; er<br />

ist unwirklich. Da er jedoch zu existieren scheint, sobald die Vorstellung von<br />

ihm auftaucht, wird er als real und irreal angesehen. Träume sind während<br />

VI.1:27,<br />

28<br />

385


des Traumzustandes real und zu anderen Zeiten irreal; Wellen im Ozean sind<br />

real, sobald sie als existierend wahrgenommen werden und zu anderen Zeiten<br />

inexistent. Ebenso ist der Körper real, sobald er als eine reale Gegebenheit<br />

erfahren wird. Er ist nichts als eine illusorische Erscheinung, die als real<br />

erfahren wird.<br />

Die Idee von „ich bin dieser Körper“ taucht in Bezug zu dem auf, was in<br />

Wirklichkeit nur ein Stück Fleisch und Knochen usw. ist und nur aufgrund<br />

einer mentalen Disposition erscheint. Sie ist eine Illusion – gib sie auf. Es gibt<br />

tausende von weiteren Körpern, die nur durch deine Gedankenkraft ins Leben<br />

gerufen worden sind. Wenn du schläfst und träumst, erfährst du in diesem<br />

Zustand einen Körper. Wo entsteht er oder wo existiert er? In Tagträumen<br />

fantasierst du, im Himmel zu sein usw. – wo ist dieser Körper? Sobald all<br />

dies aufgehört hat, befasst du dich mit verschiedenen Tätigkeiten und spielst<br />

die unterschiedlichsten Rollen – wo befindet sich dann der Körper, mit dem<br />

du alle diese Dinge tust? Wenn du dich selbstvergessen und hingegeben mit<br />

deinen Freunden vergnügst und dich ihrer Gesellschaft erfreust – wo befindet<br />

sich dann dieser Körper? Daher, oh Rāma, sind die Körper nur die Produkte<br />

des Gemüts – sie werden daher als gleichzeitig real und irreal betrachtet. Ihr<br />

Verhalten wird vom Gemüt festgelegt; sie sind nicht verschieden vom Gemüt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

„Dies ist Wohlstand“, „dies ist der Körper“ und „dies ist eine Nation“ – all<br />

dieses sind nur Ideen, oh Rāma, und die Manifestationen der Energie des<br />

Gemüts – sie sind tatsächlich illusorisch. Erkenne, dass es sich hierbei um<br />

einen langdauernden Traum, eine ununterbrochene Halluzination, reines<br />

Tagträumen oder Wunschdenken handelt. Sobald du durch die Gnade Gottes<br />

oder des Selbst das innere Erwachen erfahren hast, wirst du all dies ganz klar<br />

sehen. Die Existenz einer von dir oder dem Gemüt unabhängigen Welt ist<br />

nichts als ein Taschenspielertrick des Gemüts; es ist nur das Sehen einer<br />

Vorstellung als ob es eine Substanz sei.<br />

Ich habe erwähnt, dass ich aus dem Gemüt des Schöpfers geboren worden<br />

bin – auf dieselbe Weise entsteht die Welt aus dem Gemüt in der Form einer<br />

Idee. Tatsächlich ist sogar der Schöpfer nichts anderes als eine Idee im kosmischen<br />

Verstand. Ebenso ist auch die Welterscheinung nur eine solche Idee<br />

des Gemüts. Diese Ideen erlangen ihre Kraft im Gemüt durch wiederholtes<br />

Auftreten im Gewand scheinbarer Wahrheit. So treten sie wieder und wieder<br />

auf und erzeugen die Illusion der Welterscheinung.<br />

Wenn ein Mensch entschlossen nach der Quelle dieser Ideen sucht, erkennt<br />

er das Bewusstsein. Andernfalls erfährt er wieder und wieder diese illusorische<br />

Welterscheinung. Durch die kontinuierliche Unterhaltung von Ideen wie<br />

„dies ist das“, „dies ist mein“ und „dies ist meine Welt“ usw. erlangen diese die<br />

Festigkeit einer realen Substanz. Auch die scheinbare Dauerhaftigkeit der<br />

Welt ist nur eine Illusion, denn im Traumzustand wird ein sehr kurzer Moment<br />

vom Träumer als ein ganzes Leben erfahren. In einer Luftspiegelung<br />

wird nur das eingebildete „Wasser“ wahrgenommen, nicht aber die Grundla-<br />

386


ge der Täuschung. Auf dieselbe Weise sieht man im Zustand der Unwissenheit<br />

nur diese illusorische Welterscheinung, jedoch nicht deren Grundlage. Hat<br />

man jedoch diese Unwissenheit abgelegt, dann schwindet die illusorische<br />

Wahrnehmung. So wie ein ängstlicher Mensch sich nicht vor einem eingebildeten<br />

Tiger fürchtet, so fürchtet sich der Weise, der diese Welt nur als eine<br />

Idee oder Einbildung erkennt, vor nichts und niemandem. Wenn man weiß,<br />

dass die Welt nur die Erscheinung des eigenen Selbst ist – vor was sollte man<br />

sich dann fürchten? Sobald die eigene Sichtweise durch Ergründung gereinigt<br />

ist, schwindet das eigene getäuschte Verständnis dieser Welt.<br />

Durch klare Wahrnehmung und klares Verständnis wird die eigene Natur<br />

gereinigt und fortan nicht wieder unrein. Worin besteht dieses rechte Verständnis?<br />

Es besteht in der Erkenntnis, dass diese Welt nichts als eine Widerspiegelung<br />

(und daher eine Erscheinung) des reinen Bewusstseins ist und<br />

somit weder real noch irreal. Geburt, Tod, Himmel, Erkenntnis und Unwissenheit<br />

sind alles Widerspiegelungen von Bewusstsein. Ich, du, die zehn<br />

Himmelsrichtungen und all dies sind Bewusstsein – darin besteht das rechte<br />

Verständnis. Sobald es das rechte Verständnis gibt, taucht das Gemüt nicht<br />

länger auf und unter, sondern es erlangt den höchsten Frieden. Es ergeht sich<br />

nicht länger in Lob und Tadel, in Frohlocken und Niedergeschlagenheit, sondern<br />

bleibt stets kühl und ruht in der Wahrheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn man erkannt hat, dass der Tod für alle unvermeidlich ist, warum sollte<br />

man dann über den Tod von Verwandten oder das Nahen des eigenen Endes<br />

trauern? Wenn man erkennt, dass jedermann einmal in guten und dann<br />

wieder in schlechten Umständen ist – weshalb sollte man jubeln oder verdrossen<br />

sein? Wenn man erkennt, dass die lebendigen Wesen wie Wellen auf<br />

dem Ozean erscheinen und vergehen – wo ist dann noch Raum für Klage?<br />

Was wahr ist, ist auf immer wahr (was existiert, existiert auf immer), und was<br />

irreal ist, ist auf immer irreal – wo ist da die Ursache für Kummer?<br />

Das „Ich“ ist nicht, war nicht, und wird auch niemals sein. Der Körper ist<br />

aufgrund einer mysteriösen Täuschung entstanden und hat nur den Anschein<br />

von Existenz. Worin sollte die Ursache des Kummers bestehen? Sobald das<br />

rechte Verständnis der Wahrheit da ist, nämlich dass sogar wenn der Körper<br />

real wäre, das „Ich“ etwas anderes und nur eine Widerspiegelung des unendlichen<br />

Bewusstseins ist, gibt es keinen Kummer mehr.<br />

Daher sollte man seine Zuversicht, seine Hoffnungen und seine Bestrebungen<br />

nicht auf etwas heften, was irreal ist, denn solche Erwartungen sind eine<br />

Fessel. Oh Rāma, lebe in dieser Welt, ohne irgendwelche Hoffnungen zu hegen.<br />

Was getan werden muss, muss getan werden, und was unangemessen ist,<br />

soll aufgegeben werden. Lebe glücklich und spielerisch in dieser Welt ohne<br />

das Wünschenswerte und das Unerwünschte zu erwägen.<br />

Das unendliche Bewusstsein allein existiert überall und immer. Was zu sein<br />

scheint, ist nur eine Erscheinung. Sobald diese Erscheinung als solche erkannt<br />

worden ist, wird das, was IST, realisiert. Realisiere entweder: „Ich bin<br />

387


VI.1:29<br />

nicht, und diese Erfahrungen gehören nicht zu mir“, oder wisse: „Ich bin alles“.<br />

Dann wirst du frei von der trügerischen Verführung der Welterscheinung<br />

sein. Beide Haltungen sind gleichermaßen gut – nimm diejenige an, die dir<br />

zusagt. Du wirst sodann frei von Anziehung und Abstoßung sein (rāga-dve«a).<br />

Alles was in der Welt ist, am Firmament oder in den Himmeln, wird nur von<br />

dem erreicht, der die Zwillingsmächte von Anziehung und Abstoßung überwunden<br />

hat. Was auch immer der irregeführte Mensch unternehmen mag,<br />

der sich von diesen Kräften getrieben fühlt, führt ihn unverzüglich auf das<br />

Feld der Sorgen. Wer diese Mächte nicht überwunden hat, obwohl er in den<br />

Schriften bewandert ist, ist in der Tat gleichzeitig bedauernswert und verachtenswert.<br />

Seine Gespräche bestehen aus Sätzen wie „ich wurde von jemandem<br />

betrogen“ oder „ich habe Wohlstand und Vergnügen hinter mir gelassen“.<br />

Wohlstand, Verwandte und Freunde kommen und gehen – weder sucht sie<br />

der Weise, noch gibt er sie auf. Was einen Anfang und ein Ende hat, ist der<br />

Aufmerksamkeit des Weisen nicht wert. In dieser Welt erzeugt jemand etwas<br />

(wie etwa eine Tochter), und ein anderer (wie etwa der Bräutigam) erfreut<br />

sich ihrer – wer wird durch so etwas getäuscht?<br />

Oh Rāma, für dein spirituelles Erwachen erkläre ich dir wieder und wieder,<br />

dass diese Welterscheinung wie ein lang andauernder Traum ist. Wach auf –<br />

wach auf! Gewahre das Selbst, welches wie die Sonne leuchtet. In der Tat bist<br />

du bereits durch all diese nektargleichen Worte erleuchtet – du hast mit Geburt<br />

und Tod, Sorge, Sünde und Illusion nichts mehr zu tun. Gib alle diese<br />

Ideen auf und ruhe im Selbst.<br />

VASIåèHA, der plötzlich verstummte, weil er gewahrte, dass Rāma vollständig<br />

im Selbst absorbiert war, nahm seinen Diskurs nach einer Pause und<br />

nach der Rückkehr Rāmas in sein normales Bewusstsein wieder auf:<br />

Oh Rāma, du bist gänzlich erwacht und hast Selbsterkenntnis erlangt. Verbleibe<br />

für immer in diesem erhabenen Zustand und lass dich nicht mehr in<br />

diese Welterscheinung hineinziehen. Dieses Rad der Welterscheinung (das<br />

Rad von Geburt und Tod) besitzt als seine Nabe Gedanken und Ideen. Sobald<br />

diese zum Stillstand gekommen sind, steht auch diese Welterscheinung still<br />

und hört auf. Falls jemand mit Willenskraft dieses Rad zum Stillstand bringt,<br />

dann dreht es sich so lange weiter, wie die durch Gedanken hervorgerufenen<br />

Verwirrtheiten nicht aufhören. Man sollte daher diese Nabe (die Gedanken<br />

und Ideen) abbremsen, indem man zuvor Zuflucht zur höchsten Form der<br />

Eigenbemühung nimmt, zur inneren Stärke, zur Weisheit und zum gesunden<br />

Menschenverstand. Was mit Hilfe dieser gebündelten Bemühung nicht erreicht<br />

wird, wird auch durch keine andere Bemühung erreicht. Daher sollte<br />

jeglicher Hilferuf nach göttlicher Intervention, welche nur die Einbildung<br />

eines kindlichen Gemütes ist, abgelehnt und mit der Kraft intensiver Eigenbemühung<br />

die Herrschaft über das Gemüt erlangt werden.<br />

Diese Welterscheinung fing mit der Gedankenkraft des Schöpfers an. Sie ist<br />

jedoch falsch. In ihr wandern diese Körper, geboren aus den natürlichen<br />

Eigenschaften der verschiedenen Elemente, umher. Folglich sollte man nie-<br />

388


mals mehr die Idee unterhalten, dass diese Körper existieren und dass Vergnügen<br />

und Schmerz faktische Wirklichkeiten seien.<br />

Der unwissende Mensch, der zu leiden glaubt und dessen Gesicht ständig<br />

von Tränen übergossen ist, ist schlimmer daran als ein Bildnis oder eine<br />

Statue, denn die letzteren erleiden keinen Kummer! Die Statue ist außerdem<br />

nicht der Krankheit und dem Tode unterworfen. Sie wird nur dann zerstört,<br />

wenn jemand sie willentlich zerstört, während der menschliche Körper zum<br />

Sterben verdammt ist. Wird die Statue sorgsam behandelt und beschützt,<br />

kann sie eine sehr lange Zeit in guter Verfassung bestehen. Der menschliche<br />

Leib jedoch, auch wenn er stets gut erhalten und beschützt wird, zerfällt von<br />

Tag zu Tag und verliert seine gute Verfassung. Daher ist die Statue besser als<br />

der aus Gedanken und Ideen geschaffene Körper. Wer setzt denn auf diesen<br />

menschlichen Körper alle seine Hoffnungen?<br />

Der Wachkörper ist sogar noch schlechter als der geträumte Körper. Der<br />

geträumte Körper wird durch eine kurzlebige Idee (den Traum) erzeugt und<br />

ist folglich nicht der dauernden Sorge unterworfen. Der Wachkörper jedoch<br />

ist das Ergebnis langlebiger Ideen und Konzepte und wird also für eine sehr<br />

lange Zeit von den Sorgen terrorisiert. Ob man den Körper nun für real oder<br />

irreal hält – gewiss ist, dass er das Produkt von Gedanken und Ideen ist. Daher<br />

braucht man diesbezüglich keinerlei Kummer zu haben.<br />

Bei einer zerbrochenen Statue ist kein Leben verloren, und so geht auch<br />

beim aus Gedanken und Ideen geborenen Körper bei dessen Tod nichts verloren.<br />

Es ist wie beim Verlust des zweiten Mondes, den der von der Fehlsichtigkeit<br />

Geheilte zuvor zu sehen glaubte. Das Selbst, welches unendliches Bewusstsein<br />

ist, stirbt nicht, noch wird es irgendeinem Wandel unterzogen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, für jemanden, der in einem Karussell sitzt, dreht sich die Welt in<br />

der entgegengesetzten Richtung, und genau so denkt der Mann, der auf dem<br />

Rad der Unwissenheit umherwirbelt, dass der Körper und die Welt sich drehen.<br />

Der spirituelle Held jedoch sollte all dies zurückweisen – dieser Körper<br />

ist nichts als das Produkt der Gedanken und Konzepte eines unwissenden<br />

Gemüts. Die Erzeugung der Unwissenheit geschieht fälschlicherweise. Auch<br />

wenn der Körper aktiv und alle möglichen Tätigkeiten auszuführen scheint,<br />

ist er doch unwirklich wie die Schlange, die man sich in einem Seil liegend<br />

einbildet, und die immer das Produkt der Fantasie bleibt. Was von einem<br />

leblosen Objekt getan wird, wird nicht von diesem getan. Obwohl der Körper<br />

den Anschein der Tätigkeit erweckt, tut er tatsächlich nichts.<br />

Der leblose Körper unterhält keinerlei Wunsch danach, Handlungen auszuführen,<br />

während das Selbst (welches unendliches Bewusstsein ist), ebenfalls<br />

keine solchen Wünsche hat. Folglich gibt es in Wahrheit keinen Täter aller<br />

Handlungen, sondern es gibt nur die beobachtende Intelligenz. So wie eine<br />

Lampe an einem windstillen Ort spontan und auf selbstverständliche Weise<br />

scheint, so sollte man unter allen Lebensumständen stets als das Selbst verbleiben.<br />

So wie die Sonne in sich selbst ruht und ihrer eigenen, essenziellen<br />

389


Natur gemäß beständig mit den Angelegenheiten von Tag und Nacht befasst<br />

ist, so sollst auch du in deinem eigenen Selbst ruhen und dich mit den Angelegenheiten<br />

des Staates befassen.<br />

Sobald die getäuschte Wahrnehmung, dass dieser falsche Körper eine Realität<br />

ist, auftaucht wie ein Gespenst, das von einem kleinen Jungen<br />

herbeifantasiert wird, entsteht gleichzeitig der Kobold namens Ich-Sinn oder<br />

Gemüt. Dieses falsche Gemüt oder Ich-Sinn beginnt dann so laut zu brüllen,<br />

dass sogar tapfere Männer, erschreckt von diesem Gebrüll, sich unverzüglich<br />

in tiefe Meditation zurückziehen. Derjenige, der dieses Gespenst im Körper<br />

namens Gemüt (oder Ich-Sinn) niederwirft, wohnt ohne jede Furcht in der<br />

Leere, die den Namen „Welt“ hat.<br />

Es ist seltsam, dass immer noch Menschen leben, die den vom illusorischen<br />

Gespenst namens Gemüt erschaffenen Körper für ihr eigenes Selbst halten.<br />

Diejenigen, die sterben, während sie sich immer noch im Griff dieses Gespenstes<br />

namens Gemüt befinden, bestehen nur aus Unwissenheit! Derjenige,<br />

der freiwillig in diesem Hause lebt und sich von ihm beschützt glaubt, welches<br />

von dem Gespenst namens Gemüt bewohnt wird, ist selbst ein Kobold<br />

und in die Irre geführt, denn dieses Haus (der Körper) ist unbeständig und<br />

vergänglich. Daher, oh Rāma, gib die Unterwürfigkeit dem Geist namens Ich-<br />

Sinn gegenüber auf und ruhe im Selbst, ohne einen zweiten Gedanken an den<br />

Ich-Sinn zu verschwenden.<br />

Wer sich unter dem bösen Einfluss des Gespenstes namens Ich-Sinn befindet,<br />

ist irregeführt und ohne Freund und ohne Verwandte. Eine Tat, die mit<br />

einem vom Ich-Sinn durchtränkten Geist begangen wird, ist vergiftet und<br />

führt keine andere Frucht als diejenige des Todes herbei. Der Tor, der ohne<br />

Weisheit und Mut lebt und sich mit dem Ich-Sinn verheiratet hat, ist bereits<br />

tot. Er ist wie das bereitliegende Feuerholz, welches in das Feuer mit dem<br />

Namen „Hölle“ geworfen wird.<br />

Lass dieses Gespenst namens Ich-Sinn im Körper bleiben oder ihn verlassen.<br />

Erlaube deinem Gemüt nicht einmal einen Blick darauf, oh Rāma!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Sobald der Ich-Sinn, seiner Tarnungen beraubt, beiseitegelegt und von einer<br />

erwachten Intelligenz aufgegeben worden ist, kann er dir nicht länger<br />

schaden. Das Selbst ist unendliches Bewusstsein. Auch wenn der Ich-Sinn im<br />

Körper wohnt– wie kann das Selbst von ihm betroffen sein?<br />

Oh Rāma – es ist unmöglich, all die Nöte zu beschreiben, die jemanden besuchen,<br />

der unter dem Einfluss des Gemütes steht. Alle das endlose Klagen<br />

und Weinen „oh weh! ich bin tot“ oder „Hilfe, ich verbrenne!“, die man in der<br />

Welt vernimmt, ist nichts anderes als das Spiel des Ich-Sinns. Wie der allesdurchdringende<br />

Raum von nichts beschmutzt wird, so wird auch das allgegenwärtige<br />

Selbst nicht vom Ich-Sinn berührt.<br />

Was ein Mensch mit dem Körper tut, wird in Wahrheit vom Ich-Sinn mit Hilfe<br />

der Zügel von Einatmung und Ausatmung getan. Indirekt wird das Selbst<br />

390


als die Ursache von all diesem betrachtet, so wie der unendliche Raum insofern<br />

verantwortlich für das Wachstum der Pflanzen gemacht werden kann,<br />

als er die Pflanzen nicht daran hindert, in den Raum hineinzuwachsen. So wie<br />

man eine Lampe als Ursache für die Sicht auf ein Objekt sieht, so wird das<br />

Selbst als verantwortlich für die Tätigkeiten von Körper, Gemüt usw., die im<br />

Lichte des Selbst stattfinden, betrachtet. Es geschieht nur aufgrund der Energie<br />

des Selbst (prāïa), die beständig vibriert und überall Erregtheit schafft,<br />

dass das Gemüt mit dem Selbst verwechselt wird.<br />

Du bist das Selbst, oh Rāma, nicht das Gemüt. Was hast du mit dem Gemüt<br />

zu tun? Gib diese Täuschung auf. Der Gemüts-Kobold, der im Körper wohnt,<br />

hat nichts mit dem Selbst zu tun, gibt aber still und leise vor: „Ich bin das<br />

Selbst“. Dies wird zur Ursache von Geburt und Tod. Diese Unterstellung beraubt<br />

dich deines Mutes und deiner Tatkraft. Gib dieses Gespenst auf, oh<br />

Rāma, und bleibe fest. Weder die Schriften noch die Verwandten und nicht<br />

einmal die Gurus oder Lehrer können einen Menschen beschützen, der gänzlich<br />

von dem Gespenst namens Gemüt beherrscht wird. Hat dagegen jemand<br />

dieses Gespenst besiegt, dann können der Guru, die Schriften und die Verwandten<br />

einem solchen Menschen leicht und einfach helfen, so wie man ein<br />

Tier aus dem Schlamm ziehen kann. Diejenigen, die dieses Gespenst bezwungen<br />

haben, sind die guten Menschen, die dieser Welt einen Dienst erweisen.<br />

Man sollte daher sich selbst aus der Unwissenheit erheben, indem man das<br />

Gespenst namens Ich-Sinn bezwingt. Oh Rāma –wandere nicht länger in<br />

diesem Dschungel der weltlichen Existenz umher wie ein Tier in einem<br />

menschlichen Körper. Schwelge nicht im Schlamm der so genannten Familienbeziehungen<br />

wegen diesem vergänglichen Körper. Der Körper wurde von<br />

jemandem geboren, er wird vom Ich-Sinn beschützt, und Freude und Sorgen<br />

werden in ihm wiederum von jemand anderem erfahren – all dies ist in der<br />

Tat ein großes Mysterium.<br />

So wie die essenzielle Natur eines Topfes und die eines Stücks Stoff nicht<br />

unterschiedlich ist, so ist die essenzielle Natur des Gemüts und des unendlichen<br />

Bewusstseins nicht unterschiedlich. In dieser Hinsicht werde ich dir nun<br />

die Unterweisung berichten, die mir einst von Lord Śiva erteilt wurde. Die in<br />

dieser Unterweisung enthüllte Schau wird auch noch die stärkste Täuschung<br />

vernichten.<br />

* * *<br />

Die Beschreibung des Höchsten Herrn<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es gibt den Berg von Lord Śiva namens Kailāsa. Ich habe dort einige Zeit<br />

gelebt, Lord Śiva verehrt und Entsagung praktiziert. Ich war von vollkomme-<br />

391


nen Weisen umgeben, mit denen ich die Wahrheit der Schriften zu erörtern<br />

pflegte.<br />

Eines Abends war ich mit der Verehrung Lord Śivas befasst. Die Atmosphäre<br />

um mich herum war von Frieden und Stille erfüllt. Im Wald, in dem ich<br />

mich befand, war die Finsternis so dicht, dass man sie mit einem Schwert<br />

hätte durchschneiden können.<br />

Da sah ich im Wald ein großes Licht. Mit meiner äußeren Schau sah ich dieses<br />

Licht, und mit meiner inneren Schau ergründete ich seine Natur. Ich sah,<br />

dass es Lord Śiva selbst war, der Hand in Hand mit seiner Gemahlin Pārvatī<br />

einherging. Vor ihm ging sein Reittier Nandi und machte den Weg frei für den<br />

Höchsten Herrn. Ich machte meine um mich herum versammelten Schüler auf<br />

die göttliche Gegenwart aufmerksam und begab mich dann zu der Stelle, an<br />

der sich der Höchste Herr befand.<br />

Ich verneigte mich vor dem Höchsten Herrn und verehrte ihn. Dann blieb<br />

ich lange in den Anblick der göttlichen Erscheinung versunken. Schließlich<br />

sprach Lord Śiva zu mir: „Verlaufen deine Entsagungspraktiken erfolgreich<br />

und ohne Störung? Hast du erlangen können, was wert ist zu erlangen, und<br />

haben deine inneren Ängste aufgehört?“<br />

Als Antwort sprach ich zum Höchsten Herrn: „Allerhöchster Herr, diejenigen,<br />

die sich so glücklich nennen können, dir ergeben zu sein, finden nirgends<br />

Schwierigkeiten und erleben keine Furcht. Jeder in der Welt grüßt sie und<br />

wirft sich ihnen zu Füßen, die dir hingegeben sind und immer deiner gedenken.<br />

Nur Orte, wo Menschen leben, die Dir allein und mit ganzem Herzen<br />

ergeben sind, verdienen es, als Länder, Städte, Himmelsrichtungen und Berge<br />

bezeichnet zu werden. Deiner zu gedenken ist die Frucht der in vergangenen<br />

Geburten erworbenen Verdienste und ist auch die Gewähr für noch mehr<br />

Segen in der Zukunft. Das beständige Gedenken Deiner, oh Höchster Herr, ist<br />

wie ein Gefäß, gefüllt mit Nektar und ist die immer offenstehende Tür zur<br />

Befreiung. Höchster Herr, indem ich das kostbare und strahlende Juwel Deines<br />

immerwährenden Gedenkens besitze, habe ich alles Elend, das mich<br />

zukünftig in Bedrängnis versetzen könnte, unter die Füße getreten.<br />

„Höchster Herr, obwohl ich durch Deine Gnade den Zustand der Selbsterfüllung<br />

erlangt habe, möchte ich über etwas Bestimmtes noch mehr wissen.<br />

Bitte erleuchte michWorin besteht die Verehrung des Höchsten Herrn, die alle<br />

Sünden zerstört und sämtliche segenbringenden Eigenschaften fördert?“<br />

DER HÖCHSTE HERR sprach:<br />

Weißt du, wer „Gott“ ist? Gott ist nicht Vi«ïu, Śiva oder Brahmā, nicht der<br />

Wind, die Sonne oder der Mond, nicht der Brahmāne oder der König, nicht Ich<br />

oder du, weder Lak«mī noch das Gemüt. Gott ist ohne Form und ungeteilt (er<br />

ist nicht in den Objekten). Er ist dieser Glanz und die Pracht (devanam), die<br />

weder erzeugt wurden noch einen Anfang oder ein Ende habent. Dies ist es,<br />

was man Gott (deva) oder Lord Śiva nennt, und es ist reines Bewusstsein..<br />

Dies allein sollte verehrt werden – dies allein ist alles.<br />

392


VI.1:30<br />

Falls jemand nicht in der Lage ist, diesen Śiva zu verehren, dann soll er seine<br />

Form verehren. Das letztere erzielt vergängliche Früchte, während das<br />

erstere unendlichen Segen bringt. Wer das Unendliche ignoriert und sich dem<br />

Endlichen ergibt, verlässt freiwillig einen Lustgarten und begibt sich in ein<br />

Dornengestrüpp. Und doch verehren manchmal auch die Weisen auf spielerische<br />

Weise die Form.<br />

Nun zu den in der Verehrung verwendeten Dingen: Weisheit, Selbstkontrolle<br />

und die Wahrnehmung des Selbst in allen Wesen gehören zum Besten, was<br />

dargebracht werden kann. Das Selbst allein ist Lord Śiva und sollte immer mit<br />

den Blumen der Weisheit verehrt werden.<br />

(Ich fragte als nächstes den Höchsten Herrn: „Bitte teile mir mit, wie diese<br />

Welt in reines Bewusstsein verwandelt wird und wie das reine Bewusstsein<br />

als der jīva und all die anderen Dinge erscheint.“ Der HÖCHSTE HERR fuhr<br />

fort:)<br />

In der Tat ist es cid-ākāśa (das unendliche Bewusstsein) allein, das als einziges<br />

nach der kosmischen Auflösung noch existiert, jetzt als einziges existiert<br />

und gänzlich frei von aller Objektivität ist. Die Konzepte und Ideen, die vom<br />

Bewusstsein erleuchtet werden, erstrahlen innerhalb von diesem selbst als<br />

diese Schöpfung, und zwar aufgrund der Energiebewegungen innerhalb des<br />

Bewusstseins. Dies geschieht genau auf dieselbe Art und Weise, wie Träume<br />

im Schlaf auftauchen. Es ist völlig unmöglich, dass ein Objekt der Wahrnehmung<br />

außerhalb des allgegenwärtigen, unendlichen Bewusstseins existiert.<br />

Alle diese Berge, diese gesamte Welt, das Firmament, das Selbst, der jīva<br />

oder die Persönlichkeit und alle Elemente dieses Universums, aus denen die<br />

Welt besteht – all dies ist nichts anderes als reines Bewusstsein. Bevor die<br />

sogenannte Schöpfung existiert und es nur dieses reine Bewusstsein gab – wo<br />

war da all dies (der Himmel usw.)? Raum (ākāśa), höchster oder unendlicher<br />

Raum (paramākāśam), absoluter Raum (brahmākāśam), die Schöpfung, das<br />

Bewusstsein – all dies sind nur Worte, die auf dasselbe verweisen, wie Synonyme<br />

dies tun. So wie die im Traum erfahrene Dualität illusorisch ist, so ist<br />

die in der Schöpfung der Welt beinhaltete Dualität illusorisch. So wie die<br />

Traumobjekte in der inneren Welt des Bewusstseins zu existieren und zu<br />

funktionieren scheinen, so scheinen die Objekte in der äußeren Welt des<br />

Wachzustandes zu existieren und zu funktionieren. In beiden Zuständen<br />

geschieht tatsächlich nicht das Geringste. So wie das Bewusstsein als einziges<br />

die Wirklichkeit des Traumzustandes ist, so ist Bewusstsein allein die Wirklichkeit<br />

des Wachzustandes. Das ist der Höchste Herr, das ist die Allerhöchste<br />

Wahrheit, das bist du, das bin Ich und das ist alles.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Die Verehrung dieses Höchsten Herrn ist die wahre Verehrung – durch diese<br />

Verehrung erlangt man alles. Er ist ungeteilt und unteilbar, non-dual und<br />

nicht durch Tätigkeit gebildet oder erschaffen. Er wird nicht durch äußere<br />

Bemühungen erlangt. Seine Verehrung ist die Urquelle der Freude.<br />

393


Die äußerliche Verehrung einer Form wird nur für diejenigen vorgeschrieben,<br />

deren innere Intelligenz noch nicht erwacht ist und die noch unreif wie<br />

kleine Jungen sind. Wer keine Selbstbeherrschung usw. erlangt hat, benutzt<br />

für seine Verehrung Blumen usw. – eine solche Verehrung ist nutzlos, wie<br />

auch die Verehrung des Selbst in einer äußeren Form nutzlos ist. Und doch<br />

gewinnen solche Anhänger Befriedigung aus der Hingabe an ein von ihnen<br />

selbst geschaffenes Objekt; vielleicht ziehen sie aus dieser Art der Verehrung<br />

sogar irgendwelche wertlose Belohnungen.<br />

Ich werde dir nun die Form der Verehrung beschreiben, die für erleuchtete<br />

Menschen wie dich angemessen ist. Der Höchste Herr, der allein der Verehrung<br />

wert ist, erhält die gesamte Schöpfung am Leben und ist jenseits von<br />

Gedanken oder Beschreibungen und sogar jenseits von Konzepten des „Alles“<br />

und der „allumfassenden Totalität“. Allein er wird als „Gott“ bezeichnet, der<br />

durch Zeit und Raum ungeteilt und auch unteilbar ist, dessen Licht die Objekte<br />

erleuchtet, und der reines und absolutes Bewusstsein ist. Er ist die Intelligenz,<br />

die jenseits all ihrer Aufteilungen ist, die in allem was ist, verborgen<br />

liegt, welche das Sein in allem Seienden ist und alles, was existiert, ihres Seins<br />

beraubt (d.h. die die Wahrheit verschleiert). Dieses Brahman ist in der Mitte<br />

von Sein und Nicht-Sein, es ist Gott, und es ist die Wahrheit, die man mit „OM“<br />

bezeichnet. Es existiert überall wie die Essenz in der Pflanze. Dieses reine<br />

Bewusstsein, welches in dir, in mir und in sämtlichen Göttern und Göttinnen<br />

lebt, ist Gott. Oh Heiliger – sogar die mit einer Gestalt ausgestatteten Götter<br />

sind doch nichts anderes als dieses reine Bewusstsein. Das gesamte Universum<br />

ist nichts als reines Bewusstsein. Das ist Gott, das „alles“ bin ich, von ihm<br />

und durch ihn wird alles erlangt.<br />

Dieser Gott ist weder fern von dir, oh Heiliger, noch schwierig zu erlangen –<br />

für immer ist er im Körper, und er ist überall wie unendlicher Raum. Er tut<br />

alles – er isst, er hält alles zusammen, er schreitet, er atmet, er kennt jedes<br />

Glied des Körpers. Er ist das Licht, in dem alle diese Glieder ihre verschiedenen<br />

Funktionen ausführen und tätig sind. Er ist es, der im innersten des Herzens<br />

lebt. Er transzendiert die Sinne und die fünf Organe der Wahrnehmung –<br />

deshalb kann er von diesen nicht verstanden und nicht beschrieben werden,<br />

und doch wird für den Zweck der Unterweisung auf ihn als „Bewusstsein“<br />

hingedeutet. Obwohl er alles zu tun scheint, tut er doch in Wahrheit überhaupt<br />

nichts. Dieses Bewusstsein ist rein und auf dieselbe Weise mit den<br />

Aktivitäten der Welt befasst, wie der Frühling die Blüten der Bäume hervorbringt.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Irgendwo funktioniert dieses Bewusstsein als Raum, dann wiederum als<br />

der jīva, irgendwo als Tätigkeit, wiederum woanders als Substanz usw., ohne<br />

jedoch die Absicht dazu zu haben. So wie die „verschiedenen“ Ozeane nur<br />

eine einzige, unteilbare Masse Wasser sind, so ist dieses Bewusstsein, obwohl<br />

auf vielfältige Weisen beschrieben, nichts als eine einzige, kosmische Masse<br />

von Bewusstsein. Im Körper, der wie ein Lotos ist, saugt das gleiche Bewusst-<br />

394


sein durch das ruhelose Gemüt Erfahrungen auf, wie Bienen den Honig einsammeln.<br />

Im Universum treiben alle diese verschiedenen Lebewesen ( Götter,<br />

Dämonen, Berge, Ozeane usw.) in diesem unendlichen Bewusstsein umher, so<br />

wie Wirbel und Strudel im Ozean auftauchen. Sogar das Rad der Unwissenheit,<br />

welches das Rad von Geburt und Tod in beständiger Bewegung hält,<br />

dreht sich in diesem kosmischen Bewusstsein, dessen Energie sich in dauerndem<br />

Fluss befindet.<br />

Es war das Bewusstsein in der Gestalt des vierarmigen Vi«ïu, welches die<br />

Dämonen vernichtete; so wie ein Gewittersturm, bewaffnet mit dem Regenbogen,<br />

die Hitze löscht, die von der Erde aufsteigt. Es ist das Bewusstsein<br />

allein, welches die Gestalt von Śiva und Pārvatī, von Brahmā dem Schöpfer<br />

und den zahllosen anderen Wesen annimmt. Dieses Bewusstsein ist wie ein<br />

Spiegel, der innerhalb von sich selbst sozusagen eine Reflektion wahrnimmt,<br />

ohne irgendeine Modifikation zu erleiden. Ohne Modifikationen in sich selbst<br />

zu erfahren, erscheint dieses Bewusstsein als all diese zahllosen Wesen in<br />

diesem Universum.<br />

Das unendliche Bewusstsein ist wie ein Kriechgewächs – es ist übersät mit<br />

all den latenten Neigungen der zahllosen jīvas. Die Knospen dieses Gewächses<br />

sind die Wünsche. Die vergangenen Schöpfungen sind die Fasern. Die<br />

fühlenden und nicht fühlenden Lebewesen sind Teile des Kriechgewächses.<br />

Das Eine erscheint als viele, wurde aber in Wahrheit niemals zu vielen.<br />

Es geschieht durch dieses unendliche Bewusstsein, dass all dies gedacht,<br />

zum Ausdruck gebracht und erledigt wird. Es ist das unendliche Bewusstsein<br />

allein, welches als die Sonne erstrahlt. Es ist das unendliche Bewusstsein,<br />

welches als die Körper auftaucht, die in Wirklichkeit leblos sind und miteinander<br />

mit Hilfe dieses Bewusstseins in Kontakt treten und aus diesem Kontakt<br />

ihre verschiedenen Erfahrungen gewinnen. Dieses Bewusstsein ist wie<br />

ein Taifun, der selbst unsichtbar ist, aber in welchem Sand und Staub aufsteigen<br />

und wie von selbst zu tanzen beginnen. Dieses Bewusstsein wirft sozusagen<br />

einen Schatten auf sich selbst, was dann als tamas oder Fühllosigkeit<br />

empfunden wird.<br />

In diesem Körper erzeugen die Gedanken und Ideen Tätigkeiten im Licht<br />

eben dieses Bewusstseins. Ohne dieses Bewusstsein kann kein Objekt, auch<br />

wenn es sich direkt vor einem befindet, erfahren werden. Ohne dieses Bewusstsein<br />

kann der Körper weder arbeiten noch existieren. Er isst, wächst<br />

und verfällt. Dieses Bewusstsein erschafft und erhält sämtliche beweglichen<br />

und unbeweglichen Wesen im Universum. Das unendliche Bewusstsein allein<br />

existiert – und nichts anderes.. Es ist nur Bewusstsein, das im Bewusstsein<br />

auftaucht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Daraufhin fragte ich den Höchsten Herrn: „Wenn dieses Bewusstsein also<br />

allgegenwärtig ist, wie konnte es dann in dieser Welt zu etwas Leblosem und<br />

395


Fühllosem werden? Wie ist es möglich, dass einer, der mit Bewusstsein gesegnet<br />

ist, dieses Bewusstsein wieder verliert?“<br />

Der HÖCHSTE HERR spendete dieser Frage seinen Beifall und erwiderte:<br />

Das allgegenwärtige Bewusstsein, welches alles in allem ist, existiert im<br />

Körper gleichzeitig als das Wandelbare und das Unwandelbare und Unveränderliche.<br />

So wie eine Frau träumt, sie sei eine andere Frau mit einem anderen<br />

Gemahl, so hält dasselbe Bewusstsein sich selbst für etwas anderes. So wie<br />

ein Mann sich unter dem Einfluss von unkontrollierter Wut völlig anders<br />

benimmt, so erwirbt das Bewusstsein plötzlich andere Eigenschaften und<br />

Funktionen. Stufenweise wird es dann leblos und fühllos.<br />

Bewusstsein wird zu seinem eigenen Objekt; es erzeugt Raum und dann die<br />

Luft, und danach deren Eigenschaften. Gleichzeitig bringt es in sich selbst Zeit<br />

und Raum hervor und wird dann zum jīva mit dem individualisierten, endlichen<br />

Intellekt und Gemüt. Daraus tauchen dann die zyklische Welterscheinung<br />

und die Ideen von „ich bin ein Unberührbarer“ usw. auf. Das unendliche<br />

Bewusstsein wird sodann selbst anscheinend leblos und gefühllos, so wie<br />

Wasser zu einem Kristall wird. Anschließend entsteht dann das getäuschte<br />

Gemüt, das Wünsche unterhält, das Opfer von Lust und Zorn wird, Wohlstand<br />

und Unglück erfährt, Schmerzen und Vergnügen erleidet, sich an Hoffnungen<br />

klammert, entsetzliche Qualen erduldet und mit Vorlieben und Abneigungen<br />

erfüllt ist, die die Täuschung weiter am Leben erhalten. Gänzlich in die Irre<br />

geführt, wandert es von Irrtum zu Irrtum, von Unwissenheit in immer größere<br />

Unwissenheit.<br />

In der Kindheit hängt dieses getäuschte Bewusstsein gänzlich von den Erwachsenen<br />

ab. In der Jugend rennt es dem Wohlstand hinterher und ist von<br />

Ängsten und Sorge erfüllt. Im Alter versinkt es im Kummer, Und im Tode wird<br />

es von seinem eigenen karma geführt. In Übereinstimmung mit diesem karma<br />

wird es dann im Himmel oder in der Hölle, in den Unterwelten oder auf der<br />

Erde als Mensch, als Tier oder als unbeseeltes Wesen wiedergeboren. Dasselbe<br />

Bewusstsein erscheint als Vi«ïu, Śiva, Brahmā und andere. Es ist dasselbe<br />

Bewusstsein, welches als die Sonne, der Mond, der Wind und die Faktoren<br />

wirkt, welche die Veränderung der Jahreszeiten und von Tag und Nacht verursachen.<br />

Es ist dasselbe Bewusstsein, welches die Lebenskraft in den Samen<br />

und die Beschaffenheit aller materiellen Substanzen hervorruft. Dieses Bewusstsein,<br />

welches durch die Selbstbegrenzung konditioniert ist, fürchtet<br />

sich sogar vor sich selbst! Das ist die Wahrheit betreffend das jīva-<br />

Bewusstsein. Es ist auch als karma-ātmā bekannt (d.h. das Selbst, welches im<br />

Rad von Aktion und Reaktion gefangen ist).<br />

Sei der Macht der Unwissenheit und der Unbeseeltheit gewahr! Durch bloßes<br />

Vergessen seiner eigenen, wahren Natur ist das Bewusstsein großen<br />

Nöten und Sorgen ausgesetzt und erlebt einen erbärmlichen Sturz.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

VI.1:31<br />

396


Das Bewusstsein denkt (empfindet oder stellt sich vor) fälschlicherweise<br />

„ich bin unglücklich“ –gleich wie ein Geisteskranker denkt, dass er elend ist.<br />

So wie aufgrund von verzerrtem Verständnis jemand laut weint und klagt:<br />

„Oh weh, ich bin tot!“, obwohl er nicht tot ist, oder wie jemand, der nicht<br />

verloren ist, schreit: „Hilfe, ich bin verloren!“ – so stellt sich das Bewusstsein<br />

fälschlicherweise sein eigenes Elend und seine Begrenztheit vor. Einbildungen<br />

dieser Art sind unsinnig und unbegründet. Aufgrund der falschen Ideenbildung<br />

des Ich-Sinns hält das Bewusstsein die Welterscheinung für real. Es<br />

ist einzig das Gemüt, welches die Wurzelursache des Erfahrens ist und die<br />

Welt für etwas Reales hält. Tatsächlich kann dies jedoch nicht als eine Ursache<br />

betrachtet werden, da das Gemüt nichts anderes als reines Bewusstsein<br />

sein kann. Sobald folglich erkannt wird, dass das wahrnehmende Gemüt<br />

selbst irreal ist, muss natürlich auch die von ihm wahrgenommene Welt irreal<br />

sein.<br />

So wie es in einem Felsen kein Öl gibt, so existiert im reinen Bewusstsein<br />

nicht die Teilung in Seher, Sehen und Gesehenes, in Täter, Tun und Tat oder<br />

Kenner, Kennen und Gekanntes. Ähnlich dazu ist die Unterscheidung zwischen<br />

„ich“ und „du“ reine Einbildung. Alle Unterscheidung zwischen dem<br />

Einen und dem Vielen ist rein verbal. All dies existiert überhaupt nicht –<br />

ebenso wenig, wie die Finsternis nicht in der Sonne existieren kann. Gegensätze<br />

wie Substanz und Nicht-Substanz, Leere und Nicht-Leere sind reine<br />

Konzepte. Im Zuge der Selbst-Ergründung verschwinden sie alle – nur reines<br />

Bewusstsein verbleibt.<br />

Bewusstsein wird in Wirklichkeit weder einem Wandel unterzogen noch<br />

wird es unrein. Diese Unreinheit selbst ist nur eingebildet – es ist diese Einbildung<br />

selbst, die die Unreinheit ist. Sobald dies realisiert wird, wird die<br />

Einbildung fallen gelassen und die vermeintliche Unreinheit hört auf. Jedoch<br />

kann selbst noch in denjenigen, die dies realisiert haben, erneut Unreinheit<br />

auftauchen; dies geschieht so lange, wie diese Einbildung nicht entschlossen<br />

zurückgewiesen wird. Mit Hilfe der Eigenbemühung kann dies leicht erreicht<br />

werden –wenn man einen Strohhalm fallenlassen kann, dann kann man mit<br />

derselben Leichtigkeit die drei Welten fallenlassen! Was könnte denn nicht<br />

durch Eigenbemühung erreicht werden?<br />

Dieses unendliche Bewusstsein, welches unverändert und nicht-dual ist,<br />

kann mit Hilfe des einen selbstleuchtenden inneren Lichtes erkannt werden.<br />

Es ist rein und ewiglich, es ist allgegenwärtig und frei vom Gemüt, es ist unveränderbar<br />

und unbefleckt, es ist in allen Objekten. Es ist in der Tat das unbewegliche<br />

Bewusstsein, welches wie ein Zeuge von allem existiert, so wie ein<br />

Licht leuchtet, aber das Leuchten nicht sein Tun ist. Obwohl es rein ist, erscheint<br />

das Bewusstsein als befleckt; in der trägen Materie ist es die nichtträge<br />

Energie. Es ist allgegenwärtig, ohne dabei durch die Partikel, die das<br />

Weltall konstituieren, aufgeteilt zu werden.<br />

Dieses unendliche Bewusstsein, welches ohne alle Konzepte und extrem<br />

subtil ist, kennt sich selbst. In seiner Selbst-Vergessenheit unterhält dieses<br />

397


Bewusstsein dann Gedanken und macht Erfahrungen, obwohl all dieses nur<br />

aufgrund seiner wahren Natur als unendliches Bewusstsein möglich ist – so<br />

wie jemand, der schläft, gleichzeitig im Innern wach ist!<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Durch Identifikation mit seinen eigenen Objekten scheint sich das Bewusstsein<br />

selbst auf den Zustand des Denkens oder Besorgtseins zu reduzieren, so<br />

wie unreines Gold wie Kupfer aussieht, solange es noch nicht gereinigt ist und<br />

als Gold glänzt. Durch Selbstvergessenheit seitens des unendlichen Bewusstseins<br />

entsteht das Konzept des Universums, welches wiederum als irreal<br />

erkannt wird, sobald es Selbsterkenntnis gibt.<br />

Sobald Bewusstsein sich in sich selbst seiner selbst bewusst wird, taucht<br />

der Ich-Sinn auf. Nur ein kleiner Anstoß ist erforderlich, und dieser Ich-Sinn<br />

(der in Wahrheit nichts anderes als Bewusstsein ist) stürzt zu Boden, so wie<br />

ein Felsen den Berghang hinabstürzt. Und selbst dann ist es Bewusstsein<br />

allein, das die Wirklichkeit in allen Formen und in allen Erfahrungen ist. Die<br />

Bewegungen der vitalen Winde lassen eine innere Schau und ein anscheinend<br />

im Außen befindliches Objekt entstehen. Aber auch das Erfahren der Schau<br />

(des Sehvorgangs) ist nichts als das reine (höchste) Bewusstsein! Die anscheinend<br />

unbeseelten vitalen Winde, die das Berührungsempfinden hervorrufen,<br />

kommen mit ihrem Objekt in Kontakt, und daraufhin entsteht das<br />

Empfinden von Berührung. Jedoch auch das Gewahrsein der Berührungsempfindung<br />

ist nichts als reines Bewusstsein. Auf dieselbe Weise ist es der vitale<br />

Wind (prāïa), der die Nase zum Riechen der Gerüche befähigt, die wiederum<br />

Modifikationen derselben Energie sind, während das Gewahrsein des Geruchs<br />

reines Bewusstsein ist. Wäre das Gemüt nicht mit dem Gehörsinn verbunden,<br />

wäre Hören nicht möglich. Alles dies ist nichts als reines Bewusstsein<br />

– darin besteht die Erfahrung des Hörens.<br />

Die Handlungen entspringen dem Denken, das Denken ist die Funktion des<br />

Gemüts, das Gemüt ist konditioniertes Bewusstsein, aber Bewusstsein selbst<br />

ist unkonditioniert! Das Universum ist nur eine Widerspiegelung im Bewusstsein<br />

(wie die in einer Kristallkugel widerspiegelte Umgebung), während<br />

Bewusstsein selbst nicht durch die Widerspiegelung konditioniert wird.<br />

Der jīva ist das Vehikel des Bewusstseins, der Ich-Sinn das Vehikel des jīva,<br />

die Intelligenz das des Ich-Sinns, das Gemüt das der Intelligenz, das prāïa das<br />

des Gemüts, die Sinne das des prāïa, der Körper das der Sinne, und die Bewegung<br />

ist das Vehikel des Körpers. Diese Bewegung ist das karma. Da das<br />

prāïa das Vehikel des Gemüts ist, geht das Gemüt dahin, wohin es das prāïa<br />

führt. Wird das Gemüt jedoch in das spirituelle Herz eingetaucht, dann bewegt<br />

sich das prāïa nicht mehr. Und wenn sich das prāïa nicht bewegt, dann<br />

erlangt das Gemüt den Zustand der Stillheit. Wohin das prāïa geht, dahin<br />

folgt ihm das Gemüt – so wie der Reisende seinem Fahrzeug folgt.<br />

Die Widerspiegelung des Bewusstseins innerhalb von sich selbst wird<br />

purya«Âaka genannt. Nur das Gemüt ist purya«Âaka, obwohl manche Leute es<br />

398


ausgiebig und weitgehender beschrieben haben (nämlich zusammengesetzt<br />

aus den fünf Elementen, dem inneren Organ [Gemüt, buddhi, Ich-Sinn und<br />

citta], prāïa, den Tätigkeitsorganen, den Sinnen, der Unwissenheit, dem<br />

Wunsch und karma oder der Tätigkeit). Genannt wird dies auch das liÇgaśarīra,<br />

der subtile Körper. Da all dies im Bewusstseinerscheint, darin existiert<br />

und sich darin wieder auflöst, ist Bewusstsein allein die zugrundeliegende<br />

Realität.<br />

Der HÖCHSTE HERR sprach:<br />

Ausser dem Gemüt und prāïa ist der Körper eine leblose Masse. So wie sich<br />

ein kleines Stück Eisen in der Nähe eines Magneten bewegt, so bewegt sich<br />

der jīva in der Gegenwart des Bewusstseins, welches unendlich und allgegenwärtig<br />

ist. Der Körper ist leblos und abhängig – es ist das Bewusstsein,<br />

welches ihn funktionieren lässt und sich dabei für etwas Ähnliches wie die<br />

vitalen Winde (prāïa) hält. Daher ist es das karma-Selbst oder das aktive<br />

Selbst (karmātmā), welches den Körper in Bewegung versetzt. Es ist jedoch<br />

das höchste Selbst, welches Gemüt und prāïaals die Beweger des Lebens im<br />

Körper bestimmt hat. Es ist das Bewusstsein selbst, welches die<br />

Unbeseeltheit mimt und das Gemüt als jīva steuert.<br />

Sobald diese Begrenzung einmal vorhanden und wirksam ist, folgen weitere<br />

Konsequenzen, zu denen beispielsweise die physischen und mentalen Krankheiten<br />

gehören! Es ist wie bei den Wellen, die auf der Oberfläche des Meeres<br />

erscheinen und dann weitere Wellen und Strudel entstehen lassen. Das Bewusstsein<br />

als jīva wird abhängig, da es die Selbsterkenntnis als Bewusstsein<br />

aufgegeben hat. Unter einem dichten Schleier der Unwissenheit sein Unwesen<br />

treibend, ist es närrischerweise unfähig, den Schaden zu ermessen, den<br />

es über sich selbst bringt – so wie ein Trunkenbold mit einem Schwert herumfuchtelt<br />

und dabei das eigene Bein verwundet. Jedoch wie der Trunkenbold<br />

bald wieder nüchtern werden kann, so kann auch das Bewusstsein<br />

schon bald die Selbsterkenntnis zurückgewinnen.<br />

Sobald das Gemüt seiner Stützen beraubt ist, bleibt es allein im Selbst zurück.<br />

Sobald purya«Âaka (der subtile Körper) ohne all seine Stützen ist, erlangt<br />

es den Zustand der Stillheit und fällt bewegungslos. Wenn das Bewusstsein<br />

aufgrund der Objektifizierung irregeführt wird, werden die latenten<br />

psychologischen Tendenzen aktiv. Indem sich das Bewusstsein mit diesen<br />

identifiziert, vergisst es seine eigene, essenzielle Natur.<br />

Wenn sich der Lotos des Herzens entfaltet, beginnt das purya«Âaka zu arbeiten<br />

– faltet sich dieser Lotos wieder zusammen, dann hört das purya«Âaka auf<br />

zu arbeiten. Solange das purya«Âaka im Körper arbeitet, lebt der Körper; hört<br />

es zu arbeiten auf, dann stirbt der Körper. Dieses Aufhören kann auch durch<br />

einen gewissen inneren Konflikt zwischen den Unreinheiten und dem inneren<br />

Erwachen verursacht sein. Sobald das eigene Herz nur von reinen<br />

vāsanās oder Neigungen erfüllt ist, hören alle Konflikte auf, und es gibt da<br />

Harmonie, Befreiung und Langlebigkeit. Wenn das purya«Âaka andererseits<br />

VI.1:32<br />

399


zu arbeiten aufhört, dann stirbt der physische Körper. Der subtile Leib sucht<br />

sich nun in Übereinstimmung mit seinen verborgenen vāsanās einen anderen<br />

Körper. Aufgrund dieser vāsanās versucht das purya«Âaka gewaltsam neue<br />

Verbindungen mit dem neuen subtilen Körper zu schaffen und vergisst dabei<br />

seine Natur als reines Bewusstsein. Da Bewusstsein jedoch unendlich und<br />

allgegenwärtig ist, wandert das Gemüt, welches das purya«Âaka steuert, überall<br />

frei umher. So werden dann vom jīva die Körper angenommen und wieder<br />

aufgegeben wie die Bäume neue Triebe sprießen lassen und alte abstoßen.<br />

Weise Menschen halten sich mit diesen Wandelerscheinungen nicht auf.<br />

Als Erwiderung auf Vasi«Âhas Fragen: (a) Wie erscheint im unendlichen<br />

Bewusstsein die Dualität und (b) wie kann diese Dualität, die in Äonen der<br />

Bestätigung gewachsen ist, aufhören, fährt der HÖCHSTE HERR wie folgt fort:<br />

Da das allgegenwärtige, unendliche Bewusstsein allein und immer gegenwärtig<br />

ist, ist die Vielfalt (Dualität) widersinnig und als solche unmöglich. Das<br />

Konzept des Einen taucht auf, sobald das Konzept der Zwei auftaucht und<br />

umgekehrt – wenn die Vielfalt als aus Bewusstsein bestehend erkannt wird,<br />

dann ist die Vielfalt auch nur das und nichts anderes! In ihrer Essenz sind<br />

Ursache und Wirkung ein und dasselbe. Diese Essenz ist unteilbar. Bewusstsein<br />

als sein eigenes Objekt ist stets nur Bewusstsein – die Vorstellungen von<br />

Modifikationen darin sind nur nichtige Ideen (zu sagen: Es gibt Wellen AUF<br />

der Oberfläche des Ozeans, ist dasselbe wie zu sagen: „Berge aus Wasser<br />

schwimmen auf der Oberfläche des Ozeans“. Sind denn die Wellen außerhalb<br />

des Ozeans?). Nur Bewusstsein allein ist „dies“, „das“, und „in der Mitte“ (d.h.,<br />

der Faktor, der die Modifikation wahrnimmt). Es ist das eine unendliche<br />

Bewusstsein, welches verschiedentlich als Brahman, Wahrheit, Gott, Śiva,<br />

Leere, Eines und Höchstes Selbst bezeichnet wird.<br />

Was jenseits all dieser Formen und Zustände des Bewusstseins ist, was das<br />

Höchste Selbst ist, was durch das reine „Ich“ bezeichnet wird – dies kann<br />

durch Worte nicht beschrieben werden. Das, was hier wahrgenommen wird,<br />

ist in sich selbst unteilbar. Wenn dieses Bewusstsein sich selbst mit einer<br />

zweiten Schau ausstattet, dann nimmt es Dualität wahr. Gebunden wird es<br />

durch seine eigene, aus Unwissenheit entstandene Einbildung. Diese Einbildung<br />

lässt wiederum die Substantialität von allem entstehen, und die Erfahrung<br />

der Objekte scheint dann die Realität dieser Objekte zu bestätigen. Anschließend<br />

erlangt der Ich-Sinn seine scheinbare Gültigkeit und ist festgegründet,<br />

indem er die Rolle des Täters aller Handlungen und des Erfahrenden<br />

aller Erfahrungen übernimmt. Was also zu Anfang ein zufälliges Zusammentreffen<br />

war, wird sehr schnell zu einer anscheinend feststehenden Tatsache.<br />

Der Glaube an einen Kobold erschafft ihn. Der Glaube an die Dualität (Vielfalt)<br />

erschafft sie. Sobald das nicht-duale Sein erkannt wird, verschwindet die<br />

Dualität. Der Glaube (oder die Einbildung) lässt die Vielfalt entstehen – wird<br />

dieser Glaube aufgegeben, dann verschwindet auch die Vielfalt. Denken, Einbildung<br />

und Glauben lassen den Kummer entstehen – diese Art des Denkens<br />

aufzugeben ist nicht schmerzhaft sein! Es ist das ständige Unterhalten all<br />

VI.1:33<br />

400


VI.1:34<br />

dieser Gedanken und Glaubensvorstellungen, das den Kummer erzeugt – all<br />

dieses gelangt an sein Ende, wenn diese Gedanken und Glaubensvorstellungen<br />

aufgegeben werden. Wo liegt da die Schwierigkeit ? Sämtliche Gedanken<br />

und Glaubensvorstellungen führen zum Leiden, während das Nicht-Denken<br />

und der Nicht-Glaube reine Seligkeit bedeuten. Mit dem Feuer der Weisheit<br />

lass deshalb die Wasser deiner Glaubensvorstellungen sich in Dampf auflösen,<br />

und erlange Frieden und höchsten Segen. Gewahre das eine unendliche<br />

Bewusstsein.<br />

Nur so lange der König die Tatsache vergisst: „Ich bin der König“, lebt er im<br />

Elend. Sobald er diese Erkenntnis wiedererlangt, schwindet diese Sorge. So<br />

wie der Himmel nach der Regenzeit und am Anfang des Winters keine Wolken<br />

mehr bilden kann, um sich zu verhüllen, so sind die Wolken der Unwissenheit<br />

für immer gebannt, wenn das unendliche Bewusstsein realisiert wird.<br />

Der HÖCHSTE HERR sprach:<br />

Das Universum existiert sowohl wirklich als auch unwirklich. Das Göttliche,<br />

frei von aller Dualität, vereinigt, transzendiert und ist beides. Das manifeste<br />

Bewusstsein ist das Universum und das unmanifestierte Bewusstsein ist<br />

Bewusstsein. Durch die Idee „Ich bin dies“ wird das Bewusstsein gebunden;<br />

durch seine Selbsterkenntnis wird es befreit. Die Objektifizierung (oder Konzeptualisierung)<br />

führt zur Selbst-Vergessenheit. Und doch ist das Bewusstsein<br />

sogar im Zustand der Vielfalt und Aktivität stets ungeteilt. Denn es ist<br />

immer nur das höchste, friedvolle Brahman, welches sich durch die Instrumente<br />

des Gemüts und seiner drei Modi (sātva, rajas und tamas oder Wachen,<br />

Träumen und Schlafen) als Universum zu manifestieren scheint.<br />

Wird jedoch das Gemüt durch das Gemüt zerstört, dann ist der Schleier zerrissen<br />

und die Wahrheit des Welt-Theaters wird gesehen – die Idee der Welterscheinung<br />

und der Existenz eines jīva ist vernichtet. Das Gemüt wird dann<br />

klar, denn es gibt das beständige Wiederbeleben all seiner Ideen einer objektiven<br />

Existenz von Dingen auf. Dieser Zustand wird als „paśyanti“ bezeichnet.<br />

In diesem Zustand hat das rein gewordene Gemüt seine Neigung aufgegeben,<br />

die Bilder von Objekten heraufzubeschwören. Es erlangt einen Zustand wie<br />

im Tiefschlaf oder das Bewusstsein der Gleichförmigkeit und transzendiert<br />

die Möglichkeit einer Wiedergeburt. Es ruht im höchsten Frieden. Dies ist der<br />

erste Zustand.<br />

Nun höre dir die Beschreibung des zweiten Zustandes an. Bewusstsein ohne<br />

Gemüt ist all-erleuchtet, ohne Finsternis und schön wie Raum. Das unendliche<br />

Bewusstsein befreit sich selbst gänzlich von allen Modifikationen oder<br />

Dualität und verbleibt wie im Tiefschlaf oder wie eine Figur in einem unbehauenen<br />

Marmorblock. Es gibt alle Vorstellungen von Zeit und Raum auf und<br />

transzendiert Unbeseeltheit und Beseeltheit – es verbleibt als reines Sein<br />

jenseits jeder Ausdrucksmöglichkeit. Es transzendiert die drei Zustände des<br />

Bewusstseins und verbleibt als der vierte oder als der Zustand des ungeteilten<br />

unendlichen Bewusstseins.<br />

401


Nun höre die Beschreibung des dritten Zustands. Dieser befindet sich sogar<br />

noch jenseits von Begriffen wie „Brahman“, „das Selbst“ usw. Manchmal nennt<br />

man ihn turīya-atīta (jenseits des vierten oder turiya-Zustandes). Er ist der<br />

höchste und letztgültige. Er widersetzt sich jeder Beschreibung, denn er<br />

befindet sich jenseits der Praktiken, die von denjenigen, die sieunternehmen,<br />

beschrieben werden.<br />

Oh Weiser – verbleibe für immer in diesem dritten Zustand. Dieser stellt die<br />

wahre Verehrung des Höchsten Herrn dar. Dann wirst du in dem verankert<br />

sein, was sich jenseits von dem befindet, was ist und nicht ist. Nichts wurde<br />

erschaffen, und es gibt nichts, was jemals verschwinden könnte. Dieser Zustand<br />

ist jenseits des Einen und der Zwei. Er ist das Ewige, aber jenseits des<br />

Ewigen und Vergänglichen - er ist eine einzige, reine Masse von Bewusstsein.<br />

Es gibt darin keine Frage der Vielfalt. Er ist das Alles, er ist erhabenes<br />

Gesegnetsein und Frieden, er befindet sich jenseits jeder Ausdrucksmöglichkeit.<br />

Es ist das reine OM. Es ist transzendent. Es ist das Höchste.<br />

(VùLMýKI sprach: „Nachdem er so gesprochen hatte, verblieb Lord Śiva für<br />

einige Zeit in stiller und tiefer Kontemplation.“)<br />

* * *<br />

Deva PÆjā<br />

Nachdem er einige Zeit in sich selbst vertieft blieb, öffnete der HÖCHSTE<br />

HERR die Augen und fuhr fort:<br />

Oh Weiser, gib die Gewohnheit auf, mit deinem Verstand Objekte wahrzunehmen.<br />

Diejenigen, die Dieses (das Selbst) realisiert haben, haben gesehen<br />

was wert ist, gesehen zu werden. Was gäbe es darüber hinaus noch zu sehen<br />

oder nicht zu sehen? Gewahre das Selbst. Sei ein Schwert, welches trennt, was<br />

als Frieden und Ruhelosigkeit betrachtet wird. Oder schenke mir noch einen<br />

kleinen Teil deiner nach außen gerichteten Aufmerksamkeit, denn durch<br />

bloßes Ruhigbleiben wird nichts gewonnen!<br />

Dieser Körper wird durch die Lebenskraft oder prāïa am Leben erhalten<br />

und in Tätigkeit versetzt. Die Energie, die den Körper bewegt, ist prāïa. Die<br />

Intelligenz, die durch alles ihre Erfahrungen macht, ist Bewusstsein. Dieses<br />

Bewusstsein ist formlos und reiner als der Himmel. Wenn die Beziehung<br />

zwischen der Lebenskraft und dem Körper aufgehoben wird, wird nur die<br />

Lebenskraft vom Körper getrennt. Das Bewusstsein, welches reiner als Raum<br />

ist, verdirbt nicht.<br />

VI.1:35<br />

402


VI.1:36<br />

Ein reiner Spiegel reflektiert das, was sich vor ihm befindet. Aber die Spiegelung<br />

wird nicht gesehen, wenn der Spiegel mit Staub bedeckt ist. Auf dieselbe<br />

Weise spiegelt die Intelligenz die Objekte nicht mehr, sobald das prāïa<br />

den Körper verlassen hat, obwohl dieser noch sichtbar ist.<br />

Das Bewusstsein ist zwar unendlich und allgegenwärtig, aber es ist fähig,<br />

der Bewegungen von Gemüt und Körper gewahr zu werden. Sobald dieser<br />

Defekt der Objektivierung (Konzeptualisierung) beseitigt ist, scheint es als<br />

das höchste Sein. Es selbst ist der Schöpfer Brahmā, Vi«ïu, Śiva, Indra, die<br />

Sonne, der Mond und der höchste Herr. Manche dieser Gottheiten wie etwa<br />

Brahmā, Vi«ïu und Śiva, lassen sich von der kosmischen Illusion nicht täuschen.<br />

Sie sind Teile des unendlichen Bewusstseins – sie teilen seine wahre<br />

Natur so, wie rotglühendes Eisen die Natur des Feuers teilt. Jedoch wurde in<br />

Wirklichkeit keiner von diesen vom unendlichen Bewusstsein erschaffen, und<br />

keiner existiert getrennt von diesem. Sie sind nichts als bloße Ideen – einige<br />

Vorstellungen sind dichter, solider als andere. Es ist unmöglich, das Ausmaß<br />

der Ideen zu beschreiben, die in der Unwissenheit aufgestiegen sind.<br />

Man könnte sagen, dass das höchste Sein (das unendliche Bewusstsein) der<br />

Vater von Brahmā, Vi«ïu, Śiva und all den anderen ist. Es ist dies aber nur<br />

eine Redensart. Nur dieses unendliche Bewusstsein soll verehrt und bewundert<br />

werden. Es ist jedoch sinnlos, es zum Zweck der Verehrung herbeizurufen;<br />

Mantras sind ohne Nutzen für seine Anbetung denn es ist unmittelbar<br />

(das eigene Selbst und näher als das nächste). Es muss nicht eingeladen werden.<br />

Es ist das allgegenwärtige Selbst von allem. Die Verwirklichung dieses<br />

unendlichen Bewusstseins allein (welche gänzlich mühelos ist) ist die beste<br />

Form der Verehrung.<br />

Der HÖCHSTE HERR sprach:<br />

Man sagt daher, dass Lord Rudra die reine, spontane Selbsterfahrung und<br />

das in allen Substanzen wohnende eine Bewusstsein ist. Es ist der Same aller<br />

Samen, die Essenz dieser Welterscheinung, die größte aller Taten. Es ist die<br />

Ursache aller Ursachen und die Essenz in allen Wesen, obwohl es tatsächlich<br />

weder etwas tut, noch den Gedanken des Seins enthält und daher nicht begriffen<br />

werden kann. Es ist das Gewahrsein in allem, was fühlend ist; es kennt<br />

sich selbst als sein eigenes Objekt. Es ist sein eigenes höchstes Objekt und der<br />

unendlichen Vielfalt in sich selbst gewahr.<br />

Es ist das Bewusstsein in allen Erfahrungen, aber rein und unkonditioniert.<br />

Es ist die absolute Wahrheit und daher nicht die Wahrheit in Form eines<br />

Konzeptes. Es wird durch die Definitionen von Wahrheit oder Falschheit nicht<br />

begrenzt. Es ist in Wirklichkeit das Ende der höchsten Wahrheit oder die<br />

uranfängliche Wirklichkeit. Es ist reines, absolutes Bewusstsein und nichts<br />

anderes.<br />

Und doch wird es durch Wünsche oder den Hang nach Vergnügen verfälscht.<br />

Es wird selbst der Erfahrende des Vergnügens, die Erfahrung des<br />

Vergnügens und die dadurch verursachte Unreinheit oder Befleckung. Ob-<br />

403


gleich es wie der Himmel ist, unkonditioniert und ungeteilt, wird es schnell<br />

begrenzt und konditioniert. In diesem unendlichen Bewusstsein hat es schon<br />

Millionen von Spiegelungen gegeben, die man Welterscheinung nennt, und es<br />

wird auch ferner Millionen weiterer Spiegelungen geben, die man Welterscheinung<br />

nennt. Und doch ist niemals etwas unabhängig von diesem unendlichen<br />

Bewusstsein ins Sein getreten – Licht und Feuer scheinen aus dem<br />

Feuer zu kommen, aber sie sind vom Feuer nicht unabhängig.<br />

Dieses unendliche Bewusstsein kann mit dem letztendlichen subatomaren<br />

Partikel verglichen werden, das in seinem Innersten die allergrößten Berge<br />

verbirgt. Es umfasst die Zeitspanne all der zahllosen Epochen und lässt doch<br />

nicht eine einzige Sekunde der Zeit fallen. Es ist subtiler als die Spitze eines<br />

einzelnen Haares und durchdringt doch das ganze Universum. Niemand hat<br />

jemals seine Grenzen oder sein Ende gesehen.<br />

Es tut nichts und stattet doch das gesamte Universum mit seinen Reichtümern<br />

aus. Obwohl es den gesamten Kosmos am Leben erhält, tut es nicht das<br />

Geringste. Obwohl sämtliche Substanzen nicht von ihm verschieden sind, ist<br />

es selbst keine Substanz; obwohl es nicht-substanziell ist, durchdringt es alle<br />

Substanzen. Der Kosmos ist sein Körper, obwohl es keinen Körper hat. Es ist<br />

das ewige „jetzt“, aber auch das „morgen“ (der Morgen). Oft geschieht es, dass<br />

anscheinend bedeutungslose Klänge eine Bedeutung erlangen und in der<br />

Kommunikation mit anderen Wesen als inhaltsvoll betrachtet werden – auf<br />

dieselbe Weise ist dieses unendliche Bewusstsein und ist doch nicht. Es ist<br />

sogar das, was es nicht ist. Alle diese Aussagen darüber, was ist und nicht ist,<br />

gründen auf der Logik, während das unendliche Bewusstsein selbst jenseits<br />

von Wahrheit und jenseits von Logik ist. Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Dieses unendliche Bewusstsein lässt den Keimling mit Hilfe von Erde, Wasser,<br />

Zeit usw. sprießen und zu Nahrung werden . Es lässt die Blumen erblühen<br />

und ermöglicht der Nase, die verschiedenen Düfte zu riechen. Auf dieselbe<br />

Weise ist es fähig, die Substanzen der Welt wie auch die dazugehörigen Sinnesorgane<br />

zu erschaffen und am Leben zu erhalten, indem es sich dazu der<br />

Unterstützung der geeigneten Mittel bedient, die durch dasselbe Bewusstsein<br />

ins Dasein gerufen werden. Die Energie dieses Bewusstseins ist fähig, den<br />

gesamten Kosmos zu erschaffen und anschließend, durch bloße Erzeugung<br />

der Idee „dies alles ist nicht“, in einen Zustand reiner Leere zu reduzieren.<br />

Diese scheinbare Schöpfung ist nichts als die Reflektion des Bewusstseins<br />

innerhalb von sich selbst, welches scheinbar im Verlaufe der Zeit einen eigenen<br />

Körper angenommen hat. Die Trinität ist die Manifestation und auch die<br />

kosmische Macht oder Energie, welche festgelegt : „So soll es sein, und es soll<br />

nicht anders sein.“ Und doch hat das Bewusstsein nichts erschaffen – es ist<br />

wie eine Lampe, die den Raum erleuchtet, in dem Handlungen stattfinden.<br />

VASIåèHA fragte:<br />

Höchster Herr, worin bestehen die Energien dieses Śiva (Bewusstseins) und<br />

deren Kräfte und Aktivitäten?<br />

VI.1:37<br />

404


VI.1:38<br />

Der HÖCHSTE HERR erwiderte:<br />

Das höchste Sein ist formlos, und doch verfügt es über die folgenden fünf<br />

Aspekte: Wille, Raum, Zeit, Ordnung (oder Schicksal) und die kosmische,<br />

unmanifestierte Natur. Es verfügt über zahllose Kräfte oder Energien oder<br />

Potenzen. Die wichtigsten unter ihnen sind Erkenntnis, Dynamik, Tätigkeit<br />

und Nicht-Tätigkeit.<br />

All diese sind reines Bewusstsein. Weil sie die Potenzen des Bewusstseins<br />

genannt werden, sieht es so aus, als wären sie verschieden vom Bewusstsein,<br />

obwohl sie es tatsächlich nicht sind.<br />

Die gesamte Schöpfung ist wie eine Bühne, auf der all diese Potenzen des<br />

Bewusstseins zur Melodie der Zeit tanzen. Die herausragende unter diesen ist<br />

diejenige, die „Ordnung“ (d.h. die natürliche Ordnung der Dinge und deren<br />

Abfolge) heißt. Sie wird auch als Tätigkeit, Wunsch oder Wille zum Handeln,<br />

Zeit usw. bezeichnet. Diese Potenz legt die spezifischen Eigenschaften jedes<br />

Dinges fest, vom Grashalm bis zum Schöpfer Brahmā. Diese natürliche Ordnung<br />

ist frei von Aufregung, jedoch nicht von ihrer Begrenztheit gereinigt –<br />

sie (d.h. die natürliche Ordnung) tanzt das Tanzdrama namens Welterscheinung.<br />

Sie zeigt die verschiedenen Stimmungen (Leidenschaft, Zorn usw.) und<br />

bringt die verschiedenen Jahreszeiten und Epochen hervor und zieht sie<br />

wieder zurück; sie wird von himmlischer Musik und dem Tosen der Ozeane<br />

begleitet; ihre Bühne wird von Sonne, Mond und Sternen beleuchtet; ihre<br />

Schauspieler und Schauspielerinnen sind die lebendigen Wesen aller Welten<br />

– darin besteht dieser Tanz der natürlichen Ordnung. Der Höchste Herr, der<br />

das unendliche, kosmische Bewusstsein ist, ist der stille, aber wache Zeuge<br />

dieses kosmischen Tanzes. Er ist nicht verschieden vom Tänzer (der kosmischen,<br />

natürlichen Ordnung) und dem Tanz (den Ereignissen).<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

So ist er, der Höchste Herr, der für die Heiligen das beständige Ziel und Objekt<br />

der Verehrung ist. Er ist es in der Tat, der von den weisen Menschen auf<br />

die vielfältigste Art und Weise und in verschiedenen Formen wie beispielsweise<br />

Śiva, Vi«ïu usw. verehrt wird. Höre nun, auf welche Weise er verehrt<br />

werden soll:<br />

Als erstes sollte man die Körper-Idee (d.h. die Idee: „Ich bin dieser Körper“)<br />

aufgeben. Nur die Meditation ist die wahre Verehrung. Folglich sollte man<br />

beständig durch Meditation den Höchsten Herrn der drei Welten verehren.<br />

Wie sollte man diese Kontemplation ausführen? Er ist reine Intelligenz, Er ist<br />

strahlend wie hunderttausend Sonnen, die gleichzeitig aufgehen. Er ist das<br />

Licht, welches alle Lichter erleuchtet, Er ist das innere Licht, der grenzenlose<br />

Raum ist Seine Kehle, das Firmament ist Sein Fuß, die Himmelsrichtungen<br />

sind Seine Arme, die Welten sind die Waffen, die Er in seinen Händen hält, das<br />

gesamte Universum liegt in Seinem Herzen verborgen, die Götter sind die<br />

Haare Seines Körpers, die kosmischen Potenzen sind die Energien in Seinem<br />

Körper, die Zeit ist Sein Torwächter, und Er verfügt über Tausende von Köpfen,<br />

Augen, Ohren und Armen. Er berührt alles, Er schmeckt alles, Er hört<br />

405


alles, Er denkt durch alle, obgleich Er jenseits des Denkens ist. Er tut alles zu<br />

allen Zeiten , Er gewährt das, was man denkt oder wünscht , Er wohnt in<br />

allem, Er ist Alles, Er allein wird von allen gesucht. So sollte man über ihn<br />

kontemplieren.<br />

Dieser Höchste Herr soll nicht mit materiellen Substanzen, sondern nur<br />

vom eigenen Bewusstsein verehrt werden. Nicht durch das Schwenken von<br />

Lichtern oder das Abbrennen von Räucherstäbchen, nicht durch Darbieten<br />

von Blumen, Nahrung und Sandelpaste verehrt man ihn. Erlangt wird er ohne<br />

die geringste Anstrengung – er wird nur durch Selbsterkenntnis verehrt. Dies<br />

ist die höchste Form der Meditation, dies ist die höchste Verehrung: Das kontinuierliche<br />

und ununterbrochene Gewahrsein der innewohnenden Gegenwart,<br />

des inneren Lichtes oder Bewusstseins. Während man tut, was immer<br />

man tut – hören, sehen, berühren, riechen, essen, gehen, schlafen, atmen oder<br />

sprechen – soll man stets die eigene essenzielle Natur als reines Bewusstsein<br />

erkennen. Auf diese Weise erlangt man die Befreiung.<br />

Die Meditation ist Darbieten, die Meditation ist das der Gottheit dargebotene<br />

Wasser zum Waschen der Hände und Füße, die durch Meditation erlangte<br />

Selbsterkenntnis ist die Blume –tatsächlich ist für alldieses die Meditation<br />

erforderlich. Das Selbst wird durch kein anderes Mittel als die Meditation<br />

verwirklicht. Wenn man fähig ist, auch nur dreizehn Sekunden lang zu meditieren,<br />

dann erlangt man, auch wenn man unwissend ist, das Verdienst, eine<br />

Kuh aus Wohltätigkeit gegeben zu haben. Tut man es einhundertundeine<br />

Sekunden lang, dann ist das Verdienst so groß wie bei der Ausführung eines<br />

heiligen Ritus. Beträgt die Dauer zwölf Minuten, dann wird das Verdienst<br />

vertausendfacht. Beträgt die Dauer einen Tag, dann kommt man in das höchste<br />

Reich. Dies ist der allerhöchste <strong>Yoga</strong>. Dies ist das höchste kriyā (Handlung<br />

oder Dienst).Jemand, der diese Art der Verehrung praktiziert, wird selbst von<br />

den Göttern und Dämonen und allen anderen Wesen verehrt. Jedoch handelt<br />

es sich hierbei noch um äußere Verehrung.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Ich werde dir nun die innere Verehrung des Selbst darlegen, die die höchste<br />

aller reinigenden Handlungen ist und welche alle Finsternis vollständig vernichtet.<br />

Dies ist die ununterbrochene Meditation – ob man nun geht oder<br />

steht, schläft oder wacht, handelt oder nicht handelt, in allen und durch alle<br />

Handlungen.. Man sollte den Höchsten Herrn, der im Herzen wohnt und sozusagen<br />

alle Modifikationen innerhalb von einem selbst hervorbringt, verehren.<br />

Man sollte den „bodhaliÇgaæ“ (das manifeste Bewusstsein oder Selbst-<br />

Gewahrsein) verehren, welches schläft und wacht, umhergeht oder steht,<br />

berührt, was es an Berührbarem gibt, aufgibt, was aufzugeben ist, Vergnügen<br />

genießt und verwirft, sich in den verschiedenen äußeren Tätigkeiten ergeht,<br />

allen Handlungen ihren Wert verleiht und als Friede in den lebenswichtigen<br />

Organen des Körpers verbleibt (das Wort deha-liÇgaæ im Text kann sich auch<br />

auf die mit den psychischen Zentren des Körpers verbundenen drei „liÇgaæs“<br />

beziehen) . Diese innere Intelligenz sollte verehrt werden mit all dem, was<br />

VI.1:39<br />

406


ungesucht auf einen zukommt. Nachdem man in der Selbsterkenntnis gebadet<br />

hat, soll man sicher im Lebensstrom und seinen Erfahrungen verbleiben<br />

und diese innere Intelligenz mit den Mitteln der Selbsterkenntnis verehren.<br />

Man sollte den Höchsten Herrn auf die folgende Weise verehren: Er ist das<br />

Licht, erleuchtet von der solaren als auch der lunaren Kraft ; Er ist die Intelligenz,<br />

die auf ewig in sämtlichen materiellen Substanzen verborgen liegt; Er<br />

ist das nach außen gerichtete Gewahrsein, welches durch die Alleen des Körpers<br />

hin zur äußeren Welt fließt; Er ist das prāïa, welches sich im Gesicht<br />

(Nase) bewegt; Durch Ihn werden die Kontakte der Sinne mit ihren Objekten<br />

zu sinnvollen Erfahrungen; Er steuert die Kutsche, die aus prāïa und apāna<br />

besteht; er wohnt im Innersten des Herzens. Er ist der Kenner des Kennbaren<br />

und der Täter aller Handlungen, der Erfahrende aller Erfahrungen, der Denker<br />

aller Gedanken. Er ist derjenige, der sämtliche Teile und Glieder des Körpers<br />

gründlich kennt, der durch Sein und Nicht-Sein wahrgenommen wird<br />

und alle Erfahrungen mit seinem Licht erleuchtet.<br />

Er ist ohne Teile und doch ist Er in allem; Er wohnt im Körper und ist doch<br />

allgegenwärtig; Er genießt und genießt nicht; Er ist die Intelligenz in jedem<br />

Glied. Er ist das Denkorgan im Gemüt. Er entsteht in der Mitte von prāïa und<br />

apāna. Er wohnt im Herzen, in der Kehle, in der Mitte des Gaumens, zwischen<br />

den Augenbrauen und an der Spitze der Nase. Er ist die Realität aller sechsunddreißig<br />

Elemente (oder metaphysischen Kategorien), Er transzendiert<br />

die inneren Zustände, Er ruft die inneren Klänge hervor, und Er gebiert den<br />

Vogel, den man „Gemüt“ nennt. Er ist die Wirklichkeit in allem, was als Einbildung<br />

und Nicht-Einbildung bezeichnet wird. Er wohnt in allen Wesen wie<br />

das Öl im Samen. Er wohnt im Herzenslotos und wiederum auch im gesamten<br />

Körper. Er wird unmittelbar überall von allen gesehen, denn Er ist das reine<br />

Erfahren in allen Erfahrungen – er vermehrt sich scheinbar, wenn Er die<br />

Objekte der Erfahrungen wahrnimmt.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Man sollte darüber kontemplieren, dass der Höchste Herr die Intelligenz<br />

des Körpers ist. Die verschiedenen Funktionen und Organe des Körpers dienen<br />

dieser Intelligenz so, wie Gemahlinnen ihrem Gemahl dienen. Das Gemüt<br />

ist der Bote, der dem Höchsten Herrn das Wissen der drei Welten überbringt<br />

und darbietet. Die zwei fundamentalen Energien, d.h. die Energie der Weisheit<br />

(jñāna śakti) und die Energie der Tätigkeit (kriyā śakti) sind die Gemahlinnen<br />

des Höchsten Herrn. Die verschiedenen Aspekte der Erkenntnis sind<br />

seine Ornamente. Die Organe der Tätigkeit sind die Tore, durch die der<br />

Höchste Herr die äußere Welt betritt. „Ich bin dieses unendliche Selbst, welches<br />

unteilbar ist; Ich bin voll und unendlich“ – so weilt diese Intelligenz im<br />

Körper.<br />

Wer auf diese Weise kontempliert, ist selbst reiner Gleichmut. Sein Verhalten<br />

ist gleichmütig und wird von der Sichtweise des Gleichmuts geleitet. Er<br />

hat den Zustand der natürlichen Güte und inneren Reinheit erlangt und ist<br />

407


herrlich in jedem einzelnen Aspekt seines Seins. Er verehrt den Höchsten<br />

Herrn, der die Intelligenz ist, die seinen ganzen Körper durchdringt.<br />

Diese Verehrung wird beständig Tag und Nacht ausgeführt, und zwar mit<br />

den Objekten, die mühelos erlangt und dem Höchsten Herrn mit einem fest<br />

im Gleichmut verankerten Gemüt und mit dem rechten Geist (denn der<br />

Höchste Herr ist Bewusstsein und nur durch den rechten Geist ansprechbar)<br />

dargeboten werden. Der Höchste Herr soll mit allem verehrt werden, das sich<br />

mühelos erlangen lässt. Man sollte niemals die geringste Anstrengung unternehmen,<br />

um etwas zu erlangen, was man nicht besitzt. Der Höchste Herr soll<br />

mit all den Mitteln des Genießens verehrt werden, die durch den Körper<br />

genossen werden: Durch Essen, Trinken, durch das Zusammenleben mit dem<br />

Ehegatten und andere ähnliche Vergnügen. Der Höchste Herr soll mit den<br />

Krankheiten verehrt werden, die man erfährt, und auch mit sämtlichen Arten<br />

von Unglück oder Leiden, die zu einem kommen. Der Höchste Herr soll mit<br />

den eigenen Aktivitäten einschließlich von Leben und Tod und sämtlichen<br />

Träumen, die man hat, verehrt werden. Der Höchste Herr soll mit der eigenen<br />

Armut und dem eigenen Reichtum verehrt werden. Der Höchste Herr soll<br />

sogar mit Kämpfen und Hader als auch mit Spielen und anderen Zeitvertreiben<br />

verehrt werden; wie auch mit den Manifestationen der Gefühle von Anziehung<br />

und Abstoßung. Der Höchste Herr soll mit den edlen Qualitäten eines<br />

frommen Herzens verehrt werden: Freundschaft, Mitgefühl, Freude und<br />

Gleichgültigkeit.<br />

Der Höchste Herr soll mit allen Arten von Vergnügen verehrt werden, die<br />

ungesucht auf einen zukommen, ob diese Vergnügen nun durch die Schriften<br />

gebilligt oder verboten werden. Der Höchste Herr soll mit den Vergnügen<br />

verehrt werden, die als wünschenswert als auch mit denjenigen, die als nicht<br />

wünschenswert betrachtet werden. Er soll mit denjenigen verehrt werden,<br />

die als angemessen als auch mit denjenigen, die als unpassend gelten. Für den<br />

Zweck dieser Verehrung soll man aufgeben, was verloren ist, und man soll<br />

annehmen und entgegennehmen, was man ohne Mühe empfangen hat.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Dieser Form der Verehrung soll man sich jederzeit hingeben und dabei im<br />

Hinblick auf alle Wahrnehmungen, seien sie nun erfreulich oder unerfreulich,<br />

stets im höchsten Gleichmut verankert sein. Man soll stets alles als gut und<br />

vorzüglich betrachten (oder alles als eine Vermengung von Gut und Böse<br />

ansehen). Durch die Erkenntnis, dass alles das eine Selbst ist, soll man stets<br />

das Selbst in diesem Geiste verehren. Man soll alles stets mit gleicher Sichtweise<br />

betrachten, ob dieses nun erfreulich und durch und durch wunderschön<br />

oder unerträglich und abscheulich ist. Auf diese Art soll man das Selbst<br />

verehren.<br />

Man soll all die verschiedenen trennenden Ideen von „dies bin ich“ oder<br />

„dies bin ich nicht“ aufgeben und erkennen, dass „All dies in der Tat Brahman<br />

ist“, das eine unteilbare und unendliche Bewusstsein. In diesem Geiste soll<br />

man das Selbst verehren. Immer und in allen Formen und deren Modifikatio-<br />

408


VI.1:40<br />

nen soll man das Selbst verehren in und durch alles, was man bekommt. Man<br />

sollte das Selbst nach Aufgabe der Trennung zwischen dem Wünschenswerten<br />

und dem Nicht-Wünschenswerten verehren oder sogar noch während der<br />

Aufrechterhaltung dieser Trennung (diese dann jedoch als Stoff für die Verehrung<br />

verwenden).<br />

Ohne Verlangen und ohne Verweigerung mag man das, was mühelos und<br />

auf natürliche Weise zu einem kommt, genießen. Angesichts bedeutender<br />

oder unbedeutender Objekte soll man weder aufgeregt noch niedergeschlagen<br />

sein, so wie der Himmel und Raum von den verschiedenen Objekten, die<br />

in ihnen wachsen und gedeihen, nicht berührt werden. Man soll das Selbst<br />

ohne jede psychologische Verdrehtheit verehren, indem man jedes Objekt<br />

schätzt, so wie es durch Zufall von Zeit, Ort und Aktivität auf einen kommt –<br />

ganz gleich ob es nun allgemein als gut oder schlecht angesehen wird.<br />

Bei einer solchen Verehrung des Selbst sieht man alle Gegenstände, die bisher<br />

als notwendig für die Verehrung erwähnt worden sind, als gleichwertig,<br />

obgleich die dafür verwendeten Worte unterschiedlich sind. Gleichmut ist<br />

Glück an sich, und gerade dieses Glück ist jenseits von Gemüt und Sinnen.<br />

Was immer auch von diesem Gleichmut berührt wird, erlangt unverzüglich<br />

den Zustand des Glücks, worin auch immer die Beschreibung des Gegenstandes<br />

oder seine Definition bestehen mögen. Das allein wird als Verehrung<br />

angesehen, was von jemandem ausgeführt wird, der sich in einem Zustand<br />

von Gleichmut wie Raum befindet, wenn ferner das Gemüt gänzlich still ohne<br />

die geringste Gedankenwelle geworden ist und wenn da die vollkommen<br />

mühelose Abwesenheit von mentaler Verdrehtheit ist. Indem der weise<br />

Mensch in diesem Zustand des Gleichmuts verankert ist, sollte er in sich<br />

selbst eine unendliche Erweiterung erfahren, während er nach außen hin<br />

seinen natürlichen Tätigkeiten nachgeht, ohne Verlangen oder Zurückweisung.<br />

Darin besteht die Natur des Verehrers dieser Höchsten Intelligenz. In<br />

ihm tauchen Täuschung, Unwissenheit und Ich-Sinn nicht einmal im Traum<br />

auf. Verbleibe in diesem Zustand, oh Weiser, und erfahre alles wie ein Kind.<br />

Verehre den Höchsten Herrn dieses Körpers (die Intelligenz, die ihn durchdringt)<br />

mit allem, was im Verlaufe von Zeit, Umständen und Umgebung zu dir<br />

kommt, und ruhe, frei von Wünschen, im höchsten Frieden.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Was auch immer du tust, und wann immer du es tust (oder Abstand davon<br />

nimmst) – alles ist die Verehrung des Höchsten Herrn, der selbst reines Bewusstsein<br />

ist. Indem all das als die Verehrung des Selbst, welches der Höchste<br />

Herr ist, betrachtet wird, wird dieser erfreut.<br />

Zuneigungen und Abneigungen, Anziehung und Abstoßung finden sich<br />

nicht im Selbst unabhängig von seiner essenziellen Natur – sie sind bloße<br />

Worte. Sogar die Konzepte, auf die Worte wie „Souveränität“, „Armut“, „Vergnügen“,<br />

„Schmerz“, „mein Eigentum“ und „andere“ hinweisen, sind in der Tat<br />

nichts anderes als die Verehrung des Selbst, denn die sie wahrnehmende<br />

409


Intelligenz ist das Selbst. Die Erkenntnis des kosmischen Seins allein ist die<br />

wahre Verehrung des kosmischen Seins.<br />

Es ist einzig das Selbstoder das kosmische Bewusstsein, auf welches durch<br />

Ausdrücke wie „diese Welt“ hingewiesen wird. Oh, wie groß ist doch dieses<br />

rätselhafte Wunderwerk, dass das Selbst, welches reines Bewusstsein oder<br />

Intelligenz ist, auf seltsame Weise seine eigene Natur zu vergessen scheint<br />

und sich selbst als jīva (die individuelle Seele) betrachtet. In Wahrheit existiert<br />

in diesem kosmischen Sein, welches die Realität in allem ist, nicht einmal<br />

die Trennung in Verehrer, Verehrung und Verehrtes. Es ist unmöglich, dieses<br />

kosmische Sein zu beschreiben, welches das gesamte Universum ohne Teilung<br />

erhält und trägt; es ist unmöglich, jemanden darüber zu belehren. Und<br />

wir erachten diejenigen dieser Unterweisung nicht wert, die sich Gott als<br />

begrenzt durch Raum und Zeit vorstellen. Verehre daher das Selbst durch das<br />

Selbst, indem du alle diese begrenzenden Konzepte aufgibst, indem du auch<br />

die Trennung zwischen Verehrer und dem Verehrten (dem Höchsten Herrn)<br />

aufgibst. Sei im Frieden, rein, frei von Verlangen. Denke stets daran, dass alle<br />

deine Erfahrungen und Ausdrucksformen die Verehrung des Selbst sind.<br />

(Als Erwiderung auf Vasi«Âhas Frage nach einer umfänglicheren Erläuterung<br />

von Śiva, Brahman und dem Selbst, weshalb sie so genannt werden und<br />

wie solche Unterscheidungen entstehen, fuhr der Höchste Herr folgendermaßen<br />

fort:)<br />

Die Wirklichkeit ist anfanglos und endlos und wird nicht einmal in irgendetwas<br />

widerspiegelt – das ist die Wirklichkeit. Weil es nicht möglich ist, sie<br />

mit Hilfe der Sinne und des Gemüts zu erfahren, denkt man über sie so, als sei<br />

sie nicht-existent.<br />

(Als Antwort auf Vasi«Âhas Frage: „Wenn sie jenseits des Verstandes ist –<br />

wie kann sie dann realisiert werden?“, erwiderte der HÖCHSTE HERR:)<br />

Im Falle des Suchers, der sich nach Freiheit von der Unwissenheit sehnt und<br />

der folglich mit „sātvic avidyā“ (subtile Unwissenheit) ausgestattet ist , entfernt<br />

diese sātvic avidyā die Unwissenheit auf dieselbe Weise, wie der Wäscher<br />

mit Hilfe einer anderen Art von Schmutz (Seife) den Schmutz aus der<br />

Wäsche wäscht. Auf die gleiche Weise wird die Unwissenheit entfernt – das<br />

Selbst erkennt das Selbst durch das Selbst, und das Selbst sieht das Selbst<br />

aufgrund seiner eigenen, selbstleuchtenden Natur.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Wenn ein Kind mit Kohle spielt, werden seine Finger schwarz. Wenn es seine<br />

Hände wäscht, aber gleich wieder mit der Kohle spielt, werden sie wieder<br />

schwarz. Rührt es die Kohle nach dem Waschen jedoch nicht wieder an, dann<br />

bleiben seine Hände sauber. Wenn jemand auf dieselbe Weise die Natur des<br />

Selbst ergründet und sich gleichzeitig aller Tätigkeiten enthält, die avidyā<br />

oder Unwissenheit fördern und unterstützen, dann verschwindet die Finsternis<br />

der Unwissenheit. Jedoch ist es stets nur das Selbst, welches sich des<br />

Selbst bewusst wird.<br />

VI.1:41<br />

410


Betrachte Vielfalt nicht als das Selbst. Denke nicht, dass die Selbsterkenntnis<br />

das Ergebnis der Unterweisung eines Lehrers sei. Der Guru oder Lehrer<br />

ist mit Sinnen und Verstand ausgestattet – das Selbst oder Brahman ist jenseits<br />

von Sinnen und Verstand. Das, was erst erlangt wird, wenn das andere<br />

aufgehört hat, wird nicht mit Hilfe dieses anderen erlangt, solange dieses<br />

andere noch existiert. Obwohl jedoch die Anweisungen des Lehrers und alles,<br />

was damit zusammenhängt, nicht wirklich ein Mittel zur Erlangung der<br />

Selbsterkenntnis darstellen, werden sie doch allgemein als das Mittel dazu<br />

betrachtet.<br />

Das Selbst enthüllt sich nicht mit Hilfe der Schriften oder der Anweisungen<br />

des Lehrers, und das Selbst enthüllt sich nicht ohne Hilfe der Schriften und<br />

Anweisungen des Lehrers. Es enthüllt sich nur dann, wenn all dieses zusammenkommt.<br />

Die Enthüllung des Selbst geschieht nur dann, wenn die Kenntnis<br />

der Schriften, die Anweisungen eines Lehrers und wahre Schülerschaft zusammentreffen.<br />

Das, was IST, nachdem sämtliche Sinne aufgehört haben zu funktionieren<br />

und sämtliche Vorstellungen von Vergnügen und Schmerz verschwunden<br />

sind, ist das Selbst oder Śiva, was ebenfalls durch Ausdrücke wie „Das“,<br />

„Wahrheit“ oder „Wirklichkeit“ angezeigt wird. Jedoch existiert das, was IST,<br />

wenn all dies aufhört zu existieren, sogar dann, wenn all dies gegenwärtig ist<br />

– wie der grenzenlose Raum. Die Erlöser des Universums (Brahmā, Indra,<br />

Rudra und andere) haben aus Mitgefühl die Schriften wie die Veden und die<br />

Purāïas (die mythischen Legenden) verfasst, um den Getäuschten, den Unwissenden<br />

das spirituelle Erwachen zu ermöglichen und in ihnen den Durst<br />

nach Befreiung zu erwecken. In diesen Schriften haben sie dann Begriffe wie<br />

„Brahman“, „Bewusstsein“, „Śiva“, „Selbst“, „Höchster Herr“, „Höchstes Selbst“<br />

usw. verwendet. Diese Begriffe deuten auf eine Vielfalt, aber in Wahrheit gibt<br />

es diese Vielfalt nicht.<br />

Die durch Begriffe wie „Brahman“ usw. angedeutete Wahrheit ist selbst in<br />

der Tat reines Bewusstsein. Im Vergleich zu diesem ist sogar der grenzenlose<br />

Raum grob und solide wie ein riesiger Berg. Dieses reine Bewusstsein scheint<br />

ein kennbares Objekt zu sein und lässt das Konzept der Intelligenz oder des<br />

Bewusstseins entstehen, obwohl das innerste Selbst keineswegs ein Objekt<br />

der Erkenntnis ist. Aufgrund einer momentan entstehenden Konzeptualisierung<br />

lässt dieses reine Bewusstsein den Ich-Sinn („ich weiß“) entstehen.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Dieser Ich-Sinn lässt schließlich die Ideen von Raum und Zeit entstehen.<br />

Ausgestattet mit der Energie der vitalen Winde wird er sodann zum jīva oder<br />

Individuum. Das Individuum folgt von da an den Diktaten der Vorstellungen<br />

und gleitet in immer dichtere Unwissenheit hinein – so wird das Gemüt geboren<br />

in Verbindung mit dem Ich-Sinn und den verschiedenen Formen psychologischer<br />

Energie. All dies zusammen wird der „ātivāhika-Körper“ genannt –<br />

der subtile Körper, der sich von einer Ebene zur nächsten bewegt.<br />

411


VI.1:42<br />

Danach wurden die Substanzen (die Objekte der Welt), die den subtilen<br />

Energien des ātivāhika-Körpers entsprechen, erdacht und dann die verschiedenen<br />

Sinne (Sehen, Berühren, Hören, Schmecken und Riechen), die ihnen<br />

zugehörigen Objekte und die entsprechenden Erfahrungen geschaffen. Diese<br />

zusammen sind als purya«Âaka bekannt. In ihrem subtilen Zustand werden<br />

sie auch der ātivāhika-Körper genannt.<br />

Auf diese Art und Weise wurden alle diese Substanzen erzeugt, während<br />

doch in Wirklichkeit nichts erzeugt wurde. All diese sind nur scheinbare<br />

Modifikationen in dem einen unendlichen Bewusstsein. So wie Traumobjekte<br />

innerhalb von einem selbsterscheinen, so ist all dies nicht verschieden vom<br />

unendlichen Bewusstsein. Wie wenn man Objekte im Traum erblickt, so<br />

scheinen all diese ebenfalls zu objektiver Realität zu werden.<br />

Sobald die sie betreffende Wahrheit realisiert wiurd, leuchten alle diese Objekte<br />

als der Höchste Herr. Und sogar diese Aussage ist unwahr, denn sie sind<br />

niemals zu materiellen Substanzen oder Objekten geworden. Aufgrund der<br />

eigenen Ideenbildung, die sie als Substanzen betrachtet, welche man erfährt,<br />

erwerben sie den Anschein von Substantialität. Indem so eine Substantialität<br />

heraufbeschworen wird, sieht das Bewusstsein diese Substantialität auch.<br />

Durch solche Ideen wird es dann konditioniert und scheint zu leiden. Konditionierung<br />

bedeutet Sorge und Kummer. Die Konditionierung jedoch gründet<br />

sich auf Gedanken und Ideen (oder sinnliche und psychologische Erfahrungen).<br />

Die Wahrheit jedoch befindet sich jenseits solcher Erfahrungen und<br />

die Welt ist eine Erscheinung wie eine Fata Morgana! Worin besteht die psychologische<br />

Konditionierung, wer konditioniert was und wer wird durch<br />

diese Konditionierung konditioniert? Wer trinkt das Wasser der Fata Morgana?<br />

Wenn daher all dies zurückgewiesen wird, verbleibt als einziges die Realität,<br />

in der es keinerlei Konditionierung gibt und nichts konditioniert ist. Es<br />

mag dann als Sein oder Nicht-Sein dargestellt werden, aber es allein ist. Mentale<br />

Konditionierung ist illusorisches Nicht-Sein – wie ein Gespenst. Sobald es<br />

erlegt ist, hört auch die Illusion der Erschaffung auf. Wer diesen Ich-Sinn und<br />

diese Luftspiegelung namens Schöpfung für real hält, ist nicht bereit für die<br />

Unterweisung. Die Lehrer unterweisen nur Menschen, die mit Weisheit ausgestattet<br />

sind, nicht die Toren. Die letzteren heften ihre Zuversicht und Hoffnung<br />

auf die Welterscheinung – wie ein dummer Vater, der seine Tochter<br />

einem Manne zur Frau gibt, den er nur im Traum gesehen hat!<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort:<br />

Der jīva nimmt alle diese scheinbar seinen Körper bildenden Elemente in<br />

der Leere wahr, so wie die träumende Person in ihrer inneren Leerheit verschiedene<br />

Objekte wahrnimmt. Dies ist auch heute noch wahr; denn das<br />

kosmische Bewusstsein oder das kosmische Sein nimmt das Universum der<br />

Vielfalt in sich selbst so wahr, wie der Träumer die Vielfalt in sich selbst<br />

wahrnimmt.<br />

412


Der jīva hält sich selbst für Brahmā, Vi«ïu usw., aber dies ist reine Gedankenform.<br />

Und doch nimmt diese Gedankenform andere Gedankenformen<br />

wahr und erfährt sie auch. Die einzige Realität all dieser Wahrnehmungen ist<br />

das Urkonzept namens Ich-Sinn, welcher im selben Moment auftaucht, in<br />

dem das Bewusstsein sich selbst als ein Objekt wahrnimmt und glaubt, dieses<br />

dann auch tatsächlich zu sehen (als sein eigenes Objekt). Dieser Moment ist<br />

die Epoche und das Vielfache und die Unterteilungen der Epochen. In jedem<br />

einzelnen Atom der Existenz findet ununterbrochen dieses Drama von Selbst-<br />

Verschleierung und –Enthüllung statt, welches doch nichts anderes als vom<br />

kosmischen Bewusstsein erzeugte Gedankenformen ist. Und doch wird durch<br />

oder im kosmischen Bewusstsein nichts tatsächlich erzeugt, denn es verbleibt<br />

unverwandelt und unverändert.<br />

Der im Traum gesehene Berg scheint nur in Raum und Zeit zu existieren.<br />

Weder benötigt er Platz noch Zeit, um aufzutauchen und zu verschwinden. So<br />

ist es auch mit der Welt. Wie die allmächtige Gottheit ins Sein getreten ist, auf<br />

genau dieselbe Weise tritt auch der Wurm ins Sein - innerhalb eines Augenzwinkerns.<br />

Von Lord Rudra bis hinab zum Grashalm sind sämtliche Lebewesen,<br />

die man im Universum erblicken kann, seien sie nun Mikroorganismen<br />

oder kolossale Persönlichkeiten, auf dieselbe Weise ins Leben getreten. Wenn<br />

einer die eigentliche Natur dieses saæsāra (Welterscheinung) ergründet,<br />

dann verschwindet mit dem Dämmern der Selbsterkenntnis oder Gotteserkenntnis<br />

die Wahrnehmung der Vielfalt. Entgleitet dagegen die wirkliche<br />

Natur des unendlichen Bewusstseins auch nur für eine halbe hundertstel<br />

Sekunde, dann treten all diese unseligen illusorischen Schöpfungen wieder<br />

ins Dasein. Durch den Ausdruck „Brahman“ verweist der weise Mensch auf<br />

den Zustand, in dem man für immer fest im unendlichen Bewusstsein verankert<br />

ist. Sobald dieser Zustand gestört wird, hat man wiederum die Idee von<br />

der Wirklichkeit der Welt, was wiederum zum Auftauchen von unendlicher<br />

Vielfalt führt – Götter, Dämonen, menschliche und untermenschliche Wesen,<br />

Pflanzen und Würmer. Sofern man jedoch den Zustand des kosmischen Bewusstseins<br />

nicht mehr verliert, erkennt man, dass die Wahrheit überall gegenwärtig<br />

ist.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Oh Rāma, nachdem Lord Śiva so gesprochen hatte, nahm er meine Verehrung<br />

entgegen und segnete mich. Dann verließ er mich zusammen mit seiner<br />

Gemahlin Pārvatī. Erfüllt von seiner Unterweisung gab ich meine frühere<br />

Verehrungspraxis auf und begann mit der Verehrung des allgegenwärtigen,<br />

nicht-dualen Selbst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, der irreale jīva nimmt die irreale Welt aufgrund des irrealen Einflusses<br />

der Irrealität wahr. Was kann man in all diesem als real oder irreal<br />

betrachten? Ein eingebildetes Objekt wird von jemand Eingebildetem beschrieben,<br />

und ein anderer glaubt dies im Rahmen seiner eigenen Einbildung<br />

zu verstehen und bildet sich dann ein, etwas verstanden zu haben. So wie<br />

VI.1:43<br />

413


VI.1:44<br />

Flüssiges in Flüssigkeit, Bewegung im Wind und Leere im Raum ist, so ist die<br />

Allgegenwart im Selbst.<br />

Seit der Unterweisung durch den Höchsten Herrn habe ich stets die Verehrung<br />

des unendlichen Selbst gepflegt. Durch die Gnade dieser Verehrung bin<br />

ich ohne jede Sorge, obgleich ich beständig mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten<br />

befasst bin. Ich führe die Verehrung des Selbst – welches ungeteilt,<br />

aber scheinbar geteilt ist – aus mit den Blumen von allem, was auf natürliche<br />

Weise auf mich zukommt und mit den Blumen der Handlungen, die sich natürlich<br />

ergeben.<br />

Verwandtschaftliche Bindungen einzugehen (d.h. zu besitzen und besessen<br />

zu werden) ist natürlich für alle verkörperten Lebewesen. Die Yogis jedoch<br />

sind immer wachsam, und diese Wachsamkeit ist die Verehrung des Selbst.<br />

Durch die Pflege dieser inneren Haltung und mit einem Gemüt, das gänzlich<br />

frei von aller Anhaftung ist, wandere ich durch diesen schrecklichen Urwald<br />

namens saæsāra (Welterscheinung). Wenn du dasselbe tust, wirst du nicht<br />

leiden.<br />

Wenn dir großer Kummer widerfährt (wie der Verlust von Reichtum und<br />

Verwandten), dann ergründe die Wahrheit in der oben beschriebenen Art<br />

und Weise. Du wirst nicht von Freude oder Leid erschüttert werden. Du weißt<br />

nun, wie alle diese Dinge entstehen und wie sie aufhören. Du kennst ferner<br />

das Schicksal des Menschen, der von ihnen in die Irre geführt wird, der ihre<br />

wahre Natur nicht ergründet hat. Weder gehören dir diese Dinge noch gehörst<br />

du zu ihnen. Darin besteht die unwirkliche Natur der Welt –gräme dich<br />

nicht.<br />

Teurer Rāma – du bist reines Bewusstsein, das von der illusorischen Wahrnehmung<br />

der Vielfalt in der Schöpfung nicht berührt wird. Wenn du dies<br />

siehst, wie können dann Ideen des Wünschenswerten und des Nicht-<br />

Wünschenswerten in dir entstehen? Verbleibe oh Rāma, fest im turīya (transzendentalen)-Zustand<br />

des Bewusstseins.<br />

RùMA sprach:<br />

Hoher Herr, ich bin befreit vom Staub der Dualität. Ich habe erkannt, dass<br />

all dieses wahrhaftig Brahman ist. Mein Geist wurde gereinigt, er ist seine<br />

Zweifel und Wünsche und sogar seine Fragen alle losgeworden. Weder verlangt<br />

es mich jetzt nach dem Himmel, noch fürchte ich die Hölle. Ich verbleibe<br />

verankert im Selbst. Durch deine Gnade, oh hoher Herr, habe ich diesen Ozean<br />

des saæsāra (Welterscheinung) überquert. Ich habe die Fülle der direkten<br />

Selbsterkenntnis realisiert.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das wird nicht Tätigkeit genannt, oh Rāma, was du lediglich mit den Tatorganen<br />

und mit einem unangehafteten Gemüt ausführst. Das aus den sinnlichen<br />

Erlebnissen abgeleitete Entzücken ist flüchtig. Eine Wiederholung dieses<br />

Erlebnisses bietet nicht gleichzeitig die Wiederholung desselben Entzückens.<br />

Nur ein Tor hegt Wünsche nach solchen momentanen Freuden? Au-<br />

414


ßerdem – ein Objekt kann Vergnügen nur dann geben, wenn es dich nach ihm<br />

verlangt. Daher gehört das Vergnügen immer auch zum Verlangen. Gib daher<br />

den Wunsch oder das Verlangen auf.<br />

Wenn du dann im Verlaufe der Zeit die Erfahrung dessen (des Selbst) erlangt<br />

hast, dann speichere diese Erfahrung nicht in deinem Gemüt oder Ich-<br />

Sinn auf, um sie in der Form eines Wunsches wiederzubeleben. Denn es wäre<br />

unweise, wieder in das Tal des Ich-Sinnes zu stürzen, nachdem man einmal<br />

Platz auf dem Gipfel der Selbsterkenntnis genommen hat. Lass die Hoffnungen<br />

fahren und die Ideen schwinden; lass das Gemüt den Zustand des Nicht-<br />

Gemüts erlangen, indem du unangehaftet lebst. Du bist nur im Zustand der<br />

Unwissenheit gebunden. Verfügst du dagegen über Selbsterkenntnis, bist du<br />

nicht der Bindung unterworfen. Strebe unbedingt danach, wachsam in der<br />

Selbsterkenntnis zu verbleiben.<br />

Wenn du dich nicht mit den Sinneserfahrungen befasst und alles das, was<br />

ungesucht auf dich zukommt, erfährst, befindest du dich in einem Zustand<br />

von Gleichmut und Reinheit, frei von latenten Neigungen und Erinnerungen.<br />

In einem solchen Zustand, der rein wie der Himmel ist, wirst du nicht einmal<br />

von tausend Zerstreuungen befleckt. Sobald der Kenner, das Gekannte und<br />

das Kennen im Selbst vereint sind, wird der reine Erfahrende in sich selbst<br />

nie wieder eine Trennung erzeugen.<br />

Saæsāra (Welterscheinung) erscheint und verschwindet durch die geringste<br />

Bewegung im Gemüt (nämlich sobald das Gemüt „zwinkert“). Mache das<br />

Gemüt durch die Zurückhaltung des prāïa und auch der latenten Neigungen<br />

(vāsanā) „nicht-zwinkernd“ (frei von den Gedankenwellen). Durch die Vibration<br />

des prāïa taucht saæsāra auf und verschwindet wieder – mache das<br />

prāïa durch fleissige Praxis frei von diesen Bewegungen. Durch das Entstehen<br />

und das Aufhören der Torheit (Unwissenheit) entstehen und vergehen<br />

die selbst-bindenden Handlungen – halte diese mit den Mitteln der Selbst-<br />

Disziplin und den Anweisungen der Lehrer und der Schriften zurück.<br />

Diese Weltillusion ist durch die Bewegung der Gedankenwellen im Gemüt<br />

entstanden – hören diese auf, dann hört auch die Illusion auf, und das Gemüt<br />

wird zum Nicht-Gemüt. Erlangt werden kann dies auch durch die Zurückhaltung<br />

des prāïa. Dies ist der höchste Zustand. Die Seligkeit, die im Zustand des<br />

Nicht-Gemüts erfahren wird, ist unverursacht und wird nicht einmal in den<br />

höchsten Himmeln gefunden. In Wahrheit ist diese Seligkeit unsäglich und<br />

unbeschreiblich, und sie sollte nicht einmal als Glück bezeichnet werden! Das<br />

Gemüt des Wissenden ist Nicht-Gemüt – es ist reines sātva. Nach einer gewissen<br />

Zeit entsteht aus diesem Nicht-Gemüt der als turīya-ātīta bezeichnete<br />

Zustand (der Zustand jenseits des transzendentalen oder des turīyā-<br />

Zustandes).<br />

* * *<br />

415


Die Geschichte vom Holzapfel<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In diesem Zusammenhang, oh Rāma, höre dir die folgende, sehr lehrreiche<br />

Parabel an, die ich dir nun erzählen möchte.<br />

Es gibt da eine Holzapfelfrucht, die unermesslich groß ist und niemals verdirbt<br />

oder verfault, obgleich sie bereits seit unzähligen Äonen existiert. Sie ist<br />

die Quelle und die Grundlage des Nektars der Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit.<br />

Sie ist die Heimstatt des Glückes selbst. Obgleich sie bereits sehr, sehr<br />

alt ist, ist sie auf ewig jung und neu, wie der Neumond. Sie ist das eigentliche<br />

Herz des Universums, sie ist bewegungslos und wird nicht einmal von den<br />

Kräften der kosmischen Auflösung erschüttert. Diese Holzapfelfrucht, die<br />

unmessbar groß ist, ist die ursprüngliche Quelle dieser Schöpfung.<br />

Auch wenn diese Frucht reif geworden ist, fällt sie nicht herunter. Sie ist<br />

immer ausgereift, wird aber niemals überreif. Nicht einmal der Schöpfer<br />

Brahmā oder Vi«ïu und Rudra oder andere Götter kennen den Ursprung<br />

dieser Holzapfelfrucht. Niemand hat jemals den Samen oder den Baum gesehen,<br />

auf dem diese Frucht wächst. Das Einzige, was man über sie zu sagen<br />

vermag, ist, dass diese Frucht existiert, und zwar ohne Anfang, Mitteund<br />

Ende, ohne Wandel und ohne Modifikation. Innerhalb dieser Frucht gibt es<br />

überhaupt keine Vielfalt – sie ist ganz voll ohne jede Leerheit. Sie ist die Urquelle<br />

aller Freuden und Entzücken, und zwar von der Freude des einfachen<br />

Mannes bis hin zur höchsten Freude der Gottheiten. Diese Frucht ist selbst<br />

nichts anderes als die Manifestation der Energie des komischen Bewusstseins.<br />

Diese Energie des unendlichen Bewusstseins hat, ohne auch nur einen<br />

Moment lang ihre eigene wahre Natur aufzugeben, sozusagen diese Schöpfung<br />

durch bloßes Wollen innerhalb ihrer eigenen Intelligenz manifestiert.<br />

Und tatsächlich ist nicht einmal dies wahr (nämlich dass sie es so gewollt<br />

hat)! Der Ich-Sinn, den ein solches Wollenvoraussetzt, ist selbst irreal –aber<br />

daraus sind alle Elemente und die ihnen entsprechenden subjektiven Sinne<br />

entstanden. In Wahrheit ist diese Energie des unendlichen Bewusstseins<br />

selbst Zeit, Raum, natürliche Ordnung, Ausbreitung der Gedanken, Anziehung<br />

und Abstoßung, Ich-heit, Du-heit und Es-heit, unten, oben, die anderen Himmelsrichtungen,<br />

die Berge, das Firmament und die Sterne, Erkenntnis und<br />

Unwissenheit – sie ist alles, was ist, war und jemals sein wird. All dies ist<br />

nichts anderes als die Energie des unendlichen Bewusstseins.<br />

Obgleich sie Eines ist, wird sie als verschiedene Lebewesen wahrgenommen<br />

– sie ist weder eins noch viele. Sie ist nicht einmal sie selbst! Verankert<br />

ist sie in der Wirklichkeit. Sie ist höchster, alles umfassender Friede. Sie ist<br />

das eine, unermesslich große kosmische Wesen oder Selbst. Sie ist die (kosmische)<br />

Energie des (kosmischen) Bewusstseins.<br />

VI.1:45<br />

416


Die Geschichte vom Fels<br />

* * *<br />

VI.1:46<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es gibt noch eine weitere Geschichte, oh Rāma, die dies illustriert. Ich werde<br />

sie dir nun erzählen.<br />

Es gibt einen großen Fels voll Zärtlichkeit und Liebe, der immer ganz klar<br />

und deutlich wahrgenommen wird, der weich ist, allgegenwärtig und ewiglich.<br />

In ihm blühen zahllose Lotosblüten. Manchmal berühren sich die Blätter<br />

dieses Lotos, manchmal nicht, manchmal zeigen sie sich dem Betrachter und<br />

manchmal verbergen sie sich vor ihm. Manche schauen abwärts, andere wiederum<br />

aufwärts, während die Wurzeln mancher miteinander verflochten<br />

sind. Manche haben aber auch überhaupt keine Wurzeln. Alle Dinge existieren<br />

darin, obwohl sie aber auch nicht darin sind.<br />

Oh Rāma, dieser Fels ist in Wahrheit das kosmische Bewusstsein; in seiner<br />

Homogenität ist es felsengleich. Und doch erscheinen in ihm alle die verschiedenen<br />

Lebewesen des Universums. So wie sich jemand innerhalb eines<br />

Steinblocks verschiedene Figuren und Formen vorstellt, wird auch dieses<br />

Universum fälschlicherweise in diesem Bewusstsein gesehen. Ein Fels bleibt<br />

ein Fels, auch wenn ein Bildhauer verschiedene Figuren aus diesem Fels<br />

heraus „erschafft“, und ebenso steht es auch mit diesem kosmischen Bewusstsein,<br />

dass eine homogene Masse von Bewusstsein ist. So wie ein massiver<br />

Fels potenziell verschiedene Figuren enthält, die aus ihm herausgearbeitet<br />

werden können, so existieren die verschiedenen Namen und Gestalten der<br />

Kreaturen in diesem Universum potentiell im kosmischen Bewusstsein. So<br />

wie ein Fels immer ein Fels bleibt, behauen oder unbehauen, so bleibt Bewusstsein<br />

immer Bewusstsein, ob die Welt nun erscheint oder nicht. Die<br />

Welterscheinung ist nichts als ein leerer Ausdruck – seine Substanz ist tatsächlich<br />

nur Bewusstsein und nichts anderes.<br />

In Wahrheit sind alle diese Manifestationen und Modifikationen nichts anderes<br />

als Brahman, das kosmische Bewusstsein, obschon nicht im Sinne der<br />

Manifestation oder Modifikation (d.h. nicht als diese manifestierten Formen).<br />

Sogar solche Unterscheidungen, nämlich „Modifikation im Sinne von Modifikation<br />

oder in irgendeinem anderen Sinn“, sind in Brahman bedeutungslos.<br />

Werden solche Ausdrücke im Zusammenhang mit Brahman benutzt, dann<br />

bedeuten sie etwas ganz anderes, wie das Wasser in einer Fata Morgana. Weil<br />

ein Same nie etwas anderes als den Samen enthalten kann, sind auch die<br />

Blüten und Früchte von derselben Natur wie der Same, und die Substanz des<br />

Samens ist auch die Substanz der ihr entspringenden Wirkungen. Auf dieselbe<br />

Weise kann aus der homogenen Masse des kosmischen Bewusstseins nicht<br />

etwas anderes als das entspringen, was seiner Essenz entspricht. Sobald<br />

417


diese Wahrheit realisiert wird, hört die Dualität auf. Bewusstsein wird niemals<br />

zu Un-Bewusstheit. Sollte es da eine Modifikation geben, dann ist diese<br />

selbst nichts als Bewusstsein. Daher ist all dies– was auch immer, wo auch<br />

immer und in welcher Form es auch immer sein mag – nichts als Brahman. All<br />

dieses existiert für immer in seinem potentiellen Zustand in dieser Masse aus<br />

homogenem Bewusstsein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Zeit, Raum und die anderen Faktoren dieser sogenannten Schöpfung (die in<br />

Wahrheit nur ein weiterer Aspekt des Bewusstseins ist), sind nichts anderes<br />

als eben dieses Bewusstsein. Wenn erkannt wird, dass all diese nichts als<br />

Gedanken und Ideen sind und das Selbst Eines und unteilbar ist, wie können<br />

sie dann als unwirklich betrachtet werden? Im Samen gibt es nichts anderes<br />

als den Samen – da ist keine Verschiedenheit. Zur gleichen Zeit gibt es die<br />

Idee der potentiellen Verschiedenheit (von Blüten, Früchten usw.), die<br />

angenommenerweise innerhalb des Samens existiert. Und trotzdem bleibt<br />

dieses kosmische Bewusstsein Eines – es ist ohne (dualistische) Vielfalt; doch<br />

es wird gesagt, dass das Universum der Vielfalt nur als Vorstellung existiert.<br />

Der Fels ist einer – die Idee der zahllosen Lotosse darin taucht nur in Verbindung<br />

mit diesem einzelnen Fels auf. Auf dieselbe Weise entsteht die Idee<br />

der Vielfalt im Bewusstsein, ohne aber Vielfalt zu verursachen. Aber wie das<br />

Wasser in einer Fata Morgana gleichzeitig ist und nicht ist, ebenso verhält es<br />

sich mit der Vielfalt in Verbindung mit dem unendlichen Bewusstsein. All dies<br />

ist in der Tat Brahman, das unendliche Bewusstsein. So wie die Idee der Existenz<br />

von Lotosblüten im Fels den Fels nicht zerstört, so ist Brahman<br />

unbetroffen von der Welterscheinung, die in Brahman als die eigene Natur<br />

Brahmans existiert. In Wahrheit gibt es keinen Unterschied zwischen Brahman<br />

und der Welt – sie sind Synonyme. Sobald diese Realität erkannt wird,<br />

wird Brahman allein gesehen.<br />

So wie alles was in dieser Welt als Wasser gesehen wird, nur Wasserstoff<br />

und Sauerstoff ist, so ist die Welterscheinung nichts anderes als Brahman.<br />

Das eine Bewusstsein erscheint als das Gemüt, die Berge usw., so wie die<br />

vielfarbigen Federn und Flügel des Pfaus schon im Ei des Pfaus gegenwärtig<br />

sind. Dieselbe Macht oder Potentialität wohnt auch im unendlichen Bewusstsein.<br />

Was auch immer jetzt als die verschiedenen Objekte des Universums<br />

wahrgenommen wird, wird, sobald alles mit dem Auge der Weisheit (dem<br />

Auge, welches selbst Weisheit ist) betrachtet wird, nur noch als Brahman<br />

oder das unendliche Bewusstsein gesehen. Denn all dieses ist in Wirklichkeit<br />

non-dual und nur scheinbar vielfältig, so wie die Wahrnehmung der Vielfalt<br />

im Flüssigen des Pfaueneis. Die Idee von Brahman und der Welt ist daher<br />

sowohl dual als auch non-dual. Das, was das Substrat all dieser Ideen von<br />

Einheit und Vielfalt ist – das ist der höchste Zustand.<br />

Das unendliche Bewusstsein durchdringt das gesamte Universum, während<br />

das Universum im unendlichen Bewusstsein existiert. Die Beziehung ist eine<br />

der Vielfalt und Nicht-Vielfalt zugleich – so wie die verschiedenen Teile des<br />

VI.1:47<br />

418


VI.1:48<br />

Pfaus sich in ein und derselben Eisubstanz befinden. Wo in all diesem ist<br />

Vielfalt?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

All dies – der Ich-Sinn und der Raum usw. – hat die Natur realer Substanzen<br />

angenommen, obwohl diese niemals erzeugt worden sind. Wo nichts entstanden<br />

ist (erschaffen wurde), wird alles gesehen. Auf dieselbe Weise verweilen<br />

die Weisen, die Götter und die Vollkommenen in ihrem transzendentalen<br />

Bewusstsein, die Seligkeit ihrer eigenen Natur kostend. Sie haben die Illusion<br />

der Dualität zwischen Betrachter und Objekt und den daraus folgenden<br />

Strom der Gedanken aufgegeben. Ihr Blick ist fest und ruhig.<br />

Obwohl diese Weisen in dieser Welt tätig sind, hegen sie nicht die geringste<br />

Idee einer illusorischen Existenz. Fest sind sie verwurzelt in der Erkenntnis,<br />

dass es keine Beziehung zwischen Kenner und Gekanntem (Subjekt und Objekt)<br />

gibt. Ihre Lebenskraft wird nicht erregt.. Sie sind wie gemalte Figuren in<br />

einem Gemälde – ihr Gemüt bewegt sich nicht, so wie sich das Gemüt gemalter<br />

Figuren nicht bewegt. Denn sie haben die konzeptualisierende Neigung<br />

des Bewusstseins völlig aufgegeben.<br />

Sie reagieren angemessenen auf die Gegebenheiten des Alltags mit Hilfe<br />

einer geringfügigen Bewegung im Bewusstsein (so wie es auch der Höchste<br />

Herr tut). Und doch erzeugt auch diese geringe Gedankenbewegung und die<br />

Erfahrung des Kontaktes des Betrachters mit seinem Objekt in ihnen großes<br />

Entzücken. Ihr Bewusstsein ist absolut rein – gereinigt von allen mentalen<br />

Bildern (Konzepten) und Ideen.<br />

Ein solcher Zustand der Reinheit des Selbst, der wahren Natur des unendlichen<br />

Bewusstseins, ist keine Sichtweise oder Art, die Dinge zu sehen (d.h.<br />

eine Erfahrung des Gemüts und der Sinne). Dieser Zustand kann nicht gelehrt<br />

werden. Er ist weder sehr einfach zu erlangen, noch ist er weit entfernt oder<br />

unmöglich. Nur durch direkte Erfahrung wird er erlangt.<br />

Allein dies existiert und nichts anderes – weder der Körper und die Sinne<br />

noch die Lebenskraft, weder das Gemüt noch das Lagerhaus der Erinnerungen<br />

oder latenten Neigungen, weder der jīva noch überhaupt eine Bewegung<br />

im Bewusstsein, weder Bewusstsein noch die Welt. Es ist weder real noch<br />

irreal oder irgendetwas dazwischen, es ist weder leer noch nicht-leer, weder<br />

Zeit noch Raum noch Substanz. Frei von all diesem und frei von den tausend<br />

Schleiern im Herzen sollte man das Selbst in allem gewahren, was wahrgenommen<br />

wird.<br />

Es ist weder der Anfang noch das Ende. Da es überall gegenwärtig ist, wird<br />

es für etwas anderes gehalten. Tausende werden geboren, und Tausende<br />

sterben – das Selbst, welches überall ist, innerhalb und außerhalb, wird davon<br />

nicht berührt. Es verbleibt in allen diesen Körpern usw. so, als wäre es<br />

nur ganz wenig verschieden vom Unendlichen.<br />

Obschon glückstrahlend in die verschiedensten Tätigkeiten involviert, ist es<br />

ohne Sinn von Ich und Mein. Denn was auch immer in dieser Welt wahrge-<br />

419


nommen wird, ist nur Brahman, frei von allen Eigenschaften und Qualitäten.<br />

Es ist ewiglich, friedvoll, rein und gänzlich still.<br />

RùMA fragte:<br />

Wenn Brahman niemals irgendwelchen Modifikationen unterworfen ist,<br />

wie kann dann diese Welterscheinung, die real und irreal zugleich ist, in ihm<br />

auftauchen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Echte Modifikation, oh Rāma, ist eine Umwandlung von einer Substanz in<br />

eine andere, so wie beim Gerinnen von Milch das Geronnene nicht wieder in<br />

den Milchzustand zurückversetzt werden kann. Mit Brahman ist dies aber<br />

nicht der Fall, da es vor der Welterscheinung unmodifiziert war und nach<br />

dem Ende der Welterscheinung seinen unmodifizierten Zustand wiedererlangt.<br />

Sowohl am Anfang wie auch am Ende ist es stets unmodifiziertes, homogenes<br />

Bewusstsein. Die momentanen und scheinbaren Modifikationen<br />

darin sind nur eine schwache Unruhe innerhalb des Bewusstseins und in<br />

keinem Fall eine echte Modifikation. In diesem Brahman gibt es weder ein<br />

Subjekt noch ein Objekt des Bewusstseins. Was ein Ding am Anfang und auch<br />

am Ende ist, das ist es und nichts anderes. Sollte es in der Mitte als irgendetwas<br />

anderes erscheinen, dann muss diese Erscheinung als irreal betrachtet<br />

werden. Folglich ist das Selbst das Selbst am Anfang und am Ende und natürlich<br />

auch in der Mitte! Es wird niemals irgendwelchen Umwandlungen oder<br />

Modifikationen unterworfen.<br />

RùMA fragte: In diesem Selbst, welches reines Bewusstsein ist, wie kann<br />

darin diese schwache Unruhe entstehen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ich bin davon überzeugt, oh Rāma, dass dieses unendliche Bewusstsein allein<br />

real ist, und dass es in seiner Natur überhaupt keine Unruhe gibt. Worte<br />

wie „Brahman“ usw. verwenden wir nur zum Zweck der Kommunikation oder<br />

Unterweisung, nicht aber, damit die Ideen des Einen und Zweiten entstehen.<br />

Du, ich und alle diese Dinge sind reines Brahman – Unwissenheit gibt es<br />

überhaupt nicht.<br />

RùMA fragte erneut:<br />

Und doch hast du mich am Ende des vorherigen Abschnitts dazu ermahnt,<br />

die Natur dieser Unwissenheit zu ergründen!<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ja, weil du zu dieser Zeit noch nicht vollständig erwacht warst. Ausdrücke<br />

wie „Unwissenheit“, „jīva“ usw. sind Hilfsmittel, um die Unerwachten zu instruieren.<br />

Bevor man die Erkenntnis der Wahrheit mitteilt, sollte man den<br />

gesunden Menschenverstand und andere geeignete Mittel (das im Text verwendete<br />

Wort yuktti bedeutet im Alltagsgebrauch auch „Trick“) verwenden,<br />

um den Sucher zu erwecken. Wenn man einer unerwachten Person erklärt:<br />

„All dies ist Brahman“, dann wäre das so, als würde ein Mann einen Baum<br />

VI.1:49<br />

420


VI.1:50<br />

anflehen, ihn von seinem Leid zu befreien. Es geschieht durch geeignete Mittel,<br />

dass der Unerweckte erweckt wird. Der Erweckte wird dann durch die<br />

Wahrheit erleuchtet. Daher, da du nun erwacht bist, erkläre ich dir die Wahrheit.<br />

Du bist Brahman, ich bin Brahman, das gesamte Universum ist Brahman.<br />

Was auch immer du tust – realisiere stets diese Wahrheit. Dieses Brahman<br />

oder das Selbst allein ist die Wirklichkeit in allen Wesen, so wie der Ton die<br />

eigentliche Substanz aller Töpfe ist. So wie der Wind und seine Bewegung<br />

nicht verschieden sind, so sind das Bewusstsein und seine inneren Bewegungen<br />

(Energien), die alle Manifestationen verursachen, nicht- verschieden<br />

voneinander. Es ist der Same der Idee, der auf den Boden des Bewusstseins<br />

fällt und dann all diese scheinbare Vielfalt entstehen lässt. Fällt dieser Same<br />

nicht, dann sprießt auch das Gemüt nicht.<br />

RùMA fragte:<br />

Was erkannt werden kann, ist erkannt; was gesehen werden kann, wird gesehen<br />

– wir alle sind angefüllt mit der höchsten Wahrheit, dank der nektargleichen<br />

Weisheit des Brahman, die du uns mitgeteilt hast. Diese Fülle ist<br />

angefüllt mit Fülle. Fülle ist aus der Fülle geboren. Fülle füllt Fülle. In der<br />

Fülle ist die Fülle für immer enthalten. Bitte habe Nachsicht mit mir - um<br />

mein Gewahrsein noch zu vertiefen, erlaube mir noch eine Frage: Die Sinnesorgane<br />

sind offensichtlich in allen gegenwärtig – wie kann es dann geschehen,<br />

dass eine tote Person keine Sinneserfahrungen mehr macht, obwohl sie ihre<br />

Objekte zu Lebzeiten mit Hilfe dieser Organe erfahren hat?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Getrennt vom reinen Bewusstsein gibt es weder die Sinne noch das Gemüt<br />

noch ihre Objekte. Es ist nur dieses Bewusstsein, welches als die Objekte in<br />

der Natur und als die Sinne in dieser Person auftritt. Wenn dieses Bewusstsein<br />

scheinbar zum subtilen Körper (purya«Âaka) geworden ist, reflektiert es<br />

die externen Objekte.<br />

Das ewige und unendliche Bewusstsein ist in Wahrheit frei von allen Modifikationen.<br />

Taucht in ihm jedoch die Idee „Ich bin“ auf, dann wird diese Idee<br />

als der jīva bezeichnet. Es ist dieser jīva, der im Körper lebt und sich bewegt.<br />

Sobald die Idee des „Ich“ auftaucht (ahaæbhāvanā), wird es als Ich-Sinn<br />

(ahaækāra) bezeichnet. Gibt es dann Gedanken (manana), dann spricht man<br />

vom Gemüt (manas). Taucht ein Gewahrsein (bodha) auf, dann bezeichnet<br />

man dieses als Geist oder Intelligenz (buddhi). Wenn Bewusstsein von der<br />

individuellen Seele (indra) gesehen (d­ś) wird, spricht man von den Sinnen<br />

(indriya). Sobald die Idee des Körpers vorherrschend ist, erscheint Bewusstsein<br />

als solcher; ist die Idee der verschiedenen Objekte vorherrschend, dann<br />

erscheint Bewusstsein als die verschiedenen Objekte. Durch die Fortdauer<br />

dieser Ideen verdichtet sich dann die subtile Persönlichkeit langsam in die<br />

materielle Substantialität. Dasselbe Bewusstsein denkt dann schließlich: „Ich<br />

bin der Körper“, „Ich bin ein Baum“ usw. Dadurch getäuscht, steigt und fällt<br />

421


es, bis es schließlich eine reine Geburt erlangt und spirituell erwacht. Durch<br />

Hingabe an die Wahrheit erlangt es dann die Selbsterkenntnis.<br />

Ich werde dir nun erklären, wie es die Objekte wahrnimmt. Ich sprach davon,<br />

dass das Bewusstsein aufgrund der Idee „Ich bin“ als der jīva im Körper<br />

wohnt. Sobald dessen Sinne auf ähnliche Körper treffen, gibt es Kontakt zwischen<br />

beiden und den Wunsch, diese zu kennen (eins mit ihnen zu werden).<br />

Sobald dieser Kontakt entsteht, wird das Objekt in einem selbst reflektiert<br />

und der jīva nimmt diese Reflektion wahr, wobei er jedoch glaubt, dass sich<br />

diese Reflektion außerhalb befindet! Der jīva kennt nur diese Reflektion, was<br />

bedeutet, dass er sich selbst kennt. Dieser Kontakt ist die Ursache der Wahrnehmung<br />

externer Objekte. Folglich ist sie nur im Fall des Unwissenden möglich,<br />

dessen Gemüt getäuscht ist, aber nicht im Fall des befreiten Weisen.<br />

Natürlich sind der jīva (der ja nur eine Idee ist) und alles was mit ihm zusammenhängt,<br />

leblos und nicht-fühlend. Daher ist die Reflektion, die gesehen<br />

und erfahren wird, nichts als eine optische Täuschung oder geistige Verdrehtheit.<br />

Das Selbst ist alles in Allem und für alle Zeiten.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Arjuna<br />

VI.1:51<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So wie der kosmische Körper (zusammengesetzt aus der Geist-Energie und<br />

den kosmischen Elementen) oder der erste purya«Âaka (der kosmische subtile<br />

Körper) im unendlichen Bewusstsein als eine Idee auftauchte, so tauchten<br />

alle anderen Körper (purya«Âaka) auf dieselbe Weise auf. Was immer der jīva<br />

(welcher der purya«Âaka oder subtile Körper ist) wahrnimmt, während er<br />

noch in der Gebärmutter lebt, betrachtet er als existent. So wie sich im Makrokosmos<br />

die kosmischen Elemente entfalten, so werden im Mikrokosmos die<br />

Sinne entsprechend diesen Elementen entwickelt. Natürlich werden sie nicht<br />

wirklich erschaffen. Ausdrücke und Beschreibungen dieser Art werden nur<br />

zum Zweck der Unterweisung verwendet. Diese Ideen, die man in der Unterweisung<br />

benutzt, werden schließlich durch die Selbstergründung zerstreut,<br />

welche sie ursprünglich eingeführt und gefördert hat.<br />

Auch wenn du diese Unwissenheit sehr sorgfältig und mit kühnem Verstand<br />

beobachtest, siehst du sie nirgendwo – sie verschwindet einfach. Das Irreale<br />

wurzelt in der Irrealität. Wasser in der Luftspiegelung gibt es nicht wirklich –<br />

wir reden nur davon. Das Wasser in der Luftspiegelung, welches unwirklich<br />

ist, ist niemals Wasser gewesen. Im Lichte der Wahrheit wird die Realität<br />

aller Dinge enthüllt, und Täuschung und illusorische Wahrnehmung verschwinden.<br />

422


Das Selbst ist wirklich. Jīva, purya«Âaka (der subtile Körper) und alles andere<br />

sind unwirklich – die Ergründung ihrer Natur ist ohne jeden Zweifel nichts<br />

als die Ergründung ihrer Unwirklichkeit! Nur um jemanden über die Realität<br />

ihrer Irrealität aufzuklären, existieren Ausdrücke wie „jīva“, „purya«Âaka“ usw.<br />

Dieses unendliche Bewusstsein hat sozusagen die Natur des jīva angenommen<br />

und, seine wahre Natur vergessend, erfährt alles, was es sich als existierend<br />

vorstellt. So wie für ein Kind das Gespenst, welches es in der Nacht sieht,<br />

real ist, so nimmt der jīva die fünf Elemente wahr, die er als existierend betrachtet.<br />

Diese sind jedoch nichts als Ideen des jīva, obwohl der jīva sie als<br />

außerhalb von sich selbst sieht. Er glaubt, dass einige von ihnen innerhalb<br />

und andere außerhalb von ihm selbst sind. Und auf diese Weise erfährt er sie<br />

dann auch.<br />

Erkenntnis wohnt dem Bewusstsein inne wie die Leere dem Raum. Jedoch<br />

glaubt das Bewusstsein nun, dass Wissen sein eigenes Objekt sei. Die verschiedenen<br />

Elemente sind durch Zeit und Raum begrenzt und sind selbst<br />

nichts anderes als die eingebildeten Aufteilungen im Bewusstsein, welche<br />

durch diese Trennung (in Bewusstsein und Erkenntnis als Subjekt und Objekt)<br />

selbst hervorgerufen worden sind. Solche Aufteilungen existieren nicht<br />

im Selbst, das Zeit und Raum überschreitet.<br />

Und doch ersinnt das unendliche Bewusstsein mit dem ihm eingeborenen<br />

Wissen die verschiedenen Kreaturen. Darin eben besteht seine Macht, die von<br />

nichts übertroffen werden kann. Der leblose Raum ist nicht in der Lage, sich<br />

selbst in sich selbst zu reflektieren. Weil die Natur Brahmans jedoch das<br />

unendliche Bewusstsein ist, reflektiert Brahman sich selbst in sich selbst und<br />

nimmt sich selbst als eine Dualität wahr, obgleich es körperlos ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was immer dieses Bewusstsein ersinnt, das betrachtet es als existierend –<br />

seine Konzepte und Ideen sind niemals unfruchtbar. In einer goldenen Halskette<br />

gibt es beides – das Gold und die Kette, wovon das eine die Realität (das<br />

Gold) und das andere die Erscheinung (die Kette) ist. Ebenso gibt es im Selbst<br />

sowohl Bewusstsein als auch die Idee der materiellen (leblosen) Substantialität.<br />

Da Bewusstsein allgegenwärtig ist, ist es immer im Gemüt, in welchem die<br />

Idee auftaucht, gegenwärtig.<br />

Der Träumer träumt von einem Dorf, das sein Gemüt beschäftigt und in<br />

dem er einige Zeit lebt. Nur wenig später träumt er von einer anderen Situation<br />

und glaubt, er würde nun dort leben. Auf dieselbe Weise wandert der jīva<br />

von einem Körper zum nächsten, und der Körper ist nur die Reflektion der<br />

vom jīva gehegten Idee. Nur das Unwirkliche (der Körper)stirbt, und dieses<br />

Unwirkliche wird dann scheinbar in einem neuen Körper wiedergeboren. So<br />

wie man im Traum gesehene und nicht gesehene Dinge erträumt, so erfährt<br />

der jīva in seinem Traum die Welt und sieht sogar, was in der Zukunft geschehen<br />

wird.<br />

423


VI.1:52<br />

So wie ein Fehler der Vergangenheit geradegerichtet und durch die Eigenbemühung<br />

des heutigen Tages in eine gute Tat verwandelt werden kann, so<br />

können die Gewohnheiten der Vergangenheit durch angemessene Eigenbemühung<br />

überwunden werden. Jedoch kann die Idee des Jīva-seins sowie der<br />

Existenz und des Funktionierens der Augen usw. nur durch die Erlangung der<br />

Befreiung abgeschafft werden. Bis dahin werden sie abwechselnd verborgen<br />

oder offenbar.<br />

Eine vom Bewusstsein gehegte Idee erscheint als Körper. Sie verfügt über<br />

einen korrespondierenden subtilen Körper (ātivāhika, der auch purya«Âaka<br />

genannt wird), der aus Gemüt, Intellekt, Ich-Sinn und den fünf Elementen<br />

zusammengesetzt ist. Das Selbst ist formlos, während der purya«Âaka in dieser<br />

Schöpfung in fühllosen und fühlenden Körpern umherwandert, bis er sich<br />

selbst gereinigt hat, wie im Tiefschlaf lebt und die Befreiung erlangt. Der<br />

subtile Körper existiert die gesamte Zeit über, während dem Träumen und<br />

Schlafen. Er fährt fort, in den nicht-fühlenden „Körpern“ zu existieren (die<br />

wie unbelebte Objekte sind), als befände er sich im Tiefschlaf. All dieses wird<br />

auch in diesem (menschlichen) Körper erfahren. Sein Tiefschlaf ist ebenfalls<br />

leblos und nicht-fühlend, sein Traumzustand besteht in der Erfahrung dieser<br />

Schöpfung, sein Wachzustand ist in Wahrheit das transzendentale (turīya)<br />

Bewusstsein, während die Realisation der Wahrheit Befreiung ist. Der Zustand<br />

der Befreiung noch zu Lebzeiten ist in sich selbst das turīya-<br />

Bewusstsein. Jenseits davon befindet sich Brahman, welches turīya-atīta<br />

(jenseits von turīya) ist. In jedem einzelnen Atom der Existenz gibt es nichts<br />

als das höchste Sein – wo immer eine Welt gesehen wird, ist dies nichts als<br />

eine illusionäre Erscheinung. Diese Illusion und die sich aus ihr ergebende<br />

Bindung werden durch psychologische Konditionierung am Leben erhalten.<br />

Diese Konditionierung ist selbst Bindung und ihre Aufgabe bedeutet Befreiung.<br />

Eine dichte und massive Konditionierung führt zu einer Existenz als<br />

leblose Objekte, eine mittlere Konditionierung führt zu einer Existenz als<br />

Tiere, und eine geringe Konditionierung führt zu einer Existenz als Menschen.<br />

Jedoch genug von der Wahrnehmung von Getrenntheit – das gesamte Universum<br />

ist nichts als die Manifestation der Energie des unendlichen Bewusstseins.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was als dieses saæsāra bekannt ist (Welterscheinung), ist nichts als der ursprüngliche<br />

Traum des jīva (der Ersten Person). Der Traum des jīva ist nicht<br />

wie der Traum einer Person, denn der Traum des jiva wird als Wachzustand<br />

erfahren. Daher wird der Wachzustand als Traum bezeichnet. Der lange<br />

Traum des jīva wird unverzüglich materialisiert, obwohl er irreal und nicht<br />

substanziell ist. Der jīva wandert innerhalb dieses Traums von einem Traum<br />

zum nächsten, und so wird die irrtümliche Auffassung des Traums als Realität<br />

solider und solider – er wird als eine Realität erfahren, während das Reale als<br />

irreal ignoriert wird. Sei weise und lebe wie Arjuna, der durch die Unterweisung<br />

des Höchsten Herrn erleuchtet wird.<br />

424


Das gesamte Universum erscheint im Ozean des kosmischen Bewusstseins,<br />

und in diesem Universum wohnen vierzehn Arten von Lebewesen. Als die<br />

herrschenden Gottheiten dieses Universum gab es bereits Yama, Candra,<br />

Surya und andere. Sie haben die Leitsätze des rechtmäßigen Lebens vorgegeben.<br />

Wenn die Menschen jedoch mehrheitlich in Sünde leben, zieht sich Yama,<br />

der Gott des Todes, zurück, um für einige Jahre zu meditieren, was zur Folge<br />

hat, dass die Bevölkerung wächst und geradezu explodiert.<br />

Die Götter, erschreckt von dieser Zunahme des Bevölkerung, versuchen, sie<br />

mit verschiedenen Mitteln zu reduzieren. Zahllosen Males ist dies wieder und<br />

wieder geschehen. Der gegenwärtige Herrscher (Yama) ist Vaivasvata. Auch<br />

er wird sich zu gegebener Zeit in die Meditation zurückziehen müssen. Wenn<br />

sich dann die Bevölkerung der Erde sehr schnell vervielfacht, werden alle<br />

Götter Lord Vi«ïu anflehen, ihnen zu Hilfe zu kommen. Er wird zusammen<br />

mit seinem Alter Ego namens Arjuna als Lord K­«Ça inkarnieren.<br />

Sein älterer Bruder wird Yudhi«Âhiraoder der Sohn des Dharma sein, der<br />

selbst die Verkörperung der Rechtmäßigkeit ist. Sein Vetter Duryodhana wird<br />

mit Bhīma, Arjunas Bruder, ein Duell ausfechten. In dieser Schlacht zwischen<br />

den Vettern werden 18 Divisionen der bewaffneten Streitkräfte ausgelöscht<br />

werden – auf diese Weise wird Vi«ïu die unerträglichen Lasten der Erde<br />

erleichtern.<br />

K­«Ça und Arjuna werden die Rolle einfacher, menschlicher Lebewesen<br />

spielen. Wenn Arjuna sieht, dass die Armeen auf beiden Seiten aus seinen<br />

eigenen Blutsverwandten bestehen, wird er verzagen und den Kampf verweigern.<br />

Dann wird Lord K­«Ça ihn in der höchsten Weisheit unterweisen und<br />

ein spirituelles Erwachen in ihm hervorrufen. Er wird zu Arjuna sprechen:<br />

„Dieses (Selbst) wird weder geboren noch stirbt es, es ist ewiglich und wird<br />

nicht getötet, wenn der Körper getötet wird. Wer glaubt, dass er tötet oder<br />

getötet wird, ist unwissend. Wie, weshalb und durch wen sollte dies unendliche<br />

Sein, welches ohne ein Zweites und feiner als Raum ist, zerstört werden?<br />

Arjuna, gewahre das Selbst, welches unendlich, unmanifestiert, ewiglich und<br />

von der Natur reinen Bewusstseins und unbefleckt ist. Du bist ungeboren und<br />

ewiglich!“<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort, Arjuna zu unterweisen:<br />

Arjuna, du bist kein Mörder – gib diese leere, selbstsüchtige Idee auf. Du<br />

bist das Selbst – frei von Alter und Tod. Wer frei vom Ich-Sinn ist und dessen<br />

Intelligenz an nichts verhaftet ist, der tötet weder noch ist er dadurch gebunden,<br />

auch wenn er die ganze Welt vernichtet. Gib daher diese falschen Ideen<br />

des „Dies bin ich“ und „Dies ist mein“ auf. Nur aufgrund dieser falschen Ideen<br />

denkst du: „Ich bin vernichtet“, und dann leidest du. Nur die selbstsüchtige<br />

und unwissende Person glaubt: „Ich tue dies“, während alles nur durch die<br />

verschiedenen Aspekte des einen Selbst oder des unendlichen Bewusstseins<br />

getan wird.<br />

VI.1:53<br />

425


Lass die Augen sehen, lass die Ohren hören, lass die Haut fühlen, lass die<br />

Zunge schmecken. Wo ist das „Ich“ in all dem? Auch wenn das Gemüt all die<br />

verschiedenen Ideen weiterhin hegt, so gibt es doch nirgends etwas, das als<br />

„Ich“ identifiziert werden könnte. Während alle diese Faktoren in Aktivität<br />

verwickelt sind, ist es das „Ich“, welches die Täterschaft übernimmt und als<br />

Folge davon leidet. Die Yogis führen Aktivitäten lediglich mit ihrem Gemüt<br />

und ihren Sinnen zum Zweck der Selbstreinigung aus. Wer dagegen vom Ich-<br />

Sinn verseucht ist, sei er nun ein Gelehrter oder ein noch Höherer als dieser,<br />

der ist ein verdorbener Mensch. Wer aber frei vom Ich-Sinn und dem Besitzsinn<br />

ist und Gleichmut in Freude und Schmerz zeigt, der wird nicht gebunden<br />

durch das, was er an Erlaubtem oder Verbotenem tut.<br />

Folglich, oh Arjuna, ist deine Pflicht als Krieger, auch wenn sie Gewalttätigkeit<br />

beinhaltet, edel und rechtmäßig. Die Ausübung der Handlung, die dir<br />

zugedacht ist, auch wenn sie verabscheuungswürdig und unrecht ist, ist das<br />

Beste. Werde schon hier auf der Erde unsterblich durch die Ausübung deiner<br />

Pflicht. Sogar die natürliche Handlung eines Narren ist in seinem Fall edel.<br />

Wie viel mehr gilt dies im Fall eines guten Menschen! Sei verankert im Geist<br />

des <strong>Yoga</strong> und handle unangehaftet an die Handlung – so wirst du nicht gebunden<br />

sein.<br />

Sei im Frieden, so wie Brahman im Frieden ist. Und lass deine Handlung<br />

von der Natur Brahmans sein. Indem du alles Brahman darbringst, wirst du<br />

unverzüglich selbst zu Brahman werden. Der Höchste Herr wohnt in allem.<br />

Indem du alle Handlungen als ein Opfer für Ihn verrichtest, leuchtest du<br />

selbst wie der von allen verehrte Höchste Herr. Werde ein wahrer sanyāsi<br />

(Entsagender) durch das entschiedene Aufgeben aller Gedanken und Ideen –<br />

auf diese Weise wirst du dein Bewusstsein wahrlich befreien.<br />

Das Aufhören aller Gedanken und Ideen oder mentalen Bilder sowie das<br />

Aufhören der tiefgreifenden psychologischen Konditionierung sind selbst das<br />

höchste Selbst oder Brahman. Danach zu streben wird sowohl <strong>Yoga</strong> als auch<br />

Weisheit (Jñāna) genannt. Die Überzeugung, dass Brahman allein dies alles<br />

ist, einschließlich der Welt und des „Ich“, wird genannt, „Alles Brahman opfern<br />

oder übergeben“ (Brahmārparïaæ).<br />

Der HÖCHSTE HERR instruierte Arjuna:<br />

Brahman ist innen und außen leer (undifferenziert und homogen). Es ist<br />

weder ein Objekt der Beobachtung noch ist es verschieden vom Beobachter.<br />

Die Welterscheinung taucht in ihm als ein unendlich kleiner Bestandteil seiner<br />

selbst auf. Da die „Welt“ in Wahrheit nur eine Erscheinung ist, ist sie in<br />

Wahrheit Leere, Nichts und unwirklich. Auf mysteriöse Weise taucht in all<br />

diesem ein Gefühl des „Ich“ auf, welches sogar im Vergleich mit der Welterscheinung<br />

unendlich winzig ist! Das Unendliche verbleibt ungeteilt durch<br />

alles und erscheint doch aufgrund des „Ich“-Gefühls als geteilt. So wie das<br />

„Ich“ nicht-verschieden vom unendlichen Bewusstsein ist, so sind materielle<br />

Objekte wie Töpfe und Lebewesen wie etwa ein Affe nicht verschieden voneinander.<br />

Wer würde dann noch diesem „Ich“ nachhängen? Weshalb sich nicht<br />

426


an das unendliche Bewusstsein halten, welches allein als all dies erscheint<br />

aufgrund seiner eigenen, mysteriösen Energien? Dieses Verstehen mit dem<br />

anschließenden Aufgeben des Verlangens nach dem Genuss der Früchte der<br />

eigenen, natürlichen Handlungen wird als „Entsagung“ (sanyāsa) bezeichnet.<br />

Entsagung bedeutet, allen Hoffnungen und Bestrebungen zu entsagen. Sobald<br />

man die Gegenwart des Höchsten Herrn in allen Erscheinungen und Modifikationen<br />

wahrnimmt und die Illusion der Dualität aufgibt, bezeichnet man<br />

dies als das sich Ergeben an den Höchsten Herrn oder das Darbieten des<br />

Selbst und von allem an den Höchsten Herrn.<br />

Ich bin die Hoffnung, Ich bin die Welt, Ich bin die Tätigkeit, Ich bin die Zeit,<br />

Ich bin das Eine und auch das Viele. Sättige daher dein Gemüt gänzlich mit<br />

mir, sei mir ergeben, diene mir, verneige dich vor mir. Indem du so ständig<br />

eins mit mir bist und mich als dein höchstes Ziel hast, wirst du mich erreichen.<br />

Ich besitze zwei Gestalten, oh Arjuna, die gewöhnliche und die höchste. Die<br />

gewöhnliche Form ist diejenige, die mit Händen usw. und dem Muschelhorn,<br />

dem Diskus, dem Streitkolben usw. ausgestattet ist. Die höchste Form ist ohne<br />

Anfang und Ende, ohne ein Zweites. Sie wird verschiedentlich als Brahman,<br />

Selbst, höchstes Selbst usw. bezeichnet. Solange man nicht vollständig erwacht<br />

ist, soll man die gewöhnliche Form verehren. Durch diese Verehrung<br />

wird man spirituell erwachen und eines Tages die höchste Form kennen,<br />

deren Kennen die Wiedergeburt verhindert.<br />

Ich sehe, dass du durch meine Unterweisung erwacht bist. Gewahre das<br />

Selbst in allem und alles im Selbst und verbleibe für immer fest verankert im<br />

<strong>Yoga</strong>. Wer darin fest verankert ist, wird nicht wiedergeboren, obwohl er hier<br />

auf der Erde all seine natürlichen Tätigkeiten ausführt. Das Konzept der Einheit<br />

dient dazu, das Konzept der Vielfalt aufzuheben, das Konzept des Selbst<br />

(unendliches Bewusstsein) dient dazu, die Konzeptualisierung der Einheit<br />

aufzuheben. Das Selbst kann weder als existierend noch als nicht-existierend<br />

betrachtet werden – es ist, was es ist.<br />

Das innere Licht, welches als reines Erfahren in allen Wesen leuchtet – das<br />

allein ist das Selbst, welches durch das Wort „Ich“ bezeichnet wird, dies ist<br />

gewiss.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort, Arjuna zu unterweisen:<br />

Die reine Erfahrung des Geschmacks, die in allen Substanzen der Welt existiert,<br />

ist das Selbst. Die Fähigkeit des Erfahrens, die in allen Geschöpfen existiert,<br />

ist das allgegenwärtige Selbst. Es existiert in allem, so wie Butter in<br />

Milch existiert.<br />

Wie eine Sammlung von tausend Töpfen Raum außerhalb und innerhalb<br />

aller Töpfe enthält, ungeteilt und unteilbar, so existiert das allesdurchdringende<br />

Selbst alle Wesen in den drei Welten. So wie in einem Perlenhalsband<br />

die verbindende Schnur unsichtbar ist, so verbindet das Selbst alles und hält<br />

alles zusammen, während es selbst unsichtbar bleibt. Diese Wahrheit oder<br />

427


VI.1:54<br />

Realität wird als das Selbst bezeichnet, welches alle Dinge von Brahmā dem<br />

Schöpfer bis hin zum Grashalm durchdringt.<br />

In diesem Brahman gibt es eine kleine Manifestation, die ebenfalls Brahman<br />

ist, und die hier aufgrund von Unwissenheit und Täuschung als „Ich-bin-heit“<br />

und „Welt“ bezeichnet wird. Wenn doch alles nur das eine Selbst ist, oh<br />

Arjuna, was bedeuten dann Ausdrücke wie „dies wurde getötet“, „er tötet“<br />

oder „gut“, „nicht gut“, „Unglück“ usw.? Wer weiß, dass das Selbst der Zeuge<br />

aller dieser Wandlungen ist und von ihnen unberührt und unbetroffen bleibt,<br />

der kennt die Wahrheit.<br />

Obgleich ich Ausdrücke verwende, die Vielfalt nahelegen, ist die Wirklichkeit<br />

doch nondual. All dieses Kommen und Gehen, Erschaffen und Wiederauflösen<br />

ist nicht-verschieden vom Selbst. Das Selbst ist die eigentliche Natur<br />

der Totalität der Existenz, so wie Härte die Eigenschaft des Felsens und Flüssigkeit<br />

die Natur der Wellen ist.<br />

Wer das Selbst in allem und in allem das Selbst sieht und erkennt, dass das<br />

Selbst der Nicht-Handelnde (nondual) ist, der sieht die Wahrheit. So wie in<br />

allen aus Gold gemachten Schmuckstücken unabhängig von ihrer Form und<br />

Größe das Gold die Wirklichkeit ist, und so wie Wasser die Wirklichkeit sämtlicher<br />

Wellen und Wirbel auf dem Ozean ist, unabhängig von ihrer Größe und<br />

Gestalt, so ist das höchste Selbst oder das unendliche Bewusstsein allein die<br />

Wirklichkeit, in der die Welt der vielfältigen Schöpfungen erscheint.<br />

Weshalb trauerst du also? Was gibt es denn schon in all diesen sich ständig<br />

wandelnden Phänomenen, dem sich dein Herz verbunden fühlen sollte? Indem<br />

sie sich selbst auf diese Art befragen,, durchwandern die Weisen diese<br />

Welt in totaler Freiheit und in perfektem innerem Gleichgewicht. Ihre Wünsche<br />

sind in sich selbst (als Wünsche) zurückgekehrt und ihre Täuschungen<br />

zerstreut; sie hängen an nichts, aber sind fest in der Selbsterkenntnis verankert;<br />

frei von allem Sinn der Dualität, wie er als Glück oder Unglück bezeichnet<br />

wird, so haben die Weisen den höchsten Zustand erlangt.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort, Arjuna zu unterweisen:<br />

Höre, was ich dir nun weiter sagen werde. Ich teile dir dies mit, weil mir<br />

dein Wohl am Herzen liegt und weil du mir teuer bist.<br />

Ertrage, was auch immer dir an Vergnügen und Schmerz, an Hitze und Kälte<br />

widerfährt –sie kommen und gehen. Sie gehören nicht zum Selbst, das anfangslos<br />

und endlos ist und ohne Teile. Sinneserfahrungen werden aus dem<br />

täuschenden Kontakt mit den illusorischen Elementen geboren. Wer dies<br />

weiß und ungerührt bleibt, trägt das Zeichen der Befreiung auf der Stirn.<br />

Wenn doch das Selbst allein existiert – wo können da Vergnügen und Schmerz<br />

entstehen? Da das höchste Selbst allein allgegenwärtig ist, existieren Vergnügen<br />

und Schmerz nicht wirklich. Das Unwirkliche besitzt keinerlei Sein, und<br />

das Wirkliche hört nicht auf zu sein.<br />

Das Selbst frohlockt weder im Vergnügen noch trauert es im Schmerz! Es ist<br />

nur das leblose Gemüt (ohne eigene Intelligenz und Bewusstheit) , welches,<br />

428


im Körper wohnend, Schmerz erfährt. Wenn der Körper verfällt, ist das Selbst<br />

nicht betroffen. Weder gibt es unabhängig vom Selbst ein Ding wie den Körper<br />

usw. noch so etwas wie Schmerz usw. Was wird also von wem erfahren?<br />

Folglich ist der voll erwachte Mensch frei von solchen Täuschungen. So wie<br />

die Illusion einer Schlange in einem Seil bei richtigem Hinsehen verschwindet,<br />

so verschwindet die Täuschung des Körpers und des Kummers im spirituellen<br />

Erwachen. Rechtes Verständnis oder spirituelles Erwachen ist, dass<br />

das universale Brahman weder geboren wird noch stirbt.<br />

Vernichte die Kräfte der Täuschung wie Stolz, Sorge, Furcht, Wunsch als<br />

auch Schmerz und Freude. Diese Gegensatzpaare sind allesamt illusorisch. Sei<br />

im Eins-sein verankert. Du bist dieser einzige Ozean des Bewusstseins.<br />

Schmerz und Freude, Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage sind aus der<br />

Unwissenheit geboren. Verbleibe daher unberührt von allem. Was auch immer<br />

du tust, isst und in Verehrung darbringst und gibst – all dies ist das<br />

Selbst. Was dein inneres Sein ist, das wirst du gewiss erlangen. Fülle daher<br />

dein gesamtes Sein mit Brahman an, um die Realisation von Brahman zu<br />

erlangen.<br />

Wer in der Handlung die Nicht-Handlung und in der Nicht-Handlung die<br />

Handlung sieht, der ist weise und erlangt alles. Sei weder an die Früchte der<br />

Handlung noch an die Nicht-Handlung verhaftet. Anhaftung ist die eigentliche<br />

„Täterschaft“ und auch die „Nicht-Täterschaft (indem man<br />

selbstsüchtigerweise denkt: „Ich tue“ oder „ich tue nicht“). Beide sind Aspekte<br />

der Torheit – gib daher die Torheit auf. Gib das Konzept der Vielfalt auf -<br />

auch wenn du handelst. Du bist nicht der Täter dieser Handlungen. Ein weiser<br />

Mensch ist, wessen Handlungen im Feuer der Selbsterkenntnis verbrannt<br />

und der folglich frei von Wünschen sind. Wer sich physischer Handlungen<br />

enthält, aber fortfährt, sich mental in Erfahrungen des Vergnügens zu ergehen,<br />

ist ein Heuchler. Wer jedoch mit Hilfe des Gemüts seine Sinne beherrscht<br />

und mit seinem Körper tätig und dabei frei von Anhaftung ist, der ist eine<br />

überlegene Person. In wessen Herzen die Wünsche in sich selbst zurückkehren,<br />

so wie die Flüsse wieder in den Ozean fließen, der lebt im Frieden, nicht<br />

jedoch der Mensch mit Wünschen.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort, Arjuna zu unterweisen:<br />

Ohne etwas zu entsagen und ohne das selbstsüchtige Empfinden von „ich<br />

genieße“ oder „ich leide“ sollte man in allen natürlichen Situationen in einem<br />

Zustand des Gleichmuts verweilen. Hege nicht das Gefühl von „dies ist das<br />

Selbst oder Bewusstsein“ für das was das Nicht-Selbst (Nicht-Bewusstsein)<br />

ist. Wenn der Körperzerfällt, geht nichts verloren. Das Selbst kann niemals<br />

verloren gehen! Das Selbst ist per definitionem das unzerstörbare und unendliche<br />

Bewusstsein. Lass nicht einmal den Gedanken „Das Selbst ist verderblich“<br />

je in deinem Gemüt auftauchen. Was verdirbt oder wandelhaft ist,<br />

ist nur die Vorstellung von „dies ist verloren“ oder „dies wurde erlangt“. Das<br />

Selbst, welches ewiglich und unendlich ist, hört nicht auf, die Wirklichkeit zu<br />

sein, während das Unwirkliche gar nicht existiert. Das Selbst, welches alles<br />

VI.1:55<br />

429


VI.1:56<br />

durchdringt, ist unverderblich. Die Körper gelangen an ihr Ende, aber das<br />

Selbst (das unendliche Bewusstsein) ist ewig. Das Selbst oder das unendliche<br />

Bewusstsein ist eines und nicht-dual. Was verbleibt, sobald aller Sinn für die<br />

Dualität verloren ist, ist das Selbst, das ist die höchste Wahrheit.<br />

ARJUNA fragt;<br />

Was, oh Höchster Herr, ist dann der sogenannte Tod, und was ist, was man<br />

Himmel und Hölle nennt?<br />

Der HÖCHSTE HERR erwiderte:<br />

Der jīva oder die lebendige Seele oder Persönlichkeit lebt in einem Netz, das<br />

aus den Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum) und auch dem Gemüt<br />

und dem Intellekt geknüpft ist. Dieser jīva wird durch die latenten Neigungen<br />

(vergangene Eindrücke, Erinnerungen usw.) umhergetrieben, da er<br />

sich im Käfig namens Körper aufhält. Im Verlaufe der Zeit altert der Körper<br />

und der jīva verlässt den Körper, so wie der Saft aus einem gepressten Blatt<br />

austritt. Er nimmt die Sinne und das Gemüt mit sich und gibt den Körper auf,<br />

so wie Duft seine Quelle verlässt und davonzieht. Der Körper des jīva ist<br />

nichts anderes als die vāsanās oder die verbleibenden Eindrücke, die im<br />

Körper gewonnen wurden. Sobald der jīva den Körper verlässt, wird dieser<br />

leblos – dann nennt man ihn „tot“.<br />

Während er im Raume umherzieht, sieht der jīva, der die Natur des prāïa<br />

oder der Lebenskraft hat, die Formen, die durch seine vergangenen vāsanās<br />

oder Eindrücke heraufbeschworen werden. Diese früheren Eindrücke werden<br />

nur durch intensive Selbst-Erforschung zerstört. Auch wenn die Berge pulverisiert<br />

werden und die Welten verschwinden, sollte man niemals die Eigenbemühung<br />

aufgeben. Auch Himmel und Hölle sind nichts als Projektionen<br />

dieser Eindrücke oder vāsanās.<br />

Diese vāsanās entstehen aus Unwissenheit und Torheit und hören nur in<br />

der Morgendämmerung der Selbsterkenntnis auf. Was ist der jīva schon anderes<br />

als vāsanā oder mentale Konditionierung, die wiederum nichts als leere<br />

Vorstellungen oder Gedankenformen sind? Wer fähig ist, diese vāsanās aufzugeben,<br />

während er noch in dieser Welt und in diesem Körper lebt, der wird<br />

als befreit bezeichnet. Wer nicht vermag, diese vāsanās aufzugeben, befindet<br />

sich in Bindung, auch wenn er ein großer Gelehrter ist.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort, Arjuna zu unterweisen:<br />

Sei eine befreite Seele, indem du die mentale Konditionierung aufgibst. Sei<br />

im Innern ruhig und kühl, und gib die durch Beziehungen entstehenden Sorgen<br />

auf. Gib den leisesten Zweifel betreffend Alter und Tod auf, entwickle eine<br />

Sichtweise, die so weit wie der Himmel ist, und sei frei von der Anziehung<br />

und auch von der Abstoßung. Führe die Handlung aus, welche natürlich für<br />

dich ist. Nichts geht hier zugrunde. Darin besteht die Natur eines befreiten<br />

Weisen. Nur der Narr denkt: „ich werde dies tun“ oder „ich werde dies lassen“.<br />

Die Sinne des befreiten Weisen sind auf natürliche Weise fest in seinem<br />

Herzen verankert. Es ist das Gemüt (Herz), welches das Gemälde der drei<br />

430


Welten auf die Leinwand des allgegenwärtigen Seins malt. Das Gemüt erzeugt<br />

Fragmentierung und Trennung. In Wahrheit gibt es keine solche Fragmentierung<br />

– es ist nur das Gemälde des Gemüts, welches als Fragmentierung in<br />

dieser Schöpfung beobachtet wird. Raum ist absolute Leere. Und doch entsteht<br />

und vergeht diese Welterscheinung im Gemüt während eines Augenblinzelns!<br />

Da das Selbst (auf dem die Welt vom Gemüt gemalt wird) die gesamte<br />

Schöpfung durchdringt, erscheint die Schöpfung selbst als wirklich. Bei<br />

korrekter Ergründung jedoch löst sie sich im Selbst auf.<br />

Weder existieren „andere“ noch „du“ selbst. Weshalb grämt du dich? Im reinen<br />

Raum gibt es weder Tätigkeit noch Bewegung, denn Tätigkeit und Bewegung<br />

selbst sind leer. Daher ist der reine Raum unberührt von Konzepten wie<br />

Zeit, Tätigkeit usw. All dies ist nichts als das Gemüt, dessen Ideen sich in Form<br />

dieser Bilder ausbreiten. Der reine Raum ist leer. Dieser Raum kann zu keiner<br />

Zeit getrennt und geteilt werden.<br />

Nun ist diese eingebildete Schöpfung aufgelöst worden, oh Arjuna. Sie entstand<br />

im Moment einer Täuschung. Sie ist irreal, und doch vermag das Gemüt<br />

diese Fantasie in einem Augenblick zu erzeugen. Es (das Gemüt) kann einen<br />

Moment wie eine ganze Epoche erscheinen lassen, etwas weniges als viel<br />

darstellen, und das Irreale im Nu als gänzlich real erscheinen lassen – so ist<br />

diese Illusion entstanden. Es ist diese in einem Augenblick entstehende Täuschung,<br />

die die Illusion zurücklässt, welche „Welt“ genannt wird und die in<br />

den Augen der Unwissenden eine unbestreitbare und solide Realität ist.<br />

Da diese Welterscheinung jedoch auf der Realität des unendlichen Bewusstseins<br />

gründet, sind alle Argumente betreffend seine reale oder irreale<br />

Natur von geringer Bedeutung. Es ist in der Tat ein großes Wunder, dass diese<br />

Welt der Vielfalt im unteilbaren unendlichen Bewusstsein erscheint. Und<br />

doch ist sie nicht mehr als das Gemälde einer Tänzerin, in der die Phänomene<br />

die verschiedenen Teile und die Götter und Dämonen und andere Lebewesen<br />

ihre Glieder sind. Alles ist in der Tat nur ihr eigenes Substrat, das niemals<br />

einem Wandel unterzogen wurde. Es ist das unendliche, unteilbare Bewusstsein.<br />

Der HÖCHSTE HERR fuhr fort, Arjuna zu unterweisen:<br />

Dies ist in der Tat ein großes Wunder: Zuerst erscheint das Bild, und dann<br />

taucht daraus die Fragmentierung auf. Das Bild existiert nur im Gemüt. Was<br />

auch immer getan wird, wird von der Leerheit in der Leerheit (Raum) getan.<br />

Leerheit löst sich in Leerheit auf, Leerheit erfreut sich an Leerheit, Leerheit<br />

durchdringt Leerheit. Was zu sein scheint, ist durchdrungen von vāsanās<br />

(psychologischer Konditionierung oder mentalen Bildern). Die Welterscheinung<br />

ist illusorisch. Sie existiert in Brahman so, wie ein Bild in einem Spiegel<br />

existiert – unberührbar, ohne Löcher (Brüche) und ohne Getrenntheiten;<br />

nicht-verschieden von Brahman. Auch was man vāsanā nennt, ist essenziell<br />

auf unendlichem Bewusstsein gegründet und nicht verschieden davon.<br />

Wer sich nicht von den Fesseln der vāsanās befreit hat, ist gänzlich an ihre<br />

Illusionen gebunden. Auch wenn jemand sämtliche vāsanās bis auf einen<br />

VI.1:57,<br />

58<br />

431


VI.1:59<br />

winzigen Restbestand abgelegt haben sollte, genügt dieser Rest doch, um<br />

schon bald einen neuen, mächtigen Urwald des saæsāra (Welterscheinung<br />

oder Zyklus von Geburt und Tod) entstehen zu lassen. Falls jedoch dieser<br />

Same des vāsanā durch beständige Bemühung mit Hilfe des Feuers des richtigen<br />

Verstehens und der Selbsterkenntnis zu Asche verbrannt wird, dann ruft<br />

er keine weitere Bindung hervor. Wer seine vāsanās zu Asche verbrannt hat,<br />

verliert sich nicht in der Freude und im Schmerz – er lebt in dieser Welt wie<br />

ein Lotosblatt im Wasser.<br />

ARJUNA sprach:<br />

Höchster Herr, meine Täuschungen sind verschwunden. Durch deine Gnade<br />

erfuhr ich das Erwachen meiner inneren Intelligenz. Ich bin nun von allen<br />

Zweifeln befreit. Ich werde in allem Deinen Willen tun.<br />

Der HÖCHSTE HERR beschloss seine Unterweisung wie folgt:<br />

Sobald die mentalen Modifikationen befriedet sind, ist auch das Gemüt im<br />

Frieden. Dann ist das Bewusstsein vom Objekt befreit und es gibt da das<br />

reine, innere Bewusstsein. Dieses Bewusstsein ist alles und allgegenwärtig. Es<br />

ist rein und ohne jede Gedankenbewegung. Es ist transzendental. Es wird erst<br />

dann erlangt, wenn es von sämtlichen vāsanās gereinigt worden ist. So wie<br />

die Hitze den Schnee schmilzt, so löst dieses reine Bewusstsein die Unwissenheit<br />

auf und vertreibt sie. Das, was alles in diesem Universum ist; das, was<br />

ohne alles in diesem Universum ist; das, was unbeschreiblich ist; das, was die<br />

höchste Wahrheit ist –welchen Namen soll man ihm geben?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn der Höchste Herr auf diese Weise Arjuna unterweist, wird dieser einige<br />

Momente lang still bleiben und dann sprechen: „Höchster Herr, im Sonnenlicht<br />

deiner Ermahnungen hat sich der Lotos der Intelligenz in meinem<br />

Herzen voll entfaltet.“ Nach diesen Worten, wird Arjuna unverzüglich seine<br />

Waffen an sich nehmen und sich am Krieg beteiligen als wäre es ein Spiel.<br />

(Hinweis: Dieses Kapitel enthält die Essenz der Bhagavad Gita)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Eigne dir diese Haltung an, oh Rāma, und verbleibe unangehaftet, ausgerüstet<br />

mit dem Geist der Entsagung und der Erkenntnis, dass du alles, was du<br />

tust oder erfährst, dem allgegenwärtigen Sein, Brahman, darbringst. Dann<br />

wirst du die Wahrheit erkennen, und das ist das Ende aller Zweifel.<br />

Das ist der höchste Zustand, der Guru aller Gurus, dies ist das Selbst, das<br />

Licht, welches die Welt von innen erleuchtet. Es ist die Wirklichkeit aller<br />

Substanzen, das, was den Substanzen die essenziellen Eigenschaften verleiht.<br />

Die Idee der „Welt“ taucht nur dann auf, wenn der Geist der Erforschung<br />

abwesend ist. Jedoch war „Ich“, bevor die Welt war. Wie könnte dann die Idee<br />

der Welt usw. mich binden? Wer auf diese Weise die Wahrheit erkennt, ist frei<br />

von allem Anfang und allem Ende. Wer auf diese Weise mit dem Geist der<br />

Nondualität ausgestattet ist (als wäre er wachend im Tiefschlaf), ist nie mehr<br />

beunruhigt, obwohl er ein aktives Leben führt. Er ist hier und jetzt befreit.<br />

432


Was als die Welt erscheint, ist wahrhaftig nichts als die Zauberei (das Werk)<br />

des unendlichen Bewusstseins. Weder gibt es hier Einheit noch Dualität. Und<br />

meine Unterweisungen sind ebenso! Die Worte, ihre Bedeutung, der Schüler,<br />

der Wunsch (oder die Bemühung des Schülers) und die Fähigkeit des Gurus<br />

zur Verwendung der Worte sind alle ebenfalls das Spiel der Energie des unendlichen<br />

Bewusstseins! Im Frieden des eigenen inneren Seins vibriert das<br />

Bewusstsein – die Welterscheinung taucht auf. Würde dieses Bewusstsein<br />

nicht vibrieren, würde es auch keine Welterscheinung geben.<br />

Das Gemüt ist nichts anderes als die Bewegung im Bewusstsein. Die Nicht-<br />

Realisation dieser Wahrheit ist die Welterscheinung! Die Nicht-Realisation<br />

dieser Wahrheit verstärkt und vertieft die Bewegung der Gedankenwellen im<br />

Bewusstsein. Auf diese Weise entsteht ein Weltzyklus. Unwissenheit und<br />

mentale Aktivität setzen sich gegenseitig fort.<br />

Sobald die innere Intelligenz erwacht ist, hört das Verlangen nach Sinnesvergnügen<br />

auf, und das ist die Natur des Weisen. Das Nicht-Verlangen nach<br />

Sinnesvergnügen geschieht daher in ihm auf ganz natürliche und mühelose<br />

Weise. Er weiß, dass es die Energie des Selbst ist, die die Erfahrungen erfährt.<br />

Wer verweigert, das zu erfahren was er zu erfahren hat, nur um der Welt zu<br />

gefallen, schlägt die Luft mit einem Stock! Man erlangt die Selbsterkenntnis,<br />

indem man die angemessenen Mittel verwendet.<br />

Der Wunsch nach Befreiung verhält sich konträr zur Fülle des Selbst – aber<br />

die Abwesenheit dieses Wunsches fördert die Bindung! Daher sollte man<br />

dessen beständig gewahr sein. Die einzige Ursache für Bindung und Befreiung<br />

ist die Bewegung im Bewusstsein. Das Gewahrsein dessen beendet diese<br />

Bewegung. Der Ich-Sinn hört in dem Moment auf, in dem er beobachtet wird,<br />

weil er dann keine Stütze mehr hat. Wer ist dann von wem gebunden oder<br />

wer wird vom wem befreit?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Darin besteht das höchste Sein, welches unendliches Bewusstsein ist. Diejenigen,<br />

die wie der Schöpfer Brahmā, Vi«ïu oder Śiva mit einer makrokosmischen<br />

Form ausgestattet sind, sind verankert in diesem höchsten Sein, sie<br />

sind die Herrscher oder Könige dieser Welt. Darin verankert, wandern die<br />

vollkommenen Weisen in den Himmeln umher. Wer dies erlangt hat, stirbt<br />

nicht und trauert nicht. Der Weise, selbst wenn nur für einen Augenblick in<br />

diesem reinen Sein verweilt, welches von der Natur des unbegrenzbaren und<br />

unendlichen Bewusstseins ist und auch das Höchste Selbst genannt wird,<br />

wird nie wieder betrübt, auch wenn er sich weiterhin mit den Angelegenheiten<br />

dieser Welt befasst.<br />

RùMA fragte:<br />

Wenn das Gemüt, der Intellekt und der Ich-Sinn alle zusammen aufgehört<br />

haben, wie kann dann dieses reine Sein oder unendliche Bewusstsein hier<br />

erscheinen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

433


VI.1:61<br />

Brahman, das in sämtlichen Körpern wohnt und Erfahrungen erfährt, isst,<br />

trinkt, spricht, sammelt undzerstört, ist selbst gänzlich frei von der Teilung<br />

des Bewusstseins und seiner Bewusstheit. Was allgegenwärtig und ohne<br />

Anfang und Ende und ein völlig reines, unmodifiziertes, undifferenziertes<br />

Sein ist – dies wird Existenz (vastu-tattvam) oder Realität genannt.<br />

Dieses existiert im Raum als Raum , als Klang im Klang, als Berührung in<br />

der Berührung, als Haut in der Haut, als Geschmack im Geschmack, als Form<br />

in der Form, in den Augen als die Sehkraft, im Geruch als Geruch, im Duft als<br />

Duft, im Körper als Kraft, in der Erde als Erde, in der Milch als Milch, im Wind<br />

als Wind, im Feuer als Feuer, in der Intelligenz als Intelligenz, im Gemüt als<br />

Gemüt, im Ich-Sinn als Ich-Sinn . Es erscheint als citta oder als Gemüt im<br />

Gemüt. Es ist der Baum im Baum. Es ist die Unbewegtheit im Unbewegten<br />

und die Bewegtheit in den beweglichen Lebewesen. Es ist das Leblose im<br />

Leblosen und die Intelligenz des Lebendigen. Es ist die Göttlichkeit der Götter<br />

und die Menschlichkeit in menschlichen Lebewesen. In den Tieren ist es<br />

deren animalische Natur und in den Würmern deren Wurmartigkeit. Es ist<br />

die eigentliche Essenz der Zeit und der Jahreszeiten. Es ist die Dynamik in der<br />

Aktion und die Ordnung in der Ordnung. Es ist die Existenz in der Existenz<br />

und der Tod im Verderblichen. Es ist die Kindheit, die Jugend und das Alter<br />

und auch der Tod.<br />

Es ist ungeteilt und unteilbar, denn es ist die eigentliche Essenz aller Dinge.<br />

Die Vielfalt ist unwirklich, obwohl sie wirklich ist in dem oben genannten<br />

Sinne (nämlich dass die Vielfalt wahrgenommen und durchdrungen wird vom<br />

unendlichen Bewusstsein). Erkenne dies: „All dies ist durchdrungen von Mir,<br />

denn ich bin allgegenwärtig und und ohne Körper und solch anderen Begrenzungen.“<br />

Ruhe dann im Frieden und im höchsten Glück.<br />

VùLMýKI sprach:<br />

Nachdem der Weise Vasi«Âha so gesprochen hatte, gelangte der Tag an sein<br />

Ende und die Versammlung löste sich für die Abendgebete auf.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Weiser, so wie die Städte usw., die wir in unseren Träumen sehen, irreal<br />

sind, so ist diese Welt, welche der Traum von Brahmā dem Schöpfer ist, in der<br />

Tat irreal und illusorisch. Wie kommt es aber, dass sie in unseren Augen diesen<br />

außerordentlich hohen Grad an Solidität erlangt?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die allererste Schöpfung Brahmās wird sogar heute noch von uns gesehen,<br />

als wäre sie real! Da das Bewusstsein unendlich ist, findet die Erschaffung des<br />

jīva ebenfalls überall statt. Diese Schöpfung ist ohne Zweifel aus der Unwissenheit<br />

geboren – der Glaube an diese Schöpfung vernichtet die wahre Sichtweise.<br />

Obwohl diese Schöpfung unwirklich ist, erscheint sie doch aufgrund<br />

des Ich-Sinnes als gänzlich real und solide. Der Träumer realisiert die Flüchtigkeit<br />

der Objekte, die er im Traum wahrnimmt, nicht. Auf dieselbe Weise<br />

verhält es sich mit dem kosmischen Traum des Schöpfers. Der Traum teilt die<br />

434


Eigenschaften des Träumers. Was aus dem Unwirklichen geboren wurde,<br />

muss daher ebenfalls unwirklich sein! Daher erscheint diese Welt nur als<br />

wirklich, da sie aus dem unwirklichen Konzept (dem Traum des Schöpfers)<br />

geboren wurde. Sie sollte folglich entschieden zurückgewiesen werden.<br />

Im Selbst, das unendliches Bewusstsein ist, erscheint diese Schöpfung nur<br />

für einen Moment. Während dieses Momentes entsteht die Idee, dass diese<br />

Schöpfung von sehr langer Dauer ist. Die Schöpfung scheint daher völlig real<br />

zu sein. So wie dieses Universum als ein Traum im Bewusstsein des Schöpfers<br />

existiert, so wird es als eine lange Zeitperiode im Bewusstsein (Traum) all<br />

der Wesen erfahren, die selbst die Traumobjekte des Schöpfers sind.<br />

Was und in welcher Form in diesem Traum wahrgenommen wird, entsteht<br />

augenblicklich. Natürlich gibt es für einen verwirrten oder gestörten Verstand<br />

nichts, was er in dieser Welt als unreal erfahren würde. Sogar hier<br />

werden so viele außergewöhnliche Phänomene gesehen: Feuer brennt mitten<br />

im Wasser, Wasser bleibt im Himmel stehen, Lebewesen werden in einem<br />

Felsen entdeckt, leblose Maschinen funktionieren auf verschiedenste wunderbare<br />

Weise. Man kann auch sehen, was offensichtlich unwirklich ist: so<br />

wie man von seinem eigenen Tod träumen kann.<br />

Da gibt es nichts, was real ist, noch ist da irgendetwas, was irreal ist – in<br />

diesem Traum, der die Schöpfung genannt wird, ist alles überall möglich! So<br />

wie man im Traum den Traum als gänzlich real empfindet, so empfindet<br />

jemand, der in diese Schöpfung verwickelt ist, sie als gänzlich real. So wie<br />

man von einem Traum zum nächsten wandert, so wandert man von einer<br />

Täuschung zur nächsten und erfährt diese Welt als gänzlich real.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von den hundert Rudras<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In diesem Zusammenhang erzähle ich dir nun die folgende Legende, oh<br />

Rāma, der du bitte dein Ohr leihen mögest.<br />

Es gab einmal einen Bettelmönch, der der Meditation ergeben war. Sein<br />

Gemüt, durch solche Meditation gereinigt, erlangte die Fähigkeit zum Materialisieren<br />

der Gedanken.<br />

Eines Tages, der ständigen Meditation müde, aber immer noch in vollkommener<br />

Gedankenkonzentration, dachte er daran, etwas zu tun. Er stellte sich<br />

vor, dass er Analphabet und ein Angehöriger einer Familie war, die nicht zur<br />

Brāhmanenkaste gehörte. Unverzüglich wurde er sozusagen zu einem Stam-<br />

VI.1:62<br />

435


VI.1:63<br />

mesangehörigen, und es entstand in ihm das Gefühl „Ich bin Jīvata“. Dieses<br />

Traumwesen durchwanderte eine Zeitlang eine Stadt, die ebenfalls aus<br />

Traumobjekten bestand. Eines Tages war er betrunken und schlief ein. Er<br />

träumte, dass er ein Brāhmane sei, der Kenntnis der Schriften hatte. Während<br />

er so ein rechtschaffenes Leben führte, träumte dieser Brāhmane eines Tages,<br />

dass er ein mächtiger König sei. Er träumte, ein unbesiegter Kaiser mit unübertroffenem<br />

Glanz zu sein. Eines Tages erging dieser sich in königlichen<br />

Vergnügungen, schlief danach ein und träumte von einer himmlischen Nymphe.<br />

Auch diese Nymphe träumte eines Tages, und zwar dass sie ein Reh sei. Und<br />

dieses Reh wiederum träumte davon, eine Kletterpflanze zu sein. Auch Tiere<br />

träumen, da die Natur des Gemüts darin besteht, sich an gesehene und gehörte<br />

Dinge zu erinnern. Das Reh wurde also zu einer Kletterpflanze. Die innere<br />

Intelligenz in dieser Kletterpflanze sah daraufhin im eigenen Herzen eine<br />

Biene. Die Kletterpflanze wurde zur Biene, und diese Biene begann den Nektar<br />

der Blumen zu schlürfen, die auf der Kletterpflanze wuchsen. Die Biene<br />

verfiel dem Nektar in einer dieser Blüten und läutete damit gewiss ihr eigenes<br />

Verderben ein!<br />

In der Nacht kam ein Elefant zu dieser Kletterpflanze, riss sie zusammen<br />

mit der Biene aus und zermalmte sie in seinem Maul. Die Biene jedoch, die<br />

den Elefanten hatte kommen sehen, komtemplierte den Elefanten und wurde<br />

zu einem solchen. Dieser Elefant wurde sodann von einem König eingefangen.<br />

Eines Tages sah der Elefant einen Bienenstock und wurde aufgrund der Erinnerung<br />

an seine vergangene Geburt zu einer Biene. Sie begann, den Nektar<br />

der Blüten wilder Kletterpflanzen zu schlürfen. Sie wurde zur Kletterpflanze.<br />

Die Kletterpflanze wiederum wurde von einem Elefanten zertrampelt. Weil<br />

die Kletterpflanze jedoch in einem nahen See Schwäne gesehen hatte, wurde<br />

sie zu einem Schwan.<br />

Eines Tages befand sich dieser Schwan in der Gesellschaft vieler weiterer<br />

Schwäne. Während der Bettelmönch über den Schwan meditierte, starb er<br />

plötzlich. Sein Bewusstsein wurde daraufhin in den Schwan verpflanzt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Dieser Schwan sah eines Tages Lord Rudra und entwickelte in seinem Herzen<br />

die Überzeugung: „Ich bin Lord Rudra“. Unverzüglich gab er seinen Körper<br />

als Schwan auf und wurde zu Lord Rudra. Und dieser Rudra lebte dann in<br />

der Heimstätte Rudras Da Rudra jedoch mit wahrer Erkenntnis ausgestattet<br />

war, erinnerte er sich an alles, was bis dahin geschehen war!<br />

RUDRA rekapitulierte daher wie folgt:<br />

Schaut nur! Wie mysteriös doch diese Māyā ist, die alle Welt täuscht! Sie ist<br />

unwirklich, erscheint aber als wirklich. Als erstes entstand in diesem unendlichen<br />

Bewusstsein, welches ich selbst bin, das Gemüt mit objektivem Bewusstsein,<br />

aber immer noch kosmisch und allwissend. Dann wurde ich zufälligerweise<br />

zum jīva, der sich von den feinsten Teilen der kosmischen Elemen-<br />

436


te angezogen fühlte. Aufgrund dessen wurde ich während eines bestimmten<br />

Schöpfungszyklus zum Bettelmönch, der in vollkommener Stillheit lebte. Er<br />

überwand sämtliche Zerstreutheiten und verblieb vertieft in die Praxis der<br />

Kontemplation.<br />

Jedoch ist jede nachfolgende Aktion mächtiger als die vorangegangene. Der<br />

Bettelmönch erachtete sich selbst als Jīvata und wurde dann zu diesem. Danach<br />

begann er sich für einen Brāhmanen zu halten. Ganz bestimmt überwältigt<br />

die mächtigere Gedankenform die schwächere. Im Verlaufe der Zeit und<br />

aufgrund beständiger Kontemplation wurde er dann zum König – so wie das<br />

von der Pflanze aufgenommene Wasser schließlich zu ihrer Frucht wird!<br />

Königliche Vergnügen gehen mit dem Lustspiel der Nymphen einher – indem<br />

der König diese kontemplierte, wurde er zur Nymphe. Einzig und allein aufgrund<br />

einer Betörung wurde diese Nymphe eines Tages ein Reh. Das Reh<br />

wurde zur Kletterpflanze, die von der Idee besessen war, sie würde durchstochen<br />

werden. Indem sie die Biene kontemplierte, wurde sie zu einer solchen,<br />

die dann ein Loch in die Kletterpflanze stach. Die Biene wurde sodann zum<br />

Elefanten.<br />

Ich bin Rudra, der während der letzten hundert Schöpfungszyklen immer<br />

Rudra gewesen ist. Ich durchwandere diese Welterscheinung, die nichts als<br />

eine psychologische Täuschung ist. In einem der Schöpfungszyklen war ich<br />

Jīvata, in einem anderen der Brāhmane, in einem weiteren der König und in<br />

wieder einem anderen der Schwan. Auf diese Weise drehte ich in diesem Rad<br />

namens Gemüt und Körper.<br />

Es geschah vor Äonen, dass ich diesem Höchsten Selbst oder unendlichen<br />

Bewusstsein entschlüpfte. Schon bald nach diesem Sturz fand ich mich als<br />

Bettelmönch wieder, der jedoch immer noch die Erkenntnis der Wahrheit<br />

hatte. Nachdem ich viele Inkarnationen durchlebt hatte, wurde ich durch die<br />

Gnade Rudras, den zu erblicken ich das Glück hatte, zu Lord Rudra selbst.<br />

Wenn der jīva durch Zufall einem Erleuchteten begegnet, verschwinden seine<br />

unreinen vāsanās (Neigungen). Dies geschieht,, wenn man sich ständig nach<br />

einem Kontakt mit einem erleuchteten Menschen sehnt. Ein solch stetiges<br />

Sehnen und Verlangen (abhyāsa) materialisiert sich und wird zur vollendeten<br />

Tatsache.<br />

RUDRA rekapitulierte ferner wie folgt:<br />

Gewiss geschieht es aufgrund der eigenen inneren Überzeugung „Dieser<br />

Körper ist mein Selbst“, dass diese falsche Wahrnehmung sich ausbreitet.<br />

Wenn man dann seine wahre Natur ergründet, stellt man fest, dass nichts<br />

mehr übrig bleibt! Legen wir schließlich auch diese Ergründung beiseite, da<br />

sie zu nichts führt. Diese Welt ist eine optische Täuschung – wie die Bläue des<br />

Himmels. Sie entsteht aus Unwissenheit. Legen wir nun sogar alle Bemühungen<br />

zur Reinigung dieser Unwissenheit beiseite! Sollte dann diese Welterscheinung,<br />

die gänzlich irreal ist, weiterhin erscheinen, dann soll sie – Schaden<br />

kann sie keinen mehr anrichten. Ich werde nun die Kette der imaginären<br />

437


Verkörperungen zurückverfolgen und die ihnen zugrundeliegende Einheit<br />

wieder herstellen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er die Dinge so bedacht hatte, ging Rudra dorthin, wo der Körper<br />

des Bettelmönchs lag. Er hieß ihn erwachen und sich an all das erinnern, was<br />

bisher geschehen war. Der Bettelmönch erkannte Rudra als sein eigenes<br />

Selbst und erinnerte sich ferner an alle vergangenen Erlebnisse.<br />

Dann gingen beide dorthin, wo JīvaÂa in demselben unendlichen Bewusstsein<br />

gelebt hatte. Sie wiederbelebten seinen Körper. Alle drei waren in der Tat<br />

nur einer. Alle drei, verblüfft über dieses Mysterium, begaben sich dann dorthin,<br />

wo der von seiner Frau umarmte, schlafende Brāhmane lag. Sie erweckten<br />

sein Bewusstsein. Dann gingen sie zum König, der schlafend in seinem<br />

königlichen Schlafgemach lag, umgeben von Nymphen. Sie erweckten auch<br />

seine innere Intelligenz. Auch der König zeigte sich fasziniert im Angesicht<br />

der Wahrheit. Alle zusammen gingen nun dorthin, wo der Schwan lebte –<br />

derselbe Schwan, der dann Rudra wurde.<br />

Sie durchzogen die Welt der einhundert Rudras der Vergangenheit. Sie erkannten,<br />

dass alle diese verschiedenen, illusorischen Ereignisse, die scheinbar<br />

stattgefunden hatten, nur in diesem einen, unendlichen Bewusstsein<br />

geschehen waren. Die eine Form war sozusagen zu vielen geworden. Diese<br />

einhundert Rudras durchdrangen das gesamte Universum und waren allgegenwärtig.<br />

Aufgrund der Tatsache, dass der jīva auf allen Seiten von der Welt umgeben<br />

ist, wie sie aus ihm entsteht, gewahren die unerwachten jīvas einander nicht<br />

und verstehen einander nicht. So wie sämtliche Wellen von derselben Substanz<br />

und daher eines sind, so erkennen die erwachten jīvas ihr Einssein und<br />

verstehen sich gegenseitig. Jeder jīva besitzt seine eigene illusorische Welterscheinung.<br />

Wenn jedoch diese Welterscheinung der jīvas ergründet wird,<br />

führt dies unfehlbar zu demselben, unendlichen Bewusstsein, und zwar auf<br />

dieselbe Weise, wie das Graben an einer beliebigen Stelle des Erdreichs überall<br />

nur leeren Raum enthüllt.<br />

Unterscheidendes Bewusstsein bedeutet Bindung – Befreiung ist die Abwesenheit<br />

davon. Was dir gefällt – das bejahe und bleibe dabei. Denn zwischen<br />

beiden gibt es keinen Unterschied, da in beiden nur Gewahrsein und nichts<br />

anderes ist. Wer würde den Verlust von etwas betrauern, was nur in der<br />

Unwissenheit existiert? Das, was durch „Stillsein“ gewonnen wird, existiert<br />

bereits; es ist daher schon längst „gewonnen“ worden!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle von ihnen erlangten zusammen mit Lord Rudra ihr spirituelles Bewusstsein.<br />

Erkennend, dass sie ein Teil von Rudra waren, wurden sie glücklich.<br />

Rudra betrachtete das Spiel von Māyā, wie es entstand, und er inspirierte<br />

die anderen dazu, wieder ihre Rolle darin zu spielen und nach diesen scheinbar<br />

unabhängigen Existenzformen zu ihm zurückzukehren. Er versicherte<br />

VI.1:64<br />

438


VI.1:64,<br />

65<br />

ihnen ferner, dass sie am Ende des Weltzyklus den höchsten Zustand erreichen<br />

würden. Rudra entschwand dann ihrem Blick, und JīvaÂa und die anderen<br />

kehrten in ihre eigenen Wohnstätten zurück.<br />

RùMA fragte:<br />

Waren denn nicht JīvaÂa und die anderen bloße Traumgebilde (imaginäre<br />

Entitäten) des Bettelmönchs? Wie konnten sie dann zu echten Existenzen<br />

werden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Gib die Idee auf, dass Imagination etwas Reales sei! Wenn das Illusorische<br />

der Illusion aufgegeben ist, existiert das, was existiert, im unendlichen Bewusstsein.<br />

Was im Traum gesehen und als real erlebt wird, erscheint immer<br />

so – auf dieselbe Weise, wie dem Reisenden seine zeitlichen und räumlichen<br />

Erfahrungen als real in Bezug auf die verschiedenen Orte erscheinen. Im<br />

Herzen dieses unendlichen Bewusstseins existiert alles, und alles, was man<br />

darin sieht, erfährt man auch.<br />

Die traumartige Natur der Gedankenformen wird nur durch die intensive<br />

Praxis des <strong>Yoga</strong> erkannt, nicht auf andere Weise. Durch diese Praxis nehmen<br />

Lord Śiva und andere alles überall wahr. Was sich direkt vor dir befindet und<br />

zur selben Zeit von deinem Verstand wahrgenommen wird, wird nicht erkannt,<br />

so lange es eine Fehlwahrnehmung dieser Wahrnehmung oder dieser<br />

Art von Existenz gibt. Nur wenn die Fehlwahrnehmung dieser Wahrnehmung<br />

aufgehoben ist, kann das Objekt erkannt und realisiert werden. Was man sich<br />

wünscht, erlangt man nur, wenn das innerste Sein diesem voll und ausschließlich<br />

ergeben ist! Derjenige, der dem, was vor ihm ist, total ergeben ist,<br />

kennt dieses vollkommen, so wie jemand, der einem illusorischen Objekt<br />

total ergeben ist, dieses ebenfalls vollkommen kennt. Fehlt bei jemandem<br />

eine solche einsgerichtete Hingabe, dann zerstört er das Objekt (er ist dessen<br />

nicht gewahr). Es geschah durch eben diese einsgerichtete Hingabe, dass der<br />

Bettelmönch zu Rudra und den anderen wurde. Jeder von diesen verfügte<br />

über seine eigene Welt, und bis das Rudra-Bewusstsein in ihnen erweckt<br />

wurde, kannten sie einander nicht. Es geschah durch den Willen Rudras, dass<br />

ihr Bewusstsein verschleiert war und siezu verschiedenen Gestalten und<br />

verschiedenen Naturen wurden.<br />

Es geschieht durch die einsgerichtete Kontemplation des „Möge ich ein<br />

himmlisches Wesen werden!“ oder „Möge ich ein Gelehrter werden!“, dass<br />

man als Resultat dieser Kontemplation zu einem oder vielen, zu einem Ungebildeten<br />

oder einem Mann der Gelehrsamkeit wird. Durch Konzentration und<br />

Meditation ist es möglich, dass man zu einem Gott oder einem menschlichen<br />

Wesen wird und entsprechend lebt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das unendliche Bewusstsein, welches das wahre Selbst aller ist, ist mit Allmacht<br />

ausgestattet, aber der jīva (der essenziell nicht verschieden vom Selbst<br />

ist), ist nur mit einer begrenzten Fähigkeit (entsprechend seinen Ideen) aus-<br />

439


gestattet. Daher erfährt der jīva aufgrund seiner eigenen Natur entweder<br />

endlose oder begrenzte Kräfte. Das unendliche Bewusstsein dehnt sich nicht<br />

aus und zieht sich nicht zusammen – es ist der jīva, der erhält, wonach er<br />

sucht. Die Yogis, die verschiedene Kräfte erlangt haben, manifestieren diese<br />

Kräfte hier und auch anderswo. Da sie jedoch hier und dort und an verschiedenen<br />

Orten erfahren werden, erscheinen solche Erfahrungen als viele undunterschiedlich,<br />

so wie der berühmte KārtavÅrya Furcht in den Herzen vieler<br />

erzeugte, obgleich er in seinem eigenen Heim verblieb! (Ein modernes Beispiel<br />

ist das Radio: Ohne das Studio zu verlassen, dringt der Sprecher oder<br />

Sänger in zahllose Stuben.)<br />

Dementsprechend inkarnierte Lord Vi«ïu, ohne seine Heimstatt zu verlassen,<br />

als menschliches Wesen auf der Erde. Und dementsprechend ist Indra<br />

(der der Beschützer der heiligen Riten ist), ohne seine himmlische Heimstatt<br />

zu verlassen, an tausend Orten anwesend, wo die Riten praktiziert werden.<br />

Als Antwort auf den Ruf seiner Verehrer wird Lord Vi«ïu, der Einer ist, tausende,<br />

um seinen Verehrern zu erscheinen. Auf dieselbe Weise gingen Jīvata<br />

und die anderen, die nur die Geschöpfe der Einbildung oder der Wunschvorstellung<br />

des Bettelmönchs und durch das Rudra-Bewusstsein belebt waren,<br />

zu ihren verschiedenen Wohnsitzen und handelten gänzlich unabhängig<br />

voneinander. Sie spielten eine Zeitlang ihre verschiedenen Rollen und kehrten<br />

sodann zur Heimstätte Rudras zurück.<br />

All dies war nur eine momentane Täuschung, die im Bewusstsein des Bettelmönchs<br />

aufstieg, obwohl esschien, als wäre sie gänzlich unabhängig von<br />

ihm. Auf dieselbe Weise finden auch Geburt und Tod all der zahllosen Wesen<br />

sozusagen in dem einen, unendlichen Bewusstsein statt. Sie bilden sich Vielfalt<br />

in dieser Welterscheinung ein und suchen dann nach Einheit im Selbst.<br />

Zur Zeit ihres Todes stellen sie sich in ihrem Innern eine andere Existenz vor,<br />

welche ihnen erscheint, als würde sie außerhalb stattfinden! Bis zur Verwirklichung<br />

der Befreiung werden die verkörperten Wesen endlosen Leiden unterzogen.<br />

Ich habe dir diese Geschichte erzählt, um eben diese Wahrheit zu<br />

verdeutlichen. Es ist dies das Schicksal nicht nur des Bettelmönchs, sondern<br />

aller Wesen. Das Wesen, welches seine Untrennbarkeit vom Höchsten Selbst<br />

vergisst, sieht seine Vorstellungen als unabhängig und gänzlich real und<br />

substanziell. Von diesem Traum wandert es zu anderen Träumen, bis es die<br />

falsche Idee „Ich bin der Körper“ endlich ablegt.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh was für eine wunderbare Geschichte! Hoher Herr, du sagtest, dass alle<br />

Dinge, die man als real wahrnimmt, auch real sind und als solche erfahren<br />

werden. Bitte, teile mir mit, ob dieser Bettelmönch auch irgendwo existiert?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ich werde über diese Frage kontemplieren und sie später beantworten. (Die<br />

Versammlung erhob sich nun für die Mittagsgebete.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.1:66<br />

440


Oh König, oh Rāma! Mit meinem Auge der Weisheit habe ich nach dem Bettelmönch<br />

gesucht. Ich versank in tiefe Meditation mit dem Wunsch, diesen<br />

Bettelmönch zu erblicken. Ich suchte nach ihm in diesem Universum, konnte<br />

ihn jedoch nicht finden. Wie kann die eigene Einbildungskraft außerhalb als<br />

etwas völlig Reales erscheinen?<br />

Dann ging ich weiter Richtung Norden bis zum Land der Jīnas. Auf einem<br />

Ameisenhügel ist ein vihara (Schrein? Oder bihar), der von Menschen bewohnt<br />

war. Dort, in seiner eigenen Hütte, lebte ein Bettelmönch (bhik«u), der<br />

als DÅrghadśa bekannt war und einen gelben Kopf hatte. Er befand sich in<br />

tiefer Meditation. Sogar die ihm dienten, betraten seine Hütte nicht, um ihn<br />

nicht in seiner Meditation zu stören. Es war der einundzwanzigste Tag seiner<br />

Meditation, und es sollte gleichzeitig der letzte sein.<br />

Obgleich er von einem bestimmten Gesichtspunkt aus nur einundzwanzig<br />

Tage meditiert hatte, waren von einem anderen Gesichtspunkt aus Tausende<br />

von Jahren vergangen. Denn das war die Idee, die in seinem Gemüt aufgetaucht<br />

war. Ich wusste, dass ein solcher Bettelmönch bereits in einer anderen<br />

Epoche gelebt hatte, und sogar in jener Epoche war er bereits der zweite<br />

Bettelmönch dieser Art. Außer diesen beiden vermochte ich jedoch keinen<br />

weiteren, dritten zusehen. Als nächstes betrat ich mit allen mir zur Verfügung<br />

stehenden geistigen Fähigkeiten und allem, was unter meiner Kontrollewar,<br />

das eigentliche Herz dieser Schöpfung und suchte nach dem dritten Bettelmönch.<br />

Schließlich fand ich ihn doch noch, jedoch nicht in diesem Universum. Er<br />

befand sich in einem anderen Universum, das jedoch fast genauso wie dieses<br />

hier war, wenn auch von einem anderen Brahmā erschaffen. Auf dieselbe Art<br />

und Weise hat es schon immer zahllose Wesen gegeben, und so wird es sie<br />

auch in Zukunft sein. In dieser Versammlung hier gibt es Weise und heilige<br />

Brāhmanen, die ihrerseits Vorstellungen von anderen Wesen unterhalten, die<br />

daraufhin als solche in Erscheinung treten werden. Darin besteht die Natur<br />

der Māyā.<br />

Einige dieser Wesen werden eine ähnliche Natur haben wie derjenige, der<br />

sie sich vorstellt. Andere wiederum werden völlig anders sein. Und wieder<br />

andere werden ihm teilweise ähnlich sein. Darin besteht die große Māyā, die<br />

sogar die Weisen verblüfft. Jedoch existiert sie weder wirklich noch wirkt sie<br />

hier – es ist immer nur die Täuschung, die all dieses erscheinen und verschwinden<br />

lässt! Außerdem – wo ist eine kurze Zeitperiode von einundzwanzig<br />

Tagen und eine ganze Epoche? Es ist geradezu erschreckend, sich alle<br />

diese Spiele des Gemüts zu vergegenwärtigen.<br />

All dieses ist nichts als Erscheinung, die sich wie der Lotos am Morgen entfaltet<br />

und dann wie der voll erblühte Lotos die Vielfalt enthüllt. All dieses<br />

taucht im unendlichen Bewusstsein auf, das rein ist, und doch wirkt die Erscheinung<br />

wie von der Unreinheit befleckt. Jedes Ding sieht wie bruchstückhaft<br />

aus und wird am Ende seiner bruchstückhaften Existenz weiterer seltsamer<br />

Fragmentierung unterworfen. All dieses ist relativ real, nicht gänzlich<br />

441


VI.1:67<br />

irreal. Alle manifestieren sich in dem All – die Ursache befindet sich in der<br />

Ursache selbst!<br />

DAÁARATHA sprach:<br />

Oh Weiser, sage mir bitte, wo der Bettelmönch (bhik«u) meditiert, so dass<br />

ich unverzüglich meine Soldaten aussenden kann, um ihn von seiner Meditation<br />

aufzuwecken und hierher zu bringen.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh König, der Körper dieses Bettelmönchs ist bereits leblos geworden und<br />

kann nicht wiedererweckt werden. Sein jīva hat Erleuchtung und Befreiung<br />

erlangt und kann nicht erneut der Erfahrung dieser Welterscheinung unterworfen<br />

werden. Seine Ergebenen stehen vor seiner Hütte und warten bis zum<br />

Ende des Monats, um dann die Tür zu öffnen, wie von ihm angewiesen worden<br />

ist. Sie werden feststellen, dass er in der Zwischenzeit seinen Körper<br />

aufgegeben hat und werden einenanderen an seine Stelle einsetzen.<br />

Diese Māyā (oder Welterscheinung oder Illusion) besitzt die Natur begrenzter<br />

und begrenzender Qualitäten und Eigenschaften. Man sagt, dass man sie<br />

unwissend nicht überqueren kann, aber mit der Erkenntnis der Wahrheit<br />

kann sie leicht überwunden werden.<br />

Es ist falsche Wahrnehmung, die im Gold ein Schmuckstück sieht. Die bloße<br />

Erscheinungsweise wird zur Ursache solch falscher Wahrnehmung. Diese<br />

Māyā (unwirkliche Erscheinung) ist nur eine Redensart, denn die Erscheinung<br />

hat dieselbe Beziehung zum höchsten Selbst wie eine Welle zum Ozean.<br />

Sobald einer die Wahrheit erkennt, hört die täuschende Natur der Erscheinung<br />

auf. Aufgrund der Unwissenheit erscheint dieser lange Traum der Welterscheinung<br />

als wirklich, und es geschieht deshalb, dass der jīva ins Dasein<br />

tritt. Wird jedoch die Wahrheit realisiert, wird alles nur als das Selbst gesehen.<br />

Was auch immer die Idee sein mag, die man hat – es ist das Selbst allein,<br />

welches als diese Idee erscheint. Dieses Universum ist das Ergebnis der Ideen<br />

zahlloser Individuen. Die ursprüngliche Idee Brahmās wird nun vom jīva als<br />

feste Realität erfahren. Wenn man jedoch die Reinheit des Bewusstsein erlangt,<br />

wie sie Brahmā besitzt, betrachtet man alles wie einen langen Traum.<br />

Es ist die Idee des Objekts, die zum Gemüt wird und dem unendlichen Bewusstsein<br />

entschlüpft. Dann wird das Gemüt verschiedenen Erfahrungen<br />

unterzogen. Aber ist dieses Gemüt unabhängig vom höchsten Selbst? Ist nicht<br />

das höchste Selbst auch das Gemüt? Der jīva, der Körper und alles andere<br />

sind nichts als Reflexionen oder Erscheinungen im höchsten Selbst! Alle diese<br />

Bewegungen usw. geschehen in dem einen, unendlichen Bewusstsein, welches<br />

für immer unendlich und Bewusstsein und nichts anderes ist – Bewegungen<br />

usw. darin sind nur Redensarten, die auf Einbildung basieren. Da gibt<br />

es weder Bewegung noch Nicht-Bewegung, weder eines noch vieles – was ist,<br />

ist wie es ist. Vielfalt taucht im unerwachten Zustand auf und verschwindet,<br />

sobald einer die Ergründung beginnt. Der Ergründende existiert, aber ohne<br />

442


Zweifel, was in der Tat der höchste Zustand ist. Friede wird als die Welt erkannt;<br />

Friede allein ist diese Welterscheinung. Unwissenheit ist unwirklich;<br />

weder gibt es den Seher, das Gesehene noch die Sicht! Das Gemüt bildet sich<br />

einen Fehler im Mond ein – einen solchen Fehler gibt es dort nicht. Das unendliche<br />

Bewusstsein hat nichts als Bewusstsein als seinen „Körper“ oder<br />

seine Manifestation oder seine Erscheinung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, verbleibe für immer fest verankert im Zustand, der ohne jede Gedankenbewegung<br />

ist und bleibe im Schweigen des Tiefschlafs.<br />

RùMA sprach:<br />

Herr, ich habe vom Schweigen des Mundes, vom Schweigen der Augen und<br />

anderer Sinne, und außerdem vom strengen Schweigen der extremen Askese<br />

gehört. Aber worin besteht das Schweigen des Tiefschlafs?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Rāma, es gibt zwei Arten von muni (ein Weiser, der mouna oder Schweigen<br />

pflegt). Der eine ist ein strenger Asket, während der andere ein befreiter<br />

Weiser ist. Der erstere hält gewaltsam seine Sinne zurück und befasst sich<br />

fanatisch mit trockenen kriyās (d.h. Aktivitäten ohne Weisheit). Der befreite<br />

Weise dagegen weiß, was was ist (d.h. er kennt die Wahrheit als Wahrheit<br />

und das Unwirkliche als unwirklich). Er besitzt Selbsterkenntnis und benimmt<br />

sich doch wie ein gewöhnlicher Mensch. Was als Schweigen oder<br />

mouna bezeichnet wird, hängt von der Natur und dem Verhalten dieser<br />

munis ab.<br />

Es werden vier Arten von Schweigen beschrieben: 1) das Schweigen des<br />

Mundes, 2) das Schweigen der Sinne (Augen usw.), 3) gewaltsame Zurückhaltung,<br />

und auch 4) das Schweigen des Tiefschlafs. Es gibt noch das Schweigen<br />

des Gemüts. Jedoch ist dieszu praktizieren nur möglich für jemanden, der tot<br />

ist oder der rigides mouna (kā«Âha mouna) oder das Schweigen des Tiefschlafs<br />

(su«upti mouna) praktiziert. Die ersten drei Arten beinhalten Elemente<br />

des rigiden mouna. Es ist die vierte Art, die dann wirklich zur Befreiung<br />

führt. Daher erkläre ich, auch wenn dies das Missvergnügen derjenigen erregen<br />

sollte, die die ersten drei Arten von mouna praktizieren, dass diese drei<br />

nichts Erstrebenswertes enthalten.<br />

Das Schweigen des Tiefschlafs führt zur Befreiung. In ihm werden weder<br />

das prāïa noch die Lebenskraft zurückgehalten oderangeregt, die Sinne werden<br />

weder genährt noch ausgehungert, die Wahrnehmung der Vielfalt wird<br />

weder betont noch unterdrückt, das Gemüt ist weder Gemüt noch Nicht-<br />

Gemüt. Es gibt keine Getrenntheit und folglich muss sie auch nicht aufgegeben<br />

werden. Dies wird das Schweigen des Tiefschlafs genannt, und derjenige,<br />

der darin gefestigt ist, mag meditieren oder auch nicht. Hier ist das Wissen<br />

von dem, was ist wie es ist, und da ist die Freiheit vom Zweifel. Es ist äußerste<br />

Leerheit. Da gibt es keinerlei Unterstützung. Es ist höchster Friede, von dem<br />

man weder sagen kann, dass er real noch dass er irreal ist. Der Zustand, in<br />

VI.1:68<br />

443


VI.1:69<br />

dem man weiß: „Da ist kein ‚Ich‘, noch sind da andere oder das Gemüt oder<br />

irgendetwas aus dem Gemüt Entstandenes“, in dem man weiß: „‘Ich‘ ist nichts<br />

als eine Idee in diesem Universum, und hier ist wirklich reines Sein" – dies<br />

wird als Schweigen des Tiefschlafs bezeichnet. Wo kann in diesem reinen<br />

Sein, welches unendliches Bewusstsein ist, “Ich“ oder „etwas anderes“ sein?<br />

RùMA fragte:<br />

Wie gelangten die einhundert Rudras ins Dasein, oh Weiser?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Der Bettelmönch (bik«hu) träumte die einhundert Rudras. Was diejenigen,<br />

deren Gemüter klar und nicht von Unreinheiten verdunkelt sind, sich vorstellen<br />

oder willentlich ins Dasein rufen, dies erfahren sie dann als real. Welche<br />

Gedankenform auch immer in dem einen, unendlichen Bewusstsein auftaucht,<br />

erscheint als solche.<br />

RùMA fragte erneut:<br />

Warum, oh Weiser, beschloss Lord Śiva unbekleidet und auf dem Begräbnisplatz<br />

zu leben, mit menschlichen Schädeln als Schmuck und bestrichen mit<br />

Asche, wie einer, dervon Lust überwältigt werden kann?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Das Verhalten der Götter, der vollkommenen Wesen und der befreiten Weisen<br />

wird nicht bestimmt von Regeln oder Vorschriften, welche von unwissenden<br />

Menschen erfunden werden. Wird jedoch das Betragen der Unwissenden,<br />

deren Gemüt aufs schwerste konditioniert ist, andererseits nicht durch Vorschriften<br />

und Regeln des Betragens gesteuert, dann entsteht Unordnung, in<br />

der die großen Fische die kleinen fressen. Der Mensch der Weisheit jedoch<br />

ertrinkt nicht in dem, was als wünschenswert oder nicht wünschenswert gilt,<br />

denn er hat seine Sinne auf natürliche Weise unter Kontrolle und ist wachsam<br />

und gewahr. Er lebt und arbeitet ohne Vorsatz dazu. Er reagiert auf die Ereignisse<br />

nicht auf der Grundlage der Kausalität; seine Handlungen sind rein und<br />

spontan (so wie die Kokosnuss ohne kausalen Zusammenhang mit der auf<br />

dem Baum landenden Krähe niederfällt). Es kann auch sein, dass er überhaupt<br />

nichts tut!<br />

Auf ähnliche Weise handeln sogar die Mitglieder der Trinität (Brahmā,<br />

Vi«ïu und Áiva) in ihren Inkarnationen. Und die Tätigkeiten der Erleuchteten<br />

sind jenseits von Lob und Tadel, jenseits von Annahme und Zurückweisung,<br />

denn sie haben nicht die Idee von „Dies ist meins“ und „Dies ist ein anderes“.<br />

Ihre Handlungen sind so rein wie das Feuer.<br />

Ich möchte nicht weiter auf die Form von mouna als das Schweigen der<br />

Entkörperten eingehen, da du noch verkörpert bist. Aber ich werde sie nun<br />

kurz beschreiben. Diejenigen, die voll erwacht sind, beständig in samādhi<br />

verweilen und als gänzlich erleuchtet gelten, werden sāækhya-yogis genannt.<br />

Diejenigen, die durch prāïāyāma usw. den Zustand des körperlosen Bewusstseins<br />

erlangt haben, werden yoga-yogis genannt. Tatsächlich sind beide im<br />

444


Wesentlichen gleich. Die Ursache dieser Welterscheinung und der Bindung ist<br />

in der Tat das Gemüt. Beide Pfade führen dazu, dass das Gemüt aufhört. Daher<br />

wird durch die hingebungsvolle und nachdrückliche Praxis zum Aufhören<br />

der Bewegung des prāïa oder zum Enden der Gedanken die Befreiung erlangt.<br />

Darin besteht die Essenz aller Schriften, die von der Befreiung handeln.<br />

RùMA fragte:<br />

Oh Weiser, wenn das Aufhören aller Bewegungen des prāïa Befreiung bedeutet,<br />

dann muss der Tod Befreiung sein! Und damit erlangen alle Menschen<br />

nach dem Tode die Befreiung!<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, sobald das prāïa dabei ist, den Körper zu verlassen, stellt es bereits<br />

die Verbindung mit denjenigen Elementen her, die dem nächsten Körper<br />

dienen. Diese Elemente sind tatsächlich nichts anderes als die Verfestigung<br />

oder Kristallisierung der vāsanās (psychologische Konditionierung, gespeicherte<br />

Erinnerungen, vergangene Eindrücke oder Neigungen) des jīva, die der<br />

Grund dafür sind, weshalb sich der jiva an diese Elemente klammert. Wenn<br />

das prāïa den Körper verlässt, nimmt es alle vāsanās des jīva mit sich.<br />

Erst wenn alle diese vāsanās zerstört sind, wird das Gemüt zum Nicht-<br />

Gemüt. Das Gemüt gibt die Lebenskraft nicht auf, bevor nicht die Selbsterkenntnis<br />

aufgetaucht ist. Durch die Selbsterkenntnis werden die vāsanās<br />

zerstört und damit auch das Gemüt; dann ist im prāïa keine Bewegung mehr.<br />

Darin besteht in der Tat der höchste Friede. Durch die Selbsterkenntniswird<br />

die Unwirklichkeit der Konzepte, die die weltlichen Objekte betreffen erkannt.<br />

Dies setzt den vāsanās und der Verbindung zwischen dem Gemüt und<br />

der Lebenskraft ein Ende. Die vāsanās bilden das Gemüt. Das Gemüt ist das<br />

Aggregat der vāsanās und nichts sonst; wenn die letzteren aufhören, dann ist<br />

dies der höchste Zustand. Erkenntnis ist die Erkenntnis der Wirklichkeit.<br />

Vicāra oder Ergründung selbst ist Erkenntnis.<br />

Totale Hingabe an eine Sache, die Zurückhaltung des prāïa und das Aufhören<br />

des Gemüts – sobald nur eines dieser drei vervollkommnet ist, erlangt<br />

man den höchsten Zustand. Die Lebenskraft und das Gemüt sind so eng miteinander<br />

verbunden wie die Blume und ihr Duft oder der Sesamsame und<br />

sein Öl. Wenn daher die Bewegung der Gedanken im Gemüt aufhört, hört<br />

folglich auch die Bewegung des prāïa auf. Wenn das Gemüt einsgerichtet<br />

einer einzigen Wahrheit ergeben ist, dann hören die Bewegungen des Gemüts<br />

und daher auch die der Lebenskräfte auf. Die beste Methode besteht in der<br />

Ergründung des Selbst, welches unendlich ist. Dein Gemüt wird vollständig<br />

davon absorbiert sein. Dann hören sowohl das Gemüt als auch die Ergründung<br />

auf. Verbleibe fest in dem, was sich danach zeigt.<br />

Ein Gemüt, das nicht nach Vergnügen verlangt, ist absorbiert vom Selbst,<br />

gemeinsam mit der Lebenskraft. Unwissenheit ist Nicht-Existenz, Selbsterkenntnis<br />

ist der höchste Zustand! Es ist nur das Gemüt, welches Unwissenheit<br />

ist, sobald es als eine Realität erscheint; daher ist die Realisierung seiner<br />

445


Nicht-Existenz der höchste Zustand. Ein Gemüt, das auch nur eine Viertelstunde<br />

lang im absorbierten Zustand verbleibt, wird einem vollständigen<br />

Wandel unterzogen, denn es hat den höchsten Zustand der Selbsterkenntnis<br />

gekostet und wird ihn nicht mehr aufgeben. Nein – auch wenn das Gemüt<br />

diesen Zustand auch nur eine Sekunde lang gekostet hat, wird es nicht wieder<br />

in diesen weltlichen Zustand zurückkehren! Die eigentlichen Samen des<br />

saæsāra (Welterscheinung oder Zyklus von Geburt und Tod) wurden geröstet<br />

und sind verbrannt. Dadurch werden die Unwissenheit vertrieben und die<br />

vāsanās gänzlich befriedet; wer dies erreicht hat, ist in sātva (Wahrheit)<br />

verwurzelt. Er ist des inneren Lichts gewahr und ruht in höchstem Frieden.<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom Vampir<br />

VI.1:70,<br />

71<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Man nennt das mok«a oder Befreiung, wenn durch Selbst-Ergründung die<br />

Unwissenheit aufhört, der jīva unverzüglich zum Nicht-jīva und das Gemüt<br />

zum Nicht-Gemüt wird. Weil der Ich-Sinn usw. nur wie Wasser in einer Luftspiegelung<br />

ist, hören diese Dinge auf, sobald das Licht der Ergründung auf sie<br />

gelenkt wird. Höre, oh Rāma, in diesem Zusammenhang die folgenden inspirierenden<br />

und erleuchteten Fragen, die einst von einem Vampir gestellt wurden.<br />

In den Vindhya-Wäldern lebte ein Vampir. Einmal betrat er ein gewisses<br />

Land, und es gelüstete ihn danach, seinen Hunger zu stillen. Jedoch pflegte er<br />

niemanden zur Befriedigung seinen Hungers zu töten, es sei denn, das Opfer<br />

verdiente den Tod. Da er im Wald nirgendwo eine solche Person fand, ging er<br />

in die Stadt und traf dort den König.<br />

Der VAMPIR sprach zum König:<br />

Oh König, ich werde dich nicht töten und fressen, solange du es nicht verdienst.<br />

Du bist der Herrscher hier und erfüllst die Wünsche der Bedürftigen.<br />

Bitte, erfülle mir meinen Wunsch. Ich werde dir nun einige Fragen stellen. Gib<br />

mir die passenden Antworten dazu.<br />

Was ist diese Sonne, deren Strahlenpartikel diese Universen sind? In welchem<br />

machtvollen Wind manifestiert sich dieser machtvolle Raum? Man<br />

wandert endlos von einem Traum zum andern und gibt doch nie das Selbst<br />

auf, aber sehr wohl stets diese Traumrealitäten. Was ist das Selbst? Der<br />

Stamm des Bananenbaums enthüllt, wenn geöffnet, eine Schicht nach der<br />

anderen, bis das Mark schließlich freiliegt. Worin besteht diese subtile Essenz,<br />

wenn diese Welterscheinung auf ähnliche Weise ergründet wird? Was<br />

ist das Atom, von dem die Universen selbst nur wie abgespaltene Atome sind?<br />

446


In welchem ungestalteten „Fels“ liegen die drei Welten verborgen (wie ein<br />

nicht herausgehauenes Bildnis in einem Steinblock)? Beantworte diese Fragen.<br />

Falls nicht, verdienst du gewiss, von mir gefressen zu werden!<br />

Der KÖNIG erwiderte:<br />

Oh Vampir! Dieses Universum wurde einst in mehrere Hüllen eingeschlagen,<br />

so wie eine Frucht in ihre Schale eingeschlossen ist. Es gab da einen<br />

Zweig, auf dem sich Tausende solcher Früchte befanden. Es gab da einen<br />

Baum mit Tausenden solcher Zweige, einen Wald mit Tausenden solcher<br />

Bäume, einen Berg mit Tausenden solcher Wälder, ein Land mit Tausenden<br />

solcher Berge, einen Kontinent mit Tausenden solcher Länder, eine Kugel mit<br />

Tausenden solcher Kontinente, einen Ozean mit Tausenden solcher Kugeln,<br />

ein Wesen mit Tausenden solcher Ozeane in ihm selbst und eine höchste<br />

Person, die Tausende solcher Wesen wie eine Girlande trägt. Da gibt es eine<br />

Sonne, in deren Strahlen Tausende solcher höchsten Personen gefunden<br />

werden – diese Sonne erleuchtet alles. Diese Sonne ist die Sonne des Bewusstseins,<br />

oh Vampir! Im Licht dieser Sonne sind all diese Universen nichts<br />

als winzigste, atomare Partikel. Es geschieht aufgrund dieser Sonne, dass alle<br />

die aufzählbaren Dinge als real erscheinen.<br />

Der KÖNIG sprach:<br />

Im höchsten Selbst erstrahlen als Staubpartikel Substanzen (Konzepte oder<br />

relative Realitäten), bekannt als Zeit, Raum und Bewegung, und welche bewusste<br />

(Bewegung im Bewusstsein und selber Bewusstsein) und reine Intelligenz<br />

sind.<br />

Das Selbst oder Brahman scheint von einer Traumwelt zur nächsten zu<br />

wandern, gibt aber weder seine eigene, essenzielle Natur auf noch ist es jemals<br />

unwissend über sich selbst.<br />

So wie beim Zerlegen eines Bananenstammes jede abgeschälte Schicht eine<br />

weitere, ähnliche Schicht freilegt, so wird diese Welterscheinung im Zuge<br />

ihrer Ergründung als nichts anderes als Brahman gesehen. Auf dieses Brahman<br />

wird positiv als Wahrheit, Brahman usw. Bezug genommen, und da es<br />

jenseits jeder Beschreibung ist, wird es außerdem negativ als Leerheit, unbeschreiblich<br />

usw. bezeichnet. Was als real erfahren wird, ist die Realität. Obwohl<br />

deren jeweilige Form durch die Erfahrung zusammengesetzt wird, ist<br />

sie doch nichts anderes als reines Bewusstsein – so wie der Bananenstamm<br />

nichts als ein Bananenstamm und jede Schicht darin von derselben, identischen<br />

Natur ist.<br />

Das Selbst wird als atomisch angesehen, weil es extrem subtil und unfassbar<br />

ist. Da jedoch das Selbst allein ist, ist es das Unendliche und die eigentliche<br />

Wurzel der gesamten Existenz. Es ist formlos, obgleich es als alle Formen<br />

erscheint.<br />

Diese Welterscheinung ist nichts als das Fleisch, in die die Wahrheit, die<br />

reines Bewusstsein ist, eingekleidet ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.1:72,<br />

73<br />

447


Nachdem er diese Antwort von den Lippen des Königs vernommen hatte,<br />

wurde der Vampir still undtiefsinnig. Er vergaß seinen großen Hunger und<br />

versank in unergründlicher Meditation.<br />

Damit habe ich dir die Geschichte des Vampirs erzählt, oh Rāma, die die<br />

Wahrheit betreffend das subtile, unendliche Bewusstsein beschreibt. Das<br />

Universum ist nur eine Umhüllung oder ein Schleier dieses Bewusstseins –<br />

bei einer gewissenhaften Ergründung gibt es seine reale Natur preis. Es ist in<br />

der Tat ebenso real wie der „Körper“ des Vampirs!<br />

Rāma, erweitere das Gemüt mit Hilfe des Gemüts. Verbleibe im Frieden mit<br />

dir selbst und erblicke in allem nichts als das eine, unendliche Wesen. Wie<br />

der König BhagÅratha wirst du das unmöglich Scheinende erlangen, wenn du<br />

fest in deiner Erkenntnis der Wahrheit verweilst und dich mit angemessenen<br />

Handlungen des Alltags befasst, die durch das mühelose Erfahren des natürlichen<br />

Verlaufs der Ereignisse gekennzeichnet sind.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von BhagÅratha<br />

VI.1:74<br />

Auf Rāmas Bitte erzählte VASIåèHA die folgende Geschichte:<br />

Es gab einmal einen König namens BhagÅratha, der dem dharma ergeben<br />

war. Er gab den Frommen und Heiligen großzügige Geschenke und war ein<br />

Schrecken für die Übeltäter. Unermüdlich arbeitete er daran, die Ursachen<br />

der Armut zu beheben. In der Gesellschaft der Heiligen schmolz sein Herz in<br />

Ergebenheit.<br />

BhagÅratha holte wahrhaftig den heiligen Fluss GaÇgā vom Himmel auf die<br />

Erde nieder. Dabei hatte er große Schwierigkeiten zu überwinden und musste<br />

auch die Götter Brahmā und Áiva sowie den Weisen Jahnu versöhnen. Wegen<br />

all dem erlitt er häufig Vereitelungen und Enttäuschungen.<br />

Schon in jungen Jahren besaß dieser König, oh Rāma, Unterscheidungsfähigkeit<br />

und Leidenschaftslosigkeit. Eines Tages, als er allein war, dachte er<br />

wie folgt nach: „Dieses weltliche Leben ist wahrhaftig substanzlos und stupide.<br />

Tage und Nächte jagen einander. Die Leute wiederholen dieselben bedeutungslosen<br />

Tätigkeiten. Ich erachte nur das als sinnvolle Tätigkeit, was zu<br />

einem Ziel führt, jenseits dessen es nichts weiter zu erlangen gibt; alles andere<br />

ist nur wiederholte, widerwärtige Ausscheidung (wie bei einer Cholera-<br />

Erkrankung).“ Er ging zu seinem Guru Tritala und bat: „Hoher Herr, wie kann<br />

man diesen Sorgen, dem Alter, dem Tod und der Täuschung, die zu diesen<br />

wiederholten Geburten hier führen, ein Ende bereiten?“<br />

TRITALA sprach:<br />

448


VI.1:75,<br />

76<br />

Alle Sorgen hören auf, alle Bindungen werden zerrissen und alle Zweifel<br />

zerstreut, sobald man während einer langen Zeit voll im Gleichmut des Selbst<br />

verankert ist, wenn die Wahrnehmung von Getrenntheit aufgehört hat und<br />

man die Fülle erfährt durch die Erkenntnis dessen, was erkannt werden<br />

muss. Was muss erkannt werden? Es ist das Selbst, welches rein und von der<br />

Natur reinen Bewusstseins ist, welches allgegenwärtig und ewiglich ist.<br />

BHAGýRATHA fragte:<br />

Ich weiß bereits, dass nur das Selbst real ist, während der Körper usw. nicht<br />

real ist. Aber weshalb ist dies alles für mich immer noch nicht vollkommen<br />

klar?<br />

TRITALA sprach:<br />

Ein intellektuelles Wissen dieser Art ist keine Erkenntnis! Dies ist Erkenntnis:<br />

Unangehaftet sein an Weib, Sohn und Haus, Gleichmut in Freud und Leid,<br />

Liebe zur Einsamkeit, feste Verankerung in der Selbsterkenntnis. Alles andere<br />

ist Unwissenheit! Nur wenn der Ich-Sinn ausgedünnt ist, taucht diese Selbsterkenntnis<br />

auf.<br />

BHAGýRATHA fragte:<br />

Wie kann dieser so fest im Körper verankerte Ich-Sinn entwurzelt werden?<br />

TRITALA erwiderte:<br />

Durch Eigenbemühung und entschlossenes Abwenden vom Verlangen nach<br />

Vergnügen. Und durch nachdrückliches Niederreißen des Gefängnisses von<br />

Scham und Schande (falsche Würde) usw. Wenn du all dies aufgibst und fest<br />

dabei bleibst, wird der Ich-Sinn verschwinden und du realisierst, dass du das<br />

höchste Wesen bist!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er diese Anweisungen des Lehrers vernommen hatte, entschloss<br />

sich BhagÅratha einen religiösen Ritus auszuüben als Auftakt zur vollkommenen<br />

Entsagung der Welt. Innerhalb von drei Tagen verschenkte er alles an die<br />

Priester und seine eigenen Verwandten, ob diese nun einen guten Charakter<br />

hatten oder nicht. Sein eigenes Königreich übergab er seinen Feinden, die<br />

jenseits der Landesgrenzen lebten. Gekleidet in ein kleines Lendentuch, verließ<br />

er das Königreich und wanderte in Ländern und Wäldern umher, in denen<br />

er unbekannt war.<br />

Schon sehr bald erlangte er den Zustand des höchsten Friedens in seinem<br />

Innern. Zufällig und unwissentlich betrat BhagÅratha eines Tages wieder sein<br />

eigenes, früheres Königreich und bat die Bewohner um Almosen. Diese erkannten<br />

ihn, verehrten ihn und beteten, dass er wieder ihr König werde. Er<br />

jedoch nahm nichts anderes entgegen als etwas Essen. Die Bürger klagten:<br />

„Seht doch, dies ist der König BhagÅratha! Was für ein trauriger Anblick, welch<br />

eine unglückliche Wendung des Schicksals!" Nach einigen Tagen verließ<br />

BhagÅratha das Königreich wieder.<br />

449


BhagÅratha traf wieder seinen Lehrer und beide durchwanderten, vertieft in<br />

spirituelle Gespräche, das Land: „Weshalb ertragen wir eigentlich immer<br />

noch die Last dieses physischen Körpers? Aber andererseits: Weshalb sie mit<br />

Gewalt abwerfen? Lass den Körper sein, so lange er ist!“ Beide waren ohne<br />

Sorgen und ohne Frohlocken; auch war nicht klar, ob sie Anhänger des mittleren<br />

Pfades waren. Sogar wenn die Götter und Weisen ihnen Reichtum und<br />

psychische Kräfteanboten, wiesen sie diese von sich wie Stroh.<br />

In einem gewissen Königreich war der dort herrschende König verstorben,<br />

ohne einen Erben zu hinterlassen. Seine Minister waren nun auf der Suche<br />

nach einem geeigneten, neuen Herrscher. BhagÅratha, gekleidet in ein Lendentuch,<br />

befand sich zufällig in diesem Königreich. Die Minister entschieden,<br />

dass er die für die Thronbesteigung geeignete Person sei und umringten ihn.<br />

BhagÅratha bestieg den königlichen Elefanten. Schon bald war er der neue,<br />

gekrönte König. Als er das Königreich zu regieren begann, kamen die Bewohner<br />

seines früheren Königreiches zu ihm und baten ihn erneut, auch das<br />

frühere Königreich zu regieren. BhagÅratha nahm an. So wurde er zum Herrscher<br />

der ganzen Welt. Im Frieden mit sich selbst, mit einem ruhigen Gemüt,<br />

frei von Wunsch und Neid, befasste er sich mit angemessenem Handeln in<br />

allenUmständen, wie sie sich ergaben.<br />

Einmal hörte er davon, dass das einzige Mittel, um für die Seelen seiner Ahnen<br />

zu sühnen, das Darbringen des Wassers aus der Gaïgā sei. Um die himmlische<br />

Gaïgā auf die Erde niederzuholen, zog er sich zur Ausübung von<br />

Askesepraktiken in die Wälder zurück und vertraute in der Zwischenzeit das<br />

Reich seinen Ministern an. Dort versöhnte er die Götter und Weisen und<br />

vollbrachte die äußerst schwierige Tat, die Gaïgā auf die Erde hernieder zu<br />

lenken, damit alle Menschen für alle Zukunft ihren Ahnen Sühneopfer mit<br />

dem Wasser der heiligen Gaïgā darbieten können. Von da an begann die<br />

heilige Gaïgā, die Lord Áivas Haupt schmückt, auf der Erde zu fließen.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Áikhidhvaja und Cū¬ālā<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Verbleibe so wie König BhagÅratha stets im Zustand des Gleichmuts, Rāma.<br />

Und verbleibe wie Áikhidhvaja, der allem entsagt hatte, unbewegt. Ich werde<br />

dir nun die Geschichte von Áikhidhvaja erzählen. Höre bitte zu. Es gab einmal<br />

zwei Liebende, die aufgrund ihrer göttlichen Liebe füreinander in einem<br />

späteren Zeitalter wiedergeboren wurden.<br />

RùMA fragte:<br />

VI.1:77<br />

450


VI.1:78<br />

Oh Weiser, wie ist es möglich, dass das Paar, welches als Gemahl und Gemahlin<br />

zusammenlebte, wiederum als Gemahl und Gemahlin in einem späteren<br />

Zeitalter wiedergeboren werden konnte?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So ist die subtile Natur der Weltordnung, oh Rāma. Einige Dinge erscheinen<br />

im Überfluss und manifestieren sich erneut im Überfluss. Andere wiederum<br />

werden jetzt geboren und waren vorher niemals da; und hier seiend, werden<br />

sie nicht wiedergeboren. Wieder andere erscheinen heute in derselben Form,<br />

in der sie schon früher existiert haben. Es ist wie mit den Wellen des Ozeans –<br />

es gibt ähnliche und unähnliche.<br />

Im Mālva-Königreich gab es einen König namens Áikhidhvaja. Er besaß alle<br />

königlichen, vortrefflichen Eigenschaften! Er war rechtschaffen und edel,<br />

tapfer und liebenswürdig. Sehr früh im Leben hatte er seinen Vater verloren.<br />

Obgleich jung an Jahren, konnte er seine königliche Souveränität behaupten.<br />

Unterstützt wurde er bei der Regierung seines Königreiches von seinen tüchtigen<br />

Ministern.<br />

Es wurde Frühling. Die Luft war geschwängert von Liebesverlangen. Der<br />

junge König begann von einer Partnerin zu träumen. Tag und Nacht verlangte<br />

sein Herz nach der Geliebten. Die klugen und weisen Minister erahnten die<br />

Wünsche des königlichen Herzens. Sie gingen in das Saurāstra-Königreich<br />

und hielten für ihren König um die Hand einer Prinzessin an. Schon bald<br />

konnte der König Áikhidhvaja Cū¬ālā heiraten.<br />

Áikhidhvaja und Cū¬ālā waren einander so sehr zugetan, dass sie wie ein<br />

jīva mit zwei verschiedenen Körpern waren. Viele gemeinsame Interessen<br />

teilten sie miteinander, und sie vergnügten sich zusammen in den Lustgärten.<br />

So wie die Sonne ihre Strahlen auf den Lotos herabsendet, so dass er sich<br />

entfalten kann, so überschüttete der König seine Geliebte mit seiner Liebe<br />

und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.<br />

Sie teilten ihr Wissen und ihre Weisheit miteinander und erlangten so in<br />

allen Zweigen des Wissens große Gelehrtheit. Jeder wohnte in vollem Glanz<br />

im Herzen des andern. Es schien fast so, als wäre Lord Vi«ïu mit seiner Gemahlin<br />

selbst auf die Erde herabgekommen, um hier eine besondere Mission<br />

zu erfüllen!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Auf diese Weise erfreuten sich Áikhidhvaja und Cū¬ālā viele Jahre lang, ohne<br />

auch nur einen einzigen Augenblick Langeweile zu empfinden. Jedoch<br />

vermag niemand den Lauf der Zeit anzuhalten. Das Leben erscheint und<br />

verschwindet wie der Trick eines Taschenspielers. Das Vergnügen, welches<br />

man verfolgt, gerät wie der von der Sehne geschnellte Pfeil rasch außer<br />

Sichtweite. Die Sorgen umwölken das Gemüt, wie Geier den Kadaver umkreisen.<br />

„Was gibt es in dieser Welt zu erlangen, das niemals mehr Sorgen im<br />

Gemüt entstehen lässt?“ Nachdem es auf diese Weise nachgedacht hatte,<br />

wandte sich das königliche Paar dem Studium der spirituellen Schriften zu.<br />

451


Sie gelangten zum Schluss, dass nur die Selbsterkenntnis jemanden befähigen<br />

kann, die Sorgen hinter sich zu lassen. Sie gaben sich mit Herz und Seele<br />

der Selbsterkenntnis hin. Sie nahmen Zuflucht zur Gesellschaft der Weisen<br />

der Selbsterkenntnis und verehrten diese. Sie befassten sich beständig mit<br />

Erörterungen über Selbsterkenntnis und förderten so gegenseitig die Selbsterkenntnis.<br />

Nachdem sie dauernd den Pfad der Selbsterkenntnis kontempliert hatte,<br />

begann die Königin wie folgt zu reflektieren:<br />

„Ich sehe mich jetzt und frage: ‚Wer bin ich‘?“ Wie konnten Unwissenheit<br />

betreffend das Selbst und Täuschung entstehen? Der physische Körper ist mit<br />

Sicherheit leblos und gewiss nicht das Selbst. Nur aufgrund der Gedankenbewegungen<br />

im Gemüt wird er überhaupt erfahren. Die Tätigkeitsorgane sind<br />

nur Teile des Körpers und ebenfalls leblos, da Teile des leblosen Körpers nur<br />

leblos sein können. Auch die Sinnesorgane sind leblos, da sie nur mit Hilfe des<br />

Gemüts funktionieren. Ich erachte sogar das Gemüt für leblos. Das Gemüt<br />

denkt und hat Ideen, wird aber vom Intellekt dazu veranlasst, der das bestimmende<br />

Agens ist. Und sogar dieser Intellekt (buddhi) ist leblos, weil er<br />

vom Ich-Sinn gesteuert wird. Der Ich-Sinn ist ebenfalls leblos, da er vom jīva<br />

heraufbeschworen wird, so wie ein Gespenst von einem unwissenden Kind<br />

heraufbeschworen wird. Der jīva wiederum ist nichts als reines Bewusstsein,<br />

das sozusagen von der Lebenskraft eingekleidet wurde und im Herzen wohnt.<br />

Siehe da und schau! Ich habe realisiert, dass das Selbst, welches reines Bewusstsein<br />

ist, als der jīva einhergeht, da das Bewusstsein seiner selbst als<br />

sein eigenes Objekt gewahr wird. Dieses Objekt ist nicht-fühlend und unwirklich.<br />

Da das Selbst sich mit diesem Objekt identifiziert, bekleidet es sich<br />

scheinbar selbst mit Fühllosigkeit und hat (dem Anschein nach) seine essenzielle<br />

Natur als Bewusstsein aufgegeben. Denn darin besteht die Natur des<br />

Bewusstseins: Was es als sich selbst wahrnimmt, ob dies nun wirklich oder<br />

unwirklich sei, dazu wird es, wobei es scheinbar seine eigene Natur aufgibt.<br />

Folglich ist das Selbst reines Bewusstsein, es bildet sich wegen seiner Fähigkeit<br />

zur Wahrnehmung von Objekten nur ein, dass es nicht-fühlend und unwirklich<br />

ist.“<br />

Nachdem Cū¬ālā auf diese Weise eine beträchtliche Zeit lang kontempliert<br />

hatte, wurde sie erleuchtet.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Beglückt von ihrer Selbst-Entdeckung rief die Königin aus: „Endlich habe<br />

ich also das erlangt, was erlangt (gekannt) werden sollte. Nun gibt es keinen<br />

Mangel mehr. Sogar das Gemüt und die Sinne sind nur Reflektionen des Bewusstseins,<br />

obgleich sie unabhängig vom Bewusstsein unwirklich sind. Dieses<br />

höchste Bewusstsein allein existiert. Es ist die höchste Wahrheit, unberührt<br />

von jedweder Unreinheit, für immer im Zustand vollkommenen Gleichgewichts<br />

und ohne Ich-Sinn. Wenn diese Wahrheit realisiert wird, leuchtet<br />

dieses Bewusstsein immerwährend, ohne je unterzugehen.<br />

452


VI.1:79<br />

”Dieses Bewusstsein bezeichnet man mit verschiedenen Namen wie Brahman,<br />

Höchstes Selbst usw. In ihm existiert keine Trennung von Subjekt und<br />

Objekt und deren Beziehung (Wissen). Bewusstsein wird seiner eigenen<br />

Bewusstheit bewusst – es kann nicht anders (nicht als ein Objekt des Bewusstseins)<br />

erkannt werden. Dieses Bewusstsein allein manifestiert sich als<br />

Gemüt, Intellekt und Sinne. Die Welterscheinung ist ebenfalls nichts als Bewusstsein,<br />

und abgesehen davon existiert nichts. Bewusstsein ist keinerlei<br />

Wandel unterworfen – der einzige scheinbare Wandel besteht in der illusorischen<br />

Erscheinung, die reine Täuschung und folglich unwirklich ist! In einem<br />

illusorischen Ozean tauchen illusorische Wellen auf. Das Gemüt ist der Ozean,<br />

und die Wellen sind ebenfalls Gemüt. Auf dieselbe Weise taucht die Welterscheinung<br />

im Bewusstsein auf und ist daher nicht verschieden von diesem.<br />

„Ich bin reines Bewusstsein, ohne Ich-Sinn und alles durchdringend. Für<br />

dieses Bewusstsein existieren weder Geburt noch Tod. Es kann nicht vernichtet<br />

werden, denn es ist wie Raum. Es kann weder verletzt noch verbrannt<br />

werden. Es ist das reine Licht des Bewusstseins – ohne jeden Makel.<br />

„Frei bin ich von aller Täuschung. Ich bin im Frieden. All diese Götter, Dämonen<br />

und zahllosen Wesen sind wirklich unerschaffen, da sie nichtverschieden<br />

vom Bewusstsein sind. Die Erscheinungen sind reine Täuschung, so<br />

wie ein tönerner Soldat nur Ton und kein Soldat ist.<br />

„Der Seher (Subjekt) und das Gesehene (Objekt) sind in Wirklichkeit das<br />

eine reine Bewusstsein. Wie konnte diese Täuschung entstehen, die zu Konzepten<br />

führte wie „Dies ist Einheit, dies ist Dualität“? In wem existiert diese<br />

Täuschung? Wessen ist sie? Ich ruhe im nirvāïa (Befreiung oder Erleuchtung)<br />

ohne die geringste mentale Erregung, indem ich realisiert habe, dass alles<br />

Existierende (ob fühlend oder nicht-fühlend) reines Bewusstsein ist. Es gibt<br />

weder ein 'dieses' noch ein 'Ich' noch ein anderes, weder Sein noch Nicht-<br />

Sein. Alles ist Friede.“<br />

Als sie dies erkannte, ruhte Cū¬ālā im höchsten Frieden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Täglich zog sich die Königin mehr und mehr in sich selbst zurück, und mehr<br />

und mehr erfreute sie sich in der Seligkeit des Selbst. Sie war ohne Verlangen<br />

oder Anhaftung. Ohne irgendetwas zu suchen oder aufzugeben, blieb ihr<br />

Betragen natürlich und ihre Handlungen spontan. Alle ihre Zweifel waren zur<br />

Ruhe gekommen. Sie hatte den Ozean des Werdens überquert. Sie ruhte in<br />

einem unvergleichlichen Zustand des Friedens.<br />

So hatte sie in einer sehr kurzen Zeit die Erkenntnis erlangt, dass diese<br />

Welterscheinung auf dieselbe Weise, wie sie entstanden war, wieder verschwinden<br />

wird! Sie strahlte im Licht dieser Selbsterkenntnis.<br />

Als Áikhidhvaja sie so strahlend und friedvoll sah, fragte er sie: „Geliebte, du<br />

scheinst deine Jugendlichkeit wiedererlangt zu haben, und du erstrahlst auf<br />

ungewöhnliche Weise. Von nichts wirst du mehr verwirrt, und auch Verlangen<br />

besitzt du keines mehr. Dagegen bist du nun voller Seligkeit. Sage mir:<br />

453


Hast du endlich vom Nektar der Götter in vollen Zügen getrunken? Gewiss<br />

hast du etwas erlangt, was zu erlangen extrem schwierig ist?“<br />

CŪÖĀLĀ erwiderte:<br />

Ich habe dieses Nichts aufgegeben, das eine gewisse Gestalt angenommen<br />

hatte. Ich bin nun verwurzelt in der Wahrheit und nicht mehr in der Erscheinung.<br />

Daher strahle ich. Ich habe all dieses aufgegeben und Zuflucht zu etwas<br />

anderem genommen, das gleichzeitig wirklich und unwirklich ist. Daher<br />

strahle ich. Ds ist etwas, und das ist gleichzeitig nicht etwas. Ich kenne es als<br />

das, was es ist. Daher strahle ich. Ich erfreue mich am Nichtgenießen der<br />

Vergnügen, als ob ich sie genossen hätte. Weder gebe ich der Freude noch<br />

dem Ärger nach. Daher strahle ich. Ich erfahre die größte Freude, in der Wirklichkeit<br />

verankert zu sein, die in meinem Herzen leuchtet. Ich werde von den<br />

königlichen Vergnügen nicht abgelenkt. Daher strahle ich. Auch wenn ich in<br />

den Lustgärten weile, verbleibe ich fest verankert im Selbst, sowohl im Genuss<br />

der Freuden als auch in der Schüchternheit. Deshalb strahle ich.<br />

Ich bin die Herrscherin des Universums. Ich bin nicht ein sterbliches Wesen.<br />

Ich erfreue mich am Selbst. Daher strahle ich. Dies bin ich, dies bin ich nicht;<br />

in Wahrheit bin ich weder noch bin ich nicht. Ich bin alles, ich bin nichts.<br />

Daher strahle ich. Weder suche ich Vergnügen noch Reichtum, weder Armut<br />

noch irgendeine andere Form der Existenz. Ich bin glücklich mit allem, was<br />

ohne Mühe erlangt wird. Daher strahle ich. Ich spiele mit ganz schwachen<br />

Zuständen von Anziehung und Abstoßung, mit den durch die Schriften gewonnenen<br />

Einsichten. Daher strahle ich. Was immer ich mit diesen Augen<br />

sehe und mit diesen Sinnen erfahre, und was immer ich mit meinem Gemüt<br />

wahrnehme – überall sehe ich nichts als die eine Wahrheit, die klar von mir<br />

selbst in mir selbst gesehen wird.<br />

ÁIKHIDHVAJA lachte über diese Worte, da er nicht fähig war, sie zu verstehen.<br />

Er sagte:<br />

Du bist kindisch und albern, mein Liebes, und ganz gewiss plapperst du<br />

nur! Wie kann man denn erstrahlen, indem man etwas für nichts aufgegeben<br />

hat, indem man reale Substanzen verworfen und den Zustand einer<br />

Nichtsheit erlangt hat? Wie kann es zur Freude führen, wenn man, wie der<br />

verärgerte Mann das Bett ablehnt, Vergnügen verwirft und prahlt: „Ich erfreue<br />

mich am Nichtgenießen der Vergnügen“? Wer alles (Vergnügen usw.)<br />

aufgibt und dann denkt, er erfreue sich am Leersein, tut etwas, was überhaupt<br />

keinen Sinn ergibt. Ebenso ist es sinnlos zu denken, dass einer glücklich<br />

sei, nachdem er Kleidung, Nahrung, Bett usw. zurückgewiesen hat. „Ich<br />

bin nicht der Körper“, „Noch bin ich irgendetwas anderes“, „Nichts ist alles“ –<br />

was anderes als Geschwätz sind denn solche Aussagen? „Ich sehe nicht, was<br />

ich sehe“ und „Ich sehe etwas anderes“ ist ebenfalls nichts als Unsinn.<br />

Aber meinetwegen – erfreue dich an den Vergnügen, die dir zugedacht sind.<br />

Ich werde weiterhin mit dir leben. Erfreue dich an dir selbst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.1:80<br />

454


Nachdem er so gesprochen hatte, verließ der König die inneren Gemächer.<br />

Cū¬ālā dachte: „Ist es nichttraurig, dass der König nicht verstehen kann?“ und<br />

fuhr mit ihrer Arbeit fort. Auf diese Weise lebten sie eine beträchtliche Zeit<br />

miteinander. Obgleich Cū¬ālā keinerlei Wünsche hatte, entstand doch irgendwann<br />

der Wunsch in ihr, sich im Raum zu bewegen. Um diese Kraft zu<br />

erlangen, zog sie sich in die Abgeschiedenheit zurück und übte die vitalen<br />

Winde, die nach oben steigen.<br />

Es gibt in dieser Welt drei Arten erlangbarer Ziele, oh Rāma: Wünschenswerte,<br />

verabscheuenswerte und solche, die zu ignorieren sind. Das Wünschenswerte<br />

wird mit großer Anstrengung gesucht, das Verabscheuenswerte<br />

wird verworfen und dazwischen befindet sich dasjenige, dem gegenüber man<br />

gleichgültig ist. Gewöhnlich erachtet man das als wünschenswert, was Glück<br />

bringt, während das Gegenteil als verabscheuenswert angesehen wird. Gegenüber<br />

dem, was weder Glück noch Unglück bringt, ist man gleichgültig. Im<br />

Falle der Erleuchteten jedoch existieren diese Kategorien nicht. Denn sie<br />

betrachten alles als ein bloßes Spiel und sind daher gegenüber allem Sichtbaren<br />

und Unsichtbaren gänzlich gleichgültig.<br />

Ich werde dir nun die Methode beschreiben, mit deren Hilfe das erlangt<br />

werden kann (siddhi oder psychische Kräfte), dem gegenüber der Weise der<br />

Selbsterkenntnis gleichgültig ist, welches von den irregeführten Personen<br />

dagegen als wünschenswert angesehen wird und was von einem, der die<br />

Absicht der Kultivierung der Selbsterkenntnis hegt, tunlichst vermieden<br />

sollte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle Errungenschaften beruhen auf vier Faktoren, nämlich Zeit, Ort, Tätigkeit<br />

und Mittel. Unter diesen ist Tätigkeit oder Bemühung der Schlüssel, weil<br />

sicherlich alle Bestrebungen nach Errungenschaft auf Tätigkeit oder Bemühung<br />

beruhen.<br />

Es existieren einige perverse Praktiken, von denen behauptet wird, dass sie<br />

Errungenschaften möglich machen. Insbesondere in der Hand von unreifen<br />

Personen können diese Praktiken großen Schaden anrichten. Es gehören in<br />

diese Kategorie magische Pillen, Salben und Zauberstäbe wie auch die Verwendung<br />

von magischen Steinen, Drogen, Selbst-Kasteiungen und Zaubersprüchen.<br />

Darüber hinaus ist der Glaube falsch, dass allein der Aufenthalt an<br />

heiligen Plätzen wie ÁrÅśaila oder Meru jemanden befähigt, spirituelle Vollkommenheit<br />

zu erlangen.<br />

Im Zusammenhang mit der Geschichte von Áikhidhvaja werde ich dir nun<br />

die Technik des prāïāyāma oder die Übung der Lebenskraft und die Errungenschaften,<br />

die man dadurch gewinnt, erläutern. Höre bitte aufmerksam zu.<br />

Als Vorbereitung sollte man zunächst sämtliche Gewohnheiten und Neigungen<br />

ablegen, die nicht mit dem, was man zu erlangen trachtet, in Beziehung<br />

stehen. Man sollte lernen, die Öffnungen des Körpers zu schließen und außerdem<br />

die verschiedenen <strong>Yoga</strong>-Haltungen praktizieren. Die Nahrung sollte<br />

455


ein sein. Man sollte die Bedeutung der heiligen Schriften kontemplieren. Die<br />

Gemeinschaft mit Heiligen und rechtes Betragen sind essenziell. Nachdem<br />

man allem entsagt hat, sollte man bequem sitzen. Wenn man dann auf diese<br />

Weise einige Zeitlang prāïāyāma praktiziert, ohne im Innern Ärger, Gier usw.<br />

aufsteigen zu lassen, wird die Lebenskraft vollkommen beherrscht.<br />

Von der unumschränkten Herrschaft über die Erde bis zur totalen Befreiung<br />

– alles hängt von den Bewegungen der Lebenskraft ab. Daher sind alle diese<br />

Errungenschaften durch die Praxis des prāïāyāma erlangbar.<br />

Tief innerhalb des Körpers gibt es eine nādÅ, die man āntrave«Âikā nennt. Sie<br />

ruht in den vitalen Teilen und ist die Quelle von hundert weiteren nādÅs. Sie<br />

existiert in sämtlichen Lebewesen – in den Göttern, Dämonen und Menschen,<br />

in Tieren und Vögeln, Würmern und Fischen. In ihrer Quelle liegt sie aufgerollt.<br />

Sie ist verbunden mit allen lebenswichtigen Bahnen innerhalb des Körpers;<br />

vom Becken aufwärts bis zur Krone des Hauptes.<br />

Innerhalb dieser nādÅ wohnt die höchste Kraft. Genannt wird sie kuï¬alinÅ<br />

(Schlangenkraft), weil sie aussieht als wäre sie aufgerollt. Sie ist die höchste<br />

Macht in allen Wesen und der Hauptbeweger aller Kräfte. Sobald das prāïa<br />

oder die Lebenskraft, die im Herzen wohnt, den Ort der kuï¬alinÅ erreicht,<br />

taucht in einem ein Gewahrsein der Elemente der Natur auf. Sobald sich die<br />

kuï¬alinÅ zu entrollen und zu bewegen beginnt, ist Gewahrsein in einem<br />

selbst.<br />

Alle anderen nādÅs (strahlenförmiger Energiefluss) sind ebenfalls sozusagen<br />

an die kuï¬alinÅ gebunden. Die kuï¬alinÅ ist daher der eigentliche Same<br />

des Bewusstseins und des Verstehens oder der Erkenntnis.<br />

RùMA fragte:<br />

Ist nicht das unendliche Bewusstsein ewig unteilbar? Wenn dies so ist – wie<br />

kann die kuï¬alinÅ auftauchen und sich manifestieren und so dieses Bewusstsein<br />

offenbaren?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In der Tat befindet sich stets überall nur dieses unendliche Bewusstsein. Es<br />

manifestiert sich jedoch hier und dort als die Elemente. Die Sonne bescheint<br />

alles, wird jedoch auf besondere Weise reflektiert, wenn die Strahlen auf<br />

einen Spiegel treffen. Auf ähnliche Weise scheint dasselbe unendliche Bewusstsein<br />

in einigen Elementen „verlorengegangen“, in anderen klar und<br />

wiederum in anderen Elementen in all seiner Pracht manifestiert zu sein.<br />

So wie Raum überall nichts als (leerer) Raum ist, so ist Bewusstsein Bewusstsein<br />

und nichts anderes, was auch immer die Erscheinungsform sein<br />

mag. Es ist niemals einem Wandel unterworfen. Dieses Bewusstsein selbst ist<br />

die fünf Wurzelemente. Mit deinem eigenen Bewusstsein siehst du dieses<br />

Bewusstsein, welches die fünf Wurzelelemente ist, auf dieselbe Weise, wie<br />

wenn du jemand anderes in dir selbst oder mit einer Lampe hundert andere<br />

Lampen sehen würdest.<br />

456


VI.1:81<br />

Aufgrund einer leichten Bewegung der Gedanken scheint dieselbe Wirklichkeit,<br />

die Bewusstsein ist, zu den fünf Elementen und dann zum Körper zu<br />

werden. Auf dieselbe Weise wird dasselbe Bewusstsein zu Würmern und<br />

anderen Kreaturen, zu Metallen und Mineralien, zu Erde und dem darauf<br />

Befindlichen, zu Wasser und weiteren Elementen. Daher ist die ganze Welt<br />

nichts anderes als die Bewegung von Energie im Bewusstsein, welche als die<br />

fünf Elemente erscheint. An irgendeiner Stelle ist dann diese Energie fühlend,<br />

an anderer dagegen erscheint sie als nicht-fühlend. Dies geschieht auf dieselbe<br />

Weise, wie Wasser, dem eisigen Wind ausgesetzt, gefriert und fest wird. So<br />

wird die Natur herangebildet und alle Dinge entsprechen dieser Natur.<br />

Und trotzdem ist dies alles nichts als ein Spiel der Worte, eine Redeweise.<br />

Was sind denn Hitze und Kälte, Eis und Feuer? Noch einmal sei gesagt, dass<br />

alle diese Unterscheidungen nur aufgrund der Konditionierung und der Gedankenmuster<br />

auftauchen. Der weise Mensch ergründet daher die Natur<br />

dieser Konditionierung; er schaut, ob diese latent oder offenbar, gut oder<br />

böse ist. Darin besteht eine fruchtbare Ergründung – müßiges Argumentieren<br />

ist wie Boxen mit der Luft.<br />

Latente Konditionierung erzeugt nicht-fühlende Wesen, offenbare Konditionierung<br />

lässt Götter, Menschen usw. entstehen. In einigen befindet sich<br />

eine dichte, zur Unwissenheit führende Konditionierung, in anderen wiederum<br />

ist die Konditionierung schwächer, was die Befreiung begünstigt. Diese<br />

Konditionierung ist für die Vielfalt der Kreaturen verantwortlich.<br />

Denn für diesen kosmischen Baum, genannt die Schöpfung, ist die allererste<br />

Gedankenform der Same, während die verschiedenen Sphären die verschiedenen<br />

Teile des Baums und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seine<br />

Früchte sind. Die fünffachen Elemente, aus denen der Baum gebildet ist,<br />

entstehen aufgrund ihres eigenen Antriebs und verschwinden wieder aus<br />

eigenem Antrieb. Aus eigenem Antrieb vervielfältigen sie sich und nach Ablauf<br />

einer bestimmten Zeit werden sie wiederum vereint und bewegungslos.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die kuï¬alinÅ funktioniert im Körper, der aus den fünf Elementen besteht,<br />

als Lebenskraft. Es ist dieselbe kuï¬alinÅ, die verschiedentlich als Konditionierung<br />

oder Begrenzung, als Gemüt, jīva, Bewegung der Gedanken, Intellekt<br />

(oder bestimmende Fähigkeit) und als Ich-Sinn bezeichnet wird, da sie die<br />

höchste Lebenskraft im Körper darstellt. Als apāna fließt sie beständig abwärts,<br />

als samāna wohnt sie im Solarplexus, und als udāna steigt diese Lebenskraft<br />

aufwärts. Aufgrund dieser Kräfte ist das Gesamtsystems im Gleichgewicht.<br />

Falls jedoch der abwärtsgerichtete Zug zu stark ist und ihm keine<br />

entsprechende Kraft entgegenwirkt, erfolgt der Tod. Wenn die Bewegung der<br />

Lebenskraft so beherrscht wird, dass sie weder ab- noch aufwärts wandert,<br />

herrscht ein unaufhörlicher Zustand des Gleichgewichts, und sämtliche<br />

Krankheiten werden überwunden. Wenn es andernfalls eine Dysfunktion der<br />

gewöhnlichen (zweitrangigen) nādÅs gibt, dann ist der Mensch geringfügigen<br />

457


Krankheiten unterworfen, während ernstliche Leiden auftreten, wenn die<br />

Hauptnadis betroffen sind.<br />

RùMA fragte:<br />

Worin bestehen die vyādhis (Krankheiten) und die ādhis (psychische Dysfunktionen)<br />

und was ist mit der Degeneration des Körpers gemeint? Bitte<br />

erleuchte mich dazu!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ādhi und vyādhi (Krankheiten) sind die Quellen der Leiden. Können sie<br />

vermieden werden, entsteht Glück; ihr Aufhören bedeutet Befreiung. Manchmal<br />

tauchen sie gemeinsam auf, manchmal verursachen sie sich gegenseitig,<br />

und manchmal folgen sie einander. Die körperlichen Krankheiten nennt man<br />

vyādhi, während psychische Störungen, die durch psychologische Konditionierung<br />

(Neurosen) verursacht sind, ādhi genannt werden. Beide wurzeln in<br />

Unwissenheit und Schlechtigkeit. Sie enden, sobald die Selbsterkenntnis oder<br />

Erkenntnis der Wahrheit erlangt wird.<br />

Durch Unwissenheit verliert man die Selbstbeherrschung und ist ständig<br />

von Zuneigungen und Abneigungen gequält und von Gedanken wie „dies habe<br />

ich gewonnen, nun habe ich noch dieses zu gewinnen“. All dies verstärkt die<br />

Täuschung; all dies lässt psychische Störungen entstehen.<br />

Physische Beschwerden werden durch Unwissenheit und deren Begleiterscheinung<br />

von fehlender mentaler Selbstkontrolle verursacht. Dies führt<br />

dann zu falschen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten. Andere Ursachen<br />

sind ungeeignete und unregelmäßige Aktivitäten, ungesunde Lebensgewohnheiten,<br />

schlechte Gesellschaft, böse Gedanken. Auch diese werden von der<br />

Schwächung oder Blockierung der nādÅs verursacht, wodurch der freie Fluss<br />

der Lebenskraft beeinträchtigt wird. Eine weitere Ursache ist eine ungesunde<br />

Umgebung. All dies wird natürlich letztlich durch die Früchte vergangener<br />

Handlungen, wie sie entweder in der näheren oder ferneren Vergangenheit<br />

begangen wurden, bestimmt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle diese psychischen Störungen und physischen Beschwerden resultieren<br />

aus den fünffachen Elementen. Ich werde dir nun mitteilen, wie diese aufhören.<br />

Physische Beschwerden sind zweifacher Art, nämlich gewöhnliche und<br />

ernstliche. Die ersteren tauchen aufgrund von alltäglichen Umständen auf,<br />

während die letzteren angeboren sind. Die ersteren werden mit Hilfe der von<br />

Tag zu Tag stattfindenden medizinischen Maßnahmen und dem Erwerb der<br />

richtigen mentalen Einstellung behoben. Die letzteren (ernstlichen) Beschwerden<br />

jedoch wie auch die psychischen Störungen hören erst dann auf,<br />

wenn die Selbsterkenntnis erlangt wird – die Schlange im Seil stirbt erst<br />

dann, wenn das Seil anstatt der Schlange gesehen wird. Selbsterkenntnis<br />

beendet sämtliche physischen und psychischen Störungen. Jedoch können<br />

physische Beschwerden, die nicht psychosomatischer Natur sind, auch durch<br />

medikamentöse Behandlung, Gebete und rechte Handlung wie auch durch<br />

458


Bäder behandelt werden. All diese Dinge werden in den medizinischen Abhandlungen<br />

beschrieben.<br />

RùMA fragte:<br />

Bitte teile mir mit, wie physische Beschwerden aus psychischen Störungen<br />

entstehen können und wie sie mit anderen als medizinischen Mitteln behandelt<br />

werden können.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Bei mentaler Verwirrtheit kann man seinen eigenen Weg nicht klar wahrnehmen.<br />

Man wählt dann einen falschen Weg, weil man buchstäblich den Weg<br />

vor den eigenen Füßen nicht sieht. Die Lebenskräfte werden durch diese<br />

Verwirrtheit aufgerührt und fließen willkürlich und planlos in den nādÅs auf<br />

und ab. Als Ergebnis davon leiden dann manche nādÅs an Energiemangel,<br />

während andere wiederum durch zu viel Energie verstopft sind.<br />

Schließlich entstehen Störungen im Stoffwechsel, Verstopfung, exzessiver<br />

Appetit wie auch eine gestörte Funktion des Verdauungssystems. Nahrung<br />

verwandelt sich so in Gift. Der natürliche Umlauf der Nahrung im und durch<br />

den Körper wird angehalten. Dadurch entstehen die verschiedenen physischen<br />

Beschwerden.<br />

So führen psychische Störungen zu physischen Beschwerden. So wie<br />

Myrobalan (Gerbstoff) die Gedärme arbeiten lässt, so helfen manche Mantras<br />

wie ya, ra, la, va diesen psychosomatischen Störungen ab. Weitere Maßnahmen<br />

sind reine und segenbringende Handlungen, das Dienen der Heiligen<br />

usw. Dadurch wird das Gemüt rein und im Herzen entsteht große Freude. Die<br />

Lebenskräfte fließen nun wieder ordnungsgemäß entlang der nādÅs. Die<br />

Verdauung normalisiert sich, die Krankheiten hören auf.<br />

Durch die Praxis von pūraka oder Inhalation bleibt der Körper stark, indem<br />

dadurch die kuï¬alinÅ am Ende des Rückgrats „gesättigt“ und in einen Zustand<br />

des Gleichgewichts versetzt wird. Sobald durch Zurückhaltung des<br />

Atems sämtliche nādÅs aufgewärmt sind, richtet sich die kuï¬alinÅ wie ein<br />

Stab auf, und ihre Energien durchfluten dann sämtliche nādÅs des Körpers.<br />

Aufgrund dessen werden die nādÅs gereinigt und leicht. Dann ist der yogi in<br />

der Lage, sich im Raum zu bewegen. Wenn die kuï¬alinÅ durch den brahmānādÅ<br />

aufsteigt und während des recaka oder Exhalation den Punkt erreicht,<br />

der dvādaśānta genannt wird (zwölf Fingerbreiten ob der Krone des Hauptes)<br />

und die kuï¬alinÅ dort eine Stunde lang gehalten werden kann, dann erblickt<br />

der yogi die Götter und vollkommenen Wesen, die sich im Raum bewegen.<br />

RùMA fragte:<br />

Wie ist es diesen Sterblichen möglich, die himmlischen Wesen wahrzunehmen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

459


In der Tat vermag kein Sterblicher himmlische Wesen mit seinen sterblichen<br />

Augen wahrzunehmen. Jedoch werden diese himmlischen Wesen wie im<br />

Traum mit den Augen der reinen Intelligenz gesehen. Die Himmlischen sind<br />

in der Lage, die Wünsche zu erfüllen. Das Wahrnehmen der himmlischen<br />

Wesen ist nicht anders als im Traum. Der einzige Unterschied ist, dass die<br />

Wirkung der Vision andauert. Noch einmal: Wenn jemand fähig ist, die Lebenskraft<br />

im dvādaśānta (zwölf Fingerbreiten vom Körper entfernt) eine<br />

beträchtliche Zeit nach der Exhalation zu halten, dann kann die Lebenskraft<br />

andere Körper betreten. Diese Macht ist der Lebenskraft eingeboren; obwohl<br />

sie unstetig ist, kann sie stetig gemacht werden. Weil die alles verhüllende<br />

Unwissenheit nicht substanziell ist, können wir solche außergewöhnlichen<br />

Vorkommnisse manchmal während der Bewegung der Energie in dieser Welt<br />

beobachten. Gewiss ist all dies nichts als Brahman – Vielfalt und verschiedene<br />

Funktionen sind nichts als Redeweisen.<br />

RùMA fragte:<br />

Um in die engen Räume (nādÅs) eindringen und dann den inneren Raum mit<br />

der Lebenskraft ausfüllen zu können, muss man seinen Körper zugleich atomisch<br />

und fest machen! Wie kann man dies erreichen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Kommen Holz und Säge zusammen, wird das Holz zerteilt. Wenn jedoch<br />

zwei Stück Holz zusammen kommen, entsteht Feuer! All dies ist Teil der<br />

Natur.<br />

[Das „sie“ im folgenden Absatz bezieht sich möglicherweise auf das gastrische<br />

Feuer, die Lebenskraft oder vielleicht sogar die kuï¬alinÅ. Vasi«Âha hat<br />

sicherlich kein besonders großes Interesse daran, hier präzise Unterscheidungen<br />

walten zu lassen!!] In diesem physischen Körper treffen im Unterleib<br />

zwei Kräfte aufeinander. Zusammen formen sie einen hohlen Stab. Darin ruht<br />

dann die kuï¬alinÅ. Diese kuï¬alinÅ befindet sich genau in der Mitte zwischen<br />

Himmel und Erde und vibriert immer mit der Lebenskraft. Im Herzen<br />

wohnend erfährt sie alles. Sie hält alle psychischen Zentren in konstanter<br />

Schwingung oder Bewegung. Sie verdaut und verzehrt jedes Ding. Sie macht<br />

die psychischen Zentren zittern durch die Bewegung des prāïa. Sie unterhält<br />

das Feuer im Körper, bis sämtliche Essenzen erschöpft sind.<br />

Von Natur aus ist sie kühl, aber wegen ihr wird der Körper warm. Im ganzen<br />

Körper liegt sie ausgebreitet, obwohl sie im Herzen wohnt, wo sie vom<br />

yogi kontempliert wird. Sie besitzt die Natur von jñāna (Erkenntnis) und in<br />

ihrem Licht werden ferne Objekte gesehen als wären sie nahe. Alles Kühle ist<br />

der Mond, das Selbst, und aus diesem Mond geht Feuer hervor. Der Körper ist<br />

aus diesem Mond und diesem Feuer gemacht. Tatsächlich besteht die ganze<br />

Welt aus diesen beiden, dem kühlen Mond und dem warmen Feuer. Oder du<br />

kannst diese Welt auch als die Schöpfung von Erkenntnis und Unwissenheit,<br />

des Realen und des Irrealen betrachten. In diesem Fall werden Bewusstsein,<br />

460


Licht und Erkenntnis als die Sonne oder das Feuer gesehen, während Finsternis<br />

und Unwissenheit als der Mond betrachtet werden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Feuer und Mond existieren aufgrund wechselseitiger kausaler Beziehung<br />

(im Körper). In gewisser Weise sind sie wie Same und Baum – das eine lässt<br />

das andere entstehen. In gewisser Weise aber sind sie auch wie Licht und<br />

Finsternis, wobei das eine das andere zerstört. (Wer dies alles in Frage stellt<br />

mit der Aussage: „Da es keinen Wunsch und keine Motivation gibt, sind solche<br />

Kausalitäten und Aktivitäten absolut unlogisch“ sollte sofort verwiesen werden,<br />

denn diese Aktivitäten sind offensichtlich und werden von allen erfahren.)<br />

Das (Feuer) prāïa trinkt die nektargleiche Kühle aus dem Munde des kühlen<br />

Mondes und erfüllt dabei den ganzen Raum innerhalb des Körpers. (Die<br />

Theorie des yogis besagt, dass der Nektar im Gaumen zu fließen beginnt und<br />

vom gastrischen Feuer im Solarplexus verzehrt wird. Daher ist der kühle<br />

Mond die Ursache des verzehrenden Feuers. Er beschreibt dann weiter<br />

viparÅtakaraïÅ, um diesen Verlust an Nektar zu verhindern. S.V.)) Feuer stirbt<br />

und wird zum Mond, so wie der Tag endet und die Nacht anbricht.<br />

Am Knotenpunkt von Feuer und Mond, am Knotenpunkt von Licht und<br />

Finsternis, von Nacht und Tag entsteht die Offenbarung der Wahrheit, welche<br />

sich sogar der Erkenntnis der Weisen entzieht.<br />

Ebenso wie ein Tag aus Tag und Nacht besteht, ist der jīva durch Bewusstsein<br />

und Trägheit gekennzeichnet. Feuer und Sonne symbolisieren Bewusstsein,<br />

während der Mond Finsternis oder Trägheit symbolisiert. So wie die<br />

Dunkelheit auf der Erde schwindet, sobald die Sonne am Himmel steht, so<br />

verschwindet die Finsternis der Unwissenheit und der Zyklus des Werdens<br />

gelangt an sein Ende, sobald das Licht des Bewusstseins gesehen wird. Und<br />

sobald der Mond (die Finsternis der Unwissenheit oder Trägheit) als das<br />

gesehen wird, was er ist, wird Bewusstsein als die einzige Wahrheit realisiert.<br />

Es ist dieses Licht des Bewusstseins, welches den leblosen Körper enthüllt.<br />

Bewusstsein selbst, unbewegt und nondual, kann nicht erfasst werden. Es<br />

kann jedoch durch seine eigene Reflektion, den Körper, realisiert werden.<br />

Bewusstsein, das seiner selbst gewahr wird, gewinnt die ganze Welt. Sobald<br />

die Objektifizierung aufgegeben wird, geschieht die Befreiung. Prāïa ist Hitze<br />

(Feuer), apāna ist der kühle Mond und beide wiederum existieren wie Licht<br />

und Schatten gemeinsam im Körper. Das Licht des Bewusstseins und der<br />

Mond der Beschreibung führen beide zusammen die Erfahrung herbei. Auch<br />

das Sonne und Mond genannte Phänomen, welches seit Beginn der Welt<br />

existiert hat, wohnt im Körper.<br />

Oh Rāma, verbleibe in dem Zustand, in dem die Sonne den Mond in sich<br />

selbst absorbiert hat. Verbleibe in dem Zustand, in dem der Mond mit der<br />

Sonne im Herzen verschmolzen ist. Verbleibe in dem Zustand, in dem die<br />

Erkenntnis stattfindet, dass der Mond nichts als die Reflektion der Sonne ist.<br />

461


VI.1:82<br />

Kenne den Knotenpunkt von Sonne und Mond in dir selbst. Die äußeren Phänomene<br />

sind gänzlich uninteressant.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nun werde ich dir erklären, wie die yogis ihre Körper atomisch klein und<br />

riesengroß machen.<br />

Es gibt da einen Funken Feuer, der knapp oberhalb des Herzenslotos<br />

brennt. Dieses Feuer nimmt sehr schnell zu, aber da es von der Natur des<br />

Bewusstseins ist, steigt es als das Licht der Erkenntnis auf. Wenn es plötzlich<br />

so an Größe zunimmt, kann es den ganzen Körper auflösen; so wie das Wasserelement<br />

im Körper durch Hitze verdampft. Sobald es beide Körper (den<br />

physischen und den subtilen) hinter sich gelassen hat, kann es wandern,<br />

wohin es will. Die kuï¬alinÅ-Kraft steigt wie Rauch aus dem Feuer empor und<br />

vereinigt sich sozusagen mit dem Raum. Diese kuï¬alinÅ, die Gemüt, buddhi<br />

und Ich-Sinn fest im Griff behält, leuchtet als ein Staubpartikel. Dieser Funke<br />

oder Partikel ist dann fähig, überall hineinzugehen. Anschließend gibt die<br />

kuï¬alinÅ die Wasser- und Erdelemente, die sie zuvor in sich selbst absorbiert<br />

hatte, wieder frei und der Körper nimmt seine ursprüngliche Gestalt<br />

wieder an. Auf diese Weise vermag der jīva so winzig wie ein Atom und so<br />

riesig wie ein Berg zu werden.<br />

Bisher habe ich dir die yogische Methode beschrieben. Nun werde ich dir<br />

die Herangehensweise aus Sicht der Weisheit beschreiben.<br />

Es gibt nur ein Bewusstsein, das rein, unteilbar, subtiler als das Subtilste,<br />

still und weder die Welt noch ihre Aktivitäten ist. Es ist seiner selbst gewahr –<br />

aufgrund dessen taucht dieser jīva auf. Dieser jīva nimmt den unwirklichen<br />

Körper als wirklich wahr. Sieht der jīva ihn jedoch im Lichte der Selbsterkenntnis,<br />

schwindet diese Täuschung. Und auch der Körper wird dann gänzlich<br />

still. Der jīva nimmt sodann den Körper nicht mehr wahr. Die Verwechslung<br />

des Körpers mit dem Selbst ist die allergrößte Täuschung, die auch das<br />

Licht der Sonne nicht vertreiben kann.<br />

Wird der Körper als real wahrgenommen, wird er zu einem realen Körper.<br />

Wird er dagegen im Licht der Erkenntnis als irreal gesehen, verschmilzt er<br />

mit dem Raum. Welche Idee auch immer betreffend den Körper beibehalten<br />

wird, diese Idee wird dann zur Realität.<br />

Eine andere Methode besteht in der Praxis der Exhalation, bei welcher der<br />

jīva vom Sitz der kuï¬alinÅ emporgehoben wird und seinen Körper aufzugeben<br />

hat, der dann leblos wie ein Stück Holz ist. Anschließend kann der jīva<br />

dann einen anderen bewegten oder unbewegten Körper betreten und darin<br />

die gewünschten Erfahrungen machen. Nachdem er diese erlebt hat, kann er<br />

den alten Körper e oder einen anderen nur durch seine Willenskraft und zu<br />

seinem Vergnügen betreten. Er kann aber auch als das allesdurchdringende<br />

Bewusstsein verbleiben, ohne einen Körper anzunehmen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.1:83<br />

462


Auf diese Weise gelangte die Königin Cū¬ālā zu all ihren psychischen Kräften<br />

(wie etwa die Fähigkeit, sich selbst atomisch winzig oder riesengroß zu<br />

machen). Sie durchquerte den Himmel, tauchte in die tiefsten Ozeane und<br />

wanderte auf der Erde umher, ohne dabei jemals die Gesellschaft ihres Mannes<br />

aufzugeben. Sie ging in jede nur denkbare Substanz ein – Holz, Fels, Berge,<br />

Gras, Himmel und Wasser – ohne das geringste Hindernis. Sie wandelte<br />

mit den himmlischen Wesen und befreiten Weisen einher und unterhielt sich<br />

mit ihnen.<br />

Obgleich sie alles unternahm, um auch ihren Mann zu erleuchten, blieb dieser<br />

gänzlich uninteressiert und lachte sogar über ihre angeblichen Narrheiten.<br />

Er blieb daher unwissend. Sie jedoch fand es nicht weise, ihm ihre psychischen<br />

Kräfte zu demonstrieren.<br />

RùMA fragte:<br />

Wenn nicht einmal eine solch große siddha-yogini wie Cū¬ālā das spirituelle<br />

Erwachen und die Erleuchtung von König Áikhidhvaja herbeiführen konnte,<br />

wie kann man dann überhaupt Erleuchtung erlangen?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Die Unterweisung des Schülers durch einen Lehrer ist nur der Weg der Tradition.<br />

Die Ursache der Erleuchtung besteht allein in der Reinheit des Bewusstseins<br />

des Schülers. Selbsterkenntnis wird weder durch Zuhören noch<br />

durch Ausübung rechtschaffener Handlungen erlangt. Nur das Selbst kennt<br />

das Selbst, nur die Schlange kennt ihre Füße! Jedoch...<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom Stein der Weisen<br />

Es lebte in den Vindhya-Bergen ein reicher Dorfbewohner. Als er einmal im<br />

Wald spazieren ging, verlor er eine Kupfermünze (ein Centstück). Weil er ein<br />

Geizhals war, begann er im Dickicht danach zu suchen. Die ganze Zeit über<br />

rechnete er: „Mit einem Cent werde ich ein kleines Geschäft machen, und<br />

schnell werden dann vier und schließlich acht Cent daraus usw.“. Drei Tage<br />

lang suchte er nach dem Geldstück und kümmerte sich nicht um den Spott<br />

der Zuschauer. Am Ende dieser drei Tage fand er plötzlich einen wertvollen<br />

Stein! (Es war der Stein der Weisen) Er nahm ihn mit sich nach Hause und<br />

lebte glücklich und zufrieden.<br />

Was war der Grund dafür, dass der Geizhals den Stein der Weisen fand?<br />

Ganz gewiss sein Geiz und sein Suchen im Dickicht nach dem verlorenen<br />

Cent. Auf dieselbe Weise hält der Schüler im Falle der Unterweisung durch<br />

den Lehrer nach etwas Ausschau, um dann etwas anderes zu finden! Brah-<br />

463


man ist jenseits der Sinne und des Gemüts – es kann durch die Unterweisung<br />

durch jemanden nicht erkannt werden. Doch erlangt man diese Erkenntnis<br />

auch nicht ohne die Unterweisung des Lehrers! Der Geizhals hätte den kostbaren<br />

Stein nicht gefunden, wenn er nicht im Gebüsch nach seinem Cent<br />

gesucht hätte. Daher wird die Unterweisung durch den Lehrer als die Ursache<br />

der Selbsterkenntnis bezeichnet, obwohl sie nicht die Ursache ist! Sieh nur<br />

dieses Mysterium der Māyā, oh Rāma – man sucht etwas, erlangt aber etwas<br />

anderes!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ohne alle Selbsterkenntnis war König Áikhidhvaja geblendet von der Täuschung.<br />

Er versank im Kummer, den nichts in der Welt mildern kann. Schon<br />

bald begann er, wie du oh Rāma, die Abgeschiedenheit zu suchen und erledigte<br />

nur noch diejenigen königlichen Pflichten, die seine Minister ihm zu tun<br />

nahelegten. Er war großzügig in seiner Wohltätigkeit. Er übte verschiedene<br />

Entsagungspraktiken. Bezüglich seiner Täuschung und der Sorgen trat jedoch<br />

kein Wandel ein. Nach beträchtlichen Bemühungen sagte er eines Tages:<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach zur Königin:<br />

Meine Teure, ich habe nun lange Zeit die Regentschaft genossen und mich<br />

aller königlichen Vergnügen erfreut. Das Gemüt des Asketen vermögen weder<br />

Vergnügen noch Schmerz, Wohlstand noch Missgeschick zu stören. Ich will<br />

mich in den Wald zurückzuziehen und ein Asket zu werden. Dieser herrliche<br />

Wald, der dir in jeder Hinsicht ähnlich sieht (hier folgt eine romantische<br />

Beschreibung des Waldes, in der dieser mit den Gliedern der Königin verglichen<br />

wird), soll mein Herz so entzücken wie er deines entzückte. Gib mir<br />

daher die Erlaubnis zu gehen, denn eine gute Gattin sollte sich den Wünschen<br />

ihres Gatten nicht widersetzen.<br />

CŪÖĀLĀ erwiderte:<br />

Mein Gebieter, nur diejenige Handlung leuchtet als angemessen, die zur<br />

richtigen Zeit unternommen wird, so wie die Blumen der Frühlingszeit und<br />

die Früchte der Herbstzeit angemessen sind. Das Leben im Walde ist der<br />

späteren Lebenszeit zugedacht, jedoch nicht einem Menschen in deinem<br />

Alter. In deinem Alter ist das Leben eines Haushälters angemessen. Wenn wir<br />

älter geworden sind, werden wir beide dieses Leben im Haushalt aufgeben<br />

und in den Wald gehen! Außerdem werden deine Untertanen über deine<br />

unzeitgemäße Abreise aus dem Königreich trauern.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Meine Teure, lege keine Hindernisse in meinen Weg. Wisse, dass ich mich<br />

bereits für den Wald entschieden habe! Du bist noch ein Kind. Für dich ist es<br />

nicht richtig, im Wald zu leben und ein hartes, asketisches Leben zu führen.<br />

Bleibe daher hier und regiere das Königreich.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.1:84<br />

464


VI.1:85<br />

In der folgenden Nacht, als die Königin noch schlief, verließ der König den<br />

Palast unter dem Vorwand, in der Stadt auf Streife zu gehen. Er ritt den ganzen<br />

Tag und erreichte schließlich am Mandara-Berg einen dichten Dschungel.<br />

Dieser war weit, weit entfernt von menschlichen Behausungen. Es gab Anzeichen<br />

dafür, dass dieser Ort früher von heiligen Brāhmanen bewohnt worden<br />

war. Dort baute er für sich selbst eine Hütte und stattete diese mit allem aus,<br />

was er als notwendig für ein asketisches Leben erachtete, wie etwa einem<br />

Bambusstock, einem Teller für das Essen, einem Wasserkessel, einer Schale<br />

für die Blumen, einem kamaï¬alu, einem Rosenkranz (Mala), Kleidung als<br />

Schutz vor der Kälte, einem Hirschfell. Dann nahm er das asketische Leben<br />

auf. Den ersten Teil des Tages verbrachte er mit Meditation und japa (Wiederholung<br />

heiliger Mantras). Den zweiten Teil des Tages verbrachte er mit<br />

dem Sammeln von Blumen. Dann folgten das Bad und anschließend die Verehrung<br />

der Gottheit. Danach nahm er ein karges Mahl ein bestehend aus<br />

Früchten und Wurzeln. Den Rest des Tages verbrachte er mit japa oder der<br />

Wiederholung von Mantras. So lebte er eine lange Zeit in der Hütte, ohne<br />

jemals an sein Königreich usw. zu denken.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Cū¬ālā erwachte mit einem Schreck, als sie entdeckte, dass ihr Gemahl den<br />

Palast verlassen hatte. Sie fühlte sich unglücklich und kam zu dem Ergebnis,<br />

dass ihr Platz an der Seite ihres Gemahls sei. Rasch verließ auch sie durch ein<br />

kleines Fenster den Palast und flog durch den Himmel, dabei Ausschau haltend<br />

nach ihrem Gemahl. Schon bald hatte sie ihn entdeckt, wie er im Wald<br />

umherwanderte. Jedoch bevor sie sich in seiner Nähe niederließ,, begann sie<br />

mit Hilfe ihrer psychischen Kräfte die zukünftigen Ereignisse zu betrachten.<br />

Sie vermochte alles zu sehen, wie es entsprechend dem Schicksal zu geschehen<br />

hatte, bis in das kleinste Detail. Indem sie sich dem Unvermeidlichen<br />

beugte, kehrte sie auf der gleichen Himmelsroute zum Palast zurück.<br />

Cū¬ālā kündigte an, dass der König den Palast für eine wichtige Mission<br />

verlassen habe. Von nun an übernahm sie selbst die Staatsangelegenheiten.<br />

Achtzehn Jahre lang weilte sie im Palast, während ihr Gemahl im Walde lebte,<br />

und niemals trafen sie einander. Ihr Gemahl begann, erste Zeichen des Alterns<br />

zu zeigen.<br />

Nun „sah“ Cū¬ālā, dass das Gemüt ihres Mannes beträchtlich an Reife gewonnen<br />

hatte und ihre Aufgabe nun darin bestand, ihm bei der Erlangung der<br />

Erleuchtung zu helfen. Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, verließ<br />

sie des Nachts den Palast und begab sich an den Ort, wo ihr Gemahl lebte. Sie<br />

nahm in den Himmeln die himmlischen Wesen und die vollkommenen Weisen<br />

wahr. Sie durchflog die Wolken, atmete den himmlischen Duft ein und<br />

schaute mit großer Erwartung der Wiedervereinigung mit ihrem Gemahl<br />

entgegen. Sie war erregt und ihr Gemüt befand sich in Aufruhr. Nachdem sie<br />

ihres mentalen Zustandes gewahr geworden war, sagte sie sich: „Oh, so lange<br />

in diesem Körper Leben ist, hört dessen Natur nicht auf, aktiv zu sein. Sogar<br />

mein Gemüt ist so stark erregt! Oder vielleicht, oh Gemüt, suchst du deinen<br />

465


eigenen Gemahl? Aber es kann auch sein, dass mein Gatte nach all diesen<br />

Jahren der Askese sein Königreich und mich vergessen hat. In diesem Fall ist<br />

es gänzlich überflüssig, oh Gemüt, durch die Aussicht des Wiedersehens mit<br />

ihm in Erregung zu geraten! Ich werde das Gleichgewicht im Herzen meines<br />

Gemahls so wieder herstellen, dass er in sein Königreich zurückkehrt, wo wir<br />

dann zusammen eine lange Zeit glücklich leben werden. Das Entzücken, welches<br />

in einem Zustand vollkommenen inneren Gleichgewichts empfunden<br />

wird, ist jedem anderen Glück überlegen.“<br />

Während sie so dachte, erreichte Cū¬ālā den Mandara-Berg. Noch in der<br />

Luft befindlich, erblickte sie ihren Gemahl wie einen völlig Fremden, denn der<br />

König, der früher in königliche Gewänder gekleidet war, erschien nun als ein<br />

abgezehrter Asket. Cū¬ālā war erschüttert vom herzzerreißenden Anblick<br />

ihres Gatten, gekleidet in groben Stoff, mit verfilztem Haar, still und einsam<br />

und mit beträchtlich dunklerer Haut, als hätte er in einem Fluss voll Tinte<br />

gebadet. Einen Moment lang dachte sie: „Oh weh – dies ist wahrhaftig die<br />

Frucht der Torheit! Denn nur Toren gelangen in den Zustand, in dem der<br />

König ist. Sicherlich geschah es aufgrund seiner Täuschung, dass er sich hier<br />

in dieser Einsiedelei selbst abgeschlossen hat. Hier und jetzt werde ich ihm<br />

nun zur Erleuchtung verhelfen. Ich werde mich ihm in einer Verkleidung<br />

zeigen.“<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Da sie fürchtete, dass Áikhidhvaja aufs Neue ihre Unterweisung verspotten<br />

und sie immer noch für ein unwissendes Mädchen halten würde, verwandelte<br />

Cū¬ālā sich selbst in einen jungen, Brāhmanen Asketen und ließ sich direkt<br />

vor ihrem Gemahls nieder. Áikhidhvaja erblickte den jungen Asketen und war<br />

hoch erfreut. Beide schienen einander in ihrem spirituellen Glanz übertreffen<br />

zu wollen. Der junge Asket war in der Tat so unvergleichlich strahlend, dass<br />

Áikhidhvaja ihn für ein himmlisches Wesen hielt. Er brachte dem Asketen<br />

seine Verehrung entgegen. Cū¬ālā nahm die Verehrung an und bemerkte: „Ich<br />

habe die ganze Welt bereist, aber noch nie bin ich mit solcher Hingabe verehrt<br />

worden! Ich bewundere deine Ruhe und Entsagung. Du hast dich entschlossen,<br />

auf des Messers Schneide zu wandern, indem du dein Königreich<br />

aufgegeben und dich in die Waldeinsamkeit zurückgezogen hast.“<br />

Áikhidhvaja erwiderte: „Gewiss weißt du alles. Oh Sohn der Götter! Durch<br />

deinen bloßen Blick ergießt sich der Nektar über mich. Ich habe eine liebliche<br />

Ehefrau, die jetzt mein Königreich regiert, und du ähnelst ihr in gewisser<br />

Weise. Und die Blumen, die ich dir in Verehrung dargeboten habe, mögen sie<br />

gesegnet sein. Das Leben findet seine Erfüllung in der Verehrung der Gäste,<br />

die unerwartet eintreffen. Die Verehrung eines solchen Gastes ist sogar der<br />

Verehrung der Götter überlegen. Bitte sage mir, wer du bist und wie ich den<br />

Segen deines Besuches verdiene?“<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) sprach:<br />

466


Es gibt einen heiligen Mann in diesem Universum, den man Nārada nennt.<br />

Einst war er in einer Höhle am Ufer des heiligen Flusses GaÇgā in Meditation<br />

versunken. Am Ende seiner Meditation hörte er den Klang von Armreifen, die<br />

anscheinend einigen Leuten gehörten, die sich im Wasser vergnügten. Aus<br />

bloßer Neugierde blickte er in ihre Richtung und erschaute einige der höchsten<br />

himmlischen Nymphen, die nackt im Wasser spielten. Sie waren unbeschreiblich<br />

schön. Sein Herz erfuhr ein Entzücken und sein Gemüt verlor<br />

einen Augenblick lang das Gleichgewicht, überwältigt von Lust.<br />

ŚIKHIDHVAJA fragte:<br />

Oh Heiliger, obschon er ein Weiser von großem Wissen und sogar ein Befreiter<br />

war, ohne Wunsch und Anhaftung, und obschon sein Bewusstsein<br />

unbegrenzt wie der Himmel war, wie kam es, dass er von Lust überwältigt<br />

wurde?<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) sagte:<br />

Oh königlicher Weiser, sämtliche Wesen in den drei Welten einschließlich<br />

der Götter im Himmel haben einen Körper, der den zwiefachen Mächten<br />

unterworfen ist. Ob man nun unwissend oder weise ist – so lange man verkörpert<br />

ist, ist der Körper dem Glück und dem Unglück, Vergnügen und<br />

Schmerz unterworfen. Indem man sich erfreulichen Objekten hingibt, erfährt<br />

man Vergnügen und durch Mangel daran (Hunger usw.) erfährt man Qualen.<br />

Darin besteht nun einmal die Natur der Dinge.<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) fuhr fort:<br />

Wird das Selbst, welches die Wirklichkeit und rein ist, auch nur einen Moment<br />

lang vergessen, dann erfährt das Objekt der Erfahrung eine Erweiterung.<br />

Dies geschieht nicht, sofern ein ungebrochenes Gewahrsein herrscht. So<br />

wie Finsternis und Licht seit jeher mit Tag und Nacht in Verbindung gebracht<br />

werden, so hat die Erfahrung von Freude und Schmerz für den unwissenden<br />

Menschen die Existenz des Körpers bestätigt. Im Weisen jedoch, auch wenn<br />

eine solche Erfahrung im Bewusstsein reflektiert wird, erzeugt sie keinen<br />

Eindruck. Wie im Fall eines Kristalls wird der weise Mensch von einem Objekt<br />

nur dann beeinflusst, wenn dieses sich aktuell und physisch in seiner<br />

unmittelbaren Nähe befindet. Die unwissende Person jedoch ist so stark<br />

beeinflusst, dass sie über die Objekte sogar in deren Abwesenheit brütet. Das<br />

ist also das Kennzeichen: Eine ausgedünnte Verletzlichkeit bedeutet Befreiung,<br />

während die dichte Eintrübung des Gemüts Bindung bedeutet.<br />

(Als Erwiderung auf Áikhidhvaja‘s Frage: „Wie können Vergnügen und<br />

Schmerz sogar in der Abwesenheit des Objektes auftreten?“ sprach der<br />

Brāhmane:) Die Ursache liegt in dem Eindruck, der über den Körper, die<br />

Augen usw. im Herzen empfangen worden ist. Später dann erweitert sich<br />

dieses von selbst. Sobald das Herz erregt ist, erregt die Erinnerung den jīva<br />

am Sitz der kuï¬alinÅ. Die nādÅs, die im gesamten Körper verzweigt sind,<br />

werden betroffen. Die Erfahrungen von Vergnügen und von Schmerz betref-<br />

467


fen die nādÅs jedoch unterschiedlich – nur in der Erfahrung von Vergnügen,<br />

nicht aber im Schmerz, erweitern sie sich sozusagen und blühen auf.<br />

Wenn der jīva nicht mehr in den Zustand der erregten nādÅs kommt, ist er<br />

befreit. Bindung ist nichts anderes als die Unterwerfung des jīva unter Vergnügen<br />

und Schmerz. Der jīva wird schon allein durch den „Anblick“ von<br />

Vergnügen und Schmerz erregt. Erkennt er jedoch mit Hilfe der Selbsterkenntnis,<br />

dass Vergnügen und Schmerz in Wahrheit nicht existieren, erlangt<br />

er sein Gleichgewicht wieder. Oder er erlangt die totale Freiheit, wenn er<br />

realisiert, dass Vergnügen und Schmerz weder in ihm noch er in ihnen existiert.<br />

Sobald er realisiert, dass all dies nichts als das eine, unendliche Bewusstsein<br />

ist, erlangt er sein Gleichgewicht zurück. Wie eine Lampe ohne Öl<br />

wird er nicht aufs Neue erregt. Der jīva wird dann als nicht-existierend erkannt<br />

und ins Bewusstsein reabsorbiert, in dem er nur der erste auftretende<br />

Wurzelgedanke ist.<br />

(zur Frage Áikhidhvaja‘s, wie die Erfahrung von Vergnügen zu einem Verlust<br />

von Energie führen könne, antwortete der Brāhmane:) Wie ich schon sagte,<br />

erregt der jīva die Lebenskraft. Die Bewegung der Lebenskraft entzieht die<br />

vitale Energie aus dem ganzen Körper. Diese Energie fließt dann als Samenenergie<br />

hinab und wird auf natürliche Weise entladen.<br />

(Nach dem Wesen der Natur befragt, antwortete der Brāhmane:) Ursprünglich<br />

existierte Brahman allein als Brahman. In ihm tauchten wie Wellen auf<br />

der Oberfläche des Ozeans unzählbare Substanzen auf. Dies ist, was man<br />

Natur nennt. Sie steht nicht kausal mit Brahman in Zusammenhang, sondern<br />

geschieht so, wie zufällig eine Kokosnuss fällt, wenn eine Krähe auf der Kokospalme<br />

landet. In dieser Natur finden sich die verschiedensten Geschöpfe,<br />

die mit den unterschiedlichsten Eigenschaften ausgestattet sind.<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) fuhr fort:<br />

Durch die Natur des Selbst wird das Universum geboren. Es wird durch<br />

Selbstbegrenzung oder Konditionierung aufrechterhalten, die aufgrund von<br />

ständig wechselnder Ordnung und Unordnung entsteht. Hören diese Selbstbegrenzung<br />

und die Konflikte zwischen Ordnung und Unordnung auf, werden<br />

die Wesen nicht wieder geboren.<br />

(Fortfahrend mit der Geschichte von Nārada sprach der Brāhmane:) Nārada<br />

erlangte seine Selbstbeherrschung zurück. Er sammelte den Samen, der vergossen<br />

wurde, in einem Kristallgefäß. Anschließend füllte er ihn mit Milch,<br />

die er mit Hilfe seiner Gedankenkraft erzeugt hatte. Nach einer gewissen Zeit<br />

gebar dieses Kristallgefäß ein Kind, das in jeder Hinsicht vollkommen war.<br />

Nārada taufte das Kind und teilte ihm im Laufe der Zeit die höchste Weisheit<br />

mit. Der Knabe war ein Ebenbild seines Vaters.<br />

Später nahm Nārada den Jungen mit zu Brahmā, dem Schöpfer, dem Vater<br />

Nāradas. Brahmā segnete den Jungen (dessen Name Kuæbha war) mit der<br />

höchsten Weisheit. Dieser Junge, dieser Kuæbha, der Enkel Brahmas, steht<br />

nun vor dir. Ich durchwandere die Welt zu meinem Vergnügen, denn ich habe<br />

VI.1:86,<br />

87<br />

468


nichts darin zu gewinnen. Wenn ich in diese Welt komme, berühren meine<br />

Füße nicht die Erde.<br />

(Nachdem Vasi«Âha so gesprochen hatte, ging der siebzehnte Tag zur Neige.)<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach:<br />

Es ist wahrhaftig die Erfüllung vergangener guter Taten, die in vielen Inkarnationen<br />

getan wurden, dass ich dich heute getroffen habe und den Nektar<br />

deiner Weisheit trinke! Nichts in der Welt kann den Frieden geben, den die<br />

Gemeinschaft mit Heiligen einem Menschen verleiht.<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) sagte:<br />

Ich habe dir meine Lebensgeschichte erzählt. Bitte teile du mir nun mit, wer<br />

du bist und was du hier tust. Wie lange bist du schon hier? Erzähle mir alles<br />

wahrheitsgemäß, denn Einsiedler sprechen nur die Wahrheit.<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Oh Sohn der Götter, du hast Kenntnis von allen Dingen wie sie sind. Was soll<br />

ich dir denn noch erzählen? Ich lebe in diesem Dschungel aufgrund meiner<br />

Furcht vor diesem saæsāra (Weltzyklus oder Zyklus von Geburt und Tod).<br />

Obgleich du schon alles weißt, werde ich dir kurz meine Geschichte erzählen.<br />

Ich bin König Áikhidhvaja. Ich habe mein Königreich aufgegeben. Ich fürchte<br />

diesen saæsāra, in dem man wiederholt und abwechselnd Vergnügen und<br />

Schmerz, Geburt und Tod erlebt. Obwohl ich jedoch weit gewandert und<br />

ausgiebigen Entsagungspraktiken nachgegangen bin, habe ich Frieden und<br />

Stillheit noch nichtgefunden. Mein Gemüt ist immer noch ruhelos. Ich ergehe<br />

mich weder in Aktivitäten, noch suche ich irgendeinen Gewinn zu erzielen –<br />

ich bin alleine hier und hafte an nichts an. Und doch bin ich trocken und unerfüllt.<br />

Ich habe ununterbrochen sämtliche kriyās (yogische Methoden) praktiziert.<br />

Und doch schreite ich nur vom Kummer zu größerem Kummer; sogar<br />

Nektar wird für mich zu Gift.<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) sagte:<br />

Einst fragte ich meinen Großvater: „Was ist besser – kriyā (Handlung, die<br />

Praktik einer Technik) oder jñāna (Selbsterkenntnis)?“ Er sprach dann zu<br />

mir:<br />

„Gewiss ist jñāna dem kriya überlegen, denn durch jñāna realisiert man das<br />

Eine, welches als Einziges ist. Dagegen wurde kriyā schon immer als Zeitvertreib<br />

beschrieben. Wenn man jñāna nicht besitzt, dann klammert man sich an<br />

kriyā; wenn man keine gute Kleidung hat, klammert man sich an einen Sack.<br />

Die Unwissenden sind aufgrund ihrer Konditionierung (vāsanā) durch die<br />

Früchte ihrer Handlungen gefangen. Wird die Konditionierung aufgegeben,<br />

wird Handlung zur Nicht-Handlung, gleichgültig ob sie nun als gut oder böse<br />

betrachtet wird. Wenn es keine Selbst-Begrenzung oder Wollen gibt, tragen<br />

die Handlungen keine Früchte mehr. Handlungen selber erzeugen keinerlei<br />

Reaktionen oder „Früchte“ – es sind die vāsanā oder das Wollen, die Früchte<br />

aus einer Handlung erzeugen. So wie ein schreckhafter Junge sich einen Geist<br />

469


vorstellt und diesen dann auch tatsächlich vor sich sieht, so hat der Unwissende<br />

die Ideen von Sorgen und erleidet dann auch Sorgen.<br />

Jedoch sind weder die vāsanā (Selbst-Begrenzung oder Konditionierung)<br />

noch der Ich-Sinn real! Sie entstehen aufgrund von Torheit. Sobald diese<br />

Torheit aufgegeben wird, entsteht die Realisierung, dass all dies nichts als<br />

Brahman ist und Selbst-Begrenzung nicht existiert. Gibt es vāsanā, dann gibt<br />

es das Gemüt. Hören die vāsanā im Gemüt auf, entsteht die Selbsterkenntnis.<br />

Wenn jemand die Selbsterkenntnis erlangt hat, wird er nicht wiedergeboren."<br />

Daher haben schon die Götter, Brahmā und andere, erklärt, dass die Selbsterkenntnis<br />

das Höchste ist. Weshalb bleibst du noch weiter unwissend? Weshalb<br />

denkst du: „Dies ist das kamandalu“, „Dies ist ein Stock“ und verbleibst<br />

unwissend? Weshalb ergründest du nicht: „Wer bin ich?“, „Wie ist diese Welt<br />

entstanden?“ und „Wie gelangt all dies an ein Ende?“? Weshalb erreichst du<br />

nicht den Zustand der Erleuchteten, indem du die Natur von Bindung und<br />

Befreiung ergründest? Weshalb verschwendest du deine Zeit mit nutzlosen<br />

Askesepraktiken und anderen kriyās? Du erlangst Selbsterkenntnis, indem du<br />

die Gemeinschaft mit Heiligen suchst, ihnen dienst und sie befragst.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Oh, ich wurde durch dich wahrhaftig erweckt, oh Weiser! Ich gebe die Torheit<br />

auf! Du bist mein guru, ich bin dein Schüler. Bitte unterweise mich in<br />

deinem Wissen, welches allen Kummer vertreibt.<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) erwiderte:<br />

Oh königlicher Weiser, ich werde dich unterrichten, wenn du zuhören<br />

kannst und meine Worte würdigst. Eine Unterweisung wird ergebnislos verlaufen,<br />

wenn man nur auf Fragen Antworten gibt, wenn der Fragende nicht<br />

wirklich zuzuhören bereit ist und die Lehren nicht schätzt und sie sich nicht<br />

aneignet. (Nachdem sie die entsprechende Versicherung Áikhidhvajas erhalten<br />

hatte, sprach Cū¬ālā:) Höre nun aufmerksam zu, denn ich werde dir eine<br />

Geschichte erzählen, die der deinen ähnelt.<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom Cintāmaïi<br />

VI.1:88<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) sprach:<br />

Es gab einmal einen Mann, der in sich selbst eine nahezu undenkbare Verbindung<br />

von Reichtum und Klugheit vereinigte. Er besaß die besten Eigenschaften,<br />

er war erfolgreich in seinen Geschäften und erreichte alle seine<br />

Ziele; aber er war seines Selbstes nicht gewahr. Er begann schließlich mit<br />

Entsagungspraktiken, um das himmlische Juwels namens cintāmaïi zu ge-<br />

470


winnen (der Stein der Weisen, von dem man sagt, dass er seinem Besitzer<br />

sämtliche Wünsche erfüllt). Seine Bemühungen waren so intensiv, dass nach<br />

kurzer Zeit das gewünschte Juwel vor ihm erschien. Was ist unmöglich für<br />

jemanden, der bis zum Äußersten nach etwas strebt? Wenn man sich voll und<br />

ganz einer Aufgabe widmet und dabei Mühen und Schwierigkeiten nicht<br />

beachtet, dann wird auch ein armer Mann das Ziel erreichen.<br />

Dieser Mann sah also das Juwel vor sich in unmittelbarer Reichweite. Jedoch<br />

war er unfähig, eine Gewissheit über dieses Objekt zu erlangen. Mit<br />

einem Gemüt, das verwirrt war von all dem Kämpfen und Leiden, begann er<br />

zu grübeln: „Kann dies der cintāmaïi sein? Oder ist er es vielleicht gar nicht?<br />

Soll ich ihn berühren oder nicht? Vielleicht wird er verschwinden, wenn ich<br />

ihn anfasse? Es ist doch unmöglich, ihn in so kurzer Zeit zu erlangen! Die<br />

Schriften erklären, dass er nur nach einer lebenslangen Zeit des Strebens<br />

erlangt werden könne. Ich bin ja nur ein armer, gieriger Mensch – gewiss<br />

bilde ich mir die Existenz dieses Juwels vor mir nur ein. Womit hätte ich das<br />

Glück verdient, es so bald zu erlangen? Es mag Große geben, die dieses Juwel<br />

in so kurzer Zeit rechtmäßig ihr Eigen nennen können, aber ich selbst bin<br />

doch nur ein gewöhnlicher Mann mit nur wenig durch Entsagung erworbenen<br />

Verdiensten. Wie könnte ich es daher in so kurzer Zeit erlangt haben?“<br />

Da er so verwirrt war, tat er nichts, um das Juwel an sich zu nehmen. Er war<br />

nicht dazu ausersehen, es zu erlangen. Man bekommt immer nur das, was<br />

man verdient, und wann man es verdient. Sogar als das himmlische Juwel vor<br />

ihm lag, ignorierte der Dummkopf es! Das Juwel aber, unbeachtet geblieben,<br />

verschwand wieder. Psychische Kräfte (siddhis) verleihen einem Menschen<br />

alles, wonach er verlangt. Haben sie dann seine Weisheit restlos zerstört,<br />

gehen sie fort und kehren nicht mehr zurück. Dieser Mann setzte dann seine<br />

Entsagungsbemühungen fort, um den cintāmaïi zu erlangen. Die Fleißigen<br />

geben ihre Unternehmungen niemals auf. Nach einiger Zeit sah er ein Stück<br />

farbiges Glas, das zufällig während dem Spiel der himmlischen Wesen herunterfiel.<br />

Er dachte, dass dies nun endlich der cintāmaïi sei und griff gierig<br />

danach. Überzeugt, dass er nun alles erlangen werde, was er sich wünscht,<br />

gab er seinen Wohlstand, seine Familie usw. auf und ging in den Dschungel.<br />

Wegen seiner Dummheit erfuhr er dort aber nichts als Leiden. Unglück, Altern<br />

und Tod sind nichts im Vergleich mit dem durch Dummheit verursachten<br />

Leiden. Tatsächlich ist die Dummheit die Krönung aller Leiden und Notlagen!<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom dummen Elefanten<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) fuhr fort:<br />

471


VI.1:90<br />

Höre dir nun, oh König, eine weitere Geschichte an, die der deinen ähnlich<br />

ist. Im Vindhya-Wald gab es einst einen Elefanten, der außerordentlich stark<br />

und mit mächtigen Stoßzähnen bewaffnet war. Der Elefantentreiber hatte ihn<br />

jedoch in einen Käfig gesperrt. Dadurch und wegen der wiederholten Anwendung<br />

des Stachelstocks durch den Treiber erlitt der Elefant große Pein.<br />

Wenn der Treiber fort war, versuchte sich der Elefant aus dem Käfig zu befreien.<br />

Er setzte diese Bemühungen drei Tage lang fort. Schließlich hatte er<br />

den Käfig zertrümmert. Doch da sah der Treiber, was der Elefant angerichtet<br />

hatte. Während der Elefant sich bereits auf der Flucht befand, erkletterte er<br />

einen Baum in der Absicht, sich auf den Rücken des Elefanten zu werfen und<br />

ihn erneut zu unterwerfen. Als er heruntersprang, verfehlte er jedoch den<br />

Kopf des Elefanten und stürzte direkt vor ihm nieder. Der Elefant sah seinen<br />

Peiniger(den Treiber) vor sich am Boden liegen, doch wurde er von Bedauern<br />

überwältigt und tat ihm daher nichts zuleide. Mitgefühl findet man sogar bei<br />

den wilden Tieren. Der Elefant ging davon.<br />

Der Treiber stand auf, er war nicht ernstlich verletzt. Der Körper eines Bösewichts<br />

nimmt nicht so leicht Schaden! Ihre bösen Taten scheinen ihre Körper<br />

sogar noch zu stärken. Der Treiber wollte den Verlust des Elefanten nicht<br />

hinnehmen. Er durchstreifte den Wald auf der Suche nach dem verlorenen<br />

Elefanten. Nach einer langen Zeit sah er den Elefanten am Rande eines dichten<br />

Urwaldes stehen. Er holte weitere Elefantentreiber und grub, eifrig um<br />

den Fang des Elefanten bemüht, mit ihrer Hilfe ein riesiges Erdloch. Das Erdloch<br />

deckten sie mit Laubwerk zu.<br />

Nach ein paar Tagen fiel der mächtige Elefant in die Grube. Und so steht der<br />

Elefant immer noch in seinem Käfig, nachdem er von seinem grausamen<br />

Besitzer erneut gefangen und gefesselt wurde!<br />

Der Elefant hatte versäumt, den Feind zu töten, obschon er vor ihm am Boden<br />

lag und musste daher neue Qualen auf sich nehmen. Wer aufgrund von<br />

Dummheit die Gelegenheit, die sich ihm bietet, nicht nutzt und auf diese<br />

Weise alle Hindernisse beseitigt, lädt den Kummer ein. Aufgrund der falschen<br />

Selbstzufriedenheit des Gedankens „ich bin frei“ geriet der Elefant erneut in<br />

Ketten, denn die Dummheit lädt den Kummer geradezu ein. Torheit bedeutet,<br />

gebunden zu sein, Oh Heiliger! Jemand, der gebunden ist, glaubt in seiner<br />

Dummheit, dass er frei ist. Obwohl in den drei Welten nichts als das Selbst<br />

existiert, ist all dies für jemanden, der fest in der Dummheit lebt, nur eine<br />

Ausdehnung der Dummheit.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Heiliger, erkläre mir bitte die Bedeutung dieser Geschichten!<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) sprach:<br />

Der reiche, gebildete Mann, der auf die Suche nach dem himmlischen Juwel<br />

ging, bist du selbst, oh König! Du verfügst über die Kenntnis der Schriften und<br />

doch ruhst du nicht im Frieden – so wie ein Stein, der im Wasser ruht.<br />

Cintāmaïi bedeutet die totale Entsagung von allem, und dies setzt dann allen<br />

472


Sorgen ein Ende. Durch reine, totale Entsagung wird alles gewonnen. Was ist<br />

im Vergleich damit das himmlische Juwel? Insofern du bereit warst, das Reich<br />

usw. aufzugeben, hast du eben diese totale Entsagung erfahren.<br />

Nachdem du allem entsagt hattest, gelangtest du in diese Einsiedelei. Jedoch<br />

ist da noch etwas, dem du entsagen musst – dein Ich-Sinn. Wenn das<br />

Herz das Gemüt aufgibt (die Bewegung der Gedanken) entsteht die Realisation<br />

des Absoluten. Du jedoch bist beherrscht von dem Gedanken der Entsagung,<br />

den deine eigene Entsagung in dir erzeugt hat. Jedoch ist dies nicht die<br />

Seligkeit, die aus totaler Entsagung entsteht. Wer alles aufgegeben hat, wird<br />

nicht von der Sorge heimgesucht; wenn der Wind die Zweige eines Baumes<br />

hin und her bewegt, kann man nicht sagen, er sei unbeweglich.<br />

Solche Sorgen (oder Gedankenbewegungen) sind selbst das Gemüt. Gedanken<br />

(Ideen, Konzepte) sind nur ein anderer Name für dieselbe Sache. Wie<br />

kann das Gemüt als ein entsagendes Gemüt bezeichnet werden, wenn es<br />

darin immer noch Gedanken gibt? Sobald das Gemüt durch Gedanken (Sorgen<br />

usw.) bewegt wird, erscheinen sofort die drei Welten. So lange also noch<br />

Gedanken da sind, kann es auch keine reine und totale Entsagung geben.<br />

Folglich: Sobald solche Gedanken in deinem Herzen entstehen, wird deine<br />

Entsagung dein Herz verlassen (wie der cintāmaïi den Mann verlassen hat).<br />

Weil du den Geist der Entsagung nicht genügend verstanden und geschätzt<br />

hast, hat er dich verlassen – zusammen mit der Freiheit von Gedanken und<br />

Sorgen.<br />

Als du dann von dem Juwel (dem Geist der totalen Entsagung) verlassen<br />

worden bist, hast du anstelle dessen das wertlose Stück Glas (die<br />

Askesepraktiken und alles andere) aufgelesen und es aufgrund deiner<br />

Getäuschtheit als etwas Wertvolles betrachtet. Du hast damit das<br />

unkonditionierte, unangehaftete und unendliche Bewusstsein durch die nutzlose<br />

Ausübung von Askesepraktiken ersetzt, die einen Anfang und ein Ende<br />

haben und daher, oh weh, nur zu neuen Sorgen führen. Wer die unendliche<br />

Freude aufgibt, die leicht zu erlangen ist, und sich anstelle dessen mit dem<br />

Erwerb des Unmöglichen befasst, ist gewiss ein dickköpfiger Narr und<br />

Selbstmörder. Du bist in die Falle dieses Waldlebens gefallen und hast nicht<br />

versucht, den Geist der totalen Entsagung wachzuhalten. Du hast die Fesseln<br />

des Königreiches und all der anderen Dinge aufgegeben, nur um durch das<br />

gebunden zu werden, was als asketisches Leben bezeichnet wird. Jetzt leidest<br />

du sogar noch mehr als vorher durch Kälte, Hitze und Wind usw. und bist<br />

noch enger gefesselt. Törichterweise denkst du: „Ich habe den cintāmaïi<br />

erworben!“, aber in Wahrheit hast du nicht einmal ein Stückchen Kristall in<br />

der Hand!<br />

Darin liegt die Bedeutung der ersten Geschichte.<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) fuhr fort:<br />

Höre dir nun die Bedeutung der zweiten Geschichte an.<br />

Was als der Elefant im Vindhya-Wald beschrieben wurde, bist du selbst auf<br />

VI.1:91<br />

473


VI.1:92<br />

dieser Erde. Die zwei mächtigen Stoßzähne sind viveka (Unterscheidung,<br />

Weisheit) und vairāgya (Leidenschaftslosigkeit), die du beide besitzt. Der<br />

Treiber, der den Elefanten quälte, ist die Unwissenheit, die deine Sorgen<br />

verursacht. Obgleich der Elefant stark war, wurde er vom Treiber überwältigt.<br />

Auf dieselbe Weise wurdest du, obwohl in jeder Hinsicht vorzüglich, von<br />

dieser Unwissenheit oder Dummheit überwältigt.<br />

Der Käfig des Elefanten steht für den Käfig der Wünsche, in dem du eingekerkert<br />

bist. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der eiserne Käfig im<br />

Verlaufe der Zeit zerfällt, während der Käfig der Wünsche im Laufe der Zeit<br />

immer stärker wird. So wie der Elefant aus seinem Käfig ausgebrochen ist,<br />

hast du dein Königreich verlassen und bist hierhergekommen. Jedoch ist die<br />

Aufgabe der psychologischen Neigungen nicht so einfach wie der Ausbruch<br />

aus einem materiellen Käfig.<br />

So wie der Treiber durch die Flucht des Elefanten alarmiert war, zitterten<br />

Unwissenheit und Torheit in dir, als sich dein Geist der Entsagung zu manifestieren<br />

begann. Wenn der weise Mensch das Jagen nach dem Vergnügen aufgibt,<br />

flieht ihn alle Unwissenheit. Als du in den Wald gegangen bist, hast du<br />

dieser Unwissenheit einen ernstlichen Schaden zugefügt. Du hast jedoch<br />

versäumt, sie durch Aufgabe des Gemüts oder der Bewegung der Energie im<br />

Bewusstsein zu zerstören, so wie der Elefant versäumte, den Treiber zu töten.<br />

Daher hat diese Unwissenheit erneut ihr Haupt erhoben und, sich daran<br />

erinnernd, wie du deine früheren Wünsche besiegt hast, dich in die Grube<br />

genannt Askese gelockt.<br />

Hättest du diese Unwissenheit gleich nach der Entsagung deines Königreichs<br />

ein und für alle Male ausgerottet, würdest du jetzt nicht in der Falle der<br />

Askese sitzen.<br />

Du bist der König der Elefanten – ausgestattet mit den machtvollen Stoßzähnen<br />

von viveka oder Weisheit. Hier in diesem dichten Urwald jedoch bist<br />

du von diesem Besitzer namens Unwissenheit in die Falle gelockt worden und<br />

liegst nun in diesem toten Brunnen namens Askese.<br />

Oh König, weshalb hast du die weisen Worte deiner Ehefrau Cū¬ālā, nicht<br />

ernstgenommen, die in der Tat eine Wissende ist? Von allen die das Selbst<br />

realisiert haben, ist sie die Hervorragendste – zwischen ihren Worten und<br />

Taten gibt es keinerlei Widerspruch. Was sie sagt, ist wahr und wert, in die<br />

Praxis umgesetzt zu werden. Aber auch wenn du früher nicht auf ihre Worte<br />

gehört und sie angenommen hast, warum hast du nicht alles aufgegeben in<br />

vollkommener Entsagung?<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Ich habe dem Königreich entsagt, dem Palast, dem Land und meiner Ehefrau.<br />

Weshalb denkst du, dass ich nicht allem entsagt hätte?<br />

DIE BRĀHMA×A (CôÖĀLĀ) erwiderte:<br />

Reichtum, Frau, Palast, Königreich, die Erde und der königliche Schirm sowie<br />

deine Verwandten gehören dir nicht, oh König. Diesen zu entsagen ist<br />

474


nicht wahre Entsagung! Es gibt noch etwas anderes, was dein zu sein scheint<br />

und dem du noch nicht entsagt hast, und dies ist die eigentliche Entsagung.<br />

Entsage dem vollständig und restlos und erlange dadurch die Freiheit vom<br />

Leiden.<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach:<br />

Wenn das Königreich mit allem, was darin ist, nicht mir gehört, dann entsage<br />

ich hiermit diesem Wald mit allem, was sich darin befindet. (Indem er so<br />

sprach, entsagte Áikhidhvaja mental dem Wald usw.)<br />

(Nachdem der Brāhmane ihm erklärt hatte, dass „alle diese Dinge nicht dir<br />

gehören und daher kein Sinn darin liegt, ihnen zu entsagen" sprach<br />

Áikhidhvaja:) Gewiss ist diese Einsiedelei hier in diesem Moment mein ein<br />

und alles, sie gehört mir. Ich werde daher auch ihr entsagen. (Nachdem er<br />

sich dazu entschlossen hatte, reinigte Áikhidhvaja sein Herz von der Idee,<br />

dass die Einsiedelei sein sei:) Jetzt habe ich wahrhaftig allem völlig entsagt!<br />

DER BRĀHMANE(CôÖĀLĀ) wiederholte:<br />

Auch all dies ist nicht dein. Wie konntest du dem überhaupt entsagen? Es<br />

gibt noch etwas, dem du nicht entsagt hast und was den wertvollsten Teil der<br />

Entsagung bildet. Indem du dem entsagst, erlangst du die Freiheit vom Kummer.<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach:<br />

Wenn also auch dies alles nicht mir gehörte, dann entsage ich nun meinem<br />

Stock, dem Hirschfell usw. und meiner Hütte.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Indem er so sprach, sprang er von seinem Platz auf. Während der Brāhmane<br />

zuschaute, las Áikhidhvaja alles in der Hütte liegende Zeug auf und zündete<br />

damit ein Feuer an. Er warf seinen Rosenkranz fort: „Ich bin nun frei von der<br />

Illusion, dass die Wiederholung eines mantras heilig sei, daher brauche ich<br />

dich nicht länger.“ Er verbrannte sein Hirschfell zu Asche. Er gab seinen Wasserkessel<br />

(kamaï¬alu) einem Brāhmanen (oder warf ihn ins Feuer).<br />

Er sagte sich: „Was auch immer aufgegeben werden kann, dem muss ein für<br />

alle Mal entsagt werden; denn andernfalls tritt es wieder ins Dasein und wird<br />

gesammelt. Daher werde ich ein für alle Mal alles verbrennen.“<br />

Nachdem er den Entschluss gefasst hatte, alle heiligen und weltlichen<br />

Handlungen aufzugeben, nahm Sikhidvaja all die Dinge, die er bis dahin benutzt<br />

hatte und verbrannte sie.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Schließlich zündete Áikhidhvaja auch noch die Hütte an, die er unnötigerweise,<br />

geleitet von seiner früheren falschen Vorstellungen, gebaut hatte.<br />

Danach verbrannte er systematisch alles, was übrig geblieben und noch vergessen<br />

worden war. Er warf alles fort oder ins Feuer einschließlich seiner<br />

Kleider. Erschreckt von diesem Feuer liefen sogar die Tiere davon.<br />

VI.1:93<br />

475


ŚIKHIDHVAJA sagte schließlich zum Brāhmanen:<br />

Erleuchtet durch dich, oh Sohn der Götter, habe ich nun allen Ideen entsagt,<br />

die ich so lange in mir getragen habe. Jetzt bin ich verankert in reinem und<br />

seligem Wissen. Von allem, was Ursache der Bindung sein könnte, hat sich<br />

das Gemüt abgewendet und ruht nun im Gleichmut. Ich habe allem entsagt.<br />

Ich bin frei von aller Bindung. Ich bin im Frieden, Ich bin siegreich geblieben.<br />

Der Himmel ist mein Kleid, meine Wohnstatt, und ich selbst bin wie der<br />

Himmel. Existiert noch etwas jenseits dieser höchsten Entsagung, oh Sohn<br />

der Götter?<br />

DIE BRĀHMA×A (CôÖĀLĀ) sagte:<br />

Du hast noch nicht allem entsagt, oh König. Betrage dich daher nicht so, als<br />

würdest du dich des Segens der höchsten Entsagung erfreuen! Es gibt da<br />

etwas, dem du immer noch nicht entsagt hast und dies ist der wertvollste Teil<br />

der Entsagung. Erst wenn auch dieses gänzlich ohne einen Überbleibsel aufgegeben<br />

ist, wirst du den höchsten Zustand, frei von Kummer, erreichen.<br />

Nach einigem Nachdenken sprach ŚIKHIDHVAJA:<br />

Es gibt da nur noch ein weiteres Ding, oh Sohn der Götter, das übriggeblieben<br />

ist, und das ist dieser Körper, wo die tödlichen Schlangen namens Sinne<br />

hausen, und der aus Blut, Fleisch usw. zusammengesetzt ist. Ich werde nun<br />

auch ihn aufgeben und zerstören und damit die totale Entsagung erlangen.<br />

Als er sich daran machte, seinen Entschluss auszuführen, sagte DER<br />

BRĀHMANE:<br />

Oh König, weshalb willst du vergeblich diesen schuldlosen Körper zerstören?<br />

Gib diesen Zorn auf, der die Eigenschaft eines Bullen ist, der sich aufmacht,<br />

ein Kalb zu töten! Dieser asketische Körper ist leblos und taub. Mit<br />

ihm hast du nicht das Geringste zu tun. Versuche daher nicht, ihn zu zerstören.<br />

Der Körper ist, was er ist – leblos und taub. Angetrieben und funktionsfähig<br />

wird er durch eine andere Kraft oder Energie. Der Körper ist für die<br />

Erfahrung von Vergnügen und Schmerz nicht verantwortlich. Außerdem<br />

bedeutet die Zerstörung des Körpers nicht die totale Entsagung. Im Gegenteil<br />

– du wirfst etwas fort, was tatsächlich eine Hilfe beim Erlangen totaler Entsagung<br />

ist! hast Erst wenn du dem zu entsagen vermagst, was durch diesen<br />

Körper tätig ist und ihn in Bewegung versetzt, dann hast du wahrhaftig alles<br />

Böse und alle Sünden aufgegeben und wirst zum höchsten Entsagenden.<br />

Wenn man dem entsagt hat, dann hat man allem (einschließlich dem Körper)<br />

entsagt. Andernfalls werden Sünde und Böses, auch wenn sie eine Zeitlang<br />

untertauchen, wieder auferstehen.<br />

DER BRĀHMANE (CôÖĀLĀ) sagte:<br />

Wahre Entsagung ist die Entsagung von dem, was alles ist, was die einzige<br />

Ursache von all diesem ist und in dem all dieses lebt.<br />

ŚIKHIDHVAJA bat:<br />

Heiliger Herr, bitte teile mir mit, was dies ist, dem entsagt werden soll.<br />

476


DIE BRĀHMA×A (CôÖĀLĀ) sagte:<br />

Oh du Edler! Es ist das Gemüt (welches auch „jīva“, „prāïa“ usw. genannt<br />

wird) oder citta, welches weder leblos noch nicht leblos ist und sich in einem<br />

Zustand von Verwirrtheit befindet – dieses ist das „Alles“. Es ist citta (Gemüt),<br />

welches die Verwirrtheit ist, es ist das menschliche Wesen, es ist die Welt, es<br />

ist alles. Es ist der Same für ein Königreich, für den Körper, für die Ehefrau<br />

und den ganzen Rest. Sobald diesem Samen entsagt wird, geschieht die totale<br />

Entsagung von allem, was jetzt ist und in Zukunft!<br />

All dies – Gut und Böse, Königreich und Urwald – verursacht Qualen im<br />

Herzen desjenigen, der citta besitzt, und große Freude in demjenigen, der<br />

ohne Gemüt ist. So wie der Baum vom Wind bewegt wird, wird dieser Körper<br />

vom Gemüt bewegt. Die verschiedenen Erfahrungen der Wesen (Altern, Tod,<br />

Geburt usw.) wie auch die Festigkeit der heiligen Weisen – all dies sind nichts<br />

als Veränderungen im Gemüts. Nur dieses Gemüt ist gemeint, wenn man<br />

verschiedentlich von buddhi, Kosmos, Ich-Sinn, prāïa usw. spricht. Daher ist<br />

die Aufgabe des Gemüts totale Entsagung. Sobald es aufgegeben worden ist,<br />

wird die Wahrheit erfahren. Sämtliche Ideen von Einheit und Verschiedenheit<br />

finden ein Ende – dann ist da Friede.<br />

Wenn du andererseits etwas aufgibst, was du als „nicht mein“ betrachtest,<br />

erzeugst du eine Getrenntheit in dir selbst. Wenn man allem entsagt, dann<br />

existiert dieses „alles“ innerhalb der Leerheit des einen, unendlichen Bewusstseins.<br />

Wenn man in diesem Zustand totaler Entsagung ruht wie eine<br />

Lampe ohne Öl, dann leuchtet man mit einem überwältigenden Glanz wie<br />

eine Lampe mit Öl. Auch nachdem du das Königreich usw. aufgegeben hast,<br />

existierst du immer noch. Dementsprechend existiert auch dieses unendliche<br />

Bewusstsein weiter, wenn dem Gemüt entsagt worden ist. Du hast all dies<br />

verbrannt, aber in dir hat kein Wandel stattgefunden; auch wenn du das<br />

Gemüt total aufgibst, wird es keine Veränderung geben. Wer allem total entsagt<br />

hat, wird von der Furcht des Alterns, des Todes und anderen Ereignissen<br />

im Leben nicht berührt. Das allein ist höchste Seligkeit. Alles andere ist nichts<br />

als schrecklicher Kummer. OM! Eigne dir daher diese Wahrheit an und tu, was<br />

du willst. In einer solchen totalen Entsagung existiert die höchste Weisheit<br />

oder Selbsterkenntnis: in der vollkommenen Leere eines Gefäßes werden die<br />

kostbarsten Juwelen aufbewahrt. Durch vollkommene Entsagung hat Śākya<br />

Muni (Buddha) schließlich den Zustand jenseits allen Zweifels erlangt und<br />

blieb darin fest verankert. Folglich, oh König, nach der vollkommenen Entsagung<br />

verbleibe fest in dem Zustand, in welchem du dich selbst finden wirst.<br />

Gib sogar die Idee von „ich habe allem entsagt" auf und ruhe im Zustand des<br />

höchsten Friedens.<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach:<br />

Bitte erkläre mir die genaue Natur von citta (Gemüt) und auch, wie man es<br />

aufgeben kann, damit es nicht wieder und wieder erscheint.<br />

KUõBHA (DER BRĀHMANE – CôÖĀLĀ) erwiderte:<br />

VI.1:94<br />

477


Die Natur von citta (Gemüt) sind die vāsanās (subtile Eindrücke der Konditionierung<br />

aus der Vergangenheit). Tatsächlich sind beide Begriffe Synonyme.<br />

Die Aufgabe von diesem oder das Entsagen dieser ist leicht, sehr leicht<br />

erlangbar und beglückender als die Herrschaft über ein Königreich und noch<br />

schöner als eine Blume. Gewiss ist die Entsagung des Gemüts äußerst schwierig<br />

für einen Toren, so wie es für einen Einfaltspinsel schwierig ist, ein Königreich<br />

zu regieren.<br />

Die gänzliche Zerstörung oder Auslöschung des Gemüts bedeutet die Auslöschung<br />

des saæsāra (des Schöpfungszyklus). Es wird auch als die Aufgabe<br />

des Gemüts bezeichnet. Entwurzele daher diesen Baum, dessen Same die<br />

„Ich“-Idee ist, mit seinen sämtlichen Zweigen, Früchten und Blättern und ruhe<br />

im Himmelsraum deines Herzens.<br />

Was man das „Ich“ nennt, entsteht in Abwesenheit der Erkenntnis des Gemüts<br />

(Selbsterkenntnis). Dieses „Ich „ist der Same des Baumes namens Gemüt.<br />

Er wächst im Felde des höchsten Selbst, welches gleichzeitig von der<br />

illusionenschaffenden Macht namens Māyā durchdrungen wird. Auf diese<br />

Weise wird in diesem Feld eine Teilung erzeugt und Erfahrung erschaffen.<br />

Dadurch entsteht die unterscheidende Wesenheit namens buddhi. Natürlich<br />

besitzt sie keine eigene, klar umgrenzte Gestalt, weil sie nichts als die erweiterte<br />

Gestalt des Samens ist. Ihre Natur besteht in der Konzeptualisierung<br />

oder Ideenbildung, und sie wird auch als das Gemüt, jīva und Leerheit bezeichnet.<br />

Der Stamm dieses Baumes ist der Körper. Die Bewegungen der Energie darin,<br />

die sein Wachstum fördern, ist die Wirkung der psychologischen Konditionierung.<br />

Seine Zweige sind lang und reichen über große Entfernungen<br />

hinweg – dies sind die endlichen Sinneserfahrungen, die durch Sein und<br />

Nicht-Sein charakterisiert sind. Seine Früchte sind Gut und Böse (Vergnügen<br />

und Schmerz, Glück und Unglück).<br />

Dieser Baum ist äußerst bösartig. Strebe dauernd danach, seine Zweige zu<br />

beschneiden und ihn zu entwurzeln. Auch seine Zweige haben die Natur der<br />

Konditionierung, die Natur der Konzepte und Wahrnehmungen. Sie (die<br />

Zweige) sind mit den Früchten von all diesen ausgestattet. Wenn du ihnen<br />

nicht anhaftest, und dich mit ihnen nicht beschäftigst und nicht identifizierst,<br />

dann werden diese vāsanās mit Hilfe deiner Intelligenz (Bewusstsein) sehr<br />

stark geschwächt. Du wirst dann fähig, den ganzen Baum zu entwurzeln. Die<br />

Zerstörung der Zweige ist zweitrangig – die hauptsächliche Aufgabe besteht<br />

in der Entwurzelung dieses Baumes.<br />

Wie wird dieser Baum entwurzelt? Indem man sich mit der Ergründung des<br />

Selbst befasst – „Wer bin ich?“ Diese Ergründung ist das Feuer, in dem die<br />

Samen und die Wurzeln dieses Baumes namens citta (Gemüt) vollständig<br />

verbrannt werden.<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach:<br />

478


Ich weiß, dass ich reines Bewusstsein bin. Wie diese Unreinheit (Unwissenheit)<br />

darin entstehen konnte, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich bin verwirrt,<br />

weil ich diese Unreinheit nicht los werden kann, die nicht das Selbst und<br />

unwirklich ist.<br />

KUõBHA fragte:<br />

Sage mir, ob diese Unreinheit (Unwissenheit), aufgrund derer du ein an dieses<br />

saæsāra gebundener unwissender Mann bist, real oder irreal ist?<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Es ist diese Unreinheit, die gleichzeitig der Ich-Sinn und der Same dieses<br />

riesigen Baumes namens citta (Gemüt) ist. Ich weiß nicht, wie ich dies loswerden<br />

kann. Sogar nachdem ich ihr entsagt habe, kehrt sie wieder zu mir<br />

zurück!<br />

KUõBHA sprach:<br />

Die Wirkung, die aus einer realen Ursache entsteht, ist stets unabweisbar<br />

und feststehend. Wenn aber die Ursache nicht real ist, ist die Wirkung gewiss<br />

ebenso unwirklich wie der doppelte Mond in den Augen eines Fehlsichtigen.<br />

Der Keim des saæsāra ist aus dem Samen des Ich-Sinnes entstanden. Ergründe<br />

dessen Natur und teile mir deine Ergebnisse mit.<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Oh Weiser, ich sehe, dass die Erfahrung die Ursache des Ich-Sinnes ist. Sage<br />

mir bitte, wie ich sie loswerden kann.<br />

KUõBHA fragte erneut:<br />

Ah, nun bist du fähig, die Ursachen der Wirkungen zu entdecken! Was ist<br />

die Ursache dieser Erfahrungen? Dann werde ich dir erklären, wie du die<br />

Ursache loswerden kannst. Wenn Bewusstsein gleichzeitig das Erfahren und<br />

die Erfahrung ist und es für die Erfahrung keine Ursache als das auftauchende<br />

Objekt gab, wie kann dann die Wirkung (Erfahrung) auftauchen?<br />

ŚIKHIDHVAJA antwortete:<br />

Gewiss wohl nur aufgrund einer objektiven Realität wie der des Körpers?<br />

Ich bin nicht fähig zu sehen, wie diese objektive Realität als falsch gesehen<br />

werden kann.<br />

KUõBHA sprach:<br />

Wenn Erfahrung auf der Realität von Objekten wie dem Körper beruht, und<br />

der Körper usw. als unwirklich erwiesen ist, auf was kann sich die Erfahrung<br />

dann noch stützen? Wenn die Ursache abwesend oder unwirklich ist, ist die<br />

Wirkung inexistent und die Erfahrung einer solchen Wirkung ist eine Illusion.<br />

Was ist dann die Ursache von Objekten wie der Körper?<br />

ŚIKHIDHVAJA fragte:<br />

Der doppelte Mond kann nicht unwirklich sein, da er als seine Ursache die<br />

Augenkrankheit hat. Der Sohn der unfruchtbaren Frau wurde niemals gese-<br />

479


hen und ist daher unwirklich. Nun, ist nicht der Vater die Ursache für die<br />

Existenz des Körpers?<br />

KUõBHA erwiderte:<br />

Was aus der Unwirklichkeit geboren wurde, ist selbst unwirklich, und daher<br />

ist auch der Vater unwirklich. Wenn einer behauptet, dass der erste Schöpfer<br />

die Ursache aller danach entstandenen Körper sei, dann ist noch nicht einmal<br />

dies die Wahrheit! Der Schöpfer selbst ist nicht verschieden von der Wirklichkeit<br />

– seine Erscheinung als etwas anderes als die Realität (diese Schöpfung<br />

usw.) ist daher nichts als Täuschung. Durch die Realisierung dieser<br />

Wahrheit wird man fähig, Unwissenheit und Ich-Sinn loszuwerden.<br />

ŚIKHIDHVAJA fragte:<br />

Wenn all dies vom Schöpfer bis zur Säule unwirklich ist, wie entstand dann<br />

dieser sehr reale Kummer?<br />

KUõBHA erwiderte:<br />

Diese Illusion der Welterscheinung erfährt durch ihre wiederholte Bestätigung<br />

eine Verstärkung – zu einem Block gefrorenes Wasser dient als Sitz! Erst<br />

wenn Unwissenheit vertrieben ist, realisiert man die Wahrheit, erst dann<br />

manifestiert sich der ursprüngliche Zustand von selbst. Sobald die Wahrnehmung<br />

von Vielfalt reduziert wird, hört die Erfahrung dieses saæsāra auf und<br />

du strahlst in deinem ursprünglichen Glanz.<br />

Du bist somit das höchste, uranfängliche Wesen. Dieser Körper, diese Gestalt<br />

usw. ist aufgrund von Unwissenheit und Missverständnis ins Dasein<br />

getreten. Alle diese Ideen vom Schöpfer und einer Schöpfung bestehend aus<br />

verschiedenen Wesen können nicht als real bewiesen werden. Wenn die<br />

Ursache unbewiesen ist, wie kann man die Wirkung als real betrachten?<br />

Alle diese verschiedenen Wesen sind nur Erscheinungen wie Wasser in der<br />

Luftspiegelung. Solche täuschenden Erscheinungen verschwinden, wenn sie<br />

ergründet werden.<br />

ŚIKHIDHVAJA fragte:<br />

Weshalb kann man nicht sagen, dass das höchste Selbst oder das unendliche<br />

Bewusstsein (Brahman) die Ursache ist, deren Wirkung wiederum der<br />

Schöpfer ist?<br />

KUõBHA erwiderte:<br />

Brahman oder das höchste Selbst ist Eines ohne ein Zweites, ohne Ursache<br />

und ohne Wirkung, da es keinerlei Veranlassung (Antrieb oder Bedarf) hat,<br />

irgendetwas zu tun oder entstehen zu lassen. Daher ist es weder der Täter<br />

noch findet da eine Tätigkeit statt, noch gibt es ein Instrument dazu oder den<br />

Samen dafür. Daher ist es nicht die Ursache für diese Schöpfung oder den<br />

Schöpfer.<br />

Somit gibt es so etwas wie Schöpfung überhaupt nicht. Daher bist du weder<br />

der Täter der Handlungen noch der Genießende der Erfahrungen. Du bist das<br />

VI.1:95<br />

480


Alles, immer im Frieden, ungeboren und vollkommen. Da es keinerlei Ursache<br />

(Grund für die Schöpfung) gibt, gibt es keine als Welt zu bezeichnende Wirkung.<br />

Die Welterscheinung ist daher nichts als Täuschung.<br />

Wenn somit die Objektivität der Welt als unwirklich erkannt wird, was ist<br />

dann Erfahrung und von was? Wenn es keine Erfahrung gibt, gibt es keinen<br />

Erfahrenden (Ich-Sinn). Daher bist du rein und befreit. Bindung und Befreiung<br />

sind bloße Worte.<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach:<br />

Hoher Herr, durch deine weisen und gut begründeten Worte, bin ich vollständig<br />

erwacht. Ich erkenne, da es keine Ursache gibt, dass Brahman weder<br />

der Täter noch der Schöpfer von etwas sein kann. Daher gibt es weder das<br />

Gemüt noch den Ich-Sinn. Da dies der Fall ist, bin ich rein, bin ich erwacht. Ich<br />

verneige mich vor meinem Selbst! Da ist nichts, was das Objekt meines Bewusstseins<br />

wäre.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Auf diese Weise endlich spirituell erwacht, versank Áikhidhvaja in tiefer<br />

Meditation, aus der ihn Kuæbha freundschaftlich wieder erweckte. Kuæbha<br />

sagte:<br />

„Oh König, endlich bist du erwacht und erleuchtet. Was jetzt zu tun ist,<br />

muss getan werden, ohne Rücksicht darauf, ob diese Welterscheinung aufhört<br />

oder nicht aufhört. Sobald das Licht des Selbst gesehen wird, bist du unverzüglich<br />

frei vom Unerwünschten und von den mentalen Modifizierungen und<br />

bist, noch lebend, ein Befreiter.“<br />

Áikhidhvaja, der nun strahlte im Licht der Selbsterkenntnis, fragte den<br />

Brāhmanen Kuæbha „um weiteres Verständnis“: „Wenn die Wirklichkeit<br />

unteilbares und unendliches Bewusstsein ist, wie konnte dann darin diese<br />

scheinbare Getrenntheit von Seher, Gesehenes und Sicht darin auftauchen?“<br />

KUõBHA erwiderte:<br />

Eine gute Frage, oh König. Dies allein musst du noch wissen. Was auch immer<br />

in diesem Universum ist, hört am Ende dieses Weltzyklus auf zu sein.<br />

Übrig bleibt lediglich die Essenz, die weder Licht noch Dunkelheit ist. Das ist<br />

reines Bewusstsein, welches höchster Friede und unendlich ist. Jenseits ist es<br />

von Logik und intellektuellem Verstehen. Genannt wird es Brahman oder<br />

nirvāïa. Es ist kleiner als das Kleinste, größer als das Größte und das Vorzüglichste<br />

unter dem Vorzüglichen. Verglichen mit diesem ist alles, was hier und<br />

jetzt erscheint, nichts als ein atomares Partikel!<br />

Das, was als das Ich-Bewusstsein erstrahlt und das universale Selbst ist, ist<br />

dasselbe, was hier als das Universum existiert. In der Tat gibt es keinen wirklichen<br />

Unterschied zwischen dem universalen Selbst und dem Universum, so<br />

wie es auch keinen solchen zwischen der Luft und ihrer Bewegtheit gibt. Man<br />

mag wohl sagen, dass es zwischen den Wellen und dem Ozean in Begriffen<br />

von Zeit und Raum eine kausale Beziehung gibt, aber im universalen Selbst<br />

VI.1:96<br />

481


oder unendlichen Bewusstsein gibt es keine solche Beziehung. Das Universum<br />

ist daher ohne jede Ursache. In diesem unendlichen Bewusstsein treibt<br />

dieses Universum wie ein Staubpartikel dahin. In ihm geschieht es, dass das<br />

Wort „Welt“ mit Substantialität oder Realität ausgestattet wird.<br />

Dieses (unendliche Bewusstsein) allein ist die Essenz hier. Es durchdringt<br />

alles. Es ist eines. Es ist Bewusstsein. Es hält alles zusammen. Und doch kann<br />

man nicht sagen, dass es eines sei, weil es da absolut keine Getrenntheit oder<br />

Dualität gibt. Daher genügt es zu wissen, dass das Selbst allein die Wahrheit<br />

ist, und keine Vorstellung von Dualität soll entstehen. Dieses allein ist überall<br />

zu jeder Zeit in all den verschiedenen Gestalten. Weder wird es gesehen<br />

(durch die Sinne und das Gemüt erfahren) noch ist es ein Objekt, das man<br />

erreichen kann. Es ist weder die Ursache noch die Wirkung. Es ist äußerst<br />

subtil. Es ist reines Erfahren (weder der Erfahrende noch die Erfahrung).<br />

Obwohl es hiermit beschrieben worden ist, ist es jenseits aller Beschreibung.<br />

Deshalb kann man nicht sagen, dass es ist oder dass es nicht ist. Wie kann es<br />

dann die Ursache dieser Schöpfung sein?<br />

KUõBHA sprach:<br />

Das, was keinen Samen (Ursache) besitzt und nicht beschrieben werden<br />

kann, ist daher nicht die Ursache von etwas anderem –nichts wird aus ihm<br />

geboren. Folglich ist das Selbst weder der Täter noch die Handlung noch das<br />

Instrument der Handlung. Es ist die Wahrheit. Es ist das ewigliche, absolute<br />

Bewusstsein. Es ist Selbsterkenntnis. Im höchsten Brahman existiert keine<br />

Schöpfung. Rein theoretisch könnte man das Erscheinen und Existieren einer<br />

Welle im Ozean auf der Basis von Zeit (die für das Erscheinen benötigt wird)<br />

und Raum (in dem die Welle zu existieren scheint) erklären. Wer jedoch<br />

konnte jemals eine derartige Beziehung zwischen Brahman und der Schöpfung<br />

herstellen? Denn in Brahman existieren Zeit und Raum nicht. Daher<br />

besitzt diese Welt nicht die geringste Grundlage.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Gewiss könnte man die Existenz von Wellen im Ozean auf rationalistische<br />

Weise darstellen. Jedoch verstehe ich nicht, wie es sein kann, dass Welt und<br />

Ich-Sinn ohne Ursache sind.<br />

KUõBHA erwiderte:<br />

Jetzt hast du die Wahrheit auf die richtige Weise verstanden, oh König! Dies<br />

ist deshalb so, weil es faktisch keine Realität gibt, die den Wörtern „Welt“ und<br />

„Ich-Sinn“ entspricht. So wie die Leerheit (oder die Idee von Entfernung)<br />

existiert und nicht verschieden vom Raum ist, so existiert auch diese Welterscheinung<br />

im höchsten Sein oder unendlichen Bewusstsein, und zwar in<br />

derselben oder auch einer ganz anderen Form.<br />

Wenn so die Realität dieser Welt richtig verstanden wird, dann wird sie als<br />

das höchste Selbst (Áiva) realisiert. Richtigverstanden, verwandelt sich sogar<br />

Gift in Nektar. Die Welt, nicht richtig verstanden, wird böse (aÁivam) und zur<br />

Welt des Kummers. Denn was dieses Bewusstsein als sich selbst realisiert,<br />

482


dazu wird es. Aufgrund einer Verwirrung im Selbst sieht sich dieses Bewusstsein<br />

als verkörpert und als die Welt.<br />

Es ist dieses höchste Selbst allein, welches als das höchste Wesen (Áivam)<br />

erstrahlt. Daher sind alle Fragen betreffend die Welt und den Ich-Sinn unangebracht.<br />

Nur Fragen betreffend reale Substanzen können als angebracht<br />

betrachtet werden, nicht jedoch solche über Dinge, deren Existenz unbewiesen<br />

ist. Die Welt und der Ich-Sinn besitzen keine vom höchsten Selbst unabhängige<br />

Existenz. Da es keine Grundlage für ihre Existenz gibt, ist die Wahrheit,<br />

dass nur das höchste Selbst existiert. Die Energie Brahmans (Māyā)hat<br />

diese Illusion durch die Kombination der fünf Elemente erschaffen. Aber<br />

Bewusstsein bleibt Bewusstsein und wird durch Bewusstsein erkannt, während<br />

Vielfalt durch die Idee der Vielfalt wahrgenommen wird. Das Unendliche<br />

lässt innerhalb von sich selbst Unendlichkeit entstehen, das Unendliche erschafft<br />

Unendlichkeit, das Unendliche ist aus der Unendlichkeit geboren und<br />

Unendlichkeit verbleibt unendlich. Bewusstsein leuchtet als Bewusstsein.<br />

KUõBHA sagte:<br />

Im Falle von Gold mag man sagen, dass es zu einer gewissen Zeit und an<br />

einem gewissen Ort Anlass zur Entstehung eines Schmuckstücks gegeben hat.<br />

Aber aus dem Selbst (welches absoluter Friede ist) wurde nichts erschaffen<br />

und nichts kehrt jemals ins Selbst zurück. Brahman ruht in sich selbst. Es ist<br />

daher weder Same noch Ursache für die Schöpfung der Welt, die eine Angelegenheit<br />

bloßer Erfahrung ist. Außer dieser Erfahrung existiert nichts, was als<br />

Welt oder Ich-Sinn bezeichnet werden könnte. Daher existiert allein das unendliche<br />

Bewusstsein.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Ich erkenne, oh Weiser, dass es im Höchsten Herrn weder eine Welt noch<br />

den Ich-Sinn geben kann. Aber wie kommt es, dass Welt und Ich-Sinn erstrahlen,<br />

als gäbe es sie wirklich?<br />

KUõBHA erwiderte:<br />

Tatsächlich ist es das Unendliche, welches, anfangslos und endlos, als reines,<br />

erfahrendes Bewusstsein existiert. Nur dieses ist das ausgebreitete Universum,<br />

welches sozusagen sein Körper ist. Es gibt keine andere Substanz wie<br />

den Intellekt noch gibt es ein Außen noch eine Leerheit. Die Essenz des Seins<br />

ist reines Erfahren, welche daher die Essenz des Bewusstseins ist. So wie<br />

Flüssigkeit untrennbar vom Wasser existiert, so existieren Bewusstsein und<br />

Unbewusstsein zusammen. Es gibt keiner vernunftgemäße Erklärung für ein<br />

solches Sein, denn es ist einfach was es ist.<br />

Da es im Bewusstsein weder einen Widerspruch noch eine Getrenntheit<br />

gibt, ist es offensichtlich.<br />

Wenn das unendliche Bewusstsein die Ursache von etwas anderem ist, wie<br />

kann es dann als unbeschreibbar und unvergleichbar bezeichnet werden?<br />

Folglich ist Brahman weder eine Ursache noch der Same für etwas. Was sollten<br />

wir dann als die Wirkung ansehen? Daher ist es unangebracht, die Schöp-<br />

VI.1:97<br />

483


VI.1:98<br />

fung mit Brahman in Verbindung zu bringen und das Leblose mit dem unendlichen<br />

Bewusstsein zu verknüpfen. Wenn da eine Welt oder der Ich-Sinn<br />

erscheinen, so sind diese nur leere Worte zum Zweck der Unterhaltung.<br />

Bewusstsein wird nicht zerstört. Falls eine solche Zerstörung jedoch wahrgenommen<br />

werden sollte, dann ist das Bewusstsein, welches sie wahrnimmt,<br />

frei von der Zerstörung und Erschaffung. Falls eine solche Zerstörung wahrgenommen<br />

wird, ist sie sicherlich nur ein Trick des Bewusstseins. Folglich<br />

existiert nur Bewusstsein allein –weder eines noch vieles! Genug daher mit<br />

dieser Debatte.<br />

Wenn es keine materielle Existenz gibt, existiert auch das Denken nicht. Da<br />

sind weder eine Welt noch der Ich-Sinn. Verbleibe fest verankert im Frieden<br />

und in der Stille, frei von der mentalen Konditionierung, ob du nun verkörpert<br />

oder unverkörpert bist. Sobald die Realität Brahmans erkannt ist, gibt es<br />

keinen Platzmehr für Kummer und Angst.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Oh Heiliger, bitte unterweise mich so, dass ich vollkommen verstehe, dass<br />

das Gemüt nicht existiert.<br />

KUõBHA sprach:<br />

Oh König, in der Tat hat es niemals eine Wesenheit namens Gemüt gegeben.<br />

Das, was hier leuchtet und als Gemüt bezeichnet wird, ist nichts als das unendliche<br />

Brahman (Bewusstsein). Das Nichtwissen um seine wahre Naturlässt<br />

die Idee des Gemüts, der Welt und allem andern entstehen. Wenn sogar<br />

diese Ideen ohne Substanz sind, wie können dann „Ich“, „Du“ usw. als real<br />

erachtet werden? Es gibt daher kein Ding wie die „Welt“ – was auch immer zu<br />

sein scheint, ist unerschaffen. All dies ist in der Tat Brahman. Wie kann es<br />

gekannt werden, und durch wen?<br />

Sogar zu Beginn des gegenwärtigen Weltzyklus war diese Welt nicht erschaffen.<br />

Nur für dein Verständnis habe ich sie als Schöpfung beschrieben. In<br />

der völligen Abwesenheit kausaler Faktoren konnte all dies nicht erschaffen<br />

werden. Daher ist alles, was ist, Brahman und nichts anderes. Es ist nicht<br />

einmal logisch zu sagen, dass der Höchste Herr, der ohne Namen und ohne<br />

Form ist, diese Welt erschaffen hat! Es ist nicht wahr. Wenn daher die Idee der<br />

Schöpfung dieser Welt als falsch gesehen wird, dann ist gewiss auch das Gemüt,<br />

welches die Idee einer solchen Schöpfung hegt, falsch.<br />

Das Gemüt ist ein Bündel von Ideen, die die Wahrheit begrenzen. Schließlich<br />

beinhaltet Teilung immer Teilbarkeit. Wenn jedoch das unendliche Bewusstsein<br />

unfähig zur Teilung ist, kann es auch keinerlei Teilbarkeit und<br />

folglich keine Teilung geben. Wie kann das Gemüt, der Teiler, real sein? Was<br />

auch immer erscheint, wird in und durch Brahman wahrgenommen und wird<br />

nur umständehalber als Gemüt bezeichnet! Es ist das unendliche Bewusstsein<br />

allein, welches sich als das Universum ausbreitet. Weshalb es dann überhaupt<br />

Universum nennen? In diesem gewaltigen Feld oder Raum des unendlichen<br />

Bewusstseins ist sogar die minimste Erscheinung nichts als die Widerspiege-<br />

484


lung von Bewusstsein in sich selbst – folglich sind da weder ein Gemüt noch<br />

eine Welt. Nur in der Unwissenheit wird all dies als „Welt“ gesehen. Das Gemüt<br />

ist daher irreal.<br />

Durch dies hier wird nicht geleugnet was ist, sondern nur die Schöpfung<br />

selbst. Die Realität, die als Welt gesehen wird, ist anfangslos und<br />

unerschaffen. Daher können die Erklärungen der Schriften und die eigenen<br />

Erfahrungen bezüglich Erscheinen und Verschwinden der Substanzen hier<br />

nicht als ungültig erachtet werden, außer von einem Ignoranten. Wer die<br />

Gültigkeit dieser Erklärungen und Erfahrungen verleugnet, von dem sollte<br />

man sich fernhalten. Die transzendentale Realität ist ewiglich, die Welt ist<br />

nicht unwirklich (nur die begrenzende Beifügung, das Gemüt, ist falsch).<br />

Daher ist all dieses das unteilbare, unbegrenzbare, namenlose und formlose<br />

unendliche Bewusstsein. Es ist die Selbstspiegelung Brahmans in all seinen<br />

unendlichen Gestalten, die als das Universum mit seinen Zyklen von Erschaffung<br />

und Auflösung erscheint. Es ist dieses Brahman selbst, welches sich in<br />

einem Augenblick als das Universum kennt und als solches erscheint. Ein<br />

Gemüt gibt es nicht.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Meine Täuschung ist dahin! Weisheit wurde aufgrund deiner Gnade erlangt.<br />

Ich bin für immer frei von allen Zweifeln. Ich weiß nun, was zu wissen ist. Der<br />

Ozean der Illusionen wurde überquert. Ich bin im Frieden ohne Idee eines<br />

„ich“; als reine Erkenntnis.<br />

KUõBHA sprach:<br />

Wenn die Welt als solche nicht existiert, dann sind auch „ich“ und „du“ nicht<br />

auffindbar. Verbleibe daher im Frieden in dir selbst, befasse dich mit nichtwillentlichen<br />

Handlungen, die von Moment zu Moment auf natürliche Weise<br />

entstehen. All dies ist nichts als Brahman, der Friede ist – Worte wie „ich“ und<br />

„die Welt“ sind bedeutungs- und substanzlos. Sobald die fehlende Substantialität<br />

solcher Ausdrucksweisen verstanden ist, wird das, was bisher als Welt<br />

betrachtet wurde, als Brahman gesehen.<br />

Der Schöpfer Brahmā ist nur eine Idee oder ein Konzept. Und so ist es auch<br />

mit dem „Selbst“ oder „Ich“. Im richtigen oder falschen Verständnis ist Befreiung<br />

oder Bindung! Die Idee „Ich bin“ lässt Bindung und Selbstzerstörung<br />

entstehen. Die Realisierung von „Ich bin (ist) nicht“ führt zu Freiheit und<br />

Reinheit. Bindung und Befreiung sind nur Ideen. Was sich dieser Ideen bewusst<br />

ist, ist das unendliche Bewusstsein, welches als einziges ist. Die Idee<br />

„Ich bin“ ist die Quelle AllerQualen. Die Abwesenheit dieser Empfindung ist<br />

Vollkommenheit. Erkenne dieses „Ich bin nicht dieser Ich-Sinn“ und ruhe in<br />

reinem Gewahrsein.<br />

Wenn ein solch reines Gewahrsein auftaucht, verschwinden sämtliche<br />

Ideen. Dann ist da Vollkommenheit. Im reinen Gewahrsein, in Vollkommenheit<br />

oder im Höchsten Herrn gibt es weder Kausalität noch die daraus entstehende<br />

Schöpfung oder Objekte. In der Abwesenheit von Objekten gibt es auch<br />

VI.1:99<br />

485


VI.1:100<br />

keine Erfahrung oder den sie begleitenden Ich-Sinn. Wenn der Ich-Sinn inexistent<br />

ist, dann gibt es kein saæsāra (Zyklus von Geburt und Tod). Wenn<br />

demnach saæsāra nicht existiert, dann existiert allein das höchste Wesen. In<br />

ihm existiert dieses Universum wie Formen in nicht behauenem Stein. Wer<br />

auf diese Weise das Universum ohne Dazwischentreten des Gemüts und daher<br />

ohne Vorstellung eines Universums sieht, der allein sieht die Wahrheit.<br />

Eine solche Vision wird als nirvāïa bezeichnet.<br />

So wie allein der Ozean existiert, wenn das Wort „Welle“ seiner Bedeutung<br />

entkleidet worden ist, so existiert allein Brahman, sobald das Wort „Schöpfung“<br />

als bedeutungslos verstanden wird. Diese Schöpfung ist Brahman,<br />

Brahman allein ist dieser Schöpfung gewahr. Wird die Wortbedeutung von<br />

„Schöpfung“ fallengelassen, dann wird die wahre Bedeutung von „Schöpfung“<br />

als das ewige Brahman erkannt. Sobald man das Wort „Brahman“ zu ergründen<br />

beginnt, wird ALLES verstanden. Und wenn man das Wort „Schöpfung“<br />

ergründet, wird Brahman verstanden. Dieses Bewusstsein, welches die<br />

Grundlage und das Substratum all dieser Ideen und ihres Gewahrseins ist,<br />

wird durch das Wort „Brahman“ gekannt. Sobald diese Wahrheit klar realisiert<br />

und die Dualität von Erkenntnis und Erkanntem fallengelassen wird,<br />

verbleibt der höchste Friede, der unbeschreibbar und unausdrückbar ist.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Wenn das höchste Wesen real ist und die Welt real ist, dann nehme ich an,<br />

dass das höchste Wesen die Ursache und die Welt die Wirkung sind?<br />

KUõBHA sprach:<br />

Nur wenn es Kausalität gibt, kann eine Wirkung unterstellt werden. Wenn<br />

es jedoch keinerlei Kausalität gibt, wie kann dann daraus eine Wirkung entstehen?<br />

Zwischen Brahman und dem Universum existiert keiner kausale<br />

Beziehung – was auch immer ist, ist Brahman. Wenn es keinen Samen gibt,<br />

wie kann dann etwas geboren werden? Wenn Brahman namen- und gestaltlos<br />

ist, gibt es in ihm sicher keine Kausalität (Samen). Folglich ist Brahman<br />

der Nicht-Täter, in dem keine Kausalität existiert. Daher gibt es auch keine<br />

Wirkung, die Welt genannt werden kann.<br />

Brahman – das ist, was du bist, und Brahman allein existiert. Wenn dieses<br />

Brahman mit dem Auge der Unweisheit gesehen wird, wird es als das Universum<br />

erfahren. Dieses Universum ist sozusagen der Körper Brahmans. Sobald<br />

dieses unendliche Bewusstsein sich selbst als etwas anderes ansieht, als es<br />

wirklich ist, spricht man von Selbstzerstörung oder Selbst-Erfahrung. Diese<br />

Selbstzerstörung ist eigentlich das Gemüt. Auch wenn eine solche Selbstzerstörung<br />

nur einen Augenblick lang andauert, wird sie als Gemüt bezeichnet,<br />

welches einen ganzen Weltzyklus lang dauert.<br />

Solch ideenmäßige Existenzen hören erst mit dem Dämmern der rechten<br />

Erkenntnis und dem Verschwinden aller Ideen auf. Da die ideenmäßige Existenz<br />

unwirklich ist, hört sie beim Erkennen der Wahrheit auf natürliche Weise<br />

auf. Wie könnte die Welt, die nur als ein Wort, aber nicht als reale, unab-<br />

486


hängige Substanz existiert, als eine reale Existenz akzeptiert werden? Ihre<br />

angeblich unabhängige Existenz ist nicht anders als das Wasser in der Luftspiegelung.<br />

Wie könnte es real sein? Dieser verwirrte Zustand, in dem diese<br />

Unwirklichkeit als wirklich erscheint, wird als Gemüt bezeichnet. Nicht-<br />

Verstehen der Wahrheit ist Unwissenheit oder Gemüt. Rechte Erkenntnis ist<br />

dagegen Selbsterkenntnis oder Selbstverwirklichung. So wie die Realisierung<br />

von „dies ist kein Wasser“ die Erkenntnis der Luftspiegelung als Luftspiegelung<br />

herbeiführt, so führt die Realisierung von „dies ist nicht das reine Bewusstsein,<br />

sondern das Bewusstsein in Bewegung, welches als Gemüt bezeichnet<br />

wird“ die Zerstörung des Gemüts herbei.<br />

Sobald daher die Nicht-Existenz des Gemüts realisiert wird, wird gesehen,<br />

dass der Ich-Sinn usw. ebenfalls nicht existiert. Eines allein existiert – das<br />

unendliche Bewusstsein. Sämtliche Ideen hören auf. Die Falschheit, welche<br />

als Gemüt erschien, hört auf, sobald die Ideen aufhören. Weder bin ich, noch<br />

ist da ein anderer, noch existieren du oder jene –es gibt weder Gemüt noch<br />

Sinne. Eines allein ist – das unendliche Bewusstsein. Nichts in den drei Welten<br />

wurde jemals geboren oder stirbt. Nur das unendliche Bewusstsein existiert.<br />

Da gibt es weder Vielfalt noch Einheit, weder Verwirrtheit noch Täuschung.<br />

Nichts verdirbt und nichts gedeiht. Alles (sogar die sich als Wunsch<br />

und Wunschlosigkeit manifestierende Energie) ist dein eigenes Selbst.<br />

KUõBHA (CôÖĀLĀ) sagte:<br />

Ich hoffe, dass du nun in deinen Innern spirituell erweckt wurdest und<br />

weißt, was zu wissen ist und siehst, was zu sehen ist.<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

In der Tat, hoher Herr, habe ich durch deine Gnade den höchsten Zustand<br />

erlangt. Wie konnte es geschehen, dass sich dieser mir so lange entzog?<br />

KUõBHA sagte:<br />

Erst wenn das Gemüt gänzlich still ist und man alle Wünsche nach Vergnügen<br />

aufgegeben hat und außerdem die Sinne ihre Eintrübung oder Verschleierung<br />

losgeworden sind, werden die Worte des Lehrers richtig verstanden.<br />

(Doch die Bemühungen bis dahin waren nicht verschwendet.) Die unternommenen<br />

Anstrengungen haben heute ihre Früchte getragen – die Unreinheiten<br />

im Körper sind weggefallen. Wenn man frei von psychologischer Konditionierung<br />

ist und die Unreinheiten beseitigt oder gereinigt sind, gehen die<br />

Worte des guru ins Innerste des eigenen Seins, so wie ein Pfeil in den Stengel<br />

des Lotos eindringt. Du hast diesen Zustand der Reinheit erlangt und daher<br />

bist du durch meine Unterweisung erleuchtet worden; deine Unwissenheit<br />

wurde zerstreut.<br />

Durch unser satsaÇga (heilige Gemeinschaft) wurden deine karmas (Handlungen<br />

und deren übrigbleibende Eindrücke) zerstört. Bis heute Vormittag<br />

warst du aufgrund der Unwissenheit erfüllt von den falschen Ideen des „Ich“<br />

und „mein“. Nun, da dein Herz aufgrund des Lichtes in meinen Worten das<br />

Gemüt aufgegeben hat, bist du vollkommen erwacht; denn die Unwissenheit<br />

VI.1:101<br />

487


kann nur so lange andauern, wie das Gemüt im Herzen wirkt. Nun bist du<br />

erleuchtet und befreit. Verbleibe verankert im unendlichen Bewusstsein, frei<br />

von Sorge, vom Streben und aller Anhaftung.<br />

ŚIKHIDHVAJA sprach:<br />

Hoher Herr, hat ein Befreiter noch ein Gemüt? Wie kann er ohne Gemüt leben<br />

und tätig sein?<br />

KUõBHA sagte:<br />

Es gibt tatsächlich in den Befreiten keinerlei Gemüt mehr. Was ist denn das<br />

Gemüt? Es ist nichts als die dichte, psychologische Konditionierung oder<br />

Begrenzung, die zur Wiedergeburt führt. In den befreiten Weisen ist dies alles<br />

abwesend. Der befreite Weise lebt mit Hilfe eines von der Konditionierung<br />

freien Gemüts, das keine Wiedergeburt verursacht. Es ist überhaupt kein<br />

Gemüt, sondern reines Licht (sātva). Der Befreite lebt und ist tätig, verankert<br />

in diesem sātva, nicht im Gemüt. Das unwissende und leblose Gemüt ist das<br />

Gemüt – das erleuchtete Gemüt wird als sātva bezeichnet. Der Unwissende<br />

lebt in seinem Gemüt, der Erleuchtete lebt in sātva.<br />

KUõBHA fuhr fort:<br />

Du hast aufgrund deiner vorzüglichen Entsagung den Zustand von sātva<br />

(unkonditioniertes Gemüt) erlangt. Dem konditionierten Gemüt wurde vollkommen<br />

entsagt, dessen bin ich sicher. Dein Gemüt ist nun wie reiner, unendlicher<br />

Raum. Du hast den Zustand des vollkommenen Gleichgewichts erreicht,<br />

den Zustand der Vollkommenheit. Dies ist die totale Entsagung, in der alles<br />

ohne jeden Restbestand aufgegeben wird.<br />

Welche Art von Glück (Zerstörung des Kummers) kann man durch<br />

Askesepraktiken erlangen? Höchstes und nicht endendes Glück werden allein<br />

durch gänzlichen Gleichmut erlangt. Welche Art Glück erlangt man in den<br />

Himmeln? Wer bar der Selbsterkenntnis ist, versucht einen Zipfel des Glücks<br />

durch Ausübung mancher Rituale zu erhaschen. Wer kein Gold besitzt,<br />

schätzt den Kupfer!<br />

Oh königlicher Weiser, mit der Hilfe Cū¬ālās wärest du sehr schnell weise<br />

geworden. Weshalb hast du dich dieser nutzlosen und sinnlosen Askese hingegeben?<br />

Sie haben einen Anfang und ein Ende und nur in der Mitte gibt es<br />

ein Auftauchen von Glück. Und doch hat deine Askese in gewisser Hinsicht zu<br />

diesem spirituellen Erwachen geführt. Verbleibe nun verwurzelt in Weisheit.<br />

Es geschieht innerhalb dieses unendlichen Bewusstseins, dass all diese Realitäten<br />

und sogar die irrealen Ideen darin auftauchen und sich darin auch<br />

wieder auflösen. Sogar Ideen wie „Dies ist zu tun“ und „Dies ist nicht zu tun“<br />

sind nur Tröpfchen des unendlichen Bewusstseins. Gib sogar diese auf und<br />

ruhe im Unkonditionierten. All diese (Askese usw.) sind indirekte Methoden.<br />

Weshalb wählt man anstelle dessen nicht lieber die direkte Methode der<br />

Selbsterkenntnis?<br />

488


Was als sātva beschrieben wurde, dem sollte durch sātva selbst entsagt<br />

werden – d.h. durch die totale Freiheit davon oder durch Nicht-Anhaftung<br />

daran. Welche Sorgen auch immer in den drei Welten auftauchen, oh König,<br />

tauchen nur aufgrund von mentalem Verlangen auf. Wenn du im Zustand des<br />

Gleichmuts verankert bist, der sowohl die Bewegung als auch die Nicht-<br />

Bewegung der Gedanken als gleich ansieht, wirst du im Ewigen ruhen.<br />

Es gibt nur ein einziges, unendliches Bewusstsein. Dieses Brahman, welches<br />

reines Bewusstsein ist, wird selbst als sātva gekannt. Der Unwissende sieht es<br />

als die Welt. Bewegtheit (Erregung) wie auch Nicht-Bewegtheit in diesem<br />

unendlichen Bewusstsein sind lediglich Ideen im Gemüt des Beobachters,<br />

denn die Totalität des unendlichen Bewusstseins ist all dieses, jedoch gänzlich<br />

frei von solchen Ideen. Seine Realität ist jenseits von Worten!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er dies gesagt hatte, verschwand Kuæbha aus der Sicht des Königs,<br />

als dieser gerade Blumen als Zeichen der Verehrung anbieten wollte.<br />

Nachdenkend über die Worte Kuæbhas trat er in tiefe Meditation ein, in der<br />

er vollkommen frei von allen Wünschen und Verlangen und fest im unkonditionierten<br />

Zustand verankert war.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Während Śikhidhvaja so in tiefer Meditation und gänzlich frei von der geringsten<br />

mentalen Modifikation oder Bewegung im Bewusstsein war, legte<br />

Cū¬ālā ihre Verkleidung ab und kehrte in ihrer weiblichen Gestalt in den<br />

Palast zurück, um die Leitung der Staatsangelegenheiten wieder aufzunehmen.<br />

Nach drei Tagen kehrte sie an den Ort zurück, an dem sie Śikhidhvaja<br />

verlassen hatte und war erfreut zu sehen, dass er sich immer noch in tiefer<br />

Meditation befand. Sie dachte bei sich: „Ich sollte ihn zum Weltbewusstsein<br />

wiedererwecken –warum sollte er jetzt schon den Körper aufgeben? Er soll<br />

das Königreich noch eine Zeitlang regieren. Anschließend können wir beide<br />

zusammen den Körper aufgeben. Gewiss werden die Unterweisungen, die ich<br />

ihm erteilt habe, nicht verlorengehen und umsonst gewesen sein. Ich werde<br />

ihn mit der Praxis des <strong>Yoga</strong> wach und gewahr erhalten.“<br />

Wieder und wieder begann sie nun wie ein Löwe zu brüllen. Doch der König<br />

öffnete nicht die Augen. Sie drückte seinen Körper zu Boden. Aber immer<br />

noch blieb der König versunken im Selbst. Sie dachte: „Oh weh, nun ist er<br />

völlig absorbiert im Selbst. Wie kann ich ihn nun ins Körperbewusstsein<br />

zurückbringen? Andererseits – weshalb sollte ich? Soll er den unverkörperten<br />

Zustand erlangen, und auch ich werde diesen Körper aufgeben!“<br />

Während sie sich bereitmachte, ihren Körper aufzugeben, dachte sie noch:<br />

„Lass mich zuvor sehen, ob ich in seinem Körper noch irgendwo den Samen<br />

des Gemüts (vāsanā) finde. Falls es einen gibt, kann er wiedererweckt werden,<br />

und wir beide können dann als befreite Wesen weiterleben. Falls es<br />

einen solchen Samen nicht mehr geben und er also die letztliche Befreiung<br />

erlangt haben sollte, werde ich diesen Körper ebenfalls verlassen.“ Sie unter-<br />

VI.1:103<br />

489


suchte seinen Körper und stellte fest, dass der Same der Individualität noch<br />

in ihm wohnte.<br />

RùMA fragte:<br />

Hoher Herr, wenn der Körper des Weisen wie ein Holzklotz am Boden liegt,<br />

wie kann man wissen, dass es noch eine Spur von sātva (gereinigtem Gemüt)<br />

in ihm gibt?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Es gibt in seinem Herzen, unsichtbar und äußerst subtil, noch eine Spur von<br />

sātva, die die Ursache der Wiederbelebung des Körperbewusstseins ist. Es ist<br />

wie mit der Blume und der Frucht, die beide potentiell im Samen anwesend<br />

sind. Im Falle des Weisen, dessen Gemüt gänzlich frei von Gedankenbewegungen<br />

ist, der ohne die kleinste Idee der Dualität oder Einheit ist, dessen<br />

Bewusstsein äußerst fest und stetig wie ein Berg ist, befindet sich der Körper<br />

in einem Zustand eines perfekten Gleichgewichts. Er fällt weder noch steigt er<br />

(stirbt oder lebt), sondern er verbleibt in vollkommener Harmonie mit der<br />

Natur. Nur so lange es Ideen von Dualität oder Einheit gibt, geschieht es, dass<br />

der Körper denselben Verwandlungen wie das Gemüt unterworfen wird. Es<br />

sind die Bewegungen der Gedanken, die als die Welt erscheinen. Aufgrund<br />

dessen erfährt das Gemüt Vergnügen, Ärger und Täuschung, die unvermeidbar<br />

und ununterdrückbar sind. Ist das Gemüt jedoch fest im Gleichmut verankert,<br />

tauchen Störungen dieser Art nicht mehr in ihm auf. Ein solcher<br />

Mensch ist wie reiner Raum.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn sich sātva in einem Zustand totalen Gleichgewichts befindet, werden<br />

keinerlei physische und psychologische Defekte erfahren. Es ist nicht möglich,<br />

sātva aufzugeben, denn es erreicht von selbst im Verlaufe der Zeit sein Ende.<br />

Wenn es weder das Gemüt und auch sātva nicht mehr im Körper gibt – wie in<br />

der Wärme schmelzender Schnee –, löst sich der Körper in die Elemente auf.<br />

Śikhidhvajas Körper war frei vom Gemüt (Gedankenbewegung), enthielt aber<br />

immer noch eine Spur von satva. Daher hatte er sich noch nicht in die Elemente<br />

aufgelöst. Cū¬ālā hatte dies bemerkt und entschied: „Ich werde in die<br />

reine Intelligenz eingehen, die allgegenwärtig ist, und mich bemühen, das<br />

Körperbewusstsein in ihm wiederzuerwecken. Falls ich es nicht tue, wird er<br />

gewiss nach einiger Zeit von selbst erwachen. Aber weshalb sollte ich so<br />

lange allein bleiben?“<br />

Cū¬ālā gab also ihren Körper auf und betrat das reine Gemüt (sātva) von<br />

Śhidhvaja. Sie berührte dieses reine Gemüt und ging schnell wieder in ihren<br />

eigenen Körper, den sie rasch in den des jungen Asketen Kuæbha verwandelt<br />

hatte. Kuæbha begann auf angenehme Weise die Hymnen der Sāma Vedas zu<br />

singen. Der König hörte dies und kehrte ins Körperbewusstsein zurück. Er<br />

sah Kuæbha vor sich und war glücklich. Er sprach zu Kuæbha: „Wunderbarerweise<br />

sind wir zusammen erneut in deinem Bewusstsein aufgetaucht, oh<br />

490


Höchster Herr! Und du bist hierhergekommen, nur um deine Segnungen über<br />

mich auszuschütten!“<br />

KUõBHA sprach:<br />

Seit der Zeit, als ich dich verließ und fortging, ist mein Gemüt (Herz) hier<br />

mit dir gewesen. Es gibt keinen Wunsch, in den Himmel zu gehen, sondern<br />

nur den Wunsch, in deiner Nähe zu sein. Einen Verwandten, Freund, eine<br />

vertrauenswürdige Person oder einen Schüler wie dich habe ich in der ganzen<br />

Welt nicht.<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Ich betrachte mich im höchsten Maße gesegnet dadurch, dass du, obwohl<br />

vollkommen erleuchtet und unangehaftet, mit mir zu sein wünschest. Bitte,<br />

bleibe mit mir zusammen hier in diesem Wald!<br />

KUõBHA fragte:<br />

Sage mir: Hat du für eine Weile im höchsten Zustand geruht? Hast du Ideen<br />

wie „dies ist unterschiedlich“, „dies ist Unglück“ usw. aufgegeben? Hat dein<br />

Verlangen nach Vergnügen aufgehört?<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Durch deine Gnade habe ich das andere Ufer dieses saæsāra (Welterscheinung)<br />

erreicht. Ich habe erlangt, was zu erlangen ist. Da ist nichts als das<br />

Selbst – weder das Gekannte noch was noch zu kennen ist (das Unbekannte),<br />

weder Erlangen noch das, was aufgegeben wurde oder aufgegeben sollte,<br />

weder eine Wesenheit noch das Andere und noch nicht einmal sātva (ein<br />

reines Gemüt). Wie unbegrenzter Raum verbleibe ich in einem unkonditionierten<br />

Zustand.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem sie eine Stunde an diesem Platz verbracht hatten, gingen der König<br />

und Kuæbha zurück in den Wald, in dem sie ungezwungen acht Tage lang<br />

umherwanderten. Sie befolgten dabei die üblichen Regeln des Lebens und<br />

führten zur Ehrung der Ahnen und Götter die vorgeschriebenen religiösen<br />

Riten aus. Falsche Ideen wie „dies ist unser Heim“ oder „dies ist nicht“ tauchten<br />

in ihren Herzen nicht auf. Manchmal waren sie in prächtige Roben gekleidet,<br />

ein anderes Mal in Lumpen. Gelegentlich waren sie mit Sandelpaste bestrichen,<br />

zu anderen Gelegenheiten mit Asche. Nach einigen Tagen erstrahlte<br />

auch der König wie Kuæbha selbst.<br />

Als Kuæbha (Cū¬ālā) das Strahlen des Königs bemerkte, sprach sie zu sich<br />

selbst: „Dies hier ist mein edler und starker Gemahl. Der Wald ist herrlich.<br />

Beide sind wir in einem Zustand, der keine Müdigkeit kennt. Warum entsteht<br />

dann in unseren Herzen nicht der Wunsch nach Vergnügen? Der befreite<br />

Weise begrüßt und erfährt, was ungesucht auf ihn kommt. Sollte er im Konformismus<br />

(Rigidität) gefangen sein, dann würde dies Torheit (Unwissenheit)<br />

entstehen lassen. Wenn die Leidenschaft nicht wieder erwacht in der unmittelbaren<br />

Nähe ihres edlen und starken Gatten, umgeben von einem Blumen-<br />

VI.1:104<br />

491


VI.1:105<br />

garten, ist so gut wie tot! Was gewinnt ein Wissender oder ein Weiser mit<br />

Selbsterkenntnis, wenn er das aufgibt, was mühelos zu ihm kommt? Ich sollte<br />

dafür sorgen, dass mein Gemahl zusammen mit mir die ehelichen Freuden<br />

genießen kann.“ Nachdem sie sich so entschieden hatte, sprach Kuæbha zu<br />

Śikhidhvaja: „Heute ist ein besonderer Tag, wo ich im Himmel sein sollte, um<br />

meinen Vater zu sehen. Erlaube mir zu gehen, und bis zum Abend werde ich<br />

wieder zurück sein.“<br />

Die beiden Freunde schenkten einander Blumen. Kuæbha ging fort. Schon<br />

bald warf Cū¬ālā ihre Verkleidung ab, ging zum Palast und erledigte die königlichen<br />

Pflichten. Sie kehrte an den Ort zurück, an dem sie Śikhidhvaja<br />

verlassen hatte, aber erneut in der Verkleidung Kuæbhas. Der König bemerkte<br />

eine Veränderung im Gesichtsausdruck Kuæbhas und fragte: „Oh Sohn der<br />

Götter, weshalb siehst du so unglücklich aus? Die Heiligen lassen sich in ihrem<br />

Gleichmut nicht von äußeren Umständen stören.“<br />

KUõBHA sprach:<br />

Diejenigen, die, obwohl verankert im Gleichmut, ihre Organe nicht während<br />

der Lebenszeit des Körpers auf natürliche Weise tätig sein lassen, sind widerspenstige<br />

und sture Menschen. So lange es Sesamsamen gibt, gibt es Öl; solange<br />

es den Körper gibt, gibt es also auch die verschiedenen Gefühle. Wer<br />

gegen die Zustände des Körpers, denen dieser auf natürliche Weise unterworfen<br />

ist, rebelliert, haut mit einem Schwert die Luft in Stücke. Der Gleichmut<br />

des <strong>Yoga</strong> hat mit dem Gemüt, nicht aber mit den Tätigkeitsorganen und ihren<br />

Zuständen zu tun. Solange der Körper lebt, sollte man die natürlichen Funktionen<br />

walten lassen, wobei Verstand und Sinne im Zustand der Gelassenheit<br />

verweilen. Darin besteht das Gesetz der Natur, dem sogar die Götter unterworfen<br />

sind.<br />

KUõBHA fuhr fort:<br />

Nun, oh König, vernimm, welches Unglück mich befallen hat. Denn wenn<br />

man einem Freund sein Missgeschick anvertraut, verschafft man sich große<br />

Erleichterung, so wie die dunkle, schwere Wolke hell und leicht wird, wenn<br />

sie den Regen fallen lässt. Auch das Gemüt wird klar und friedlich, wenn ein<br />

Freund dem Schicksal des anderen lauscht, so wie Wasser klar wird, wenn ein<br />

Stück Alaun hineingeworfen wird.<br />

Nachdem ich von dir fortging, ging ich in die Himmel und erledigte dort<br />

meine Pflichten. Der Abend brach herein, und ich verließ den Himmel, um zu<br />

dir zurückzukehren. Als ich den Raum durchflog, begegnete ich dem Weisen<br />

Durvāsa, der auf dem Weg für die Abendgebete war und es eilig hatte. Wie<br />

seit jeher war er in dunkle Wolken gekleidet und mit Blitzen geschmückt. All<br />

dies verlieh ihm das Aussehen einer Frau, die auf dem Wege zur Begegnung<br />

mit ihrem Liebhaberist. Ich grüßte ihn und sagte, nur zum Spaß, genau dieses<br />

zu ihm. Empört über meine Respektlosigkeit verfluchte er mich: „Für diese<br />

Unverschämtheit wirst du von nun an jede Nacht zu einer Frau werden.“ Ich<br />

bin traurig schon bei dem Gedanken, jede Nacht eine Frau zu werden. Es ist<br />

492


wirklich tragisch, dass der Sohn der Götter, welche leichthin von der Lust<br />

überwältigt werden, nun die Konsequenzen einer Beleidigung heiliger Weiser<br />

zu erleiden hat. Doch weshalb sollte ich trauern, da all dies mein Selbst nicht<br />

berühren kann.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Was nützt das Trauern, oh Sohn der Götter? Komme was wolle - das Selbst<br />

ist vom Schicksal des Körpers nicht betroffen. Was auch immer an Freude<br />

oder Sorge jemandem zugedacht ist, betrifft lediglich den Körper, nicht seinen<br />

Bewohner. Wenn sogar du trauerst was ist dann von den unwissenden Menschen<br />

zu sagen? Vielleicht aber hast du, indem du dieses unglückliche Ereignis<br />

erzählt hast, nur die entsprechenden Worte und Ausdrücke gebraucht!!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So trösteten sie einander, denn waren sie zu unzertrennlichen Freunden<br />

geworden. Die Sonne begann unterzugehen und die Finsternis der Nacht<br />

legte ihren Mantel über die Erde. Beide vollführten die Abendgebete. Schon<br />

bald danach begann Kuæbhas Körper eine schleichende Verwandlung durchzumachen.<br />

Indem er seine Tränen hinunterschluckte, sprach er mit erstickter<br />

Stimme zu Śikhidhvaja: „Oh wehe, ich fühle meinen Körper dahinschmelzen<br />

und auf die Erde niedertropfen. Meine Brust entwickelt weibliche Brüste.<br />

Meine Knochen entwickeln sich zu denen einer Frau. Aussehen, Kleidung und<br />

Schmuck einer Frau entspringen aus dem Körper selbst. Oh was soll ich tun?<br />

Wie kann ich diese Schande, wahrhaftig eine Frau geworden zu sein, verbergen?“<br />

Śikhidhvaja erwiderte: „Heiliger, du weißt, was zu wissen ist. Trauere nicht<br />

über das Unvermeidliche. Das Schicksal berührt nur den Körper, nicht den<br />

Verkörperten.“ Kuæbha stimmte zu: „Du hast recht. Ich empfinde nun keinen<br />

Kummer mehr. Wer kann der Weltordnung oder der Natur schon widerstehen?“<br />

Indem sie so sprachen, begaben sie sich zu Bett (sie schliefen in demselben<br />

Bett). Auf diese Weise lebte Cū¬ālā mit ihrem Gemahl tagsüber als junger<br />

Asket und nächtens als Frau zusammen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Einige Tage lebten sie so, und dann sagte Kuæbha zu Śikhidhvaja: „Oh König,<br />

höre dir meinen Vorschlag an. Eine Zeitlang war ich nächstens eine Frau.<br />

Nun möchte ich die Rolle einer Frau während der Nacht erfüllen; Denn ich<br />

empfinde, dass ich als die Frau eines würdigen Gemahls lebe. In den drei<br />

Welten gibt es niemanden, der mir teurer ist als du. Daher wünsche ich dich<br />

zu heiraten und gemeinsam mit dir eheliche Freuden zu genießen. Dies ist<br />

nur natürlich, erfreulich und naheliegend. Welcher Fehler sollte darin liegen?<br />

Wir haben beide Wunsch und Ablehnung aufgegeben und verfügen über eine<br />

ausgewogene Sicht. Lass uns daher das Natürliche ohne Verlangen und Abneigung<br />

tun.“<br />

VI.1:106<br />

493


VI.1:107<br />

Śikhidhvaja erwiderte: „Oh Freund, ich vermag weder Gutes noch Böses in<br />

diesem Vorhaben zu erblicken. Oh Weiser, tue was dir beliebt. Da das Gemüt<br />

in vollkommenem Gleichgewicht ruht, sehe ich überall nichts als das Selbst.<br />

Tue daher wie dir beliebt.“<br />

Kuæbha antwortete: „Wenn dies deine wahren Empfindungen sind, oh König,<br />

dann ist heute der vorzüglichste aller Tage. Die himmlischen Wesen sollen<br />

unsere Hochzeit bezeugen.“<br />

Beide sammelten alle für den Hochzeitsritus benötigten Gegenstände. Sie<br />

badeten als Vorbereitung für den geheiligten Ritus zusammen in heiligem<br />

Wasser. Sie entboten den Ahnen und Göttern ihre Verehrung.<br />

Unterdessen war die Nacht hereingebrochen. Kuæbha wurde eine liebliche<br />

Frau. „Er“ sprach zum König: „Oh teurer Freund, nun bin ich eine Frau. Mein<br />

Name ist Madanikā. Ich grüße dich. Ich bin deine Frau.“ Śikhidhvaja verehrte<br />

Madanikā mit Girlanden, Blumen und Juwelen. Ihre Schönheit bewundernd,<br />

sagte der König: „Oh Madanikā, du strahlst wie die Göttin Lak«mÅ. Mögen wir<br />

zusammenleben wie die Sonne und der Schatten, Lak«mÅ und Nārāyaïa, Áiva<br />

und PārvatÅ und dabei gesegnet sein. Mögen wir mit allem Glückverheißendem<br />

gesegnet sein.“<br />

Das Paar entzündete das heilige Feuer und vollführte in strenger Beachtung<br />

der Vorschriften die Hochzeitsriten. Der Altar war mit blühenden Gewinden<br />

und Edelsteinen sowie Halbedelsteinen bedeckt. Seine vier Ecken schmückten<br />

Kokosnüsse, und es gab Gefäße mit heiligem Gangeswasser. In der Mitte<br />

brannte das heilige Feuer. Sie umwandelten dieses Feuer und entboten die<br />

vorgeschriebenen Opfergaben zusammen mit den dafür bestimmten heiligen<br />

Hymnen. Noch während sie so taten, nahm der König häufig Madanikās Hand,<br />

um ihr seine Liebe und Freude zu zeigen. Dann umschritten sie dreimal das<br />

geheiligte Feuer und vollführten damit das so genannte Lājā Homa. Schließlich<br />

zogen sie sich in das Hochzeitsgemach zurück (eine besonders für diesen<br />

Zweck vorbereitete Höhle). Der Mond überschüttete sie mit kühlen Strahlen.<br />

Das Brautbett war aus duftenden Blüten gemacht. Sie bestiegen dieses Bett<br />

und vollzogen die Ehe.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als die Sonne aufging, wurde aus Madanikā wieder Kuæbha. Auf diese Weise<br />

lebte das Paar als Freunde tagsüber und als Ehefrau und Ehemann in der<br />

Nacht. Als Śikhidhvaja eines Nachts schlief, schlüpfte Kuæbha (als Cū¬ālā) in<br />

den Palast, erledigte die königlichen Pflichten und kehrte rasch an die Seite<br />

des Königs zurück.<br />

Einen Monat lang lebten sie so in den Höhlen des Mahendra-Berges. Sie<br />

durchwanderten verschiedene Wälder und zogen von einem Berghang zu<br />

einem anderen. Eine Zeitlang lebten sie im Garten der Götter, der als der<br />

Pārijāta-Wald bekannt ist und sich auf den südlichen Hängen des Maināka-<br />

Berges befindet. Außerdem durchstreiften sie auch das Kuru- und das Kosala-<br />

Gebiet.<br />

494


Nachdem sie sich einige Monate lang auf diese Weise aneinander erfreut<br />

hatten, dachte Cū¬ālā (als Kuæbha verkleidet): „Ich werde nun die Reife des<br />

Königs testen, indem ich ihm die Vergnügen und Freuden des Himmels<br />

schmackhaft mache. Wenn er dagegen unempfindlich bleibt, wird er gewiss<br />

nie wieder Vergnügen suchen.“<br />

Nachdem sie sich dazu entschlossen hatte, erschuf Cū¬ālā mit Hilfe ihrer<br />

magischen Kräfte eine Illusion, in der Śikhidhvaja den König der Götter (Indra)<br />

vor sich stehend erblickte, begleitet von himmlischen Wesen. Ohne<br />

durch deren plötzliches Erscheinen aus der Fassung zu geraten, entbot der<br />

König ihnen die pflichtschuldige Verehrung. Dann fragte er Indra: „Bitte teile<br />

mir mit, womit habe ich es verdient, dass du es auf dich genommen hast,<br />

heute hierher zu kommen?“<br />

Indra erwiderte: „Oh Heiliger, wir alle kamen hierher, weil wir unwiderstehlich<br />

durch deine Gegenwart angezogen worden sind. Wir haben in den Himmeln<br />

von deiner Glorie singen gehört. Komm, komm in den Himmel – die<br />

himmlischen Wesen, die von deiner Größe vernommen haben, sind begierig<br />

dich zu sehen. Bitte nimm diese himmlischen Insignien an, mit deren Hilfe du<br />

wie die vollkommenen Weisen den Raum durchqueren kannst. Gewiss, oh<br />

Weiser, verschmähen befreite Wesen wie du nicht das Glück, welches ungesucht<br />

zu ihnen gelangt. Möge dein Besuch den Himmel reinigen.“ Śikhidhvaja<br />

sagte: „Ich kenne die Umstände, die im Himmel herrschen, oh Indra! Jedoch<br />

mein Himmel befindet sich überall und auch nirgendwo. Ich bin glücklich, wo<br />

immer ich bin, weil ich mir nichts wünsche. Jedoch bin ich nicht fähig, den<br />

von dir beschriebenen Himmel aufzusuchen, der nur auf einen bestimmten<br />

Ort begrenzt ist! Daher vermag ich deinem Befehl nicht Folge zu leisten.“<br />

„Aber“, sprach Indra, „ich denke, dass es nur recht ist, dass die befreiten Weisen<br />

leiden, um die ihnen zugeteilten Freuden zu erfahren.“ Śikhidhvaja<br />

schwieg. Indra machte sich bereit zur Abreise. Śikhidhvaja sagte: „Ich werde<br />

nicht jetzt kommen, denn es ist nicht die Zeit dafür.“<br />

Nachdem Indra den König und Kuæbha gesegnet hatte, verschwanden er<br />

und sein Gefolge.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem Cū¬ālā dieses magische Schauspiel aufgelöst hatte, sprach sie zu<br />

sich selbst: „Glücklicherweise wird der König von Verführungen des Vergnügens<br />

nicht angesprochen. Sogar als Indra ihn besuchte und in den Himmel<br />

einlud, blieb der König ungerührt und rein wie Raum. Ich werde ihn nun<br />

einem weiteren Test unterziehen, der zeigen soll, ob er von den Zwillingskräften<br />

von Anziehung und Abstoßung bewegt werden kann.“<br />

Noch in derselben Nacht erzeugte Cū¬ālā mit Hilfe ihrer magischen Kräfte<br />

einen entzückenden Lustgarten mit einem außerordentlich schönen Bett<br />

darin. Sie schuf einen jungen Mann, physisch sogar noch attraktiver als<br />

Śikhidhvaja. Dann erschien sie zusammen mit ihrem Liebhaber, sitzend auf<br />

dem Bett, in enger Umarmung.<br />

VI.1:108<br />

495


VI.1:109<br />

Śikhidhvaja hatte seine Abendgebete beendet und suchte nach seiner Frau<br />

Madanikā. Nach einigem Suchen fand er das Versteck des Paares. Er sah sie<br />

völlig versunken in ihre Liebesspiele. Ihr Haar umfloss ihn. Mit ihren Händen<br />

hielt sie sein Gesicht umfangen. Ihre Münder begegneten sich in einem leidenschaftlichen<br />

Kuss. Offensichtlich waren sie in verzehrender Leidenschaft<br />

füreinander entbrannt. Jede Bewegung ihrer Glieder drückte ihre äußerste<br />

Liebe füreinander aus. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich das Entzücken<br />

ihrer Herzen. Die Brust des einen presste sich an die des anderen. Sie hatten<br />

ihre Umgebung offensichtlich völlig vergessen.<br />

Śikhidhvaja sah all dies, war aber gänzlich unbewegt. Er wollte sie nicht<br />

stören und wandte sich ab, um zu gehen. Das Paar jedoch hatte seine Gegenwart<br />

bemerkt. Er sagte zu ihnen: „Bitte, lasst euch durch mich nicht in eurem<br />

Glück stören.“<br />

Nach einiger Zeit kam Madanikā aus dem Garten und traf, beschämt durch<br />

ihr Betragen, Śikhidhvaja. Jedoch der König sagte: „Meine Teure, weshalb bist<br />

du so schnell gekommen? Gewiss leben die Wesen nur, um Glück zu erfahren.<br />

Und in dieser Welt ist es schwierig, ein Paar zu finden, das in solcher Harmonie<br />

ist. Ich fühle mich dadurch nicht betroffen, da ich sehr wohl weiß, was die<br />

Menschen in dieser Welt am meisten lieben. Kuæbha und ich sind große<br />

Freunde füreinander, während Madanikā nur die Frucht von Durvāsas Fluch<br />

ist!“<br />

Madanikā erwiderte: „Darin besteht die Natur der Frauen, oh hoher Herr!<br />

Sie sind schwankend in ihrer Ergebenheit. Sie sind achtmal so leidenschaftlich<br />

wie Männer. Sie sind schwach und vermögen in der Gegenwart eines<br />

verführerischen Mannes nicht, der Lust zu widerstehen. Bitte vergib mir, und<br />

sei mir nicht böse.“<br />

Śikhidhvaja erwiderte: „Ich bin dir überhaupt nichtböse, meine Liebe. Jedoch<br />

werde ich, dich von nun an als einen guten Freund und nicht mehr als<br />

meine Frau behandeln.“ Cū¬ālā war erfreut über die Haltung des Königs, die<br />

ihr überzeugend bewies, dass er jenseits von Lust und Zorn war. Unverzüglich<br />

gab sie die Form als Madanikā auf und nahm ihre ursprüngliche als Cū¬ālā<br />

wieder an.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte:<br />

Wer bist du, oh reizende Frau, und wie bist du hierhergekommen? Seit<br />

wann bist duschen hier? Du siehst so sehr wie meine Frau aus!<br />

CôÖĀLĀ erwiderte:<br />

Ich bin tatsächlich Cū¬ālā. Ich habe die Gestalten von Kuæbha und anderen<br />

angenommen, um deinen Geist zu erwecken. Außerdem habe ich die Gestalt<br />

dieser kleinen, illusorischen Welt mit dem Garten usw. erschaffen, die du<br />

soeben gesehen hast. Von dem Tage an, als du unklugerweise dein Königreich<br />

aufgegeben hast und hierher zur Ausübung von Askese gekommen bist, habe<br />

ich mich um dein spirituelles Erwachen bemüht. Ich unterwies dich in der<br />

Gestalt von Kuæbha. Die Gestalten von Kuæbha und anderen, die du gesehen<br />

496


hast, waren nicht wirklich. Nun bist du vollkommen erwacht und weißt alles,<br />

was zu wissen ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Śikhidhvaja ging in tiefe Meditation und sah in seinem Innern alle Geschehnisse,<br />

die sich seit dem Verlassen des Palastes ereignet hatten. Er war überglücklich,<br />

und seine Zuneigung zu seiner Frau wuchs und wuchs. Nachdem er<br />

das Körperbewusstsein wiedererlangt hatte, umarmte er Cū¬ālā mit einer<br />

Leidenschaft, die nicht zu beschreiben ist. Ihre Herzen überflossen in Liebe<br />

füreinander, und so verblieben sie einige Zeitlang wie in einem überbewussten<br />

Zustand.<br />

ŚIKHIDHVAJA sagte schließlich zu CôÖĀLĀ:<br />

Oh wie süß ist die Liebe einer teuren Frau – süßer als Nektar! Wie viel Mühen<br />

und Schmerz hast du für mich auf dich genommen! Die Art und Weise,<br />

wie du mich diesem schrecklichen Ozean der Unwissenheit entrissen hast,<br />

kann mit nichts verglichen werden. Die Tradition hat uns einige große Frauen<br />

geschenkt, die außerordentliche Ehegattinnen waren, doch sie sind nichts im<br />

Vergleich mit dir. In sämtlichen Tugenden und edlen Qualitäten übertriffst du<br />

sie. Du hast hart gekämpft und meine Erleuchtung herbeigeführt. Wie kann<br />

ich dir dies jemals vergelten? Liebende Frauen kämpfen für die Befreiung<br />

ihrer Männer aus diesem Ozean des saæsāra. In diesem Bemühen erreichen<br />

sie aufgrund ihrer Liebe für ihren Gemahl Dinge, die sogar die Schriften, der<br />

guru und ein mantra nicht vollbringen. Für den Ehemann ist seine Frau alles –<br />

Freundin, Bruder, Gönner, Dienerin, guru, Kamerad, Reichtum, Glück, Schriften,<br />

Wohnung (Gefäß) und Sklavin. Eine solche Frau sollte daher immer und<br />

mit allen Mitteln verehrt und bewundert werden.<br />

Meine teure Cū¬ālā, du bist in der Tat die wunderbarste von allen Frauen in<br />

dieser Welt. Komm und umarme mich noch einmal.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, umarmte Śikhidhvaja Cū¬ālā aufs Neue in<br />

starker und leidenschaftlicher Liebe.<br />

CôÖĀLĀ sprach:<br />

Hoher Herr, als ich dich deine nutzlose Askese praktizieren sah, war mein<br />

Herz voller Schmerzen. Ich erleichterte diese Schmerzen, indem ich hierher<br />

kam und mich bemühte, dich zu erwecken. Ich tat dies nur aus Selbstsucht<br />

und zu meiner eigenen Freude. Gewiss verdiene ich dafür keinerlei Lob!<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Von nun an sollten alle Frauen ihre selbstsüchtigen Ziele verfolgen, indem<br />

sie ihre Ehemänner spirituell erwecken, wie du es getan hast!<br />

CôÖĀLĀ sprach:<br />

497


Ich sehe in dir nicht länger all diese kleinlichen Verlangen, Gedanken und<br />

Gefühle, die dich Jahre zuvor gequält haben. Bitte sage mir, was du heute bist,<br />

worin du verankert bist und was du siehst.<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Meine Teure, ich ruhe in dem, was mir durch deine Hilfe gegeben wurde. Ich<br />

habe keinerlei Anhaftungen mehr. Ich bin wie der unendliche, unteilbare<br />

Raum. Ich bin Friede. Ich habe den Zustand erlangt, der sogar für Götter wie<br />

Vi«ïu und Áiva schwierig zu erlangen ist. Ich bin frei von Verwirrung und<br />

Täuschung. Ich erfahre weder Sorge noch Freude. Ich vermag weder „Dies ist“<br />

noch „Das andere ist“ zu sagen. Ich bin frei von aller Verhüllung und erfreue<br />

mich eines Zustandes des innerlichen Wohlseins. Was ich bin, das bin ich –<br />

schwierig, dies in Worte zu fassen! Du bist mein guru, meine Liebe – ichverneige<br />

mich vor dir. Durch deine Gnade, meine Geliebte, habe ich diesen Ozean<br />

des saæsāra überquert. Ich werde nicht wieder denselben Fehler begehen.<br />

CôÖĀLĀ fragte:<br />

Was wünschest du dann jetzt zu tun?<br />

ŚIKHIDHVAJA erwiderte:<br />

Ich kenne weder Gebote noch Verbote. Was immer du tust, dass anerkenne<br />

ich als das Richtige. Tue, was du für das Richtige hältst, und ich werde dir<br />

darin folgen.<br />

CôÖĀLĀ sprach:<br />

Hoher Herr, wir sind nun beide im Zustand der befreiten Weisen verankert.<br />

Für uns sind jetzt Wunsch und das Gegenteil davon dasselbe. Von welchem<br />

Nutzen sollte für uns die Disziplin von prāïa oder diejenige des unendlichen<br />

Bewusstseins sein? Daher sollten wir das sein, was wir zu Beginn, in der<br />

Mitte und am Ende sind, und das eine Ding aufgeben, das danach verbleibt.<br />

Wir sind der König und die Königin zu Beginn, in der Mitte und am Ende. Das<br />

eine noch aufzugebende Ding ist die Täuschung! Lass uns daher ins Königreich<br />

zurückkehren und dort ein weiser Herrscher sein.<br />

ŚIKHIDHVAJA fragte:<br />

Weshalb sollten wir dann nicht die Einladung Indras in den Himmel annehmen?<br />

CôÖĀLĀ erwiderte:<br />

Oh König, ich wünsche mir weder die Vergnügen des Himmels noch den<br />

Glanz des Königreichs. Ich verbleibe in der Verfassung, in welche mich meine<br />

eigene Natur versetzt. Sobald dem Gedanken „dies ist Vergnügen“ der Gedanke<br />

„dies ist nicht“ entgegengestellt wird, verderben beide. Ich verbleibe in<br />

dem Frieden, der beides überlebt.<br />

Die beiden befreiten Weisen verbrachten alsdann die Nacht im Entzücken<br />

der ehelichen Freuden.<br />

498


* * *<br />

Die Geschichte von Kaca<br />

VI.1:110<br />

VI.1:111<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Bei Tagesanbruch erhob sich das Paar und erledigte seine morgendlichen<br />

Pflichten. Cū¬ālā materialisierte durch ihre Gedankenkraft ein goldenes Gefäß,<br />

das die heiligen Wasser von sieben Ozeanen enthielt. Mit diesen Wassern<br />

badete sie den König und krönte ihn zum König. Sie sprach: „Mögest du mit all<br />

dem Glanz der acht göttlichen Beschützer des Universums ausgestattet sein.“<br />

Der König seinerseits setzte Cū¬ālā erneut als seine Königin ein. Er schlug<br />

ihr vor, mit Hilfe ihrer Gedankenkraft eine Armee zu erschaffen, was sie auch<br />

tat.<br />

Angeführt vom königlichen Paar, das auf dem stattlichsten Elefanten saß,<br />

bewegte sich die gesamte Armee in Richtung des Königreichs. Auf dem Wege<br />

dahin zeigte Śikhidhvaja Cū¬ālā die verschiedenen Orte, die mit seinem asketischen<br />

Leben in Verbindung standen. Bald schon erreichten sie die Außenbezirke<br />

ihrer Stadt, wo ihnen die Bewohner einen überwältigenden Empfang<br />

bereiteten.<br />

Unterstützt von Cū¬ālā regierte Śikhidhvaja das Königreich während zehntausend<br />

Jahren. Danach erlangte er nirvāïa (Befreiung, wie eine Lampe,<br />

deren Öl aufgebraucht ist), von wo es keine Wiedergeburt gibt. Nachdem er<br />

die Freuden der Welt genossen hatte, wie es dem herausragendsten unter den<br />

Königen zukommt, und ein sehr langes Leben gelebt hatte, erlangte er, da in<br />

ihm nur ein kleiner Rest von satva war, den höchsten Zustand. Befasse dich,<br />

oh Rāma, auf dieselbe Weise mit spontaner und natürlicher Tätigkeit, ohne<br />

dich zu sorgen. Erhebe dich! Genieße die Freuden der Welt und die letzte<br />

Befreiung.<br />

So habe ich dir, oh Rāma, also die Geschichte von Śikhidhvaja erzählt. Wenn<br />

du diesem Pfade folgst, wirst du niemals trauern. Regiere so, wie Śikhidhvaja<br />

es tat. Auch du wirst dann die Freuden dieser Welt genießen und die letzte<br />

Befreiung erlangen. Auch Kaca, der Sohn von B­haspati, dem Lehrer der Götter,<br />

tat so.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, bitte teile mir mit, wie Kaca, der Sohn des B­haspati, die Erleuchtung<br />

erlangt hat.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Wie Śikhidhvaja erlangte Kaca die Erleuchtung. Eines Tages, als er noch<br />

jung war, war er sehr eifrig um die Befreiung aus dem saæsāra bemüht. Er<br />

suchte seinen Vater B­haspati auf und fragte diesen: „Hoher Herr, du weißt<br />

499


alles. Bitte teile mir mit, wie man sich aus diesem Käfig genannt samsara<br />

befreien kann.“<br />

BãHASPATI sprach:<br />

Mein Sohn, die Befreiung aus diesem als saæsāra bezeichneten Gefängnis<br />

kann einzig und allein durch Entsagung geschehen!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er dies vernommen hatte, wandte sich Kaca in Richtung des Waldes,<br />

nachdem er allem entsagt hatte. B­haspati ließ dieses Ereignis ungerührt.<br />

Die Weisen werden durch Vereinigungen oder Trennungen nichtbewegt.<br />

Nach acht Jahren der Abgeschiedenheit und Askese traf Kaca seinen<br />

Vater wieder und fragte ihn: „Vater, ich habe acht Jahre lang Askese geübt,<br />

nachdem ich allem entsagt habe. Weshalb habe ich noch nicht den Zustand<br />

des höchsten Friedens erlangen können?“<br />

B­haspati wiederholte daraufhin lediglich seine erste Aufforderung: „Entsage<br />

allem“, und ging fort. Dies wörtlich nehmend, warf Kaca sogar noch die<br />

Baumrinde ab, mit der er seinen Körper bedeckt hatte. Dann setzte er die<br />

Askesepraktiken drei weitere Jahre lang fort. Erneut ging er zu seinem Vater<br />

und fragte ihn, nachdem er ihnverehrt hatte: „Vater, ich habe sogar noch dem<br />

Stab und der Kleidung usw. entsagt. Aber Selbsterkenntnis habe ich immer<br />

noch nicht erlangt!“<br />

B­haspati erwiderte daraufhin: „Mit „totaler Entsagung“ ist nur das Gemüt<br />

gemeint, denn das Gemüt ist alles, was es gibt. Die totale Entsagung besteht<br />

daher in der Entsagung des Gemüts.“ Nachdem er so gesprochen hatte, verschwand<br />

B­haspati außer Sichtweite. Kaca begann auf der Suche nach dem<br />

Gemüt, dem zu entsagen wäre, in sich selbst hineinzuschauen. Jedoch so viel<br />

er auch suchte, er vermochte das, was man „Gemüt“ nennt, einfach nicht zu<br />

finden! Da er das Gemüt nicht zu finden vermochte, dachte er bei sich folgendermaßen<br />

nach: „Die physischen Stoffe wie der Körper können nicht das sein,<br />

was man als Gemüt betrachtet. Weshalb strafe ich also überflüssigerweise<br />

den unschuldigen Körper? Ich sollte zu meinem Vater zurückkehren und das<br />

Wo und Wie dieses furchterregenden Feindes namens Gemüt ergründen.<br />

Sobald ich es erkannt habe, werde ich ihm entsagen.“<br />

Nachdem er zu diesem Entschluss gelangt war, suchte Kaca erneut seinen<br />

Vater auf und bat: „Bitte teile mir mit, was das Gemüt ist, damit ich ihm entsagen<br />

kann.“ B­haspati erwiderte: „Diejenigen, die das um Gemüt wissen,<br />

erklären, dass das Gemüt das 'Ich' sei. Der Ich-Sinn, der in dir erscheint, ist<br />

das Gemüt.“ Kaca antwortete: „Dies ist jedoch sehr schwierig, wenn nicht gar<br />

unmöglich!“ B­haspati sagte: „Es ist sogar einfacher, als eine Blume in der<br />

Hand zu zerdrücken; einfacher, als deine Augen zu schließen! Denn was aufgrund<br />

von Unwissenheit real zu sein scheint, verschwindet beim Dämmern<br />

der Erkenntnis. In Wahrheit gibt es keinen Ich-Sinn. Er scheint nur zu existieren,<br />

und zwar aufgrund von Unwissenheit und Täuschung. Wo sollte dieser<br />

Ich-Sinn denn sein, wie konnte er entstehen, was genau ist er? In allen Wesen<br />

500


gibt es stets nur das eine, reine Bewusstsein! Folglich ist dieser Ich-Sinn<br />

nichts anderes als ein Wort. Gib ihn auf, mein Sohn, und gib die Selbstbegrenzung<br />

und psychologische Konditionierung auf. Du bist das Unkonditionierte –<br />

niemals durch Zeit, Raum usw. konditioniert.“<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom irregeführten Mann<br />

VI.1:112,<br />

113<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als er so mit der höchsten Weisheit bekannt gemacht worden war, erlangte<br />

Kaca die Erleuchtung. Er lebte frei vom Ich-Sinn und allem Besitzverlangen.<br />

Lebe wie er, oh Rāma. Der Ich-Sinn ist unwirklich. Vertraue ihm nicht, noch<br />

gib ihn auf. Wie kann das Unwirkliche begriffen werden, oder wie kann man<br />

ihm entsagen? Wenn der Ich-Sinn unwirklich ist – was sind dann Geburt und<br />

Tod? Du bist dieses subtile und reine Bewusstsein, welches unteilbar und frei<br />

von Ideenbildung ist, aber alle Wesen umfasst. Nur im Zustand der Unwissenheit<br />

wird diese Welt als eine illusionäre Erscheinung gesehen. In der<br />

Sichtweise der Erleuchteten jedoch wird all dies als Brāhman gesehen. Gib<br />

die Konzepte von Einheit und Verschiedenheit auf und bleibe in der Seligkeit.<br />

Betrage dich nicht wie der irregeführte Mann und leide!<br />

RĀMA sprach:<br />

Aus deinen nektargleichen Worten gewinne ich höchste Freude. Nun bin ich<br />

im transzendentalen Zustand verankert. Und doch fühle ich mich noch nicht<br />

gesättigt. Obgleich ich zufrieden bin, befrage ich dich weiter, da niemand<br />

durch Nektar allein gesättigt ist. Wer ist der irregeführte Mann, von dem du<br />

gesprochen hast?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Höre der folgenden lustigen Geschichte über den irregeführten Mann zu,<br />

der aus der Täuschung entstanden ist. Er wurde in einer Wüste geboren und<br />

wuchs in dieser auch auf. Eines Tages entstand in ihm eine verrückte Idee:<br />

„Ich bin aus dem Raum geboren, Ich bin Raum, der Raum ist mein. Diesen<br />

Raum sollte ich daher schützen.“ Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte,<br />

baute er ein Haus, das den Raum schützen sollte. Wie er sah, dass der Raum<br />

sicher in diesem Haus eingeschlossen war, war er glücklich. Im Verlaufe der<br />

Zeit jedoch verfiel das Haus und stürzte ein. Laut klagte er: „Oh du mein<br />

Raum! Wohin bist du gegangen? Oh weh – alles ist verloren!“<br />

Dann grub er einen Brunnen. Er meinte, dass der Raum darin nun sicher<br />

geschützt sei. Auch der Brunnen stürzte jedoch im Laufe der Zeit ein. Schließlich<br />

baute er nach und nach noch einen Kasten, eine Grube und einen kleinen<br />

501


VI.1:114<br />

Hain mit vier Salbäumen. Alle diese Dinge gingen nach kurzer Zeit zu Grunde,<br />

und der irregeführte Mann war zutiefst unglücklich.<br />

Höre die Bedeutung dieser Geschichte an, oh Rāma. Der Mann, der aus der<br />

Täuschung entstanden ist, ist der Ich-Sinn. Er taucht auf dieselbe Weise wie<br />

die Bewegung im Wind auf. Seine Wirklichkeit ist Brahman. Weil er dies nicht<br />

weiß, betrachtet der Ich-Sinn den Raum um sich herum als sich selbst und<br />

sein Besitztum. Daher identifiziert er sich selbst mit dem Körper usw. in der<br />

Absicht, ihn zu schützen. Der Körper usw. lebt wiederum einige Zeit und<br />

verdirbt dann. Aufgrund dieser Täuschung trauert der Ich-Sinn wieder und<br />

wieder und glaubt, dass das Selbst tot und verloren sei. Wenn der Kasten usw.<br />

zerstört werden, bleibt der Raum unbetroffen davon. Das Selbst bleibt ferner<br />

unbetroffen, wenn die Körper sterben. Das Selbst ist reines Bewusstsein,<br />

subtiler noch als Raum, oh Rāma. Niemals wird es zerstört. Es ist ungeboren.<br />

Es verdirbt nicht. Und das unendliche Brahman allein leuchtet als diese Welterscheinung.<br />

Wisse dies, und lebe auf immer glücklich.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Dem höchsten Brahman entsteigt als erstes das Gemüt mitsamt seiner Fähigkeit<br />

des Denkens und Vorstellens. Und dieses Gemüt bleibt auf dieselbe<br />

Weise in diesem Brahman wie der Duft in den Blüten, die Wellen im Ozean<br />

und die Sonnenstrahlen in der Sonne. Weil Brahman, das extrem subtil und<br />

unsichtbar ist, sozusagen vergessen wird, entsteht diese falsche Idee der<br />

realen Existenz der Welterscheinung.<br />

Wenn man denkt, dass die Sonnenstrahlen verschieden und getrennt von<br />

der Sonne sind, dann erlangen die Sonnenstrahlen für einen solchen Menschen<br />

auch genau diese scheinbar getrennte Existenz. Denkt man, dass ein<br />

aus Gold gemachtes Schmuckstück ein Schmuckstück ist, dann ist dieses für<br />

einen solchen Menschen in der Tat auch nur ein Schmuckstück und nicht<br />

Gold.<br />

Erkennt einer jedoch, dass die Sonnenstrahlen von der Sonne nichtverschieden<br />

sind, dann bezeichnet man sein Verstehen als „unmodifiziert“<br />

(nirvikalpa). Wenn einer erkennt, dass die Wellen nicht-verschieden vom<br />

Ozean sind, dann spricht man von seinem Verstehen als „unmodifiziert“<br />

(nirvikalpa). Wenn einer erkennt, dass das Schmuckstück nicht verschieden<br />

von Gold ist, dann spricht man von seinem Verstehen als „unmodifiziert“<br />

(nirvikalpa).<br />

Wer das Sprühen der Funken betrachtet, realisiert nicht, dass sie nur Feuer<br />

sind. Sein Gemüt erfährt Freuden und Leiden, indem diese Feuerfunken auffliegen<br />

und wieder zu Boden fallen und dort zerstreut werden. Sobald er zu<br />

erkennen vermag, dass diese Funken nichts als Feuer und von diesem nicht<br />

verschieden sind, sieht er nur noch das Feuer als solches. Vom Verstehen<br />

eines solchen Menschen spricht man dann als „unmodifiziert“ (nirvikalpa).<br />

Wer auf diese Weise im nirvikalpa verankert ist, ist in der Tat ein Großer.<br />

Sein Verstehen vermindert sich nicht. Er hat erlangt, was zu erlangen wert ist.<br />

502


Sein Herz verfängt sich nicht länger in den Objekten. Daher, oh Rāma, gibt<br />

diese Wahrnehmung von Vielfalt oder die Objektifizierung auf und verbleibe<br />

im Bewusstsein verankert.<br />

Was auch immer das Selbst ersinnt, wird aufgrund der diesem Bewusstsein<br />

innewohnenden Mächte materialisiert. Diese materialisierten Gedanken<br />

leuchten dann auf, als wären sie unabhängig! Was der Verstand (ausgestattet<br />

mit der Fähigkeit des Denkens) daher ersinnt, wird unverzüglich materialisiert.<br />

Dies istdie Quelle der Vielfalt. Folglich ist diese Welterscheinung weder<br />

real noch irreal. So wie die fühlenden Wesen in ihren eigenen Tagträumen die<br />

verschiedenen Objekte erschaffen und erfahren, so ist diese Welterscheinung<br />

der Tagtraum Brahmans. Wird sie als Brahman erkannt, löst sich die Welterscheinung<br />

auf, denn vom absoluten Gesichtspunkt aus gesehen ist diese Welt<br />

inexistent. Brahman verbleibt stets als Brahman und erzeugt nichts, was<br />

nicht bereits zuvor existent war!<br />

Oh Rāma, was auch immer du tust – wisse, dass allesnur reines Bewusstsein<br />

ist. Brahman allein manifestiert sich hier als all dieses, denn nichts anderes<br />

als Brahman existiert. Einen Spielraum für „dies“ und „anderes“ gibt es nicht.<br />

Gib daher sogar noch die Konzepte von Befreiung und Bindung auf. Verbleibe<br />

im reinen, egolosen Zustand und befasse dich mit natürlichen Aktivitäten.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von Bh?ÇgÅśa<br />

VI.1:115<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Gib sämtliche Zweifel auf. Nimm Zuflucht zur moralischen Stärke. Sei der<br />

höchste Handelnde in den Handlungen, der höchste Genießer der Freuden<br />

und der höchste Entsager aller Dinge! Diese dreifache Disziplin wurde in<br />

alten Zeiten Bh?ÇgÅśa durch Lord Siva gelehrt, der dadurch die vollkommene<br />

Freiheit erlangte. Bh?ÇgÅśa war ein Mensch mit gewöhnlicher oder traditioneller<br />

Selbsterkenntnis. Er ging zu Lord Śiva und bat: „Hoher Herr, ich werde<br />

von dieser Welterscheinung getäuscht. Bitte sage mir, welche Geisteshaltung<br />

mir helfen wird, um mich von dieser Täuschung zu befreien.“<br />

LORD ŚIVA erwiderte:<br />

Gib alle deine Zweifel auf. Nimm Zuflucht zur moralischen Stärke. Sei ein<br />

mahābhokttā (ein großer Genießer der Wonne), ein mahākartā (ein großer<br />

Handelnder in den Handlungen) und ein mahātyāgī (ein vollkommener Entsagender).<br />

Derjenige ist ein mahākartā (ein großer Handelnder in den Handlungen),<br />

der frei von Zweifeln ist und in natürlichen Situationen die angemessenen<br />

503


Handlungen ausführt, seien diese nun dharmisch (rechtmäßig) oder<br />

adharmisch (falsch), und ohne von Abneigungen und Zuneigungen, durch<br />

Erfolg und Misserfolg, durch den Ich-Sinn oder Eifersucht verwirrt zu werden<br />

und mit seinem Gemüt stets im Zustand der Stille und Reinheit bleibt. Er ist<br />

unangehaftet an die Dinge, aber verbleibt als der Zeuge von allem, ohne<br />

selbstsüchtige Wünsche oder Beweggründe, ohne Aufregung und Jubel, stets<br />

mit einem friedlichen Gemüt und ohne Kummer oder Trauer, gleichgültig<br />

gegenüber Tätigkeit und Untätigkeit ist; seine wahre Natur sind Friede und<br />

Gleichgewicht oder Gleichmut, die er in allen Situationen beibehält ( Geburt,<br />

Existenz oder die Auslöschung aller Dinge).<br />

Derjenige ist ein mahābhokttā (ein großer Genießer), der weder etwas<br />

hasst noch nach irgendetwas verlangt, sondern alle natürlichen Erfahrungen<br />

genießt; der auch während der Tätigkeiten nicht an etwas hängt, noch ihm<br />

entsagt; der durch das Erfahren nicht erfährt; der das Spiel der Welt ungerührt<br />

betrachtet. Sein Herz wird durch die Vergnügen und Schmerzen, wie sie<br />

im Verlaufe des Lebens auftauchen, und die Wandel, die Verwirrtheit erzeugen,<br />

nicht berührt. Er betrachtet Alter und Tod, Paläste und Hütten und auch<br />

die großen Missgeschicke und Glücksfälle mit demselben Entzücken. Seine<br />

wahre Natur ist tugendhaft und frei von Gewalt. Er erfreut sich an der Süße<br />

wie an der Bitterkeit der Dinge gleichermaßen und trifft keine willkürlichen<br />

Unterscheidungen in „dies ist erfreulich“ und „dies ist es nicht“.<br />

Derjenige ist ein mahātyāgī (ein vollkommener Entsagender), der aus seinem<br />

Verstand alle Konzepte wie dharma und adharma, Schmerz und Vergnügen,<br />

Geburt und Tod, sämtliche Wünsche, sämtliche Zweifel, sämtliche Überzeugungen<br />

verbannt hat; der die Falschheit in der Erfahrung von Schmerz<br />

durch Körper, Gemüt usw. versteht und realisiert: „Ich habe keinen Körper,<br />

keine Geburt, kein richtig und kein falsch“, und der in seinem Herzen die Idee<br />

der Welterscheinung vollständig beseitigt hat.<br />

Auf diese Weise unterrichtete Lord Śiva Bh?ÇgÅśa, der daraufhin erleuchtet<br />

wurde. Nimm auch du diese Haltung an, oh Rāma, und transzendiere das<br />

Leiden.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, du kennst sämtliche Wahrheiten. Wenn der Ich-Sinn sich im<br />

Gemüt aufgelöst hat, wie kann man die Natur von Satva erkennen?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Ein solches Gemüt, oh Rāma, ist sogar unter schlimmsten Herausforderungen<br />

unberührt von Sünden wie Gier und Täuschung. Tugenden wie die Freude<br />

(am Wohlergehen anderer) bleiben für immer bei der Person, deren Ich-<br />

Sinn sich aufgelöst hat. Die Knoten der mentalen Konditionierung und Tendenzen<br />

sind durchtrennt. Der Zorn ist weitgehend besänftigt und die Täuschung<br />

ist wirkungslos geworden. Wünsche haben ihre Macht verloren. Die<br />

Gier ist auf der Flucht. Die Sinne sind im Gleichgewicht und weder erregbar<br />

noch geschwächt. Auch wenn sich auf dem Antlitz eines solchen Menschen<br />

VI.1:116,<br />

117<br />

504


VI.1:118,<br />

119,120<br />

Vergnügen und Schmerz widerspiegeln, bewegen sie doch nicht das Gemüt,<br />

welches all diesals bedeutungslos einstuft. Das Herz ruht im Gleichmut.<br />

Der erleuchtete Mensch, der mit all diesen Tugenden ausgestattet ist, bewohnt<br />

mühelos und auf natürliche Weise den Körper. Sein und Nicht-Sein<br />

(wie Wohlstand und Missgeschick), die einander folgen und all die verschiedenen<br />

und stark gegensätzlichen Widersprüche erzeugen, bewirken im Heiligen<br />

weder Freude noch Leid.<br />

Wehe dem, der sich diesem Pfad der Selbsterkenntnis verweigert, den er<br />

durch die richtige Führung seiner Intelligenz sehr leicht gehen kann. Die<br />

Mittel zur Überquerung dieses Ozeans von saæsāra (Welterscheinung oder<br />

Zyklus von Geburt und Tod) und zur Erlangung des höchsten Friedens sind<br />

die Ergründung des Selbst (Wer bin ich?), der Welt (Was ist diese Welt?) und<br />

der Wahrheit (Worin besteht die Wahrheit?).<br />

Dein eigener Ahne, Ik«vāku, dachte eines Tages, während er noch sein Königreich<br />

regierte, folgendermaßen nach: „Worin besteht wohl der Ursprung<br />

dieser Welt, so voll von verschiedenen Leiden wie Alter, Tod, Schmerz und<br />

Vergnügen und Täuschung?“ Er konnte aber keine Antwort finden. Nachdem<br />

er seinen Vater Manu, den Sohn Brahmās, gebührend verehrt hatte, fragte er<br />

ihn: „Hoher Herr, dein eigener Wille veranlasst mich dazu, dir eine wichtige<br />

Frage vorzulegen. Worin besteht der Ursprung dieser Welt? Wie kann ich frei<br />

von saæsāra werden?“<br />

Manu erwiderte: „Was du hier siehst, existiert nicht, mein Sohn, und zwar<br />

nichts davon! Auch gibt es nichts Ungesehenes oder etwas, was jenseits der<br />

Sinne und des Verstandes wäre. Es gibt nur das Selbst, welches ewiglich und<br />

unendlich ist. Was als das Universum gesehen wird, ist eine Reflexion in diesem<br />

Selbst. Aufgrund der dem kosmischen Bewusstsein eingeborenen Energie<br />

wird diese Reflexion hier als der Kosmos und die darin existierenden<br />

Lebewesen wahrgenommen. Das ist, was du die „Welt“ nennst. Weder gibt es<br />

Bindung noch Befreiung. Das eine, unendliche Bewusstsein allein existiert –<br />

weder eines noch viele! Gib alle Gedanken an Bindung und Befreiung auf und<br />

ruhe im Frieden.“<br />

MANU fuhr fort:<br />

Wenn das reine Bewusstsein in sich selbst Konzepte und Ideen entstehen<br />

lässt, nimmt es die Form einer Individualität (jīva) an. Diese Individuen wandern<br />

dann in diesem saæsāra (Welterscheinung). Während einer Verdunkelung<br />

von grellem Licht lässt sich erblicken, was vorher überstrahlt und nicht<br />

erblickt wurde. Auf eine ähnliche Weise ist es möglich, mit Hilfe der Erfahrungen<br />

des Individuums das reine Erfahren selbst kennenzulernen, welches<br />

das unendliche Bewusstsein ist. Jedoch kann diese Selbsterkenntnis nicht<br />

durch das Studium der Schriften oder mit der Hilfe eines Gurus erlangt werden<br />

– es kann nur durch das Selbst für sich selbst erlangt werden.<br />

Betrachte deinen Körper und die Sinne als Instrumente des Erfahrens, nicht<br />

jedoch als das Selbst. Die Idee „Ich bin der Körper“ bedeutet Bindung – der<br />

505


Suchende soll sie daher aufgeben. „Ich bin kein Ding, sondern reines Bewusstsein“<br />

– diese beständig aufrechterhaltene Überzeugungführt zur Befreiung.<br />

Nur wenn man das Selbst nicht realisiert, welches frei von Alter, Tod<br />

usw. ist, dann klagt man lauthals „Oh weh – ich bin tot, ich bin hilflos!“ Nur<br />

aufgrund solcher Gedanken wird die Unwissenheit gefestigt. Befreie dein<br />

Gemüt von unreinen Ideen und Gedanken. Ruhe im Selbst, das frei von solchen<br />

Ideen ist. Verbleibe während all deiner Tätigkeiten im Zustand vollkommenen<br />

Gleichgewichts und regiere dein Königreich in Frieden und Freude.<br />

Der Höchste Herr erfreut sich dieser Welterscheinung und zieht sie schließlich<br />

wieder in sich selbst zurück. Dieselbe Kraft oder Energie, die die Bindung<br />

hervorruft, ist gleichzeitig die Kraft oder Energie, die die Schöpfung auflöst<br />

und befreit. So wie ein Baum alle seine Teile und Blätter durchdringt, so<br />

durchdringt dieses unendliche Bewusstsein das gesamte Universum. Aber oh<br />

weh – der Unwissende realisiert dies nicht, obwohl es doch in jeder Zelle<br />

seines Körpers zu finden ist. Derjenige, der zu sehen vermag, dass dieses<br />

Selbst allein alles ist, erfreut sich der Seligkeit.<br />

Dieses Verstehen sollte man durch das Studium der Schriften und die Gemeinschaft<br />

mit den Heiligen erlangen. Darin besteht der erste Schritt. Nachdenken<br />

oder Ergründen ist der zweite. Nicht-Anhaftung oder psychologische<br />

Freiheit ist der dritte Schritt. Der vierte Schritt besteht im Sprengen der Fesseln<br />

der vāsanās (der Konditionierungen und Neigungen). Die Seligkeit, die<br />

aus dem reinen Gewahrsein abgeleitet wird, ist dann der fünfte Schritt – in<br />

dieser Seligkeit lebt der befreite Weise wie im Halbschlaf. Die Selbsterkenntnis<br />

schließlich ist der sechste Schritt, in der der Weise in einem Meer von<br />

Seligkeit untertaucht und wie im Tiefschlaf lebt. Der siebente Schritt wird<br />

turīya (der transzendentale Zustand) genannt und ist in sich selbst die Befreiung.<br />

Hier herrschen vollkommener Gleichmut und Reinheit. Jenseits davon<br />

(immer noch der siebente Zustand) ist turīyātīta, der jenseits jeder Beschreibung<br />

ist. Die ersten drei Zustände sind „Wach“zustände. Der vierte ist<br />

der Traumzustand. Der fünfte ist der Tiefschlaf, weil er voller Seligkeit ist. Der<br />

sechste ist turīya oder das nonduale Bewusstsein. Der siebente Zustand ist<br />

unbeschreiblich. Wer diesen erreicht, ist in reinem Sein, frei von aller Subjekt/Objekt-Getrenntheit,.<br />

Er ist weder am Sterben noch am Leben interessiert.<br />

Er ist mit allem eins. Er ist frei von Individuation. (Hinweis: Bezüglich<br />

der Schritte scheint in diesem Absatz etwas Unklarheit zu herrschen. Geklärt<br />

wird dies im Kapitel 126 dieses Abschnitts)<br />

MANU fuhr fort:<br />

Der befreite Weise kann jemand sein, der formell der Welt entsagt hat oder<br />

auch ganz normal als Haushälter lebt. Da er weiß: „Ich tue nichts“, erfährt er<br />

keinen Kummer. Da er weiß: „Ich bin unberührt, mein Gemüt ist unbewegt<br />

und frei von aller Konditionierung, ich bin reines und unendliches Bewusstsein“,<br />

erfährt er keinen Kummer. Der Erleuchtete, der ohne Ideen von „Ich“<br />

und „anderen“ ist, erfährt keinen Kummer. Wo immer er ist und in wessen<br />

VI.1:120,<br />

121,122<br />

506


Gesellschaft er sich befindet – er weiß, dass alles, was ist, das ist, was es ist.<br />

Er erfährt keinerlei Kummer. Er weiß, dass alle Himmelsrichtungen angefüllt<br />

sind mit dem Strahlen des Selbst, welches ewiglich ist. Es geschieht in der Tat<br />

nur durch die in der Unwissenheit gelebte Selbstbegrenzung, dass einer Frohlocken<br />

und Sorge in ständig wechselnden Umständen erfährt. Sobald diese<br />

aus der Unwissenheit geborene Selbstbegrenzung entweder geschwächt oder<br />

zerstört ist, gibt es da keine Erregtheit oder Trauer mehr. Die Handlungen, die<br />

aus solch geschwächten vāsanā oder Konditionierungen hervorgehen, sind in<br />

Wahrheit Nicht-Handlungen, deren Samen nicht länger keimen! Ein solcher<br />

Mensch führt seine Tätigkeiten nur noch mit den Gliedern des Körpers aus,<br />

während sein Gemüt und sein Herz im höchsten Frieden ruhen.<br />

Alle Fähigkeiten des Menschen gehen bei Mangel an Übung verloren. Diese<br />

Selbsterkenntnis jedoch, wenn sie einmal gewonnen ist, wächst von Tag zu<br />

Tag.<br />

Die Individualität (die Jīva-schaft) existiert so lange, wie der Wunsch nach<br />

Vergnügen andauert. Sogar dieser Wunsch ist aus Unwissenheit geboren!<br />

Wenn die Selbsterkenntnis auftaucht, verschwinden die Wünsche, und das<br />

Selbst gibt die Idee der Individualität auf und realisiert seine unendliche<br />

Natur. Diejenigen, die Ideen haben wie „dies ist mein“ und „ich bin dies“, stürzen<br />

in die Grube der Unwissenheit. Diejenigen jedoch, die diese Ideen in<br />

ihrem Herzen und Gemüt aufgegeben haben, steigen höher und höher hinauf.<br />

Gewahre das selbstleuchtende Selbst, welches alles durchdringt. Im selben<br />

Moment, in dem die Allgegenwart des Bewusstseins realisiert wird, überquert<br />

man den Ozean des saæsāra.<br />

Wisse, dass all das, was von Brahmā, Vi«ïu usw. getan wird, von dir getan<br />

wird. Alles was je gesehen werden kann, ist das Selbst oder das unendliche<br />

Bewusstsein. Du bist dieses unendliche Bewusstsein. Mit was kann das verglichen<br />

werden? Weder bist du Leerheit noch Nicht-Leerheit, weder Bewusstsein<br />

noch Unbewusstsein, weder das Selbst noch ein anderes! Ruhe in dieser<br />

Erkenntnis. Weder gibt es einen Ort namens Befreiung noch irgendeinen<br />

anderen! Wenn der Ich-Sinn gestorben ist, vergeht auch die Unwissenheit,<br />

und das nennt man Befreiung.<br />

Wer diese Selbsterkenntnis erlangt hat, überschreitet das Kastensystem, die<br />

Vorschriften, die die Ordnungen des Lebens betreffen, und Gebote und Verbote<br />

der Schriften so, wie der Löwe aus seinem Käfig ausbricht. Seine Handlungen<br />

sind unmotiviert und nicht-willentlich, da er von ihren Verdiensten nicht<br />

verführt wird. Er ist jenseits von Lobpreis und Tadel, er verehrt nichts und<br />

nimmt auch keinerlei Verehrung entgegen. Weder fühlt er sich durch andere<br />

gestört noch stört er andere. Er allein ist würdig, verehrt und gepriesen zu<br />

werden. Nicht durch Riten und Rituale, sondern allein durch die Verehrung<br />

solcher Weiser erlangt man die Weisheit.<br />

* * *<br />

507


Die Geschichte von Ikåvāku<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er so von Manu unterrichtet worden war, wurde Ikåvāku erleuchtet.<br />

Erwirb auch du diese Haltung, oh Rāma.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn das die Natur der erleuchteten Person ist, – was ist denn so außergewöhnlich<br />

und wunderbar daran?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Andererseits: Was ist denn so ungewöhnlich und wunderbar daran, psychische<br />

Kräfte wie die Fähigkeit zum Fliegen zu erlangen? Die Natur des Unwissenden<br />

besteht in der Abwesenheit des Gleichmuts. Das Kennzeichen des<br />

Erleuchteten ist die Reinheit des Gemüts und die Abwesenheit des Verlangens.<br />

Der Erleuchtete kann überhaupt nicht durch Merkmale gekennzeichnet<br />

werden. Er ist ohne Verwirrung und Täuschung. Saæsāra ist an ein Ende<br />

gelangt. Süchte, Zorn, Gram, Täuschung, Gier und andere unheilvolle Eigenschaften<br />

sind in ihm auf ein Minimum reduziert.<br />

Der Höchste Herr nimmt die Gestalt der Individualität (jīva) an. Die Elemente<br />

tauchen im Kosmos ohne irgendeinen Grund auf. Das Individuum, aus<br />

dem Höchsten Herrn hervorgegangen, erfährt die Elemente (Objekte) so, als<br />

wären sie von ihm erzeugt worden. Auf diese Art tauchen alle die jīvas auf<br />

und leben – ohne einen offensichtlichen Grund. Aber von nun an werden alle<br />

ihre individuellen Handlungen zur Ursache ihrer nachfolgenden Erfahrungen<br />

von Vergnügen und Schmerz. Die Begrenztheit des eigenen Verständnisses<br />

wird zur Ursache der individuellen Handlungen.<br />

Die Ursache der Bindung ist das begrenzte Verständnis und die eigenen<br />

Vorstellungen, während die Abwesenheit davon Befreiung ist. Gib daher<br />

sämtliche Ideenbildungen (saÇkalpa) auf. Sobald du von irgendetwas hier<br />

angezogen wirst, bist du gefesselt; bist du dagegen von nichts angezogen, bist<br />

du frei. Was auch immer du tust und genießt, tust du nicht wirklich und genießt<br />

du nicht wirklich. Wisse dies und sei frei.<br />

Alle diese Ideen existieren allein im Gemüt. Besiege mit Hilfe des Gemütes<br />

das Gemüt. Reinige das Gemüt mit Hilfe des Gemütes. Zerstöre das Gemüt mit<br />

Hilfe des Gemütes. Erfahrene Wäscher waschen Schmutz mit Hilfe von<br />

Schmutz aus. Ein Dorn wird durch einen zweiten Dorn entfernt. Gift neutralisiert<br />

Gift. Der jīva verfügt über drei Körper, nämlich den groben, den subtilen<br />

und den höchsten. Der physische Körper stellt die grobe Form dar. Das Gemüt<br />

mit seinen Ideen und Begrenztheiten ist der subtile Körper. Gib diese beiden<br />

auf und nimm Zuflucht zum höchsten, der die Realität selbst ist: Reines,<br />

unmodifiziertes Bewusstsein. Dies ist das kosmische Wesen. Verbleibe darin<br />

verankert, nachdem du die ersten beiden entschlossen zurückgewiesen hast.<br />

VI.1:123,<br />

124<br />

508


VI.1:124,<br />

125<br />

RĀMA fragte:<br />

Bitte beschreibe den Zustand von turīya, der den Wach-, Traum- und Tiefschlafzustand<br />

durchzieht, ohne als solcher erkannt zu werden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Zustand, der rein und gelassen ist, der ohne Ich-Sinn und ohne Nicht-<br />

Ich-Sinn ist, ohne Reales und Irreales und frei, der wird Turya (der vierte<br />

Zustand) genannt. Es ist der Zustand des befreiten Weisen. Es ist das ununterbrochene<br />

Zeugenbewusstsein. Er ist verschieden von den Wach- und<br />

Traumzuständen, die durch Gedankenbewegungen gekennzeichnet sind; er<br />

ist verschieden vom Tiefschlafzustand, der durch Trägheit und Unwissenheit<br />

gekennzeichnet ist. Wenn der Ich-Sinn aufgegeben wird, kommt der Zustand<br />

des vollkommenen Gleichgewichts zum Vorschein, in dem turīya sich selbst<br />

manifestiert.<br />

Ich erzähle nun ein Gleichnis, und wenn du dieses hörst, wirst du erleuchtet<br />

werden, auch wenn du bereits erleuchtet bist! In einem gewissen Wald gab es<br />

einen außergewöhnlichen Weisen. Ein Jäger, ging zu ihm und fragte: „Oh<br />

Weiser, ein Hirsch, verwundet von meinem Pfeil, muss hier durchgekommen<br />

sein. Sage mir, in welche Richtung er ging.“ Der Weise erwiderte: „Wir sind<br />

heilige Männer, die diesen Wald bewohnen. Unsere Natur ist Friede. Wir sind<br />

frei vom Ich-Sinn. Der Ich-Sinn und das Gemüt, die die Tätigkeiten der Sinne<br />

ermöglicht haben, sind zu einem Stillstand gekommen. Ich weiß nicht mehr,<br />

was man als Wachen, Traum und Tiefschlaf bezeichnet. Ich bin verankert im<br />

turīya. In diesem Zustand gibt es keinerlei Objekte zu sehen!“ Der Jäger vermochte<br />

die Bedeutung der Worte des Weisen nicht zu erfassen und ging seines<br />

Weges.<br />

So habe ich dir zu verstehen gegeben, oh Rāma, dass es nichts als turīya<br />

gibt. Turīya ist unmodifiziertes Bewusstsein, und das ist alles, was existiert.<br />

Wachen, Träumen und Schlafen sind Zustände des Gemüts. Hören sie auf,<br />

stirbt das Gemüt. Dann existiert nur noch satva – was die Yogis zu erlangen<br />

trachten.<br />

Und darin besteht das Ergebnis aller Schriften: In Wahrheit gibt es weder<br />

Avidyā (Unwissenheit) noch Māyā; Brahman allein existiert. Manche nennen<br />

dies Leerheit, andere reines Bewusstsein, wieder andere den Höchsten<br />

Herrn. Darüber streiten sie sich dann untereinander. Gib alle diese Ideen auf.<br />

Ruhe im nirvāņa ohne Gedankenbewegung, mit einem weitgehend „geschwächten“<br />

Gemüt und und friedlicher Intelligenz. Ruhe im Selbst, als ob du<br />

taub, stumm und blind wärest. Im Innern gib alles auf und befasse dich im<br />

Außen mit angemessenen Handlungen. Es ist die Existenz des Gemüts, die<br />

Glück, und es ist die Existenz des Gemüts, die Unglück entstehen lässt. Lass all<br />

dieses einfach vergehen, indem du dein Gemüt unbeachtet lässt. Verbleibe<br />

unberührt von dem, was anziehend und nicht-anziehend ist. Allein schon<br />

durch diese Eigenbemühung wird saæsāra überwunden! Indem du Vergnügen<br />

und Schmerz und alles Dazwischenliegende nicht mehr wahrnimmst,<br />

509


erhebst du dich über das Leid. Schon durch diese geringfügige Eigenbemühung<br />

erlangst du das Unendliche.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie beschreitet man die sieben Stufen des <strong>Yoga</strong>? Worin bestehen die Kennzeichen<br />

dieser sieben Stufen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Mensch ist entweder ein Akzeptierender (prav?tta) oder ein Verneinender<br />

(niv?tta) der Welt. Der erstere sagt sich: „Was soll es mit dieser Befreiung<br />

schon auf sich haben? In meinem Fall ist dieser saæsāra und das<br />

Leben darin das Bessere!“, und kümmert sich weiter um seine weltlichen<br />

Aufgaben. Nach vielen Geburten gewinnt er Weisheit. Er erkennt, dass die<br />

Tätigkeiten der Welt nichts anderes als sinnlose Wiederholungen des<br />

Immergleichen sind und will sein Leben nicht mehr damit verschwenden. Er<br />

denkt: „Worin liegt der Sinn von all dem? Ich will mich davon zurückziehen!“<br />

Dann wird er als niv?tta angesehen.<br />

Nun fragt er sich wieder und wieder: „Wie kann ich Leidenschaftslosigkeit<br />

kultivieren und so diesen Ozean von saæsāra überqueren?“ Und mit jedem<br />

weiteren Tag erzeugt allein dieser Gedanke Leidenschaftslosigkeit in ihm, bis<br />

schließlich Frieden und Freude in seinem Herzen auftauchen. Für die Aktivitäten<br />

des weltlichen Jahrmarktes interessiert er sich nicht mehr; anstelle<br />

dessen pflegt er nun verdienstvolle Tätigkeiten. Er fürchtet auch die Sünde.<br />

Seine Redeweise ist den Umständen angemessen und sanft, wahrhaftig und<br />

liebevoll. Damit hat er den ersten Schritt auf der Leiter der yoga-bhÆmikā<br />

(des <strong>Yoga</strong>-Zustands) getan. Er dient den Heiligen mit Hingabe. Er wendet sich<br />

den Schriften zu, wann und wo immer er sie findet, und studiert sie. Sein<br />

beständiges Bestreben ist nun die Überquerung des Ozeans von saæsāra. Er<br />

ist der wahre Suchende – andere dagegen sind nur selbstsüchtig.<br />

Dann betritt er die zweite Stufe des <strong>Yoga</strong>, die vicāra, Ergründung, genannt<br />

wird. Eifrig sucht er nun Zuflucht zur Gemeinschaft mit Heiligen, die in den<br />

Schriften und in spirituellen Übungen gut bewandert sind. Er weiß, was zu<br />

tun und zu lassen ist. Er gibt Böses wie Eitelkeit, Eifersucht, Verblendung und<br />

Gier auf. Von den Lehrern erfährt er alle Geheimnisse des <strong>Yoga</strong>. (Hinweis:<br />

Vicāra heisst „direktes Beobachten“ oder „in etwas hineinschauen“)<br />

Mit Leichtigkeit schreitet er sodann zur dritten Stufe des <strong>Yoga</strong> fort, die man<br />

asaæsaÇga, Nicht-Anhaftung oder Freiheit nennt. Nun durchwandert er in<br />

Abgeschiedenheit die Wälder und strebt nach der Stillung des Gemüts. Die<br />

Liebe zu den Schriften und tugendhaftes Betragen verleihen ihm schließlich<br />

den Einblick in die tiefen Wahrheiten. Die Nicht-Anhaftung oder Freiheit tritt<br />

in zwei Formen auf, nämlich der gewöhnlichen und der vorzüglichen. Wer die<br />

erste Form dieser Freiheit praktiziert, empfindet wie folgt: „Weder bin ich der<br />

Täter noch der Genießende; weder betrübe ich andere noch werde ich von<br />

anderen betrübt. All dies geschieht nur aufgrund von vergangenem Karma<br />

unter der Ägide Gottes. Ich tue nichts – ob da nun Schmerz oder Vergnügen,<br />

VI.1:126<br />

510


Glück oder Missgeschick herrscht. All dieses und auch Begegnung und Trennung,<br />

psychische Verwirrtheit und physische Krankheit, wird allein von der<br />

Zeit erzeugt.“ Auf diese Weise denkend ergründet und erfährt er die Wahrheit.<br />

Er praktiziert damit die gewöhnliche Nicht-Anhaftung oder Freiheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Durch fleißiges Üben dieser yogischen Methoden, durch die Zufluchtnahme<br />

zur Gemeinschaft der Heiligen und das Vermeiden schlechter Gesellschaft<br />

wird die Wahrheit offenbar. Wenn man das Höchste realisiert, welches die<br />

einzige Essenz oder Wahrheit jenseits dieses Ozeans von saæsāra ist, erkennt<br />

man: „Ich bin nicht der Täter, sondern Gott allein ist der Täter. Nicht einmal in<br />

der Vergangenheit habe ich jemals etwas getan.“ Er gibt die eitlen und bedeutungslosen<br />

Worte auf und verbleibt im Innern und im Geiste still. Darin besteht<br />

die vorzügliche Nicht-Anhaftung oder Freiheit. Ein solcher Mensch hat<br />

sämtliche Abhängigkeiten, unten wie oben, innerhalb wie außerhalb,<br />

berührbare und unberührbare, fühlende und nicht-fühlende, aufgegeben. Er<br />

strahlt wie der unabhängige und unbegrenzte Raum selbst. Dies ist die vorzügliche<br />

Freiheit. In dieser erfreut er sich des Friedens und der Zufriedenheit,<br />

der Tugend und der Reinheit, der Weisheit und der Selbst-Ergründung.<br />

Zur ersten Stufe des <strong>Yoga</strong> kommt man sozusagen zufällig, wenn man ein<br />

reines Leben mit guten und tugendhaften Taten gelebt hat. Wenn man so weit<br />

gekommen ist, sollte man diesen Zustand würdigen und ihn durch Eifer,<br />

Fleiss und Selbstbemühung beschützen. So soll man weiterfahren bis zur<br />

nächsten Stufe, der Selbstergründung. Durch fleißige Selbstergründung erreicht<br />

man dann die dritte Stufe, die Freiheit.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie aber ist es einer unwissenden Person möglich, diesen Ozean von<br />

saæsāra zu überqueren, die in einer schlechten Familie aufgewachsen ist und<br />

die Gemeinschaft mit den Heiligen vermissen musste? Und was geschieht mit<br />

jemandem, der stirbt, während er sich noch auf der ersten, zweiten oder<br />

dritten Stufe des <strong>Yoga</strong> befindet?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Nach vielen, sehr vielen Leben wird der unwissende Mensch durch ein zufälliges<br />

Ereignis erweckt. Bis dahin durchlebt er diesen saæsāra. Sobald Leidenschaftslosigkeit<br />

in seinem Herzen entsteht, beginnt sich saæsāra zurückzuziehen.<br />

Sogar eine unvollkommene Praxis dieses <strong>Yoga</strong> zerstört die Auswirkungen<br />

vergangener Sünden. Wer während dieser Praxis den Körper verlässt,<br />

steigt in den Himmel auf und wird unter Umständen wiedergeboren, die das<br />

Fortsetzen der begonnenen Praxis begünstigen. Schon sehr bald wird er die<br />

Leiter des <strong>Yoga</strong> weiter erklimmen.<br />

Diese drei Zustände werden als „Wachzustand“ bezeichnet, weil es in ihnen<br />

eine Getrenntheit im Bewusstsein gibt. Der Praktizierende gilt jedoch bereits<br />

als eine verehrungswürdige Person (ārya). Unwissende, die ihnsehen, werden<br />

inspiriert. Wer sich mit rechtschaffenen Handlungen befasst und das Sünd-<br />

511


hafte vermeidet, ist verehrungswürdig (ārya). Diese verehrungswürdige<br />

Heiligkeit befindet sich auf der ersten Stufe des <strong>Yoga</strong> in einem Samenzustand.<br />

Sie keimt auf der zweiten Stufe und findet auf der dritten Stufe ihre Erfüllung.<br />

Wer den Status eines Verehrungswürdigen (ārya) erlangt und ganz offensichtlich<br />

edle Gedanken kultiviert hat und dann stirbt, erfreut sich einer sehr<br />

langen Zeit der Wonnen des Himmels und wird dann als Yogi wiedergeboren.<br />

Durch fleißiges Praktizieren der ersten drei Stufen des <strong>Yoga</strong> wird die Unwissenheit<br />

zerstört und das Licht der Weisheit leuchtet im Herzen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im vierten Zustand des <strong>Yoga</strong> sehen die Yogis das Eine in Allem mit einem<br />

Gemüt, das frei von Getrenntheit ist. Die Getrenntheit hat aufgehört, während<br />

die Einheit stetig empfunden wird. Sie betrachten die Welt daher wie einen<br />

Traum.<br />

Im fünften Zustand verbleibt als einziges die ungeteilte Wirklichkeit. Deshalb<br />

wird er mit dem Tiefschlaf verglichen. Wer diesen Zustand erlangt hat,<br />

auch wenn er mit verschiedenen äußeren Tätigkeiten befasst ist, ruht in sich<br />

selbst.<br />

Nachdem der Yogi so von Stufe zu Stufe fortgeschritten ist, erreicht er<br />

schließlich die sechste, turīya. In diesem Zustand erkennt er: „Ich bin weder<br />

real noch irreal und auch nicht egolos. Ich bin jenseits von Dualität und Einheit.<br />

Sämtliche Zweifel sind zu Ende.“ Er verbleibt nun wie das Bildnis einer<br />

gemalten Lampe (d.h., er hat nirvāņa – den Zustand der Lampe ohne Brennstoff<br />

– noch nicht erreicht, ist aber doch wie eine Lampe ohne Öl, da die Lampe<br />

nur gemalt ist). Leer ist er im Innern, leer im Außen, leer wie ein leeres<br />

Gefäß. Gleichzeitig ist er jedoch voll im Innern wie im Außen, wie ein volles<br />

Gefäss, das ins Meer eingetaucht ist.<br />

Diejenigen, die schließlich den siebenten Zustand erreichen, nennt man<br />

„körperlose, befreite Wesen“. Ihr Zustand entzieht sich jeder Beschreibung.<br />

Und doch sind verschiedentlich beschrieben worden.<br />

Diejenigen, die diese sieben Stufen praktizieren, werden nie wieder vom<br />

Kummer heimgesucht. Aber man muss wissen, dass da in einem Wald ein<br />

Elefant umherstreift, der schreckliche Verwüstungen anrichtet. Wenn dieser<br />

Elefant getötet ist, erringt der Mensch auf allen sieben Stufen den Sieg – nicht<br />

aber auf andere Weise. Der Name des Elefanten ist „Begierde“. Er wandert in<br />

dem Urwald umher, den man Körper nennt. Rasend macht ihn die Sinnlichkeit.<br />

Unablässig und ruhelos wird er von der Konditionierung und den Neigungen<br />

(vāsanā) umhergetrieben. Dieser Elefant zerstört alle in dieser Welt.<br />

Er wird mit verschiedenen Namen genannt wie Begierde, vāsanā (Neigungen<br />

oder mentale Konditionierung), Gemüt, Gedanke, Gefühl, Anhaftung u.a. Er<br />

muss mit den Waffen des Mutes oder der Entschlossenheit, die aus der Realisierung<br />

der Einheit entstanden ist, erschlagen werden.<br />

Wünsche entstehen nur so lange, wie man an die objektive Existenz von etwas<br />

glaubt! Und allein darin besteht dieser saæsāra – nämlich im Empfinden<br />

512


VI.1:127<br />

von „dieses ist“. Das Aufhören dessen ist Befreiung (mokåa). Das ist die Essenz<br />

von jñāna oder Weisheit. Das Wahrnehmen von „Objekten“ lässt die Wünsche<br />

entstehen. Das Nicht-Wahrnehmen von Objekten beendet die Wünsche. Wenn<br />

die Wünsche enden, wirft der jīva seine Selbstbegrenzung ab. Aus diesem<br />

Grund gibt die große Seele alle Gedanken an Erfahrenes und noch nicht Erfahrenes<br />

auf. Ich erkläre hiermit mit hoch erhobenen Händen, dass der gedankenfreie<br />

und ideenfreie Zustand der beste ist. Er ist der Herrschaft über<br />

die gesamte Welt unendlich überlegen. Nicht-Denken ist <strong>Yoga</strong>. Führe in diesem<br />

Zustand ruhend die angemessenen Handlungen aus, oder tue gar nichts!<br />

So lange die Gedanken an „ich“ und „mein“ andauern, gelangen die Sorgen<br />

nicht an ein Ende. Hören diese Gedanken auf, dann hören auch die Sorgen auf.<br />

Wisse dies und tue dann, wie es dir beliebt (Hinweis: Im Originaltext dieses<br />

Absatzes werden für Worte wie „Denken“ und „Nicht-Denken“ die Wörter<br />

„samvedanam“ und „asamvedanam“ verwendet. Diese Wörter beinhalten<br />

weitaus mehr als das bloße Denken. Mit dem Wort „samvedanam“ sind auch<br />

das Erkennen, das Fühlen, die Erfahrung und das Wissen gemeint).<br />

VùLMýKI sprach zu Bharadvāya:<br />

Nachdem er der Quintessenz der höchsten Weisheit gelauscht und von<br />

śakti-pāta überwältigt war, verblieb Rāma versunken im Ozean der Seligkeit.<br />

Er hatte aufgehört, Fragen zu stellen, Antworten zu erheischen und nach dem<br />

Verstehen ihres Sinns zu streben. Er befand sich im höchsten Zustand der<br />

Selbsterkenntnis.<br />

BHARADVĀJA fragte:<br />

Oh Lehrer! Es ist eine Wonne zu sehen, dass Rāma nun den höchsten Zustand<br />

erlangt hat. Wie aber ist es möglich für Menschen wie uns, die töricht,<br />

unwissend und voll sündhafter Veranlagung sind, diesen Zustand<br />

zuerreichen, welcher sogar für Götter wie Brahmā schwer zu gewinnen ist?<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Ich habe dir in Gänze diesen Dialog zwischen Rāma und Vāsi«Âha wiedererzählt.<br />

Bedenke ihn wohl, denn die darin enthaltenen Instruktionen gelten<br />

auch für dich.<br />

Es gibt keine Getrenntheit in dem Bewusstsein, was man Welt nennen<br />

könnte. Befreie dich durch Praktizieren der dir hier enthüllten Geheimnisse<br />

von der Idee der Getrenntheit. Wach- und Schlafzustand sind Teile dieser<br />

Schöpfung. Erleuchtung ist durch das reine, innere Licht gekennzeichnet.<br />

Diese Schöpfung hier entsteht aus dem Nichts und löst sich in nichts auf. Ihre<br />

wahre Natur ist die Leerheit, sie existiert nicht. Aufgrund der anfangslosen<br />

und falschen Selbstbegrenzung erweckt diese Schöpfung den Anschein von<br />

Existenz und erzeugt endlose Verwirrung. Du bist verblendet, weil du dir<br />

nicht wieder und wieder und häufig die Wahrheit des unendlichen Bewusstseins<br />

ins Gedächtnis rufst, sondern anstelle dessen das Gift der Selbstbegrenzung<br />

und der sich daraus ergebenden psychologischen Konditionierung genießt.<br />

513


Diese Verblendung wird anhalten, bis du die Füße der erleuchteten Weisen<br />

erreichst und von ihnen das rechte Wissen erfährst. Mein Lieber – das, was<br />

nicht am Anfang existiert hat, wird auch nicht am Ende existieren, und es<br />

existiert nicht einmal jetzt. Diese Welterscheinung ist wie ein Traum. Die<br />

einzige Realität, in der sie auftaucht und wieder verschwindet, ist das unendliche<br />

Bewusstsein. Im Ozean von saæsāra oder der Unwissenheit taucht<br />

aufgrund der anfangslosen, potentiellen Mächte der Selbstbegrenzung die<br />

Idee des „Ich“ auf. Die Bewegung der Gedanken schafft sodann weitere Ideen<br />

wie „Mein“, „Anziehung“, „Abstoßung“ und noch andere. Sobald diese Ideen<br />

einmal im eigenen Bewusstsein Wurzeln geschlagen haben, wird man unvermeidbar<br />

die Beute endloser Schwierigkeiten und Sorgen.<br />

Tauche tief in den inneren Frieden, nicht aber ins Meer der Vielfalt. Wer<br />

lebt, wer ist tot, wer ist gekommen – weshalb verlierst du dich mit solch<br />

falschen Ideen? Wenn das eine Selbst die einzige Wirklichkeit ist – wo ist<br />

Raum für „anderes“? Die Theorie, dass Brahman als die Welt erscheint (so<br />

wie eine Schlange im Seil wahrgenommen wird), ist nur für die Kindischen<br />

und Unwissenden gedacht. Der Erleuchtete ruht für immer in der Wahrheit,<br />

die nicht einmal den Anschein von Verschiedenheit aufweist.<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Unwissende Menschen, die die Abgeschiedenheit nicht schätzen, versinken<br />

im Gram, und ab und zu lächeln sie. Die Wissenden dagegen sind immer<br />

glücklich und lächeln fortwährend. Die Wahrheit oder das Selbst ist subtil<br />

und scheint daher von der Unwissenheit verschleiert zu sein. Aber auch falls<br />

man an die atomare Substanzialität der Welt glaubt, verschwindet das Selbst<br />

nicht. Weshalb sorgst du dich also? Das Unwirkliche (die Unwissenheit usw.)<br />

tritt weder zu irgendeinem Zeitpunkt ins Dasein, noch hört die Wirklichkeit<br />

oder das Selbst jemals auf zu sein.<br />

Und doch entsteht aus den unterschiedlichsten Gründen die Verwirrung.<br />

Verehre, um diese zu überwinden, den Höchsten Herrn, der der Lehrer des<br />

gesamten Universums ist. Deine sündigen Karmas sind noch nicht von dir<br />

abgefallen, sondern zur Schlinge geworden, die dich fesselt. Bis dein Gemüt<br />

ein Nicht-Gemüt (satva) geworden ist, verehre Namen und Form. Danach<br />

wirst du in der Kontemplation des Absoluten verankert sein. Gewahre dann,<br />

und sei es auch nur für einen Augenblick, mit dem Selbst das innere Selbst im<br />

inneren Licht.<br />

Das Höchste wird von dem erlangt, der durch Eigenbemühung und rechte<br />

Handlungen die Gnade des Höchsten Herrn erlangt hat. Alte Gewohnheiten<br />

und Neigungen sind sehr stark. Bloße Eigenbemühung ist daher nicht ausreichend.<br />

Sogar die Götter sind unfähig, sich dem Unvermeidlichem (dem<br />

Schicksal) zu widersetzen. Alle sind dieser Weltordnung (niyati), die jenseits<br />

von Denken und Ausdruck ist, unterworfen.<br />

Der spirituelle Held jedoch sollte stets fest in der Überzeugung verwurzelt<br />

sein, dass ihm die Erleuchtung, wenn auch vielleicht erst nach mehreren<br />

514


VI.1:128<br />

Inkarnationen, gewiss ist. Durch sündige Handlungen wird man an diesen<br />

saæsāra gebunden, und durch rechte Handlungen wird man frei! Durch die<br />

gegenwärtigen rechten Handlungen werden die Wirkungen der vergangenen<br />

sündigen Taten schwächer. Wenn du alle deine Handlungen Brahman übergibst,<br />

wirst du niemals wieder auf dem Rad des saæsāra umherwirbeln.<br />

Sieh doch, wie die unwissenden Menschen in dieser Welt durch den großen<br />

Regisseur, die Zeit, dazu gebracht werden, die unterschiedlichsten Rollen zu<br />

spielen. Die Zeit erschafft, bewahrt und zerstört. Weshalb erregst du dich<br />

über den Verlust des Wohlstands usw., und warumfängst du selbst an zu<br />

tanzen? Sei still und betrachte diesen kosmischen Tanz! Diejenigen, die den<br />

Göttern, den heiligen Brāhmaņen und dem Guru ergegeben sind und unerschütterlich<br />

an den Grundsätzen der Lehren festhalten, erwerben die Gnade<br />

des Allerhöchsten Herrn.<br />

BHARADVĀJA fragte:<br />

Hoher Herr, ich habe nun erfahren, was es zu erfahren gibt. Ich weiß nun,<br />

dass es keinen größeren Freund als die Leidenschaftslosigkeit (vairāgya) und<br />

keinen größeren Feind als saæsāra gibt. Ich möchte jetzt von dir die eigentliche<br />

Essenz der Unterweisungen des heiligen Weisen Vāsi«Âha vernehmen.<br />

VùLMýKI erwiderte:<br />

Oh Bharadvāja, höre, was ich dir nun mitteilen werde. Durch bloßes Zuhören<br />

schon wirst du niemals wieder in diesem saæsāra ertrinken.<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Im Innern sollman sich im Frieden befinden, wobei man das Gemüt beherrscht,<br />

verbotene und selbstsüchtige Handlungen und die aus den Sinneskontakten<br />

entstehenden Freuden aufgegeben hat. Man soll sich ferner mit der<br />

Tugend des Glaubens versehen. Dann setzt man sich auf einen weichen Sitz in<br />

bequemer Haltung, die das Gleichgewicht begünstigt. Anschließend sollman<br />

die Tätigkeiten des Gemüts und der Sinne beherrschen. Man soll OM wiederholen,<br />

bis das Gemüt völligen Frieden erlangt.<br />

Führe dann zur Reinigung des Gemüts usw. prāïāyāma aus. Ziehe sanft und<br />

nach und nach die Sinne vom Kontakt mit äusseren Objekten zurück. Erforsche<br />

die Methode, mit der du die Quelle des Körpers, der Sinne, des Gemüts<br />

und der buddhi (innere Intelligenz) erkennst und lass sie in ihre Quelle zurückkehren.<br />

Zuerst ruhe im kosmischen, manifestierten Wesen (virāÂ). Ruhe<br />

anschließend im Unmanifestierten und schließlich in der höchsten Ursache<br />

von allem.<br />

Auf diese Weise werden alle Faktoren in ihre Quelle zurückgeführt. Der<br />

physische Körper (das Fleisch usw.) ist Erde und kehrt zur Erde zurück. Das<br />

Blut usw. ist flüssig und kehrt zum Wasserelement zurück. Das Feuer (Wärme)<br />

und das Licht im Körper gehören zum Feuerelement – dahin kehren sie<br />

zurück. Die Luft wird der kosmischen Luft dargeboten. Der Raum verschmilzt<br />

mit dem Raum.<br />

515


Ähnlich kehren die Sinne in ihre Quelle zurück: Der Hörsinn in den Raum,<br />

der Tastsinn in die Luft, der Sehsinn in die Sonne, der Geschmackssinn ins<br />

Wasser. Der Lebensatem kehrt zur Luft zurück, die Kraft der Rede ins Feuer,<br />

die Hände kehren zu Indra zurück, die Kraft der Fortbewegung zu Viåņu, das<br />

Reproduktionsorgan zu Kaśyapa, das Exkretionsorgan zu Mitra, das Gemüt<br />

zum Mond und die buddhi zu Brahman, denn alle diese sind die Gottheiten,<br />

die über diese Organe herrschen, welche nicht von einem selbst (dem „Ich“)<br />

geschaffen wurden. Nachdem auf diese Weise alle zu ihrer Quelle zurückgekehrt<br />

sind, siehe dich selbst als das kosmische Wesen (virāÂ). Der Höchste<br />

Herr, der als zwiegeschlechtlich (Bewusstsein-Energie) im Herzen des Universums<br />

wohnt, ist sein Träger.<br />

In diesem Universum nehmen die Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und<br />

Raum jedes für sich die doppelte Größe des Elements davor an. Löse die Erde<br />

im Wasser auf, das Wasser im Feuer, das Feuer in der Luft und die Luft im<br />

Raum. Der Raum sollte mit dem kosmischen Raum, der die Ursache von allem<br />

ist, verschmolzen werden. Der Yogi, sodann für einen Augenblick in seinem<br />

subtilen Leibe ruhend, sollte empfinden: „Ich bin das Selbst von allem“, und<br />

dabei alle Selbstbegrenzung ablegen. Das, worin dieses Universum ruht und<br />

welches ohne Name und Form ist, wird von einigen prak−ti (Natur), von<br />

anderen Māyā (Illusion) und von wieder anderen „subatomar“ genannt. Es<br />

wird ferner auch avidyā (Unwissenheit) genannt. Alle diese Bezeichnungen<br />

tragen das Zeichen der Verwirrung durch die Polemik der Worte. In Diesem<br />

existieren alle Dinge in ihrem unmanifestierten Zustand und ohne Beziehung<br />

miteinander. Sie entstehenaus ihm und existieren darin für die Dauer des<br />

Weltzyklus. Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde – darin besteht die Ordnung<br />

der Schöpfung. Die Auflösung findet in umgekehrter Reihenfolge statt. Durch<br />

die Aufgabe der drei Zustände (Wachen, Träumen und Schlaf) wird turīya<br />

erlangt. In der Meditation verschmilzt sogar der subtile Körper im Höchsten.<br />

BHARADVĀJA sprach:<br />

Hoher Herr, ich bin nun vom subtilen Körper befreit und schwimme im<br />

Ozean der Seligkeit. Ich bin das unteilbare Selbst, welches das höchste Selbst<br />

ist und die zwei Mächte des Bewusstseins und des Unbewusstseins besitzt. So<br />

wie in Feuer geworfenes Feuer zu ununterscheidbarem Feuer oder in die See<br />

geworfenes Stroh usw. zu Salz wird, so wird diese leblose Welt, dem unendlichen<br />

Bewusstsein dargeboten, eins mit ihm. So wie eine ins Meer geworfene<br />

Salzpuppe ihren Namen und ihre Form aufgibt und eins mit dem Ozean wird,<br />

mit Wasser gemischtes Wasser Wasser oder mit Butter gemischte Butter<br />

Butter ergibt, so bin auch ich mit diesem unendlichen Bewusstsein verschmolzen.<br />

„Ich bin dieses höchste Brahman, welches ewiglich, allgegenwärtig, rein,<br />

friedlich, unteilbar und ohne Bewegung ist, welches weder Sammeln noch<br />

Verteilen kennt, dessen Gedanken sich jedoch materialisieren; welches ohne<br />

Verdienste und ohne Tadel ist, welches die Quelle dieses Universums und<br />

welches das Höchste Licht ist, Eines ohne ein Zweites“. Auf diese Weise sollte<br />

516


man kontemplieren. Dann hört die Aufgewühltheit des Gemüts auf. Sobald die<br />

Bewegung des Gemüts aufgehört hat, erstrahlt das Selbst in seinem eigenen<br />

Licht. In diesem Licht gelangt aller Gram an sein Ende, und es gibt die Seligkeit,<br />

die das Selbst in sich selbst erfährt. Es gibt dann ein direktes Gewahrsein<br />

der Wahrheit: „Nichts als das Selbst ist!“.<br />

VùLMýKI sprach:<br />

Teurer Freund, wenn du willst, dass dieser Wahn genannt saæsāra zu Ende<br />

geht, dann gib alle Tätigkeiten auf und werde ein Liebender von Brahman.<br />

BHARADVĀJA sprach:<br />

Oh Guru, dein erleuchtender Diskurs hat mich vollständig erweckt. Meine<br />

Vernunft ist nun rein und die Welterscheinung erstreckt sich nicht länger vor<br />

meinen Augen! Ich möchte jetzt wissen, was die Menschen der Selbsterkenntnis<br />

tun. Haben sie noch irgendwelche Pflichten?<br />

VùLMýKI sprach:<br />

Diejenigen, die nach Befreiung verlangen, sollten sich nur noch mit Tätigkeiten<br />

befassen, die frei von Mängeln sind. Sie sollten alle selbstsüchtigen und<br />

sündigen Handlungen unterlassen. Wenn die Eigenschaften des Gemüts aufgegeben<br />

werden, übernimmt das Gemüt die Eigenschaften des Unendlichen.<br />

Der jīva ist befreit, wenn man denkt: „Ich bin das, was jenseits des Körpers,<br />

des Gemüts und der Sinne ist“; wenn man ohne die Ideen von „Ich bin der<br />

Täter“ und „Ich bin der Genießende“ und ohne Vorstellungen von Schmerz<br />

und Vergnügen ist; wenn man erkennt, dass alle Wesen im Selbst sind und<br />

das Selbst in allen Wesen; wenn man die Zustände des Wachens, Träumens<br />

und Tiefschlafes aufgibt und im transzendentalen Bewusstsein verbleibt.<br />

Darin besteht der Zustand der Seligkeit, welcher selbst das unendliche Bewusstsein<br />

ist. Tauche ein in diesen Ozean aus Nektar, voll von Frieden, und<br />

ertrinke nicht in der Vielfalt.<br />

Somit habe ich dir also den Diskurs des Weisen Vāsi«Âha kundgetan. Festige<br />

dein Gemüt durch Praxis. Beschreite den Pfad der Weisheit und des <strong>Yoga</strong>. Du<br />

wirst alles erkennen.<br />

VùLMýKI fuhr fort:<br />

Als er bemerkte, dass Rāma völlig vom Selbst absorbiert war, sprach<br />

Viśvamitra zu dem Weisen Vāsi«Âha: „Oh Sohn des Schöpfers, oh Heiliger, in<br />

der Tat bist du ein Großer. Du hast durch śakti-pāta (direkte Übertragung der<br />

spirituellen Energie) bewiesen, dass du der Guru bist. Der ist ein Guru, der<br />

durch einen Blick, eine Berührung, durch verbale Kommunikation oder durch<br />

Gnade das Gottesbewusstsein im Schüler zu erwecken vermag. Jedoch erwacht<br />

die spirituelle Vernunft des Schülers erst, wenn er sich selbst von den<br />

dreifachen Unreinheiten befreit und dadurch einen kühnen Intellekt entwickelt<br />

hat. Bringe jedoch bitte, oh Weiser, Rāma zurück in das Körperbewusstsein,<br />

denn er hat noch viele Dinge zu tun für das Wohlergehen der drei Welten<br />

und meines eigenen.“<br />

517


VI.2:1<br />

Sämtliche versammelten Weisen und andere Teilnehmer der Zusammenkunft<br />

verneigten sich vor Rāma. Dann sagte Vāsi«Âha zu Viśvamitra: „Bitte<br />

sage ihnen, wer Rāma wirklich ist.“ Viśvamitra sprach zu ihnen: „Rāma ist die<br />

höchste Person der Gottheit selbst. Er ist der Schöpfer, Beschützer und Erlöser.<br />

Er ist der Höchste Herr und der Freund aller. Er manifestiert sich auf<br />

verschiedene Art – manchmal als voll erleuchtetes Wesen, manchmal als<br />

Unwissender. In Wahrheit ist er der Gott der Götter, und sämtliche Götter sind<br />

nur Teilmanifestationen von ihm. Gesegnet ist dieser König Daśaratha, dessen<br />

Sohn Lord Rāma selbst ist. Gesegnet ist Rāvaïa, dessen Kopf durch die Hände<br />

Rāmas fallen wird. Oh Weiser Vāsi«Âha – bitte bringe ihn ins Körperbewusstsein<br />

zurück.“<br />

Vāsi«Âha sprach zu Rāma: „Oh Rāma, dies ist nicht die Zeit zuruhen! Erhebe<br />

dich und erfreue die Welt. Solange Menschen noch in Bindung leben, darf der<br />

Yogi sich nicht im Selbst verlieren.“ Rāma reagierte nicht auf diese Worte.<br />

Daraufhin betrat Vāsi«Âha das Herz Rāmas durch dessen suåumnā-nā¬ī. Das<br />

prāïa in Rāma begann sich zu regen und belebte sein Gemüt. Der jīva, der die<br />

Form des inneren Lichts hat, verteilt seinen Glanz auf sämtliche nā¬īs des<br />

Körpers. Rāma öffnete leicht die Augen und gewahrte Vāsi«Âha vor sich. Rāma<br />

sprach zu Vāsi«Âha: „Es gibt nichts, was ich tun oder unterlassen sollte. Jedoch<br />

müssen deine Worte stets gewürdigt werden.“ Indem er sprach, legte Rāma<br />

seinen Kopf auf die Füße des Heiligen und erklärte dann: „Hört alle her! Es<br />

gibt nichts Höheres als die Selbsterkenntnis, nichts Höheres als den Guru.“<br />

Alle versammelten Weisen und himmlischen Wesen ließen einen Blumenregen<br />

auf Rāma herniederund segneten ihn. Dann verliessen sie die Versammlung.<br />

So habe ich dir, oh Bharadvāja, die Geschichte von Rāma erzählt. Erlange<br />

durch Praxis dieses höchsten <strong>Yoga</strong> die höchste Seligkeit. Wer diesem Dialog<br />

zwischen Rāma und Vāsi«Âha immer wieder lauscht, ist befreit, was auch<br />

immer die Umstände seines Lebens sein sollten, und erlangt die Erkenntnis<br />

des Brahman.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn man die Tätigkeiten und den Willen zur Ausübung von Tätigkeiten<br />

aufgibt, fällt der Körper weg. Wie kann ein lebendes Wesen dann weiterleben?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Aufgabe der mentalen Konditionierungen und Ideen ist nur dem lebendigen<br />

Wesen möglich, nicht einem toten. Was ist kalpanā (Vorstellung oder<br />

mentale Aktivität)? Es ist nur der Ich-Sinn. Sobald dieser als nichts erkannt<br />

wird, wird der Ich-Sinn aufgegeben. Die im Innern durch das äußere Objekt<br />

erzeugte Idee nennt man kalpanā. Sobald diese Idee die Merkmale von Leerheit<br />

oder Raum annimmt, geschieht die Preisgabe der Idee. Erinnerung ist<br />

kalpanā. Die Weisen sagen daher, dass Nicht-Erinnern das Beste ist. Die Erinnerung<br />

umfasst alles, was man erfahren und auch noch nicht erfahren hat.<br />

518


Verzichte auf das „Erinnern“ dessen, was erfahren und was noch nicht erfahren<br />

wurde, und ruhe dann im Selbst wie ein halbwacher Säugling.<br />

So wie sich das Rad des Töpfers aufgrund des vorherigen Schwunges<br />

weiterdreht, so lebe weiter hier und handle ohne Ideen, ohne die Tätigkeit<br />

des Gemüts, welches nun in reines satva verwandelt worden ist. Ich erkläre<br />

mit hoch erhobenen Armen: „Das Aufgeben der Ideen ist dasHöchste!“ Weshalb<br />

nur hören die Menschen nicht zu? Wie machtvoll doch diese Verblendung<br />

ist! Unter ihrem Einfluss gibt nicht einmal derjenige, der den kostbaren<br />

Edelstein von vicāra (Selbst-Ergründung) schon auf der Handfläche liegen<br />

hat, seinen Wahn auf. Dies allein ist das Beste: Das Nicht-Wahrnehmen von<br />

Objekten und das Nicht-Auftauchen von Ideen. Dies sollte man zu seiner<br />

Erfahrung machen.<br />

Wenn du friedvoll in deinem eigenen Selbst ruhst, wirst du wissen, dass im<br />

Vergleich damit sogar das Leben eines Kaisers so unbedeutend wie ein Grashalm<br />

ist. Sobald einer den Entschluss gefasst hat, einen bestimmten Ort aufzusuchen,<br />

setzen sich seine Füsse ohne weiteres in Bewegung. Funktioniere<br />

auf dieselbe Weise und führe hier deine Tätigkeiten aus. Handle hier ohne<br />

Wunsch nach Belohnung oder nach den Früchten der Handlungund ohne<br />

Vergnügen oder Gewinn zu erstreben. Die Sinnesobjekte werden keine Anziehung<br />

mehr besitzen, sondern nur noch das sein, was sie sind. Und falls<br />

Empfindungen von Vergnügen durch den Kontakt der Sinne mit ihren Objekten<br />

auftauchen sollten, lass dich davon nach innen ins Selbst führen. Verlange<br />

nicht nach den Früchten der Handlungen; aber sei auch nicht untätig. Oder<br />

sei entweder beidem oder keinem ergeben – wie es sich gerade ergibt. Denn<br />

was bindet, ist der Wille, etwas zu tun oder nicht zu tun, und die Abwesenheit<br />

von diesem ist Befreiung. In der Tat gibt es da weder ein Muss noch ein Mussnicht<br />

– alles ist nur reines Sein. Halte deine innere Intelligenz davon ab, das<br />

eine oder das andere wahrzunehmen. Verbleibe auf ewig das, was du in<br />

Wahrheit bist. Das Gewahrsein von „Ich“ und „mein“ ist die Wurzel der Sorge<br />

– ihr Aufhören ist Emanzipation. Tue, was dir beliebt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So wie eine Tonsoldatenarmee nichts anderes als eine Armee aus tönernen<br />

Figuren ist, so ist das gesamte Universum reines, nonduales Selbst. Was ist<br />

ein Objekt und durch wen wird es wahrgenommen, da doch nur dieses eine<br />

nonduale Selbst existiert? Getrennt von diesem höchsten Selbst gibt es nichts,<br />

das man mit „Ich“ oder „mein“ bezeichnen könnte.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn dies so ist, hoher Herr, weshalb sollte man dann die sündigen Taten<br />

aufgeben und sich den tugendhaften Handlungen widmen?<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Teile mir bitte als erstes mit, oh Rāma, was du unter Taten verstehst. Wie<br />

entsteht Tätigkeit, was ist deren Wurzel, und wie wird diese Wurzel zerstört?<br />

RĀMA sprach:<br />

VI.2:2<br />

519


Gewiss, hoher Herr, muss das, was zu zerstören ist, vollständig entwurzelt<br />

und seine Wurzeln vernichtet werden. So lange der Körper lebt, gibt es auch<br />

Tätigkeiten. Er ist in diesem saæsāra, der Welterscheinung, verwurzelt. In<br />

diesem Körper entstehen die Tätigkeiten aus den Gliedern (den Handlungsorganen<br />

des Körpers). Vāsanā oder mentale Gewohnheiten sind die Samen<br />

für die Handlungsorgane. Diese mentalen Gewohnheiten, die durch die Sinne<br />

funktionieren, sind in der Lage, sogar das in weiter Ferne Liegende<br />

zuverstehen. Die Sinne sind im Gemüt verwurzelt. Das Gemüt ist im jīva verwurzelt,<br />

der konditioniertes Bewusstsein ist, und dieses wiederum ist im<br />

Unkonditionierten verwurzelt, welches die Wurzel von allem ist. Brahman ist<br />

die Wurzel dieses Unkonditionierten, und Brahman selbst besitzt keine Wurzel.<br />

Daher gründen alle Tätigkeiten auf Bewusstsein, das sich selbst objektiviert<br />

und dann die Tätigkeiten erzeugt. Geschieht dies nicht, dann ist dies der<br />

höchste Zustand.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Was ist dann, oh Rāma, in diesem Fall zu tun oder zu unterlassen? Das Gemüt<br />

existiert so lange, wie der Körper lebt; gleichgültig ob die verkörperte<br />

Person erleuchtet ist oder unwissend. Wie kann man dies, was als Jīva-schaft<br />

(Individualität) bezeichnet wird, überhaupt aufgeben? Jedoch kann und soll<br />

man sehr wohl die Idee „Ich tue etwas“ aufgeben und sich mit angemessenen<br />

Handlungen befassen. Beim Erwachen der inneren Intelligenz hört die Welterscheinung<br />

auf, und es entsteht die psychologische Freiheit oder Nicht-<br />

Anhaftung. Dies nennt man Emanzipation. Wird die objektive oder konditionierte<br />

Wahrnehmung aufgegeben, entsteht der Friede, den man Brahman<br />

nennt. Die Wahrnehmung oder das Gewahrsein von Objekten nennt man<br />

Tätigkeit, die sich zu diesem saæsāra oder Welterscheinung ausdehnt. Das<br />

Aufhören eines solchen Gewahrseins nennt man Emanzipation. Daher, oh<br />

Rāma, ist die Aufgabe aller Tätigkeiten falsch, solange der Körper lebt. Ein<br />

solches Aufgeben verleiht der Tätigkeit einen Wert; aber das was Wert hat,<br />

kann nicht aufgegeben werden.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn das, was ist, nicht aufhören kann zu sein, und wenn das, was nicht ist,<br />

nicht existiert – wie kann dann Gewahrsein (Erfahrung) zu Nicht-Gewahrsein<br />

oder Nicht-Erfahrung gemacht werden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Es ist wahr, dass das was ist, nicht aufhört zu sein, während das, was nicht<br />

ist, auch nicht existiert. Erfahrung und Nicht-Erfahrung sind aber ebenso<br />

leicht und einfach zu meistern. Denn das Wort „Erfahrung“ und das, was mit<br />

ihm bezeichnet wird, ist aus Falschheit oder Illusion geboren. Daher lässt<br />

dieses dann die Sorgen wachsen. Gib dieses Gewahrsein von „Erfahrung“ auf<br />

und verbleibe verankert im Gewahrsein der höchsten Weisheit. Das ist<br />

nirvāņa.<br />

VI.2:3<br />

520


VI.2:4<br />

Gute und böse Taten hören auf, sobald man erkennt, dass sie in Wirklichkeit<br />

als solche überhaupt nicht existieren. Deshalb sollte man die Wurzel der<br />

Tätigkeiten ergründen, bis diese Wurzel zerstört ist. So wie alles, was der<br />

Erde entsprießt, nicht verschieden von der Erde ist, so ist alles, was aus Bewusstsein<br />

entsteht, nicht verschieden vom Bewusstsein. Flüssigkeit ist nicht<br />

verschieden vom Flüssigen, und genau gleich gibt es in Brahman keinerlei<br />

Getrenntheit, nicht einmal zwischen Gemüt und Bewusstsein. In diesem Bewusstsein<br />

taucht ohne jede Ursache eine Aktivität auf, die man Gewahrsein<br />

nennt; sie ist daher so gut wie inexistent, da sie nicht verschieden vom Bewusstsein<br />

ist.<br />

Tätigkeit ist im Körper verwurzelt, der wiederum im Ich-Sinn wurzelt. Wird<br />

der Begriff des Ich-Sinnes preisgegeben, hört er (der Ich-Sinn) auf. So wird<br />

die Wurzel der Tätigkeit zerstört. Diejenigen, in denen so die Tätigkeit aufgehört<br />

hat, kümmern sich weder um Verzichten noch um Besitzen. Sie verbleiben<br />

verankert in dem, was ist, und ihre Handlungen sind gänzlich spontan;<br />

tatsächlich tun sie nichts! So wie den Fluss hinuntertreibende Gegenstände<br />

sich völlig nicht-willentlich bewegen, so wirken diese Menschen lediglich mit<br />

ihren Handlungsorganen. Sobald das Gemüt seine Konditionierung aufgegeben<br />

hat, verlieren die Objekte ihre Anziehungskraft.<br />

Ein solches Verständnis oder Erwachen der inneren Intelligenz ist schon<br />

das Aufgeben der Tätigkeiten. Worin sollte der Nutzen von „tun“ oder „lassen“<br />

bestehen? Was man mit dem Ausdruck „Aufgeben der Tätigkeiten“ bezeichnet,<br />

ist nichts anderes als das Aufhören des Gewahrseins von Tätigkeit und<br />

Erfahrung, das Aufgeben der Konditionierung und folglich das Erlangen von<br />

Frieden und innerem Gleichgewicht. Wenn anstelle des wahren, richtig verstandenen<br />

Aufgebens ein falsches Aufgeben (Nicht-Aufgeben) ins Spiel<br />

kommt, werden die Getäuschten, unwissend wie kleine Tiere, vom Kobold<br />

des „Aufgebens der Tätigkeiten“ besessen. Diejenigen dagegen, die die Wahrheit<br />

betreffend das Aufgeben der Tätigkeiten richtig verstanden haben, haben<br />

weder mit Tätigkeit noch Untätigkeit etwas zu tun. Sie erfreuen sich stets des<br />

höchsten Friedens, ob sie nun in ihrem Haus oder im Wald leben. Für die<br />

Friedvollen ist ein Haus wie ein Wald, während für die Ruhelosen sogar der<br />

Wald wie eine übervölkerte Stadt ist. Für jemanden, der im Frieden ist, ist die<br />

ganze Welt ein friedlicher Wald. Für den Ruhelosen, der von tausend Gedanken<br />

umher getrieben wird, ist sie ein Ozean des Grams.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, sobald der Ich-Sinn beruhigt ist, verschwindet die Welterscheinung.<br />

Dann entsteht ein spontanes Fahrenlassen der objektiven Wahrnehmung,<br />

so wie eine Lampe verlöscht, deren Öl aufgebraucht ist. Entsagung von<br />

Tätigkeit ist nicht Entsagung. Wahre Entsagung beruht auf Verstehen! Sobald<br />

die Lampe des Verstehens nicht mehr mit dem Öl des Ich-Sinns und des Besitzergreifens<br />

versorgt wird, bleibt als einziges die Selbsterkenntnis zurück.<br />

Wer den Ich-Sinn und das Empfinden von „mein“ nicht zurückgewiesen hat,<br />

kennt weder Entsagung noch Weisheit noch Frieden. Man kann sehr leicht die<br />

521


VI.2:4,5<br />

Idee von ‚Ich‘ aufgeben und sie ersetzen durch das Verstehen: „Der Ich-Sinn<br />

ist nicht!“. Was gibt es daran zu zweifeln?<br />

All diese Ideen wie „Ich bin dies“ oder „Ich bin nicht dies“ sind nicht unabhängig<br />

vom Bewusstsein. Bewusstsein ist wie Raum, wie Leere. Wie kann<br />

Illusion darin existieren? Daher gibt es weder Getäuschtheit noch den Getäuschten,<br />

weder Verwirrung noch den Verwirrten. All dies scheint zu entstehen,<br />

weil man die Wahrheit nicht klar sieht. Verstehe dies. Verbleibe im Frieden<br />

in der Stille. Darin besteht nirvāņa.<br />

Genau dasselbe, mit dem du die Idee des Ich-Sinns hegst, befähigt dich in<br />

einem Augenblick, die Nicht-Existenz des Ich-Sinns zu realisieren. Dann wirst<br />

du diesen Ozean von saæsāra hinter dir lassen. Wer seine eigene Natur besiegen<br />

kann, erlangt den höchsten Zustand. Er ist ein Held. Wer die sechs<br />

Feinde (Lust, Ärger, Gier usw.) besiegt, ist groß, während andere nur wie Esel<br />

in menschlicher Verkleidung sind. Wer fähig ist, die Ideen, welche im Gemüt<br />

auftauchen, zu überwinden, ist ein Mensch (puruåa). Er ist ein Mensch der<br />

Weisheit.<br />

Sobald die Wahrnehmung von Objekten in dir auftaucht, begegne ihr mit<br />

dem klaren Verstehen: „Das bin ich nicht“. Die aus Unwissenheit entstandenen<br />

Wahrnehmungen werden sofort erlöschen. Tatsächlich gibt es in all diesem<br />

nichts zu wissen; was allein not tut, ist das Loswerden von Verwirrtheit<br />

und verblendetem Verständnis. Wenn diese Verblendung nicht dauernd aufs<br />

Neue belebt wird, hört sie einfach auf. Welche Idee auch immer in dir auftaucht<br />

wie die Bewegung des Windes – erkenne: „Das bin ich nicht“, und ziehe<br />

ihr dadurch den Boden unter den Füßen weg.<br />

Derjenige, der noch keinen Sieg über Gier, Scham, Eitelkeit und Verblendung<br />

errungen hat, wird aus dem Lesen dieser Schrift keinen Nutzen ziehen –<br />

es ist eine nutzlose Zeitverschwendung.<br />

Der Ich-Sinn taucht im Selbst auf wie die Bewegung des Windes. Er ist daher<br />

nicht-verschieden vom Selbst. Der Ich-Sinn scheint zu leuchten dank dem<br />

Selbst, welches seine Wirklichkeit oder sein Substrat ist. Das Selbst taucht<br />

nicht irgendwann auf, noch geht es unter. Etwas anderes als das Selbst gibt es<br />

nicht. Wie kann man dann sagen: „Dies ist“ oder „dies ist nicht“? Das Höchste<br />

Selbst ist im Höchsten Selbst, das Unendliche im Unendlichen, der Friede im<br />

Frieden. Das ist alles, was ist – weder sind da „Ich“ noch „die Welt“ noch „das<br />

Gemüt“.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nirvāņa (Emanzipation) ist nirvāņa. Im Frieden ist da nichts als Friede. Im<br />

Göttlichen gibt es Göttlichkeit. Nirvāņa (Emanzipation) ist auch mit dem<br />

Raum verbundenes oder auch nicht-verbundenes anirvāņa (Nicht-<br />

Emanzipation). Wenn das rechte Verständnis betreffend die Unwirklichkeit<br />

des Ich-Sinnes auftaucht, ist es nicht mehr schwierig, Bedrohung mit Waffen<br />

oder Krankheiten usw. zu ertragen. Denn wenn der Same der Welterscheinung<br />

(der Ich-Sinn) vernichtet ist, verschwindet die Welterscheinung mit ihm<br />

522


VI.2:4,6<br />

zusammen. So wie der Spiegel durch Beschlagen erblindet, wird das Selbst<br />

vom unwirklichen Ich-Sinn verhüllt. Dieser Ich-Sinn lässt den ganzen Rest<br />

dieser Welterscheinung entstehen. Verschwindet er, dann leuchtet das Selbst<br />

durch sein eigenes Licht; so wie die Sonne scheint, wenn die finsteren Wolken<br />

fortgeblasen sind. So wie ein in den Ozean geworfener Gegenstand in diesem<br />

untergeht, so geht der Ich-Sinn, der einmal das Selbst betreten hat, in diesem<br />

unter.<br />

So lange der Ich-Sinn andauert, leuchtet dieses eine Brahman oder unendliche<br />

Bewusstsein als die verschiedenen Objekte mit verschiedenen Namen. Ist<br />

der Ich-Sinn stillgelegt, leuchtet Brahman ungehindert als das reine, unendliche<br />

Bewusstsein. Der Ich-Sinn ist der Same dieses Universums. Wenn er<br />

geröstet ist, liegt in Worten wie „Welt“, „Bindung“ oder „Ich-Sinn“ kein Sinn<br />

mehr. Ist der Topf zerbrochen, bleibt nur noch Ton zurück; wird der Ich-Sinn<br />

aufgegeben, löst sich die Vielfalt auf. So wie die Objekte der Welt beim Aufstieg<br />

der Sonne sichtbar werden, wird die Vielfalt der Welt beim Aufstieg des<br />

Ich-Sinns sichtbar. Oh Rāma, ich sehe keine Alternative zur Selbsterkenntnis,<br />

die in der Realisierung der Unwirklichkeit des Ich-Sinns besteht. Nichts anderes<br />

kann dein wahres Wohlergehen sicherstellen. Gib daher als erstes den<br />

individualistischen Ich-Sinn auf und gewahre dein Selbst als das gesamte<br />

Universum. Erkenne als nächstes, dass das gesamte Universum das Selbst<br />

oder Brahman ist und nichts anderes. Sei frei von aller durch weltliche Ideen<br />

verursachten Erregtheit.<br />

Wer diesen Ich-Sinn nicht zu erobern vermag, erlangt den höchsten Zustand<br />

nicht. Sollte sein Herz jedoch rein sein, dann kann Unterweisung betreffend<br />

die spirituelle Erkenntnis es so durchdringen, wie ein Tropfen Öl ein gewaschenes<br />

Kleidungsstück durchdringt. In diesem Zusammenhang möchte ich<br />

dir nun eine alte Legende erzählen. Vor langer, langer Zeit fragte ich einmal<br />

BhuÓuï¬a: „Wen erachtest du in dieser Welt als unwissend und verblendet?“<br />

BHUŚU×ÖA erwiderte:<br />

Es gab einmal ein himmlisches Wesen, welches auf der Kuppe eines Berges<br />

lebte. Es war unwissend und den Sinnesvergnügen hingegeben, aber es hatte<br />

sich eine so rechtschaffene Lebensführung angewöhnt, welche ihm ein sehr<br />

langes Leben versprach. Nach einer sehr langen Zeit entstand in diesem Wesen<br />

der Gedanke, dass es den Zustand jenseits von Geburt und Tod erlangen<br />

sollte. Nachdem der Himmelsbewohner sich dazu entschlossen hatte, kam er<br />

zu mir. Er brachte mir seine Verehrung dar und fragte mich: „Diese Sinne, oh<br />

hoher Herr, sind ständig erregt vom Verlangen nach Erfüllung und sind die<br />

Quelle endloser Schmerzen und Leiden. Dies habe ich erkannt und nehme<br />

daher Zuflucht zu deinen Füßen.“<br />

DER HIMMELSBEWOHNER fuhr fort:<br />

Bitte erzähle mir von dem, was grenzenlos, frei von Wachstum und Verfall<br />

und rein, anfangslos und endlos ist. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich wie<br />

523


VI.2:7,8<br />

schlafend, aber nun wurde ich durch die Gnade des Selbst erweckt. Errette<br />

mich bitte von diesem schrecklichen Feuer der Verblendung.<br />

Die Wesen werden geboren und sterben, nachdem sie sich hier nutzlos abgemüht<br />

haben – all dies ist weder für dharma noch für die Emanzipation zu<br />

gebrauchen. Es scheint bezüglich dieses Irrens in der Verblendung kein Ende<br />

zu geben. Die Vergnügen dieser Welt verschärfen all diese Täuschung nur und<br />

sind dazu noch wechselhaft. Ich kann mich an ihnen nicht erfreuen. Alle<br />

Freuden des Himmels habe ich gesehen und genossen. Durch das Feuer der<br />

Unterscheidung wurde nun der Wunsch nach Vergnügen zu Asche verbrannt.<br />

Ich erkenne klar den Schaden, der durch die Sinne des Sehens, Hörens, Riechens,<br />

Schmeckens und Berührens verursacht wird. Was soll ich mit all diesen<br />

sich wiederholenden Vergnügen anfangen? Sogar wenn man alle Freuden<br />

tausend Jahre lang geniesst, ist niemand wirklich befriedigt. Was ist denn so<br />

außergewöhnlich daran, die Herrschaft über die ganze Welt einschließlich<br />

aller Freuden zu gewinnen? All dieses ist dem Tod und der Vernichtung unterworfen.<br />

Bitte sage mir, was es ist, was ich gewinnen muss, um daraus ewige<br />

Zufriedenheit zu erlangen.<br />

Ich habe klar die giftige Natur all dieser Sinneserlebnisse realisiert, die<br />

mein Leiden hier noch vergrößert haben. Derjenige ist ein echter Held dieser<br />

Welt, der sich zur Schlacht gegen diese gewaltige Armee der eigenen Sinne<br />

entschliesst. Befehligt wird diese Armee vom Ich-Sinn. Dieser wiederum ist<br />

mit den als Sinneserfahrungen bezeichneten Pferden ausgestattet. Die Stadt,<br />

die man den Körper nennt, hat er damit völlig eingekreist. Sogar die Heiligen<br />

müssen mit diesen Sinnen kämpfen. Nur diejenigen, die aus diesen Kämpfen<br />

siegreich hervorgehen, verdienen es, groß genannt zu werden. Alle anderen<br />

sind nur wie Automaten aus Fleisch (Maschinen).<br />

Eine andere Abhilfe für diese als Sinnesverlangen bezeichnete Krankheit als<br />

das entschlossene Aufgeben aller Wünsche nach Vergnügen gibt es nicht,<br />

denn keine Medizin, keine Pilgerfahrt und kein Mantra sind von irgendeinem<br />

Nutzen. Diese Sinne haben mir aufgelauert, wie Räuber einem einsamen<br />

Reisenden im finsteren Wald auflauern. Diese Sinne sind unflätig und führen<br />

zu großem Unglück. Schwierig sind sie zu überwältigen. Sie führen zur Wiedergeburt.<br />

Sie sind die Feinde der Menschen der Weisheit und die Freunde<br />

der Dummköpfe. Die Gefallenen suchen ihre Gesellschaft und die edlen Menschen<br />

meiden sie. In der Finsternis der Unwissenheit streifen sie wie wilde<br />

Kobolde ungehindert umher. Sie sind leer und wertlos und taugen, wie trockener<br />

Bambus, zu nichts anderem als zum Verbrennen.<br />

Hoher Herr, für die demütig Bittenden bist du die alleinige Zuflucht. Du bist<br />

ihr Erlöser. Bitte errette mich aus diesem schrecklichen Ozean von saæsāra<br />

durch deine erleuchtenden Ermahnungen. Die Hingabe an Weise wie dich ist<br />

in dieser Welt das sicherste Fahrzeug zur Zerstörung des Kummers.<br />

BHUŚU×ÖA erwiderte:<br />

524


Du bist in der Tat gesegnet, oh Himmelsbewohner, weil du spirituell erwacht<br />

bist und danach trachtest, dich selbst zu erheben. Deine Intelligenz ist<br />

vollständig erweckt. Daher hege ich das Empfinden, dass du meine Unterweisung<br />

mühelos verstehen wirst. Bitte höre nun, was ich dir sagen werde. Was<br />

ich zu sagen habe, ist aus langer Erfahrung entstanden.<br />

Was uns vorkommt wie „Ich“ oder „andere“, ist in Wahrheit nicht unser<br />

Selbst. Denn sobald du danach suchst, kannst du sie nicht sehen. Dagegen<br />

führt die Überzeugung, dass weder „ich“ noch „du“ noch „die Welt“ existieren,<br />

zum Glück und nicht zum Kummer. Der Ursprung der Unwissenheit kann<br />

nicht ermittelt werden. Sogar nach einer sehr ausführlichen Untersuchung<br />

vermögen wir immer noch nicht zu erklären, ob die Welterscheinung nun aus<br />

der Unwissenheit oder die Unwissenheit aus der Welterscheinung geboren<br />

wurde. Die zwei sind faktisch zwei Aspekte derselben Sache. Was existiert, ist<br />

das eine unendliche Bewusstsein oder Brahman; die Welterscheinung ist wie<br />

eine Luftspiegelung, von der nur gesagt werden kann: „Sie existiert“ und “Sie<br />

existiert nicht“.<br />

Der Same dieser Welterscheinung ist der Ich-Sinn, denn der Baum der<br />

Welterscheinung wächst aus dem Ich-Sinn. Die Sinne und ihre Objekte, die<br />

verschiedenen Formen der Konditionierung, Himmel und Erde mit ihren<br />

Bergen, Ozeanen usw., die Einteilungen der Zeit und all die Namen und Formen<br />

sind verschiedene Teile des Baumes der Welterscheinung.<br />

Wenn dieser Same verbrannt ist, entsteht aus ihm nichts mehr. Wie wird<br />

dieser Same verbrannt? Wenn du die Natur des Ich-Sinns ergründest, wirst<br />

du erkennen, dass er nicht gefunden werden kann. Dasist die Erkenntnis. Mit<br />

diesem Feuer der Erkenntnis wird der Ich-Sinn verbrannt. Durch die Idee des<br />

Ich-Sinns scheint er zu sein und lässt die Welterscheinung entstehen. Sobald<br />

diese falsche Idee fahrengelassen wird, verschwindet der Ich-Sinn und die<br />

Selbsterkenntnis ist da.<br />

Ganz am Anfang dieser Welterscheinung existierte der Ich-Sinn nicht als<br />

eine Realität. Wie können wir dann an die Existenz des Ich-Sinns, an die Realität<br />

des „Ich“ und „Du“ und an Dualität oder Nondualität glauben? Diejenigen,<br />

die ernsthaft und aufrichtig nach der Erkenntnis der Wahrheit streben, nachdem<br />

sie sie von den Lippen eines Lehrers vernommen und darüber in den<br />

Schriften geforscht haben, erlangen diese Selbsterkenntnis sehr leicht.<br />

Was als die Welt erscheint, ist nichts anderes als die Ausbreitung der eigenen<br />

Vorstellungen und Gedanken (saïkalpa). Sie gründet auf dem Bewusstsein.<br />

Sie ist eine optische Täuschung, deren Substrat Bewusstsein ist. Daher<br />

bezeichnet man sie gleichzeitig als real und irreal. Im Schmuckstück ist das<br />

Gold die Realität, während das Schmuckstück nur eine Idee oder Vorstellung t<br />

ist. So sind das Erscheinen und das Verschwinden dieser Welterscheinung<br />

nichts als Modifikationen von Ideen. Wer dies zu realisieren vermag, ist an<br />

den Freuden dieser Welt und des Himmels nicht mehr interessiert – er erlebt<br />

seine letzte Inkarnation.<br />

525


VI.2:11,<br />

12<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Oh Himmelsbewohner, gib die Idee auf, dass die Objekte dieser Welterscheinung<br />

die Manifestation des unendlichen Bewusstseins sind. Verbleibe<br />

im reinen Selbst. Trägheit taucht im Bewusstsein aufgrund dessen eigener<br />

Manifestation auf, obgleich Trägheit dem Bewusstsein unähnlich zu sein<br />

scheint. So wie ein und derselbe Wind ein Feuer entfachen und ausblasen<br />

kann, so bewirkt ein und dasselbe Bewusstsein Bewusstsein und auch Trägheit.<br />

Lass dein Bewusstsein oder deine erweckte Intelligenz daher erkennen,<br />

dass der Ich-Sinn („Ich“) nicht ist, und sei das, was du bist. Schließlich wird<br />

dein Bewusstsein mit dem absoluten Bewusstsein verschmelzen, ohne das<br />

Objekt des Bewusstseins jemals wieder erscheinen zu lassen. Und das ist<br />

Brahman, was unvergleichlich ist.<br />

Das gesamte Universum ist erfüllt von diesem unendlichen und ungeteilten<br />

Bewusstsein. Erkenne dies und tue dann, was dir beliebt. Nur wenn die Augen<br />

von Unwissenheit geblendet sind, nimmt man die Welt der Vielfalt wahr.<br />

In Wahrheit sind alle diese Objekte so real wie ein am Himmel gesehener<br />

Baum, den jemand mit einem Sehfehler erblickt.<br />

Dieses träge Universum ist nicht verschieden vom Bewusstsein – so wie im<br />

Wasser reflektiertes Feuer nicht verschieden davon ist. Auf dieselbe Weise<br />

existiert kein realer Unterschied zwischen Erkenntnis und Unwissenheit.<br />

Weil Brahman mit unendlichen Kräften ausgestattet ist, manifestieren sich<br />

Trägheit oder Unbewusstsein im Bewusstsein. Diese Trägheit existiert in<br />

Brahman auf dieselbe Weise, wie zukünftige Wellen und Wogen auf der unbewegten<br />

Oberfläche eines stillen Gewässers existieren. Wasser hat nicht den<br />

Wunsch, Wellen entstehen zu lassen. Ebenso hegt auch Brahman keinen<br />

Wunsch danach, die Welt zu „erschaffen“. Und daher ist es richtig zu sagen,<br />

dass in Abwesenheit einer echten Ursache auch keine Schöpfung stattgefunden<br />

hat. Sie ist nur eine Erscheinung, wie eine Luftspiegelung! Brahman allein<br />

existiert. Brahman ist Friede und unerschaffen; und Brahman erzeugt nichts.<br />

Oh Himmelsbewohner, du bist dieses Brahman, welches homogen, ungeteilt<br />

und unteilbar wie Raum ist. Du bist ein Wissender. Bleibe immer frei von<br />

Zweifeln, ob du nun etwas weißt oder nicht. Sobald du realisierst, dass du<br />

ungeborenes, unendliches Bewusstsein bist, hören Unwissenheit und Torheit<br />

auf, und diese Welterscheinung verschwindet. Wo immer das höchste Brahman<br />

existiert (und es ist unendlich und existiert überall ), entsteht die Welterscheinung.<br />

In einem Grashalm, in Holz, Wasser und in sämtlichen Dingen<br />

des Universums existiert dasselbe Brahman, das unendliche Bewusstsein. Die<br />

Natur von Brahman ist unbeschreiblich und unbestimmbar. Es gibt darin kein<br />

Anderes, und daher ist es unvergleichlich. Es ist daher sogar unangemessen,<br />

die Natur Brahmans zu erörtern. Das, was nach dem Aufhören dieses Ich-<br />

Sinnes erfahren wird, ist dasselbe Brahman, welches von demjenigen erfahren<br />

wird, der die Natur des Ich-Sinns, in den er verstrickt ist, ergründet. Bei<br />

dessen Ergründung löst er sich im Bewusstsein auf.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

526<br />

VI.2:9,10


Wem der Kontakt mit einer scharfen Waffe und der Kontakt mit einer nackten<br />

Frau dieselbe Erfahrung bedeuten, der ist im höchsten Zustand verankert.<br />

Man soll sich der spirituellen Praxis befleißigen, bis man den Zustand erlangt<br />

hat, in dem der Kontakt mit den Objekten dieselbe Reaktion hervorruft, wie<br />

man sie im Tiefschlaf empfinden würde. Der Kenner des Selbst ist von mentaler<br />

Krankheit oder psychologischem Leiden gänzlich unberührt.<br />

So wie geschlucktes Gift körperliche Leiden verursacht, ohne dabei seine<br />

Natur als Gift aufzugeben, so wird das Selbst zum jīva, ohne dabei seine Natur<br />

als das Selbst oder ungeteiltes Bewusstsein aufzugeben. Auf dieselbe Weise<br />

nimmt das Bewusstsein die Natur des Unbewusstseins oder der Trägheit an.<br />

In Brahman scheint etwas aufgetaucht zu sein, obgleich es tatsächlich nichtverschieden<br />

von Brahman ist. Gift vergiftet den Körper, hört aber nicht auf,<br />

Gift zu sein. Ebenso wird das Selbst weder geboren noch stirbt es, während es<br />

von einem anderen Gesichtspunkt aus ins Dasein kommt und stirbt.<br />

Nur dann, wenn die eigene Intelligenz nicht in objektiver Wahrnehmung<br />

ertrinkt, ist man in der Lage, diesen Ozean des saæsāra so leicht zu überqueren,<br />

als wäre er wie die Fußspur eines Kalbs. Erreicht wird dies jedoch nicht<br />

durch die Hilfe Gottes oder durch andere Mittel. Wie kann im Selbst, das<br />

allgegenwärtig und in allem ist, überhaupt das Gemüt oder der Ich-Sinn entstehen?<br />

Es gibt da weder Gutes noch Böses irgendwo, gegenüber irgendjemandem<br />

und zu irgendeinem Zeitpunkt, es gibt da weder Vergnügen noch<br />

Schmerz, weder Not noch Wohlstand. Niemand ist der Täter, und niemand ist<br />

der Genießende von irgendetwas.<br />

Zu sagen, dass der Ich-Sinn im Selbst aufgetaucht sei, ist dasselbe wie zu<br />

sagen, dass der Raum (die Entfernung) im Raum entstanden ist. Der Ich-Sinn<br />

ist nur eine Täuschung und unwirklich. Im Raum gibt es nichts als Räumlichkeit<br />

– ebenso existiert im Bewusstsein nur Bewusstsein. Das, was man den<br />

Ich-Sinn („Ich“) nennt, weder bin ich es, noch bin ich es nicht. Dieses Bewusstsein<br />

existiert wie ein Berg innerhalb jedes Atoms, denn es ist außerordentlich<br />

subtil. Dieses extrem subtile Bewusstsein hat Ideen von „ich“ und<br />

„dies“, und diese scheinen als entsprechende Substanzen zu existieren. So wie<br />

ein Strudel nichts anderes als eine rein begriffliche Vorstellung des Wassers<br />

ist, so sind der Ich-Sinn und Raum usw. nur Ideen, die im Bewusstsein erscheinen.<br />

Das Aufhören solcher Ideen nennt man die kosmische Auflösung.<br />

Auf diese Weise, als Ideen und als nichts anderes, treten alle Welten ins Dasein<br />

und verschwinden wieder. In all dem wird das Bewusstsein nicht dem<br />

geringsten Wandel unterzogen. Im Bewusstsein gibt es weder eine Erfahrung<br />

von Vergnügen oder von Schmerz, noch taucht die Idee von „Ich bin dies“ auf.<br />

Bewusstsein kennt keine Qualitäten wie Mut, Vergnügen, Wohlfahrt, Furcht,<br />

Erinnerung, Ruhm oder Pracht. Im Selbst wird all dies genauso wenig wahrgenommen<br />

wie die Füße einer Schlange in der Dunkelheit.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

Es gibt da einen Sprühregen von Nektar von Brahman, und dies betrachtet<br />

man als Schöpfung. Da jedoch Zeit und Raum in Wahrheit nicht existieren, ist<br />

527


diese Schöpfung unwirklich, und was als existierend erscheint, ist nichtverschieden<br />

vom Höchsten Herrn. So wie es nur Wasser ist, was als Strudel<br />

erscheint, und wie es nur Rauch ist, was aus der Entfernung wie eine Wolke<br />

am Himmel erscheint, so entsteht, wenn Bewusstsein seiner selbst gewahr<br />

wird und eine Idee (welche leblos, träge ist) entstehen lässt, zwischen diesen<br />

beiden (Bewusstsein und Idee) ein dritter Faktor, den man als Schöpfung<br />

bezeichnet. Diese Schöpfung jedoch ist nur eine Erscheinung, wie ein in einer<br />

Säule oder einem Kristall reflektierter Bananenbaum. Bei rechter Untersuchung<br />

verschwindet diese Idee von Realität, die in der irrealen Erscheinung<br />

wahrgenommen wird.<br />

Diese Welterscheinung ist wie ein auf Leinwand gemaltes Königreich. So<br />

wie die Leinwand durch Verwendung verschiedener Farben schön gemacht<br />

wird, so erlangt diese Welterscheinung ihre Anziehungskraft durch die verschiedenen<br />

Sinneserfahrungen. Die Welterscheinung hängt vom Seher ab,<br />

dem Ich-Sinn, der selbst irreal ist. Daher ist sie nicht verschieden vom höchsten<br />

Selbst, so wie Flüssigkeit untrennbar vom Wasser ist.<br />

Das Licht des Bewusstseins ist das Selbst. Wenn die Idee von „Ich“ darin<br />

auftaucht, kommt diese Schöpfung ins Dasein. Ohne diese Idee gibt es weder<br />

eine Schöpfung noch einen Schöpfer. Bewegtheit ist die Natur des Wassers; in<br />

Beziehung zu sich selbst als Wasser gibt es kein Fließen von Wasser (es ist,<br />

was es ist, nämlich fließendes Wasser). Ebenso ist Bewusstsein unermesslich<br />

und fest wie Raum und daher keines Raumes innerhalb von sich selbst gewahr.<br />

Wenn dasselbe Wasser zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen<br />

Orten gesehen wird, entsteht die Idee der Bewegtheit. Ebenso lässt auch das<br />

Gewahrsein, das im Bewusstsein erscheint, in Verbindung mit den Ideen von<br />

Zeit und Raum die Idee der Schöpfung entstehen. (Obwohl natürlich aufgrund<br />

der Unwirklichkeit von Zeit und Raum eine solche Schöpfung unmöglich und<br />

der Vergleich von Bewusstsein mit Wasser unangemessen ist.) Wisse, dass<br />

alles von dir im Namen des Gemüts, des Ich-Sinns, des Intellekts usw. Erfahrene<br />

nichts als Unwissenheit ist. Durch Eigenbemühung verschwindet diese<br />

Unwissenheit. Die Hälfte dieser Unwissenheit wird durch die Gemeinschaft<br />

mit Heiligen zerstreut, ein Viertel wird durch das Studium der Schriften und<br />

das verbleibende Viertel durch Eigenbemühungvernichtet.<br />

(Als Erwiderung auf Rāmas Frage) erläuterte VASIåèHA:<br />

Man solldie Gemeinschaft mit Heiligen suchen und mit ihnen die Wahrheit<br />

über diese Schöpfung ergründen. Man sollte intensiv nach dem Heiligen verlangen<br />

und ihn verehren. Im gleichen Augenblick, in dem man einen Heiligen<br />

gefunden hat, verlöscht schon die Hälfte der Unwissenheit allein durch seine<br />

Gegenwart. Ein weiteres Viertel wird durch das Studium der Schriften und<br />

das restliche durch Eigenbemühung zerstreut. Die Gesellschaft der Heiligen<br />

setzt dem Verlangen nach Vergnügen ein Ende. Wird die Unwissenheit entschlossen<br />

durch Eigenbemühung zurückgewiesen, hört sie auf. All dies kann<br />

entweder auf einmal oder nacheinander geschehen.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

VI.2:13<br />

528


Ein am Himmel visualisierter Palast muss nicht durch reale Säulen gestützt<br />

werden. Und so hängt auch die eingebildete oder illusorische Welterscheinung<br />

nicht von echter Zeit und echtem Raum ab. Zeit, Raum und Welterscheinung<br />

sind rein begrifflich. Diese Welterscheinung ist extrem subtil und gründet<br />

sich allein auf mentale Aktivität oder die Bewegung der Gedanken – sie ist<br />

wie Duft in der Luft. Jedoch wird diese Welterscheinung anders als der Duft<br />

in der Luft nur von dem Gemüt erfahren, das sie wahrnimmt, während Duft<br />

auch von anderen erfahren werden kann. So wie der eigene Traum nur vom<br />

Träumer erfahren wird, so wird diese Schöpfung nur von demjenigen erfahren,<br />

in dessen Gemüt sie auftaucht.<br />

In diesem Zusammenhang ist eine alte Legende erwähnenswert. Sie erzählt,<br />

wie Indra, der König der Götter, sich selbst im Innern eines subatomaren<br />

Partikels verborgen hat.<br />

Irgendwann in alter Zeit gab es eine Art von wunscherfüllendem Baum. Auf<br />

einem seiner Zweige wuchs eine Frucht, die dieses Universum war. Diese<br />

Frucht war ganz einzigartig und völlig verschieden von allen anderen Früchten.<br />

Wie die Würmer im Apfel lebten in ihr alle Arten von Wesen: Götter,<br />

Dämonen usw. Sie enthielt sowohl die Erde als auch den Himmel und die<br />

Unterwelten. Sie besaß ein riesiges Ausmaß, da sie eine Manifestation des<br />

unendlichen Bewusstseins war. Darüber hinaus war sie sehrreizvoll, denn sie<br />

barg in sich die unendlichen Möglichkeiten der verschiedenen Erfahrungen.<br />

Sie erstrahlte vor Intelligenz und beherbergte in ihrem Innern den Ich-Sinn.<br />

In ihr befanden sich alle Arten von Wesen, und zwar von den stumpfsten und<br />

unwissendsten bis hin zu denjenigen, die der Erleuchtung nahe waren.<br />

Auch Indra, der König der Götter, war in dieser Frucht. Einmal, als Lord<br />

Viåņu und andere sich gerade zurückgezogen hatten, wurde dieser Indra von<br />

mächtigen Dämonen überfallen. Indra rannte in alle zehn Himmelsrichtungen<br />

und die Dämonen setzten ihm nach. Schließlich wurde er von den Dämonen<br />

überwältigt. Als die Aufmerksamkeit der Dämonen für einen Moment abgelenkt<br />

war, nutzte Indra die Situation und nahm eine subtile, winzige Gestalt<br />

an (indem er die Idee seiner Größe aufgab und sich vorstellte, dass er subtil<br />

und winzig sei), und so schlüpfte er in ein subatomares Teilchen.<br />

In diesem fand er Ruhe und Frieden. Er vergaß den Krieg mit den Dämonen.<br />

Er visualisierte in dem Teilchen einen Palast für sich selbst, dann eine Stadt,<br />

dann eine ganze Nation mit weiteren Städten und Wäldern, und schließlich<br />

erblickte er darin die ganze Welt, ein ganzes Universum mit Himmel und<br />

Hölle. Er dachte nun, dass er Indra, der König dieses Himmels, sei. Ihm wurde<br />

ein Sohn geboren, den er Kunda nannte. Nach einiger Zeit gab dieser Indra<br />

seinen Körper auf und erlangte nirvāņa – wie eine Lampe ohne Brennstoff.<br />

Kunda wurde zu Indra und regierte die drei Welten. Auch er war gesegnet<br />

mit einem Sohn von gleicher Tapferkeit und gleichem Glanz. So vervielfachte<br />

sich seine Nachkommenschaft und sogar heute noch regiert einer seiner<br />

Nachkommen den Himmel. Und daher gibt es in diesem subatomaren Teilchen<br />

viele solche Könige, die jeder ihr eigenes Königreich regieren.<br />

529


VI.2:14<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

In dieser Familie wurde schließlich einer geboren, der Herrscher des Himmels<br />

wurde, aber gleichzeitig entschlossen war, dem Zyklus von Geburt und<br />

Tod ein Ende zu setzen. Durch die Anweisungen des Lehrers der Götter<br />

(B?haspati) erlangte er Weisheit. Er führte in allen Situationen, wie sie ohne<br />

sein Zutunentstanden, die angemessenen Handlungen aus. Auf diese Weise<br />

übte er religiöse Praxis und kämpfte sogar mit den Dämonen. Dann entstand<br />

in seinem Gemüt ein Wunsch: „Ich sollte die Wirklichkeit Brahmans des Absoluten<br />

erkennen!“ Er ging in eine tiefe Meditation. Er war nun im Frieden mit<br />

sich selbst und verblieb in Abgeschiedenheit. Nun vermochte er das höchste<br />

Selbst oder Brahman, zu sehen: Allmächtig, alldurchdringend, überall; der<br />

alles ist; der überall und immer ist; dem alle Hände und Füße gehören; das<br />

Brahman, dessen Augen und Köpfe und Gesichter alles sind; frei von den<br />

Sinnen und doch die wahre Essenz aller Sinne; frei von allem (unangehaftet)<br />

und doch der Erhalter von allem; ohne alle Eigenschaften und doch ausgestattet<br />

mit allen von ihnen; innerhalb und ausserhalb aller Kreaturen (bewegliche<br />

und unbewegliche); das Brahman, welches weit entfernt und nah und<br />

wegen seiner extremen Subtilität unbekannt ist. Er ist die Sonne und der<br />

Mond und das Erdelement allüberall, die Wirklichkeit in den Bergen und im<br />

Ozean, die wahre Essenz von allem. Dieses Brahman hat die Natur dieser<br />

Schöpfung und der Welt und bleibt doch das unabhängige Selbst, das uranfängliche<br />

Bewusstsein. Obgleich er alles ist, ist er ohne alle diese Dinge.<br />

Er (Indra) sah Brahman im Topf, in der Kleidung, im Baum, im Affen, im<br />

Menschen, im Himmel, im Berg, im Wasser, im Feuer und in der Luft, mannigfaltig<br />

manifestiert und tätig. Er erkannte, dass dies die Wirklichkeit in dieser<br />

Welterscheinung ist. Indem er so Brahman mit seinem eigenen, reinen und<br />

gereinigten Bewusstsein kontemplierte, versank dieser Indra in der Meditation.<br />

Indem er erkannte, dass Brahman die himmlische, unumschränkte Macht<br />

in Indra war, regierte er das Universum.<br />

So wie dieser Indra das ganze Universum regierte, während er innerhalb<br />

des subatomaren Teilchens lebte, so gab es schon zahllose Indras und Universen.<br />

So lange man das wahrgenommene Objekt als etwas Reales und Substanzielles<br />

betrachtet, wird diese Welterscheinung weiterfließen. Diese Māyā<br />

(Welterscheinung) wird so lange weiterfließen, bis die Wahrheit realisiert ist;<br />

erst dann wird Māyā aufhören zu wirken. Wo auch immer Māyā wirkt und auf<br />

welche Weise, wisse, dass dies nur aufgrund der Existenz des Ich-Sinnes<br />

geschieht. Diese Māyā verschwindet unverzüglich, sobald die Wahrheit betreffend<br />

den Ich-Sinn untersucht und verstanden wird. Denn die Wirklichkeit<br />

oder das unendliche Bewusstsein ist gänzlich frei von der Subjekt/Objekt-<br />

Trennung, frei von der leisesten Spur der groben Substanzialität. Sie ist reine<br />

Leerheit, deren einzige Realität das unendliche, unkonditionierte Bewusstsein<br />

ist.<br />

BHUŚU×ÖA fuhr fort:<br />

VI.2:15,<br />

16<br />

530


So wie das gesamte Universum durch Indra und seine Idee einer solchen<br />

Schöpfung im Herzen des subatomaren Partikels ins Dasein trat, so manifestiert<br />

sich auch die Welt überall da, wo der Ich-Sinn auftaucht. Der Ich-Sinn ist<br />

die erste Ursache dieser Weltillusion, die mit der Bläue des Himmels verglichen<br />

werden kann.<br />

Dieser Baum der Welterscheinung wächst im Raum auf einem Berg namens<br />

Brahman aufgrund von latenten Neigungen und Ideen. Sein Same ist der Ich-<br />

Sinn. Die Sterne sind seine Blumen. Die Flüße sind seine Adern. Die Berge<br />

sind seine Blätter. Die Essenz der Ideen und Begrenztheiten bildet seine<br />

Früchte. Diese Welt ist nichts als die Ausbreitung der Vorstellung ihrer Existenz.<br />

Diese Welterscheinung ist wie eine unermessliche Ausdehnung von Wasser.<br />

In diesem Ozean tauchen die Welten auf wie Wellen und Wogen. Aufgrund<br />

der Verblendung, die die Selbsterkenntnis verdunkelt und so die Emanzipation<br />

verhindert, beginnt sie sich zu erweitern. Sie scheint reizvoll und schön zu<br />

sein dank des beständig wechselnden Panoramas der Lebewesen, die in ihr<br />

ins Dasein treten und wieder zugrunde gehen.<br />

Oh Himmelsbewohner, diese Schöpfung kann ferner mit der Bewegung des<br />

Windes verglichen werden. Der Ich-Sinn ist der Wind und die Welt seine<br />

Bewegtheit. Die Bewegtheit ist nicht verschieden vom Wind – der Duft ist<br />

untrennbar von der Blume – und so ist auch der Ich-Sinn untrennbar von<br />

dieser Welt. Die Welt existiert in der eigentlichen Bedeutung von „Ich-Sinn“;<br />

und der Ich-Sinn existiert in der eigentlichen Bedeutung des Wortes „Welt“.<br />

Sie sind voneinander abhängig. Wer fähig ist, mit der erweckten inneren<br />

Intelligenz den Ich-Sinn zu beseitigen, reinigt sein Bewusstsein von dieser<br />

Unreinheit namens Welterscheinung.<br />

Oh Himmelsbewohner, so etwas wie den Ich-Sinn gibt es in Wahrheit nicht.<br />

Auf mysteriöse Weise ist er irgendwie und ohne Ursache und Substanzialität<br />

aus dem Nichts aufgetaucht. Brahman allein durchdringt alles. Der Ich-Sinn<br />

ist falsch. Da der Ich-Sinn selbst falsch ist, ist natürlich auch die Welt, die dem<br />

Ich-Sinn als real erscheint, falsch. Das Unwirkliche ist unwirklich – das Verbleibende<br />

ist ewiglich und Friede. Das bist du.<br />

Nachdem ich so gesprochen hatte, fiel der Himmelsbewohner in tiefe Meditation.<br />

Er erlangte den höchsten Zustand. (VASIåèHA sprach zu Rāma: „Wenn die<br />

Lehre in ein reifes Herz gelangt, verwurzelt und erweitert sie sich in dessen<br />

innerer Intelligenz. In einem unreifen Herzen bleibt sie nicht. Aus dem Ich-<br />

Sinn taucht die Idee „dies ist mein“ auf, die sich dann als die Welterscheinung<br />

ausbreitet.“)<br />

Und so, oh Weiser, wird manchmal sogar eine unwissende Person wie dieser<br />

Himmelsbewohner unsterblich. Unsterblichkeit wird nur durch die Erkenntnis<br />

der Wirklichkeit erlangt. Ein anderes Mittel gibt es nicht.<br />

531


VI.2:17,<br />

18<br />

VASIåèHA fuhr fort: Oh Rāma, ich kehrte anschließend dorthin zurück, wo<br />

sich weitere Weise zu einer Besprechung versammelt hatten. Nun habe ich<br />

dir also die Geschichte von der leichten Emanzipation des Himmelsbewohners<br />

erzählt. Seit ich diese Geschichte von den Lippen BhuÓuï¬as vernommen<br />

habe, sind elf Weltzyklen vergangen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Dieser mächtige Baum namens Welterscheinung, der die süßen und bitteren<br />

Früchte namens Glück und Unglück (Gut und Böse) hervorbringt, hört in<br />

demMoment auf, in dem der Ich-Sinn als falsch erkannt wird. Wer den Ich-<br />

Sinn als falsch erkennt und dadurch den Zustand vollkommenen Gleichmuts<br />

erlangt, fällt nie wieder dem Leid zum Opfer. Wenn die Selbsterkenntnis die<br />

falsche Idee vom Ich-Sinn beseitigt hat, verschwindet der Ich-Sinn, der bis<br />

dahin für eine solide Realität gehalten wurde, und niemand weiß, wohin. Man<br />

weiß ebenfalls nicht, wohin der erste Beweger des Körpers, den man ebenfalls<br />

für solide Realität gehalten hat, gegangen ist. Das Blatt (Körper) saugt in<br />

sich selbst die Feuchtigkeit (Ich-Sinn) der Erde auf, aber die Sonne (die<br />

Selbsterkenntnis, die den Ich-Sinn als falsch erkennt), lässt sie verdampfen<br />

und verwandelt sie in feinen Wasserdampf (Brahman). In Abwesenheit der<br />

Selbsterkenntnis jedoch wächst der Same des Ich-Sinns in einem<br />

Augenblickzu einem mächtigen Baum, denn in diesem Samen ist der gesamte<br />

Baum mit all seinen unzähligen Ästen, Blättern, Blüten und Früchten vollständig<br />

enthalten. Der Mensch der Weisheit erkennt, dass die gesamte Schöpfung<br />

im Ich-Sinn verborgen liegt.<br />

Auch der Tod vermag dem kein Ende zu setzen. Tod nennt man, wenn die<br />

Idee der Realität von einer Substanz in eine andere transportiert wird. Gewahre<br />

jetzt direkt vor dir zahllose Schöpfungen von zahllosen Wesen, welche<br />

in diesen Wesen existieren. Das Gemüt ist innerhalb des prāïa oder der Lebenskraft,<br />

und die Welt existiert im Gemüt. Zum Zeitpunkt des Todes verlässt<br />

dieses prāïa den Körper und ist im Raum. Dort weht es der kosmische Wind<br />

hin und her. Gewahre diese prāïas (jīvas) mit all ihren in ihnen verborgenen<br />

Vorstellungen (Welten), wie sie den gesamten Raum erfüllen. Mit meinem<br />

Auge der inneren Intelligenz vermag ich sie hier direkt vor mir zu sehen.<br />

Die Luft im gesamten Raum ist angefüllt mit den prāïas der abgeschiedenen<br />

Seelen. In diesen prāïas existiert das Gemüt. Und im Gemüt existiert wie<br />

das Öl im Samen die Welt. So wie die Lebenskraft (prāïa) in den Winden des<br />

Raums hin und her geweht wird, so werden all diese Welten im Gemüt, wie<br />

der Duft der Blüten in der Luft, hin und her geweht. Gesehen wird dies ausschließlich<br />

nur mit dem Auge der inneren Intelligenz, oh Rāma, nicht aber mit<br />

den fleischlichen Augen. Diese Welten existieren überall und immer. Sie sind<br />

noch subtiler als Raum, weil sie von der Natur der Ideenessenz sind. Tatsächlich<br />

werden sie daher auch nicht hin und her geweht oder von einem Ort zu<br />

einem anderen bewegt. Jedoch ist für jeden jīva (der aus der Kombinationvon<br />

prāïa, Gemüt und seinen Ideen zusammengesetzt ist) die Idee der Welt seiner<br />

eigenen Schöpfung real aufgrund seines festen Glaubens an die<br />

532


Substanzialität dieser Schöpfung. Werden die Objekte am Ufer eines schnell<br />

dahin fließenden Flusses als Reflexionen im Wasser gesehen, scheinen sie<br />

sich ebenfalls zu bewegen, obwohl sie das nicht tun. Auf dieselbe Weise kann<br />

man von diesen Welten innerhalb der jīvas sagen, dass sie sich in Bewegung<br />

oder nicht in Bewegung befinden. Im Selbst jedoch, das unendliches Bewusstsein<br />

ist, gibt es keinerlei Bewegung, denn wenn ein Topf von einem<br />

Platz zu einem anderen gebracht wird, bewegt sich der in ihm enthaltene<br />

Raum nicht von einem Platz zum andern. Daher erscheint also diese Welt nur<br />

aufgrund des verblendeten Glaubens an ihre Existenz – in Wahrheit ist sie nur<br />

Brahman allein und wird niemals erschaffen oder zerstört.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Auch wenn man erwägt, dass diese Welt im kosmischen Raum erscheint, so<br />

wird sie von denen, die sie bewohnen, nicht so erfahren. Die Fahrgäste eines<br />

Bootes fahren in ihm, aber wer im Boot sitzt, sieht niemanden darin sich<br />

fortbewegen. So wie ein talentierter Künstler in seinen Gemälden oder Bildwerken<br />

die Illusion von Räumlichkeit erschafft, so hat das Gemüt innerhalb<br />

eines subatomaren Teilchens die Idee unermesslicher Entfernungen. Ausserdem<br />

gibt es illusorische Erfahrungen in Bezug auf Größe oder Kleinheit von<br />

Objekten. Und so gibt es auch die unwirkliche Erfahrung dieser Welt und<br />

dessen, was als die AndereWelt bezeichnet wird, obgleich alle diese falsch<br />

sind. Aus all dem entstehen die falschen Ideen wie „Dies ist wünschenswert“<br />

und „Dies ist nicht wünschenswert“.<br />

Ein fühlendes Wesen erfährt die Existenz seiner eigenen Glieder in sich<br />

selbst mit seiner eigenen inneren Intelligenz. Auf dieselbe Weise nimmt der<br />

jīva (in diesem Fall das kosmische Wesen) in sich selbst die Existenz der Welt<br />

der Vielfalt wahr. Das unendliche Bewusstsein ist ungeboren und ungeteilt<br />

wie Raum – alle diese Welten sind sozusagen seine Glieder. Eine lebendige<br />

Eisenkugel mag in sich selbst die potentielle Existenz eines Messers und einer<br />

Nadel usw. visualisieren. Auf dieselbe Weise sieht oder erfährt der jīva in sich<br />

selbst die Existenz der drei Welten, obgleich dies nicht mehr als eine<br />

Illusionoder falsche Wahrnehmung ist. Auch im nicht-fühlenden Samen existiert<br />

der potentielle Baum mit all seinen Zweigen, Blättern, Blüten und Früchten,<br />

wenn auch nicht als diese verschiedenen Objekte. Auf die gleiche Weise<br />

existieren alle diese Welten in Brahman, wenn auch nicht als solche, sondern<br />

in einem undifferenzierten Zustand. In einem Spiegel (den man nun als fühlend<br />

oder nicht-fühlend ansehen mag) wird eine Stadt reflektiert (obschon<br />

man wahrheitsgemäß ebenso gut sagen könnte, dass es keine Reflexion darin<br />

gibt) – sie wird gesehen oder nicht gesehen. Und so ist auch die Beziehung<br />

zwischen den drei Welten und Brahman. Was die Welt genannt wird, ist<br />

nichts als Zeit, Raum, Bewegung und Substanzialität, und all dies ist aufgrund<br />

seiner wechselseitigen Abhängigkeit nicht verschieden vom Ich-Sinn.<br />

Was man hier als Welt wahrnimmt, ist nichts als das höchste Selbst, welches<br />

als Welt erscheint, ohne dabei dem geringsten Wandel seiner eigenen<br />

wahren Natur unterworfen zu sein. Sie erscheint als das, als was man sie zu<br />

533


VI.2:19<br />

einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort sieht. Alle diese<br />

scheinbaren Existenzen tauchen im Gemüt als Ideen auf, denn das Gemüt ist<br />

nichts anderes als Bewusstsein. Konzepteoder Ideen (saïkalpa), latente Konditionierung<br />

(vāsanā) und ein Lebewesen (jīva) sind nicht verschieden vom<br />

unendlichen Bewusstsein. Auch wenn sie erfahren werden, bleiben sie unwirklich<br />

mit der Ausnahme der einen Realität, die das unendliche Bewusstsein<br />

ist. Folglich gibt es da Emanzipation oder mokåa, sobald die unwirkliche<br />

Idee abgetan wird. Und doch kann man nicht wahrheitsgemäß behaupten,<br />

dass alle diese Welten in der Luft umhergeweht werden, denn alle sind nur<br />

falsche Ideen mit dem unendlichen Bewusstsein als deren Substrat und einzige<br />

Wirklichkeit.<br />

RĀMA fragte:<br />

Oh Weiser, bitte erzähle mir mehr über Gestalt, Natur und Wohnort des jīva<br />

und seine Beziehung zum höchsten Selbst.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, es ist das unendliche Bewusstsein, welches sich selbst aufgrund<br />

der Ideen, die es von sich selbst hat, als ein Objekt wahrnimmt und dann jīva<br />

genannt wird. Außerdem nennt man es auch cit oder reines Bewusstsein.<br />

Dieser jīva ist weder ein subatomares Teilchen noch grob und physisch und<br />

auch nicht leer oder sonst etwas. Das allgegenwärtige, reine Bewusstsein<br />

selbst wird jīva genannt, wenn es sein eigenes Sein erfährt. Es ist winziger als<br />

ein Atom und größer als das Größte. Es ist alles und es ist reines Bewusstsein.<br />

Von den Weisen wird es jīva genannt. Welches Objekt auch hier erfahren<br />

wird, ist nur seine eigene selbst erfahrene Reflexion. Was es von Augenblick<br />

zu Augenblick denkt, erfährt es hier und jetzt. Erfahrung dieser Art gehört<br />

zur eigentlichen Natur des jīva, so wie die Bewegung zur Natur des Windes<br />

gehört. Hört diese Erfahrung auf, wird der jīva zu Brahman.<br />

Aufgrund seiner Natur als Bewusstsein erzeugt der jīva, sobald er die Idee<br />

des Ich-Sinnshegt, Zeit, Raum, Bewegung und Substanz und wird im und<br />

durch den Körper tätig. Dann erfährt er alle diese Unwirklichkeiten in sich<br />

selbst als reale Gegebenheiten, so wie eine Person von ihrem eigenen Tod<br />

träumt. Dann, seine eigene wahre Natur vergessend, beginnt er sich mit seinen<br />

eigenen falschen Ideen zu identifizieren. Er tritt in eine von den Umständen<br />

zufällig hervorgerufene Verbindung mit den fünf Sinnen und erfährt ihre<br />

Funktionen so, als wären es seine eigenen Funktionen. Er leuchtet, ausgestattet<br />

mit diesen fünf Kräften, als der puruåa (die innewohnende Präsenz) und<br />

als virāÂ (kosmische Person). Es ist dies immer noch das subtile und mentale<br />

Wesen und die erste Emanation des Höchsten Wesens.<br />

Diese Person entsteht aus eigenem Antrieb, wächst, verfällt, erweitert sich<br />

und zieht sich wieder zusammen und hört schließlich auf zu sein. Ihre Natur<br />

ist das Gemüt (Idee oder Gedanke) und dank ihrer Subtilität ist sie als<br />

puryaåÂaka (die achtfältige Stadt) bekannt. Dieses subtile Wesen ist klein und<br />

groß, manifest und unmanifest und durchdringt alles im Innern und im Au-<br />

534


ßen. Seine Glieder sind deren acht – die fünf Sinne, das Gemüt als sechster<br />

Sinn, der Ich-Sinn sowie das gleichzeitige Sein-und-Nicht-Sein. Alle Veden<br />

wurden von ihm bereits gesungen. Durch es wurden die Regeln des Betragens<br />

und der rechten Lebensführung niedergeschrieben. Alle diese sind noch<br />

heute in Kraft.<br />

Sein Kopf ist der höchste von allen, seine Füße sind die Unterwelten, Raum<br />

ist sein Bauch, alle Welten bilden seine Seiten, Wasser sein Blut, Berge und<br />

Erde sein Fleisch, die Flüsse sind seine Blutgefäße, die Himmelsrichtungen<br />

seine Arme, die Sterne seine Haare, der kosmische Wind sein prāïa, sein<br />

Lebensfunke ist die Mondsphäre und sein Gemüt das Aggregat sämtlicher<br />

Ideen. Sein Selbst ist das Höchste Selbst.<br />

Aus dieser kosmischen Person oder jīva entstehen weitere jīvas, die über<br />

die ganze Welt verteilt werden. Brahmā, Rudra und andere sind seine mentalen<br />

Schöpfungen. Die Manifestationen seiner Gedankenformen sind die Götter,<br />

Dämonen und Himmelswesen. Der jīva entsteigt dem Bewusstsein und<br />

das ist sein Wohnort. Tausende solcher virāÂ sind schon entstanden und werden<br />

auch in Zukunft wieder entstehen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die kosmische Person ist selbst eine Idee (oder Konzept, Gedanken usw.).<br />

Welche Idee auch immer in ihm auftaucht, erscheint in ihrer Verkörperung<br />

durch die fünf Elemente im kosmischen Raum. Daher, oh Rāma, wird alles<br />

das, was jemals als geschaffen erscheint, von den Weisen als die Ausbreitung<br />

von Ideen betrachtet. Die kosmische Person ist die ursprüngliche Ursache<br />

dieser gesamten Welterscheinung – die Wirkung ist dieselbe wie die Ursache.<br />

Und doch findet all dies im Bewusstsein, nicht im Unbewusstsein, statt. Alle<br />

diese verschiedenen Kreaturen (vom Wurm bis zum Gott Rudra) sind aus der<br />

ursprünglichen Idee entstanden wie ein mächtiger Baum, der aus einem<br />

winzigen Samen herausgewachsen ist. Obgleich das Universum sich auf diese<br />

Weise aus einem winzigen Subatom heraus ausgebreitet hat, wurzelt diese<br />

Ausbreitung oder Evolution in der Intelligenz, nicht in der Leblosigkeit. So<br />

wie die kosmische Person als dieser Kosmos manifest wurde, so sind alle<br />

Dinge ins Dasein getreten – bis hin zum winzigsten Atom.<br />

In Wahrheit jedoch gibt es weder Großes noch Winziges. Jede Idee, die im<br />

Selbst auftaucht – wird als etwas Reales erfahren. Das Gemüt entsteht im<br />

Mondelement, und der Mond wird vom Gemüt erschaffen. Auf dieselbe Weise<br />

lässt der eine jīva den anderen entstehen. Der Weise erachtet den jiva als die<br />

Essenz des Samens. In ihr ist die Seligkeit des Selbst verborgen, die der jīva<br />

wie etwas von ihm selbst getrenntes empfindet. In ihm entsteht seine Identifikation<br />

mit den fünf Elementen, ohne erkennbaren Grund. Und doch fährt<br />

der jīva fort, der jīva und nicht wirklich durch diese Elemente begrenzt zu<br />

sein. Er befindet sich innerhalb wie außerhalb dieser Elemente und ihrer<br />

Zusammensetzung, die als der Körper bekannt sind. Aufgrund seiner Identifikation<br />

mit den Elementen jedoch, die ihn wie mit einem Schleier umhüllt,<br />

VI.2:20,<br />

21<br />

535


VI.2:22<br />

sieht er deren wahre Natur nicht – so wie ein blind geborener Mensch seinen<br />

Weg nicht sehen kann. Emanzipation oder mokåa bedeutet die Zerstörung<br />

dieser Unwissenheit und die Realisierung der Unabhängigkeit des jīva von<br />

diesen Elementen und vom Ich-Sinn.<br />

Oh Rāma, man sollte danach streben, ein jñanÅ (Mensch der Weisheit oder<br />

direkter Erkenntnis) zu werden, nicht aber ein jñanabandhu, ein PseudojñanÅ.<br />

Wer ist der Pseudo-jñanÅ? Derjenige, der die Schriften aus Vergnügen<br />

oder Gewinndenken heraus studiert wie ein Bildhauer die Künste studiert<br />

und nicht nach dem Geist der Lehren lebt. In seinem Alltagsleben spiegelt<br />

sich sein Wissen der Schriften in keiner Weise wieder. Viel eher ist er daran<br />

interessiert, das Wissen der Schriften zu seiner physischen Wohlfahrt und<br />

sinnlichen Befriedigung zu nützen. Aus diesem Grunde erachte ich einen<br />

unwissenden Menschen besser als den Pseudo-jñanÅ.<br />

Jñāna oder Weisheit ist Selbsterkenntnis; andere Arten der Erkenntnis sind<br />

nur blasser Abglanz. In dieser Welt sollte man nur so viel arbeiten als nötig<br />

ist, um ein ehrliches Leben zu führen. Man sollte nur leben (essen), um die<br />

Lebenskraft am Leben zu erhalten. Und die Lebenskraft sollte man nur erhalten,<br />

um Erkenntnis zu erlangen. Man sollte das erforschen und kennen, was<br />

einen von der Sorge befreit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der ist ein jñanÅ, der die Folgen der Handlungen nicht wahrnimmt (oder<br />

sich nicht um sie kümmert), weil er in der Selbsterkenntnis verankert ist und<br />

sowohl das individualisierte Gemüt als auch dessen Objekte nicht beachtet.<br />

Derjenige ist ein jñanÅ, dessen psychologische Konditionierung gänzlich aufgehört<br />

hat. Seine innere Intelligenz ist frei von Verdrehtheiten aller Art. Seine<br />

Erkenntnis führt nie wieder zur Wiedergeburt. Er tut einfache Dinge wie<br />

Essen und Ankleiden und handelt spontan und angemessen, frei von Wunsch<br />

und mentaler Aktivität. Man nennt ihn einen paï¬ita.<br />

Die verschiedenen Kreaturen sind ohne Absicht ins Dasein getreten und<br />

existieren ohne Absicht weiter. Obwohl es so scheint, sind es keine reale<br />

Wesenheiten. Ihre kausale Verursachung wurde erst später ins Spiel gebracht,<br />

um diese unwirkliche Schöpfung erklären zu können. Gibt es etwa<br />

einen Grund für das Auftauchen einer Luftspiegelung? Diejenigen, die nach<br />

Ursachen für das Erscheinen solcher optischen Täuschungen suchen, versuchen<br />

auf den Schultern des Enkels des Sohnes einer unfruchtbaren Frau zu<br />

reiten! Die einzige Ursache für das Auftauchen derartiger optischer Täuschungen<br />

oder illusorischer Erscheinungen ist das Nicht-Gewahrsein, denn<br />

bei näherem Hinsehen verschwinden sie. Werden sie auf rechte Weise untersucht<br />

und wahrgenommen, erweisen sie sich als das höchste Selbst. Werden<br />

sie dagegen mit dem Verstand wahrgenommen, taucht der konditionierte jīva<br />

auf. Dieser jīva, wenn er auf richtige Weise betrachtet und verstanden wird,<br />

ist das höchste Selbst. Wird er mit Hilfe des Verstandes erfasst, erscheint er<br />

als jīva, der allen Arten von Wandel, Geburt, Verfall usw. unterworfen ist.<br />

536


Diejenigen, die die direkte Erfahrung des kosmischen Wesens besitzen, nehmen<br />

keinerlei Vielfalt wahr; auch dann nicht, wenn ihre Augen die Welt erblicken.<br />

In ihrem Gemüt gibt es während der Tätigkeiten keinerlei ungeordnete<br />

Gedanken oder Bewegungen in verschiedenste Richtungen; ihr Gemüt ist ein<br />

Nicht-Gemüt, in dem eine Nicht-Bewegung von Gedanken existiert. Ihr Verhalten<br />

ist auf dieselbe Weise nicht-willentlich wie ein trockenes Blatt, das im<br />

Wind treibt.<br />

Der unwissende Tor, gebunden an die psychologische Konditionierung,<br />

rühmt die von den Schriften vorgeschriebenen Handlungen, weil er spirituell<br />

nicht erweckt ist. Seine Sinne suchen nach der Beute ihrer Objekte. Der Weise<br />

dagegen hält die Sinne zurück und verbleibt im Selbst. Weder gibt es formloses<br />

Gold noch Brahman ohne alle Manifestation. Und doch besteht Emanzipation<br />

in der Beseitigung der Konzepte von Schöpfung und Manifestation. Am<br />

Ende dieses kosmischen Weltzyklus gibt es während der Periode der Auflösung<br />

eine einzige vollkommene Finsternis, die die gesamte Schöpfung bedeckt.<br />

Auf dieselbe Weise ist in den Augen der Weisen das gesamte Universum<br />

eingehüllt von der Wirklichkeit Brahmans. Trotz all der darin enthaltenen<br />

Vielfalt und Bewegung ist der Ozean eine homogene Einheit; es gibt nur<br />

das eine Brahman, das alle Vielfalt und Bewegungenthält. Es gibt diese Welt<br />

innerhalb des Ich-Sinns und den Ich-Sinn innerhalb dieser Schöpfung; sie<br />

sind untrennbar. Der jīva sieht diese Schöpfung in sich selbst, ohne jede Ursache<br />

oder Beweggrund. Das Schmuckstück ist Gold. Wird es nicht mehr als<br />

Schmuckstück gesehen, hört es auf und das Gold allein bleibt zurück. Die<br />

Wissenden leben daher nicht, auch wenn sie lebendig sind, sie sterben nicht,<br />

auch wenn sie sterben, sie existieren nicht, auch wenn sie existieren. Ihre<br />

Handlungen sind nicht-willentliche Funktionen des Körpers.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In jedem Körper existiert der jīva wie eine Schneeflocke – scheinbar schwer<br />

und gross in schweren und großen Wesen und leicht und fein in kleinen Wesen.<br />

Das „Ich“ betritt in seiner Vorstellung die Dreiheit, und da es seiner selbst<br />

gewahr ist, hält es sich selbst für einen Körper, obwohl dies irreal ist und nur<br />

als real erscheint. In dieser Dreiheit, welche die Hülle von Karma ist, existiert<br />

der jīva, der die eigentliche Essenz des Samentropfens ist, in diesem Körper<br />

wie der Duft in einer Blüte. So wie sich die Strahlen der Sonne über die Erde<br />

ausbreiten, breitet sich der jīva, der im Samentropfen und in die Dreiheit<br />

eingetreten ist, selbst über den ganzen Körper aus.<br />

Obgleich der jīva überall außen und innen ist, besitzt er doch ein besonderes<br />

Zugehörigkeitsempfinden zu dieser vitalen Energie (Samentropfen), die<br />

er deshalb als seine eigene, besondere Heimstatt ansieht. So existiert er dann<br />

in den Herzen der Lebewesen – was immer er sich vorstellt, während er in<br />

den Wesen existiert, wird zu der Erfahrung, die er erfährt. Jedoch erlangt er<br />

so lange keinen Frieden und hört nicht auf, die falsche Idee von „Ich bin dies“<br />

zu hegen, bis er nicht sämtliche Bewegungen der Gedanken im Bewusstsein<br />

aufgegeben hat und zum Nicht-Gemüt geworden ist. Daher, oh Rāma, auch<br />

537


wenn du noch Gefühle und Gedanken hast, aber das Ich oder der Ich-Sinn in<br />

dir aufhört, wirst du wie Raum sein, und es wird da Frieden geben. Es gibt<br />

Weise der Selbsterkenntnis, die in dieser Welt leben und tätig sind als wären<br />

sie gemeißelte Skulpturen. Ihre Tätigkeitsorgane funktionieren, doch die Welt<br />

ruft in ihrem Bewusstsein nicht die geringste Störung hervor. Wer hier wie<br />

Raum lebt (der von jeder in ihm vorgehenden Tätigkeit gänzlich unberührt<br />

bleibt), ist von jeder Bindung befreit.<br />

Wer dagegen seine feste Überzeugung von der Existenz der Vielfalt nicht<br />

aufgibt, den gibt der Kummer nicht auf. Wer glücklich mit jedem Kleid ist, in<br />

das man ihn kleidet, mit jeder Nahrung, mit der er gefüttert wird, und mit<br />

jedem Ruheplatz, der ihm angeboten wird, strahlt wie ein Weltherrscher.<br />

Obgleich er ein konditioniertes Leben zu führen scheint, ist er in Wahrheit<br />

unkonditioniert, denn innerlich ist er frei und leer. Obschon er tätig zu sein<br />

scheint, strebt er nicht, sondern funktioniert wie einer im Tiefschlaf. Da ist<br />

wahrhaftig kein Unterschied zwischen dem Unwissenden und dem Weisen<br />

(dem Wissenden) mit der Ausnahme, dass der letztere frei vom konditionierten<br />

Gemüt ist. Was dem konditionierten Gemüt als die Welt erscheint, wird<br />

vom Unkonditionierten als Brahman erachtet.<br />

Was auch immer hier als existierend erscheint, verdirbt und tritt erneut ins<br />

Dasein. Du dagegen, oh Rāma, bist das, was weder Geburt noch Todhat. Sobald<br />

die Selbsterkenntnis in dir aufgetaucht ist, verliert diese Welterscheinung<br />

ihre Macht, dich zu beeindrucken – so wie aus einem gerösteten Samen<br />

keine Pflanze mehr keimen kann. Ein solcher Mensch ruht im Selbst, ob er<br />

nun tätig oder untätig ist. Nur derjenige, in dem das Verlangen nach Vergnügen<br />

gänzlich aufgehört hat, erfährt höchsten Frieden, nicht aber derjenige,<br />

der den Frieden des Gemüts mit anderen Mitteln zu erlangen sucht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, erhebe dich, ohne Wunsch oder mentaler Voreingenommenheit<br />

und frei von mentaler Konditionierung, undgehe wie MaÇki in Richtung des<br />

höchsten Zustands.<br />

Dein Vorfahr Aja hatte mich zu einer religiösen Zeremonie eingeladen. Als<br />

ich vom Himmel; herabkam, um an dieser Feier teilzunehmen, betrat ich<br />

einen heißen, staubigen Urwald. Während ich meinen Weg durch diesen Wald<br />

suchte, hörte ich einen Wandererklagen: „Oh weh! So wie die Sonne alles<br />

verbrennt, so bringt die Gesellschaft mit den Gottlosen nichts als Kummer<br />

und Sünde hervor. Ich will zu dem Dorf da drüben gehen und mich etwas<br />

ausruhen.“<br />

Als er sich anschickte, zum nächsten Dorf zu gehen, sprach ich ihn an:<br />

„Willkommen, oh Wanderer, der du den richtigen Weg noch nicht gefunden<br />

hast! An diesem von Unwissenden bewohnten Ort findest du ebenso wenig<br />

ewige Zufriedenheit wie du deinen Durst nicht mit Salzwasser, das ihn nur<br />

noch verschlimmert, löschen kannst. Die Unwissenden wandern ziellos umher<br />

und wählen die falschen Wege. Sie befassen sich weder mit Selbst-<br />

VI.2:23<br />

538


VI.2:24<br />

Ergründung noch geben sie ihre ruchlosen Handlungen auf. Sie sind wie<br />

Maschinen tätig! Besser als unter unwissenden Menschen zu bleiben ist es,<br />

eine Schlange in einer finsteren Höhle, ein Wurm in einem Felsen oder ein<br />

lahmes Reh in einer Wüste (Luftspiegelung) zu sein. Ihre Gesellschaft führt zu<br />

momentanen Vergnügen, aber zerstört das Selbst; sie ist giftig.“<br />

Nachdem ich so gesprochen hatte, sagte der Wanderer: „Hoher Herr, wer<br />

bist du? Du strahlst wie ein Kaiser, obwohl du nichts besitzt. Bist du von Nektar<br />

trunken? Du bist ohne alles und doch vollkommen erfüllt. Worin besteht<br />

deine Gestalt, oh Weiser, die nichts und alles gleichzeitig ist, die übernatürlich<br />

zu sein und doch gleichzeitig in der Welt zu ruhen scheint? Du bist ohne<br />

Wunsch und Hoffnung und scheinst doch Wünsche und Hoffnungen zu haben.<br />

In deinem Bewusstsein tauchen verschiedene Konzepte und Ideen auf, die<br />

mit deinem eigenen Wunsch übereinstimmen, und dieses ganze Universum<br />

ruht in dir wie der Same in der Frucht. Ich bin Pilger und mein Name ist<br />

MaÇki. Ich bin weit gewandert und möchte heimkehren. Aber ich habe nicht<br />

mehr die nötige Kraft für die Heimkehr. Hoher Herr, die Großen pflegen die<br />

Freundschaft auf den ersten Blick. Ich bin unfähig diese Weltillusion zu<br />

überwinden – bitte erleuchte mich!“<br />

Ich erwiderte: „Oh Pilger, ich bin Vāsi«Âha. Fürchte dich nicht. Denn du hast<br />

das Tor zur Freiheit erreicht. Du hast die Gesellschaft des wahren Menschen<br />

(der durch Selbst-Ergründung gekennzeichnet ist) gesucht und daher beinahe<br />

schon das andere Ufer dieser Welterscheinungerreicht. Daher ist in deinem<br />

Gemüt die Leidenschaftslosigkeit erwacht, und da ist Friede. Sobald die<br />

Schleier, die die Wahrheit verhüllen, beseitigt werden, leuchtet die Wahrheit<br />

von selbst. Bitte sage mir, was du nun wissen willst. Wie gedenkst du diese<br />

Weltillusion zu zerstören?“<br />

MA§KI sprach:<br />

Hoher Herr, ich habe in den zehn Himmelsrichtungen nach jemandem gesucht,<br />

der meine Zweifel beseitigen kann, aber bis jetzt habe ich niemanden<br />

gefunden. Heute habe ich durch deine Gesellschaft die höchste Segnung zu<br />

erlangen, wie sie den Glücklichsten unter den Wesen zuteil werden kann.<br />

In dieser Welt treten alle Dinge ins Dasein und gehen zugrunde, weshalb es<br />

die wiederholte Erfahrung des Kummers gibt. Alle Vergnügen der Welt enden<br />

unweigerlich im Kummer. Ich erachte daher den Kummer als etwas, was dem<br />

Vergnügen, welches zum Kummer führt, vorzuziehen ist. Weil mein Gemüt<br />

den wiederholten Erfahrungen von Vergnügen und Schmerz unterworfen ist,<br />

ist es voll verdrehter Ideen und reflektiert nicht das innere Licht der erwachten<br />

Intelligenz. Gebunden an die latenten Tendenzen, die in diesem unwissenden<br />

Leben geborenwerden, führt das Gemüt mich nur in Richtung sündhaften<br />

Daseins und schlechter Handlungen. Auf diese Weise habe ich meine<br />

Tage verschwendet. Dieses Verlangen nach Vergnügen erfährt niemals Befriedigung,<br />

wird niemals erfüllt und gelangt niemals an ein endgültiges Ende,<br />

obwohl all sein Trachten und Sehnen stets im Misserfolg endet. Im Herbst<br />

vertrocknen die Blätter und fallen ab. Der Wunsch nach Vergnügen jedoch<br />

539


fällt nicht ab – auch nicht die Furchtsamkeit, die im Herzen wohnt und mich<br />

in schreckliches Unglück bringt. Sogar derjenige, der offenbar gesegnet ist<br />

und sich des Wohlstands erfreut, wird zu einem Häufchen Elend reduziert;<br />

denn Wohlstand ist oft nichts anderes als ein Köder, der den Unachtsamen in<br />

die Grube des Kummers stürzen lässt.<br />

Da mein Herz dermaßen von sündhaften Neigungen und Ruhelosigkeit befleckt<br />

ist, nehmen die Weisen, die in mir nichts als das Interesse an Sinnesgenuss<br />

erblicken, keine Notiz von mir. Und immer noch setzt mein Gemüt seinen<br />

zerstörerischen Kurs fort, da der Tod es noch nicht überwältigt hat. Die<br />

Finsternis meiner Unwissenheit, in der der Ich-Sinn gedeiht, wurde noch<br />

nicht vom Mondlicht des Studiums der Schriften und der Gemeinschaft mit<br />

erleuchteten Wesen vertrieben. Der Elefant der Unwissenheit in mir ist noch<br />

nicht dem Löwen der Erkenntnis begegnet. Das Stroh meines Karma ist noch<br />

nicht vom Feuer seiner Vernichtung erfasst worden. Die Sonne der Selbstergründung,<br />

die die Dunkelheit der mentalen Konditionierung vertreibt, ist<br />

noch nicht in mir aufgegangen.<br />

Oh Weiser, was ich intellektuell als nicht existierend erkannt habe, erscheint<br />

vor meinen Augen immer noch als reale Wesenheit oder Substanz.<br />

Meine Sinne vertilgen mich. Sogar die Kenntnis der Schriften scheint noch<br />

einen weiteren Schleier in mir auszubreiten, anstatt mir zu helfen, die bestehenden<br />

Schleier zu vernichten.<br />

So bin ich also von Unwissenheit und Verwirrungbelagert. Hoher Herr, bitte<br />

sage mir, worin für mich das wahrhaft Gute besteht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Erfahren, Denken (Ideen haben), mentale Konditionierung und<br />

Einbildungsind sinnlos und führen nur zu psychologischer Verwirrung. Sämtliche<br />

Sorgen und Missgeschicke des Lebens wurzeln und sind in der Sinneserfahrung<br />

und dem Denken. Der Weg dieses Lebens oder saæsāra ist verschlungen<br />

und qualvoll für jemanden, der von psychologischer Konditionierung<br />

oder latenten Neigungen beherrscht wird. Im Falle des Erwachten jedoch<br />

hört dieser saæsāra gleichzeitig mit dem Ende seiner mentalen Konditionierung<br />

auf.<br />

Es gibt nichts anderes als das reine Bewusstsein, wie es auch nichts anderes<br />

als reine Leerheit im Raum gibt. Dass es einen anderen Erfahrenden als dieses<br />

reine Bewusstsein geben soll, ist Unwissenheit, deren Expansion zu diesem<br />

saæsāra (Welterscheinung) wird. Was in Abwesenheit der Beobachtungerscheint,<br />

verschwindet, sobald das Licht der Beobachtung darauf gerichtet<br />

wird. So verschwindet auch dieses fiktive erfahrende Selbst, welches nur die<br />

Reflexion des wahren Selbst ist, sobald seine wahre Natur ergründet wird.<br />

Die durch das objektive Bewusstsein hervorgerufene Getrenntheit hört auf,<br />

sobald die Unteilbarkeit des Bewusstseins erkannt wird. Es gibt keine<br />

Tontöpfe unabhängig vom Ton, da sie nur Modifikationen von Ton sind. Objekte<br />

sind Bewusstsein – sie unterscheiden sich nicht vom Bewusstsein als<br />

VI.2:25<br />

540


VI.2:26<br />

„Objekte des Bewusstseins“. Was durch Erkenntnis gekannt wird, ist nicht<br />

verschieden von dieser Erkenntnis – das Unbekannte wird nicht gekannt!<br />

Bewusstsein ist der gemeinsame Faktor im Subjekt, im Prädikat (kennen)<br />

und dem Objekt – folglich gibt es da nichts anderes als Erkenntnis oder Bewusstsein.<br />

Wäre es anders, dann könnte es kein Erfassen (d.h. von zwei völlig<br />

verschiedenen Substanzen) geben. So sind sogar Holz und Stein von der essenziellen<br />

Natur des Bewusstseins, sonst könnten sie nicht wahrgenommen<br />

werden. Was auch immer in dieser Welt ist, ist reines Bewusstsein. Obgleich<br />

Objekte wie Holz und Wachs unterschiedlich zu sein scheinen, sind sie vom<br />

Blickwinkel des Beobachters aus nicht verschieden, denn es ist der gleiche<br />

Beobachter, der beide beobachtet, und der Beobachter ist Bewusstsein.<br />

Der Ich-Sinn, der die Vielfalt wahrnimmt, ist der Schöpfer der Getrenntheit.<br />

Der Ich-Sinn bedeutet Bindung, sein Aufhören bedeutet Befreiung. Alles ist so<br />

einfach. Worin besteht die Schwierigkeit? Diese Getrenntheit ist so „aufgetaucht“<br />

wie der doppelte Mond des Fehlsichtigen. Wie kann man in diesem<br />

Fall sagen, sie sei „aufgetaucht“? Es ist einfach falsch. Bewusstsein und Leblosigkeit<br />

können in keiner Beziehung zueinander stehen. Bewusstsein kann<br />

nicht zu Unbewusstsein werden. Es ist Bewusstsein allein, das irgendwie<br />

glaubt, es sei leblos. Anschließend hüpfen all diese Begrenztheiten in die<br />

Materialität hinein wie ein Stein, der vom Berggipfel herunterrollt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wer auf diese Illusion der Welterscheinung hereinfällt, wird unverzüglich<br />

die Beute zahlloser weiterer Illusionen, die der ursprünglichen Illusion entspringen,<br />

wie Insekten nach einem Regen. Das Gemüt ist wie ein Wald im<br />

Frühling. So voll ist es aufgrund der vielen Ideen und Konzepte, dass in ihm<br />

dichte Finsternis herrscht. Aufgrund der Selbstbegrenzung oder Unwissenheit<br />

werden die Menschen zahllosen Erfahrungen von Vergnügen und<br />

Schmerz in dieser Welt unterzogen.<br />

Zwischen dem Weisen und dem Mond gibt es keinen Unterschied – beide<br />

strahlen Freude aus. Sie sind friedlich, kühl und still, voll von unsterblich<br />

machendem Nektar und helfen dabei, zu sehen. Es gibt keinen Unterschied<br />

zwischen dem Unwissenden und dem Kind – beide werden in ihrem Leben<br />

von Launen und Grillen umhergetrieben und bedenken nicht, was war oder<br />

sein wird; rechtes Betragen kennen sie nicht.<br />

Niemand, vom Schöpfer bis hin zum kleinsten Insekt, kann höchsten Frieden<br />

erlangen, solange er nicht die vollkommene Beherrschung des Gemüts<br />

erlangt. Durch bloße Ergründung der Natur der Bindung hört diese auf zu<br />

sein; so wie die Hindernisse auf dem Weg denjenigen nicht behindern, der<br />

ihrer gewahr ist. Gespenster verfolgen denjenigen nicht, der umsichtig und<br />

wach ist. Sobald du die Augen schließt, ist die Sicht auf die Welt ausgelöscht.<br />

Entfernst du die Idee der Welt aus deinem Bewusstsein, dann existiert allein<br />

das reine Bewusstsein. Dieses reine Bewusstsein existiert auch jetzt als einziges,<br />

denn die Welt ist nur eine unwirkliche Erscheinung, die aufgrund einer<br />

kleinen Erregung im Bewusstsein entstanden ist. Sie ist sozusagen die Schöp-<br />

541


fung des kosmischen Gemüts. Dieses kosmische Gemüt hat lediglich die Idee<br />

einer solchen Schöpfung, denn es verfügt nicht über die materiellen Substanzen,<br />

die für eine materielle Schöpfung nötig wären! Die Welt ist ein Gemälde<br />

auf der Brahman-Leinwand – ohne Farben gemalt und ohne Pinsel. Wie kann<br />

man dann sagen, dass diese Welt tatsächlich erschaffen worden sei – von<br />

wem, wie, wann und wo?!<br />

Die Idee „Ich bin glücklich“ schafft die Erfahrung von Glücklichsein und die<br />

Idee „Ich bin unglücklich“ schafft die Erfahrung von Unglücklichsein. Alle<br />

diese Ideen sind nur reines Bewusstsein. Da sie nur Ideen sind, sind sie<br />

falsch. Weil das Selbst oder das unendliche Bewusstsein unbegrenzt und<br />

unkonditioniert ist, gibt es darin keinerlei Bewegung oder Erregung. Es gibt<br />

keine Wünsche oder Anhaftungen (Abhängigkeiten) und daher auch keine<br />

Ruhelosigkeit oder Bewegung im Selbst. Abhängigkeit allein ist Bindung –<br />

Nicht-Abhängigkeit bedeutet Freiheit oder Emanzipation. Wer in dem ruht,<br />

was mit den Worten „Alles“, „Unendliches“ oder „Fülle“ bezeichnet wird,<br />

wünscht sich nichts mehr. Was sollte der weise Mensch noch für sich wünschen,<br />

wenn doch der physische Körper so unwirklich ist wie der Körper in<br />

einem Traum?<br />

Im spirituell erwachten und erleuchteten Zustand ruht der Weise im Selbst<br />

– alle seine Wünsche sind erfüllt. Oh Rāma, MaÇki vernahm all dies undversank,<br />

seine Täuschung aufgebend, in tiefer Meditation. Er führte von da an<br />

spontane, den Umständen entsprechende Tätigkeiten aus (pravāhapatitaæ<br />

kāryaæ: unvermeidbare Tätigkeiten; wörtlich: Die Tätigkeit desjenigen, der in<br />

einen Fluss gefallen ist).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im Selbst gibt es Einheit und Vielfalt, doch nicht Einheit und Vielfalt, die gegensätzlich<br />

sind. Wie kann man darin Vielfalt geltend machen? Das eine<br />

Selbst existiert – subtil und allgegenwärtig wie der Raum. Es ist ungeteilt<br />

durch Geburt und Tod der Körper. „Ich bin der Körper“ ist Täuschung – nicht<br />

die Wahrheit. Du bist das reine Selbst oder ungeteiltes Bewusstsein. Das<br />

Subjekt (der Beobachter), das Objekt (das Beobachtete) und das Prädikat (die<br />

Beobachtung) sind nichts als Modifikationen des Gemüts. Die Wahrheit oder<br />

das Selbst wird durch diese Teilung nicht geteilt und ist daher jenseits der<br />

Kontemplation (dhyāna). All dies hier ist das eine, ungeteilte Brahman – ein<br />

Ding wie die Welt gibt es nicht. Wie kann Illusion überhaupt entstehen oder<br />

existieren? Durch meine Unterweisung wurde das verblendete Empfinden, es<br />

gäbe da eine Welt (entweder als Realität oder Illusion) zerstreut. Nun gibt es<br />

für dich keinen Grund mehr, unter Bindung zu leiden. Sei im Glück und Unglück<br />

frei und lebe ohne Ich-Sinn und ohne Wünsche.<br />

RĀMA sprach:<br />

Ich möchte von dir noch einmal die Wahrheit über Karma hören oder das,<br />

was der göttliche Wille (Schicksal) genannt wird.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

VI.2:27,<br />

28<br />

542


VI.2:29<br />

Göttlicher Wille (Schicksal, daivam) und Karma sind nur Konzepte, und die<br />

Wahrheit ist, dass sie Bewegungen im Bewusstsein sind. Sobald es eine solche<br />

Bewegung gibt, taucht die Welterscheinung auf; hört die Bewegung auf,<br />

hört ebenfalls die Welterscheinung auf. Es gibt da nicht den geringsten Unterschied<br />

zwischen einer Person und ihrem Karma (Handlung). Ein Wesen wird<br />

durch seine charakteristischen Tätigkeiten gekannt, die seinen Charakter<br />

zeigen – beide sind untrennbar. Und so sind Worte oder Konzepte wie „göttlich“<br />

(daiva), „Handlung“ (Karma) und „Person“ (nara) nichts als Ausdrücke,<br />

die Bewegungen innerhalb des Bewusstseins bezeichnen.<br />

Diese Bewegung im Bewusstsein dient zusammen mit der Selbstbegrenzung<br />

im Bewusstsein als der Same für alles; aber es gibt gleichzeitig keine<br />

Ursache oder Samen für die Bewegung im Bewusstsein. Es gibt keine<br />

Getrenntheit zwischen dem Samen und dem Keimling, und daher ist all dies<br />

(Körper usw.) nichts als Bewegung im Bewusstsein. Diese Bewegung ist offensichtlich<br />

allmächtig und folglich in der Lage, Götter, Dämonen und andere<br />

Wesen, bewegte wie unbewegte, fühlende und nicht-fühlende, zu manifestieren.<br />

Diejenigen, die behaupten, dass eine Person und ihre Handlungen (Karma)<br />

unterschiedlich und getrennt seien, sind Tiere in menschlicher Verkleidung<br />

– wir grüßen sie!<br />

Der Same, der als die Welt sprießt, besteht in der Selbstbegrenzung oder<br />

Konditionierung im Bewusstsein. Verbrenne diesen Samen durch Nicht-<br />

Anhaftung oder Freiheit. Nicht-willentliche Handlungen (Nicht-Handeln im<br />

Handeln) nennt man Nicht-Anhaftung oder Freiheit. Die Entwurzelung der<br />

Konditionierung (vāsanā) nennt man ebenfalls Nicht-Anhaftung oder Freiheit.<br />

Strebe mit allen Mitteln nach der Erlangung dieser Freiheit. DasMittel,<br />

mit dem du den Samen der vāsanās zerstören kannst, ist das Beste. Hierbei ist<br />

nur die Eigenbemühung und nichts anderes von Nutzen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, betrachte alle Handlungen zu jeder Zeit als reines Bewusstsein<br />

und lebe mit nach innen gerichteter Sicht. In Kummer und Unglück, in<br />

schrecklichem Elend und Schmerz bleibe in dir selbst frei vom Kummer. Verhalte<br />

dich dabei jedoch so, als würdest du trauern, so wie es der Etikette und<br />

der Schicklichkeit deiner gesellschaftlichen Umgebung entspricht. Vergieße<br />

Tränen, klage, als ob du Vergnügen und Schmerz erfährst. Wenn du dich der<br />

Gesellschaft deiner Gattin erfreust und an Festlichkeiten usw. teilnimmst,<br />

zeige Freude und Vergnügen, als wärest du der mentalen Konditionierung<br />

unterworfen. Führe die Begräbnisriten aus, und sogar in der Kriegsführung<br />

benimm dich wie ein unwissender Mensch. Erwirb Wohlstand und vernichte<br />

deine Feinde, wie auch die unwissenden Menschen mit begrenztem Verständnis<br />

es tun. Sei mitfühlend gegenüber den Leidenden. Verehre die Heiligen.<br />

Genieße dein Glücklichsein. Trauere im Kummer. Sei ein Held unter Helden.<br />

Mit deinem nach innen gerichteten Blick bade in der Seligkeit des Selbst,<br />

und mit Herz und Gemüt im Frieden – tue nicht, was du tust.<br />

543


Wenn du auf diese Weise im Selbst ruhst, kann die schärfste Waffe dich<br />

nicht verletzen (die Selbsterkenntnis). Diese Selbsterkenntnis wird weder<br />

von Waffen verletzt noch vom Feuer verbrannt, weder vom Regen genässt<br />

noch vom Wind getrocknet. Klammere dich an die Säule der Selbsterkenntnis<br />

und kenne das Selbst als frei von Alter und Tod. Wenn du, obgleich äußerlich<br />

tätig, so in der Selbsterkenntnis verwurzelt bist, wirst du nicht wieder in den<br />

Fehler der Selbstbegrenzung (vāsanā) verfallen. Führe ein aktives Leben,<br />

während du innerlich wie im Tiefschlaf verbleibst.<br />

Gib alle Ideen von Getrenntheit auf. Ruhe in der Selbsterkenntnis mit einem<br />

Gewahrsein, das sich nur wenig nach außen erstreckt. Auf diese Weise wirst<br />

du gänzlich in der Ruhe leben, als ob du in deinem Innern im Tiefschlaf bist,<br />

ob du nun äußerlich tätig bist oder nicht, oder ob du etwas festhältst oder<br />

loslässt. Dann wirst du völlig frei von aller Disharmonie sein, weil du den<br />

Nicht-Unterschied zwischen Wachen und Tiefschlaf realisiert hast. Dann<br />

wirst du durch die Praxis des Selbst-Gewahrseins, welches anfangslos und<br />

endlos ist, nach und nach diesen höchsten Zustand des Bewusstseins erlangen,<br />

in dem keinerlei Dualität existiert und der jenseits aller Materialität ist.<br />

Es gibt darin weder Einheit noch Verschiedenheit - aber den höchsten Frieden.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn dies die Wahrheit des Ich-Sinns ist, oh Weiser, wie erscheinst du dann<br />

hier mit dem Namen Vāsi«Âha? (Als Rāma dies fragte, wurde Vāsi«Âha völlig<br />

still. Die Teilnehmer der Versammlung begannen, sich Sorgen zu machen. Als<br />

er dies bemerkte, fragte Rāma erneut:) Warum schweigst du, oh Weiser? In<br />

dieser ganzen Welt gibt es nichts, was ein heiliger Weiser nicht beantworten<br />

kann.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ich schweige nicht, weil ich deine Frage nicht beantworten kann, sondern<br />

weil Schweigen die einzige Antwort auf deine Frage ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es gibt zwei Arten von Fragestellern, nämlich den erleuchteten und den<br />

unwissenden. Man sollte die Fragen des Unwissenden vom Standpunkt des<br />

Unwissenden und die Fragen des Weisen vom Standpunkt des Weisen aus<br />

beantworten. Bis jetzt warst du unwissend und hast daher lediglich intellektuelle<br />

Antworten verdient. Nun, da du die Wahrheit kennst und im höchsten<br />

Zustand ruhst, sind intellektuelle und logische Antworten nicht länger für<br />

dich. Oh Rāma, alle verbalen Aussagen (seien sie nun ausführlich oder knapp,<br />

ihr Sinn subtil oder transzendental) sind durch Logik, Dualität und<br />

Getrenntheit begrenzt.<br />

Solche mit Makeln behaftete Aussagen sind deiner nicht würdig, mein Teurer.<br />

Worte können keine reine und makellose Aussage geben. Jemandem wie<br />

dir sollte man nur die reinste Wahrheit übermitteln, und die reinste Wahrheit<br />

wird allein durch völlige Stille zum Ausdruck gebracht. Diese Stille, die frei<br />

544


von rationalem Argumentieren und mentaler Tätigkeit ist, ist der höchste<br />

Zustand. Deshalb war sie die einzig gültige Antwort auf die Frage eines Weisen<br />

wie dir. Noch einmal: Jede Form des Ausdrucks ist der Ausdruck der<br />

Natur desjenigen, der sie ausdrückt. Ich verharre fest im reinen, nondualen<br />

und unteilbaren Bewusstsein, das der höchste Zustand ist. Wie kann ich versuchen,<br />

das Unausdrückbare auszudrücken? Daher habe ich nicht versucht,<br />

das Unendliche auf Worte zu reduzieren, die der mentalen Aktivität entspringen.<br />

RĀMA sprach:<br />

Ich erkenne, dass alle Ausdrücke mit dem Makel der Dualität und Begrenztheit<br />

befleckt sind. Indem ich dies berücksichtige und in Betracht ziehe, erlaube<br />

mir zu fragen: Wer bist du?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ich bin das reine sphärengleiche Bewusstsein, frei von aller objektiven Erfahrung<br />

und jenseits aller mentalen Aktivität und aller Gedanken. Ich bin das<br />

reine und unendliche Bewusstsein. Dasselbe bist du. Und auch diese ganze<br />

Welt ist es. Alles ist nur reines, unteilbares Bewusstsein. Ich bin reines Bewusstsein<br />

und nichts als das. Da es nichts anderes gibt, kann ich es nicht<br />

beschreiben. Wenn man versucht, das eigene Selbst zu beschreiben, dann<br />

erhebt sich der Ich-Sinn und alles andere damit, sogar dann, wenn man die<br />

totale Freiheit erreichen will. Man nennt das den höchsten Zustand, in dem<br />

der Lebende sich verhält wie ein Toter.<br />

Für den Ich-Sinn ist es absurd, diese Art von Freiheit zu suchen, da er die<br />

Wahrheit niemals verstehen könnte. Das unendliche Bewusstsein hat gewiss<br />

nicht das geringste Bedürfnis, das unendliche Bewusstsein realisieren zu<br />

müssen! Das Ganze ist wie beim Blindgeborenen, der versucht, ein Gemälde<br />

zu sehen. Nirvāņa (Emanzipation oder Freiheit) ist, wenn man fest wie ein<br />

Fels steht, ob da nun Erregtheit oder Bewegung im Bewusstsein ist oder<br />

nicht. Ein solcher sieht kein „anderes“. Er ist frei von allem Wunsch und Verlangen.<br />

In ihm gibt es kein „ich“, „du“ oder „anderes“. Er ist allein („All –eins“).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Gewahrsein des unendlichen Bewusstseins seiner selbst ist das Gemüt.<br />

Dieses ist saæsāra und Bindung, was zu psychischem Leiden führt. Wenn das<br />

unendliche Bewusstsein verbleibt, als wäre es seiner selbst nicht gewahr, ist<br />

dies mokåa oder Befreiung. Gemüt, Intellekt usw. sind nur Modifikationen des<br />

reinen Bewusstseins, denn sie sind bloß Worte. Tatsächlich existiert allein<br />

das reine, ungeteilte Bewusstsein. Wenn das reine Bewusstsein als einziges<br />

existiert und alles innerhalb und außerhalb durchdringt – wie kann dann die<br />

Idee von Getrenntheit auftauchen, und wo?<br />

Gibt es einen Unterschied zwischen reinem Bewusstsein und der äußersten<br />

Leerheit? Auch falls es einen gibt, so ist es unmöglich, ihn in Worte fassen. Ich<br />

bin der reine (Raum des) Bewusstseins, sobald die Idee der Selbstbegrenzung<br />

(mentale Konditionierung) aufhört. Da diese Begrenzung jedoch nur eine<br />

545


Idee ist, kann sie das Unendliche nicht begrenzen. Sobaldman dieses Verstehen<br />

entwickelt hat, obwohl es immer noch ein Selbstgewahrsein gibt, hört<br />

sogar dieses auf, denn zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten gibt<br />

es keinerlei Getrenntheit. Es ist, als ob Leerheit die ultimative Wahrheit ist!<br />

Die Unwissenheit weist auf die verborgene Weisheit hin. Weisheit schließlich<br />

zerstört diese Unwissenheit und kommt selbst ebenfalls zur Ruhe. Dies<br />

ist der höchste Zustand. Der weise Muni (einer, der innerlich schweigt) wird<br />

ein mānava (Mensch) durch Selbsterkenntnis (oder der Mensch wird zum<br />

Muni). Unwissend wird der Unwissende zu Tieren und Bäumen. „Ich bin<br />

Brahman“ und „Dies ist die Welt“ sind aus der Täuschung entstandene Ideen.<br />

Bei Untersuchung oder Ergründung werden sie nicht mehr gesehen. Sobald<br />

das Licht auf die Suche nach der Dunkelheit geht, verschwindet die Dunkelheit.<br />

Der friedvolle Mensch mit richtigem Verständnis besitzt alle Sinne, ist<br />

jedoch nicht länger ihren Erfahrungen unterworfen, da er nicht mehr von<br />

falschen Ideen beherrscht wird. Er lebt wie im Tiefschlaf.<br />

So wie alle Träume im Tiefschlaf enden, so endet der Tiefschlaf im samādhi;<br />

sämtliche Objekte der Wahrnehmung enden in der Erkenntnis, und alles wird<br />

als das eine Selbst gesehen. Wer zu sehen vermag, dass all diese Objekte nur<br />

im konditionierten Zustand des Gemütes erfahren werden, realisiert schlagartig<br />

die Unkonditioniertheit des Selbst. Da es im Unkonditionierten weder<br />

das Tun noch das Genießen gibt, existieren in Wahrheit weder Sorge noch<br />

Vergnügen, weder Tugend noch Sünde noch ein Mangel für irgendjemanden.<br />

All dies ist reine Leerheit. Sogar die Ideen von „Ich“ und „Mein“ sind leer. Alle<br />

Erscheinungist Illusion und existiert nicht in unserm Innern. Wer dies zu<br />

sehen vermag, befasst sich nur noch mit nicht-willentlicher Handlung oder<br />

verbleibt in völliger Stillheit (kāåÂha mauna oder das Schweigen eines Holzklotzes).<br />

Er ist Brahman. Für das verkörperte Wesen gibt es bezüglich der<br />

Erlangung des höchsten Friedens keinen anderen Weg.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Idee des „ich“ ist nichts als äußerste Unwissenheit, die den Pfad zu<br />

nirvāņa oder Befreiung blockiert. Und doch versucht der törichte Mensch mit<br />

dieser Finsternis der Unwissenheit das Licht der Wahrheit zu finden! Die<br />

Erforschung des Ich-Sinns enthüllt seine Begrenztheit und konditionierte<br />

Natur oder seine totale Abwesenheit. Gefunden wird er nur im Unwissenden,<br />

nicht im Wissenden. Der Wissende andererseits existiert im verkörperten<br />

oder entkörperten Zustand ohne die geringste Furcht und Sorge, denn er hat<br />

die Idee des Egos völlig hinter sich gelassen. In einer auf Leinwand gemalten<br />

Schlacht entsteht keinerlei Furcht vor Zerstörung – auch den in innerern<br />

Gelassenheit gefestigten Wissenden berühren die Handlungen nicht. Im Falle<br />

des befreiten Weisen ist sogar die Manifestation von konditioniertem Verhaltens<br />

nur scheinbar, nicht real. Wie ein Seil seine Form beibehält, obwohl es<br />

komplett zu Asche verbrannt wurde, so handelt es sich bei der Persönlichkeit<br />

des befreiten Weisen in Wirklichkeit um eine Nicht-Persönlichkeit; sein Gemüt<br />

ist ein Nicht-Gemüt und seine Konditioniertheit ist wirklich von<br />

VI.2:30<br />

546


VI.2:31<br />

unkonditionierter Art. Er ist Brahman und nichts anderes. Wer im totalen<br />

Frieden ruht, auch wenner im Außen scheinbar mit verschiedenen Handlungen<br />

befasst ist, ist auf ewig ein Befreiter.<br />

Die Elefanten und Streitwagen, die am Himmel zu fliegen scheinen, sind<br />

nichts als Formationen aus Wolken. Die Welten, die hier zu existieren scheinen,<br />

sind in Wahrheit nichts als das höchste Selbst oder Brahman. Die Ursache<br />

des Kummers besteht darin, dass man das Irreale als real ansieht, was<br />

aus Missverstehen oder verblendetem Verstehen der Realität entsteht. So wie<br />

ein im Kreis umhergewirbelter Feuerbrand illusorische Formen in den Raum<br />

zeichnet und dessen einzige Realität die Flamme am Ende des Stockes ist, so<br />

sind alle diese vielen Formen nichts anderes als die real wirkende Erscheinungsform<br />

des einen, unteilbaren Brahman oder unendlichen Bewusstseins.<br />

Lasst all dieses (den Beginn und das Ende, das Aufsteigen und Niederfallen,<br />

den Raum und die Zeit) so lange existieren, wie es will. Man sollte im inneren<br />

Frieden ruhen.<br />

Das leblose Wasser vermag ein Schiff zu tragen, das eine Ladung über das<br />

Wasser befördert und auf diese Weise das durch es selbst (das Wasser) entstandene<br />

Hindernis überwindet. Auf dieselbe Weise befähigt diese leblose<br />

Welt einen Menschen dazu, die Welterscheinung zu überwinden. Was durch<br />

Gedanken erschaffen worden ist, kann auch durch Gedanken zerstört werden.<br />

Erlange daher durch Erkenntnis dessen, was weder „ich“ noch „anderes“ ist,<br />

die Furchtlosigkeit. Nichts von dem, was man „ich“ nennt, wird bei der Untersuchung<br />

von Körper, Gemüt usw. gefunden. Gib Vergnügen auf, befasse dich<br />

mit der Ergründung und sei der Eigenbemühung ergeben.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das unendliche Bewusstsein reflektiert sich selbst als das unendliche und<br />

unkonditionierte Bewusstsein in allem –und das allein wird in Wahrheit in<br />

allem erfahren. Wenn jedoch die Idee eines Objekts auftaucht und durch<br />

Wiederholung bekräftigt wird, manifestiert sich dieses Bewusstsein als das<br />

Objekt – wie Traumobjekte, welche obwohl in einem selbst, in diesem Traum<br />

Objekte zu sein scheinen. Wenn ein Traumobjekt verdirbt, ist nichts verloren<br />

– wenn „die Welt“ oder das „ich“ verdirbt, ist ebenfalls nichts verloren. Wer<br />

würde denn eine Halluzination rühmen oder verurteilen? Was bleibt, ist die<br />

Wahrheit. Verbleibe fest darin verankert.<br />

Diese Welterscheinung ist nur eine Idee, die durch Ergründung gänzlich<br />

aufgelöst wird. Was verbleibt, ist Brahman. Die Realität dieser Welt zu bekräftigen,<br />

ist wie den Worten des Sohnes einer unfruchtbaren Frau zu vertrauen.<br />

Die individuelle Persönlichkeit ist vāsanā oder mentale Konditionierung, die<br />

beim Nachforschen verschwindet. Aber im m Zustand der Unwissenheit,<br />

wenn man nicht forscht, taucht die Welterscheinung wieder auf.<br />

Der Körper ist das Ergebnis der Vermischung und Verbindung der fünf<br />

Elemente, er ist selbst leblos. Sogar das Gemüt, der Intellekt und der Ich-Sinn<br />

bestehen aus denselben Elementen. Sobald man fähig ist, die träge Materiali-<br />

547


tät des Gemüts, des Intellekts und des Ich-Sinns aufzugeben, erlangt man das<br />

reine, unkonditionierte Sein. Dies ist Befreiung.<br />

Das „Objekt“ entsteht im „Subjekt“, verfügt aber über keine unabhängige<br />

Existenz. Folglich ist sogar „der konditionierte Zustand oder Sein“ nichts als<br />

eine Idee – sie ist irreal. Daher verschwindet sie auch, sobald man sie untersucht.<br />

Das Beste ist, die Idee zurückzuweisen und sie am erneuten Auftauchen<br />

zu hindern, indem man nie wieder an sie denkt. Weder gibt es da das<br />

Subjekt (Seher) noch den Erfahrenden, weder das Reale noch das Irreale. Nur<br />

höchster Friede existiert. Wer in diesem Frieden verankert ist, ist frei von<br />

Zuneigungen und Abneigungen, auch wenn er handelt. Vielleicht ist er auch<br />

nicht mit Tätigkeiten befasst. Wenn das Gemüt befreit ist von allen Ideen, die<br />

das unkonditionierte Bewusstsein begrenzen – wie kann der Weise in dualistischer<br />

Weise handeln? Frei von Liebe, Hass und Furcht existiert er als das<br />

unbewegte Selbst, fest verankert im höchsten Frieden.<br />

Die Idee des „Objekts“, die im „Subjekt“ auftaucht, wird vom letzteren als<br />

getrennt von ihm selbst erfahren. Tatsächlich sind beide (wie der Träumer<br />

und die wache Person) untrennbar eins wie Milch in zwei verschiedenen<br />

Tassen. Das höchste Selbst ist frei von allen Ideen. Ideen lassen Objekte entstehen,<br />

und wenn die Ideen aufgegeben werden, hören auch die Objekte auf<br />

zu sein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Sobald es im unendlichen Bewusstsein eine Bewegung gibt, entstehen die<br />

Ideen von „ich“ und „die Welt“. Sie sind harmlos, solange man erkennt, dass<br />

sie faktisch untrennbar vom Selbst oder dem unendlichen Bewusstsein sind.<br />

Werden sie jedoch für wirklich gehalten und die Welt wird als real angesehen,<br />

dann ist großes Unglück die Folge.<br />

Sogar diese Bewegung im Unkonditionierten ist kein realer Vorgang. Wenn<br />

schon sie irreal ist, wie viel mehr müssen es dann die aufgrund dieser Bewegung<br />

auftauchenden Ideen sein! Sie besitzen nicht mehr Wahrheit als der<br />

Tanz des Sohnes einer unfruchtbaren Frau. Bewegung dieser Art taucht in der<br />

Unwissenheit auf – sie ist selbst Unwissenheit. Im Licht des rechten Verstehens<br />

hört sie auf.<br />

Auf dieselbe Weise taucht der Ich-Sinn auf, sobald er in der Vorstellung<br />

konzipiert wird. Wird dieses Konzept zurückgewiesen, dann hört der Ich-Sinn<br />

auf. Genannt wird dies dhyÃna (Meditation) und samÃdhi (überbewusster<br />

Zustand). Es ist das unkonditionierte Bewusstsein. Bitte falle nicht in das<br />

Netz der Dualität und Nondualität usw.! All diese Kontroversen und Polemiken<br />

bewirken Schwierigkeiten und Verzweiflung. Sobald einer das Unreale<br />

oder Nicht-Dauerhafte erstrebt, entsteht der Kummer. Wenn die Konditionierung<br />

des Bewusstseins wegfällt, gibt es kein Leid, wie es auch im Tiefschlaf<br />

kein Leid gibt. Das Bewusstsein, welches die Konditionierung aufgibt, realisiert<br />

seine unkonditionierte Natur. Das ist Befreiung.<br />

VI.2:32<br />

548


VI.2:33<br />

Mit Hilfe meiner Anweisungen wird dein Verständnis fest und unerschütterlich<br />

werden, sobald du zu erkennen vermagst, dass das „Ich“ nicht existiert.<br />

Die Welt und das „Ich“ existieren nur als Ideen, weder als Tatsachen<br />

noch als Realität. Sie hören auf, sobald man ergründet: „Wer bin ich?“ und<br />

„Wie ist diese Welt entstanden?“ Die Realisierung der Nicht-Existenz des „Ich“<br />

ist nirvāņa oder Befreiung. Das Licht dieser Erkenntnis vertreibt die Finsternis<br />

der Unwissenheit. Daher sollte man bis ans Ende des Lebens ergründen:<br />

„Wer bin ich?“ - „Wie konnte diese Welt entstehen?“ - Was ist der jīva oder die<br />

individuelle Persönlichkeit?“ und „Was ist das Leben?“ wie es von den Wissenden<br />

gelehrt wird. Wenn du dich der Gemeinschaft der Wissenden anvertraust,<br />

wird das Licht ihrer Selbsterkenntnis die Finsternis der Unwissenheit<br />

mitsamt ihrem Gefolge einschließlich des Ich-Sinns vertreiben. Bleibe daher<br />

in ihrer Gesellschaft.<br />

Suche Zuflucht zu diesen Wissenden in der Abgeschiedenheit, nicht in der<br />

Öffentlichkeit. Denn dein Verständnis kann gehemmt oder verwirrt werden,<br />

wenn verschiedene Leute ihre verschiedenen Standpunkte zum Ausdruck<br />

bringen. Der weise Mensch soll sich dem Wissenden privat nähern, die Wahrheit<br />

hören und über diese Wahrheit kontemplieren. Diese Kontemplation<br />

wird die Wolken des konzeptionellen Denkens und der Ideen, die einen<br />

Schatten auf das Bewusstsein werfen, zerstreuen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Sobald jemand durch Eigenbemühung und in der Gemeinschaft mit Heiligen<br />

Weisheit erlangt hat, hört die Ausbreitung dieser Welterscheinung in seinem<br />

Bewusstsein auf. Ideen tauchen im Bewusstsein auf, und wenn ihnen eine<br />

konträre Idee entgegengehalten wird, werden die ersteren einer radikalen<br />

Verwandlung unterzogen. Befreiung besteht in der totalen Aufgabe sämtlicher<br />

Konzepte und Ideen. Möglich wird diese totale Aufgabe, indem man<br />

aufhört, Vergnügen zu erstreben. Nach und nach hören Vorstellungen und<br />

Ideen auf zu erscheinen und sich zu verbreiten, wenn man sich entschlossen<br />

hat, in seinem Gemüt Worte nicht mehr mit Bedeutungen zu verknüpfen –<br />

seien diese Worte nun von anderen geäußert worden oder im eigenen Verstand<br />

aufgetaucht.<br />

Die Aufgabe des Ich-Sinns bedeutet das Aufhören der Unwissenheit – darin<br />

und in nichts anderem besteht die Befreiung. Ob diese Welt nun existiert oder<br />

nicht existiert, ihre Wahrnehmung oder Anerkennung durch das Gemüt führt<br />

zu Kummer. Ihre Nicht-Wahrnehmung dagegen bedeutet Seligkeit. Für alle<br />

verkörperten Wesen gibt es zwei Arten von Krankheit: Die erste bezieht sich<br />

auf diese Welt und die zweite auf die nächste Welt. Für die in dieser Welt<br />

auftretenden Krankheiten suchen die unwissenden Menschen noch vor dem<br />

Ende ihres Lebens Abhilfe zu schaffen. Für die Probleme im Leben danach<br />

jedoch existieren keine Heilmittel, und daher ist das Vertrauen darauf gänzlich<br />

nutzlos. Wer nicht in dieser Welt Abhilfe für diese schreckenerregende<br />

Krankheit namens Unwissenheit gefunden hat, kann sie auch nicht finden,<br />

nachdem er diese Welt verlassen hat. Verschwende daher nicht deine Zeit<br />

549


damit, nichtige Abhilfen für die mit deinem Leben in dieser Welt verknüpften<br />

Probleme zu finden. Werde deine mit dem nächsten Leben verbundenen<br />

Probleme durch Selbsterkenntnis los. Keine Zeit ist zu verlieren, denn das<br />

Leben schwindet mit jedem Augenblick dahin.<br />

Du wirst keine Abhilfe für deine Probleme finden, wenn du dich nicht aus<br />

dem Sumpf des Vergnügens emporhebst. Der Dummkopf, der sich im Vergnügen<br />

wälzt, lädt Trauer und Missgeschick ein. So wie sich die Kraft der Männlichkeit<br />

bereits in den Taten der Kindheit manifestiert, so beginnt die Fülle<br />

der Vollkommenheit (nirvāņa) mit der Stärke der Selbstdisziplin oder der<br />

Aufgabe des Strebens nach Vergnügen. Der Lebensatem des Wissenden fließt<br />

harmonisch dahin, während der Lebensatem des Unwissenden voller Wirbel<br />

ist.<br />

Die Universen tauchen im unendlichen Bewusstsein wie Blasen auf der<br />

Oberfläche des Ozeans auf. Und doch sind sie nicht-verschieden vom unkonditionierten<br />

Sein. Brahman ist jenseits aller Beschreibung und hat nicht einmal<br />

eine „Natur“, die wahrgenommen werden kann. Daher wäre es unweise<br />

zu behaupten, dass die Manifestation der Universen seiner Natur entspringt!<br />

Schöpfung, Welt, Bewegung im Bewusstsein usw. sind bloße Worte ohne<br />

Substanz. Sobald solche Ideen aufgegeben werden, hören „Welt“ und „ich“ auf<br />

zu sein, und Bewusstsein allein existiert – rein und unbewegt. Dieses<br />

unkonditionierte Bewusstsein allein ist – nichts anderes sonst; nicht einmal<br />

die hier gesehene Natur der verschiedenen Objekte. Alle diese Ideen (betreffend<br />

die Natur der verschiedenen Objekte) sind Sprösslinge der Verblendung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was durch Glück oder Unglück im Leben vernichtet wird, ist vernichtet,<br />

aber was nicht vernichtet wird, ist nicht vernichtet. Dies ist die Essenz der<br />

Unterweisung der Schriften. Wer Wünsche hat, unterzieht sich erfreulichen<br />

und unerfreulichen Erfahrungen. Wer dagegen von der Qual solcher Erfahrungen<br />

frei werden will, muss als einziges nur die Wünsche loswerden.<br />

Es gibt keine Illusion im höchsten Selbst, dass das „ich“ und „die Welt“ existieren.<br />

Wer hat diese Ausdrücke geschaffen und sie dann der reinen Leerheit,<br />

die höchster Friede ist, überlagert? Es gibt weder ein „Ich“ noch die „Welt“<br />

und auch nicht „Brahman“. All dies sind nur Worte. Die einzige Wirklichkeit<br />

ist der höchste Friede. Da dies Alles ist, gibt es keine Getrenntheit in ihm und<br />

weder einen Täter noch einen Erfahrenden. Zum Zweck der Unterweisung<br />

werden die Definitionen geprägt. Die einzige Wahrheit ist, dass das Selbst<br />

und das Selbst allein ist! Jedoch wie die Traumerfahrungen zweier Menschen,<br />

die Seite an Seite schlafen, nicht identisch sind und der eine vom anderen<br />

nicht weiss, was dieser träumt, so bleiben das eigene Verstehen und die innere<br />

Erfahrung rein persönlich und einzigartig.<br />

Gewiss ist es Bewusstsein als das Selbst, welches sich allem im Universum<br />

bewusst ist. Daher bin ich dieses Bewusstsein – ich, die Welt und alle Dinge<br />

darin sind davon nicht-verschieden. Es ist das eine Selbst, welches als das<br />

Viele erscheint. Aber aufgrund von Unwissenheit und der extrem subtilen<br />

VI.2:34<br />

550


VI.2:35<br />

Natur des Selbst wird es nicht als solches erkannt. Es ist das Selbst, welches<br />

in sich selbst dieses Universum sieht, als ob es eine Gestalt hätte, obschon es<br />

in Wahrheit keineForm hat. Sämtliche Unterscheidungen zwischen fühlend,<br />

nicht-fühlend usw., obwohl nicht real, dienen lediglich zur Unterweisung der<br />

Suchenden.<br />

Die Idee „ich“ taucht zufällig in Brahman auf (wie die Krähe, die auf einem<br />

Baum landet und zufällig, gleichzeitig und ohne eine kausale Verbindung eine<br />

Kokosnuss herunterfällt). In Wahrheit bin ich Brahman, die Welt ist Brahman<br />

und es gibt da weder einen Anfang noch ein Ende. Wo sollte daher ein Grund<br />

zum Frohlocken oder Trauern sein? Die Dinge erscheinen als fühlend oder<br />

nicht-fühlend, weil der Höchste Herr allmächtig ist. In Brahman jedoch gibt es<br />

keine solchen Unterteilungen. Diese Schöpfung erscheint als ein Glied des<br />

Höchsten Herrn, und es scheint eine kausale Verbindung zu geben. Jedoch ist<br />

dies nicht wahr, denn in Brahman existiert nichts, auf das man als seine Natur<br />

Bezug nehmen könnte.<br />

Dualistische Erfahrung ist Bindung, und Befreiung ist das Aufgeben davon.<br />

Wird die dualistische Erfahrung aufgegeben, dann hören sämtliche<br />

Getrenntheiten zwischen dem Seher (Subjekt), dem Gesehenen (Objekt), dem<br />

Beobachter und dem Beobachteten auf. Die Bewegung im Bewusstsein wird<br />

als Schöpfung angesehen; wenn diese Bewegung als falsch und inexistent<br />

erkannt wird, erscheint nirvāņa. Brahman ist unkonditioniert und<br />

unmodifiziert. Das gesamte Universum ist das absolute Brahman, ohne die<br />

geringste Getrenntheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das unendliche Bewusstsein, oh Rāma, ist überall und scheint daher während<br />

eines Augenblinzelns von einem Teil des Universums in den anderen zu<br />

wandern. Was auch immer deine Tätigkeit ist, verbleibe verankert im unkonditionierten<br />

Selbst. Das Kennzeichen der Unwissenheit besteht darin, dass sie<br />

bei der Ergründung oder Untersuchung nicht gefunden wird. Falls sie gesehen<br />

oder beobachtet werden könnte, würde sie zu Wissen werden. Wenn<br />

daher also die Unwissenheit nicht existiert, gibt es gewiss auch keine<br />

Getrenntheit im Bewusstsein.<br />

Brahman allein existiert so als wäre es die Welt; dieses Eine erscheint als<br />

geteilt; das Reine erscheint als unrein; das Erfüllte erscheint als Leerheit; das<br />

Leere erscheint als Fülle; die Bewegung erscheint als etwas Unbewegtes und<br />

umgekehrt das Unmodifizierte als Modifiziertes; das Ruhende als ruhelos; die<br />

Realität als inexistent; Bewusstsein als leblos; das Selbst als Objekt; das<br />

Nicht-Selbst als das Selbst; das Ewige alsvergänglich; das Unkennbare als<br />

Kennbares, das Offenbare als verborgen in der Dunkelheit. Obwohl es nichts<br />

als Sein ist, ist es schwierig zu erkennen.<br />

Das Unendliche ist unkonditioniert und scheint daher an keinem bestimmten<br />

Ort zu existieren. Es gibt in ihm keine Getrenntheit in der Form des Täters,<br />

der Tätigkeit, des Instrumentes und der Ursache. Es existiert als alles<br />

überall und immer. Es ist unsichtbar und liegt doch stets offen zutage. In ihm<br />

551


gibt es keine Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Leblosigkeit. Ich bin,<br />

und ich bin sogar die Idee: „Ich bin nicht“; sollte es etwas anderes geben,<br />

dann bin ich dies auch.<br />

Alle diese Universen scheinen im unendlichen Bewusstsein zu existieren,<br />

obgleich in ihm keine Erscheinung oder Getrenntheit möglich ist. Es ist so, als<br />

wünschte dieses Bewusstsein sich selbst zu sehen und so wird es zu seinem<br />

eigenen Spiegel, in dem es sich selbst ohne die geringste Absicht widerspiegelt.<br />

Auf diese Weise wird das reine Sein zu seiner eigenen, leblosen Reflexion<br />

– dem Universum. Das unendliche Bewusstsein kennt sich selbst als die Welt.<br />

In ihm tauchen sämtliche Substanzen und materiellen Schöpfungen auf; sie<br />

leuchten in ihm und sie werden in ihm absorbiert. Die ganze Welt ist ein<br />

Gemälde, während dieses Bewusstsein selbst die reine und farblose Farbe ist,<br />

mit der die Welt gemalt wurde. Die Objekte scheinen dabei der Schaffung und<br />

Zerstörung unterworfen zu sein. Bewusstsein jedoch ist ewiglich und unkonditioniert.<br />

Obgleich tausende von Welten in diesem Bewusstsein auftauchen,<br />

verbleibt es im Frieden, denn es gibt in ihm keinerlei Absicht zu erschaffen, so<br />

wie ein Spiegel von den in ihm auftauchenden Reflexionen unberührt bleibt.<br />

Dieses unendliche Bewusstsein ist die absichtslose und nicht-willentliche<br />

(Nicht)Ursache der Erscheinung dieser und der nächsten Welt. Sobald es<br />

seine Augen öffnet, erscheinen die Welten, und wenn es sie schließt, verschwinden<br />

die Welten.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Genau wie ich die Halluzination eines Kindes nicht wahrnehme, aber sie<br />

von diesem für wirklich gehalten wird, so gibt es in meinem Bewusstsein<br />

auch keine Schöpfung. Da die Formen, das Sehen und die Intelligenz, die sie<br />

erfasst, reines Bewusstsein sind, existiert nur dieses, nicht aber das Universum.<br />

Den Ich-Sinn nehme ich nicht wahr – ich erkenne dagegen die Existenz<br />

des reinen Bewusstseins oder des absoluten Friedens. Wisse, dass sogar diese<br />

meine Worte reines Bewusstsein sind und dieser Dialog im Feld deines eigenen,<br />

reinen Bewusstseins stattfindet.<br />

Der höchste Zustand ist das, worin kein Wunsch auftaucht. Der Weise, der<br />

wunschlos ist, funktioniert als wäre er aus Holz gemacht. Er erfährt im Innern<br />

reine Leerheit und im Außen reine Leerheit – für ihn ist die Welt wie ein<br />

hohles Schilfrohr. Derjenige, der nicht in diese Welt verliebt ist und dessen<br />

Herz sich allein am Höchsten Wesen erfreut, ist im Frieden und hat diesen<br />

Ozean des saæsāra überquert. Nachdem du Wünsche und latente Neigungen<br />

oder mentale Konditionierungen überwunden hast, sprich, was gesprochen<br />

werden muss, berühre, was berührt werden muss, koste, was gekostet werden<br />

muss, betrachte verschiedene Szenen und rieche verschiedene Düfte.<br />

Nur aufgrund des Erkennens der Substanzlosigkeit der Erfahrungsobjekte<br />

wird man von der Krankheit der Wünsche befreit. Das Auftauchen der Wünsche<br />

führt zu Kummer und das Aufhören der Wünsche zur höchsten Freude;<br />

und kein Kummer und keine Freuden in der Hölle oder im Himmel ist damit<br />

VI.2:36<br />

552


VI.2:37<br />

vegleichbar. Das Gemüt ist der Wunsch, und das Aufhören des Wunsches ist<br />

mokåa (Befreiung), und darin besteht die Essenz aller Schriften. Wenn dieses<br />

Wünschen nicht durch Eigenbemühung überwunden werden kann, dann ist<br />

es übermächtig, und keine andere Abhilfe existiert! Falls du die Wünsche<br />

nicht vollkommen loswerden kannst, dann beseitige sie Schritt für Schritt.<br />

Der Wanderer verzweifelt nicht, wenn er den langen Weg sieht, sondern setzt<br />

einen Fuß vor den anderen. Die Wünsche selbst sind saæsāra oder die Welterscheinung,<br />

die nur eine Ausbreitung oder Projektion der eigenen Wünsche<br />

ist – das Nicht-Wahrnehmen bedeutet Befreiung. Daher sollte man eifrig<br />

danach streben, das Wünschen zu überwinden – alles andere ist wertlos.<br />

Weshalb sollte man sich begnügen, die Schriften zu studieren und die Anweisungen<br />

der Lehrer anzuhören? Samādhi ohne ein Aufhören der Wünsche gibt<br />

es nicht! Wenn man meint, es sei unmöglich, Wünsche mit der eigenen Weisheit<br />

zu überwinden, dann sind auch das Studium der Schriften und die Anweisung<br />

des Lehrers von keinem Nutzen. Wird diese von den Wünschen<br />

hervorgerufene Ruhelosigkeit gebremst, dann braucht es nur noch sehr wenig<br />

Bemühung, um Selbsterkenntnis zu erlangen. Daher sollen alle mit allen<br />

verfügbaren Mitteln eifrig nach der Überwindung der Wünsche streben, die<br />

der Same für Geburt, Alter und Tod sind. Mit dem Auftauchen der Wünsche<br />

taucht auch die Bindung auf – mit dem Aufhören der Wünsche hört die Bindung<br />

auf. Verbrenne daher den Samen der Wünsche im eigenen Herzen durch<br />

das Feuer des Friedens, des Gleichmuts und der Selbstbeherrschung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

<strong>Yoga</strong> bedeutet, das Gift der Wünsche loszuwerden. Obwohl ich bereits darüber<br />

gesprochen habe, werde ich es wiederholen, damit es völlig klar wird.<br />

Auch wenn du einen Wunsch nach etwas hast, so gibt es doch nichts anderes<br />

als das Selbst. Was solltest du also wünschen? Bewusstsein ist subtil wie<br />

Raum und unteilbar, und das ist die Welt. Wie könntest du daher Wünsche<br />

haben und wonach? Es gibt keine Objekte, die man begehren kann. Wir können<br />

auch nicht sehen, ob es einen Unterschied und eine Beziehung zwischen<br />

dem Gewinn (eines Objekts) und seinem Besitzer gibt. Wie kann eine irreale<br />

Substanz erworben werden? Wer hat jemals einen schwarzen Mond eingefangen?<br />

Wenn so die Natur des Gewinns und seines Besitzers klar verstanden<br />

ist, dann verschwinden beide, und wir wissen nicht, wohin!<br />

Sobald die Unterscheidung zwischen dem Seher, der Sicht und dem<br />

Gesehenenebenfalls als inexistent erkanntist, versinkt der Ich-Sinn usw. im<br />

Selbst oder Bewusstsein. In nirvāņaoder der Befreiung gibt es weder einen<br />

Seher noch eine Sicht noch Gesehenes – sollten diese existieren, dann gibt es<br />

kein nirvāņa. Die illusorische Erscheinung von Objekten stellt keinerlei praktischen<br />

Nutzen dar – Perlmutter, das wie Silber aussieht, ist wertlos. Wenn du<br />

die Wirklichkeit dieser illusorischen Erscheinung bejahst, lädst du das Unglück<br />

ein; wird ihre Irrealität dagegen durchschaut, entsteht da großes Glück.<br />

Es gibt zwischen zwei Dingen hier nicht die geringste kausale Beziehung,<br />

weil nur das eine, unendliche Bewusstsein real ist. „Ursache“ und „Wirkung“<br />

553


sind Worte ohne jede Bedeutung. Was ist die Ursache der Flüssigkeit des<br />

Wassers oder der Bewegung der Luft? Kummer oder Glück gibt es nicht, da<br />

die gesamte Welt der Höchste Herr ist. Es gibt nichts anderes als das<br />

unkonditionierte Bewusstsein. Wie können dann Wünsche entstehen?<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn alles Brahman oder unendliches Bewusstsein ist, dann sind die Wünsche<br />

dies gewiss auch! Wo wäre dann der Sinn von Vorschriften und Verboten?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn die Wahrheit einmal realisiert ist, besteht der Wunsch nur noch aus<br />

Brahman und aus nichts anderem. Sobald die Selbsterkenntnis oder die Erkenntnis<br />

der Wahrheit erscheint, hört das Wünschen auf, so wie die Finsternis<br />

im Moment des Sonnenaufgangs schwindet. Sobald die Selbsterkenntnis<br />

auftaucht, hört das Empfinden von Dualität zusammen mit den vāsanā oder<br />

der mentalen Konditionierung auf. Wie kannin diesem Zustand das Wünschen<br />

existieren? Im Menschen der Selbsterkenntnis gibt es weder eine Abneigung<br />

noch eine Zuneigung noch einen Wunsch nach Objekten. Keinen<br />

Gefallen an ihnen zu finden, ist ganz natürlich.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Falls der Mensch der Selbsterkenntnis überhaupt noch einen Wunsch hegt,<br />

dann ist dies rein zufällig und ursachelos oder geschieht auf Veranlassung<br />

anderer. Ein solches Wünschen ist Brahman. Jedoch ist soviel gewiss: Im<br />

weisen Menschen entsteht kein Wunsch. Vorschriften und Verbote gelten<br />

nicht für den Menschen der Selbsterkenntnis. Wer und was für Anweisungen<br />

können jemandem erteilt werden, in dem sämtliche Wünsche aufgehört haben?<br />

Und tatsächlich sind dies die Zeichen, an denen man den Wissenden<br />

erkennt – in ihmsind Wünsche so gut wie verschwunden; er ist allein dem<br />

Glück und der Freude aller ergeben.<br />

Wenn man verstanden hat, dass die Objekte substanzlos sind und man keinen<br />

Gefallen mehr am Vergnügen hat, tauchen die Wünsche nicht mehr auf –<br />

und eben das ist Befreiung. Sobald die erleuchtete Person jenseits der Ideen<br />

von Einheit und Dualität ist, behandelt sie Wunsch und Nicht-Wunsch als<br />

gleichwertig und göttlich. Ein solcher Mensch ist frei von Erregung und ruht<br />

im Frieden des Höchsten Herrn. Weder ist er am Tun interessiert noch gibt es<br />

für ihn etwas zu gewinnen, wenn er sich des Tuns enthält. Nichts ist hier von<br />

Belang: Wunsch oder Nicht-Wunsch, Wahrheit oder Falschheit, Selbst oder<br />

anderes, Leben oder Tod. In dieser Person tauchen Wünsche nicht auf –und<br />

wenn einer auftaucht, dann ist er Brahman.<br />

Für wen es weder Freude noch Sorge gibt, wer im Frieden ruht und innerlich<br />

unbewegt ist, der ist erleuchtet. Er ist sogar fähig, Sorgen in Freude zu<br />

verwandeln. Wer fest in der Realisierung der Wahrheit verankert ist, für den<br />

ruht Raum im Raum, Friede im Frieden, Glückverheissendes im Glückverheis-<br />

554


senden, Leerheit in der Leerheit, die Welt in Brahman. Der falsche Ich-Sinn<br />

verschwindet.<br />

Die Welt, die zu sein scheint, ist nicht anders als die Stadt, die in der Einbildungskraft<br />

von jemandem erscheint. Sie ist eine illusorische Erscheinung. Der<br />

Ich-Sinn ist unwirklich, obwohl er real erscheint. Diese Welterscheinung ist<br />

weder real noch irreal – sie unbeschreibbar. Und obwohl es wahr ist, dass der<br />

Wissende nicht vom Wunsch oder Nicht-Wunsch berührt wird, ist es besser<br />

zu sagen, dass in seinem Fall Wünsche überhaupt nicht auftauchen. Das Gemüt<br />

ist Bewegung im Bewusstsein, wenn es seiner selbst bewusst wird, und<br />

dies ist dann saæsāra und auch Wünschen. Davon frei zu sein ist Befreiung.<br />

Wisse dies und lasse die Wünsche fahren.<br />

Ob es Wünschen oder Nicht-Wünschen, eine Schöpfung oder die kosmische<br />

Auflösung gibt, in Wahrheit entsteht kein Verlust von irgendetwas für irgendjemanden<br />

hier. Wunsch und Nicht-Wunsch, Wahrheit und Falschheit, Sein und<br />

Nicht-Sein, Glück und Unglück sind nichts als Ideen, die im Raum auftauchen,<br />

aus denen aber nichts entsteht. Und doch wird derjenige als Kandidat für die<br />

Befreiung erachtet, der täglich seine Wünsche verringert. Kein anderes Mittel<br />

in der Welt kann der schrecklichen Qual abhelfen, welche durch Wünsche im<br />

Herzen verursacht wird.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nichts als die Selbsterkenntnis oder die Erkenntnis der Wahrheit ist wirksam<br />

zur Beseitigung des Wünschens. Es ist sinnlos, dies mit Mitteln erreichen<br />

zu wollen, die selbst auf dem Falschen (dem Ich-Sinn usw.) basieren.<br />

Bewusstsein wird aufgrund des Ich-Sinns scheinbar zu lebloser Materie. So<br />

entstehen das Gemüt und der Körper. Da es jedoch Bewusstsein ist, erfährt es<br />

sich selbst (jetzt als Körper), ohne dabei seine Wirklichkeit als Bewusstsein<br />

aufzugeben. Daher ist diese Schöpfung (der Welt, des Körpers usw.) weder<br />

wahr noch falsch.<br />

Die Erde ist Leerheit, die Berge sind Leerheit, die festen Substanzen sind<br />

Leerheit, die Welten sind Leerheit, die Bewegung ist Leerheit und sogar die<br />

Erfahrung dieser Schöpfung ist Leerheit. Deshalb entsteht diese Welterscheinung<br />

in Wahrheit nichtund sie hört nicht auf. In diesem Ozean aus unendlichem<br />

Bewusstsein entstehen alle diese Welten wie Wellen und Wogen –nichtverschieden,<br />

obwohl verschieden erscheinend – ohne den geringsten Grund<br />

und die kleinste Ursache, und in Wahrheit entstehen sie weder noch hören sie<br />

jemals auf zu sein. Im unendlichen Bewusstsein ist es unmöglich für ein Objekt,<br />

als etwas anderes als unendliches Bewusstsein zu erscheinen.<br />

Die Yogis oder die vollkommenen Wesen verstehen sich darauf, aus der<br />

ganzen Welt eine Leerheit zu machen und diese während eines Augenzwinkerns<br />

mit dem magischen Zaubertrank des Bewusstseins wieder in die Welt<br />

zurückzuverwandeln. Es gibt da zahllose Welten, die von solchen siddhas<br />

(vollkommenen Wesen) im Raum erzeugt worden sind, zahllose Schöpfungen,<br />

555


VI.2:38<br />

die alle nur aus reinem, unendlichen Bewusstsein bestehen. Erleuchtete Yogis<br />

können sogar von der einen Schöpfung zur anderen reisen.<br />

Alle diese Schöpfungen sind nicht verschieden vom Bewusstsein, wie Duft<br />

und Blüte, obgleich sie als verschieden erscheinen. Ihre Erscheinung im unendlichen<br />

Bewusstsein ist rein illusorisch. Da sie mit den Ideen, wie diese in<br />

allen Beobachtern erscheinen, wahrgenommen werden, werden sie entsprechend<br />

diesen Ideen wahrgenommen. In den Yogis sind diese Ideen jedoch<br />

sehr stark vermindert; sie sehen daher die Wahrheit, und ihre Aussagen<br />

befinden sich deshalb nahe an der Wahrheit. Die Erklärungen von anderen<br />

sind durch ihre eigenen Ideen oder die mentale Konditionierung gefärbt.<br />

Oh Rāma, die Zeit setzt die Welt in Bewegung und mit ihr zusammen all die<br />

fiktiven „ich“, „du“, „sie“, „da“ und „deshalb“. All dies ist reines, unendliches<br />

Bewusstsein, das höchster Friede ist, ungeschaffen und unverderblich. Dies<br />

ist der Höchste Herr, das Selbst. Wie und in wem können da Wünsche und<br />

alles andere entstehen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Bewusstsein erblickt insich selbst sein eigenes Selbst, als ob dieses sein eigenes<br />

Objekt wäre. Obgleich man die Schöpfung als zweifach betrachtet,<br />

nämlich als die durch Brahmā und die durch das eigene Gemüt erzeugte<br />

Schöpfung, sind sie doch ein und dasselbe, da beide dem Selbst oder dem<br />

unendlichen Bewusstsein entspringen. Es ist das dem Bewusstsein innewohnende<br />

Gewahrsein, welches diese Idee der Schöpfung als außerhalb des Bewusstseins<br />

erscheinen lässt. Zwischen subjektivem Idealismus und absolutem<br />

Idealismus können wir daher keinen Unterschied entdecken.<br />

All diese verschiedenen Objekte entstehen im unendlichen Bewusstsein,<br />

existieren darin und sind von diesem nicht verschieden. Es geschieht aufgrund<br />

dieser Wahrheit, dass die Erfahrung dieser verschiedenen Objekte<br />

entsteht. Da sowohl das Subjekt als auch das Objekt der Erfahrung Bewusstsein<br />

sind, vermischt sich das Objekt mit dem Subjekt wie Wasser mit Wasser.<br />

So entsteht Erfahrung. Wäre dem nicht so, könnte es, wie zwischen zwei<br />

Stück Holz, auch keinerlei Erfahrung geben. Im Objekt existieren die verschiedenen<br />

Elemente (Erde, Wasser usw.). Im Subjekt existieren die Lebenskraft,<br />

das Gemüt, der jīva usw. Jedoch sind diese nicht reines Bewusstsein,<br />

sondern die Erscheinungen, die im Bewusstsein auftreten. In Wahrheit sind<br />

sie daher unwirklich. Da das Unwirkliche nicht existieren kann, ist es klar,<br />

dass die Realität oder das unendliche Bewusstsein oder Brahman als einziges<br />

existiert.<br />

Wenn die Traumobjekte der Person, die neben dir schläft, verschwinden,<br />

weil sie erwacht, verlierst du nichts. Für denjenigen, der sich über den Ich-<br />

Sinn erhobenhat, ist das gesamte Universum weniger wert als ein Grashalm.<br />

Nichts in den drei Welten kann ihn verführen – sogar der Rang der Götter<br />

bedeutet ihm so wenig wie ein Haar. Für ihn sind Dualität und Vielfalt unwirklich<br />

und falsch.<br />

556


VI.2:39<br />

Wie kann ein Wunsch im Herzen des weisen Menschen auftauchen, wenn<br />

doch in seinen Augen das gesamte Universum leer ist? Er sieht nicht einmal<br />

einen Unterschied zwischen Leben und Tod. Bei genauem Hinsehen erweist<br />

sich sogar der Körper usw. als unwirklich und falsch. Wenn auch noch das<br />

Gemüt aufhört durch Aufgeben der Ideen über Körper und Welt, verbleibt als<br />

einziges das Selbst oder das unendliche Bewusstsein.<br />

Der Ich-Sinn taucht nur in Abwesenheit einer Ergründung der Natur der<br />

Wahrheit auf. Sobald man diese ergründet, hört der Ich-Sinn auf und dann ist<br />

da reines, unendliches Bewusstsein. Das Gemütist von der Objektifizierung<br />

befreit. Das tägliche Leben wird in göttliches Leben verwandelt. Alles was du<br />

tust oder genießest, alles wird göttlich. Verbleibe, wunschlos und frei von der<br />

Verblendung, in der Selbsterkenntnis verankert. Da es keine andern Beweggründe<br />

mehr gibt, lass dich von den Schriften leiten.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In wem der Schleier der Unwissenheit zerrissen und die Wünsche aufgehört<br />

haben, der strahlt mit dem Licht der reinen Intelligenz. Alle seine Zweifel<br />

sind zu Ende, und er erleuchtet alles um ihn herum. Wer mit ihm, der frei von<br />

Zweifel und unabhängig (frei von aller Abhängigkeit) ist, in Verbindung tritt,<br />

erfährt ebenfalls Reinigung und Erleuchtung.<br />

Die Idee der Realität der Objekte dieser Welt entsteht nur in der Unwissenheit.<br />

Wie können Wünsche nach Objekten entstehen, wenn doch erkannt<br />

wurde, dass sie unwirklich sind? Auch „Schöpfung“ und „Befreiung“ sind nur<br />

Worte ohne Bedeutung. Diese Welt ist Bewusstsein – wenn dies nicht so wäre,<br />

wären weder „ich“ noch „das“ wahrnehmbar.<br />

Echter Friede wird dann erlangt, wenn man keinen Ich-Sinn mitsamt seinem<br />

Gefolge einschließlich des Kummers wahrnimmt. Im Tiefschlaf gibt es<br />

keine Träume, während der Zustand des Tiefschlafs wiederum während des<br />

Träumens nicht erfahren wird. Auf dieselbe Weise existieren die Wahrnehmungen<br />

des Ich-Sinns, des Kummers (geboren aus der Idee der Welterscheinung)<br />

und des Friedens (geboren aus nirvāņa) nicht gleichzeitig. All diese<br />

sind nur Ideen – in Wahrheit gibt es weder Schöpfung noch nirvāņa, weder<br />

Schlaf noch Träume. Wird all dies zurückgewiesen, entsteht der echte Friede.<br />

Verwirrung und Verblendung sind irreal – das Irreale existiert nicht. Was<br />

durch Ergründung nicht gefunden wird, exisitert nicht. Was durch Ergründung<br />

realisiert wird, ist die eigene wahre Natur, die als einziges existiert und<br />

keinerlei Vielfalt enthält. Bewegt man sich von der eigenen wahren Natur<br />

fort, entsteht großer Kummer –wenn man im Selbst ruht, dann ist da großer<br />

Friede und Selbstbeherrschung.<br />

Die Elemente (Sinne und Gemüt usw.) agieren immer nur mit Hilfe ihrer<br />

eigenen Gegenstücke (Licht, Raum usw.) Das Selbst oder das unendliche<br />

Bewusstsein tut nichts und ist an Aktivitäten nicht beteiligt. Diejenigen, die<br />

diese Welt als real ansehen, besitzen keine Selbsterkenntnis, und für sie sind<br />

Leute wie wir „unwirklich“. In mir ist reines Gewahrsein des einen kosmi-<br />

557


VI.2:40,<br />

41<br />

schen Bewusstseins, in dem sogar die Aktivitäten der Welt nicht verschieden<br />

davon erscheinen, sondern nur wie die Bewegung des Windes, die nicht verschieden<br />

vom Wind ist. In ihrem Gemüt erscheint mein Körper als real, aber<br />

für meine erleuchtete Intelligenz ist ihre physische Existenz unwirklich, wie<br />

für eine schlafende Person. Meine Beziehung mit ihnen ist Brahman und<br />

existiert in Brahman. Was auch immer ihre Sichtweise ist – lass sie so bleiben;<br />

für mich ist es gut. Da alles von Brahman durchdrungen ist, existiere ich nicht<br />

als „ich“. Sogar diese Worte scheinen nur für dich zu entstehen. Im Herzen<br />

eines Wissenden gibt es keinen Wunsch nach Vergnügen und keinen Wunsch<br />

nach Befreiung. Weder Befreiung noch Reichtum usw. sind von irgendeinem<br />

Nutzen für den, der verankert ist in der Erkenntnis des „weder bin ich, noch<br />

ist diese Welt“.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, das nennt man das Selbst (svarÆpaæ), welches die äußeren Formen<br />

und die inneren psychologischen Zustände kennt. Wenn das Nicht-Selbst<br />

geschwächt ist und die Selbst-Natur sich ausbreitet, dann wird die Welt im<br />

Lichte dessen nur als bloße Erfahrung erkannt. Wer vollkommen im Selbst<br />

verankert ist, für den hört diese Welterscheinung auf wie ein Traum während<br />

des Tiefschlafs.<br />

Man sollte stets im Selbst ruhen, wissend, dass Vergnügen schreckliche<br />

Krankheiten bringen, Verwandte Bindung bedeuten und Wohlstand (artha)<br />

die Quelle des Unglücks (anartha) ist. Das Nicht-Selbst ist saæsāra – ruhen im<br />

Selbst ist das Höchste. Daher sollte man wie die Leerheit des Bewusstseins<br />

immer nur sich selbst sein. Ich bin weder das Selbst noch die Objekte noch<br />

die Welterscheinung – ich bin Brahman, der höchste Friede, in dem ich mich<br />

jetzt befinde. Nur du bist des „du“ gewahr – ich selbst sehe nichts als höchsten<br />

Frieden. Das Brahman-Bewusstsein weiß nichts vom Schöpfer-<br />

Bewusstsein undumgekehrt, so wie der Träumer nichts vom Tiefschlafzustand<br />

weiß und der Schlafende wiederum nicht den Traumzustand erfährt.<br />

Die erleuchtete Person sieht sowohl Brahman als auch die Welt wie die Wachund<br />

Traumzustände. Daher kennt sie all diese, wie sie sind.<br />

So gewiss es ist, dass es im Sonnenlicht Beleuchtung gibt, so gewiss ist es,<br />

dass es spirituelles Erwachen gibt, wenn die Nichtigkeit der weltlichen Objekte<br />

zur Erfahrung wird. Die einzige Wirklichkeit besteht darin, dass die höchste<br />

Essenz des kosmischen Bewusstseins in jedem Atom des Seins tanzt. Wer<br />

könnte das Unmessbare messen oder das Unendliche zählen? Dieser wunderbare<br />

kosmische Tanz, der sich vor deinen Augen abspielt, oh Rāma, ist<br />

nichts als das Spiel des kosmischen Bewusstseins. Die schlafende Person, die<br />

nicht im Tiefschlafist, wird das Spielfeld für die Träume. Auf dieselbe Weise<br />

wird das Selbst, welches nicht in der Selbsterkenntnis weilt, scheinbar zum<br />

Samen dieser Welterscheinung. Kontempliere das Selbst und lebe im Wachzustand<br />

wie im Tiefschlaf, frei von psychologischem Elend.<br />

Wer spirituell erwacht ist und in einem Wachzustand lebt, der dem Tiefschlaf<br />

ähnelt, dessen Zustand wird svabhÃva (Selbst-Natur) genannt. Dieser<br />

558


Zustand führt zur Befreiung. Wer in Brahman verankert ist und<br />

keinenUnterschied zwischen Brahman und der „Welt“ sieht, lebt auch in<br />

dieser Welt, ohne einen Unterschied zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat<br />

zu machen und ist deshalb frei vom Empfinden der Täterschaft. In seinen<br />

Augen erscheint alles wie es ist, und es gibt weder Einheit noch Vielfalt.<br />

Eine eingebildete Stadt ist Einbildung, keine Stadt. Diese Welterscheinung<br />

ist eine Erscheinung, nicht aber die Welt. Die Wirklichkeit ist unendliches<br />

Bewusstsein oder Brahman.<br />

Bemerkung: Cidakasa nennt man die „Leere des Bewusstseins“, da es ohne<br />

Ich-Sinn ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Welterscheinung entsteht in Unwissenheit auf und Weisheit bereitet ihr<br />

ein Ende. Für die Realität ist jedoch all dies bedeutungslos, denn weder<br />

taucht sie auf noch vergeht sie. Diese Realität ist das unteilbare, unendliche<br />

Bewusstsein, außer dem nichts sonst ist. Dieses scheint sich in sich selbst<br />

Polarisierungen zu unterziehen und sich seiner selbst als Objekt bewusst zu<br />

werden. Daraus entstehen scheinbar Getrenntheit und Halbwissen, welches<br />

Unwissenheit ist. Ein solches Gewahrsein ist dem Bewusstsein innewohnend,<br />

aber es ist nicht verschieden vom Bewusstsein.<br />

Die Unterscheidung zwischen der Welt und ihrem Höchsten Herrn ist verbal<br />

und falsch. Im unteilbaren, unendlichen Bewusstsein ist keine Unterscheidung<br />

sinnvoll. Aufgrund der illusorischen Vorstellung von Raum und<br />

Zeit wird irgendwann und irgendwo Gold scheinbar zu einem Schmuckstück<br />

– auf dieselbe Weise tritt die Vorstellung einer Schöpfung im Bewusstsein auf.<br />

Wenn also die Dualität nicht existiert, wird auch die Ergründung der kausalen<br />

Beziehung zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung sinnlos.<br />

Wenn das, was existiert, als das erkannt ist, was es ist (d.h. als das unteilbare<br />

Bewusstsein), hört die Welterscheinung auf. Verbleibe fest wie ein Fels in<br />

der Erkenntnis dieser Wahrheit, während du hier weiter wie ein intelligentes<br />

Lebewesen tätig bist. Verehre das Selbst, welches der Höchste Herr ist, mit all<br />

deinen natürlichen Tätigkeiten und Erfahrungen einschließlich deiner Weisheit.<br />

Wenn das Selbst so verehrt wird, verleiht es dir unverzüglich die Gnade<br />

der spirituellen Entfaltung; im Vergleich damit ist die Verehrung von Göttern<br />

wie Rudra und Viåņu wertlos. Das Selbst, welches der Höchste Herr ist,<br />

schenkt sofort mokåa oder endgültige Befreiung, wenn es mit der Ergründung<br />

des Selbst, mit Selbstbeherrschung und satsaÇga (Gemeinschaft mit Weisen)<br />

verehrt wird.<br />

Erkenntnis der Wirklichkeit ist die beste Form der Verehrung. Wenn der<br />

Höchste Herr als das Selbst existiert, dann werden andere nur von Narren<br />

verehrt. Man sagt, dass die Verehrung der Götter, Pilgerfahrten,<br />

Askesepraktiken usw. ihren Segen gewähren, wenn sie mit Weisheit oder<br />

viveka ausgeübt werden. Gewiss ist es die Weisheit, die all diesem die eigentliche<br />

Kraft verleiht. Ist es dann nicht ausreichend, das Selbst mit viveka allein<br />

VI.2:42<br />

559


VI.2:43<br />

zu verehren? Werde mit dieser Weisheit das Körperbewusstsein los und<br />

damit auchdie Scham, die Furcht, die Verzweiflung, Vergnügen und Schmerz.<br />

Weisheit enthüllt Bewusstsein als das Selbst, aber in Abwesenheit von Objekten<br />

wie dem Körper usw. geht dieses Bewusstsein in den höchsten Frieden<br />

über, der unbeschreiblich ist. Ihn zu beschreiben bedeutet, ihn zu zerstören.<br />

Und sich mit dem aus den Schriften gewonnenen Wissen zufriedenzugeben<br />

und sich selbst für erleuchtet zu halten, ist wie die nichtige Einbildung eines<br />

Blindgeborenen. Erleuchtung, die jenseits jeder Beschreibung ist, entsteht<br />

dann, wenn die Unwirklichkeit der Objekte verstanden ist und erkannt wird,<br />

dass dieses Bewusstsein kein Objekt der Erkenntnis sein kann.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Merkmale desjenigen, der frei vom Fieber der Unwissenheit ist und<br />

dessen Herz aufgrund der Selbsterkenntnis ruhig und kühl bleibt, besteht<br />

darin, dass dieser nicht vom Vergnügen verführt werden kann. Genug mit all<br />

diesem Reden über Erkenntnis und Weisheit, die nur Worte sind und durch<br />

diese Worte hervorgerufene Ideen ohne eigene Wahrheit. Nirvāņa oder Befreiung<br />

besteht im Nicht-Erfahren des Ich-Sinns. Diese Wahrheit muss klar<br />

verstanden werden.<br />

So wie der wache Mensch keinerlei Nutzen aus den Objekten zieht, die er<br />

während des Träumens erblickt hat, so erlangen wir durch die in dieser Welterscheinung<br />

erblickten Objekte keine Freude. Alle die vierzehn Welten tauchen<br />

in der Finsternis der Unwissenheit und Verblendung so auf, wie Vampire<br />

und Kobolde im finsteren Wald auftauchen. Sobald die Wahrheit ergründet<br />

wird, verschwindet der Kobold auf Nimmerwiedersehen, und wenn die<br />

Wahrheit bezüglich der vierzehn Welten ergründet wird, werden sie als reines<br />

Bewusstsein gesehen. Die Objekte existieren gewiss nicht unabhängig<br />

und sind folglich unwirklich; sie sind von Bewusstsein durchdrungen, das das<br />

Subjekt ist. Da jedoch Bewusstsein in Bezug zu keinem Objekt als das Subjekt<br />

bezeichnet werden kann, gibt es auch kein Subjekt. Es existiert etwas, was<br />

nicht beschrieben werden kann.<br />

Verbleibe als reines Bewusstsein. Trinke von der Essenz der Selbsterkenntnis.<br />

Ruhe frei von allen Zweifeln im Garten von nirvāņa oder der Befreiung.<br />

Weshalb, oh Mensch, durchstreifst du diesen Wald des saæsāra, der ohne<br />

jede Wesenhaftigkeit ist? Oh ihr getäuschten Menschen – lauft nicht dieser<br />

Luftspiegelung namens Hoffnung und Wunsch nach Glück in dieser Welt<br />

hinterher! Vergnügen enden in Missvergnügen. Weshalb seht ihr nicht, dass<br />

diese nichts als Quellen eurer eigenen Zerstörung sind? Lasst euch von dieser<br />

illusorischen Welterscheinung nicht täuschen. Seht diese Täuschung und<br />

ergründet sie. Dann werdet ihr in eurem eigenen Selbst ruhen, das anfangslos<br />

und endlos ist.<br />

Der Unwissende betrachtet dieses saæsāra als real. In Wahrheit jedoch<br />

existiert es überhaupt nicht. Was nach der Zurückweisung dieser Erscheinung<br />

existiert, ist die Wahrheit. Aber sie hat keinen Namen! Brich wie der<br />

Löwe aus dem Käfig der Unwissenheit aus und erhebe dich über alles. Die<br />

560


Ideen von „ich“ und „mein“ aufzugeben, darin besteht die Befreiung und in<br />

nichts anderem. Befreiung ist Friede. Befreiung ist die Auslöschung aller<br />

Konditionierung. Befreiung ist Freiheit von allen physischen, psychologischen<br />

und psychischen Qualen.<br />

Diese Welt wird vom Unwissenden und vom Weisen nicht auf dieselbe Art<br />

gesehen. Für denjenigen, der Selbsterkenntnis erlangt hat, erscheint diese<br />

Welt nicht als saæsāra, sondern als das eine unendliche und unteilbare Bewusstsein.<br />

Der Mensch der Selbsterkenntnis ist zu dem erwacht, was für den<br />

Unwissenden inexistent ist. Und was für den letzteren real ist, ist für den<br />

Erleuchteten inexistent.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Wissende erfährt die Welt so, wie der Blindgeborene die Welt in seinen<br />

Träumen „sieht“ und im Tiefschlaf nicht sieht. Sein Herz und sein Gemüt sind<br />

kühl, da das Feuer der Wünsche erlöscht ist. Da das Gemüt des Wissenden<br />

befreit ist von Anziehung, befindet es sich in vollkommenen Gleichgewicht;<br />

sogar dann, wenn er nicht „Meditation“ praktiziert; so wie die Wasser eines<br />

Teichs unbewegt bleiben, wenn es keinen Abfluss gibt.<br />

Das Objekt ist (veräußerlichte) mentale Aktivität, während mentale Aktivität<br />

der vom Objekt hinterlassene Eindruck in der Intelligenz ist. So wie in<br />

verschiedenen Flüssen mit verschiedenen Namen dasselbe Wasser zum Ozean<br />

fließt, so ist dasselbe Bewusstsein sowohl die verschiedenen Objekte als<br />

auch die dazugehörige mentale Tätigkeit. Objekt und Gemüt sind daher nicht<br />

verschieden voneinander. Sobald eines von beiden verschwindet, hören beide<br />

auf. Beide sind ohne Essenz. Daher entsteht Friede, sobald sie aufhören. Der<br />

Wissende gibt beide auf und verliert dadurch überhaupt nichts; denn „Objekt“<br />

und „Gemüt“ sind nur Worte ohne dazugehörige Dinge. Was ist, IST das<br />

unendliche Bewusstsein.<br />

Für den Menschen der Selbsterkenntnis sind die Dinge, die der unwissende<br />

Mensch für real hält (Zeit, Raum, Materie usw.), inexistent. In den Augen eines<br />

tapferen Mannes gibt es keine Kobolde, und so gibt es in den Augen des weisen<br />

Menschen keine Welt. Für den unwissenden Menschen jedoch ist sogar<br />

der Wissende unwissend.<br />

Oh Rāma, lass dich nicht in die Ideen der Materialität und des Gemüts verstricken,<br />

da sie falsch sind. Ruhe in deinem eigenen Selbst. Bewusstsein<br />

nimmt all die verschiedenen Formen an, wie der Same, welcher in die verschiedenen<br />

Teile des Baumes wächst. Sobald dieObjekte fallengelassen werden,<br />

verbleibt das Unbeschreibbare (Bewusstsein) - es „Bewusstsein“ zu<br />

nennen bedeutet, es zu begrenzen.<br />

Materie und Gemüt sind identisch – und beide sind falsch. Durch diese falsche<br />

Erscheinung wirst du geblendet. Selbsterkenntnis wird diese Verblendung<br />

zerstreuen. Selbsterkenntnis und Aufhören der Welterscheinung sind<br />

die Kennzeichen der Weisheit (bodham oder Erwachen). Der Ich-Sinn, der<br />

auftaucht, solange die Wünsche nicht ausgelöscht sind, führt zum Kummer.<br />

561


VI.2:44<br />

Von den Wurzeln aufwärts ist der gesamte Baum mit all seinen Ästen, Blättern,<br />

Blüten und Früchten nichts als ein und derselbe Baum. Auf dieselbe<br />

Weise ist Bewusstsein allein alles, unteilbar und unmodifiziert. So wie Butter<br />

aufgrund ihrer eigentlichen Natur durch Einfrieren hart wie Stein wird, so ist<br />

die Materie „eingefrorenes“ Bewusstsein. Im unendlichen und<br />

unmodifizierten oder unkonditionierten Bewusstsein jedoch ist eine solche<br />

Modifikationen unmöglich:die Konditionierung ist eine falsche Idee. Im Herzen<br />

desjenigen, der Selbsterkenntnis besitzt und frei von Verblendung und<br />

Ich-Sinn ist, schmilzt sie dahin.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich werde nun den Baum beschreiben, den man samÃdhÃna (Gleichmut)<br />

nennt und der in dem Wald wächst, den man das Herz des Weisen nennt.<br />

Sein Same besteht im sich Abwenden von der „Welt“, gleich ob diesauf natürliche<br />

Weise oder durch Erfahrungen von Kummer geschieht. Das Gemüt ist<br />

wie ein Acker. Gepflügt wird er durch rechte Handlungen, Tag und Nacht<br />

gewässert durch rechtes Empfinden, gedüngt durch die Praxis des<br />

prÃïÃyÃma. Auf diesen Acker namens Gemüt fällt der Same namens samÃdhi<br />

(Abwenden von der Welt) von selbst, wenn man allein im Wald der Weisheit<br />

ist. Der weise Mensch sollte diesen Samender Meditation ständig pflegen und<br />

mit intelligenten Methoden wässern und nähren.<br />

Man soll stets die Gesellschaftder Weisen suchen, die die wahren Freunde<br />

und Wohlgesinnten und rein und freundlich sind. Dann sollte man den Samen<br />

von samÃdhi oder Meditation durch Anhören, Nachdenken und Kontemplieren<br />

der Schriften begiessen, was schließlich die vollkommene innere Leerheit<br />

hervorbringen wird, die voller Weisheit ist, rein und kühl wie Nektar. Indem<br />

man dieses kostbaren Samens der Meditation oder samÃdhi gewahr ist, der<br />

auf den Acker des Gemüts gefallen ist,sollte der weise Mensch ihn sorgfältig<br />

hegen und pflegen und mit Entsagung, Wohltätigkeit usw. nähren.<br />

Sobald dieser Same zu sprießen beginnt, sollte er unter den Schutz des<br />

Friedens und der Zufriedenheit gestellt werden. Gleichzeitig muss er gegen<br />

die gefräßigen Vögel der Wünsche, der Anhänglichkeit an die Familie, des<br />

Stolzes und der Gier usw. verteidigt werden mit Hilfe der Zufriedenheit. Mit<br />

dem Besen der rechten und liebenden Handlung muss der Schmutz der<br />

rÃjasischen Ruhelosigkeit hinweggefegt werden, während die Finsternis der<br />

tÃmasischen Unwissenheit mit dem Licht des rechten Verständnisses vertrieben<br />

wird.<br />

Die Blitze des Besitzerstolzes und die Donnerstürme des Verlangens nach<br />

Vergnügen prasseln auf diesen Acker niederund verwüsten ihn. Verhindert<br />

werden sollte dies mit dem Dreizack des Grossmut, des Mitgefühls, japa<br />

(Wiederholung des göttlichen Namens), Entsagung, Selbstbeherrschung und<br />

die Kontemplation der Bedeutung von praïava (OM).<br />

Wenn der Same auf diese Weise behütet wird, keimt und sprießt er und<br />

wird zu Weisheit. Durch ihn wird der ganze Acker des Gemüts herrlich zu<br />

562


strahlen beginnen. Der Spross bildet zwei Blätter: Das eine nennt man das<br />

Studium der Schriften und das andere satsaÇga (Gemeinschaft mit den<br />

Weisen). Bald wird dieser Keimling aus dem Saft der Leidenschaftslosigkeit<br />

oder Reinheit des Gemüts die feste Rinde der Zufriedenheit ausbilden. Genährt<br />

durch den Regen der Weisheit der Schriften wird er schnell zu einem<br />

Baum heranwachsen. Dieser kommt nicht mehr so leicht ins Schwanken, auch<br />

wenn er von den Affen rāga-dveåa (Anziehung und Abstoßung) geschüttelt<br />

wirde. Er bildet sodann die breit ausladenden Äste der reinen Erkenntnis.<br />

Weitere Äste und Zweige dieses Baumes, die wachsen, sobald jemand vollständig<br />

in Meditation oder dhyana verankert ist, sind eine klare Sicht, Wahrhaftigkeit,<br />

Mut, ungetrübtes Verstehen, Gleichmut, Friede, Freundlichkeit,<br />

Mitgefühl, Ruhm usw.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Baum der Meditation wirft einen kühlen Schatten, in dem sämtliche<br />

Wünsche und Verlangen zu Ende gehen und all die brennende Qual aufhört.<br />

Meditation vergrößert den Schatten der Selbstbeherrschung, die die Stetigkeit<br />

des Gemüts fördert.<br />

Unter diesem Baum sucht ein Reh namens Gemüt, das in der Wildnis zahlloser<br />

Konzepte, Ideen und Vorurteile umhergewandert ist, bis es irgendwann<br />

den richtigen Weg gefunden hat, seine Zuflucht. Dieses Reh wird von zahllosen<br />

Feinden verfolgt, die nach seinem Fell trachten. Es verbirgt sich in den<br />

Dornbüschen des Körpers, um sich zu retten. All diese Bemühungen erschöpfen<br />

seine Kräfte. Hin und her rennend in diesem Wald des saæsāra, belästigt<br />

von den Winden der vāsanās oder latenten Neigungen und versengt von der<br />

Hitze des Ich-Sinns, ist das Reh nicht endenden Qualen unterworfen.<br />

Dieses Reh ist nie zufrieden mit dem, was es bekommt. Sein Verlangen vervielfältigt<br />

sich und es setzt alles dran, um dieses Verlangen zu befriedigen. Es<br />

hängt an den vielen Vergnügen wie Frau, Kinder usw. und erschöpft sich in<br />

seinen steten Sorgen um sie. Gefangen ist es im Netz des Wohlstands usw.<br />

und kämpft verzweifelt, um sich zu befreien. Im Verlaufe dieses Kampfes fällt<br />

es wieder und wieder und verletzt sich. Vom Strom des Verlangens wird es<br />

weit, weit davongetragen, verfolgt und gejagt von unzählbaren Leiden. Auch<br />

wird es von den verschiedenen Sinneserfahrungen in die Falle gelockt. Von<br />

seinen abwechselnden Aufstiegen in die Himmelsregionen und den nachfolgenden<br />

Stürzen in die Hölle wird es verwirrt und irregeführt. Zermalmt und<br />

verwundet wird es von den Steinen und Felsen namens mentale Modifikationen<br />

und schlechte Eigenschaften. Um dem zu entkommen, beschwört es mit<br />

seinem Intellekt verschiedene Verhaltensregeln herauf, die sich jedoch als<br />

wirkungslos erweisen. Eine Kenntnis des Selbst oder des unendlichen Bewusstseins<br />

hat es nicht.<br />

Dieses als Gemüt bekannte Reh wird bewusstlos gemacht durch den giftigen<br />

Atem der Schlange namens weltliche Freuden und Verlangen nach Vergnügen.<br />

Es wird von den Feuern des Zorns gebrannt. Ausgedörrt wird es von<br />

den Ängsten und Sorgen. Verfolgt wird es vom Tiger namens Armut. Es stürzt<br />

563


VI.2:45<br />

rettungslos in die Grube namens Anhaftung und sein Herz wird durch seinen<br />

enttäuschten Stolz gebrochen.<br />

An einem gewissen Punkt wendet sich das Reh von all dem ab und sucht<br />

Zuflucht bei dem bereits beschriebenen Baum (der Meditation), wo es dann<br />

prächtig gedeiht. Höchster Friede oder Seligkeit wird einzig und allein im<br />

unkonditionierten Zustand des Bewusstseins erlangt, und dieser wird nur im<br />

Schatten des Baumes namens samÃdhi oder Meditation erreicht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem das Reh (Gemüt) zur Ruhe gekommen ist, bleibt es glücklich an<br />

diesem Ort und versucht nicht mehr, anderswo hinzugehen. Nach einiger Zeit<br />

beginnt dann der Baum namens Meditation oder samÃdhi Früchte zu tragen,<br />

die in der Enthüllung des höchsten Selbst bestehen. Das Reh-Gemüt gewahrt<br />

diese Früchte über sich auf dem Baum der Meditation. Es gibt daraufhin<br />

sämtliche anderen Ziele auf und erklettert den Baum, um von seinen Früchten<br />

zu kosten. Auf den Baum gestiegen, lässt das Reh-Gemüt die weltlichen<br />

Gedankenmuster fallen und denkt nie wieder an das niedere Leben. Wie die<br />

Schlange ihre Haut ablegt, so gibt auch das Reh-Gemüt seine früheren Gewohnheiten<br />

auf, um den Baum der Meditation erklimmen zu können. Wenn<br />

eine Erinnerung an seine Vergangenheit auftaucht, lacht es laut: „Wie konnte<br />

ich nur ein solcher Narr sein?!“ Nachdem es die Gier usw. abgelegt hat, ruht<br />

es auf diesem Baum wie ein Eroberer.<br />

Sein Verlangen lässt Tag um Tag nach. Weder geht es dem aus dem Weg,<br />

was ungesucht zu ihm kommt, noch verlangt es nach etwas, was es nur mit<br />

Mühe bekommen könnte. Es umgibt sich mit dem Wissen der Schriften, die<br />

vom unendlichen Bewusstsein oder unkonditionierten Sein handeln. In seinem<br />

Innern gewahrt es klar seine eigenen, vergangenen Zustände der Unwissenheit<br />

und lacht darüber. Es gewahrt seine Frau und Kinder usw. und lacht<br />

über sie, als wären sie Verwandte aus einem früheren Leben oder Leute in<br />

einem Traum. Sämtliche Aktivitäten, die auf Anhaftung und Widerwillen,<br />

Furcht und Eitelkeit, Stolz und Verblendung gründen, erscheinen ihm nun wie<br />

reine Schauspielerei. Beim Betrachten der vorübergehenden Erfahrungen in<br />

dieser Welt lacht es spöttisch – wissend, dass all diese wie die Erfahrungen<br />

eines Irren sind.<br />

Das Reh-Gemüt, verankert in diesem außergewöhnlichen Zustand, hegt keine<br />

Ängste oder Sorgen mehr bezüglich Frau, Kinder usw. In seiner erleuchteten<br />

Sichtweise gewahrt es das, was als einziges ist (die Realität), in dem, was<br />

als einziges ist (das Unendliche). In dieser Sichtweise gesammelt, erklimmt es<br />

den Baum des samÃdhi. Nun freut es sich sogar über das, was es zuvor als<br />

Missgeschick betrachtet hatte. Mit den nötigen Aktivitäten befasst es sich, als<br />

wäre es nur zu dem Zweck aufgewacht, um diese Arbeit zu tun, und ergibt<br />

sich dann wieder der Meditation. Ganz natürlich will es dauernd im Zustand<br />

des samÃdhi sein. Es ist völlig frei vom Ich-Sinn, erscheint aber so, als würde<br />

es wie andere, mit denen gemeinsam ein- und ausatmet, ein Leben im Ich-<br />

Sinn führen. Auch wenn Vergnügen dieser Art ungesucht auf es zukommen,<br />

564


empfindet es für sie keinerlei Begeisterung, denn sein Herz wendet sich auf<br />

natürliche Weise von allen Vergnügungen ab. Es ist erfüllt. Für die weltlichen<br />

Ziele und Zwecke stellt es sich schlafend. Wer weiß schon, in welchem Zustand<br />

es lebt? Näher und näher wird es zur edlen Frucht von mokåa oder<br />

Befreiung gezogen. Zuletzt wirft es sogar noch buddhi oder den Intellekt ab<br />

und ist schließlich im unkonditionierten Bewusstsein verankert.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Man nennt das die Erlangung des Höchsten, in welchem man die Idee, dass<br />

Objekte existieren, aufgegeben hat und im eigenen reinen Selbst ruht. Wenn<br />

alle Getrenntheiten beiseite gelegt werden, verbleibt als einziges das Unteilbare.<br />

Es ist rein, einzig, anfangslos und endlos. Dies nennt man Brahman. Wer<br />

den Wunsch nach Reichtum, Frauen und weltlichen Objekten aufgegeben hat,<br />

ruht im höchsten Selbst. Wenn sogar die Getrenntheit zwischen dem Gemüt<br />

und dem unendlichen Bewusstsein wegfällt, lösen sich sämtliche<br />

Getrenntheiten im Nichts auf. Dann existiert man im höchsten Wesen, so wie<br />

das nicht herausgehauene Bildnis im Marmorblock existiert.<br />

Die unwissende Person vermag weder zu meditieren, noch ist dies für sie<br />

überhaupt wünschenswert. Die erleuchtete Person ist bereits im Selbst verankert!<br />

EinErleuchteter interessiert sich nicht für die Objekte der Wahrnehmung,<br />

was für einen Unwissenden unmöglich wäre. Wenn das Gewahrsein<br />

des Objekts als reines Bewusstsein, das ewiglich ist, verstanden wird, nennt<br />

man dies samÃdhÃna, den Zustand des Gleichmuts. Wenn das Subjekt und<br />

Objekt verschmelzen, befindet sich das Gemüt im Zustand von samÃdhÃna. Im<br />

Selbst zu ruhen beinhaltet das Desinteresse des Selbst an den Objekten. Dagegen<br />

besteht Unwissenheit in der Hinwendung des Selbst zu den Objekten.<br />

Gewiss findet eine solche Hinwendung nur im Unwissenden statt, denn keiner,<br />

der jemals Nektar gekostet hat, interessiert sich noch für bitter schmeckende<br />

Dinge. Deshalb wird für den Weisen die Meditation mühelos und<br />

natürlich. Wenn es kein Verlangen gibt, wird das Selbst niemals aufgegeben.<br />

Oder wenn das Gemüt sich so erweitert, dass es das gesamte Universum<br />

einschliesst, wird das Selbst ebenfalls nicht aufgegeben. Soviel ist gewiss: Bis<br />

man die Selbsterkenntnis erlangt, ist das Streben nach samÃdhi erforderlich.<br />

Wer im samÃdhi verankert ist, ist Brahman in menschlicher Gestalt. Wir verneigen<br />

uns vor ihm!<br />

Wenn man nicht an Objekten interessiert ist, dann können nicht einmal die<br />

Götter die Meditation stören. Daher sollte man unerschütterliche Meditation<br />

(vajra-dhyÃnam) kultivieren. Die Mittel dafür sind 1. die Schriften, 2. die<br />

Gemeinschaft mit Heiligen und 3. die Meditation. So wie man sich in der Nähe<br />

eines gemalten Feuers nicht erwärmen kann, so wird auch die Unwissenheit<br />

nicht durch Halbwissen beseitigt. Der Unwissende betrachtet die Welt als<br />

physische Realität, der Weise betrachtet sie als Bewusstsein. Für den Weisen<br />

gibt es weder einen Ich-Sinn noch die Welt. Seine Sichtweise der Welt ist auf<br />

unbeschreibliche Weise wunderbar. Für den Unwissenden besteht die Welt<br />

aus dürrem Holz und Steinen. Wer erleuchtet ist, betrachtet die Welt als das<br />

565


VI.2:46<br />

VI.2:47<br />

eine Selbst; der Unwissende sieht sie dagegen nicht als das eine Selbst. Der<br />

Unwissende ergeht sich in endlosen Argumenten. Der Erleuchtete hat mit<br />

allen einen freundlichen Umgang. Der natürliche Zustand, der in und während<br />

Wachen, Träumen und Tiefschlaf existiert, ist turīya oder samÃdhi. Das<br />

Gemüt dagegen ist nichts als Konditionierung, welche bei Ergründung aufhört<br />

zu sein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Sobald die Frucht der höchsten Wahrheit erlangt ist und sich in Befreiung<br />

verwandelt hat, wird sozusagen auch das Gewahrsein inexistent, weil das<br />

Gemüt nun in der höchsten Wahrheit absorbiert ist. Die Reh-heit des Reh-<br />

Gemüts schwindet wie das Licht einer Lampeohne Brennstoff. Es verbleibt<br />

nur noch die höchste Wahrheit. Das Gemüt, welches die Frucht der Meditation<br />

erlangt hat, die in der Selbsterkenntnis besteht, ist nun unerschütterlich<br />

wie ein Diamant (vajra). Die für das Gemüt typische Bewegung oder Ruhelosigkeit<br />

verschwindet und niemand weiß, wohin! Ohne Störung oder<br />

Getrenntheit erstrahlt nur die Erleuchtung als reines Bewusstsein.<br />

In diesem Zustand herrscht ein müheloses Fallenlassen sämtlicher Wünsche<br />

und nur mühelose Meditation verbleibt. Solange Brahman nicht realisiert<br />

ist, kann man nicht im Selbst ruhen – bis dahin ist Meditation nicht<br />

möglich, indem man einfach nur an das Selbst usw. denkt. Sobald die höchste<br />

Wahrheit erkannt ist, geht das Gemüt wer weiß, wohin? und wunderbarerweise<br />

verschwinden dann auch die vāsanā oder die mentale Konditionierung,<br />

das karma und auch Freude und Verzweiflung. Dann sieht man den Yogi in<br />

einem Zustand kontinuierlicher und ungebrochener Meditation verharren, in<br />

diamantener Meditation oder samÃdhi (vajra-samÃdhÃna) wie ein Berg.<br />

Wenn der Yogi desinteressiert am Vergnügen ist, wenn seine Sinne gänzlich<br />

friedevoll und beherrscht sind, wenn er im Entzücken seines Selbst ruht,<br />

wenn alle seine mentalen Modifikationen aufgehört haben – was sonst ist für<br />

ihn im Namen von samÃdhi noch zu tun? Wenn der Yogi ohne mentale Konditionierung<br />

diese Welt nicht mehr als ein Objekt der Beobachtung wahrnimmt,<br />

kann er gar nicht anders als in vajra-samÃdhi (diamantengleicher Meditation)<br />

zu verharren, wie wenn er dazu von einer unwiderstehlichen Macht gedrängt<br />

würde. Das Gemüt wird nicht mehr abgelenkt. Sobald das Gemüt im Frieden<br />

ist, da es dank dem Wissen um die Wahrheit an weltlichen Objekten nicht<br />

mehr interessiert ist, dann ist dies samÃdhi. Die feste Zurückweisung von<br />

Vergnügen ist Meditation. Wenn diesvoll erblüht, ist es vajra-sÃra (felsengleich).<br />

Weil dies gleichzeitig auch der Zustand der vollkommenen Erkenntnis<br />

ist, wird es als nirvāņa oder seliger Zustand bezeichnet.<br />

Welchen Nutzen hat so etwas wie Meditation, solange es noch Verlangen<br />

nach Vergnügen gibt? Und welchen Nutzen hat so etwas wie Meditation,<br />

wenn das Verlangen aufgehört hat? Sobald es vollkommene Erkenntnis und<br />

gleichzeitig Desinteresse an Vergnügen gibt, ist unkonditioniertes Bewusstsein<br />

(nirvikalpa samÃdhi) die natürliche und mühelose Folge. Wer nicht mehr<br />

566


vom Verlangen nach Vergnügen hin und her getrieben wird, wird der vollkommen<br />

Erleuchtete (saæbuddha) genannt. Diese vollkommene Erleuchtung<br />

entsteht aus dem völligen Aufgeben des Vergnügens. Wer im Selbst ruht,<br />

empfindet kein Verlangen mehr. Der Wunsch nach Vergnügen entsteht nur<br />

dann, wenn es da eine Bewegung weg vom Selbst gibt. Als Abschluss des<br />

Studiums der Schriften, von japa usw. ist man in samÃdhi; nach der Praxis des<br />

samÃdhi sollte man weiter studieren, japa praktizierenusw. Oh Rāma, ruhe<br />

immer im Zustand von nirvāņa.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn einer erschlagen ist von den Schwierigkeiten und Drangsalen der irdischen<br />

Existenz und „müde von all diesem“, sucht er eine Zuflucht. Ich werde<br />

dir nun die einzelnen, fortschreitenden Stufen beschreiben, mit deren Hilfe<br />

dieser Mensch schließlich Frieden und Ruhe erlangt. Er wendet sich entweder<br />

aufgrund einer unmittelbaren Ursache oder auch ohne eine solche von<br />

den weltlichen Zielen ab (Vergnügen und Wohlstand) und flüchtet zu einer<br />

weisen Person. Schlechter Gesellschaft geht er in weitem Bogen aus dem Weg.<br />

Die Segnungen, die aus der Gemeinschaft mit Heiligen erwachsen, sind<br />

nicht vergleichbar mit sämtlichen anderen Segnungen. Die Natur des Heiligen<br />

ist kühl und friedlich, sein Betragen und seine Handlungen sind rein. Seine<br />

Gesellschaft fördert daher den Frieden und das Gute in jedem, der sie sucht.<br />

In seiner Gesellschaft verliert man die Furcht. Das Sündhafte gelangt an ein<br />

Ende und man nimmt an Reinheit zu. Sogar die Liebe und die Zuneigung, die<br />

die Götter und Engel ihr Eigen nennen, sind nichts im Vergleich mit der unbegrenzten<br />

Liebe, die den Heiligen entströmt.<br />

Wer sich selbst mit der Ausübung rechter Handlungen befasst, verfügt über<br />

eine Intelligenz, die im Frieden ruht und die Wahrheit wie ein vollkommener<br />

Spiegel reflektiert. Dann wird die Bedeutung der Erklärungen der Schriften in<br />

reichem Maße klar. Der weise Mensch verstrahlt Weisheit und Güte. Indem er<br />

sich vom Käfig der Unwissenheit zu befreien trachtet, flieht er die Vergnügen<br />

und wendet sich in Richtung der unkonditionierten Seligkeit.<br />

Es ist ein großes Unheil, nach Vergnügen zu streben. Auch wenn der weise<br />

Mensch sie zurückweist, können sie in seinem Herzen noch Unbehagen erzeugen.<br />

Daher ist er in höchstem Maße glücklich, wenn er sich nicht in vergnüglichen<br />

Situationen befindet. Die Weisen oder Yogis und die Vollkommenen<br />

laden ihn ein. Der weise Mensch jedoch legt keinen Wert auf die Gaben<br />

von psychischen Mächten oder Wissen, die sie ihm gewähren wollen. Er sucht<br />

die Gemeinschaft mit den erleuchteten Wesen. Mit ihnen vertieft er sich in die<br />

Wahrheiten der Schriften. Diese Erleuchteten heben andere auf ihre eigene<br />

Stufe.<br />

Der weise Mensch gibt nach und nach alle selbstsüchtigen Handlungen wie<br />

auch das Streben nach Reichtum und Vergnügen auf. Er verschenkt alles als<br />

selbstopferndeWohltätigkeit. Oh Rāma, denke daran, dass nicht einmal die<br />

Leiden der Hölle so schmerzhaft sind wie das durch selbstsüchtige Handlun-<br />

567


VI.2:48<br />

gen verursachte Leiden. Reichtum ist eine Quelle endlosenUnheils, wirtschaftliches<br />

Gedeihen ist andauerndes Unglück, Genuss des Vergnügens ist<br />

unaufhörliche Krankheit. All dieses wird vom pervertierten Intellekt missverstanden.<br />

In dieser Welt ist die beste Medizin, das beste Tonikum und der<br />

allergrößte Glücksfall allein die Zufriedenheit. Das zufriedene Herz ist bereit<br />

für die Erleuchtung. Wende dich als erstes von der Weltlichkeit ab, nimm<br />

dann Zuflucht zu satsaÇga, ergründe die Wahrheit der Schriften und kultiviere<br />

das Desinteresse an Vergnügen – und du wirst die höchste Wahrheit erlangen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn das Gemüt sich in Leidenschaftslosigkeit und in heiliger Gemeinschaft<br />

befindet und es durch Studium der Schriften kein Streben mehr nach<br />

Vergnügen gibt, verlangt es einen nicht mehr nach Reichtum – man behandelt<br />

auch eigenen Reichtum wie getrockneten Mist. Ein solcher Mensch sieht seine<br />

Verwandten und Freunde als Mitpilger auf dem Weg und hilft ihnen zu angemessener<br />

Zeit in angemessener Weise. Er haftet nicht an Abgeschiedenheit,<br />

Gärten, heiligen Plätzen, seinem eigenen Heim, Streichen und Spielen mit<br />

seinen Freunden oder an Diskussionen über die Schriften; mit all diesen<br />

Beschäftigungen verbringt er nicht viel Zeit.<br />

Er ruht im höchsten Frieden. Der höchste Zustand ist das, was ist. Trennung<br />

und Uneinigkeit in ihm entsteht durch Unwissenheit, und diese Unwissenheit<br />

ist falsch und inexistent! Wer im Selbst gefestigt ist und unbewegt wie eine<br />

Marmorskulptur, wird nicht von den Sinnesobjekten beeinflusst. „Ich“ und<br />

„die Welt“, Zeit und Raum, Erkenntnis oder Leerheit – alle diese werden, auch<br />

wenn sie weiter existieren, vom Wissenden nicht erfahren. Man sollte jene<br />

Sonne in menschlicher Gestalt begrüßen, deren Persönlichkeit frei von rajas<br />

(ruheloser Tätigkeit oder Unreinheit) ist, die sogar satva oder Reinheit transzendiert<br />

hat und in welcher die Finsternis der Unwissenheit keinen Platz hat.<br />

Der Zustand desjenigen, der alle Getrenntheit überwunden und dessen Gemüt<br />

zum Nicht-Gemüt geworden ist, ist jenseits aller Beschreibung. Der<br />

Höchste Herr, dener Tag und Nacht verehrt, beschenkt ihn mit dem höchsten<br />

Zustand des nirvāņa.<br />

Der Höchste Herr ist weder weit entfernt noch unerreichbar. Das eigene,<br />

erleuchtete Selbst ist der Höchste Herr. Aus ihm kommen alle Dinge und in<br />

ihn kehren sie zurück. Alle Dinge hier verehren und beten ihn an, auf ihre<br />

eigene Art und immerwährend. Wenn das Selbst so in verschiedenen Formen<br />

von Geburt zu Geburt von jemandem verehrt wird, ist es erfreut. Erfreut<br />

seiend, sendet das Selbst schließlich einen Boten, der das innere Erwachen<br />

und die Erleuchtung bewirkt.<br />

Der Bote, den das Selbst sendet, ist viveka oder Weisheit. Sie wohnt im innersten<br />

Herzen. Diese Weisheit führt schließlich das graduelle Erwachen<br />

herbei von dem, der durch Unwissenheit konditioniert ist. Was dann erwacht,<br />

ist das innere Selbst – das ist das Höchste Selbst, und sein Name ist „OM“. Es<br />

ist das allgegenwärtige Wesen. Das Universum ist sozusagen Sein Körper.<br />

568


Sämtliche Köpfe, Augen, Hände usw. gehören Ihm. Erfreut wird Er durch japa,<br />

Wohltätigkeit, rituelle Verehrung, Studium und ähnliche Praktiken. Wenn<br />

dieses Selbst durch Weisheit oder viveka erwacht, dann geschieht eine innere<br />

Entfaltung – das Gemüt verschwindet und auch der jīva. In diesem schrecklichen<br />

Ozean von saæsāra ist Weisheit (viveka) allein das Boot, mit dem man<br />

übersetzen kann.<br />

Das Selbst ist hoch erfreut über die verschiedenen Formen der Verehrung<br />

(wähle diejenigen, die dir gefallen). Es beschenkt einen mit dem reinen Botschafter<br />

namens viveka (Weisheit). Mit den Mitteln der Gemeinschaft mit<br />

Heiligen, dem Studium der Wahrheit der Schriften und der Erleuchtung<br />

bringt es den jīva näher zum reinen uranfänglichen Zustand des Einsseins.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Sobald viveka oder Weisheit gestärkt und bestätigt ist und die Unreinheit<br />

der Konditionierung fortgewaschen ist, strahlt der Heilige mit einem außergewöhnlichen<br />

Glanz. Für ihn haben sowohl die inneren Ideen als auch die<br />

äußere Wahrnehmung der Welt aufgehört. Und doch – da alle diese aus der<br />

Unwissenheit geboren wurden, die falsch ist, hat nichts Wirkliches aufgehört<br />

zu sein. Die Welt ist nur eine Erscheinung – sie ist weder das Nicht-Selbst,<br />

noch ist sie grob oder physisch. Diese Elemente sind unwirklich, denn weder<br />

die Welt noch die Leerheit sind real. Brahman alleinbreitet sich aus, und<br />

Brahman allein erstrahlt.<br />

Die Welt ist nicht materiell – Leerheit ist nirgendwo zu sehen. Das Gemüt<br />

wurde zum Nichts. Was verbleibt, ist die Wahrheit – unbeschreibbar, aber<br />

nicht nicht-seiend. Der Intellekt ist durch die einander widersprechenden<br />

Aussagen verwirrt, aber sobald die Wahrheit mit Hilfe der korrekten Methoden<br />

ergründet wird, wird sie realisiert. Wessen Intelligenz erwacht ist, ist ein<br />

Wissender. Er ist verankert im nondualen Bewusstsein und sieht die Welt<br />

nicht als „die Welt“.<br />

Die Welterscheinung entsteht nur dann, wenn das unendliche Bewusstsein<br />

sich selbst als ein Objekt betrachtet; besser wäre es, wenn dies nicht geschehen<br />

würde. Aber wenn dies geschehen ist, wird dieses Bewusstsein veräußerlicht<br />

und materialisiert. Das Gemüt selbst ist das Gewahrsein der Materie und<br />

bindet sich an den Körper. All diessind jedoch nur Ideen und verbale Zuschreibungen<br />

– all diese Unterscheidungen sind nur eingebildet. Das Selbst,<br />

welches Bewusstsein ist, wird niemals zu einem Objekt oder zu Materie.<br />

Sobald man in der Selbsterkenntnis verankert ist, werden sogar Worte wie<br />

„Bewusstsein“ und „Unbewusstsein“ bedeutungslos.<br />

Der materielle Körper entsteht aus dem subtilen mentalen Körper aufgrund<br />

von ständigem Daran-Denken. Materie ist folglich unwirklich. Durch ständiges<br />

Denken von „ich bin verwirrt, ich bin verrückt“ wird man verrückt; wenn<br />

man realisiert „ich bin nicht verrückt“, erlangt man sein mentales Gleichgewicht<br />

zurück. Wird der Traum als Traum erkannt, kann er einen nicht mehr<br />

an der Nase herumführen. So wie der subtile Körper durch beständiges Da-<br />

VI.2:49<br />

569


VI.2:50<br />

ran-Denken zu einem groben materiellen Körper wird, so kann dieser Prozess<br />

durch richtiges Denken rückgängig gemacht werden. Durch beständige rechte<br />

Kontemplation sollte man den subtilen Körper zu seinen wirklichen Zustand<br />

als jīva führen und dann hin zu Brahman.<br />

Solange und bis diese beiden (Materie und Gemüt, das Grobe und das Subtile)<br />

nicht als das eine unendliche Bewusstsein realisiert werden, sollte der<br />

weise Sucher danach streben, beide zu reinigen und ihre wahre Natur zu<br />

ergründen. Wer in der Selbsterkenntnis verankert ist, wird auch nicht durch<br />

die schlimmsten Unglücksfälle erschüttert – nicht einmal falls es Feuer und<br />

Schwefel regnen oder die Erde sich in Luft auflösen oder eine große Flut alles<br />

auf der Erde verschlucken sollte. Wer mit der höchsten Leidenschaftslosigkeit<br />

versehen ist, erfreut sich im diamantengleichen samÃdhi (vajra samÃdhi). Der<br />

innere Friede, den man aus solcher Leidenschaftslosigkeit erlangt, kann nicht<br />

verglichen werden mit dem Frieden, der aus Entsagungspraktiken usw. entsteht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle diese in den zehn Himmelsrichtungen gesehenen Wesen gehören einer<br />

oder mehreren der folgenden Kategorien an: Einige befinden sich im Traum-<br />

Wach-Zustand, andere in einem von Vorstellungen geprägten Wachzustand,<br />

andere wiederum in einem reinen Wachzustand; wieder andere befinden sich<br />

in einem langen Wachzustand, andere in einem groben Wachzustand, wiederum<br />

andere imZustand eines Wachtraums, während andere in einem abnehmenden<br />

Wachzustand leben.<br />

Oh Rāma, in einem gewissen früheren Weltzyklus, in einem bestimmten<br />

Winkel der Schöpfung verharren einige Wesen in einem Zustand des Tiefschlafs,<br />

obwohl sie lebendig sind. Die Träume, die sie träumen, erscheinen als<br />

dieses Universum. Sie befinden sich in was man den träumenden Wachzustand<br />

nennt. Wir alle sind ihre Traumobjekte. Aufgrund der Tatsache, dass ihr<br />

Traum sehr lange dauert, erscheint er uns real und als ein Wachzustand. Und<br />

in all diesem sind die Träumer weiterhin die jīvas. Da das Allgegenwärtige<br />

allwissendes Bewusstsein ist, existiert alles überall. Daher existieren wir als<br />

die Traumobjekte der Träume dieser ursprünglichen Träumer.<br />

In dieser Traumwelt wird man befreit, wenn man die Verblendung zurückweist.<br />

Oder man betrachtet sich selbst entsprechend der Idee, die man von<br />

sich hat, als einen anderen Körper. Die Welterscheinung, die aufgrund dieser<br />

Idee in Erscheinung tritt, wird dann von ihm auch so erfahren.<br />

In einem gewissen Weltzyklus an irgendeinem Ort lebten einige Wesen in<br />

einem Wachzustand, in dem sie verschiedene Vorstellungen hatten, die wiederum<br />

verschiedene Kreaturen entstehen ließen. Diese befinden sich in einem<br />

von Vorstellungen geprägten Wachzustand. Aufgrund der Nachhaltigkeit<br />

der Ideen, die sie entstehen ließen, sind sie fest darin verankert. Auch wenn<br />

diese Ideen aufhören, existieren sie doch aufgrund ihrer eigenen vergangenen<br />

Ideen fort.<br />

570


VI.2:51<br />

Diejenigen, die zu Beginn des expandierenden Bewusstseins Brahmās, als<br />

es weder Schlaf noch Traum gab, aufgetaucht sind, leben im reinen Wachzustand.<br />

Sie befinden sich, wenn sie durch weitere Wiederverkörperungen<br />

gehen, in einem langen oder fortgesetzten Wachzustand. Befinden sie sich<br />

dagegen in einem verdichteten Zustand von Bewusstsein, der Unbewusstsein<br />

ist, dann sagt man von ihnen, dass sie im groben Wachzustand sind.<br />

Diejenigen, die nach dem Anhören der Schriften den Wachzustand als<br />

Traum betrachten, befinden sich im Zustand des Wachtraums. Sobald sie voll<br />

erwacht sind und schließlich im höchsten Frieden ruhen, nimmt die Grobheit<br />

ihrer Wahrnehmung der Welt im Wachzustand ab. Diese, die sich in einem an<br />

Vergröberung abnehmenden Wachzustand befinden, erlangen dann turīya<br />

oder den vierten Zustand des Bewusstseins.<br />

Dies sind die sieben Zustände, in denen die verschiedenen Wesen existieren.<br />

In Wahrheit sind auch diese nur ein einziger Ozean des Bewusstseins, so<br />

wie die sieben Ozeane nichts als eine einzige Masse Wasser sind.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, wie entsteht der reine Wachzustand und wie existieren Wesen<br />

ohne irgendeine Ursache oder Beweggrund in einem solchen Zustand?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, ohne Ursache entsteht keine Wirkung. Der reine Wachzustand<br />

entsteht deshalb auch nicht, noch tritt der ganze Rest dieser scheinbaren<br />

Schöpfung überhaupt ins Dasein. Nichts wird erschaffen und nichtswird<br />

vernichtet– all diese Beschreibungen dienen nur der Unterweisung.<br />

RĀMA fragte erneut:<br />

Wer hat die Körper, das Gemüt usw. erschaffen und wer täuscht alle diese<br />

Wesen durch die Fesseln namens Freundschaft, Vorlieben usw.?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, Niemand erschafft diese Körper zu keiner Zeit, und niemand<br />

täuscht Wesen zu keiner Zeit. Bewusstsein ist anfangslos und ewig – es allein<br />

existiert als alle diese verschiedenen Wesen. Nichts befindet sich außerhalb<br />

dieses Bewusstseins, obgleich es als außerhalb von sich selbst erscheint.<br />

Dieser Anschein taucht auch in ihm selbst auf – wie ein Keimling aus dem<br />

Samen. Dieses Universum existiert innerhalb des Bewusstseins wie eine noch<br />

nicht herausgehauene Figur in einem Marmorblock. Dieses Bewusstsein ist<br />

überall, innen und außen. Es breitet sich aufgrund von Raum und Zeit als<br />

diese Welterscheinung aus – so wie sich der Duft der Blüten verbreitet. „Dies“<br />

selbst ist „die andere Welt“. Lasst uns diese mentale Konditionierung beenden,<br />

die eine andere Welt erschafft. Woher entstehen Ideen von anderen<br />

Welten, wenn sie aufgegeben worden sind?<br />

Das Selbst allein ist wirklich, ohne Konzepte wie Zeit, Raum und ähnliche<br />

Ideen; das Selbst jedoch ist keine Leerheit. Diese Wahrheit wird nur von<br />

denjenigen realisiert, die im höchsten Zustand verankert sind, aber nicht von<br />

571


denen, die im Ich-Sinn verweilen. Für jemanden, der die Wahrheit realisiert<br />

hat, sind die vierzehn Welten seine eigenen Glieder. In seiner Sichtweise hört<br />

die Trennung zwischen Traum- und Wachzustand auf. Sobald diese Welterscheinung<br />

als reines Bewusstsein gesehen wird, wird sie wie ein Traum. So<br />

wie alles ins Feuer geworfene eines (Asche) wird, so werden sämtliche Zustände<br />

zusammen mit der Welterscheinung durch das Feuer der Weisheit zu<br />

Einem reduziert.<br />

Das Bewusstsein allein erscheint als dieses grobe Universum. Sobald dies<br />

erkannt wird, hört der Glaube an die Existenz der Materie auf. Damit hört<br />

auch der Wunsch nach dem Besitz von Materie auf. Man lebt im eigenen inneren<br />

Frieden. Wird das Selbst weder als Welt noch als Leerheit erkannt, bleibt<br />

alles so, wie es wirklich ist. Der Weise der Selbsterkenntnis hat saæsāra<br />

überquert und das Ende allen karmas erreicht.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Vorstellung der Existenz der Welt taucht im Unwissenden so auf, wie<br />

das Gewahrsein seiner verschiedenen Äste im „Gemüt“ eines Baumes auftauchen<br />

mag! Diese illusorische Wahrnehmung einer objektiven Welt, genannt<br />

„avidyā“ oder „Unwissenheit“, existiert tatsächlich nicht – sie ist so real wie<br />

Wasser in einer Luftspiegelung (Klang ohne Substanz). Aber halte zum Zweck<br />

des klaren Verständnisses diese Unwissenheit einen Moment lang für real<br />

und höre zu. Danach wirst du verstehen, dass sie tatsächlich nicht existiert.<br />

Was immer hier erscheint, verdirbt am Ende des Weltzyklus. Niemand vermag<br />

diese totale Zerstörung abzuwenden. Nur Brahman existiert dann noch.<br />

Diese Erkenntnis ist nicht wie eine durch Drogen hervorgerufene Erfahrung,<br />

denn wir wissen mit Gewissheit, dass der Körper wie ein Traumobjekt ist und<br />

Bewusstsein allein real ist. Diese Welterscheinung verdirbt wieder und wieder.<br />

Was geht zugrunde und wie kommt es wieder und wieder ins Dasein?<br />

Wenn man davon ausgeht, dass alle diese Objekte irgendwo im Raum verborgen<br />

weiterexistieren, dann muss man auch zugeben, dass sie nicht einmal<br />

während der kosmischen Auflösungvernichtet wurden.<br />

Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen Ursache und Wirkung. Da es für diese<br />

Welterscheinung keine Ursache gibt, ist sie auch keine Wirkung. Eines allein<br />

ist. Die zahllosen Äste, Blätter, Blüten und Früchte des Baumes sind nur die<br />

Ausbreitung des winzigen Samens. Es gibt keinen Grund, eine kausale Verursachung<br />

zu erfinden. Der Same ist die einzige Realität. Sobald die Wahrheit<br />

ergründet wird, erkennen wir, dass das eine Bewusstsein allein als Wahrheit<br />

verbleibt.<br />

Am Ende des Weltzyklus hören alle diese Objekte der Wahrnehmung auf zu<br />

sein. Das eine Selbst, welches Bewusstsein ist, verbleibt als einziges und dies<br />

ist unbeschreiblich und jenseits von Denken und Erklärung. Nur der Weise<br />

der Selbsterkenntnis erfährt dies – andere lesen nur diese Worte. Denn da ist<br />

weder Raum noch Zeit, weder Sein noch Nicht-Sein, weder Bewusstsein noch<br />

Unbewusstsein. Ich habe dies hier auf negative Weise beschreiben, weil auch<br />

VI.2:52<br />

572


VI.2:53,<br />

54<br />

die Schriften dies so tun. In meiner Sichtweise ist es reiner und höchster<br />

Friede. In diesem existieren die unendlichen Möglichkeiten wie Figuren im<br />

unbehauenen Marmorblock. Das höchste Selbst ist daher zurselben Zeit<br />

mannigfaltig und nicht mannigfaltig. Nur wenn du keine Selbsterkenntnis<br />

besitzt, tauchen in dir Zweifel auf.<br />

Die Wahrnehmung von Vielfalt geschieht wegen der Getrenntheit, die im<br />

Selbst auftaucht. Das Selbst jedoch ist ohne jedwede Getrenntheit in Raum,<br />

Zeit usw. Das Selbst ist das Substratum und die ungeteilte Realität von Zeit,<br />

Raum usw. –so wie der Ozean aus Wellen besteht. Die Realität ist daher ungeteilt<br />

und geteilt, sie ist und ist nicht. Das nicht herausgehauene Bildnis im<br />

Marmorblock mag man irgendwann herausmeisseln, jedoch ist es unmöglich,<br />

die Welt aus dem unendlichen Bewusstsein herauszuholen. Obwohl es geteilt<br />

erscheint und doch ungeteilt ist, scheint es nur von der Totalität verschieden<br />

zu sein und ist doch nicht wirklich verschieden von dieser.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Realität ist das unendliche, ungeteilte Bewusstsein, welches, da es kein<br />

Objekt der Beobachtung ist, nichtkennbar ist. Brahmā, Viåņu, Rudra usw. sind<br />

Namen, die durch wiederholte Verwendung als real angesehen werden. Die<br />

Schöpfung, die weder eine Ursache noch einen Grund hat, ist inexistent. Jedoch<br />

vermag man weder mit Gewissheit zu sagen, dass da Nicht-Existenz ist,<br />

noch dass da etwas existiert.<br />

Wenn das eigene Gemüt in vollkommener Stillheit ruht, dann ist das, was<br />

ist, die Realität. In dieser Realität scheint die Welt zu sein. Die Welterscheinung<br />

entsteht nicht aus dem Nichts! Daher muss man schlussfolgern, dass<br />

Brahman allein ist – sogar in der Gestalt dieser Schöpfung. Die Schöpfung ist<br />

nichts als ein Wort, ein Name. Die Wirklichkeit ist Brahman. „Ich“, „du“ und<br />

„die Welt“ sind Namen, die in Brahman als Brahman existieren.<br />

Der Ozean, die Berge, die Wolken, Erde usw. sind alle das Ungeborene und<br />

unerschaffen. Dieses Universum existiert in Brahman als die Große Stille<br />

(kāåÂha mauna – die Stille eines Holzklotzes). Der Seher existiert in der Szene<br />

als Sehen – aufgrund seiner eigenen Natur. Der Täter existiert als Tat, denn es<br />

gibt für ihn keinen Grund, irgendetwas zu tun. Es gibt in ihm weder einen<br />

Kenner noch einen Täter, weder Leblosigkeit noch einen Erfahrenden, weder<br />

Leerheit noch Substanz. Leben und Tod, Wahrheit und Falschheit, Gut und<br />

Böse – alle diese sind von gleicher Substanz, wie Wellen im Ozean. Die Trennung<br />

zwischen dem Seher (Subjekt) und der Szene (dem Objekt) ist Fantasie.<br />

Die Ursache dieser Schöpfung ist nicht auffindbar, wie sehr man sich auch<br />

bemühen mag. Was ohne Grund und Ursache strahlt, ist gewiss inexistent, es<br />

sei denn als Illusion. Es existiert als es selbst und es erstrahlt, weil es selbst<br />

ist, ohne eine Schöpfer-Schöpfung-Beziehung.<br />

RĀMA fragte:<br />

573


Man sieht, wie im Samen des Banyan-Baumes der gesamte Baum verborgen<br />

liegt. Weshalb sollten wir dann nicht davon ausgehen, dass auch die Welt auf<br />

diese Weise in Brahman verborgen liegt?<br />

VASIåèHA antwortete:<br />

Die Möglichkeit einer solchen Schöpfung bestünde, falls ein solcher Same<br />

und die zusammenarbeitenden Ursachen existierenwürden. Wo sollten jedoch<br />

die Samenform und die zusammenarbeitenden Ursachen sein, wenn<br />

doch sämtliche Elemente während der kosmischen Auflösung aufgelöst werden?<br />

Wenn das unendliche, unteilbare Bewusstsein allein die Wahrheitist,<br />

gibt es weder Raum für die Existenz auch nur eines subatomaren Partikels<br />

und noch viel weniger für einen Samen dieser Schöpfung. Was auch immer<br />

das höchste Wesen ist, das ist auch dieses Universum. Das eine unendliche<br />

Bewusstsein ersinnt sich selbst als das falsche innerhalb des falschen und als<br />

reines Bewusstsein in reinem Bewusstsein. So wie Raum (Entfernung) im<br />

Raum existiert, so existiert all dies in Brahman.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Da es von Beginn an weder eine Ursache noch einen Beweggrund für das<br />

Erscheinen einer Schöpfung gab, gibt es weder Sein noch Nicht-Sein, weder<br />

grobe Materie noch subtiles Gemüt, weder bewegliche noch unbewegliche<br />

Objekte. Bewusstsein ist ohne Form und kann nicht diese Welt aus Namen<br />

und Formen erschaffen, da Ursache und Wirkung identisch sind und nur<br />

etwas, was selbst Form hat, sich selbst in andere Formen verwandeln oder<br />

solche erschaffen kann. Das Selbst bleibt allezeit das Selbst und fantasiert<br />

innerhalb des ungeteilten Bewusstseins all diese verschiedenen Objekte. Was<br />

auch immer dieses Bewusstsein als in sich selbst seiend erfährt, dass allein<br />

„nennt“ man dann die Welt oder diese Schöpfung.<br />

Wisse, dass das eine Brahman allein exisiterte, gänzlich friedvoll und homogen,<br />

bevor all dies geschah (d.h., wenn man realisiert, dass all dies unwirklich<br />

und inexistent ist). Unendliches Bewusstsein ist unendliches Bewusstsein,<br />

Wasser ist Wasser. Da diese „Schöpfung“ vom Bewusstsein heraufbeschworen<br />

wird, scheint sie auch so erschaffen zu sein. So wie die Welt, von<br />

der man träumt, eine illusorische Erscheinung im eigenen Bewusstsein ist, so<br />

erscheint im Wachzustand diese Welt im Bewusstsein als Bewusstsein.<br />

In der ursprünglichen Schöpfung nennt man den Traum des ungeteilten<br />

Bewusstseins den Wachzustand (die Welt, die im Wachzustand erfahren<br />

wird). Der Traum, der im Bewusstsein der Wesen, welche in dieser<br />

Unwissenheitentstehen, wird der Traumzustand genannt. Dieser fantasievolle<br />

Traum hat sich durch beständige Wiederholung in dieser Welt „materialisiert“.<br />

Der Fluss ist nichts als Bewegung von Wasser – die Schöpfung ist nichts<br />

als die Fantasie des unendlichen Bewusstseins.<br />

Es ist nicht richtig zu denken, dass „Tod“ ein Zustand von Seligkeit ist wegen<br />

der totalen Vernichtung des Selbst. Es ist vielmehr ein Zustand von Leerheit<br />

(wie Raum). Die Vision von saæsāra wird erneut auftauchen. Sollte es<br />

VI.2:55<br />

574


VI.2:56<br />

Furcht aufgrund böser Taten geben, dann sind die Konsequenzen hier oder<br />

„dort“ dieselben. Folglich gibt es keinen fundamentalen Unterschied zwischen<br />

Leben und Tod. Wen man dies weiß, erlangt man den Frieden des Gemüts.<br />

Wenn die Wahrnehmung der Vielfalt erlöscht, taucht die Vision des Einheit<br />

auf. Dies nennt man Befreiung. Ob diese Schöpfung ist oder nicht ist – es gibt<br />

dann sowohl ein vollkommenes Verstehen der Abwesenheit der Objekte wie<br />

auch die Erfahrung der Unteilbarkeit des Unendlichen. Werden aufgrund<br />

dessen das Objekt und auch das Subjekt beiseite gelegt, dann herrscht großer<br />

Frieden. Im höchsten Selbst natürlich gibt es weder Bindung noch Befreiung.<br />

Wer diese Wahrheit zu realisieren vermag, erlangt nirvāņa. Diese Welterscheinung,<br />

die nichts als eine leichte Bewegung im Bewusstsein ist, wird von<br />

diesem Menschen ebenfalls als nirvāņa realisiert. Er erkennt, dass diese<br />

Schöpfung keine Vielfalt, sondern in Wahrheit reines Brahman allein ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die reine Leerheit existiert überall auf jede nur denkbare Weise immer in<br />

diesem Raum, der Bewusstsein ist. Bewusstsein existiert hier und anderswo<br />

in der Gestalt dieser Schöpfung – nirgendwo gibt es Unbewusstsein, weil all<br />

dies nur reines Bewusstsein ist. Sogar das, was Materie zu sein scheint, ist<br />

nichts als reines Bewusstsein. Höre dir in diesem Zusammenhang, oh Rāma,<br />

die folgende Geschichte vom Felsen an, den ich selbst gesehen habe.<br />

Einmal wollte ich sämtlichen Tätigkeiten in dieser Welt entsagen, nachdem<br />

ich klar verstanden hatte, was es zu wissen gab. Ich wollte unaufhörlich und<br />

ohne Unterbrechung in völliger Abgeschiedenheit meditieren. Ich zog mich<br />

an einen einsamen Ort zurück und dachte wie folgt nach:<br />

Die gesamte Welt ist wertlos und ohne Belang. Nichts in dieser Welt kann<br />

mir auch nur das geringste Glück geben. Was sehe ich und wer bin ich? Um<br />

die richtigen Antworten zu finden, muss ich an einen Ort gehen, der weder<br />

von Dämonen noch von Göttern erreicht werden kann und dort in völliger<br />

Abgeschiedenheit ohne Furcht vor Ablenkung meditieren.<br />

Wo finde ich einen solchen Ort? Die Wälder sind erfüllt vom Lärm der fließenden<br />

Gewässer und der umherstreifenden Löwen. So wie die Stadt voll<br />

Menschen und Störung ist, so ist auch der Ozean voll von den verschiedensten<br />

Ablenkungen. Nicht einmal die Höhlen sind frei von Ablenkung – in ihnen<br />

ertönt das Heulen des Windes, und sie sind voll Schlingpflanzen usw. Die Seen<br />

sind oftmals Tummelplatz der Menschen wie auch der Himmelsbewohner<br />

und Dämonen und deshalb voller Ablenkungen. Nachdem ich so all die Orte<br />

auf Erden geprüft hatte, entschloss ich mich, ins Weltall zu gehen. Aber selbst<br />

dort fand ich Ablenkungen vor, verursacht durch Wolken, Himmelsbewohner<br />

und Dämonen, astrale Körper und abgeschiedene Seelen.<br />

Nachdem ich alle diese Orte verlassen hatte, ging ich zu einem einsamen<br />

Ort; weit, weit weg, nicht einmal die natürlichen Elemente waren dort vorzufinden.<br />

An diesem einsamen Platz stellte ich mir so dann eine Einsiedelei vor.<br />

Ich machte sie mit Hilfe meines eigenen Gemüts unzugänglich für andere<br />

575


Lebewesen. Ich setzte mich in die Lotosposition. Mein Gemüt machte ich ganz<br />

still. Ich entschloss mich, in dieser Position für hundert Jahre in samÃdhi zu<br />

sitzen. Entsprechend dem Gesetz, dass man erblickt, woran man sehr lange<br />

denkt, materialisierten sich meine Fantasiewünsche und breiteten sich vor<br />

meinen Augen aus. Die hundert Jahre vergingen wie im Nu, denn wenn das<br />

eigene Gemüt vollkommen konzentriert ist, nimmt man die Zeit nicht mehr<br />

wahr.<br />

Als diese Periode endete, begann mein Gemüt sich zu erweitern und auszubreiten.<br />

Sämtliche Kobolde von „ich“ und „du“ krochen auf mich zu, zusammen<br />

mit der Lebenskraft, die sich in mir zu regen begann. Im selben Augenblick<br />

entstandenWünsche in meinem Herz und ich konnte nicht sagen, woher<br />

und wie sie kamen!<br />

RĀMA fragte:<br />

Oh Weiser, wie kam es, dass der Ich-Sinn sogar im Falle der Person, die im<br />

nirvāņa verankert ist, auftauchen konnte?<br />

VASIåèHA antwortete:<br />

Der Körper kann ohne den Ich-Sinn nicht existieren, und dies gilt unabhängig<br />

davon, ob einer ein Wissender ist oder nicht. Was am Leben erhalten<br />

werden muss, bedarf einer Grundlage und kann ohne sie nicht existieren. Es<br />

gibt da jedoch einen entscheidenden Unterschied, den ich dir nun erläutern<br />

werde.<br />

Der kleine Knabe genannt „Unwissenheit“ hat diesen Kobold genannt „Ich-<br />

Sinn“, der in uns zu existieren scheint und nicht erkannt wird, erschaffen.<br />

Diese Unwissenheit ist eine Nicht-Wesenheit, da sie bei Ergründung als nichtexistierend<br />

erkannt wird; Dunkelheit existiert nicht, wenn man sie mit einer<br />

Lampe sucht. Sobald man nach diesem Kobold namens Unwissenheit Ausschau<br />

hält, ist er unauffindbar. In der Abwesenheit der Ergründung jedoch<br />

und so lange man an ihn glaubt und sich von ihm beeinflussen lässt, breitet er<br />

sich aus und setzt sich fest. Diese Welt wird von dieser Unwissenheit erschaffen,<br />

die nur für den Unwissenden real ist; sie ist aber nicht real. Dieses (unendliches<br />

Bewusstsein oder Brahman) ist jenseits des Gemüts und der Sinne<br />

und kann daher nicht die Samenursache für die Existenz von etwas sein, was<br />

das Objekt des Gemüts und der Sinne ist. Wie kann es einen Keimling geben,<br />

wenn kein Same existiert?<br />

In diesem unendlichen Bewusstsein ist das, was als das erschaffene Universum<br />

erscheint, eine bloße Fantasie. Dieses Bewusstsein allein nennt man<br />

ýśvara oder Gott und auch diese Schöpfung. Es ist wie eine eigene Traumschöpfung,<br />

was für jedermann eine Alltagserfahrung ist. Weil der Träumer ein<br />

bewusstes Wesen ist, scheinen die Traumobjekte eine eigene Intelligenz und<br />

ein eigenes Gemüt zu besitzen. Auf dieselbe Weise scheint diese Nicht-<br />

Schöpfung namens Universum unabhängiges Sein und eigene Intelligenz zu<br />

besitzen – als ob es erschaffen worden wäre. Aber da existiert keine Schöpfung<br />

als solche – das eine Brahman existiert als Brahman. Welche Idee auch<br />

VI.2:57<br />

576


VI.2:58,<br />

59<br />

immer in diesem Brahman auftaucht, wird von Brahman wie ein Objekt der<br />

Erfahrung erfahren. Dieses Brahman selbst bildet sich ein, dass all dies<br />

„Schöpfung“ ist. Aber der Erfahrende, das Erfahren und die Erfahrung ist<br />

eines und unteilbar. Und genau so sind Brahman, die Idee der Schöpfung<br />

sowie die Schöpfung selbst nichts als Brahman. Wie kann dann der Ich-Sinn<br />

oder die falsche Idee des „ich“ auftauchen?<br />

So habe ich dir nun also erklärt, wie man dieses Gespenst des Ich-Sinns, das<br />

bei rechtem Verstehen verschwindet, zu Fall bringt. Der Ich-Sinn wurde von<br />

mir klar und auf die rechte Weise erkannt. Und selbst wenn er auch jetzt noch<br />

in mir aufzutauchen scheint, so ist er doch wirkungslos wie gemaltes Feuer.<br />

So bin ich den Ich-Sinn losgeworden. Ich existiere im Raum, als wäre ich<br />

außerhalb davon und in der Schöpfung so, als wäre ich außerhalb von ihr.<br />

Weder gehöre ich zum Ich-Sinn, noch gehört dieser zu mir oder existiert in<br />

mir. In meiner Sichtweise bin ich nicht noch gibt es da andere – alles ist und<br />

nichts ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Geschichte vom Felsen, die ich dir nun erzählen werde, oh Rāma, wird<br />

gänzlich klar machen, wie es innerhalb eines Felsens tausende von Schöpfungen<br />

gibt. Auch in diesem physischen Raum gibt es zahllose Schöpfungen.<br />

Tatsächlich existieren in jedem Element oder Objekt zahllose Kreaturen.<br />

Jedoch existieren sie alle nicht als reale Substanzen oder Wesenheiten, sondern<br />

nur in diesem unteilbaren, unendlichen Bewusstsein. Von Beginn an<br />

wurde nichts jegeschaffen. Brahman allein existiert als Brahman, als Raum,<br />

Luft, Feuer, Wasser, Erde, Berge usw. Zwischen Brahman und der Schöpfung<br />

gibt es keine Getrenntheit oder Dualität, denn dies sind nur Worte ohne Bedeutung.<br />

Sogar „Einheit“ und „Dualität“ sind nur bedeutungslose Worte. Das,<br />

was diese Ideen von Einheit und Dualität erschafft, erschafft auch die Ideen<br />

von Brahman und der Schöpfung. Wenn diese Ideen aufgehört haben, gibt es<br />

da einen großen inneren Frieden, selbst wenn man noch tätig ist. Alles ist<br />

nirvāņa. Die wahrgenommene Schöpfung ist wie der Himmel (leer, obgleich<br />

scheinbar mit Form und Farbe). Gewahre das gesamte Universum wie aus dir,<br />

mir, Bergen, Göttern und Dämonen usw. zusammengesetzt, so wie du auch<br />

die Schöpfungen und Ereignisse eines Traums wahrnimmst.<br />

* * *<br />

Die Welt im Felsen<br />

Nachdem ich einhundert Jahre im samÃdhi verblieben war, kehrte ich ins<br />

Körperbewusstsein zurück und vernahm ein Seufzen. Ich lauschte und ver-<br />

577


suchte herauszufinden, was es sein könnte. Ich befand mich weit, weit weg im<br />

Weltall und fragte mich daher, wie mir hier eine Person oder auch nur eine<br />

Biene so nahe sein könnte? Außerdem vermochte ich niemanden zu sehen.<br />

Ich entschloss mich, die Sache näher zu untersuchen. Ich ging daher erneut in<br />

samÃdhi. Ich brachte Gemüt und Sinne zur Ruhe. Ich verschmolz mit dem<br />

unendlichen Bewusstsein. Ich sah in diesem Bewusstsein das Spiegelbild von<br />

zahllosen Universen. Ich konnte überall hingehen und alles betrachten. Ich<br />

sah zahllose Schöpfungen, die voneinander nicht das Geringste wussten.<br />

Einige traten gerade ins Dasein, während andere im Begriff waren unterzugehen.<br />

Alle besaßen verschiedene, abschirmende Atmosphären um sich herum<br />

(fünf bis zu sechsunddreißig solcher Atmosphären). In jedem fanden sich<br />

andere Elemente, die wiederum von verschiedenen Arten von Wesen in verschiedenen<br />

Stadien der Evolution mit unterschiedlichen Naturen und Kulturen<br />

bewohnt waren. Manche trugen weitere Universen in sich, während andere<br />

Kreaturen enthielten, deren Existenz du nicht einmal für möglich halten<br />

würdest. In einigen gab es eine anscheinend natürliche Ordnung, während<br />

andere sich in gänzlicher Unordnung befanden. Manche kannten kein Licht<br />

und hatten daher auch kein Zeitempfinden. All dies war die Frucht des einen,<br />

unteilbaren Bewusstseins. Wie und wann sie aufgetaucht sind, ist unmöglich<br />

festzustellen. Nur eines ist gewiss – sie sind die Schöpfungen der Unwissenheit.<br />

In dieser Schöpfung sind die Götter und Dämonen so zahlreich wie Moskitos.<br />

Ob man diese Universen nun als die Schöpfungen des höchsten Schöpfers<br />

oder als falsche Ideen erachtet, so ist es doch gewiss, dass sie tatsächlich<br />

das unendliche Bewusstsein sind, nicht-verschieden und nicht unabhängig<br />

von diesem. Sie ruhen wie leblose Realitäten in den Beschreibungen der<br />

Schriften. Auf diese Weise gewahrte ich all diese unendlichen Schöpfungen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Schließlich richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die Ursache des Seufzens.<br />

Ich sah eine Frau, die strahlte und alle Himmelsrichtungen erleuchtete.<br />

Sie war in höchstem Maße kultiviert. Sie kaum freundlich auf mich zu und<br />

sprach mit süßer Stimme: „Oh Weiser, du hast wahrhaftig das Böse wie die<br />

Lust, den Zorn und die Gier überwunden. Dein Gemüt ist völlig frei und unangehaftet.<br />

Ich grüße dich und verehre dich.“ Da ich nun wusste, woher der<br />

Seufzer kam, entschloss ich mich weiterzugehen, da ich mit dieser Frau nichts<br />

zu tun hatte.<br />

Ich sah dann viele Universen, deren Vielfalt meine Neugier erweckte. Ich<br />

wollte mehr und mehr von dem Glanz dieser Schöpfungen sehen. Nach einiger<br />

Zeit gab ich diese Idee auf, da ich wusste, dass es nur Illusion ist, und ich<br />

verblieb im unendlichen Bewusstsein. Unverzüglich verschwanden alle diese<br />

Wahrnehmungen von Vielfalt. Es gab da nur noch reines Bewusstsein und<br />

nichts sonst. Dies ist die Wahrheit – alles andere ist Einbildung, Vorstellung,<br />

Verblendung oder illusorische Wahrnehmung.<br />

Weil die gesamte Schöpfung von dieser Unwissenheit oder Verblendung<br />

eingehüllt ist, wissen die Bewohner einer Schöpfung oder eines Universums<br />

VI.2:60<br />

578


VI.2:60,<br />

61<br />

oder einer bestimmten Welt nichts von der Existenz der anderen. Diese verschiedenen<br />

Welten sind der Ideen oder Schöpfungen anderer nicht gewahr –<br />

so wie die im selben Raum schlafenden Leute die Schlachtrufe nicht wahrnehmen,<br />

die sich in den Träumen der anderen abspielen. Ich sah in diesen<br />

Universen tausende von Brahmās, Viåņus und Rudras. Alle befanden sich im<br />

Bewusstsein, waren Bewusstsein, und Bewusstsein allein ist all dieses – daher<br />

sah ich all dieses nur als Bewusstsein und nichts anderes.<br />

Rāma, wenn du etwas betrachtest und sagst: „Dies ist so und so“, leuchtet<br />

nur Bewusstsein als „so und so“, wobei in Wahrheit dieses Bewusstsein allein<br />

als es selbst existiert; Namen und Formen dagegen existieren da nicht. Nur<br />

dieser Raum oder diese Ebene des Bewusstseins existiert überall und immer,<br />

und das nennt man dann die Welt. Die Wahrnehmung von Objekten hier (was<br />

wir dann als das Wissen über dieses Objekt bezeichnen) ist die einzige Unwissenheit<br />

oder Täuschung. Ich erkannte ferner, dass Raum oder die Ebene<br />

des Bewusstseins allein existiert. Mit erleuchteter Intelligenz erfuhr ich außerdem<br />

die letztgültige Wahrheit über all dieses – nämlich dass all dies reines,<br />

unteilbares, unendliches Bewusstsein ist. Aufgrund der Beharrlichkeit<br />

der wahrgenommenen Vielfalt sah ich darin zahllose Vāsi«Âhas, zahllose Zeitalter<br />

und Weltzyklen und viele Äonen, in denen Rāma wirkte. All dies kommt<br />

zum Vorschein, wenn die Wahrnehmung von Vielfalt entsteht. Sobald aber die<br />

Realisation der Wahrheit auftaucht, wird alles als reines, unteilbares, unendliches<br />

Bewusstsein gesehen. Im Unendlichen gibt es natürlich weder Namen<br />

noch Formen, auf die man sich als „dies ist die Welt oder die Schöpfung“<br />

beziehen könnte. Brahman allein existiert als Brahman.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Brahman ist eins, und all dies sind Erscheinungen, die im Licht von Brahman<br />

manifest werden, ohne dass dieses die Absicht dazu hegt. Aufgrund<br />

dessen taucht dann die großartige Vielfalt der Erfahrungen auf. Zum Beispiel<br />

mag es dann in manchen Universen heißes Mondlicht und kühles Sonnenlicht,<br />

gute Sicht in der Dunkelheit und Blindheit im Tageslicht, Gutes das<br />

zerstört und Böses das erschafft, gesundmachende Gifte und tödlichen Nektar<br />

geben. Dies geschieht entsprechend den Ideen, die im Bewusstsein auftauchen.<br />

In manchen Universen gibt es keine Frauen und daher keine Sexualität,<br />

während in anderen herzlose Leute leben. In manchen Universen besitzen die<br />

Leute nicht ein einziges Sinnesorgan. In anderen existieren nur ein oder zwei<br />

der Naturelemente, und doch werden sie von Lebewesen bewohnt, die sich<br />

an die dort herrschenden Bedingungen angepasst haben.<br />

All dies taucht als Bewusstsein im Bewusstsein durch Bewusstsein auf –<br />

genannt wird dies dann das Gemüt.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie konnte überhaupt die Idee einer nächsten Schöpfung entstehen, wenn<br />

doch alles am Ende des Weltzyklus und während der kosmischen Auflösung<br />

Befreiung erlangt:<br />

579


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, Brahman ist eine unbeschreibbare Masse kosmischen Bewusstseins.<br />

Die Schöpfung ist sein eigentliches Herz und deshalb nicht verschieden<br />

von ihm. Sie wird auf mysteriöse, nicht reale Weise als Schöpfung wahrgenommen.<br />

Wenn die Schöpfung falsch ist, wie kann man behaupten, dass sie<br />

eines Tages wieder vergehen wird? Auch die kosmische Auflösung usw. sind<br />

sozusagen nur Glieder von Brahman. Solche Einteilungen tauchen nur in der<br />

Unwissenheit auf. Folglich stirbt und vergeht weder etwas zu irgendeinem<br />

Zeitpunkt noch tritt irgendetwas ins Dasein. Die höchste Wahrheit oder Bewusstsein<br />

ist unzerstörbar durch Waffen, Feuer, Wind und Wasser. Sie wird<br />

nicht von denen realisiert, die nichts von ihr wissen. Das Universum, welches<br />

das Herz dieser Wahrheit ist, ist wie diese – weder wurde es geboren noch<br />

wird es vergehen. Die Erfahrung seiner Existenz oder Nicht-Existenz taucht<br />

zusammen mit dem Erscheinen und Aufhören der entsprechenden Idee auf.<br />

Daher sind Worte wie „Weltzyklus“, „kosmische Auflösung“ usw. nur Klänge<br />

ohne Substanz. Das Gespenst erscheint und verschwindet nur im Herzen<br />

desjenigen, der an es glaubt. Was als Geburt, Tod, Schmerz, Vergnügen, Form<br />

und Formlosigkeit gesehen wird, sind nur die Glieder des einen Wesens.<br />

Unter ihnen gibt es keinerlei Getrenntheit, so wie es unter den verschiedenen<br />

Teilen eines Baumes keine Getrenntheit geben kann. Wenn diese Wahrheit<br />

nicht erkannt wird, taucht diese scheinbare Getrenntheit auf. In Brahman gibt<br />

es weder Wissen noch Unwissenheit – es ist jenseits von Bindung und Befreiung.<br />

Diese Erkenntnis ist Befreiung.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hast du all dieses von dem Ort aus gesehen, an dem du dich befandest, oder<br />

bist du umhergeschweift?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ich hatte bereits das unendliche Bewusstsein erlangt. In diesem gibt es kein<br />

Kommen und Gehen. Weder blieb ich an diesem einen Ort noch schweifte ich<br />

umher. Ich war Zeuge von all dem innerhalb des Selbst, welches die Form<br />

dessen angenommen hatte, was ich als Zeuge wahrnahm. So wie du deinen<br />

Körper von Kopf bis Fuß sogar mit geschlossenen Augen zu sehen vermagst,<br />

so sah ich alles mit dem Auge des Bewusstseins. Es ist wie ein Traum: Was<br />

auch immer in dem Traum erfahren wird, ist reiner Raum (Dimension) des<br />

Bewusstseins. Ich gewahre all dieses auch jetzt, weil ich erleuchtet bin. Ich<br />

bin eins mit all den erleuchteten Wesen, ich kenne sie als mein eigenes Selbst<br />

ohne die Getrenntheit von Subjekt, Objekt und Beobachtung, da nur das eine<br />

Bewusstsein als Unteilbares existiert.<br />

Als Antwort auf die Frage betreffend die Dame antwortete VASIåèHA:<br />

Auch sie stand mit einem Raumkörper zusammen mit mir im Raum. Ich hatte<br />

sie zuvor nicht bemerkt. Obgleich sie einen Raumkörper besaß, konnte sie<br />

mit mir, der ich ebenfalls einen Raumkörper besaß, auf kultivierte Weise und<br />

mit angenehmer Redeweise kommunizieren, wie wenn man im Traum mit<br />

VI.2:62<br />

580


VI.2:63<br />

jemand anderem spricht. Wie kannst du dich der Existenz der inneren Sinne<br />

vergewissern? Ähnlich diesen hatten wir Körper. Wahr ist dies in meinem<br />

Fall, in ihrem, in deinem und allen sonstigen. So wie man im Traum Kriege<br />

erlebt, so erfahren die Menschen die Ereignisse in dieser Schöpfung als etwas<br />

Reales. Alle Vergleiche jedoch sind unangemessen – Wahrheit ist jenseits der<br />

Worte. Wenn man gefragt wird: „Wie siehst du einen Traum?“ kann man nur<br />

antworten: „So wie du ihn siehst“. All dies dient nur deinem Verständnis. Die<br />

Wahrheit besteht darin, dass dieses Universum wie auch alles von dir im<br />

Traum gesehene nichts als Brahman ist.<br />

Einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Traumzustand und dieser<br />

sichtbaren Schöpfung gibt es nicht. Die Erfahrung, die unmittelbar dem<br />

Wachzustand vorausgeht, wird Traum genannt; die Erfahrung oder Wahrnehmung,<br />

die zu Beginn der Welterschaffung aufsteigt, wird Wachzustand<br />

genannt. Die Erfahrung der Existenz der Welt ist ein langer Traum oder eine<br />

Leerheit. Sie ist reines Bewusstsein, weil sie in der ewiglichen Wirklichkeit<br />

wurzelt. Du bist der Zeuge oder Beobachter deines eigenen Traums – eben so<br />

ist das unendliche Bewusstsein der Beobachter dieses langen Traums namens<br />

Schöpfung. So wie der Beobachter und das Beobachtete Bewusstsein<br />

sind, so ist auch das in der Mitte befindliche (die Beobachtung) ebenfalls das<br />

reine, unteilbare und unmodifizierte Brahman. Da dies der Fall ist, wie kann<br />

die Schöpfung als solide, substanziell oder materiell erachtet werden? Sogar<br />

der Traum verkörperter (formhafter) Wesen wie du ist immateriell. Wie kann<br />

dann der lange Traum des unendlichen Bewusstseins, der keine Form besitzt,<br />

Form haben? Daher gibt es allein das unerschaffene Brahman.<br />

RĀMA fragte:<br />

Oh Weiser, wie konnte die formlose Frau Worte sprechen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Natürlich vermögen diejenigen, die mit einem Raumkörper versehen sind,<br />

keine hörbaren Töne von sich zu geben. Wenn dies möglich wäre, würden<br />

andere, die neben dir schlafen, die Gespräche in deinem Traum hören. Es ist<br />

daher klar, dass alles in einem Traum gesehene eine Illusion ist, die auf reinem<br />

Bewusstsein allein basiert. Was im Wachzustand erfahren wird, ist wiederum<br />

nicht gänzlich verschieden von der Traumerfahrung. Es ist nichts als<br />

ein Spiel des Bewusstseins – in diesem Bewusstsein auftauchende Ideen<br />

scheinen in eine solide Realität gekleidet zu sein.<br />

Die Samen der vergangenen Erfahrungen liegen im Bewusstsein und daraus<br />

sprießen neue Erfahrungen, die manchmal identisch mit vergangenen Erfahrungen<br />

und manchmal auch andersartig sind. Die Welten, die so aus diesen<br />

Samen hervorgehen, sind einander nicht gewahr. Im Verlaufe des Lebens in<br />

diesen Traumwelten werden die Dämonen von Göttern getötet und verbleiben<br />

dann in ihrem eigenen Traumzustand. Da sie nicht erleuchtet sind, erlangen<br />

sie keine Befreiung. Da sie nicht nicht-fühlend sind, werden sie nicht<br />

nicht-fühlend, sondern behalten ihr Gewahrsein. Daher leben sie in einem<br />

Raumkörper in einer Traumwelt. Dies ist auch bei den so genannten mensch-<br />

581


lichen Wesen der Fall. Ihre Welt, ihr Leben und ihre Mentalität sind wie die<br />

unseren und umgekehrt. Wir existieren als ihre Traumobjekte. Sie betrachten<br />

ihre Mitmenschen wie reale Wesen, obgleich auch diese nur Traumobjekte<br />

sind. Auf dieselbe Weise sind sämtliche Objekte, die in meinen Träumen erscheinen,<br />

für mich real.<br />

Wegen der eigentlichen Natur des unendlichen Bewusstseins scheinen diese<br />

Traumschöpfungen auch im Wachzustand zu existieren. Ihre Realität ist<br />

selbstverständlich Brahman, die einzige Realität. Alles existiert überall und<br />

immer als das unteilbare, reine Bewusstsein; aber es ist nichts, und deshalb<br />

wird nichts zerstört. Im ewigen Raum (Dimension) des unendlichen Bewusstsein,<br />

im unendlichen Spiel des Unendlichen, gibt es unendliche Gemüter<br />

und in diesen unendliche Welten. In jeder einzelnen befinden sich Kontinente<br />

und Berge, Dörfer und Städte, bewohnt von Menschen, die ihre eigene Zeit<br />

und Lebensspanne haben. Wenn diese jīvas das Ende der Lebensspanne erreichen,<br />

existieren sie, sofern sie nicht erleuchtet sind, im unendlichen Raum<br />

fort und erschaffen ihre eigenen Traumwelten. Innerhalb von diesen befinden<br />

sich wiederum andere Leute mit Gemütern; in diesem Gemütern sind wiederum<br />

weitere Welten, in denen sich noch mehr Leute befinden usw., ad infinitum.<br />

Diese illusorische Erscheinung hat keinen Anfang und kein Ende – sie ist<br />

Brahman und nichts als Brahman. Oh Rāma, in all diesen verschiedenen Objekten<br />

gibt es nichts als reines Bewusstsein. Dieses Universum ist nichts als<br />

Bewusstsein. Wie kann man dann sagen, dass es da Welten gäbe, die scheinbar<br />

in den Gemütern der Unwissenden existieren?<br />

Von Vāsi«Âha danach gefragt, wer sie sei, antwortete die HIMMELSBEWOH-<br />

NERIN:<br />

Oh Weiser, in diesem ungeheuren Universum, in einer Ecke, ist diese Welt,<br />

in der du lebst. Jenseits der Grenzen dieses Universums sind Berge, die als die<br />

Lokāloka-Berge bekannt sind. In dieser Region herrschen alle Arten von<br />

klimatischen Bedingungen und Kombinationen und Verwandlungsformen der<br />

Elemente. (Die Beschreibung im Text dazu ist ausführlich und sehr interessant.)<br />

Irgendwo darin leben nur menschliche Wesen, während woanders nur<br />

Götter leben. Es gibt darin Kobolde als auch äußerst langlebige Wesen. Es<br />

existieren darin hell erleuchtete Orte und andere, wo äußerste Finsternis<br />

herrscht, fruchtbare Äcker und Wüsten, dicht bewohnte und unbewohnte<br />

Gebiete.<br />

Ich wohne in einem massiven Felsen, der an den nordwestlichen Hängen<br />

der genannten Bergkette liegt. Schicksalhaft bin ich an ein Leben im Herzen<br />

dieses Felsens gebunden. Darin lebe ich seit zahllosen Äonen. Meinem Gemahl<br />

ist es ebenfalls bestimmt, dort zu leben. Bis heute waren wir aufgrund<br />

unserer intensiven Wünsche (kāma) und unserer großen Anhänglichkeit<br />

füreinander nicht fähig, Befreiung zu erlangen. Ähnlich ist auch das Schicksal<br />

unserer Verwandten.<br />

VI.2:64<br />

582


VI.2:65<br />

Mein Gemahl, der in dieser Bindung leben muss, ist von Geburt ein<br />

Brāhmaņe. Er stammt aus alter Zeit. Er verlässt niemals seinen Sitzplatz,<br />

obwohl er dort schon seit zahllosen Jahrhunderten sitzt. Er lebte von Geburt<br />

an im Zölibat (er ist ein brahmācarī), ist gelehrt und träge. Er lebt in der Abgeschiedenheit,<br />

da er niemals durch Verlangen nach Vergnügen erregt wird.<br />

Als seine Frau führe ich ein elendes Leben, und doch vermag ich nicht, einen<br />

einzigen Moment lang ohne ihn zu sein.<br />

Ich werde dir nun erzählen, wie ich seine Frau wurde. Als er jung war, war<br />

er innerlich teilweise erwacht. Er wünschte sich eine Frau, die ihm bei seiner<br />

spirituellen Suche behilflich sei. Aus diesem Wunsch heraus wurde ich geboren<br />

– ein mentales Wesen, das seine mentale Frau werden sollte. So wuchs ich<br />

zu einer jungen Frau heran. Ich begann mich am Hören guter Musik zu erfreuen<br />

und vergnügte mich auf die verschiedenste Art und Weise.<br />

Ich unterstütze nicht nur meinen Gemahl, sondern auch die drei Welten, die<br />

in ihm existieren. Obwohl ich heranreifte und mein Körper in Schönheit und<br />

Jugend erblühte, verblieb mein Gemahl über lange Zeiträume hinweg im<br />

Zustand des Tiefschlafs oder war mit religiösen Aktivitäten befasst. Er vollzog<br />

unsere Ehe nicht, obwohl es mich die ganze Zeit über so sehr nach dem Vollzug<br />

verlangt. Ich brenne vor Verlangen. Meine Dienerinnen tun ihr Bestes, um<br />

mein Leiden zu erleichtern, aber all ihre Bemühungen vergrössern nur meine<br />

Pein. Brennend vor Verlangen vergieße ich unaufhörlich Tränen. Oh Weiser,<br />

es gibt hier herrliche Blumen und kühlen Schnee überall, aber da ich in der<br />

Hitze des Verlangens brenne, erfahre ich sie nur wie nutzlose Asche. Wenn ich<br />

in meinem Bett liege, bedeckt mit Blüten und Girlanden zu meiner Freude<br />

und zu meinem Genuss, dann erfahre ich trotzdem nur Leere und Trockenheit;<br />

meine Jugend wird verschwendet.<br />

Die HIMMELSBEWOHNERIN fuhr fort:<br />

Nach einer sehr langen Zeit wurden aus der Anhänglichkeit und Zuneigung,<br />

die ich für meinen Gemahl empfand, Nicht-Anhaftung und Leidenschaftslosigkeit.<br />

Mein Gemahl war alt geworden und interessierte sich nur noch für die<br />

Abgeschiedenheit. Er war ohne jede Anhaftungen und besaß keinerlei Geschmack<br />

an sinnlichen Vergnügungen; immer blieb er still. Welchen Sinn hat<br />

ein solches Leben für mich? Ich betrachte, eine Kindwitwe zu sein, den Tod<br />

und die Krankheit oder sogar das schlimmste Unglück als besser als die Gegenwart<br />

eines Ehemannes, dessen Herz nicht nach dem meinen verlangt.<br />

Gewiss ist doch dies der größte Segen und die schönste Blüte des Lebens<br />

einer Frau, wenn sie einen Mann findet, der sich des Lebens erfreut und ein<br />

angenehmes und liebevolles Verhalten besitzt.<br />

Eine Frau, deren Mann sich des Lebens nicht erfreut, ist frustriert. Der unkultivierte<br />

Intellekt ist zerstörerisch. Reichtum, der in die Hände schlechter<br />

Menschen fällt, bedeutet Unheil. Wenn die eigene Scham durch eine Prostituierte<br />

ausgelöscht ist, entsteht großer Schaden. Eine wahre Ehefrau folgt ihrem<br />

Ehemann. Wahrer Reichtum sucht gute Menschen. Wahre Intelligenz ist<br />

liebevoll und unbegrenzt, edel und mit Gleichmut ausgestattet.<br />

583


Wenn Ehemann und Ehefrau sich lieben, dann können weder körperliche<br />

noch gemütsmäßige Krankheiten, weder Schwierigkeiten noch natürliche<br />

Katastrophen ihr Gemüt beeinflussen. Für die Frau, deren Gemahl einen<br />

schlechtem Charakter hat oder die keinen Gemahl hat, sind die Lustgärten<br />

der Welt wie brennender Sand. Eine Frau kann alles in dieser Welt aus dem<br />

einen oder anderen Grunde aufgeben, aber sie kann nicht ihren Gemahl aufgeben.<br />

Du siehst also selbst, oh Weiser, welches Unglück ich in all den Jahren ertragen<br />

musste. Nun aber habe ich die Leidenschaftslosigkeit kultiviert. Jetzt habe<br />

ich nur noch den einen Wunsch – eine Unterweisung von dir, um nirvāņa zu<br />

erlangen. Der Tod wird von demjenigen dem Leben vorgezogen, dessen Wünsche<br />

hier unerfüllt geblieben sind, dessen Herz unruhig ist und der langsam<br />

dem Tode entgegengeht. Auch meinen Gemahl verlangt es nach nirvāņa. Er<br />

strebt danach, das Gemüt mit Hilfe des Gemüts zu beherrschen. Hoher Herr,<br />

erwecke doch bitte in uns beiden die Selbsterkenntnis durch deine Worte der<br />

höchsten Weisheit.<br />

Weil mein Gemahl kein Interesse an mir hat, habe ich die Leidenschaftslosigkeit<br />

entwickelt. Die mentale Konditionierung wurde schwächer und ich<br />

praktizierte <strong>Yoga</strong>, wodurch ich Kontrolle über den Äther erlangte, so dass ich<br />

mich in demselben bewegen kann. Dann habe ich eine Konzentrationspraxis<br />

geübt, die mich mit den vollkommenen Wesen zusammenbringen sollte. Alle<br />

diese Bemühungen haben Früchte getragen.<br />

Als ich aus meiner eigenen Welt floh, sah ich auf den Lokāloka-Bergen einen<br />

Felsen, den ich dort noch nie gesehen hatte. Zuvor hatten mein Gemahl und<br />

ich nicht den Wunsch, ihn zu sehen. Jetzt verlangt es uns beide nach der Erlangung<br />

der Selbsterkenntnis. Ich bitte dich darum, uns diese Gnade zu gewähren,<br />

denn heilige Männer lehnen eine solche Bitte niemals ab. Ich habe<br />

schon viele vollkommene Wesen gesehen, aber noch niemanden wie dich. Ich<br />

nehme Zuflucht zu deinen Füßen – schick mich nicht weg.<br />

Als sie von Vāsi«Âha danach gefragt wurde, wie sie denn in dem Felsen gelebt<br />

habe, antwortete die HIMMELSBEWOHNERIN:<br />

Oh Weiser, diese unsere Welt innerhalb dieses Felsens ist nicht anders als<br />

deine Welt hier draußen! Auch in unserer Welt gibt es Himmel und Hölle,<br />

Götter und Dämonen, Sonne und Mond, Sterne und Firmament, bewegliche<br />

und unbewegliche Kreaturen, Hügel und Meere und die Staubpartikel, die<br />

man die Lebewesen nennt. Komm, segne diesen Felsen mit deinem Besuch:<br />

Weise sind doch immer an Wundern interessiert! (Dieser Planet ist auch nur<br />

ein Kieselstein in diesem ungeheuren Universum! S.V.))<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In ihrer Begleitung durchquerte ich dann also den unendlichen Raum und<br />

erreichte Lokāloka, wo ich den Felsen erblickte. Ich konnte erkennen, dass es<br />

nur ein Felsen war und keinerlei Welten in ihm waren. Ich fragte sie: Wo ist<br />

VI.2:66,<br />

67<br />

584


deine Welt mit all ihren Göttern und Dämonen, Bergen und Ozeanen – diese<br />

Welt, die du so anschaulich geschildert hast?<br />

Die HIMMELSBEWOHNERIN erwiderte:<br />

Wahrhaftig vermag ich nun, oh Weiser, zu erkennen, dass alles das, was ich<br />

zuvor in diesem Felsen sah, in Wirklichkeit nur in mir selbst ist. Durch die<br />

wiederholte Projektion dieser Vision und indem ich sie im Felsen erfuhr,<br />

dachte ich, ich sähe all das – nun, da ich dies nicht mehr erfahre, ist auch<br />

diese Vision verschwunden. In dir hat das Empfinden der Dualität schon vor<br />

langer Zeit aufgehört; folglich hast du keine falschen Ideen mehr. Sogar in mir<br />

wurde nun diese langandauernde Illusion durch richtige Wahrnehmung<br />

vertrieben – ich sehe diese Welt nun nicht mehr deutlich. Da die gegenwärtige<br />

Realisation der Wahrheit so viel stärker als die Illusionen der Vergangenheit<br />

ist, sind die letzteren verblasst.<br />

Oh Weiser, dies ist der einzige Pfad zur Erlösung: Man sollte sich gänzlich<br />

dem einen wünschenswerten Ziel widmen, man sollte in der rechten Bemühung<br />

zum Erlangen dieses Zieles unterwiesen werden und sich selbst wieder<br />

und wieder um die rechte Handlung bemühen. Mit Hilfe rechter Bemühung<br />

(abhyāsa) wird die Unwissenheit zerstreut und der Unwissende schließlich<br />

erleuchtet. Durch rechte Bemühung geschieht es, dass sogar bittere Dinge<br />

schmackhaft werden. Durch wiederholte Praxis geschieht es, dass Fremde<br />

Freunde werden; und falls ein enger Verwandter von einem getrennt wird,<br />

dann verliert sich diese Beziehung, wenn man nicht mehr daran denkt. Es<br />

geschieht durch Wiederholung, dass der subtile Körper zum physischen Körper<br />

wird. Durch andauernde Bemühung wird das Unmögliche möglich. Falsche<br />

Beziehungen wurden durch beständige Bemühung geschmiedet und<br />

sollten energisch abgewiesen werden durch ebenso beständige Bemühung<br />

bis zum Ende des Lebens. Durch ständige Bemühung bringt man das gewünschte<br />

Objekt näher zu sich heran. Diese Bemühung schließlich befähigt<br />

einen dazu, es mühelos und ohne Hindernisse zu erreichen.<br />

Die beständige und wiederholte Bemühung wird abhyāsa genannt. Das allein<br />

ist das höchste Ziel des Menschen (puruåārtha), und einen anderen Weg<br />

gibt es nicht. Nur durch feste und entschlossene Eigenbemühung und durch<br />

eigene, direkte Erfahrung wird Vollkommenheit erlangt – nicht durch irgendwelche<br />

anderen Mittel. Durch abhyāsa wird man überall in dieser Welt<br />

gänzlich furchtlos.<br />

(Die Beschreibung des Kapitel 66 der Welt im Felsen ist ausführlich und sehr<br />

interessant.)<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als die Himmelsbewohnerin so gesprochen hatte, setzte ich mich in die Lotosposition<br />

und befand mich alsbald im samÃdhi oder tiefer Kontemplation.<br />

Ich gab alle materiellen und physischen Konzepte auf und hielt an der Vision<br />

des reinen Bewusstseins fest. Ich wurde sozusagen das unendliche Bewusstsein<br />

und erlangte die kosmische Vision, welche von allergrößter Reinheit ist.<br />

VI.2:68<br />

585


Aufgrund dieser Erkenntnis der Wahrheit hörte die Illusion von Materiellem<br />

und Physischem in mir auf. An ihre Stelle trat das große Bewusstsein,<br />

welches weder entsteht noch vergeht. Es gab da ein Gewahrsein, in dem ich<br />

weder Raum noch den Felsen sah, sondern nur noch das Unendliche. Was<br />

auch immer zuvor gesehen wurde, war das eine Selbst. Ich realisierte, dass<br />

das Selbst allein alles Gesehene und Erfahrene ist. Was mir wie ein Felsen<br />

vorgekommen war, war nun nichts anderes als (der Raum des) unendlichen<br />

Bewusstsein (cidākāÓa).<br />

Der Mensch ist nur das Traumobjekt anderer Menschen – er träumt sich<br />

selbst als einen Menschen. Im Verlaufe der Zeit jedoch werden sogar die<br />

Opfer der allerschlimmsten Form von Verblendung erleuchtet (erweckt), da<br />

es nichts anderes als die Wahrheit oder Brahman gibt, was ewiglich ist. Daher<br />

erkannte ich das, was ich zuvor als Felsen gesehen hatte, als eine einzige<br />

Masse reinen Bewusstseins. Es gibt nichts wie Erde oder Materie.<br />

Das Selbst der Elemente oder der Wesen ist der Körper Brahmans. Dieses<br />

Konzept wird jetzt als eine Idee oder Einbildung gesehen. Der kosmische<br />

subtile Körper erscheint aufgrund des Auftauchens dieser Idee. Die zuerst<br />

auftauchende Idee oder der Gedanke wird zum Körper des jīva. Dieser falsche<br />

Gedanke (d.h. der Ich-Gedanke) glaubt nun, dass das Gemüt eine offensichtliche<br />

Realität sei. Ohne Grund und ohne Zweck tauchen die Ideen auf, die das<br />

Gemüt als offensichtliche Realität (pratyakåa) betrachten – so wird das Bewusstsein<br />

etwas anderes als es ist. Was man jetzt als offensichtliche Realität<br />

bezeichnet (den Körper usw.) ist offensichtliche Unwirklichkeit. Paradoxerweise<br />

ist das Offensichtliche unwirklich und das Unwirkliche offensichtlich.<br />

Eben darin besteht die Macht der Illusion.<br />

Der subtile Körper gehört zu den ersten unter diesen offensichtlichen<br />

Wahrheiten. Die Wahrheit ist allgegenwärtig und Materie nur eine Illusion,<br />

obwohl sie erfahren wird. Dies verhält sich so, wie die „Schmuckstückhaftigkeit“<br />

von Gold die illusorische Erscheinung von Gold ist, obgleich Menschen<br />

darauf zeigen und behaupten, dass es ein Schmuckstück sei. Der subtile<br />

kosmische Körper (ātivāhika) ist nicht materiell. Aufgrund des Nicht-<br />

Verstehens gerät der jīva unter den Einfluss der Illusion – welche Narrheit!<br />

Der materielle oder physische Körper wird bei Ergründung nicht gefunden,<br />

während der subtile Körper in den zwei Welten (in dieser und der nächsten)<br />

unverändert weiterexistiert.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der grobe physische Körper existiert im ātivāhika oder im subtilen Körper<br />

so wie Wasser in einer Luftspiegelung existiert. Aufgrund der fehlerhaften<br />

Wahrnehmung des Körpers wird dieser physische Körper als eine solide<br />

Wesenheit akzeptiert – so wie man einen Pfahl für einen Mann hält. Wie<br />

rätselhaft und machtvoll ist doch diese Illusion, die das Irreale als real und<br />

das Reale als irreal erscheinen lässt! Diese Illusion existiert nur aufgrund des<br />

Nicht-Verstehens der Wahrheit.<br />

586


Aktivität und Verhalten der Wesen in dieser Welt werden überwiegend<br />

durch die Sichtweise der Yogis und in kleinerem Ausmaß durch die Wahrnehmung<br />

des Gemüts bestimmt. Diese beiden mögen daher als wahr akzeptiert<br />

werden. Wer jedoch das erstere verwirft und sich an die Realität der<br />

Materie klammert, versucht, seinen Durst mit Wasser in einer Luftspiegelung<br />

zu löschen.<br />

Die vergänglichen Freuden sind Leiden. Wahrhafte Freude ist unmodifiziert,<br />

anfangslos und endlos. Erforsche daher die Wahrheit mit Hilfe der direkten<br />

Erfahrung, gewahre die uranfängliche Wahrheit durch direkte Erfahrung. Wer<br />

diese Erfahrung zurückweist und hinter illusorischen „Realitäten“ herrennt,<br />

ist ein Dummkopf.<br />

Der subtile immaterielle Körper allein ist wirklich, und die Wahrnehmung<br />

des materiellen oder physischen Körpers in ihm ist unwirklich und illusorisch.<br />

Wie kann der letztere als real erfahren werden, wenn er doch bloß<br />

ideenmäßig existiert und niemals erschaffen wurde? Wenn man erkannt hat,<br />

dass das Offensichtliche illusorisch und irreal ist, was kann dann noch als real<br />

akzeptiert werden? Wie kann das als real akzeptiert werden, was aufgrund<br />

von etwas existiert, das selbst irreal ist?<br />

Wenn der erste und vornehmste Beweis (pratyakåa oder direkte Erfahrung)<br />

dies erbringt, welchen Wert hat dann eine bloße Schlussfolgerung?<br />

Man sagt daher, dass die durch diese Methoden (direkte Sinneserfahrung,<br />

Schlussfolgern und wissenschaftliche Forschung) erwiesene Realität des<br />

objektiven Universum falsch und irreal sei. Dualität und Vielfalt sind falsch –<br />

das unendliche Bewusstseins allein ist real. So wie ein im Traum gesehenes<br />

Objekt irreal ist, so ist das von uns als Felsen wahrgenommene Objekt irreal,<br />

denn es ist nichts als reines Bewusstsein. Erkenne, dass dieser Berg, dieser<br />

Raum, die Welt und das „ich“ alle nur das eine, unendliche, unteilbare Bewusstsein<br />

sind.<br />

Derjenige, der erleuchtet ist, vermag dies zu erkennen, aber nicht der<br />

Unerleuchtete. Aufgrund des falschen Empfindens von „ich bin unerleuchtet“<br />

wird diese Unwissenheit bezüglich der Realität wieder und wieder erhärtet.<br />

Wer die Realisierung der direkten Erfahrung des Höchsten Herrn, der unteilbares,<br />

unendliches Bewusstsein ist, abweist und sich an andere Formen der<br />

Erfahrung klammert, ist gewiss töricht. Was haben wir mit solchen Menschen<br />

zu schaffen?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Dann trat die Himmelsbewohnerin in die Welt innerhalb des Felsens ein.<br />

Ich begleitete sie. Sie wandte sie sich dorthin, wo der Schöpfer dieser Welten<br />

seinen Aufenthaltsort hatte und setzte sich vor ihm nieder. Sie sagte zu mir:<br />

„Oh Weiser, dies ist mein Gemahl. Er hat mich als seine Frau erschaffen. Und<br />

doch hat er die Ehe nie vollzogen. Nun sind wir beide gealtert. Ich bin jetzt<br />

leidenschaftslos geworden. Nie wird er in seiner Meditation gestört. Bitte<br />

erleuchte uns beide bezüglich der Wurzelursache dieses saæsāra, auf das wir<br />

VI.2:69<br />

587


VI.2:70<br />

frei von ihr werden.“ Nachdem sie so gesprochen hatte, „erweckte“ sie ihren<br />

Gemahl, den Schöpfer, zum gewöhnlichen Bewusstsein und sprach ihn an:<br />

„Hoher Herr, gewahre diesen Weisen hier, der zu uns gekommen ist. Er ist<br />

unser Gast. Er ist der Sohn des Schöpfers einer anderen Welt. Es ist unsere<br />

Pflicht als Haushälter, unsere Gäste zu ehren und willkommen zu heißen.“<br />

Der Schöpfer der anderen Welt (des Felsens) öffnete die Augen. Er wurde<br />

seiner eigenen „Glieder“ gewahr. Sofort erschienen vor ihm verschiedene<br />

Wesen – Götter, Dämonen, Menschen usw. Er erblickte mich und auch seine<br />

Frau, die vor ihm saß. Er begrüßte mich und bat mich, auf einem juwelengeschmückten<br />

Sitz Platz zu nehmen. Ich erwiderte den Gruß und nahm auf<br />

diesem Sitz Platz. Es ertönte himmlische Musik, und es wurden Hymnen<br />

gesungen. Wir begrüssten einander respektvoll.<br />

Dann fragte ich den zweiten Brahmā: „Hoher Herr, diese Himmelsbewohnerin<br />

hat mich hierher gebracht und bat mich, euch beide zu unterweisen, damit<br />

ihr erleuchtet werdet. Ist dies richtig und zutreffend? Denn du bist der<br />

Höchste Herr all dieser Wesen und der Meister höchster Weisheit. Sie wird<br />

nicht von Wünschen überwältigt. Wie geschah es, dass du sie als deine Frau<br />

erschaffen hast und, falls dies den Tatsachen entspricht, weshalb hast du sie<br />

nie beachtet und nicht die Ehe vollzogen?“<br />

DER SCHÖPFER IM FELSEN erwiderte:<br />

Oh Weiser, höre mich an, und ich werde dir alles erzählen, wie es geschehen<br />

ist. Es gibt da nur ein einziges Bewusstsein, das ungeboren und still ist. In<br />

ihm taucht eine winzige Bewegung auf, eine Vibration oder eine Welle. Das<br />

ist, was ich bin. Ich bin essenziell reiner Raum. Ich ruhe im Selbst. Da ich ohne<br />

jede Ursache und Stofflichkeit erschienen bin, werde ich als Selbst-geboren<br />

bezeichnet. Ich wurde weder erschaffen noch sehe ich etwas. Was man hier<br />

als dich und mich sehen und als diesen Dialog zwischen uns wahrnehmen<br />

kann, ist wie zwei Wellen, die im Ozean auf einander treffen und einen Laut<br />

erzeugen. Wir sind wie die Wellen des Ozeans – nicht verschieden vom Ozean<br />

des unendlichen Bewusstseins. Wir sind nur Ideen, die darin spontan auftauchen.<br />

Diese Dame hier, die davon verschieden zu sein scheint, wurde tatsächlich<br />

niemals erschaffen, sie trat niemals ins Dasein; sie ist nur eine Idee, ein<br />

Konzept, eine Gedankenwelle oder eine psychologische Konditionierung.<br />

Dieser Körper wurde aus einer Spur des Ich-Sinns gemacht, der in mir existiert,<br />

und sie ist sozusagen die Gottheit, die über den Ich-Sinn herrscht. Sie ist<br />

deshalb weder meine Frau, noch wurde sie als solche erschaffen.<br />

DER BRAHMĀ DER ANDEREN WELT fuhr fort:<br />

Jetzt wünsche ich in die Ebene oder den Raum des unendlichen Bewusstseins<br />

einzugehen. Daher habe ich diese Auflösung manifestiert, die die kosmische<br />

Auflösung anzeigt. Und daher entstand in uns die Leidenschaftslosigkeit.<br />

Wenn ich das kosmische Gemüt aufgebe und in das unendliche Bewusstsein<br />

eintauche, ist die Zerstörung sämtlicher vāsanās (Ideen usw.) gewiss. Und<br />

daher ist auch diese Frau hier (die ein verkörpertes vāsanā ist) leidenschaftslos<br />

geworden und folgt mir.<br />

588


Der Weltzyklus ist nun zu Ende, und damit ist auch das Ende der Götter gekommen.<br />

Gleichzeitig ist dies der Moment der kosmischen Auflösung. Es ist<br />

das Ende meiner eigenen Konditionierung (vāsanā) und die vollkommene<br />

Umwandlung des Körpers in Raum. Aus diesem Grunde werden diese vāsanās<br />

nun verderben. Der Wunsch nach Befreiung taucht ohne ersichtlichen Grund<br />

in den vāsanās auf – auf diese Weise gehen die vāsanās ihrer Zerstörung<br />

entgegen. Sie hat die Praxis der Meditation usw. gepflegt, jedoch noch nicht<br />

das Selbst realisiert. Dann erblickte sie plötzlich die Welt, in der du (der erleuchtete<br />

Weise) lebst.<br />

Zu diesem Zeitpunkt erblickte sie sogar den Eckstein meiner Schöpfung.<br />

Dieser Eckstein kann nur dann wahrgenommen werden, wenn das Gemüt<br />

bereit ist, die Wahrnehmung der Vielfalt abzulegen, aber nicht vorher. Wie in<br />

diesem Felsen hier gibt es zahllose Welten innerhalb von anderen Welten,<br />

und in diesen zu allen Zeiten Objekte und Elemente. Ihr Erscheinen als „die<br />

„Welt“ ist natürlich eine Illusion, denn sie ist reines Bewusstsein. Diese illusorische<br />

Vision der „Welt“ verschwindet, sobald man ihre wahre Natur begriffen<br />

hat. In den Augen anderer Menschen jedoch existiert sie weiter.<br />

Durch die Praxis der Konzentration und Meditation usw. vermochte sie (d.h.<br />

vāsanā) leidenschaftslos zu werden. Anschließend suchte sie dich auf, um<br />

Selbsterkenntnis zu erlangen.<br />

Somit ist es nur die Macht des unendlichen Bewusstseins, die hier als die<br />

unpassierbare illusorische Kraft oder Māyā existiert. Diese Macht ist anfangslos,<br />

endlos und unverderblich. Zeit, Raum, Materie, Bewegung, Gemüt und<br />

Intellekt usw. sind nur Teile des Bewusstseins, wie die Teile eines Felsens.<br />

Allein das unendliche Bewusstsein existiert als der Felsen des Bewusstseins –<br />

seine Glieder sind die Welten. Diese Masse Bewusstsein denkt sich selbst als<br />

die Welt. Obgleich es anfangslos und endlos ist, denkt es, dass es einen Anfang<br />

und ein Ende hat. Und so scheint es auch zu werden. Diese Masse Bewusstsein<br />

ist formlos und nimmt doch die Form eines Felsens an. Es gibt hier<br />

keine Flüsse. Es gibt hier kein sich drehendes Rad noch Materie, die ständigen<br />

Wandlungen und Umformungen unterzogen wird. All dies sind nur Erscheinungen<br />

innerhalb des Raumes oder der Ebene des unendlichen Bewusstseins<br />

(cidambaram). Im kosmischen Raum scheint ein Raum namens Haus und ein<br />

weiterer namens Topf zu existieren (obgleich Raum gewiss unteilbar ist und<br />

die Existenz des Raumes im Haus den unendlichen Raum nicht verringert).<br />

Auf dieselbe Weise scheinen auch alle diese „Welten“ im Unendlichen zu<br />

existieren, das selbst unteilbar ist und dadurch keine Verkleinerung erfährt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, trat der Schöpfer (dieser Welt im Felsen)<br />

in den tiefen und letzten Zustand der Meditation ein. Er äußerte: „OM“, und<br />

kontemplierte den letzten Teil der Intonation. Sein Gemüt war vollkommen<br />

still. Er blieb wie ein gemaltes Bild. Auch vāsanā (die Verkörperung der psychologischen<br />

Konditionierung in der Form der Dame) folgte dem Schöpfer<br />

und trat in tiefe Meditation ein. Sie erlangte schließlich die Form des Raumes.<br />

VI.2:71<br />

589


Ich trat ebenfalls in tiefe Meditation ein und wurde Zeuge von all dem, da ich<br />

zum allgegenwärtigen, unendlichen Bewusstsein geworden war.<br />

Als die Ideen im kosmischen Gemüt des Schöpfers abzusterben begannen,<br />

begann im selben Moment die Erde mitsamt ihren Bergen, Kontinenten und<br />

Ozeanen zu verschwinden. Gräser und Bäume hörten auf zu sein. Die Erde ist<br />

eines der Glieder der kosmischen Person, des Schöpfers. Sobald ihr die kosmische<br />

Person ihr Gewahrsein entzieht, hört die Erde auf zu sein – so wie<br />

unser Gewahrsein aus einem gelähmten Glied zurückgezogen wird und es<br />

dann abstirbt. Gleichzeitig wurde die Erde von zahlreichen Naturkatastrophen<br />

betroffen. Übeltäter wurden vom Feuer verbrannt und fielen in die<br />

Hölle. Die Erde verlor all ihren Liebreiz und ihre Fruchtbarkeit. Die Frauen<br />

wurden unmoralisch und die Männer verloren ihre Selbstachtung. Ein dichter<br />

Sandsturm erhob sich und verdunkelte die Sonne. Die Menschen wurden von<br />

den Gegensatzpaaren gequält, denen sie sich in ihrer Torheit unterworfen<br />

fühlten. Die Menschheit wurde aufgrund von Überschwemmungen und Hungersnöten,<br />

Kriegen und Seuchen dezimiert. Durch die zahlreichen Leiden<br />

wurden die Menschen unzivilisiert und unkultiviert. Da all diese schrecklichen<br />

Dinge so unerwartet geschahen, starben die edlen Menschen der Erde<br />

schnell, und es gab da ein großes Ach und Weh überall. Das Wasser wurde<br />

knapp und die Leute begannen große Brunnen zu graben. Männer und Frauen<br />

vermischten sich unkontrolliert und die soziale Ordnung brach zusammen.<br />

Jedermann lebte vom Handeln. Die Frauen verdienten ihren Lebensunterhaltung<br />

durch Zurschaustellung ihrer schönen Haare. Die Könige folgten dem<br />

Grundsatz: „Macht ist Recht!“ Überall gab es Rechtlosigkeit. Die herrschenden<br />

Schichten waren dem Trunk ergeben. Sie belästigten und quälten die gebildeten<br />

und die heiligen Männer. Die Menschen nahmen nun andere Lebensführungen<br />

und Glaubensvorstellungen an, die gänzlich unnatürlich waren. Die<br />

Gebildeten wurden die Opfer von Gewalt und Aggression. Tempel wurden<br />

ausgeraubt. Sogar die Heiligen gaben aus Faulheit die Ausübung der heiligen<br />

Riten auf. Die Städte wurden von Feuern niedergebrannt, die wie Regenschauer<br />

vom Himmel fielen. Die Jahreszeiten wurden unzuverlässig. So erreichte<br />

das Erdelement seinen Untergang, da der Schöpfer selbst im unendlichen<br />

Bewusstsein untergetaucht war.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als dann das Erdelement im unendlichen Bewusstsein absorbiert und seine<br />

Begrenzung transzendiert hatte, wandte sich als nächstes das Wasserelement<br />

in Richtung seiner Auflösung. Die Gewässer erhoben sich, überfluteten die<br />

Ufer und ihre natürlichen Grenzen. Die Ozeane flossen in allen Richtungen<br />

über. Unter schrecklichem Getöse schlugen die Wellen gegen die Wälder und<br />

vernichteten sie. Mächtige Wellen vermischten sich mit den Wolken am Himmel,<br />

und es entstand eine einzige Masse von Wasser. Sämtliche Berge versanken<br />

unter dem Wasser. Die Geschöpfe des Wassers gerieten in Panik und<br />

stürzten Hals-über-Kopf in einem vergeblichen Fluchtversuch davon. Als die<br />

Wogen die Berghöhlen zerstörten, rannten die Löwen heraus, töteten andere<br />

590


Wesen und wurden schließlich selbst getötet. Der durch all diese Geschehnisse<br />

entstandene Tumult erreichte sogar die Region der Sonne.<br />

Es war, als hätten die Ozeane die Reiche der Götter selbst überflutet und<br />

besetzt. Wegen der Zerstörung der Wälder und Berge durch die Flutwellen<br />

sah es aus, als wäre der gesamte Raum ein riesiger Haufen von Wäldern und<br />

Bergen. Die großen Berge wurden in den Wassern des Ozeans aufgelöst.<br />

Manchmal sah es aus, als würden die Berge ihre Zähne zeigen und lachen, da<br />

durch die Flutwellen die kostbaren Edel- und Halbedelsteine aus dem Erdinnern<br />

hervorgespült und auf den Berghängen abgelagert wurden.<br />

Sogar die Himmelskörper schienen von all dem betroffen zu sein. Die Berge<br />

der Erde stürzten tosend auf einige hernieder. Sogar die Feuer der kosmischen<br />

Zerstörung schienen sich vor ihrer Auslöschung durch die enormen<br />

Flutwellen zu fürchten. Irgendwann gab es einen schrecklichen Krieg zwischen<br />

den Erdelefanten und den Seeelefanten! Als in ihm so viele irdische<br />

Dinge ertrunken waren, begann der ganze endlose Ozean mit einer übernatürlichen<br />

Strahlkraft zu leuchten.<br />

Dann sah es so aus, als würde der Raum selbst in die Wasser der kosmischen<br />

Auflösung stürzen. Das Firmament mit all seinem Licht und seinen<br />

kostbaren Juwelen fiel in die Fluten.<br />

Feuerflammen breiteten sich in alle Richtungen aus und verzehrten alles,<br />

was im Raum existierte. Da der Schöpfer die Realisation seiner Schöpfung<br />

zurückgezogen hatte, wurden die Dämonen und andere solche Wesen losgelassen,<br />

um nach Belieben Zerstörung und Schaden anzurichten. Sämtliche<br />

Götter (Indra usw.), die als Gottheiten über die natürlichen Elemente herrschten<br />

und die natürliche Ordnung aufrecht hielten, wurden von den Dämonen<br />

überwältigt. Es gab ein großes Chaos. Sogar die Wohnstätten Śivas usw. wurden<br />

erschüttert und gestört. Sterne und Planeten kollidierten miteinander,<br />

und da war eine große, kosmische Zerstörung.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als der Schöpfer Brahmā sein prāïa (die Lebenskräfte) zurückgezogen hatte,<br />

gab die sich im Raum bewegende Luft ihre natürliche Tätigkeit der Bewegung<br />

auf. Wie konnten jetzt die Elemente und die Lebewesen am Leben erhalten<br />

werden? Sobald daher die Kraft, die alle himmlischen Körper trug, verschwunden<br />

war, stürzten die Sterne wie Blüten vom Baum aus ihren Umlaufbahnen.<br />

Auch die Satelliten, die den Weltraum durchquerten, lösten sich auf,<br />

da das Zeit-Raum-Kontinuum verschwand. Sogar die Pfade der siddhas oder<br />

vollkommenen Wesen wurden ausgelöscht. Wie Baumwollflocken begannen<br />

die siddhas im Raum zu fallen. Sogar Indra (das Haupt der Götter) und sein<br />

Himmel stürzten und lösten sich auf.<br />

RĀMA fragte:<br />

Bewusstsein ist rein und die kosmische Person ist nur eine Idee. Wie konnte<br />

es geschehen, dass diese kosmische Person oder Brahmā Glieder wie Erde,<br />

Himmel und Unterwelten erwarb?<br />

VI.2:72<br />

591


VI.2:73<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Zu Beginn, oh Rāma, gab es nur reines Bewusstsein, von dem man nicht sagen<br />

konnte, ob es existiert oder nicht existiert. In sich selbst wurde es seiner<br />

selbst als ein Objekt des Gewahrseins bewusst. Ohne seine Position als das<br />

Subjekt aufzugeben, schien es nun gleichzeitig zum Objekt zu werden. Das ist<br />

der jīva, aus dem das Gemüt usw. auftauchte. Jedoch ist all dies nichtverschieden<br />

vom reinen Bewusstsein.<br />

Sobald das Gemüt, welches ebenfalls nur reines Bewusstsein ist, denkt: „Ich<br />

bin Raum“, dann erfährt es Raum, obgleich Raum gänzlich inexistent ist. Das<br />

Selbst oder das reine Bewusstsein ist leer und immateriell. So lange es die<br />

Vorstellung des physischen Universums gibt, erfährt das Bewusstsein es als<br />

real. Wenn es aber will, beendet es diese Schöpfung, welche dann aufhört.<br />

Vāsanā oder psychologische Konditionierung, die die Ideen und die verschiedenen<br />

Erfahrungen entstehen lässt, hört auf, sobald die Vision der Wahrheit<br />

oder das Verstehen der Realität entsteht. Dann gibt es Egolosigkeit und folglich<br />

Einssein, und danach verbleibt nur noch mokåa oder Befreiung.<br />

Darin besteht die Natur Brahmās. So existiert die Welt als der Körper von<br />

Brahmā, der kosmischen Person. Die Vorstellung, welche in dieser kosmischen<br />

Person auftaucht, wird zu diesem Universum. Dieses wiederum ist<br />

reine Leerheit, denn tatsächlich gibt es weder etwas wie die Welt noch das,<br />

was man als „du“ oder „ich“ bezeichnet. Was ist im reinen Bewusstsein die<br />

Welt, wie und durch wen ist sie mit welchen Stoffen oder zusammenwirkenden<br />

Ursachen erschaffen? Das Universum erscheint, aber es ist nicht mehr als<br />

ein illusorisches Gebilde. Weder ist es eins mit dem unendlichen Bewusstsein<br />

noch verschieden davon. Es gibt weder Einheit noch Vielheit. Unendliches,<br />

unteilbares Bewusstsein allein ist die Wirklichkeit. Lebe daher frei von aller<br />

Konditionierung und handle spontan und angemessen in jeder Situation.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, ich habe alles, was du mir bis jetzt mitgeteilt hast, in Gänze verstanden.<br />

Jedoch werde ich nie müde, deinen Unterweisungen zuzuhören,<br />

denn sie sind wie der Nektar der Unsterblichkeit. Bitte beschreibe daher die<br />

Erfahrung der Schöpfung noch einmal!<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Während der sogenannten kosmischen Auflösung wird alles, was bis dahin<br />

ins Dasein getreten ist, aufgelöst. Es verbleibt nur das Ewige. Dieses wiederum<br />

ist jenseits jeder Beschreibung. Im Vergleich mit einem Senfsamen ist<br />

der Berg Meru gigantisch – ebenso ist im Vergleich mit diesem ewigen unendlichen<br />

Bewusstsein der unendliche Raum nur wie ein Senfsamen. Im Vergleich<br />

mit dem größten aller Berge ist ein subatomares Teilchen winzig –<br />

ebenso fiele auch der Vergleich mit diesem ganzen Universum und dem ewigen<br />

unendlichen Bewusstsein aus. Während der kosmischen Auflösung, sobald<br />

alle Welterscheinungen aufgehört haben, ist sich das ewige unendliche<br />

Bewusstsein trotzdem immer noch jedes einzelnen winzigen subatomaren<br />

592


Teilchens im Raum bewusst. Es sieht sie (obgleich sie irreal sind) wie in einem<br />

Traum und stellt sich vor, es sei „Brahman“. Es versteht sogar sich selbst<br />

als das unendliche Bewusstsein. Indem es sich selbst als das atomare Teilchen<br />

des unendlichen Bewusstseins vorstellt, existiert es als das Subjekt und<br />

scheint nun andere atomare Teilchen, die zu Objekten werden, wahrzunehmen.<br />

Dies geschieht gleich wie bei jemandem, der sich selbst tot sieht im<br />

Traum. Bewusstsein scheint sich also selbst in das Subjekt und Objekt zu<br />

teilen, ohne dabei jemals seine eigene Unteilbarkeit aufzugeben.<br />

In diesem Moment tauchen spontan die folgenden Prinzipien auf: Zeit,<br />

Raum, Tätigkeit, Materie, der Seher (Subjekt), Sehen und das Gesehene (Objekt).<br />

Jedoch tauchen diejenigen Kräfte nicht auf, die diese Prinzipien normalerweise<br />

bremsen oder behindern. Wo das Bewusstseinspartikel strahlt, dort<br />

manifestiert sich auch Raum. Wenn dies geschieht, gibt es die Zeit. Die Art<br />

und Weise, in der dies geschieht, wird dann zur Tätigkeit. Was immer als<br />

existierend erfahren wird, wird sodann zu Materie. Der Erfahrende wird zum<br />

Subjekt und das Erfahren oder das Sehen dieser Materie ist die Sicht. Das,<br />

was für dieses Sehen oder Erfahren verantwortlich ist, wird zum Objekt. So<br />

treten alle diese Dinge scheinbar ins Dasein, obgleich sie sämtliche falsch<br />

sind. Raum allein erscheint im Raum ohne eine bestimmte Geordnetheit<br />

bezüglich Reihenfolge oder Prinzipien.<br />

Ähnlich dem obigen wird der Stoff, in dem Bewusstsein leuchtet, als Körper<br />

bezeichnet. Das, durch welches dieser sieht, ist das Auge. Ebenso ist es bezüglich<br />

der anderen Sinne usw. Der Zustand, in dem dieses Bewusstsein ohne<br />

Namen und Form leuchtet, wird tanmātra (reines Element) genannt, das nur<br />

Raum oder Leerheit ist. Dieses Strahlen des atomaren Teilchens des Bewusstseins<br />

selbst wird dann gröber und zum Körper, so wie wir ihn kennen. In<br />

diesem tauchen dann die fünf Sinne auf. Das, was sich all dessen bewusst ist,<br />

wird buddhi oder Intelligenz genannt. Zusammen mit dem Denken taucht das<br />

Gemüt auf, in welchem der Ich-Sinn wurzelt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Indem das Teilchen des Bewusstseins sich im Raum bewegt, tut es „dort“,<br />

was es früher „hier“ getan hat. Auf diese Weise entstehen dann sowohl die<br />

Abfolge der Zeiten als auch die räumlichen Trennungen wie „oberhalb“, „unterhalb“<br />

und die Himmelsrichtungen. Obwohl das Teilchen nur Raum oder<br />

Leerheit ist, wird es scheinbar zu Zeit, Raum, Tätigkeit, Materie und das Verstehen<br />

der Bedeutung von Wörtern usw. So tritt dann der subtile Leib<br />

(ātivāhika) ins Dasein. Dieser kondensiert sich schließlich durch das wiederholte<br />

Gewahrsein seiner selbst zu dem materiellen Körper.<br />

Das Bewusstsein verkörpert sich, obwohl es in Wahrheit wie Raum ist und<br />

nicht in irgendetwas enthalten sein kann. In ihm tauchen die Ideen von<br />

„Kopf“ und „Fuß“ auf, die es sodann als wirklich existierende Organe wahrnimmt.<br />

Dasselbe geschieht mit den restlichen Gliedern des physischen Körpers.<br />

Dasselbe Bewusstsein betrachtet sich selbst als seiend und nicht-seiend,<br />

als nehmend und zurückweisend, als Ordnung und alles andere. Es betrachtet<br />

593


VI.2:74<br />

alle diese Ideen als eine Realität. Auf dieselbe Weise wird es zu Brahmā dem<br />

Schöpfer, auf dieselbe Weise erlangt es (den Status) von Hari oder Viåņu, auf<br />

dieselbe Weise wird es (oder scheint es) zu Rudra oder Śiva zu werden, auf<br />

dieselbe Weise scheint es sogar zu einem Wurm zu werden. In Wahrheit<br />

jedoch ist es niemals zu irgendetwas von all dem geworden – es ist, was es ist,<br />

nämliche reine Leerheit in Leerheit, Bewusstsein in Bewusstsein.<br />

Das ist der Same aller Körper in den drei Welten. Es ist sogar der Same von<br />

saæsāra (Weltillusion), welche das Tor zur Befreiung verriegelt. Dies ist die<br />

Ursache von allem und dirigiert Zeit und Tätigkeit. Dies ist die erste Person,<br />

die, obgleich ungeboren, geboren zu sein scheint. Sie besitzt keinen materiellen<br />

oder physischen Körper und kann daher nicht ergriffen werden. So wie<br />

ein Mann, der im Traum mit einem Löwen kämpft und schreit, obwohl er<br />

tatsächlich still und schlafend ist, so befindet sich das unendliche Bewusstsein,<br />

welches all diese Ideen hat, in sich selbst im Frieden und in der Stille.<br />

Das Universum, das sich in alle Himmelsrichtungen viele Milliarden Kilometer<br />

erstreckt, existiert im winzigsten, subatomaren Teilchen, und die drei<br />

Welten existieren in einer Haarsträhne (im Vergleich mit dem unendlichen<br />

Bewusstsein).<br />

Sogar Brahmā der Schöpfer existiert innerhalb eines Atoms, obwohl er dieses<br />

Universum regiert, welches so unvorstellbar groß und auch sein Körper<br />

ist. Tatsächlich nimmt er überhaupt keinen Raum ein – so wie die in einem<br />

Traum gesehenen Berge. Die kosmische Person wird svayambhū Brahmā<br />

(selbst-geborener Schöpfer) und auch virāÂ (kosmische Person) genannt,<br />

aber in Wahrheit, oh Rāma, ist sie nichts als reines Bewusstsein. Weil dieses<br />

Bewusstsein sich der Bewegung bewusst wird, erfährt es die Bewegung oder<br />

die Lebenskraft. Dies ist prāïa und apāna, dessen wirbelnde Bewegungen im<br />

Universum als Wind bezeichnet werden und was das eigentliche Herz des<br />

Universums ist. Die Aussonderungen sozusagen dieses prāïa nennt man vāta<br />

oder Wind, pitta oder Hitze und śle«ma oder Feuchtigkeit (die drei Stoffe des<br />

Körpers) und ihre kosmischen Gegenstücke Wind, Sonne und Mond.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die kosmische Person (virāÂ) besitzt zwei Körper: Der edlere ist reines Bewusstsein<br />

ohne Anfang, Ende oder „Mitte“, während der zweite Körper diese<br />

Welt ist. Aufgrund dessen ist diese Person in der Lage, die Welt (wie ein Ei)<br />

von außen zu betrachten (wie es die Henne tut). Sie teilt das Ei in zwei, nämlich<br />

den oberen Teil, den sie das Firmament oder den Himmel nennt, und den<br />

unteren Teil, den sie die Erde nennt. Der obere Teil ist der Kopf von virāÂ, der<br />

untere Teil seine Füße und die Mitte (die Atmosphäre) sein Rücken oder sein<br />

Hinterteil. Der obere Teil wird als der blaue und leere Himmel wahrgenommen,<br />

da er so weit entfernt ist.<br />

Das Firmament ist der Gaumen von virāÂ und die Sterne sind die Blutstropfen.<br />

Die „Luftteilchen“, die im Körper kreisen, sind Götter, Dämonen und Menschen.<br />

Die Bakterien und Viren im Körper sind die Gespenster und Kobolde.<br />

594


Die Öffnungen des Körpers stellen weitere Welten dar. Seine Lenden sind die<br />

Ozeane. Die nā¬is sind die Flüsse und der Kontinent genannt JambÆdvīpa ist<br />

sein Herz. Der leere Raum ist sein Magen. Die Berge sind seine Leber und<br />

seine Milz. Die Wolken sind sein Fleisch. Sonne und Mond sind seine Augen.<br />

Die Welt Brahmās ist sein Antlitz. Soma ist seine Energie. Die Schneeberge<br />

sind sein Schleim, das unterirdische Feuer ist seine Galle und die Winde sind<br />

sein prāïa und apāna. Sämtliche Bäume und auch die Schlangen sind seine<br />

Haare.<br />

Da er selbst das kosmische Gemüt ist, hat er kein Gemüt. Da das unendliche<br />

Selbst allein die Erfahrung zu sein scheint, die nichts als reines Bewusstsein<br />

ist, gibt es keinen von ihm getrennten Erfahrenden. Auf dieselbe Weise gibt es<br />

in ihm keine indriyas oder Sinne, da er der Erfahrende in allen Sinnen ist.<br />

Daher sind die Unterscheidungen zwischen den Sinnen nur Ideen. Das Konzept,<br />

dass die indriyas (Sinne) zum Gemüt dieselbe Beziehung haben wie die<br />

Glieder zum Körper, ist ein Irrtum; eine derartige Unterscheidung existiert<br />

nicht –Körper und Glieder sind eine Einheit.<br />

Von ihm geht jede Tätigkeit in dieser Welt aus. Aufgrund von ihm wird diese<br />

Welt als wirklich gesehen – hört er auf zu sein, dann hört auch diese Welt auf<br />

zu sein. Die Welt (Schöpfung), Brahmā der Schöpfer und virāÂ (die kosmische<br />

Person) sind nur Redeweisen – es sind nur Ideen, die im reinen, unendlichen<br />

Bewusstsein auftauchen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie kann diese kosmische Person dann in diesem Körper existieren, wenn<br />

sie nur ideenhaft existiert?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Genau wie du in deinem Herzen existierst, wenn du meditierst. So wie der<br />

Jiva in allen Körpern existiert und die Reflektion im Spiegel, so existiert die<br />

kosmische Person in ihrem kosmischen Körper. Obschon sie scheinbar all<br />

diese Glieder hat, gibt es keine Teile in ihr, und sie existiert wie ein Felsen,<br />

vollkommen und ungeteilt, reines unendliches Bewusstsein.<br />

Als Brahmā der Schöpfer so meditierte, schaute ich umher. Ich sah eine<br />

Sonne, die in jeder Himmelsrichtung aufging. Während ich dieses außergewöhnliche<br />

Phänomen betrachtete, stieg unmittelbar aus dem Innern der<br />

Erde, wie ein unterirdisches Feuer, eine weitere Sonne auf. Insgesamt waren<br />

es elf und drei Satellitensonnen, wie die drei Augen von Lord Śiva, die zusammen<br />

eine zwölfte Sonne bildeten. Mit all diesen Sonnen wurde es sehr<br />

heiß. Daher verließ ich diesen Ort und ging an einen anderen, weit entfernt<br />

gelegenen. Das gesamte Firmament war vom Licht all dieser Sonnen entflammt.<br />

Überall hörte man Lärm wie „kat kat“ und „cat cat“.<br />

Überall wurden die Lebewesen von der Hitze verbrannt. Nicht einmal die<br />

Wasserlebewesen waren davon verschont. Die Zerstörung war kolossal und<br />

komplett. Berge fielen auf brennende Städte und pulverisierten sie. Die Leute<br />

klagten und heulten laut. Andere (Yogis), die ihre Lebenskraft durch die Kro-<br />

VI.2:75<br />

595


VI.2:76<br />

ne ihres Hauptes leiten konnten, erlangten so Unsterblichkeit. Die Erde wurde<br />

von Feuer verzehrt, das von unten und von oben kam.<br />

Die gesamte Welt mit allen Wesen darin wurde von den Flammen des Feuers,<br />

die den Augen Rudras entsprangen, in Brand gesetzt. Überall gab es ein<br />

Getöse wie „bumm bumm bumm“ und es sah aus, als ob Dämoninnen einander<br />

spielerisch mit Feuerströmen bewarfen. Meteore fielen auf die Berggipfel<br />

und begannen den Tanz von Tod und Vernichtung. Das der Erde entsteigende<br />

Feuer schien die Erde mit dem Himmel und dem gesamten Universum zu<br />

verbinden. Sogar der Sumeru-Berg, bestehend aus massivem Gold, begann zu<br />

schmelzen. Die schneebedeckten Gipfel des Himālaya schmolzen. Allein der<br />

Malaya-Berg blieb unversehrt. Wie das Herz eines edlen Mannes, der trotz<br />

seines eigenen Leidens immer noch um die Wohlfahrt aller besorgt ist, stand<br />

dieser Berg und verstrahlte Freude und Frieden – so wie Sandelholz seinen<br />

Duft demjenigen schenkt, der es verbrennt.<br />

Es gab nur zwei Objekte, die unberührt blieben, nämlich der alles durchdringende<br />

Raum, der nicht zerstört werden konnte, und reines Gold, das<br />

ebenfalls nicht vernichtet wurde. Ich glaube daher, dass nur satva (Reinheit)<br />

gut und wünschenswert ist, nicht aber rajas (Aktivität oder Unreinheit) und<br />

tamas (Trägheit, Stumpfheit).<br />

Als dann alles zerstört war, blieb nicht einmal mehr Asche übrig. Wenn Unwissenheit<br />

und ihre Folgen vom Feuer der Weisheit des Weisen vernichtet<br />

werden, so bleibt nichts als absolute Reinheit ohne die „Asche“ der vergangenen<br />

Unwissenheit zurück. Eine Zeitlang konnten die Feuer den Kailāsa, die<br />

Heimstatt von Lord Rudra, nicht erreichen. Aber dann richtete er seinen<br />

glühenden Blick darauf, und auch er begann zu brennen.<br />

Nichts blieb übrig. Zukünftige Generationen konnten sich nur wundern:<br />

„Gab es früher einmal eine Welt, ein Universum, eine Schöpfung?“<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Schließlich entstand der furchtbare Wind der Auflösung, der so gewaltig<br />

blies, dass die Berge und Ozeane erschüttert und aufgewühlt wurden und<br />

ihre Natur aufgaben. Sogar die Unterwelt schien in etwas hineinzustürzen,<br />

was tief unter ihr lag. Die gesamte Schöpfung dörrte aus und verlor ihre Essenz.<br />

Danach tauchte wie ein wütender Dämon eine enorm große Wolke auf, die<br />

schreckenerregende Geräusche hervorbrachte. Diese klangen wie das Krachen,<br />

welches entstand, als Brahmā der Schöpfer das goldene Ei zerbrach,<br />

welches das erschaffene Universum erscheinen ließ. Dieses Krachen zusammen<br />

mit dem Getöse der zerfallenden Welten und Ozeane erfüllte die Herzen<br />

aller mit Angst. Es erfüllte das ganze Universum und vereinte die Erde mit<br />

dem Himmel und der Unterwelt. Ohne Zweifel war dies das Dröhnen der<br />

kosmischen Auflösung.<br />

Ich vernahm dieses Geräusch von der Wolke und ich fragte mich: „Wie<br />

konnte diese Wolke Seite an Seite mit den Feuern der kosmischen Auflösung<br />

596


existieren?“ Ich schaute in alle Himmelsrichtungen. Rings um mich erblickte<br />

ich Schauer aus Blitzen und Donnerkeilen. In ein und demselben Moment<br />

erlebte ich Kälte von oben und etwas sehr heißes und brennendes von unten.<br />

Die Wolke befand sich so hoch oben, dass sie weder sichtbar war noch vom<br />

Feuer erreicht werden konnte.<br />

Nachdem das Feuer die Welten verzehrt hatte, bestand es nur noch aus<br />

Funken, die mit einer außerordentlichen Strahlkraft leuchteten. Die Wasser<br />

der Ozeane nahmen nur noch einen sehr kleinen Teil in einer Ecke dieser<br />

Wolke ein. Es sah aus, als wären alle Ozeane in den Himmel aufgestiegen. Die<br />

zwölf Sonnen wurden zu Wirbeln innerhalb dieser Wolke, während die Wasserlebewesen<br />

zu Blitzen wurden, welche in der Wolke hin und her schossen.<br />

Dann kam der Regen. Jeder Regentropfen war wie ein Donnerschlag. Diese<br />

Regentropfen erfüllten den gesamten Raum. Sie fielen mit solcher Wucht,<br />

dass sie alles zerstörten, was vom Universum noch übriggeblieben war. Der<br />

ganze Himmel war eine einzige Masse Wasser. Der Regen löschte die Feuer<br />

aus und erreichte den Erdboden.<br />

Die Wasser dieses außergewöhnlichen und übernatürlichen Regens vermischten<br />

sich mit den immer noch brennenden Feuern. Sie konnten sich<br />

weder vernichten noch besiegen, und so waren sie ungeeignete Gegner (weil<br />

ihre ebenbürtige Tapferkeit diesen Konflikt endlos und ergebnislos machte).<br />

Beide besaßen enorme Kraft und Stärke. Ihr Zusammenprall war daher<br />

furchterregend.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Inzwischen war die gesamte Atmosphäre von der Asche der Zerstörung erfüllt.<br />

Diese Asche wurde von schrecklichen Winden umhergewirbelt. Überall<br />

erzeugte der niederstürzende Regen schreckenerregenden Lärm, der wie die<br />

Siegesschreie der Dämonen der Auflösung klang. Die Winde trugen die verbrannten<br />

Trümmer der zerstörten Städte Indras (des Himmelsgottes) und<br />

anderer Gottheiten davon.<br />

So waren die drei Elemente – Feuer, Wasser und Wind – völlig außer Rand<br />

und Band, ohne jede Kontrolle, Ordnung oder Harmonie, und es sah aus, als<br />

würden sie einander bekämpfen. Der Tumult und der Lärm dieses Chaos<br />

waren ohrenbetäubend. Der strömende Regen löschte die Feuer aus und<br />

tönte wie „cham cham cham“. Die mächtigen Flüsse, die die Berge hinabflossen,<br />

rissen andere Berge, ganze Kontinente und Städte mit sich. Die Planeten<br />

und Sterne des Himmels stürzten aus ihren Umlaufbahnen. Die großen Flutwellen<br />

rissen überall die Berge nieder, während der Wind sie davonblies.<br />

Überall herrschte völlige Finsternis, da die Strahlen der Sonne durch Regen<br />

und schwarzblaue Wolken verhüllt waren. Die Erdoberfläche hatte sich vollständig<br />

aufgelöst, und daher begannen auch die Berge auseinander zu fallen.<br />

Die Flutwellen nahmen diese Berge mit sich und schleuderten sie gegen die<br />

Wolken. Es war, als würden die drei Welten laut weinen und jammern.<br />

VI.2:77<br />

597


VI.2:78,<br />

79<br />

Die Götter und die Dämonen waren alle dieser grauenerregenden Situation<br />

hilflos ausgeliefert, und doch gingen sie sich in nicht endender Feindschaft<br />

immer noch an die Kehle.<br />

Lediglich die vitalen Winde oder das prāïa, welches über den Zerfall der<br />

materiellen und physischen Körper herrscht, unterstützten den Zerfall all<br />

dieser Objekte und wehten sie hin und her. Zur selben Zeit war der gesamte<br />

Himmel mit fliegenden Städten, Dämonen, Feuer, Schlangen und Sonnen<br />

erfüllt, die wie ebenso viele Fliegen und Moskitos aussahen.<br />

Sogar die Götter, die über die Himmelsrichtungen herrschten, waren der<br />

Zerstörung anheimgegeben, weshalb in den Himmelsrichtungen ein Durcheinander<br />

herrschte. Überall lagerte der Staub der zerstörten Schöpfung. Das<br />

gesamte Universum war mit den Trümmern der „Tempel“ erfüllt, welche aus<br />

kostbaren Steinen und farbigen Metallen bestanden. Es war schwierig, das<br />

Universum zu sehen.<br />

Nun von allen Schleiern der Schöpfung befreit, blieb allein das übrig, was<br />

nach der totalen Vernichtung dessen, was man Schöpfung nennt, zurückbleibt<br />

(Wahrheit oder Gott). Wieder einmal war da die Fülle, die Fülle, die nach der<br />

Vernichtung der verschiedenen Lebewesen sichtbar wird; die Fülle, die unverändert<br />

und allezeit anwesend war. Inzwischen waren die kosmischen<br />

Feuer der Vernichtung vollständig vom Regen, der aus den kosmischen Wolken<br />

niederströmte, ausgelöscht worden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es gab keinen Raum mehr. Die Himmelsrichtungen waren fort. Es gab kein<br />

„unten“ und kein „oben“. Es gab weder Elemente noch eine Schöpfung. Da war<br />

nichts außer grenzenlosem Ozean.<br />

Unterdessen erblickte ich Brahmaloka so, wie die Sonne bei ihrem Aufgang<br />

die Erde erblickt. Dort sah ich Brahmā den Schöpfer wie einen unerschütterlichen<br />

Berg in samÃdhi oder Meditation sitzen, umgeben von den pradhāna<br />

oder den ersten Prinzipien, den Göttern, den Weisen, den Himmelsbewohnern<br />

und den siddhas, die ebenfalls wie leblos in tiefer Meditation saßen.<br />

Auch die zwölf Sonnen erreichten diesen Ort und fingen an zu meditieren.<br />

Nach kurzer Zeit sah ich Brahmā und alle anderen dann so, wie man beim<br />

Aufwachen seine eigenen Traumobjekte sieht. Ich sah sie nicht als die Materialisation<br />

von Traumobjekten, sondern als ebenso viele Manifestationen mentaler<br />

Konditionierung.<br />

Ich erkannte schließlich, dass all diese Götter usw. ebenfalls reine Leerheit<br />

waren. Ohne ihren Platz zu verlassen, waren sie außer Sichtweite verschwunden.<br />

Ich erkannte, dass sie wie Brahmā der Schöpfer nach dem Aufgeben<br />

von Namen und Form nirvāņa erlangt hatten. Als die vāsanā oder die<br />

selbstbegrenzende Konditionierung in ihnen aufgehört hatte, wurden sie<br />

unsichtbar. Dieser Körper ist reine Leerheit und existiert nur aufgrund der<br />

vāsanā oder der mentalen Konditionierung. Hört die letztere auf, wird auch<br />

der Körper nicht mehr gesehen oder erfahren, wie ein Traumobjekt beim<br />

598


Erwachen. Auf dieselbe Weise wird weder der subtile (ātivāhika) noch der<br />

grobe (ādhibhautika) Körper nicht einmal im Wachzustand mehr gesehen,<br />

wenn die mentale Konditionierung aufhört. Das Beispiel des Traumzustandes<br />

wird hier deshalb genannt, weil ihn jedermann erlebt. Wer aber seine eigene<br />

Erfahrung leugnet, dem sollte man in großem Bogen aus dem Weg gehen; wer<br />

kann einen Menschen aufwecken, der vorgibt zu schlafen?<br />

Es wird behauptet, dass wenn der Körper aufhört, der die Träume verursacht,<br />

dass dann auch die Träume aufhören, und ohne den Körper gäbe es<br />

auch kein Leben in der jenseitigen Welt. Dann gibt es gewiss auch keine<br />

Schöpfung! Wenn behauptet wird, dass die Welt niemals zu dem geworden<br />

sei, was sie nicht ist, dann existiert sie auch jetzt nicht. Wenn behauptet wird,<br />

dass Bewusstsein nur eine Absonderung des Körpers usw. sei, dann werden<br />

die Lehren der Schriften gänzlich sinnlos. Und falls du dich gegen ihre Autorität<br />

wendest, was soll dann Autorität überhaupt? Wenn du akzeptierst, dass<br />

die Täuschung so lange existiert, als der Körper existiert, dann wird die Täuschung<br />

zu einer Realität. Wenn das Bewusstsein zufällig im Körper erscheint,<br />

warum sollte dieses Bewusstsein seine unendliche Natur nicht realisieren?<br />

Wie auch immer – wessen auch immer Bewusstsein in sich selbst gewahr<br />

wird, das erfährt es auch (unabhängig davon, ob man dieses nun real oder<br />

irreal nennt). Daher kennt sich die Selbst-Natur an allererster Stelle als Bewusstsein<br />

aufgrund ihrer eigenen, inhärenten Bewegung. Dann erfährt es<br />

aufgrund der mentalen Konditionierung (vāsanā) irreführende Wahrnehmungen.<br />

Konditioniertes Gewahrsein ist Bindung – gibt es dagegen kein<br />

Gewahrsein von Konditionierung (oder konditioniertes Gewahrsein), dann ist<br />

dies nirvāņa.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als dann alle Götter und auch die zwölf Sonnen eins mit Brahmā geworden<br />

waren, begannen diese Sonnen, die Welt von Brahmā dem Schöpfer zu verbrennen,<br />

wie sie dies schon mit der Erde getan hatten. Nachdem sie die Welt<br />

des Schöpfers verbrannt und sich dann wie Brahmā in tiefer Meditation befanden,<br />

erlangten sie nirvāņa, wie eine Lampe ohne Brennstoff. Nun war alles<br />

in dichte Finsternis gehüllt.<br />

Unterdessen bemerkte ich eine furchterregende Gestalt. Sie war wie die<br />

verkörperte Auflösung des Universums, wie verkörperte Finsternis. Und doch<br />

erstrahlte sie in einem eigenen Glanz. Sie besaß fünf Gesichter, zehn Arme<br />

und drei Augen. In der Hand trug sie einen Dreizack. Sie bewegte sich im<br />

Raum ihres eigenen Seins. Dunkel war sie wie eine regenschwere Wolke. Es<br />

sah so aus, als wäre sie dem kosmischen Ozean entstiegen und selbst die<br />

Verkörperung dieses kosmischen Ozeans. Sie sah aus wie ein geflügelter Berg.<br />

Wegen des Dreizacks und ihrer drei Augen hielt ich diese Gestalt für Rudra<br />

und verbeugte mich aus großer Ferne vor ihr.<br />

RĀMA fragte:<br />

VI.2:80<br />

599


Wer ist dieser Rudra und was ist die Bedeutung seiner fünf Gesichter, zehn<br />

Hände usw.?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, man nennt ihn Rudra und er ist der Ich-Sinn. Er bewirkt die Störung<br />

des Gleichgewichts Seine Gestalt ist reiner Raum oder Leerheit. Er hat<br />

die Form von Raum und daher auch dieselbe Farbe wie Raum. Da er reines,<br />

unteilbares (wie Raum) Bewusstsein ist, nennt man ihn das Raum-Selbst<br />

(ākāÁa-ātmā). Da er das Selbst von allem und allgegenwärtig ist, nennt man<br />

ihn das große Selbst oder das höchste Selbst. Die fünf Sinne (des Wissens)<br />

sind seine Gesichter. Die fünf Handlungsorgane und ihre fünf Felder sind<br />

seine zehn Arme.<br />

Nur wenn das unendliche Bewusstsein seiner selbst gewahr wird, manifestiert<br />

sich diese Gestalt. Noch einmal: Diese Gestalt als Rudra ist sozusagen<br />

nur ein winziges Partikel des unendlichen Bewusstseins und existiert als<br />

solche nicht in Wirklichkeit. Die Gestalt ist nur eine illusorische Wahrnehmung.<br />

Er existiert als die Entfaltung oder Bewegung in cidākāÁa (unendliches Bewusstsein)<br />

und als die Luft sowohl im Raum der Schöpfung als auch in den<br />

Lebewesen (als der Lebensatem). Wenn dann im Laufe der Zeit all diese Bewegung<br />

an ihr Ende gelangt, erlangt er das vollkommene Gleichgewicht. Die<br />

drei guïas (satva, rajas und tamas), die drei Zeitperioden (Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft), die drei inneren Instrumente (citta, buddhi und<br />

ahaækāra), die drei Aspekte von AUM und die drei Veden bilden die drei<br />

Augen von Rudra. Die Dreiheit beinhaltet, dass er in seinen Händen die drei<br />

Welten trägt. Da er durch satva oder Güte erlangt wird und seine eigentliche<br />

Existenz zum Guten aller ist, wird er auch Śiva genannt. Wenn er den Zustand<br />

des höchsten Friedens erlangt, wird er Kriåïa genannt. Er ist es, der (als<br />

kalpanā, Vorstellungskraft) das gesamte Universum erschafft. Er trinkt den<br />

Ozean des kosmischen Seins und erlangt den höchsten Frieden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Schließlich sah ich, wie dieser Rudra mit der Geschwindigkeit der Lebenskraft<br />

oder prāïa den kosmischen Ozean zu trinken begann. Die Wasser des<br />

kosmischen Ozeans ergossen sich in seinen Mund, in dem ein grosses grimmiges<br />

Feuer brannte. Dieser Rudra oder Ich-Sinn existiert im Innern des<br />

Ozeans (oder der Erde) als Feuer. Am Ende des Weltzyklus trinkt er dann den<br />

Ozean. Wahrhaftig ist dieser Ich-Sinn alles zu allen Zeiten!<br />

Zu dieser Zeit gab es in diesem reinen und unbegrenzten Raum nur vier<br />

Dinge: 1. Den schwarzfarbigen Rudra, der ohne Boden unter den Füßen und<br />

bewegungslos dastand, 2. Die ziemlich schlammige Erde als Heimstatt aller<br />

Welten, von der Unterwelt bis zum Himmel, 3. Der obere Teil der Schöpfung,<br />

der weit, weit entfernt und außer Sicht war, und 4. In diesen überall das reine<br />

Brahman oder unendliche Bewusstsein – alle verschiedenen Teile der Schöpfung<br />

durchdringend. Nichts sonst existierte.<br />

600


RĀMA fragte:<br />

Was ist die Heimstatt Brahmās des Schöpfers, welche sind ihre Schleier und<br />

wie existiert sie?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die Heimstatt von Brahmā (das Zentrum der Erdregion) wird von Wassern<br />

bedeckt, die das Zehnfache der Ausdehnung der Erdregion betragen. Auf<br />

ähnliche Weise ist die Region des Feuers zehnmal so groß wie die Wasserregion.<br />

Die Region der Luft jenseits davon ist wiederum zehnmal so groß wie<br />

die Feuerregion. Die Ätherregion schließlich beträgt das Zehnfache der Ausdehnung<br />

der Luftregion. Jenseits davon befindet sich der unbegrenzte Raum<br />

des Brahma-ākāÁa.<br />

RĀMA fragte:<br />

Oh Weiser, wer hält diese Schöpfung von unten und von oben?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Erde usw. wird durch den großen Körper von brahma-aï¬a (dem goldenen<br />

Ei oder der kosmischen Person) in ihrer Position gehalten.<br />

RĀMA fragte weiter:<br />

Oh Hoher Herr, bitte teile mir mit, von was brahma-aï¬a getragen wird.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, dieses wird durch niemanden getragen, ob du dies nun als fallend<br />

oder nicht-fallend betrachtest. Denn dieses Universum hat keine Form, keinen<br />

Körper und keine Materialität, obschon es eine Form zu haben scheint.<br />

Was genau meinen wir, wenn wir von „es fällt“ oder „wird getragen“ sprechen?<br />

Was immer als Idee im unendlichen Bewusstsein auftaucht – dementsprechend<br />

verbleibt dieses dann. Diese Schöpfung ist nichts als die Traumstadt<br />

des unendlichen Bewusstseins. Wird sie als „fallend“ gedacht, dann<br />

scheint sie die ganze Zeit zu fallen, und wenn sie als im Raum existierend<br />

gedacht wird, steht und bewegt sie sich im Raum. Denkt man an sie als unbewegt,<br />

dann steht sie still, und denkt man sie sich als zerstört, dann erscheint<br />

sie als zerstört.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Plötzlich sah ich, wie Rudra wie trunken im Raum zu tanzen begann. Es<br />

war, als hätten die Wasser der kosmischen Auflösung Gestalt angenommen<br />

und in dieser Gestalt zu tanzen begonnen. Aber seht doch! Als ich dem Tanz<br />

Rudras zuschaute, bemerkte ich einen Schatten hinter ihm. Ich fragte mich,<br />

wie ohne Sonne ein Schatten existieren kann? Während ich noch über dieses<br />

Phänomen nachdachte, trat dieser (weibliche) Schatten vor Rudra hin und<br />

begann ebenfalls zu tanzen.<br />

Sie besaß drei Augen. Sie war schwarz. Sie war dünn. Aber sie war riesig.<br />

Aus ihrem Mund kam Feuer. Sie sah wie die weibliche Verkörperung der<br />

dunklen Nacht oder des grenzenlosen Raumes aus. Ihre Arme erstreckten<br />

VI.2:81<br />

601


sich bis in die fernsten Regionen des unendlichen Raumes. Sie war so dünn,<br />

dass ihre Nerven bloßlagen, und es schien, als hätte jemand sie mit eben<br />

diesen Nerven zusammengebunden, sodass sie wegen ihrer extremen Dünne<br />

und Riesenhaftigkeit nicht auseinanderfiel. Sie trug eine Girlande aus den<br />

Köpfen der Götter, Sonnen und Dämonen. Sie trug Ohrringe aus Schlangen.<br />

Nun hatte sie einen Arm und im nächsten Moment viele Arme, die sie auf<br />

dem Tanzboden umherwirbelte. Nun hatte sie einen Mund und im nächsten<br />

Moment viele Münder, und wieder etwas später überhaupt keinen mehr. Jetzt<br />

hatte sie einen Fuß, im nächsten Moment viele und dann wieder war sie ohne<br />

Füße. Aus all dem schlussfolgerte ich, dass sie Kālarātri sein musste (die<br />

Nacht des Todes). Die Heiligen nennen sie auch Kālī oder Bhagavatī.<br />

Sie besaß drei Augen wie Feuerschlünde. Sie hatte hohe Backenknochen<br />

und ein Kinn. Sie trug ein Halsband aus Sternen, die durch Luft zusammengehalten<br />

wurden. Mit ihren mächtigen Armen, deren Hände funkelnde und<br />

strahlende Nägel besaßen, erfüllte sie die Himmelsrichtungen. Ihr Atmen war<br />

so machtvoll, dass die größten Berge davon hinweggefegt werden konnten.<br />

Während des Tanzes schien ihr Körper enorm anzuschwellen. Während ich<br />

ihrem Tanz zuschaute, fertigte sie spielerisch aus Bergen eine Girlande für<br />

sich selbst. In den drei Teilen ihres Körpers (oberer, unterer und mittlerer)<br />

spiegelten sich die drei Welten. Städte, Wälder, Berge usw. wurden zu ebenso<br />

vielen Blumen, die sie sich als Girlande um den Körper wand.<br />

In ihren Gliedern befanden sich Städte und Dörfer, die Jahreszeiten, die drei<br />

Welten, die Monate und Tag und Nacht. Dharma und adharma wurden zu<br />

ihren Ohrringen. Die Veden waren ihre Brüste, die mit der Milch der höchsten<br />

Erkenntnis gefüllt waren. In ihren Händen hielt sie viele verschiedene Waffen.<br />

Die Haare ihres Körpers waren aus den vierzehn verschiedenen Wesenheiten<br />

wie den Göttern und allen anderen, gebildet. Alle diese Wesen mit ihren Städten<br />

und Dörfern tanzten zusammen mit ihr, entzückt von dem Gedanken an<br />

ihre eigene Wiedergeburt. Das gesamte Universum befand sich wegen ihres<br />

Tanzes in beständiger Bewegung – von einem anderen Gesichtspunkt aus<br />

wiederum befand sich alles natürlich fest in der Göttin verankert.<br />

Das ganze Universum spiegelte sich auf ihrem Körper wie in einem Spiegel<br />

wieder. Noch während ich zuschaute, erschien und verschwand es, erschien<br />

und verschwand es.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was war dieser Tanz? Der Sternenhimmel drehte sich um sich selbst, die<br />

Berge drehten sich um sich selbst, und die Götter und Dämonen drehten sich<br />

um sich selbst – wie umherfliegende Moskitos. Der umherwirbelnde Himmelsraum<br />

sah aus wie ein flatterndes Kleid. Es war herrlich zu sehen, wie die<br />

riesigen Bäume (der Kalpa-Baum), welche nur Haare auf ihrem Körper waren,<br />

sich während ihres Tanzes drehten. Sie stiegen sozusagen zwischen<br />

Himmel und Erde auf und nieder.<br />

602


Sonne und Mond, Tag und Nacht wurden sozusagen im Tanz von ihren Fingernägeln<br />

reflektiert. Die riesigen Berge wie die Himālayas, der Berg Meru<br />

usw. tanzten ebenfalls voller Entzücken. Es schien, als würde eine weitere<br />

kosmische Auflösung stattfinden.<br />

Die Göttin trug die heilige, aus drei Strängen gedrehte Schnur, die alle Arten<br />

von Wohlstand, von vollkommener Erkenntnis und von Opfer darstellte.<br />

Obgleich es schien, dass alles sich um sich selbst drehte, geschah in Wirklichkeit<br />

überhaupt nichts. Die Luft, die durch ihre Nüstern ein- und ausströmte,<br />

ertönte laut wie „ghum ghum“. Durch die Bewegung der zahllosen Arme<br />

der Göttin wurde die Luft des Raumes aufgewirbelt. Vom bloßen Beobachten<br />

all dieser Vorgänge ermüdeten meine Augen (und auch mein Gemüt) und<br />

wurden verwirrt. Sobald die Spiegelbilder auf ihrem Körper durch ihr Tanzen<br />

in Bewegung gerieten, begannen die Berge einzustürzen, die Götter und<br />

Himmelsbewohner zu fallen und ihre Paläste einzubrechen.<br />

Sämtliche unbeweglichen Objekte wurden in ihrem Körper zu beweglichen<br />

Objekten. Noch erstaunlicher war, dass die Ozeane auf den Berggipfeln und<br />

die Berge im leeren Raum tanzten. Der Raum tanzte unterhalb der Erdregion,<br />

während die Kontinente mit blühenden Gärten und Städten in der Umlaufbahn<br />

der Sonne tanzten. All dies zusammen trieb sozusagen wie Stroh im<br />

Spiegel der Göttin hin und her. Fische schwammen in der Luftspiegelung, und<br />

Städte tauchten im Raum auf, der auch alle Berge zu enthalten schien. Der<br />

Himmel und die Wolken der kosmischen Auflösung ruhten auf den Bergen,<br />

die heruntergefallen waren.<br />

Im Körper Kālarātris fanden sich Tag und Nacht, Schöpfung und Auflösung,<br />

Reinheit und Unreinheit. Obwohl sämtliche Götter usw. durch ihren Tanz<br />

umher taumelten, waren sie scheinbar ruhig aufgrund der Ruhe des unendlichen<br />

Bewusstseins. In ihrem (der Göttin) Bewusstsein befand sich natürliche<br />

Erkenntnis. Durch ihren Tanz erschuf und zerstörte sie in jedem Moment die<br />

Universen – so wie ein kleiner Junge seine Aufmerksamkeit von Moment zu<br />

Moment anderen Dingen zuwendet. Jetzt ist sie nahe, im nächsten Moment<br />

fern, jetzt ist sie unendlich klein und im nächsten Moment kosmisch groß.<br />

Eben darin besteht die Manifestation ihrer kosmischen, schöpferischen Kraft.<br />

Sie tanzt und hält dabei die Hörner des Büffels, der das Reittier des Todesgottes<br />

ist, begleitet von Lärm wie „dimbam dimbam paca paca jhamya“. Sie trägt<br />

eine Girlande aus Schädeln und auf ihrem Kopf eine Pfauenfeder. Sie verneigt<br />

sich vor Rudra, dem Gott der Auflösung. Möge er dich beschützen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, wenn alles zerstört worden ist – wie konnte sie dann tanzen,<br />

und mit wem? Und wie konnte sie alle diese Girlanden und alles andere haben?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, weder war dies weiblich noch männlich, noch tanzten sie überhaupt.<br />

Weder besaßen sie eine solche Natur noch eine solche Gestalt. Nur das<br />

VI.2:82<br />

603


VI.2:83<br />

ewige, unendliche Bewusstsein, welches die erste Ursache und die Ursache<br />

aller Ursachen ist, existiert – als unendlicher Friede und alles durch seine<br />

bloße Anwesenheit durchdringend. Der Höchste Herr (Śivam) ist dies. Der<br />

Höchste Herr selbst erschien als die Gestalt von Bhairava, als das gesamte<br />

Universum zu existieren aufgehört hatte; jedoch war er in Wahrheit so formlos<br />

wie der unendliche Raum. Es wäre nicht richtig anzunehmen, dass das<br />

unendliche Bewusstsein, welches aufgrund seiner eingeborenen Natur in all<br />

seinem Glanz manifest geworden ist, plötzlich ohne dies wäre; denn auch<br />

Gold kann niemals ohne eine Form existieren.<br />

Wie kann Bewusstsein existieren und dabei seine Natur als Bewusstsein<br />

aufgeben? Kann man irgendwo Gold ohne eine Form erblicken? Wie kann<br />

irgendetwas existieren, ohne seine eingeborene Natur zum Ausdruck zu<br />

bringen? Kann Zucker seine Süße verlieren? Wenn es seine Süße verloren hat,<br />

dann ist es nicht länger Zuckerrohr und sein Saft ist nicht süß.<br />

Wenn Bewusstsein die Bewusstheit verliert, ist es nicht länger Bewusstsein.<br />

Alles muss das sein, was es ist und kann nicht anders als sein. Daher ist das<br />

unendliche Bewusstsein immer reines Sein und erfährt keinerlei Verkleinerung.<br />

Es leuchtet durch sein eigenes Licht; weder hat es einen Anfang noch<br />

eine Mitte noch ein Ende und ist allmächtig. Es erscheint am Ende eines Weltzyklus<br />

als Raum und die Erdregion usw. und erlebt dann scheinbar all diese<br />

Naturkatastrophen und kosmischen Zerstörungen, obwohl in Wirklichkeit<br />

nichts dergleichen passiert.<br />

Geburt, Tod, Māyā, Täuschung, Blindheit, Nicht-Substantialität, Substantialität,<br />

Weisheit, Bindung, Befreiung, Gut und Böse, Momente und Ewigkeiten,<br />

Erkenntnis und Unwissenheit, verkörperte und entkörperte Zustände, Stetigkeit<br />

und Unstetigkeit, du und ich und andere, Wahrheit und Falschheit, Klugheit<br />

und Dummheit, die Ideen über die Zeit, Raum, die Tätigkeiten und die<br />

Materie, die Formen, die Sicht und die damit in Verbindung stehenden Gedankenbewegungen,<br />

die aus dem Intellekt und den Sinnen entspringenden<br />

Handlungen sowie die fünf Elemente, die alles durchdringen – all dies ist<br />

nichts als reines Bewusstsein, das ohne seine Natur aufzugeben als all dies<br />

erscheint – so wie Raum in Stücke aufgeteilt zu sein scheint, obwohl dies<br />

nicht so ist. Dieses unendliche Bewusstsein allein ist Lord Śiva, Hari, Brahmā,<br />

der Mond und die Sonne, Indra und Varuïa, Yama, Kubera und das Feuer. Der<br />

Erleuchtete jedoch sieht keinerlei Vielfalt, sondern immer nur das eine unendliche<br />

Bewusstsein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die kosmische Form, die ich dir als Lord Śiva beschrieben habe, war reines<br />

Bewusstsein und es war Rudra, der Tänzer. Es war weder eine Gestalt noch<br />

war es Formlosigkeit. In dieser Masse von Bewusstsein wurde all dies als eine<br />

Erfahrung empfunden. Ich nahm nur diesen Raum (Ebene) wahr, der höchster<br />

Friede war, und ich erfuhr ihn so, wie ich beschrieben habe. Niemand sah<br />

es auf die gleiche Weise.<br />

604


VI.2:84<br />

Was als das Ende des Weltzyklus, als Rudra und Bhairavi, beschrieben wurde,<br />

war eine rein illusorische Erscheinung – erfahren wurden sie in diesen<br />

Gestalten allein durch mich. Nur die Masse Bewusstsein existiert. Sobald sie<br />

als eine bestimmte Gestalt (Bhairava) wahrgenommen wird, wird sie in dieser<br />

Gestalt gesehen und scheint diese dann auch anzunehmen. Das Verstehen<br />

eines Wortes und seiner Bedeutung (Objekt) ist ohne Bewusstsein nicht<br />

möglich. Aufgrund der wiederholten Anwendung solchen Verstehens geschieht<br />

es, dass du das durch den Ausdruck bezeichnete Objekt als zunehmend<br />

real empfindest. Weder gab es jemals eine Bhairavi noch einen<br />

Bhairava (Kālarātri und Rudra) noch überhaupt die kosmische Auflösung – all<br />

diese waren illusorische Erscheinungen. Die einzige Realität ist das unendliche<br />

Bewusstsein. So habe ich dir also die Bedeutung von Rudras Gestalt und<br />

Gestaltlosigkeit beschrieben. Nun werde ich dir die Bedeutung des Tanzes<br />

erläutern.<br />

Bewusstsein ist niemals ohne Bewegung innerhalb von sich selbst. Ohne<br />

diese Bewegung würde es „unwirklich“ werden. Aufgrund der Bewegtheit<br />

innerhalb von sich selbst erschien Bewusstsein daher als Rudra. Bewegtheit<br />

ist die eigentliche Natur des Bewusstseins und daher untrennbar davon.<br />

Diese Bewegung des Bewusstseins in sich selbst wurde als der Tanz von Lord<br />

Rudra erfahren. Diese Bewegung war reine Bewegung. Sie wurde von mir<br />

aufgrund meiner eigenen psychologischen Konditionierung als Tanz von Lord<br />

Rudra empfunden. Daher war der Tanz von Lord Rudra die Bewegung innerhalb<br />

des reinen Bewusstseins.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie wird Bewusstsein überhaupt allem gewahr und wessen wird es gewahr,<br />

wenn doch während der kosmischen Auflösung alles Unwirkliche aufgelöst<br />

wird?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Natürlich nimmt das Bewusstsein nicht etwas anderes wahr. Was hier als<br />

das Objekt der Beobachtung bezeichnet wird, ist allein als eine Bezugnahme<br />

auf die eigentliche Natur dieses Bewusstseins. So wie die Städte usw. eines<br />

Traumes alle innerhalb des Bewusstseins des Träumers liegen, so wird sich<br />

das Bewusstsein seiner eigenen Bewegung im Moment des Beginns der Bewegung<br />

bewusst. Und so entstehen in ihm die Ideen eines Moments, eines<br />

Alters, eines Weltzyklus usw. wie auch die Ideen des „ich“ und „du“ usw. Daher<br />

gibt es da weder eine Dualität noch eine Einheit noch eine Leerheit; weder<br />

Bewusstsein (als Subjekt) noch Unbewusstheit. Da ist nur reine Stille und<br />

noch nicht einmal dies. Das unendliche Bewusstsein allein existiert.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Ebene (Raum) des Bewusstseins selbst nennt man Bhairava oder Śiva.<br />

Untrennbar und nicht-verschieden von diesem ist seine dynamische Energie,<br />

die das Gemüt ist. Luft wird durch seine Bewegtheit gesehen (erfahren),<br />

Feuer wird durch seine Hitze erkannt, das reine Bewusstsein ist rein und still<br />

605


und wird als Śiva gekannt. Dieser Śiva ist jenseits jeder Beschreibung. Es ist<br />

die dynamische Energie des Lords, die sozusagen alle seine Wünsche erfüllt<br />

und die Wünsche als Visionen auftauchen lässt. Diese Energie oder Macht<br />

oder Māyā ist Bewusstsein. „Sie“ ist eine lebendige Kraft und daher wird sie<br />

auch jīva genannt. Weil diese Schöpfungs-Manifestation dem unendlichen<br />

Bewusstsein natürlich ist, wird sie als prak?ti oder Natur bezeichnet. Weil sie<br />

die Ursache aller gesehenen und erfahrenen Dinge ist, nennt man sie kriyā<br />

oder Tätigkeit.<br />

Weil sie großen Zorn gegenüber dem Bösen entfaltet, nennt man sie<br />

caï¬ikā. Da sie die Farbe des blauen Lotos hat, nennt man sie utpalā. Als jayā<br />

wird sie bezeichnet, weil sie stets siegreich ist. Als sidhhā wird sie bezeichnet,<br />

weil in ihr Vollkommenheit ruht. Jayā ist gleichzeitig auch jayantī wie auch<br />

vijayā, was alles „Sieg“ bedeutet. Da sie unbesiegbar ist, wird sie auch parājitā<br />

genannt. Als durgā ist sie bekannt, weil ihre Gestalt oder wahre Natur jenseits<br />

unseres Begreifens ist. Sie wird umā genannt, weil sie die eigentliche Essenz<br />

der heiligen Silbe OM ist. Sie wird gāyatrī genannt, weil ihre Namen von allen<br />

gesungen werden. Sie wird sāvitrī genannt, weil sie die Schöpferin von allem<br />

ist. Sie ist die Erweiterung der eigenen Sichtweise aller Dinge und wird daher<br />

auch sarasvatī genannt. Weil sie von weißer (gelber oder roter) Farbe ist,<br />

wird sie gaurī genannt. Weil sie als Lichtstrahl im Schläfer und im Erleuchteten<br />

als die subtile innere Vibration, hervorgerufen durch den Klang OM, existiert,<br />

wird sie indukalā (Mondstrahl) genannt.<br />

Da sie und Śiva Raum oder Äther als ihre wahre Gestalt haben, sind ihre<br />

Körper von blauer Farbe. Raum ist ihr Fleisch, ihre Knochen und alles andere.<br />

Sie existieren als Raum im Raum. Ihr Tanz mit den verschiedenen Gesten usw.<br />

symbolisiert die Schöpfung, den Niedergang derselben und den Tod aller<br />

Lebewesen. Sie wird mit Gliedern wahrgenommen, weil sie durch die Bewegungen<br />

ihrer Energie die Welten erschafft. Diese kālī stattet sozusagen alle<br />

Dinge mit ihren Eigenschaften aus mit Hilfe der ihren Gliedern innewohnenden<br />

Kraft. Jedoch kann niemand irgendwie ihre Glieder wahrnehmen oder<br />

ihre wahre Natur zu beschreiben. So wie wir die Bewegung im Raum als Luft<br />

wahrnehmen, so wird die dynamische Energie des Bewusstseins durch die<br />

Tätigkeit oder Bewegung erfahren, die in diesem Bewusstsein stattfindet.<br />

Aber Bewegung oder Tätigkeit kann nicht als Eigenschaft des Bewusstseins<br />

bezeichnet werden, da es weder Qualitäten noch Eigenschaften besitzt –<br />

Bewusstsein ist gänzlich rein und still und jenseits aller Beschreibungen. Die<br />

Vorstellung von Bewegung im Bewusstsein ist Unwissenheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn diese dynamische Energie des Bewusstseins an jedem Ort ruht, wie<br />

sie ist (ohne dabei zu etwas anderem zu werden), wird sie als Lord Śiva bezeichnet.<br />

Das bedeutet also, dass das Ding in sich selbst Lord Siva ist. Was<br />

dann folgt, sind die Glieder dieser dynamischen Energie des Bewusstseins,<br />

die alle als Ideen innerhalb von ihr erzeugt worden sind: Alle diese erschaffenen<br />

Welten, die Erde mit ihren Kontinenten und Ozeanen, den Wäldern und<br />

606


den Bergen, den Schriften, den verschiedenen Formen der heiligen Riten, den<br />

Kriegen, in denen die verschiedensten Waffen verwendet werden, und als alle<br />

vierzehn Welten.<br />

RĀMA fragte:<br />

Oh Weiser, sind diese Dinge, die man als die Glieder des Körpers dieser dynamischen<br />

Energie bezeichnet, real oder falsch?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma, alle diese sind real, denn alle sind durch das Wirken dieser dynamischen<br />

Energie des Bewusstseins hervorgebracht worden und werden<br />

durch Bewusstsein erfahren. So wie ein Spiegel ein wirkliches Objekt reflektiert,<br />

das sich außerhalb befindet, so reflektiert das Bewusstsein innerhalb<br />

von sich das, was innerhalb von ihm ist, und folglich ist dieses real. Sogar die<br />

eingebildeten Städte oder die illusorische Erscheinung der Stadt taucht nur<br />

im Bewusstsein auf –gleich ob diese Erscheinung nun aufgrund beständiger<br />

Kontemplation oder der Reinheit des Bewusstseins auftaucht. Diese Schöpfung<br />

ist real, ob sie nun als Reflexion, als Traumobjekt oder als Fantasie betrachtet<br />

wird, denn sie gründet auf der Wahrheit, die das Selbst ist – das ist<br />

meine Überzeugung. Falls du nun einwendest: „Aber diese eingebildeten<br />

Schöpfungen haben keinerlei Nutzen für mich“, so bedenke bitte, welchen<br />

Nutzen jene haben, die in ein fernes Land gegangen sind. Sie sind aber für die<br />

Bewohner des Dorfes, zu dem sie gewandert sind, von Nutzen. So ist es mit<br />

allem.<br />

Was auch immer hier existiert und lebt, ist für das Selbst real, aber nicht für<br />

einen, der es nicht wahrnimmt und seiner nicht gewahr ist. Daher sind alle<br />

diese Schöpfungen und Kreaturen, die im Feld der Energie des Bewusstseins<br />

existieren, wahr für das wahrnehmende Selbst und irreal für den Nicht-<br />

Wahrnehmenden. All die Ideen und Träume, die in Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft existieren, sind sämtliche real, denn das Selbst ist das Selbst von<br />

allem, und dieses ist real. Alle diese werden von denjenigen, die den entsprechenden<br />

Bewusstseinszustand erlangt haben, erfahren; so wie jemand in ein<br />

fernes Land wandert und die Landschaften dort erblickt. Jedoch ändern die<br />

Bewegung der Bewusstseinsenergien niemals die Wahrheit, so wie ein Schlafender,<br />

der ungestört an einen anderen Ort gebracht wird, keine Unterbrechung<br />

seiner Träume erfährt. Sobald erkannt wird, dass die Wahrnehmung<br />

der drei Welten nur eine unwirkliche Fantasievorstellung ist, gibt es keine<br />

Fragen mehr betreffend ihre Unterbrechung oder etwas anderes.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Eine eingebildete Stadt ist Einbildung – keine Stadt! Auch die Schöpfung ist<br />

nur die Vorstellung, die in der Energie des unendlichen Bewusstseins auftaucht.<br />

Oder die Vorstellung, die auf diese Weise auftaucht, ist die Schöpfung.<br />

Kālarātri ist für den Höchsten Herrn das, was die Bewegung für die Luft ist.<br />

So wie Luft sich im leeren Raum bewegt, als hätte sie eine Gestalt, so bewegt<br />

sie sich im unendlichen Bewusstsein und führt dabei sozusagen den Willen<br />

VI.2:85<br />

607


oder den Wunsch des Höchsten Herrn aus. Sobald es keine solche Bewegung<br />

der Energie gibt, existiert allein der Höchste Herr.<br />

Während sie so im Raum tanzt, kommt sie zufällig (wie die Krähe und die<br />

Kokosnuss) in Kontakt mit dem Höchsten Herrn. Im Moment dieses Kontaktes<br />

wird sie plötzlich schwach, dünn und durchsichtig. Sie gibt ihre kosmische<br />

Gestalt auf und wird ein Berg, anschließend eine kleine Stadt und dann ein<br />

herrlicher Baum. Schließlich wird sie wie Raum und zu guter Letzt zur Gestalt<br />

des Höchsten Herrn selbst – so wie ein Fluss in den Ozean mündet. Dann<br />

strahlt der Höchste Herr als Einer ohne ein Zweites.<br />

RĀMA fragte:<br />

Teile mir doch bitte mit, heiliger Herr, weshalb die göttliche Mutter schließlich<br />

still wird?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, dies ist die dynamische Energie des Bewusstseins, die man<br />

prak?ti, jaganmāyā usw. nennt. Sie ist unverfälscht. Das was höher als diese<br />

Energie ist, ist Bewusstsein selbst, welches das wahre Selbst des Bewusstseins<br />

ist, höchster Friede. Diese dynamische Energie wirkt und bewegt sich so<br />

lange, als es das Momentum der Wünsche des Höchsten Herrn gibt. Man<br />

könnte sagen, dass sie tanzt, solange sie den Herrn nicht sieht.<br />

Da Bewusstsein und Energie untrennbar eines sind, gelangt die Energie in<br />

Kontakt (oder wird gewahr) mit dem Höchsten Herrn und wird der Höchste<br />

Herr selbst. Sobald prak­ti den Höchsten Herrn berührt, gibt sie ihre Prak­tischaft<br />

(den Zustand, Bewegung zu sein) auf. Sie wird eins mit dem Höchsten<br />

Herrn wie ein Fluss eins wird mit dem Ozean. Die Bewegung von Energie ist<br />

nur das Ergebnis einer Idee, die im Bewusstsein auftaucht, und die Energie<br />

kehrt auf natürliche Weise ins Bewusstsein zurück – so wie man von einem<br />

Schatten sagen könnte, dass er in die Person zurückkehrt, sobald er aufhört<br />

zu sein. Ein heiliger Mann mag in der Gesellschaft von Dieben leben, bis er die<br />

Wahrheit hört – danach wird er diese Gesellschaft meiden. Bewusstsein<br />

schwelgt in der Dualität, bis es sein eigenes Selbst sieht. Die Energie des<br />

Bewusstseins tanzt, bis sie den Glanz des nirvāņa wahrnimmt. Sobald sie<br />

Bewusstsein erblickt, wird sie zu reinem Bewusstsein.<br />

Man wandert in diesem saæsāra mit Geburt und Tod nur so lange umher,<br />

bis man das Höchste erkannt hat. Sobald man es erblickt hat, verschmilzt<br />

man unverzüglich mit dem Höchsten. Wer gibt freiwillig das wieder auf, was<br />

ihn von allem Gram erlöst?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ich werde dir nun mitteilen, oh Rāma, wer es war, der im kosmischen Raum<br />

mit scheinbarer Gestalt stand, diese abwarf und die totale Stillheit erlangte.<br />

Dieser Rudra stand dort und beobachtete die Getrenntheit im Bewusstsein,<br />

die man die Schöpfung nennt. Innerhalb eines Augenblicks „schluckte er<br />

sozusagen die Getrenntheit“. Dann stand Rudra allein da, eins mit dem Raum,<br />

VI.2:86<br />

608


VI.2:87<br />

als ob er selbst Raum wäre. In wenigen Minuten wurde er so leicht wie eine<br />

Wolke, während sein Umfang sehr schnell abnahm. Mit meiner göttlichen<br />

Sicht sah ich, dass er schon kleiner als ein Atom geworden war. Innerhalb<br />

eines Augenblicks war er unsichtbar. Er wurde zu höchstem Frieden. Er wurde<br />

eins mit dem absoluten Brahman oder reinen Bewusstsein.<br />

So also, oh Rāma, erblickte ich in diesem Felsen die Schöpfung, Erhaltung<br />

und Auflösung des Universums. Verwundert war ich vom Anblick dieser<br />

illusorischen Wahrnehmung. Ich betrachtete erneut den Felsen und erschaute<br />

alle Arten von Schöpfungen und Kreaturen darin – wie die Glieder von<br />

Kālarātri. Gesehen wird all dies nur mit den Augen der erweckten Intelligenz<br />

oder dem göttlichen Auge, welches alles überall und immer so sieht, wie es<br />

ist. Betrachtet man den Felsen mit den fleischlichen Augen aus der Entfernung,<br />

dann sieht man nur den Felsen, jedoch keine Schöpfung usw.<br />

Nach all dem wandte ich mein inneres Auge einem anderen Teil desselben<br />

Felsens zu. Noch einmal sah ich eine ganze Schöpfung entstehen und alles<br />

andere. In jedem einzelnen Teil des Felsens sah ich eine ganze Schöpfung.<br />

Ebenso sah ich unzählige Schöpfungen in den vielen Felsen, die auf dem Berg<br />

herumlagen.<br />

In manchen dieser Schöpfungen hatte Brahmā gerade mit dem Erschaffen<br />

begonnen, während in anderen die Götter dem Gemüt des Schöpfers entsprangen.<br />

Wieder andere waren von menschlichen Wesen bevölkert, während<br />

in einigen keine Götter und in andern keine Dämonen lebten. In einigen<br />

herrschte satyayuga (das goldene Zeitalter) und in anderen kaliyuga (das<br />

eiserne Zeitalter). In manchen Schöpfungen hatten die Menschen Alter und<br />

Tod besiegt und in anderen waren alle Menschen erleuchtet, da ihrer Rechtschaffenheit<br />

keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt wurden. So erblickte ich<br />

also den Zustand des Universums in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.<br />

In manchen Teilen erblickte ich dichte Finsternis und Unwissenheit, in anderen<br />

sah ich Rāma gegen Rāvaïa kämpfen, während in wieder anderen Rāvaïa<br />

Sītā entführte. Manche wurden von den Göttern und andere von den Dämonen<br />

regiert.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, sage mir doch bitte, ob ich vor dieser Inkarnation schon als<br />

Rāma existiert habe?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Du und ich, wir wurden beide wieder und wieder geboren, oh Rāma. Natürlich<br />

sind vom Standpunkt der absoluten Wirklichkeit aus weder du noch ich<br />

noch diese Welt jemals ins Dasein gekommen. All dies ist nur wie Wellen auf<br />

dem Ozean. Ihr anscheinendes Auftauchen und Verschwinden ist illusorischer<br />

Wahrnehmung und getäuschtem Verstehen zuzuschreiben.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem ich so eine Zeitlang über das unendliche Bewusstsein nachgedacht<br />

hatte, erkannte ich plötzlich, dass all diese Schöpfungen sich in mir<br />

609


selbst befanden; in meinem eigenen Körper – wie der Baum sich im Samen<br />

befindet. Wenn man die Augen im Schlafe schließt, betritt man eine innere<br />

Welt, die durch eine innere Schau erschaffen wird. Wacht man dann auf, betritt<br />

die Schau des Menschen die Welt des Wachzustandes. Auf dieselbe Weise<br />

wird die Schöpfung erfahren, indem man im eigenen Herzen in sie hineingeht.<br />

Nachdem ich die Erscheinung dieser Schöpfung im reinen Raum erblickt<br />

hatte, betrat ich andere Teile meiner selbst, da ich begierig war, weitere Aspekte<br />

der Schöpfung kennenzulernen. Sobald ich daher das Licht meiner<br />

inneren Intelligenz auf diesen „Raum“ gerichtet hatte, begann in diesem die<br />

Erfahrung dieses Raumes aufzutauchen. Oh Rāma, sobald du im Wach- oder<br />

Schlafzustand das Bewusstsein in deinem eigenen Selbst betrittst, weißt du,<br />

dass es eine einzige Masse Bewusstsein ist. Zu Beginn ist da nichts als dieser<br />

reine Raum oder Leerheit. In diesem taucht die Idee „Ich bin“ auf. Die Verfestigung<br />

dieser Idee nennt man buddhi oder Intellekt, und die Verfestigung<br />

dessen das Gemüt. Dieses erfährt dann das reine Element des Klangs und<br />

auch die anderen Elemente, die tanmātras. Aus diesen Erfahrungen entstehen<br />

die verschiedenen Sinne.<br />

Manche behaupten, dass es in dieser Schöpfung eine Art von Ordnung gibt,<br />

während andere erklären, dass es diese nicht gibt. Und doch ist es nicht möglich,<br />

die Natur und die Eigenschaften der geschaffenen Objekte zu verändern,<br />

welche sie aufgrund einer entsprechenden Vorstellung erhalten haben, die<br />

ganz zu Beginn im unendlichen Bewusstsein aufgetaucht ist.<br />

Während ich die Schöpfung betrachtete, nahm ich eine atomare Gestalt an.<br />

Ich realisierte mich selbst als einen Lichtstrahl. Indem ich allein darüber<br />

nachzudenken begann, wurde ich grobe Masse. Und darin lagen dann alle<br />

Möglichkeiten der Sinneserfahrungen.<br />

Ich begann zu sehen. Die Organe, mit denen ich sah, wurden zu den Augen.<br />

Was ich sah, wurde zum Anblick (Objekt). Die Frucht dieser Erfahrung war<br />

die Sicht. „Wann“ ich all dies sah, wurde zu Zeit (Dauer). Die Art und Weise, in<br />

der ich sah, wurde zur Methode des Sehens. „Wo auch immer“ ich sah, wurde<br />

zu Raum. Durch Überzeugund entstand daraus die Ordnung der Schöpfung.<br />

Als so das Bewusstsein sozusagen „die Augen geöffnet hatte“ oder seiner<br />

eigenen eingeborenen Möglichkeiten oder Potentialitäten bewusst geworden<br />

war, tauchten die tanmātras (reine Elemente) auf. Anschließend traten all die<br />

Sinne, die in Tat und Wahrheit reiner Raum oder Leerheit sind, ins Dasein.<br />

Und so dachte ich : „Lass mich etwas hören“. Daraus entstanden der Klang<br />

und die Organe des Hörens. Schließlich entstanden der Berührungssinn, der<br />

Geschmackssinn und der Geruchssinn usw. Obwohl all dies in mir aufzutauchen<br />

schien, geschah tatsächlich überhaupt nichts.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Als dann die fünf Elemente und die fünf Sinne ins Dasein getreten waren,<br />

tauchte in mir auf unwiderstehliche Weise gleichzeitig das diesen Dingen<br />

610


VI.2:88,<br />

89<br />

entsprechende Wissen und die Erfahrung auf. Sie waren ohne „Form“ (Substantialität)<br />

und illusorisch. Als ich dann alle diese Ideen und Erfahrungen<br />

überdachte, wurde dieser Zustand meines Seins zu dem, was für Menschen<br />

wie dich Ich-heit oder Ich-Sinn genannt wird. Wenn diese Idee des Ich-Sinns<br />

gröber wird, nennt man sie buddhi oder Intellekt, und wenn dieses gröber<br />

wird, nennt man es das Gemüt. Obwohl ich reines Bewusstsein bin, scheine<br />

ich tatsächlich einen subtilen Körper (ātivāhika) und ein anta÷karaïa (inneres<br />

Organ bestehend aus Gemüt, Intellekt usw.) erworben zu haben.<br />

Ich bin subtiler und noch leerer als die Luft. Daher widersetze ich mich<br />

niemals dem Entstehen von irgenetwas. Da ich aber seit einer beträchtlichen<br />

Zeit in dieser eingebildeten Existenz bin, stellst du dir vor, dass ich einen<br />

Körper habe. Es geschieht aufgrund dieser in dir wohnenden Idee, dass ich<br />

diesen Klang erzeuge, den man Reden nennt. Du hörst ihn, wie eine schlafende<br />

Person Klänge in ihren Träumen hört. Der erste Klang, den ein Kind von<br />

sich gibt, ist OM. OM wurde daher der erste unter allen. Danach hast du alles,<br />

was ich wie im Traum von mir gegeben habe, als meine Rede erachtet.<br />

Ich bin das absolute Brahman. Ich bin mir selbst genug. Ich bin der Schöpfer<br />

dieser Schöpfung und der Lehrer von allen. All dies habe ich durch meine<br />

eigenen Gedanken und Ideen erschaffen. So existiere ich, bin aber in Wahrheit<br />

ungeboren. Dieses Universum habe ich gesehen – jenseits davon habe ich<br />

nichts gesehen. Jedoch ist all dies, was ich gesehen habe, nichts als reine<br />

Leerheit. All dies ist nichts als reines Erfahren. Nichts (die Erde usw.) existiert<br />

oder ist jemals geworden. Nichts existiert außerhalb. Alles befindet sich im<br />

Bewusstsein – alles ist Bewusstsein. Es gibt keine Welt in Brahman, doch<br />

Brahman erfährt eine Welt. Diese Wahrnehmung ist keine Realität oder Tatsache,<br />

sondern nur eine Idee.<br />

Gesehen werden kann diese Wahrheit nicht mit den physischen Augen, die<br />

lediglich materielle Objekte wahrnehmen können. Sobald du mit deinen subtilen<br />

(ātivāhika) Augen siehst, wirst du die Schöpfung so wahrnehmen, wie<br />

sie ist – als Wahrheit, als reines Brahman-nirvāņa.<br />

Als ich den Raum erfuhr, wusste ich, was Erde ist. Ich wurde zu Erde. In dieser<br />

Erde erfuhr ich die Existenz der zahllosen Universen, ohne dabei jemals<br />

das Gewahrsein aufzugeben, selbst das unendliche Bewusstsein zu sein. Ich<br />

erblickte die erstaunlichsten irdischen Phänomene und Ereignisse auf dieser<br />

Erde (innerhalb von mir). Tatsächlich erfuhr ich sogar, wie die Bauern „mich“<br />

(die Erde) pflügten. Ich erfuhr die brennende Hitze der Sonne und die kühlen<br />

Schauer des Regens. Ich wurde zu dem fürchterlichen Raum, in dem die<br />

Lokāloka-Berge (die Grenzen der Welt) existieren, und ich erfuhr die Taten<br />

und Regungen der zahllosen Lebewesen. Zahllose verschiedenste Wesen –<br />

Götter, Dämonen, Menschen, Tiere und Würmer – erfüllten mich. Angefüllt<br />

war ich von den Bergen, Wäldern usw., die auf der Erde existierten.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

611


Während ich in diesem Erd-Bewusstsein verweilte, erlebte ich die Erfahrungen<br />

der Erde mit all ihren Flüssen usw. Hier erlebte ich das Weinen und<br />

Klagen derjenigen, die ihre Lieben und Nahestehenden verloren hatten, dort<br />

erlebte ich die Freuden tanzender Mädchen, da waren die Schreie der Hungernden,<br />

dort die Freude der Wohlhabenden, und da waren auch Dürren und<br />

Erdbeben, Krieg und Zerstörung, herrliche Vögel und Seen, leidende Würmer,<br />

blühende Wälder, meditierende Weise. Oh Rāma, in diesem meinem Erd-<br />

Körper fand all dies statt!<br />

RĀMA fragte:<br />

Als du auf diese Weise mit der Kontemplation des Erde (pārthiva-dhāraïā)<br />

befasst warst, war die Erde real oder nur mental?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Wahrhaftig war sie mental und ich selber wurde zur Erde. Und wahrhaftig<br />

war dies weder mental, noch wurde ich tatsächlich zu Erde. Getrennt vom<br />

Gemüt gibt es keine Erde. Ob du nun etwas als real oder irreal erachtest – es<br />

ist nichts als mentale Tätigkeit. Ich bin nichts als reines, unendliches Bewusstsein<br />

und die Idee, die in diesem auftaucht, nennt man saÇkalpa oder<br />

Denken oder Imagination. Diese Bewegung ist das Gemüt, ist die Erde, ist die<br />

Welt und ist der Schöpfer – diese Welt taucht im Raum aufgrund eben dieser<br />

Idee auf, so wie eine eingebildete Stadt am Himmel auftaucht.<br />

Was ich als die Erde erfuhr, war nur eine einfache Idee und daher rein mental.<br />

Durchdrungen wird sie vom Gemüt und aufgrund des beständigen<br />

Darandenkens (dhāraïā) verharrt sie als wäre sie die Erde. Die Ebene der<br />

Erde ist mental – es ist die Idee, die im Bewusstsein auftaucht, und es ist<br />

ansonsten leer. Sobald diese Idee eine Zeitlang beständig ist, gibt sie ihren<br />

scheinbaren mentalen Zustand auf und wird dann scheinbar zu dieser festen,<br />

materiellen, harten und widerstandsfähigen Erde.<br />

Von diesem Gesichtspunkt aus existiert die Erde nicht. Jedoch wurde sie<br />

seit Beginn der Schöpfung als solide, materielle Existenz betrachtet. So wie<br />

das Traumobjekt nichts anderes als das Bewusstsein des Träumers ist, so ist<br />

diese Welterscheinung nichts anderes als reines Bewusstsein. Die Idee, die im<br />

Bewusstsein auftaucht, ist reines Bewusstsein und nichts anderes. Daher gibt<br />

es auch keine Idee als solche und weder ein Selbst noch eine Welt. Wird es so<br />

gesehen, existiert die Welt überhaupt nicht; wenn es nicht sorgfältig beobachtet<br />

wird, dann scheint die Welt zu entstehen.<br />

So wie ein Kristall ohne eigene Absicht Farben reflektiert, so reflektiert das<br />

unendliche Bewusstsein das gesamte Universum. Die Welt ist folglich weder<br />

mental noch materiell. Sie ist reines Bewusstsein, das als diese Erde erscheint.<br />

Es ist nur die von den zahllosen Wesen in den drei Welten gehegte<br />

Idee, die zu dieser angeblichen Realität oder Substanz der „Erde“ geworden<br />

ist. „Ich bin alles dies, und all das ist in all diesem.“ Mit dieser Erkenntnis sah<br />

ich alles.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.2:90<br />

612


So erfuhr ich in meinem Herzen diese Erd-Ebene. Obwohl alles, was ich sah<br />

und erfuhr, in meinem Herzen war, sah es gleichzeitig so aus, als wäre es von<br />

mir verschieden, als wäre da eine Subjekt/Objekt-Beziehung. Dies geschah,<br />

weil das Universum überall ist, weil Brahman überall ist und die Leerheit<br />

überall ist. Die Erd-Ebene existiert überall (und ist in Wahrheit nichts); aber<br />

sie ist reines Bewusstsein. Wie eine Traumstadt wurde es tatsächlich niemals<br />

erschaffen.<br />

Weder gibt es eine Vielfalt noch eine Nicht-Vielfalt. Weder gibt es Sein noch<br />

Nicht-Sein. Da gibt es ferner kein „Ich“. Wie kann man behaupten, dass es<br />

etwas gibt? Obwohl diese Schöpfung erfahren wird, existiert sie in Wahrheit<br />

nicht – oder wenn sie existiert, dann ist es Brahman allein das existiert. Wenn<br />

sie wie eine Traumstadt ist, wie kann man ihre Existenz bestätigen oder<br />

verleugnen?<br />

So wie ich durch die Kontemplation der Erde (Erd-dhāraïā, p?thvÅdhāraïā)<br />

die Ebene der Erde erfuhr, so erfuhr ich durch die Kontemplation<br />

des Wassers (Wasser-dhāraïā) die Ebene des Wassers. Durch die Kontemplation<br />

des Wassers wurde ich zu Wasser – obwohl ich nicht leblos war, wurde<br />

ich zu etwas leblosem. Lange Zeit hindurch wohnte ich in den Tiefen des<br />

Ozeans und machte dabei verschiedene, entsprechende Geräusche. Ich bewohnte<br />

die Körper von Pflanzen und Schlingpflanzen und machte in ihnen<br />

meine eigenen Kanäle. Ich betrat die Körper der verschiedenen Lebewesen<br />

durch ihren Mund und vermischte mich mit den vitalen Winden in ihren<br />

Körpern. Ruhelos floss ich die Flussbetten hinab und legte an den Dämmen<br />

Ruhepausen ein. Indem ich als Dampf aufstieg, gelangte ich als Wolke in die<br />

Himmelsregionen. Dort ruhte ich einige Zeit bei meinem Freund, dem Blitz,<br />

aus.<br />

Ich bewohnte alle Lebewesen als das Wasserelement, so wie das unendliche<br />

Bewusstsein in allen Wesen wohnt. Indem ich Verbindung mit den Geschmacksnerven<br />

der Zunge aufnahm, erfuhr ich die verschiedenen Aromen –<br />

ganz gewiss ist diese Erfahrung reine Erkenntnis! Der Geschmack wurde<br />

weder von mir noch vom Körper noch von jemand anderem erfahren. Die<br />

Erfahrung geschah im Innern als das Objekt des Erfahrens – und als solches<br />

war sie falsch.<br />

Als die Blüten erblühten, kam ich als Tau hinab und kostete, was die Bienen<br />

nach ihrem Besuch noch an Süße übriggelassen hatten. In den vierzehn Klassen<br />

der Lebewesen wohnte ich als das Gewahrsein des Geschmacks –<br />

Bewusstsein, aber als Unbewusstheit erscheinend. Indem ich die Gestalt der<br />

Wassertröpfchen und der Sprühgischt annahm, genoss ich das Reisen mit<br />

dem Wind und wanderte von einem Ort zum nächsten. In diesem Zustand als<br />

Wasser hatte ich vielfältige und sehr interessante Erfahrungen. Ich sah hunderte<br />

von Welten entstehen und wieder verschwinden. Ob diese Welt nun<br />

Gestalt hat oder nicht – sie ist reines Bewusstsein und immaterielle Leerheit.<br />

Oh Rāma, du bist nichts, aber du bist nicht nicht-existent. Du bist reines und<br />

höchstes Bewusstsein.<br />

613


VI.2:91<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Schließlich wurde ich durch die Kontemplation des Feuerelements (tejadhāraïā)<br />

zum Feuerelement. Feuer oder Licht ist überwiegend satva und<br />

daher stets leuchtend. Es zerstreut die Dunkelheit wie der König durch seine<br />

Anwesenheit die Diebe in die Flucht treibt. Ich erkannte das Elend der Finsternis,<br />

die alle guten Eigenschaften zerstört, denn ich wurde zum Licht, in<br />

dem alles gesehen wurde. Licht gewährt allem Gestalt – so wie der Vater<br />

seinem Sprössling Gestalt schenkt. In der Unterwelt gibt es sehr wenig Licht<br />

und daher größere Dunkelheit. Im Himmel wiederum gibt es nur Licht –<br />

immer. Licht ist die Sonne, die den Lotos der Tätigkeit erblühen lässt.<br />

Ich wurde zur Prachtfarbe (survaïa) im Gold usw. Ich wurde zu Vitalität<br />

und Tapferkeit im Manne, und in den Juwelen funkelte ich als ihr Feuer. In den<br />

Regenwolken wurde ich zum Licht ihrer Blitze, in den leidenschaftlichen<br />

Frauen zum Zwinkern ihrer Augen, und ich wurde die Kraft der Löwen. Selber<br />

wurde ich der Hass in den Göttern auf die Dämonen und in den Dämonen der<br />

Hass auf die Götter. Ich wurde zur vitalen Essenz aller Wesen. Ich erfuhr das<br />

Dasein als Sonne, Mond, Sterne, Edelsteine, Feuer (einschließlich des Feuers<br />

der kosmischen Auflösung), Blitz und Lampe. Als ich zu Feuer wurde, war die<br />

glühende Asche meine Zähne, der Rauch mein Haar und der Brennstoff meine<br />

Nahrung. In der Werkstatt des Schmieds war ich das Feuer, welches das Eisen<br />

rotglühend machte, und wenn es gehämmert wurde, versprühte ich mich in<br />

einem Funkenregen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Oh Weiser, warst du, nachdem du zum Feuerelement wurdest, glücklich<br />

oder unglücklich?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So wie eine schlafende Person für eine Zeitlang nicht fühlend wird, obwohl<br />

sie ein fühlendes Wesen ist, so wird das Bewusstsein zu einem leblosen Objekt.<br />

Sobald es sich selbst als die Elemente (Erde usw.) denkt, denkt es sich<br />

selbst als nicht-fühlend. In Wahrheit jedoch gibt es im Bewusstsein keine<br />

solche Trennung zwischen Subjekt und Objekt.<br />

Was ich daher in den Zuständen als Erde, Wasser und Feuer erfuhr, erfuhr<br />

ich als nichts anderes als Brahman. Wäre ich wirklich leblos geworden, wie<br />

hätte ich die Erfahrung, die Erde usw. zu sein, machen können? Die fühlende<br />

Person denkt: „ich schlafe!“ und scheint dann nicht-fühlend zu sein. Erwacht<br />

man dann zur Wahrheit seiner selbst, verschwindet die Materialität des Körpers.<br />

Mit Hilfe des subtilen (ātivāhika) Körpers ist die Person dann in der<br />

Lage, in alles an jedem beliebigen Ort zu gehen. Dieser subtile Körper ist<br />

selbst nichts anderes als reine Intelligenz. Wenn man mit Hilfe dieser Intelligenz<br />

aus eigenem Wunsch einen anderen Zustand erfährt, erleidet man offensichtlich<br />

weder Unglücklichsein noch Kummer.<br />

So wie die in einem Traum wahrgenommene Welt von der Finsternis der<br />

Unwissenheit eingehüllt und daher irreal ist, so verhält es sich auch mit den<br />

614


anderen Elementen, die man erfährt. Wenn man sich einen Fluss aus Funken<br />

vorstellt und ihn berührt, erfährt man keinerlei Schmerz. So verhielt es sich<br />

mit meinen Erfahrungen der Elemente.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Schließlich wurde ich durch vāyu-dhāraïā (Kontemplation meiner selbst als<br />

der Wind) zum Luftelement. Ich lehrte die Gräser, Blätter, Kletterpflanzen und<br />

das Stroh die Kunst des Tanzens. Indem ich Kühle wehte, machte ich mich<br />

zum Freund der jungen Damen. Gleichzeitig war ich wegen meinen Hitzewellen,<br />

Wirbelstürmen und Tornados weit und breit gefürchtet. In den Lustgärten<br />

verbreitete ich süße Düfte, in den Höllen versprühte ich Feuerfunken.<br />

Meine Geschwindigkeit war so groß, dass die Leute Gemüt und Wind als<br />

Geschwister ansahen. Ich floss mit den Wassern des heiligen GaÇgā dahin und<br />

hätte vielleicht Langeweile empfunden, wenn ich nicht die Müden und Erschöpften<br />

hätte erquicken können, was mich glücklich machte. Den Raum<br />

unterstützte ich durch Weitertragen der Klangwellen und so wurde ich der<br />

teure Freund des Raumes. Ich bewohnte die vitalen Organe aller Wesen. Ich<br />

kannte die Geheimnisse des Feuers und wurde so der Freund des Feuers. Als<br />

Lebensatem betrieb ich die Körpermaschinen aller verkörperten (lebenden)<br />

Wesen. So wurde ich zur selben Zeit ihr Freund und ihr Feind.<br />

Obwohl ich mich vor aller Augen befand, konnte ich doch von niemandem<br />

gesehen werden. Während der kosmischen Auflösung vermochte ich ungeheure<br />

Berge zu heben und nach Belieben umherzuwirbeln. Als Luft führte ich<br />

sechs Funktionen aus: Mengen von etwas ansammeln, austrocknen, aufrechterhalten<br />

und unterstützen, vibrieren oder Bewegung verursachen, Duft verbreiten<br />

und kühlen. Ich erfüllte die Aufgabe des Erbauens und Zerstörens von<br />

Körpern.<br />

Während ich das Element Luft war, nahm ich innerhalb jedes einzelnen Moleküls<br />

der Luft ein ganzes Universum wahr. In jedem dieser Universen erblickte<br />

ich alle Elemente usw. wie sie in diesem Universum sind. Sie stellten<br />

keine realen Gegebenheiten dar, sondern waren bloß Ideen, die in der kosmischen<br />

Leerheit oder im unendlichen Raum auftauchten.<br />

In diesen Welten gab es ebenfalls Götter und Planeten, Berge und Ozeane<br />

sowie die illusorischen Wahrnehmungen von Geburt, Alter und Tod. Ich<br />

durchwanderte all diese Reiche zur Zufriedenheit meines Herzens. Zahllose<br />

Wesen wie Himmelsbewohner und Weise ruhten auf meinem Körper wie<br />

ebenso viele Fliegen und Moskitos. Wenn ich sie verließ, erlangten sie ihre<br />

verschiedenen Gestalten und Farben. Wenn ich sie berührte, erfuhren sie<br />

immense Freude, jedoch konnten sie mich nicht sehen.<br />

Obschon die Unterwelten meine Füße, die Erde meine Eingeweide und die<br />

Himmel mein Kopf waren, gab ich nicht für einen Moment meine subatomare<br />

Natur auf. Überall und immer gab es nur mich und ich vollbrachte alles. Ich<br />

war das Selbst von allem. Ich war alles. Und doch war ich reine Leerheit. Ich<br />

erfuhr das Sein und das Nicht-Sein, den formlosen Zustand und die Form,<br />

VI.2:92<br />

615


während ich all dessen gleichzeitig gewahr und nicht gewahr blieb. Es gibt da<br />

noch zahllose Universen wie dasjenige, welches ich erfahren habe. So wie ein<br />

Mensch in seinem Traum von zahllosen Objekten träumt, so erfuhr ich innerhalb<br />

jedes Atoms Universen und weitere Universen in den Atomen dieser<br />

Universen. Ich wurde zu all diesen Universen und obgleich ich das Selbst von<br />

allem war und all dieses durchdrang, umhüllte ich es doch nicht. Dies sind<br />

nur Worte wie „es gibt Hitze im Feuer“ („Hitze im Feuer“ bezeichnet eine<br />

Tatsache, aber es werden drei Worte gebraucht).<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom Weisen aus dem Weltraum<br />

VI.2:93<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nach all diesen Ereignissen ging ich zu meiner Einsiedelei im Weltraum zurück.<br />

Ich suchte meinen physischen Körper – er war nicht dort. Ich fand aber<br />

einen betagten Weisen in dieser Einsiedelei sitzend. Er saß in tiefer Meditation<br />

in der Lotosposition. Sein Antlitz strahlte und war wunderschön, da er von<br />

Frieden und Seligkeit erfüllt war. Seine Lotos-ähnlichen Hände hatte er vor<br />

dem Nabel zusammengelegt – auch sie leuchteten. Seine Augen waren geschlossen,<br />

und ganz offensichtlich befand er sich jenseits des Körperbewusstseins.<br />

Da ich meinen eigenen Körper nicht sah, sondern nur denjenigen des<br />

meditierenden Weisen, überlegte ich wie folgt:<br />

Gewiss ist dies ein großer und vollkommener Weiser. Wie ich wird er in<br />

dem Wunsch nach völliger Abgeschiedenheit hierhergekommen sein. Er hat<br />

die Abgeschiedenheit gesucht und hat diese Einsiedelei im Weltraum entdeckt.<br />

Vielleicht hat er auf meine Rückkehr gewartet und als ich so lange<br />

nicht kam, hat er diesen Körper hinausgeworfen und damit begonnen, diese<br />

Einsiedelei zu bewohnen. Ich werde in meine eigene Sphäre zurückkehren.<br />

Als ich so nachdachte und nicht mehr wünschte, in dieser Einsiedelei zu<br />

bleiben, verschwand die Einsiedelei und mit ihr der Weise. Sobald die eigenen<br />

Gedanken (Ideen oder Konzepte) aufhören, hört auch das auf, was diese<br />

Gedanken hervorgerufen hat. Als mein Wunsch nach der Einsiedelei verschwand,<br />

verschwand sie. Die Einsiedelei fiel wie ein Raumschiff. Der Weise<br />

fiel auch. Und ich ging mit ihm zusammen auf die Erdebene hinab. Der Weise<br />

landete dort in demselben Zustand und derselben Position, in der er sich in<br />

der Einsiedelei befunden hatte; aufgrund der Vereinigung von prāïa und<br />

apāna hatte er die Schwerkraft überwunden. Er erwachte nicht aus seiner<br />

Meditation. Sein Körper war so stark wie ein Fels und so leicht wie eine<br />

Baumwollflocke.<br />

616


Um ihn ins normale Körperbewusstsein zurückzuholen, nahm ich die Gestalt<br />

einer dicken Wolke an, aus der es regnete und donnerte. Daraufhin erlangte<br />

er sein Körperbewusstsein zurück. Ich fragte ihn: „Wo bist du, oh Weiser?<br />

Was tust du? Wer bist du? Obwohl du aus so großer Höhe gefallen bist,<br />

nimmst du es gar nicht wahr – wie kommt dies?“<br />

Nachdem der Weise die Vergangenheit kurz überdacht hatte, sprach er:<br />

„Nun habe ich dich erkannt, oh du Heiliger. Ich grüße dich. Vergib mir bitte,<br />

dass ich dich nicht schon früher begrüßt habe. Die Natur der Weisen ist<br />

großmütig und nachsichtig. Oh Weiser – ich bin eine lange, lange Zeit in den<br />

Reichen der Götter umhergewandert. Ich bin dieses saæsāra müde. Wenn<br />

doch all dies hier reines Bewusstsein ist, was nennen wir dann Sinnesvergnügen?<br />

Und so wohne ich im Raum, frei von mentaler Ablenkung und Anziehung.<br />

Keine einzige dieser Sinneserfahrungen ist real und unabhängig vom<br />

Bewusstsein. Die Objekte des Vergnügens sind Quellen des Giftes, die sexuellen<br />

Lüste sind Täuschung, die Süße beraubt den Genießer des Süßen – wer<br />

von all dem überwältigt wird, geht gewiss zu Grunde! Das Leben ist kurz. Es<br />

ist angefüllt mit Zerstreuungen. Nur durch Zufall erlebt man hier ab und zu<br />

etwas Glück. Nichts ist hier dauerhaft oder verlässlich. Wie der Topf auf dem<br />

Rad des Töpfers wird dieser Körper in diesem Leben ohne Ende gedreht und<br />

gedreht. Überall lauern machtvolle Diebe (die Sinnesobjekte). Daher muss ich<br />

wachsam bleiben.“<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

„‘Dies ist heute passiert‘, ‚das ist mein‘ und ‚dies gehört ihm‘ – indem die<br />

Menschen sich fortwährend mit solchen Gedanken befassen, vergessen sie<br />

das Vergehen der Zeit. Viel haben wir gegessen und getrunken, viel sind wir<br />

auf dieser Erde gewandert, viele Schmerzen und Vergnügen haben wir erfahren.<br />

Was bleibt davon übrig? Wie erlangen wir den höchsten Frieden? Sämtliche<br />

Bäume sind nur Holz, sämtliche Lebewesen nur Fleisch, die ganze Erde<br />

nichts als Lehm – alles ist daher von Schmerz und Vergänglichkeit befleckt.<br />

Wo kann ich meine Zuflucht finden?<br />

Wer ist hier mein Beschützer? Es sind dies weder Wohlstand noch Freunde<br />

noch Verwandte noch Bekannte (oder Vergnügen), denn all diese sind selbst<br />

Opfer der Zeit. Wem kann ich vertrauen, wenn ich doch sehe, wie alle schon<br />

morgen oder übermorgen sterben?<br />

Sogar die durch Vorschriften und Gebote geleiteten religiösen Riten lassen<br />

einen Menschen in dieses saæsāra stürzen, wie Wasser von einem höher<br />

gelegenen zu einem niedriger gelegenen Punkt fließt. Sie verwirren und<br />

bringen einen durcheinander. Das Unwirkliche scheint durch beständiges<br />

Daran-denken real zu werden. Da das Unwirkliche jedoch irreal ist, bleibt es<br />

auch irreal, auch wenn es real erscheint. Die Menschen sind getäuscht und<br />

rennen hinter den Objekten des Sinnesvergnügens her wie ein Fluss schnell<br />

seiner Selbstzerstörung im Meer entgegenfließt. Das unwissende Gemüt eilt<br />

den Sinnesvergnügen nach wie der Pfeil, der von der Sehne schnellt und<br />

keinen Sinn für Gut und Böse hat.<br />

617


Vergnügen ist in Wahrheit entsetzlicher Schmerz, Wohlstand ist Unglück,<br />

sinnliche Freuden sind schlimme Krankheiten und der Wunsch nach Vergnügen<br />

ist widerlich. Unglück ist in Wahrheit großer Segen. Dem Glück folgt<br />

schnell das Unglück. Das Leben endet mit dem Tod. Ah – seht nur diese Macht<br />

der Māyā! Die Sinnesfreuden sind schlimmer als die giftigste Schlange, da<br />

jene uns schon durch bloße Berührung auf der Stelle töten. Weil Wohlstand<br />

usw. Illusionen hervorrufen, sind sie schlimmer als Gift. Es ist wahr, dass das<br />

Vergnügen erfreulich und Überfluss herrlich sind, und doch läuft uns das<br />

Leben davon und lässt alle diese Freuden bedeutungslos werden. Vergnügen<br />

und Wohlstand sind dem Anschein nach erfreulich, erzeugen aber am Ende<br />

nur Unglücklichsein und Kummer.<br />

Mit fortschreitendem Alter werden die Haare grau und die Zähne wie auch<br />

alles andere (die Organe, die Vitalität usw.) nehmen ab – nur das Verlangen<br />

hört niemals auf. Kindheit und Jugend haben eine Gemeinsamkeit – beide<br />

gehen rasch vorüber. Das Leben verebbt wie ein strömender Fluss und die<br />

Vergangenheit ist unwiederbringlich.<br />

Nach langer Zeit habe ich Egolosigkeit erlangt. Ich bin nicht länger interessiert<br />

an den himmlischen Freuden. Wie dich, oh Weiser, verlangte es mich<br />

nach einem abgeschiedenen Ort. So entdeckte ich diese Einsiedelei im Weltraum.<br />

Ich wusste nicht, dass es deine Einsiedelei war und du eines Tages<br />

zurückkehren würdest. Ich habe nicht daran gedacht. Erst jetzt ist es mir<br />

bewusst geworden. Nur indem man das Bewusstsein auf solche Tatbestände<br />

richtet, wird man ihrer mit dem Auge der inneren Intelligenz gewahr und<br />

kennt die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – nicht früher. Mit<br />

dieser Natur des Gemüts müssen sogar die Götter rechnen.“<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich sagte zu dem Weisen: „Nachdem ich deine Geschichte vernommen habe,<br />

denke ich, dass du auch weiterhin die Einsiedelei im Weltraum bewohnen<br />

sollst. Erhebe dich und lass uns in der Welt der vollkommenen Wesen<br />

(siddhas) leben. Es ist gut für uns beide, in der eigenen Umgebung zu leben,<br />

die keine mentalen Störungen verursacht.“<br />

Daraufhin erhoben wir uns in den Raum und verabschiedeten uns voneinander.<br />

Er ging dorthin, wo er seiner Meinung nach am besten hinpasste,<br />

während ich ebenfalls meines Weges ging.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, mit welchem Körper bist du in der Welt der siddhas umhergestreift,<br />

da doch dein eigener Körper sich aufgelöst hatte?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Als ich in die Stadt Indras, des Königs der Götter, ging, besaß ich einen Körper<br />

aus reinem Raum. Daher erkannte mich niemand. Man konnte mich weder<br />

berühren noch festhalten. Ich war wie ein Gedanke und ohne jede Materialität,<br />

jedoch mit einer Gestalt aus reinem Wunsch (saÇkalpa) ausgestattet.<br />

Vergleichbar ist dies mit der Traumerfahrung, in dem Traumkörper aus nicht-<br />

VI.2:94<br />

618


materieller Substanz erzeugt werden. Wer dies als unmöglich ansieht, leugnet<br />

die Erfahrung des Traumes und ist, da er die offensichtliche Erfahrung aller<br />

ist, nicht ernstzunehmen. Ich konnte andere wahrnehmen, insbesondere<br />

diejenigen, die einen materiellen Körper besaßen, obwohl diese mich nicht<br />

sehen konnten.<br />

RĀMA fragte erneut:<br />

Aber wie konnte dieser Weise dich dann überhaupt sehen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Oh Rāma. Leute wie wir besitzen die Macht, unsere Wünsche zu materialisieren<br />

und zu realisieren. Es geschieht nichts für uns, was wir nicht wünschen!<br />

Nur Menschen, die in weltlichen Aktivitäten ertrunken sind, vergessen<br />

im Bruchteil einer Sekunde die Tatsache, dass sie einen subtilen (ātivāhika)<br />

Körper besitzen. Sobald ich entschieden hatte: „Möge dieser Weise mich<br />

sehen“, da erblickte er mich auch. Menschen, in denen die Wahrnehmung von<br />

Getrenntheit tief verwurzelt ist, verfügen nicht über die Macht zur Realisierung<br />

ihrer Wünsche. Wer jedoch wie dieser Weise die Wahrnehmung von<br />

Getrenntheit vermindert hat, kann seine Wünsche realisieren. Auch für die<br />

siddhas oder die Vollkommenen gilt, dass derjenige mit mehr psychischer<br />

Transparenz erfolgreicher in seinen Bestrebungen ist.<br />

Um auf meine Geschichte zurückzukommen: Ich streifte in den himmlischen<br />

Regionen wie ein Geist umher.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, existieren Geister? Wie sehen sie aus und was tun sie?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Oh Rāma, Geister existieren sehr wohl in dieser Welt. Ich werde dir nun erzählen,<br />

wie sie sind und was sie tun. Ganz gewiss ist der kein würdiger Lehrer,<br />

der zu einem Thema keine Auskunft geben kann.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Manche Geister (piÓāca) besitzen einen ätherischen Körper, der aber Hände<br />

und Füße besitzt, und sie können Menschen wie dich sehen. Andere besitzen<br />

schreckenerregende schattenhafte Gestalten; sie überwältigen die Körper<br />

menschlicher Wesen und beeinflussen ihr Gemüt. Einige töten oder verletzen<br />

Menschen. Einige sind wie Nebel oder Rauch und andere wiederum haben<br />

traumartige Körper. Manche verfügen über Leiber, die nur aus Luft gemacht<br />

sind. Andere wiederum haben Körper, die nur aus der Illusion des Wahrnehmenden<br />

bestehen. Weder kann man sie erfassen noch können sie andere<br />

erfassen. Sie empfinden Hitze und Kälte, Vergnügen und Schmerzen. Jedoch<br />

können sie weder essen, trinken noch etwas nehmen. Sie haben Wünsche,<br />

Hass, Furcht, Ärger, Gier und erleben Täuschungen. Sie können gebannt und<br />

unter Kontrolle gebracht werden durch mantras, Drogen, Bußen, Wohltätigkeit,<br />

Mut und Rechtschaffenheit. Gesehen und erfasst werden sie auch, wenn<br />

man in satva ruht. Dies kann auch geschehen durch den Gebrauch von magi-<br />

619


schen Symbolen (maï¬alas) und Zauberformeln (mantras) als auch durch<br />

Verehrung, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten<br />

Ort ausübt.<br />

Manche Geister besitzen eine göttliche Natur und erscheinen als Götter. Einige<br />

sind wie Menschen und andere wie Schlangen. Einige sind wie Hunde<br />

und Schakale und leben in Dörfern und Wäldern oder in toten Brunnen, Straßengräben<br />

und an anderen unreinen Orten. Ich werde dir nun etwas über<br />

ihren Ursprung erzählen.<br />

In dem einen unendlichen Bewusstsein entsteht eine Idee, die zum jīva wird<br />

und, indem sie sich immer weiter verdichtet, entsteht der Ich-Sinn oder das<br />

Gemüt (welches später zu Brahmā dem Schöpfer wird). All diese und auch die<br />

ganze Welt taucht auf und existiert als eine Idee und ist daher unwirklich.<br />

Diese Dinge werden als real erfahren so, wie man auch die eigenen Ideen als<br />

real empfindet. In diesem Sinne sind sämtliche Götter und anderen Wesen<br />

darin real. In Wirklichkeit jedoch gibt es da weder ein Feld noch einen Samen<br />

noch einen Bauern noch den Baum (den man als die Schöpfung oder Welt<br />

bezeichnet). Und doch existieren in dieser Idee des Feldes der Schöpfung alle<br />

diese Wesen. Die Strahlendsten unter ihnen sind die Götter, die Unfertigen<br />

sind die Menschen; diejenigen, in denen ein dichter Schleier der Unreinheit<br />

existiert, sind Würmer und ähnliche Kreaturen; diejenigen, die fruchtlos sind,<br />

leer und körperlos (aÓarīra), werden Geister oder piÓācas genannt. Die Unterscheidungsmerkmale<br />

entstehen nicht aufgrund der Laune oder dem Gutdünken<br />

des Schöpfers Brahmā, sondern auf Wunsch dieser Wesen. Was immer sie<br />

zu werden wünschen, dazu werden sie. In Wahrheit sind sie jedoch alle nichts<br />

als Bewusstsein, das als die subtilen (ātivāhika) Körper erscheint. Aufgrund<br />

der andauernden Selbsttäuschung geschieht es, dass sie physische oder materielle<br />

Form zu haben scheinen.<br />

Auch die Geister existieren in ihren eigenen Formen und tun, was sie entsprechend<br />

ihrer eigenen Natur zu tun haben und machen verschiedene Erfahrungen.<br />

Sie sehen einander und kommunizieren miteinander wie im<br />

Traum. Einige von ihnen kommunizieren nicht, wie die Traumobjekte im<br />

Traum einer Person. Wie Geister gibt es außerdem auch noch Kobolde und<br />

entkörperte Wesen. Die Geister erschaffen ihre eigene Sphäre bestehend aus<br />

der Finsternis der Unwissenheit, die nicht einmal von den Strahlen der Sonne<br />

durchdrungen werden kann. Sie gedeihen in der Finsternis der Unwissenheit<br />

und scheuen das Licht der Erkenntnis.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wie ich schon sagte, streifte ich im Himmel umher wie ein Geist. Niemand<br />

vermochte mich zu sehen. Obgleich sie unter meiner Kontrolle waren, hatte<br />

niemand Kontrolle über mich. Eines Tages sagte ich mir: „Ich kann meine<br />

Wünsche realisieren. Möge ich ab jetzt von den Göttern gesehen werden.“<br />

Unverzüglich ging mein Wunsch in Erfüllung. Sie konnten mich sehen.<br />

VI.2:95<br />

620


Als die Götter mich in ihrer Mitte bemerkten, entwickelten sie verschiedene<br />

Vorstellungen über mein Erscheinen. Da sie meine Identität nicht kannten,<br />

nahmen sie an, dass ich von der Erde heraufgekommen sei. Sie nannten mich<br />

daher Pārthiva (Erde) Vāsi«Âha. Manche dachten, ich wäre auf den Strahlen<br />

der Sonne herabgekommen und wurde von diesen Taijasa (Licht) Vāsi«Âha<br />

genannt. Diejenigen, die mich vom Wind hergeweht glaubten, gaben mir den<br />

Namen Vāta (Luft) Vāsi«Âha. Diejenigen, die mich als aus den Wassern aufgetaucht<br />

glaubten, nannten mich Vāri (Wasser) Vāsi«Âha.<br />

Im Verlaufe der Zeit nahm ich einen physischen oder materiellen Körper an.<br />

Für mich selbst lag zwischen dem subtilen und dem physischen Körper keinerlei<br />

Unterschied, denn beide waren in Wirklichkeit reines Bewusstsein.<br />

Auch hier funktioniere ich im Rahmen dieses Diskurses in und durch die Hilfe<br />

des physischen Körpers. Ein jīvanmukta (ein zu seinen Lebzeiten befreiter<br />

Weiser) ist wahrhaftig Brahman und verfügt über einen ätherischen Körper.<br />

Auf dieselbe Weise ist auch derjenige, der ein körperloser Weiser ist, Brahman.<br />

In mir gibt es keine andere Wahrnehmung als die von Brahman. Daher<br />

hört diese Realisierung von Brahman auch nicht auf, wenn ich mit verschiedenen<br />

Tätigkeiten befasst bin. So wie für den Träumer die ungeborenen und<br />

körperlosen Traumobjekte wirklich sind, so ist für mich diese Welt real und<br />

materiell. Und auch all diese Schöpfungen und Welten leuchten als reale und<br />

materielle Gegebenheiten, obwohl sie doch niemals erschaffen worden sind.<br />

Aufgrund des wiederkehrenden Empfindens des ätherischen Vāsi«Âha, das<br />

im Gemüt von euch allen und ebenso auch in mir auftaucht, scheine ich hier<br />

zu sitzen. In Wahrheit jedoch ist all dies reine Leerheit. All dies sind nur<br />

Ideen, die im Gemüt des Schöpfers aufgetaucht sind. Ideen wie „ich“ und „du“<br />

sind deshalb so fest in eurem Bewusstsein verankert, weil ihr sie noch nicht<br />

sorgfältig untersucht habt. Werden sie untersucht und in ihrer wahren Natur<br />

verstanden, verschwinden sie sehr schnell. Wenn die Wahrheit erkannt wird,<br />

verschwinden alle diese Szenerien der vermeintlichen Schöpfung – wie die<br />

Luftspiegelung von Wasser zu existieren aufhört, sobald ihre wahre Natur<br />

verstanden wird.<br />

Durch bloßes Studium des Mahārāmāyaïa (<strong>Yoga</strong> Vāsi«Âha) wird die Wirklichkeit<br />

erkannt – Schwierigkeiten in dieser Frage tauchen nicht mehr auf.<br />

Wer jedoch nicht an der Befreiung interessiert ist, ist kein Mensch, sondern<br />

ein Wurm. Man sollte die Seligkeit der Befreiung und den unvermeidlich mit<br />

der Unwissenheit einhergehenden Kummer sorgfältig studieren. Durch das<br />

Studium des Mahārāmāyaïa erlangt man den höchsten Frieden. Befreiung<br />

sorgt für die „innere Kühle“ (Frieden) des Gemüts, während die Bindung<br />

psychologische Verwirrung (psychologische Seelenbrände) bereitet. Aber<br />

auch nachdem man dies erkannt hat, strebt man immer noch nicht nach der<br />

Befreiung. Wie töricht sind doch die Menschen! Solche Menschen werden<br />

wahrhaftig vom Wunsch nach sinnlicher Belohnung überwältigt. Durch das<br />

Studium dieser Schrift vermögen jedoch auch sie es schließlich, den Wunsch<br />

nach der Befreiung zu kultivieren.<br />

621


VI.2:96<br />

(Die Versammlung löste sich auf – der siebzehnte Tag ging zu Ende).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich habe die Geschichte vom Felsen erzählt, welche dir hilft, die Wahrheit<br />

klar zu realisieren. Nichts existiert zu irgendeiner Zeit irgendwo – es ist stets<br />

nur das Brahman, welches allein als eine Masse von Brahman ohne jede wie<br />

auch immer geartete Getrenntheit existiert. Brahman ist eine Masse von<br />

Bewusstsein. Es ist keinerlei Wandel unterworfen. Das kosmische Wesen ist<br />

in diesem Bewusstsein nur ein Traumobjekt – unabhängig davon, ob dieses<br />

subtil oder grob ist. Folglich gibt es weder einen Schöpfer Brahma noch die<br />

Schöpfung, sondern nur ungeteiltes Bewusstsein. Die im Traum wahrgenommene<br />

Vielfalt erzeugt keine Vielfalt im Träumer. Ebenso erzeugt die Idee<br />

einer Schöpfung keine Trennung im Bewusstsein. Bewusstsein allein existiert<br />

– nicht die Schöpfung. Der geträumte Berg des Träumers ist kein Berg. Das<br />

unendliche Bewusstsein (cidākāÓa) ist Ich, es ist die drei Welten, es ist puruåa<br />

(das kosmische Wesen) und es ist du.<br />

Ohne dieses cidākāÓa ist der Körper nur ein Leichnam. Dieses unendliche<br />

Bewusstsein kann weder erschlagen noch verbrannt werden, noch hört es<br />

jemals auf. Daher stirbt hier weder jemand, noch wird jemand geboren. Das<br />

Bewusstsein ist die Person. Falls man behauptet, dass die Person stirbt und<br />

mit ihr auch das Bewusstsein, käme dies der Behauptung gleich, dass beim<br />

Tod des Sohnes auch der Vater stirbt. Falls das Bewusstsein stirbt, dann stirbt<br />

alles, und die Welt wird leer. Oh Rāma, bis jetzt war dieses Bewusstsein weder<br />

irgendwo und in irgendjemandem tot noch war diese Schöpfung jemals<br />

eine Leerheit; daher ist klar, dass das innerste Sein jedes Wesens, welches<br />

reines Bewusstsein ist, wandellos ist. Sobald dies erkannt ist, werden Geburt<br />

und Tod gegenstandslos.<br />

Wen man erkennt: „Ich bin reines Bewusstsein“, dann wird man sorglos gegenüber<br />

Leben und Tod, Vergnügen und Schmerz. Schande über den Elenden,<br />

in dem diese Verwirklichung noch nicht stattgefunden hat (oder die ihn wieder<br />

verlassen hat)! Wer erkennt: „Ich bin reines Erfahren oder Bewusstsein“,<br />

ist unberührt in allen Notlagen, und er wird weder von mentaler Verwirrung<br />

noch von psychologischer Krankheit ergriffen. Wer empfindet: „Ich bin der<br />

Körper“, verscherzt sich die Kraft und die Weisheit; wer erkennt: „Ich bin<br />

reines Bewusstsein“, erlangt sie. Dieser Letztere ist dann Gier, Täuschung<br />

oder Stolz nicht mehr unterworfen. Oh weh – wie töricht sind doch diejenigen,<br />

die jammern: „Wir werden sterben!“, sobald sie an den Tod des Körpers<br />

denken! Wer dagegen in der Erkenntnis „Ich bin Bewusstsein“ ruht, empfindet<br />

den Schlag der schrecklichsten Waffe wie die Berührung einer Blume.<br />

Wenn Bewusstsein sterben kann, dann sterben die Leute die ganze Zeit. Sage<br />

mir doch bitte, wie es kommt, dass du noch nicht tot bist? Nichts stirbt.<br />

Bewusstsein allein hegt die Zwillingsideen von „Ich lebe“ und „Ich bin tot“.<br />

Das Bewusstsein sieht oder wird des saæsāra (Welterscheinung) gewahr, und<br />

Bewusstsein sieht oder wird der Befreiung gewahr. Es wird des Vergnügens<br />

und des Schmerzes gewahr, ohne dabei jemals seine wahre Natur aufzugeben.<br />

622


Im Zustand der Unwissenheit über sich selbst verwickelt es sich in Illusion,<br />

während es sich in einem Zustand der Selbsterkenntnis selbst von der Illusion<br />

befreit. Und doch ist Bewusstsein niemals entstanden oder vergangen. Es<br />

gibt kein solches Ding wie „Realität“, und es gibt nicht so etwas wie Unwissenheit<br />

oder Falschheit. Was auch immer von jemandem wahrgenommen<br />

wird, existiert auch so.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Da die Welt der Traum des höchsten Selbst und alles von Brahman durchdrungen<br />

ist, wird sie als Brahman erfahren. Die Welterscheinung oder Illusion<br />

wird wahrgenommen – das höchste Bewusstsein jedoch bleibt ungesehen.<br />

Daher mag man die Illusion als eine reale Einbildung des Selbst erachten. Von<br />

einem anderen Blickwinkel her ist diese Welterscheinung eine Illusion, wenn<br />

auch die Realität des unendlichen Bewusstseins unbegreiflich bleibt. So entsteht<br />

dann die Idee einer völligen Leere oder śūnya; dies ist auch real. Das<br />

unendliche Bewusstsein (oder die höchste Person, die darin auftaucht) ist<br />

unberührt von Tätigkeit, denn die Welt entspringt einer unmanifestierten<br />

Ursache (der Natur). Auch diese Sichtweise ist begründet, weil sie als solche<br />

erfahren wird. Andere sagen, dass Brahman in einem Zustand der Unwissenheit<br />

als die Welt erscheint (so wie ein Seil in der Dunkelheit als Schlange<br />

erscheint). Auch dies gründet auf direkter Erfahrung und ist daher als real<br />

anzusehen. Die Theorie, dass das gesamte Universum ein Konglomerat von<br />

Atomen sei, ist ebenfalls akzeptabel, denn diese Erkenntnis oder dieses Verständnis<br />

ist das Ergebnis einer ordnungsgemäßen Ergründung.<br />

Es gibt manche, die meinen, dass die Welt das sei, was man in ihr sieht, und<br />

dass dieses Prinzip auch für „die andere Welt“ gilt; die Welt ist daher weder<br />

real noch irreal, weil die Realität gänzlich subjektiv ist. Andere wiederum<br />

behaupten, dass die äußere Welt als einziges real sei und es eine andere Realität<br />

nicht gäbe. Auch sie geben der Wahrheit insofern Ausdruck, als sie nicht<br />

beschreiben können, was jenseits der Erfahrung ihrer eigenen und der Sinne<br />

anderer liegt. Auch diejenigen haben recht, die erklären, dass alles sich im<br />

ständigen Wandel befindet, weil die Macht, die diesen ständigen Wandel<br />

hervorruft, allmächtig ist. Der Glaube, dass der jīva im Körper wohnt wie der<br />

in einem Käfig gefangene Spatz und im Tode aus diesem in ein anderes Reich<br />

davonfliegt, was ein auch von Ausländern gehegter Glaube ist, ist akzeptabel,<br />

weil er in ihren eigenen Ländern und Gemeinschaften akzeptiert wird. Heilige<br />

betrachten alles mit demselben Blick – sie kennen die Realität und wissen,<br />

dass sie das Selbst von allem ist.<br />

Es gibt welche, die versichern, dass sich die Natur selbst ohne einen intelligenten<br />

Schöpfer manifestiert, weil in der Natur viele unerwünschte und<br />

nicht-intelligente Ereignisse stattfinden (wie etwa Naturkatastrophen). Auch<br />

eine solche Sichtweise ist begründet. Auf der anderen Seite haben aber auch<br />

diejenigen recht, die von der Existenz eines universellen Schöpfers, der alles<br />

bewirkt, ausgehen, denn sie finden ihr Gemüt erfüllt von dieser universellen<br />

Macht. Auch diejenigen haben recht, die sagen, dass diese Welt ebenso wie<br />

VI.2:97<br />

623


die „andere Welt“ real sei. In ihren Augen sind Pilgerfahrten, Rituale usw.<br />

sinnvoll. Die Idee, dass alles leer oder śūnya sei, stimmt, weil sie das Ergebnis<br />

einer ausgedehnten Erforschung ist. Das unendliche Bewusstsein ist wie der<br />

reinste Kristall – jede Idee oder Vorstellung wird reflektiert. Die Wissenden<br />

haben verstanden, dass dieses unendliche Bewusstsein weder eine Leere<br />

noch eine Nicht-Leere ist – es ist allmächtig, aber es ist nicht, was gesehen<br />

oder erkannt wird. Was auch immer die Überzeugung eines Menschen sein<br />

mag – wenn er fest bei dieser Überzeugung bleibt, wird er gewiss dasselbe<br />

Ziel erreichen (dieselbe Frucht erlangen), solange er mit diesen Ideen oder<br />

Erkenntnissen nicht auf kindische Art und Weise zu spielen beginnt. Man<br />

sollte die Wahrheit in der Gemeinschaft der Wissenden ergründen und dann<br />

ohne Abstriche oder Abweichungen fest in seiner eigenen Verwirklichung<br />

verankert bleiben.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es gibt immer wieder Menschen, die im Hinblick auf das Wissen der Schriften<br />

und auch im Hinblick auf rechtes Betragen weise sind. Ihre Gesellschaft<br />

sollte man suchen. Natürlich gibt es viele, die viel über die Schriften reden.<br />

Jedoch ist derjenige der Beste unter ihnen, der das Wohl und die Freude aller<br />

im Sinne hat und dessen Betragen unanfechtbar ist. Alle Menschen suchen ihr<br />

eigenes Wohl, von einer unwiderstehlichen Kraft getrieben, so wie Wasser<br />

stets abwärts fließt. Man sollte diese Tatsache anerkennen und Zuflucht zur<br />

Gemeinschaft mit den Weisen nehmen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Diese Welt wächst wie eine Schlingpflanze auf dem Baum des Höchsten<br />

Seins. Wo in ihr befinden sich diejenigen, die nach der gründlichen Erforschung<br />

von Vergangenheit und Zukunft die letztgültige Wahrheit erblickt<br />

haben?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

In jeder menschlichen Gemeinschaft gibt es eine Anzahl weiser Menschen,<br />

deren inneres Licht (oder Gnade) dieser Welt Licht gibt. In diesem saæsāra<br />

rennen alle Menschen nur auf und ab wie Strohhalme, die im Meer treiben.<br />

Da sie das Selbst vergessen haben, werden die Bewohner der Himmel im<br />

Feuer des Vergnügens verzehrt. Die getäuschten Dämonen werden durch ihre<br />

Feinde, die Götter, vernichtet und von Nārāyaïa in die Hölle geschleudert. Die<br />

himmlischen Musikanten (ghandarvas) atmen nicht einmal einen Hauch des<br />

Duftes (gandha) der Weisheit – sie verlieren sich im Genuss ihrer eigenen<br />

Musik usw. Die Himmelsbewohner, die man vidyādharas nennt, respektieren<br />

die Weisen nicht – voll von Eitelkeit sind sie, weil sie die Befürworter<br />

(ādhāra) der Bildung (vidyā) sind. Die Halbgötter, die man yakåas nennt,<br />

betrachten sich selbst als unsterblich und stellen ihre Geschicklichkeit vor<br />

alten und gebrechlichen Menschen zur Schau. Die Dämonen, die man rākåasas<br />

nennt, leben in der Täuschung. Die Geister (piÓācas) wollen nichts anderes als<br />

Leute belästigen. Die Bewohner der Unterwelten, die man nāgas nennt, sind<br />

624


träge und dumm. Die Dämonen, unter dem Namen asuras bekannt, sind wie<br />

Würmer, die in Löchern in der Erde leben. Wie können sie irgendwelche<br />

Weisheit erlangen?<br />

Sogar die menschlichen Wesen sind engstirnig und kleingläubig und nur an<br />

den Banalitäten des Alltags interessiert. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen<br />

sie damit, ihre schlimmen Wünsche zu verwirklichen. Sie kommen niemals<br />

mit irgendetwas in Kontakt, was gut oder weise ist. Durch ihre Eitelkeiten<br />

und Bestrebungen werden sie mehr und mehr vom Pfad der Rechtschaffenheit<br />

und Weisheit abgelenkt. Die Klasse der Leute, die man yoginī nennt<br />

(damit sind die Praktizierenden der „schwarzen“ Magie gemeint), sind in die<br />

Grube des schlechten Benehmens gefallen und trinken und essen wie unkultivierte<br />

Menschen.<br />

Aber immer noch gibt es befreite Wesen unter den Göttern (Viåņu, Brahmā,<br />

Rudra usw.), unter den Führern (wie Kaåyapa, Nārada, Sanatkumāra), unter<br />

den Dämonen (Hiraïyākåa, Bali, Prahlāda usw.), unter den rākåasas (wie<br />

Vibhīåaïa, Prahasta, Indarajit), unter den nāgas (Takåaka usw.), wie auch auf<br />

anderen Ebenen. Sogar unter den menschlichen Wesen gibt es Befreite, obwohl<br />

sie extrem selten sind. Es gibt Millionen von Wesen, aber ein einziger<br />

Befreiter ist sehr schwer zu finden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Feinde des Heiligen wie die Gier, die Täuschung usw. sind im Falle des<br />

weisen Menschen, der leidenschaftslos ist und im Höchsten ruht, sehr geschwächt.<br />

Sie sind weder überschwänglich noch zornig, sie mischen sich<br />

nicht in Dinge ein noch nehmen sie etwas weg. Sie stören andere Menschen<br />

nicht und werden durch andere nicht gestört. Die weisen Menschen sind<br />

weder Atheisten noch einer speziellen Glaubensrichtung verpflichtet. Sie<br />

befassen sich nicht mit quälenden Praktiken, auch wenn diese von den Schriften<br />

vorgeschrieben werden. Ihr Verhalten und ihre Handlungen sind vom<br />

gesunden Menschenverstand geleitet und von Liebe erfüllt, sie sind sanft und<br />

teilnahmsvoll.<br />

Sie erfreuen das Herz aller. Sie zeigen den weisen Pfad auf und entscheiden<br />

spontan und schnell, was das Beste ist. Sie befassen sich mit allerhand äußeren<br />

Handlungen und sind doch innerlich kühl und still. Sie lieben es, die Bedeutung<br />

der Schriften zu erforschen. Sie wissen, wer wer ist (wer eine reife<br />

oder unreife Person ist). Sie wissen, was anzunehmen und was abzulehnen<br />

ist. Ihre Handlungen sind der Situation angemessen.<br />

Sie vermeiden verbotene Handlungen. Sie erfreuen sich guter Gesellschaft.<br />

Sie verehren mit den Blumen der Weisheit jeden, der ihre Gesellschaft und<br />

ihre Lehren sucht. Sie berauben die Menschen ihrer Sorgen und ihres Kummers.<br />

Sie sind freundlich und sanft, aber wenn die Herrschenden dieser Erde<br />

ungerecht und unterdrückerisch werden, dann rütteln sie sie auf wie ein<br />

Erdbeben einen Berg erschüttert. Sie ermutigen die Mutlosen und vergrößern<br />

VI.2:98<br />

625


VI.2:99<br />

die Freude der Freudigen. Sie zügeln das unwissende und törichte Betragen<br />

der Menschen.<br />

Für denjenigen, der von Notlagen und mentaler Verwirrung, von Prüfungen<br />

und Drangsalen aller Art verfolgt wird, sind die Heiligen die einzige Zuflucht.<br />

Bei ihnen sollte man den Frieden suchen, nachdem man sie zuvor an den<br />

oben beschriebenen Merkmalen erkannt hat. Dieser Ozean von saæsāra kann<br />

ohne die Hilfe der Heiligen nicht überquert werden. Man sollte nicht passiv<br />

sein und fatalistisch die Dinge so hinnehmen, wie sie geschehen. Auch wenn<br />

man nicht alle der beschriebenen Qualitäten, sondern nur eine einzige von<br />

ihnen findet, sollte man Zuflucht bei diesem heiligen Mann suchen und sämtliche<br />

anderen Mängel übersehen. Man sollte Übung darin erwerben, bei anderen<br />

sowohl das Gute wie auch die Mängel zu erkennen und dann danach<br />

streben, die Gesellschaft der Guten und Weisen zu erlangen. Auch wenn eine<br />

gute Person Mängel hat, soll man ihr dienen und dadurch üble Neigungen<br />

vermeiden. Wenn man schlechte Neigungen nicht überwindet, wird sogar der<br />

gute Mensch böse. Das habe ich beobachtet. Es ist in der Tat ein großes Unglück<br />

für die gesamte Gesellschaft, wenn ein guter Mensch aufgrund der<br />

Umstände bösartig wird.<br />

So sollte man daher sämtliche anderen Tätigkeiten aufgeben und den Heiligen<br />

ergeben sein. Ein echtes Hindernis dafür existiert nicht – nur dadurch<br />

kann einem Menschen das Beste aus beiden Welten zugutekommen. Von den<br />

Heiligen sollte man sich nie weit entfernen, denn ihre bloße Nähe fördert<br />

überall das Gute.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wir menschliche Wesen verfügen über verschiedene Methoden zur Überwindung<br />

der Sorgen. Wie steht es mit den Würmern und Fliegen oder den<br />

Bäumen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Alle Wesen ruhen entsprechend ihrer Natur auf die ihnen angemessene<br />

Weise im Bewusstsein. Auch sie besitzen ihre spezifischen Verlangen und<br />

Begierden. In unserem Fall stehen der Erfüllung unserer Wünsche nur wenige<br />

Hindernisse entgegen, während die Schwierigkeiten in ihrem Fall enorm sind.<br />

So wie die kosmische Person (virāÂ) strebt, so tun es auch die Würmer und<br />

Fliegen. Ein kleiner Junge droht mit seiner zusammengeballten Faust – wie<br />

eindrucksvoll tritt doch die Eitelkeit auf! Vögel werden geboren und sterben<br />

im leeren Raum. Sogar eine Ameise muss essen und sich um ihre Familie<br />

kümmern. Sogar die winzige Fliege, die flink durch die Stube fliegt, ist in ihrer<br />

Würde dem Geier Garu¬a gleich, der hoch oben in der Luft schwebt. Den<br />

Menschen wie den Würmern sind Ideen wie „ich bin dies“, „dies ist mein“<br />

gemeinsam; mit all den erhabenen Implikationen solcher Ideen.<br />

So wie wir nach den Mitteln des Lebensunterhalts streben, so streben auch<br />

die Würmer danach. Auch sie lieben das Leben. Einem Sklaven bedeutet ein<br />

neues Land nicht viel – daher nehmen auch Kühe und andere Tiere nur wenig<br />

626


VI.2:100<br />

Anteil am Zuhause ihres Besitzers. Auch sie haben ihre Vergnügen und Leiden,<br />

aber sie sind ohne das Empfinden von „mein“ und „dein“. Sogar ein Samenkorn<br />

oder ein junger Keimling erleben einen gewissen Schmerz (oder<br />

Gewahrsein), wenn sie von einem Wurm gebissen werden, so wie ein schlafender<br />

Mann sich von einem Floh gestört fühlt. Sowohl Indra (König der Götter)<br />

als auch der Wurm erfahren Anziehung, Abneigung, Furcht, Begierde<br />

nach Nahrung und Geschlechtlichkeit, Freud und Leid und die durch Geburt<br />

und Tod verursachte Pein. Der einzige Unterschied besteht im Verständnis<br />

der Bedeutung von Worten, der Natur der Elemente und im Erwarten künftiger<br />

Ereignisse.<br />

Bäume, die sozusagen schlafen, wie auch die unbeweglichen Objekte wie<br />

Felsen usw., existieren in der ungebrochenen Erfahrung des unendlichen<br />

Bewusstseins. In ihnen existiert keinerlei Wahrnehmung einer Getrenntheit.<br />

All dies ist das reine, unendliche Bewusstsein, welches sich in den Felsen für<br />

schlafend hält, wie es schon in der Schöpfung davor gewesen ist. Daher<br />

bleibst du, wie du bist, und ich bleibe, wie ich bin. Im Höchsten Selbst oder<br />

Bewusstsein existiert weder Freude noch Leid. Nur die Unwissenheit ist die<br />

Ursache all dieser Illusion. Wird die Unwissenheit jedoch durch Verstehen<br />

zerstreut, dann verschwindet alles zuvor Gesehene in ein Nicht-Dinghaftes.<br />

Sobald die Wahrheit über diesen Weltentraum erkannt ist, hört er auf. Was ist<br />

dann hier noch wünschenswert oder erstrebenswert? Wenn die Welle ausgerollt<br />

ist, ist das Wasser nicht zerstört. Wenn der Körper zerstört wird, verbleibt<br />

das Bewusstsein unverändert.<br />

Nur die unwissende Person besteht auf ihren Ideen betreffend die Welt und<br />

erfährt diese dann auch als real. Das rechte Verstehen dieser Wahrheit öffnet<br />

die Tür zur Selbsterkenntnis. So wie ein Objekt im Spiegel gespiegelt wird, so<br />

erscheint diese Welt in Brahman. Obwohl die Reflexion im Spiegel zu sein<br />

scheint, ist sie nicht dort. Auf dieselbe Weise ist die Welt nicht da, obwohl sie<br />

erscheint. Sie scheint Wirkungen zu erzeugen, obwohl sie selbst irreal ist, so<br />

wie es für denjenigen, der vom Geschlechtsverkehr träumt, eine Entladung<br />

von Energie gibt. Nur der unwissende Mensch weiß, weshalb er die Welt für<br />

real hält!<br />

RĀMA fragte:<br />

Es gibt Leute, oh Weiser, die finden, man solle deshalb bis zum Ende glücklich<br />

leben, weil der Tod unvermeidlich sei und nichts sonst überlebt, wenn<br />

dieser Körper zu Asche verbrannt wird. Wie entkommen solche Leute den<br />

Sorgen des saæsāra?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Woran die innere Intelligenz fest glaubt, das wird dann auch von ihr so erfahren,<br />

als wäre es offensichtlich geworden. Bewusstsein ist universal und<br />

unteilbar – es ist eines und es ist gleichzeitig vieles. Bevor das Konzept der<br />

Schöpfung aufgetaucht ist, existierte überhaupt nichts – daher ist nichts wirklich<br />

wahr. Diejenigen sind gewiss unwissend, die diese Realität nicht sehen,<br />

627


wie sie in den Schriften dargelegt wird. Für uns sind sie so gut wie tot. Diejenigen<br />

dagegen, die realisiert haben, dass alles hier reines Bewusstsein<br />

(Brahman) ist, brauchen unsere Unterweisungen nicht.<br />

Was auch immer als real im „Körper“ des Bewusstseins auftaucht, wird<br />

auch als real erfahren. Jeder ist aus Dem gemacht – ob es da nun einen realen<br />

physischen Körper gibt oder nicht. Wenn behauptet wird, dass die (Sinnes)erfahrungen<br />

allein das Bewusstsein seien, dann wird man mit Sicherheit<br />

leiden, denn man ist sein ganzes Leben lang an widersprüchliche Erfahrungen<br />

gefesselt. Wenn man aber erkennt, dass diese Welt nur eine Idee ist, die<br />

im Bewusstsein auftaucht, dann hören die Vielfalt oder die Widersprüchlichkeit<br />

und damit auch die widersprüchlichen Erfahrungen auf. So wie schwebende<br />

Staubpartikel den Raum nicht beeinträchtigen, so berühren Freude<br />

und Leid nicht denjenigen, der in der Erkenntnis des einen unteilbaren, unendlichen<br />

Bewusstseins verankert ist.<br />

Wir nehmen keinen Körper oder eine Persönlichkeit oder auch nur einen<br />

jīva wahr – all dies ist nichts als reines Bewusstsein. Welche Idee auch immer<br />

in ihm auftaucht, die wird dann als solche erfahren. Unabhängig davon, ob<br />

das Bewusstsein als real oder irreal betrachtet wird, es erfährt die Existenz<br />

des Körpers. Ob man das Bewusstsein nun als real oder irreal betrachtet – die<br />

Person wird zu dem. Was dieses Bewusstsein als real erachtet, ist gewiss real<br />

(oder das Bewusstsein ist real wie die Person oder das Selbst). (Das heißt,<br />

dass sogar der Materialist nicht die Existenz der Person leugnet und folglich<br />

auch nicht die Existenz von Bewusstsein leugnen kann.) Diese Doktrin bestätigt<br />

die Lehren sämtlicher Schriften.<br />

Wenn dieses Verständnis umnebelt ist, entstehen die verdrehten Doktrinen;<br />

wird das Missverständnis dagegen beseitigt, werden die köstlichsten Früchte<br />

geerntet. Aber ein unvollkommenes Verständnis beseitigt es nicht. Falls man<br />

meint, dass dieses rechte Verständnis nach der Selbsterkenntnis wieder umwölkt<br />

werden kann, dann besteht gewiss keine Hoffnung, den Kummer loszuwerden.<br />

Wird Bewusstsein als real erkannt, dann wird es für den Weisen<br />

zum Zufluchtsort. Wird es als irreal erachtet, dann wird es leblos wie ein<br />

Stein. Wenn dieses unendliche Bewusstsein sozusagen „schläft“, dann taucht<br />

die Erfahrung der Objekte auf und diese Welt tritt ins Dasein. Wer daher diese<br />

Welt und die Sinneserfahrungen allein als real betrachtet, ist leblos und<br />

„schlafend“.<br />

RĀMA fragte:<br />

Es gibt diejenigen, oh Weiser, die denken, dass dieses grenzenlose Universum<br />

überall und auf allen Seiten existiert. Sie können es nicht als eine Masse<br />

von Bewusstsein sehen. Sie sehen es so, wie man es gewöhnlich sieht, und<br />

können nicht erkennen, dass es sich beständig wandelt und seiner Zerstörung<br />

entgegengeht. Welche Methode hilft hier, um die mentale Verwirrung zu<br />

überwinden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

628


VI.2:101<br />

Vor der Beantwortung dieser Frage sollte man zuvor eine andere stellen:<br />

Empfindet diese Person, dass die Materie als Materie unzerstörbar und der<br />

Körper unsterblich sei? Wenn dies so ist, dann gibt es auch keinen Grund zu<br />

Kummer. Wenn jedoch der Körper aus verschiedenen Dingen zusammengesetzt<br />

ist, dann wird er auch gewiss verderben.<br />

Wenn man weiß, dass das Selbst reines Bewusstsein (und nicht der physische<br />

Körper) ist, dann gibt es für ihn, wenn er stirbt, auch kein saæsāra<br />

(Welterscheinung) in seinem Bewusstsein. Sollte das Verständnis dagegen<br />

nicht durch Klarheit oder die Schriften gereinigt sein, dann werden in ihm<br />

Stützpunkte für saæsāra zurückbleiben. Falls man denkt, dass es so etwas<br />

wie Bewusstsein nicht gibt, dann erfährt man einen Zustand der Leblosigkeit.<br />

Man mag annehmen, dass nur die Erfahrung im verkörperten Zustand real<br />

sei. Wenn man fest in dieser Überzeugung verharrt, glaubt man, dass der Tod<br />

das endgültige Ende aller Sorgen ist. Jedoch geschieht dies nur aufgrund<br />

fehlerhafter Erfahrung. Diejenigen, die an die Nicht-Existenz von Bewusstsein<br />

glauben, werden beim Aufgeben des Körpers zu leblosen Substanzen und<br />

versinken daher unvermeidlich in der undurchdringlichen Finsternis der<br />

Unwissenheit. Diejenigen andererseits, die glauben, dass der Welt eine relative<br />

Existenz zukommt (wie in einem Traum), erfahren diese Weltillusion auch<br />

weiterhin.<br />

Ob man diese Welt als eine dauerhafte Realität oder ein wandelhaftes Phänomen<br />

betrachtet – die Erfahrung von Freud und Leid bleibt dieselbe. Diejenigen,<br />

die die Welt für eine sich wandelnde, aber rein materielle Substanz<br />

(ohne Bewusstsein) halten, sind kindisch. Halte dich von ihnen fern! Diejenigen,<br />

die erkennen, dass die Körper im Bewusstsein existieren, sind weise –<br />

wir verneigen uns vor ihnen! Diejenigen, die denken, dass im Körper Intelligenz<br />

ist, sind unwissend.<br />

Es ist reines Bewusstsein mit dem jīva als seinem Körper, welches in diesem<br />

kosmischen Raum auf und nieder geht. Was auch immer der jīva in sich<br />

selbst denkt, das erfährt er. So wie Wolken verschiedene Muster am Himmel<br />

bilden und Wellen auf der Oberfläche des Meeres auftauchen, so erscheinen<br />

diese Welten im unendlichen Bewusstsein. Die Traumstadt ist nur das Gemüt<br />

des Träumers und benötigt nicht einmal die zusammenwirkenden Ursachen<br />

(wie Baumaterial), um errichtet zu werden. Ebenso ist auch das Universum –<br />

es ist reines Bewusstsein und nichts anderes. Diejenigen, die dies zu erkennen<br />

vermögen, werden frei von Illusion, von Anhaftung (Abhängigkeit) und<br />

von mentaler Qual, während sie weiterhin spontan und angemessen handeln,<br />

in allen Situationen, die im Strom des Lebens entstehen. VASIåèHA fuhr fort:<br />

Jeder ist immer nur reines Bewusstsein und nichts anderes. Was kann es<br />

außer diesem Bewusstsein noch geben? Wenn doch Bewusstsein allein existiert<br />

– was gibt es dann noch zu gewinnen und zu verlieren? Wenn es nichts<br />

anderes gibt, dann werden rāga (Anziehung oder Zuneigung) und dveåa (Abweisung<br />

oder Abneigung) gleichermaßen bedeutungslos.<br />

629


Bewusstsein allein ist diese menschlichen Wesen, Götter, nāga (Bewohner<br />

der Unterwelt), Berge und sich bewegenden Objekte. Ich bin reines Bewusstsein<br />

– und das bist du auch. Wir werden im Verlaufe der Zeit sterben, aber<br />

Bewusstsein wird niemals sterben. Bewusstsein hat kein Objekt, dessen es<br />

gewahr werden könnte – alles Reden über Einheit und Vielfalt ist daher bedeutungslos.<br />

Sogar die Materialisten (diejenigen, die an die Realität der physischen Welt<br />

glauben) zollen diesem Bewusstsein ihren Tribut, indem sie nicht das Selbst<br />

verleugnen, die Intelligenz oder das Bewusstsein, welches sie denken und<br />

sagen lässt, was sie denken und sagen. Dieses Bewusstsein wird von einigen<br />

Brahman genannt und jñānaæ (Selbsterkenntnis), ÓÆnya (Leere), die Macht<br />

der Illusion, puruåa (das Selbst), cidākāÓa (Raum oder Ebene des Bewusstseins),<br />

Śiva, Selbst (ātman) usw. von anderen. Alle diese Beschreibungen sind<br />

Bewusstsein, da es Bewusstsein allein ist, das sich selbst so nennt (d.h. die<br />

Intelligenz in den verschiedenen Personen, die unterschiedliche Sichtweisen<br />

vertreten).<br />

Mögen meine Glieder entweder pulverisiert oder so machtvoll werden wie<br />

der Berg Meru! Was geht verloren und was wird gewonnen (was hat zugenommen),<br />

indem ich erkenne, dass ich reines Bewusstsein bin? Mein Großvater<br />

und andere sind tot, aber Bewusstsein ist nicht tot. Bewusstsein ist ungeboren<br />

und stirbt nicht. Es ist wie Raum. Wie kann der Himmel sterben? So<br />

wie die Welt durch die Finsternis der Nacht aus der Sicht verschwindet (zerstört<br />

wird) und erneut bei Anbruch der Dämmerung gesehen (erschaffen)<br />

wird, so sind auch Geburt und Tod. Man sollte den Tod daher als ein freudevolles<br />

Ereignis betrachten, denn man wandert nun von einem Körper in einen<br />

anderen. Nur Toren trauern bei solch freudigen Ereignissen. Und wenn du<br />

glaubst, dass du nicht wieder in einem anderen Körper geboren wirst, gibt es<br />

keinen Grund zur Trauer, denn der Tod setzt der Krankheit von Geburt und<br />

Tod ein Ende. Daher frohlockt oder trauert der weise Mensch weder im Leben<br />

noch im Tode. Auch wenn jemand aufgrund seiner bösen Taten den Tod<br />

fürchten sollte, ist dies unbegründet, denn dann wird diese Person in der<br />

nächsten Welt so wie in dieser leiden müssen. Weshalb jammerst du dann:<br />

„Oh weh, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe!“ anstatt aus Freude auszurufen:<br />

„Ich werde sein, ich werde sein, ich werde sein“? Sogar dies sind nur bedeutungslose<br />

Worte, wenn du realisierst, dass unendliches Bewusstsein allein<br />

existiert. Raum existiert im Raum. Was ist die Bedeutung von Worten wie<br />

„Geburt“ und „Tod“? Wisse, dass du reines Bewusstsein bist und iss, trink und<br />

lebe ohne den Sinn von „ich“ und „mein“. Du bist wie der Himmel. Wie können<br />

in dir Begierden auftauchen? Der weise Mensch erfreut sich dessen, was rein<br />

ist und ungesucht zu ihm kommt, wie es im Fluss des Lebens angeschwemmt<br />

wird. Sollten im Fluss des Lebens oder durch die Umstände unreine Dinge zu<br />

ihm kommen, dann sorgt sich der weise Mensch nicht um sie, wie im Tiefschlaf.<br />

RĀMA fragte:<br />

VI.2:102<br />

630


Was wird jemand, der die höchste Wahrheit realisiert hat?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Für eine solche Person werden sogar die Steine zu Freunden und die Bäume<br />

in den Wäldern zu Verwandten, und wenn er in der Mitte der Wälder leben<br />

sollte, dann werden die Tiere zu seiner Familie. Ein Königreich ist in seinen<br />

Augen wertlos, Notlagen werden für ihn zu großen Glücksfällen. Auch wenn<br />

er in einem Königreich lebt, frohlockt (feiert) er über seine Missgeschicke.<br />

Disharmonie wird zu Harmonie, Leid zu großer Freude, und auch falls er mit<br />

intensiver Tätigkeit befasst sein sollte, erfährt er tiefe Stille. Wachend befindet<br />

er sich im Tiefschlaf, lebend ist er bereits so gut wie tot. Er tut alles und<br />

tut in Wahrheit überhaupt nichts. Er genießt, ohne das Vergnügen zu kosten.<br />

Er ist der teure Freund aller. Er ist frei vom Bedauern für andere, aber voller<br />

Mitgefühl. Ohne etwas zu wollen sieht er für andere wie jemand aus, der<br />

etwas will. Er ist nur noch an der rechtschaffenen Ausführung seiner Handlungen<br />

interessiert.<br />

In den entsprechenden Situationen sieht er glücklich oder unglücklich aus.<br />

Er gibt nicht auf, was natürlich ist und spielt in diesem Drama des Lebens die<br />

ihm zukommende Rolle. Er trauert mit den Trauernden und frohlockt mit den<br />

Glücklichen, ohne in seinem Herzen befleckt zu werden.<br />

RĀMA fragte:<br />

Es gibt jedoch einige schlaue, aber unwissende Menschen, die vorgeben, in<br />

diesem Zustand zu sein (sie halten sich an die Regeln der Keuschheit wie ein<br />

Pferd, ohne den richtigen Geist). Wie unterscheidet man das Wahre vom<br />

Falschen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Ob sie nun wahr oder falsch ist – eine solche Natur sollte gepriesen werden.<br />

Die wahrhaft Weisen leben so, als hätten sie wie andere Menschen Begierden.<br />

Sie lachen mit den Narren, sind aber selbst weise. Niemand vermag ihren<br />

inneren Frieden und ihren erleuchteten Zustand zu erkennen. Nur die Weisen<br />

erkennen Weise. Die wahren Weisen stellen ihre Weisheit weder zur Schau<br />

noch sind sie begierig darauf, die Bewunderung der Menge zu erlangen. Die<br />

Menge stellt in den Augen der Weisen eine Störung dar. „Ich wünsche mir,<br />

dass alle meine Großartigkeit erkennen mögen, damit man mich verehrt“ –<br />

solche Gedanken tauchen in den Köpfen der eitlen Menschen auf, nicht aber<br />

in den Weisen.<br />

Kräfte wie Levitation usw. werden sogar von unwissenden Menschen durch<br />

Mantras, Drogen usw. erworben. Wer sich entsprechend bemüht, vermag<br />

diese Kräfte zu erlangen, ob er nun erleuchtet ist oder nicht. Es ist das Ego,<br />

welches Anstrengungen unternimmt und Kräfte erwirbt. Diese Kräfte verstärken<br />

dann die vāsanās oder die mentale Konditionierung. Der Erleuchtete<br />

jedoch ist an diesen Dingen nicht interessiert. Er erachtet die Welt als weniger<br />

als einen Grashalm. Der Erleuchtete lebt ein nicht-willentliches Leben,<br />

indem er sich auf spontane Weise mit angemessener Handlung befasst. Sogar<br />

631


VI.2:103<br />

die himmlischen Lustgärten verschaffen einem nicht das Glück, wie es die<br />

Weisheit des erleuchteten Menschen gibt. Der Weise betrachtet Hitze und<br />

Kälte, wenn sie seinen Körper treffen, so, als würden sie jemand anderem<br />

passieren. Er lebt nur für das Wohl anderer mit einem Herzen erfüllt von<br />

Mitgefühl für alle Wesen. Er mag in einer Höhle, einer Einsiedelei oder einem<br />

Palast leben oder ständig auf Wanderschaft sein. Er mag ein Lehrer oder ein<br />

Schüler sein. Er mag über psychische Kräfte verfügen oder für immer im<br />

samÃdhi sein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nur das unendliche Bewusstsein leuchtet als diese Welterscheinung. Wie<br />

könnte es jemals zugrunde gehen? Da ist keine Möglichkeit für die Existenz<br />

von etwas anderem als Bewusstsein. Wenn der Körper verdirbt, verdirbt<br />

doch nicht das Bewusstsein. Wenn man sagt, dass das Bewusstsein zusammen<br />

mit dem Körper aufhört, dann ist dies nur Anlass zur Freude, weil damit<br />

auch saæsāra und der Kummer aufhört! Sagt man dagegen, dass dieses Bewusstsein<br />

so lange wie der Körper existiert, dann kann man nicht erklären,<br />

weshalb der tote Körper nicht mehr bewusst ist. Alle diese Argumente sind<br />

daher ungültig. Das unendliche Bewusstsein allein ist real – was immer auch<br />

dieses zu erfahren wünscht, erfährt es als seiend, da es für die Realisation von<br />

Ideen keinerlei Hindernis gibt. Die Welt wurde niemals erschaffen – was ist,<br />

IST nur das unendliche Bewusstsein.<br />

Es ist dieses Bewusstsein, welches seine unendlichen Möglichkeiten zu erfahren<br />

wünscht. Es kennt sich selbst, indem es seiner selbst gewahr ist; es ist<br />

unwissend, indem es seiner selbst nicht gewahr ist. Folglich sind sogar Erkenntnis<br />

und Unwissenheit reines Bewusstsein und in Wahrheit gibt es keinerlei<br />

Getrenntheit. Man sollte sich deshalb ernsthaft mit der Verwirklichung<br />

des Selbst befassen, denn die Selbsterkenntnis schenkt einem das Beste aus<br />

beiden Welten.<br />

Gib alle Arten mentaler Erregung auf und widme jeden Augenblick deines<br />

Lebens dem Studium und der Ergründung dieser Schrift. Gewiss erlangt man,<br />

wonach man strebt – wer dies vernachlässigt, wird es ebenso gewiss verlieren.<br />

Das Gemüt fließt in Richtung Weisheit oder Unwissenheit – je nachdem,<br />

wohin es gelenkt wird. Außer mit dieser Schrift kann niemand das Höchste<br />

erreichen – jetzt nicht und nicht in Zukunft. Für die vollkommene Verwirklichung<br />

dieser höchsten Wahrheit sollte man daher eifrig und nachdrücklich<br />

nur diese Schrift studieren. Diese Schrift ist für dich von größerem Wert als<br />

alle Wohltaten deines Vaters und deiner Mutter und aller deiner Freunde<br />

zusammengenommen.<br />

Die schreckliche Krankheit namens saæsāra oder Bindung an die weltliche<br />

Existenz wird durch nichts anderes als die Selbsterkenntnis geheilt. Es ist<br />

jammerschade, wenn du deine Zeit verschwendest und tatenlos die Stunde<br />

deines Todes erwartest. Törichte Menschen, die Wohlstand und Ruhm hinterher<br />

rennen, verpfänden ihr Leben, um diese Dinge zu erlangen und zu bewahren.<br />

Weshalb verbringen sie ihre Lebenszeit nicht damit, die Schriften zu<br />

632


ergründen und Unsterblichkeit zu erlangen? Es geschieht durch die Selbsterkenntnis,<br />

dass man das Unglück vernichten und das Elend mit den Wurzeln<br />

ausreißen kann.<br />

Es geschieht zu deinem Besten, dass ich Tag und Nacht laut schreie und die<br />

Wahrheit verkünde. Höre zu und realisiere das Selbst mit Hilfe des Selbst.<br />

Wenn du es nicht jetzt schaffst, dir diese schauerliche Krankheit vom Hals zu<br />

schaffen – was willst du dann nach dem Tode tun? Da ist keine Schrift wie<br />

diese, die dir beim Erlangen der Selbsterkenntnis helfen kann. Lass sie scheinen<br />

wie eine Lampe, lass sie dich erwecken und unterweisen wie ein Vater<br />

und lass sie dir Freude bereiten wie eine Frau. In dieser Schrift ist nichts<br />

Neues enthalten. Die Wahrheit wird jedoch auf angenehme Weise mit einer<br />

Anzahl von Geschichten dargelegt. In dieser Schrift besteht das Entscheidende<br />

in der Darlegung der Wahrheit – wer diese Wahrheit verkündet oder die<br />

Schrift verfasst hat, ist nicht wichtig.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Man sollte sich nicht mit denjenigen zusammen tun, die diese Schrift aufgrund<br />

von Unwissenheit oder Torheit bekritteln und herabsetzen. Ich weiß,<br />

was ich bin, und ich weiß, wer ihr alle seid. Ich bin nichts als euer eigenes<br />

Bewusstsein, das hier sitzt, um euch zu unterweisen. Weder bin ich ein<br />

Mensch noch ein Himmelsbewohner noch ein Gott. Ich bin hier als die Frucht<br />

eurer Verdienste. Tatsächlich bin ich weder das eine noch das andere.<br />

Hier in dieser Welt sollte man das passende Heilmittel für diese als saæsāra<br />

(Weltillusion) bekannte Krankheit finden. Solange man nicht das Desinteresse<br />

an der objektiven und materiellen Existenz dieser Welt kultiviert, kann der<br />

Glaube an oder die Idee ihrer Existenz nicht geschwächt werden. Ein anderes<br />

Mittel, das Selbst von der Unreinheit der Selbstbegrenzung zu befreien, gibt<br />

es nicht. Der einzige Weg besteht in der Schwächung der vāsanā (Selbstbegrenzung<br />

oder Konditionierung oder die Idee von der Existenz der Welt).<br />

Wenn ein solches Objekt existiert, dann ist die Idee von seiner Existenz natürlich,<br />

aber im Lichte der Ergründung existiert das Objekt nicht, auch wenn es<br />

zu existieren scheint.<br />

Die scheinbare Existenz der Welt hat keine reale Ursache – wie kann dann<br />

die Wirkung von etwas Unwirklichem anders als unwirklich sein? Wie kann<br />

eine nicht-materielle (spirituelle) Ursache eine materielle Wirkung hervorbringen?<br />

Wie kann in reinem Bewusstsein Materie eher auftauchen als dass<br />

ein Schatten in der Sonne existiert? Es ist nicht richtig zu behaupten, dass die<br />

Welt eine reine und zufällige Zusammensetzung von Atomen sei, denn diese<br />

sind tatsächlich nur tote Substanzen. Die Weltschöpfung ist nicht das Ergebnis<br />

der Unwissenheit, denn weshalb – gesetzt den Fall, sie wäre das Resultat<br />

intelligenten Handelns – sollte sich ein intelligentes Wesen wie ein Wahnsinniger<br />

mit solch nichtiger Tätigkeit befassen? Daher ist klar, dass die Welt eine<br />

Erscheinung, aber keine reale Existenz ist. Wir scheinen alle in reiner Leerheit<br />

zu existieren – wie die Objekte in einem Traum. Die Welt ist nichts als<br />

reines Bewusstsein – einen Unterschied zwischen beiden gibt es nicht; das<br />

633


Eine wird wie „Luft“ und „Bewegung im Raum“ einfach nur auf zwei verschiedene<br />

Arten ausgedrückt. Das unendliche Bewusstsein plus Erscheinung wird<br />

die Welt genannt; die Welt minus Gestalt (Erscheinung) ist das unendliche<br />

Bewusstsein (Erscheinung ist illusorisch und Illusion existiert als solche<br />

nicht). So wie Bewusstsein Träume im Träumer hervorbringt, so erzeugt es<br />

im Wachzustand die Welt – beide sind aus demselben Stoff gebildet. Wo ist<br />

dann die Realität sogar von Brahma’s Körper? Dieser entstand im Bewusstsein<br />

als das allererste Traumobjekt.<br />

Brahman allein existiert und noch nicht einmal die kosmische Person. Jedoch<br />

wird all dies als real erfahren über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg.<br />

Aber das Irreale bleibt irreal, auch wenn es für eine lange Zeit von allen<br />

erfahren wird. Vom Schöpfer Brahmā bis hinunter zu einer Säule ist die Erscheinung<br />

der Materialität so unwirklich wie die in einem Traum gesehenen<br />

Objekte. Diese Objekte besitzen den Anschein einer Form, so wie die Objekte<br />

in einem Traum den Anschein einer Form haben. Sage mir daher bitte: Was<br />

ist materielle Existenz und was sind die Objekte dieser Welterscheinung? Wo<br />

sind sie? Was sind sie? Was ist Einheit? Was ist Vielfalt? Was bin ich? Was<br />

sind diese Ideen bezüglich der Objekte der Existenz? Was sind Ideen und<br />

vāsanās oder Selbstbegrenzung oder psychologische Konditionierung, die für<br />

das Fortdauern der Weltexistenz verantwortlich sind? Wo befinden sie sich?<br />

Sie sind nicht! Realisiere dies und ruhe dann im Zustand von nirvāïa.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es ist die subtile Klangschwingung, die Raum bildet, und es ist die subtile<br />

Berührungsschwingung, die Luft bildet. Ihre Reibung erzeugt Hitze oder das<br />

Feuerelement. Wenn sich das Feuer legt, gibt es Wasser. Kommen alle diese<br />

zusammen, dann entsteht Erde. All dies bleibt jedoch ein Spiel einfacher<br />

Schwingungen, die formlos sind. Wie entsteht dann Form? Nachdem man<br />

darüber eine beträchtliche Zeit nachgedacht hat, kommt man zu dem Ergebnis,<br />

dass es das Bewusstsein ist, welches Form entstehen lässt. Weshalb diese<br />

Wahrheit nicht gleich von Anfang verstehen und annehmen? Weder die groben<br />

Elemente noch die Formen existieren in Wirklichkeit – sie tauchen auf,<br />

wie sie im Traum auftauchen. So wie Formen in Träumen erscheinen, so<br />

erscheinen sie auch im Wachzustand. Wird dieses realisiert, dann ist es Befreiung.<br />

Ob der Körper weiter existiert oder aufhört – es gibt keinen Kummer<br />

mehr.<br />

Weder im Wachzustand noch im Traum gibt es eine wirkliche Welt. Bewusstsein<br />

erfährt sich selbst als solche und diese Erfahrung wird als Welt<br />

bezeichnet. So wie die in einem Traum gesehene Welt „nichts“ ist, so ist die<br />

im Wachzustand gesehene Welt „nichts“. So wie die Traumerfahrungen eines<br />

Mannes der neben ihm schlafenden Person nicht bekannt sind, so ist die<br />

Erfahrung eines Menschen von dieser Welt unbekannt für andere.<br />

Im Traum scheint die unfruchtbare Frau einen Sohn zu haben – im Wachen<br />

dann scheint das unmögliche Wirklichkeit geworden zu sein. Das Unwirkliche<br />

erscheint als wirklich. Etwas, was nicht wirklich erfahren wurde, erscheint<br />

VI.2:104,<br />

105<br />

634


VI.2:106<br />

wie eine reale Erfahrung – so wie man sein eigenes Begräbnis im Traum sieht.<br />

Wenn einer davon träumt, in eine Grube zu fallen, dann wird sein Bett zu<br />

eben dieser Grube. Im blendenden Licht sieht man überhaupt nichts (es ist<br />

dasselbe wie Dunkelheit).<br />

Der Träumer stirbt im Traum und verlässt seine Traumverwandten. Aber<br />

dann erwacht er und ist befreit vom Traumleben und -tod. Auf dieselbe Weise<br />

stirbt man hier, nachdem man eine lange Zeit Freude und Leid erfahren hat.<br />

Der Träumer erwacht und macht nun eine neue Traumerfahrung, die man die<br />

Welt nennt. Nachdem er diese Welt erfahren hat, wandert er weiter zu einer<br />

anderen. Während des Träumens erkennt der Träumer nicht, dass der frühere<br />

Traum unwirklich (geträumt) war. So erinnert man sich nicht an sein früheres<br />

Leben, sondern hält nur das gegenwärtige Leben für wirklich. Vom<br />

Träumer sagt man, dass er „erwacht“, wenn sein Schlaf beendet ist. Auf dieselbe<br />

Weise erwacht die Person, die in dieser Welt lebt und stirbt, an einem<br />

anderen Ort wieder. Die Unterscheidung zwischen Traum und Wachen ist<br />

folglich rein willkürlich und akademisch. Beide wurzeln in der alleinigen<br />

Wirklichkeit des unendlichen Bewusstseins.<br />

Alle die bewegten und unbewegten Dinge sind nichts als reines Bewusstsein.<br />

Sobald in ihm die illusorische Idee der Getrenntheit auftaucht, wird das<br />

Bewusstsein als Welt gesehen. Ein Topf ist nichts als Ton – ohne Ton gibt es<br />

keinen Topf. Sämtliche Objekte sind reines Bewusstsein – ohne Bewusstsein<br />

wird nichts wahrgenommen. Wasser ist flüssig – ohne seine Eigenschaft als<br />

Flüssigkeit ist es kein Wasser (was ist dehydriertes Wasser?). Genau so ist<br />

Bewusstsein. Alles hier ist reines Bewusstsein – ohne reines Bewusstsein ist<br />

nichts.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Aus Gründen der Zweckmäßigkeit wurden ein und demselben Ding zwei<br />

Namen gegeben – die beiden (Wachen und Träumen) sind ein und dasselbe,<br />

wie zwei Gläser Wasser. Was beiden gemeinsam ist, ist ihr gemeinsames<br />

Substrat, nämlich reines Bewusstsein.<br />

Die Haltung oder die Natur eines Baumes, der durch seine Wurzeln Nahrung<br />

aufnimmt und so existiert, besteht aus reinem Bewusstsein. Wenn man<br />

seine Wünsche beiseitegelegt hat und sich das Gemüt in vollkommenem<br />

Frieden befindet, ist das Ergebnis reines Bewusstsein. Bei einem gesunden<br />

Menschen, dessen Gemüt frei von objektiven Wahrnehmungen ist und den<br />

der Schlaf noch nicht überwältigt hat, ist das Ergebnis reines Bewusstsein.<br />

Die Natur, die in Gras und Schlinggewächsen existiert, welche zu den natürlichen<br />

Jahreszeiten wachsen, ohne Empfinden von „mein“, ist reines Bewusstsein.<br />

Die Natur desjenigen, der ohne Konzepte und Vorstellungen, aber nicht<br />

tot ist, und dessen Wesen klar und rein ist wie der Winterhimmel, ist reines<br />

Bewusstsein. Das reine Wesen von Holz und Stein, die sich seit ihrer Erschaffung<br />

nicht verändert haben, wie auch das Gemüt reiner Wesen ist reines<br />

Bewusstsein. Das ist reines Bewusstsein (cidākāÁa), in dem sämtliche Dinge<br />

635


existieren, aus dem heraus sie entstehen, welches alles ist und welches alles<br />

in allem ist.<br />

Wenn der Schlaf aufgehört hat, kommt die Welterscheinung zum Vorschein;<br />

hört diese auf, dann ist da reines Bewusstsein (cidaæbaraæ). Das<br />

„nichts“, welches verbleibt, nachdem alles als „nicht dies, nicht dies“ negiert<br />

wurde, ist reines Bewusstsein (cidaæbaraæ). Das gesamte Universum ist<br />

nichts als reines Bewusstsein, wie es war und wie es ist. Auch wenn es Konzepte<br />

und die Wahrnehmung von Formen und Ideen gibt, so existiert als<br />

einziges immer nur Bewusstsein.<br />

Wisse dies, und sei frei von Konditionierung, während du die Objekte der<br />

Sinne gewahrst, so wie ein schlafender Mann innerlich „wach“ ist. Indem du<br />

innerlich so still wie ein Felsen bist, sprich, gehe, trinke, gib und nimm. Diese<br />

Welt ist niemals erschaffen worden, denn sie hat keinerlei Ursache und ohne<br />

Ursache kann keine Wirkung entstehen. Bewusstsein bleibt daher nichts als<br />

Bewusstsein – ohne den geringsten Wandel. Wenn die Erfahrung seiner eigenen<br />

unendlichen Möglichkeiten sich fortsetzt, erscheint sie als diese Welt.<br />

Daher wurde diese objektive Welt niemals erschaffen; sie existiert nicht und<br />

wird auch niemals entstehen. Sie wird auch niemals zugrunde gehen, denn<br />

wie kann Nichtsein zugrunde gehen? Was hier zu sein scheint, ist die Reflexion<br />

des Bewusstseins innerhalb von sich selbst. Da es jedoch keinerlei Dualität<br />

gibt, gibt es weder eine Reflexion noch eine Erscheinung. Wer weiß, ob das,<br />

„was ist“, real oder irreal ist? Wer weiß, weshalb und wie ein Mann träumt<br />

oder was seine Träume wirklich sind, außer dass sie sein eigenes Bewusstsein<br />

sind? Der Schöpfer und alle diese Dinge sind nichts als reines Bewusstsein.<br />

Sobald dies erkannt ist, wird es als Brahman gekannt; wird es dagegen<br />

nicht realisiert, dann nennt man es Illusion, Māyā, Unwissenheit und die Welt.<br />

Es ist nur dieses Bewusstsein, welches sich selbst kennt als „ich bin dieser<br />

Berg“, „ich bin Rudra“, „ich bin der Ozean“ und „ich bin die kosmische Person“;<br />

genau wie ein Mensch, der träumend glaubt, dass alles wirklich in seinem<br />

Traum existiert. Alle externen Objekte werden im Spiegel des eigenen Bewusstseins<br />

reflektiert, was im Zuge der Ergründung unverzüglich erkannt<br />

wird. Sobald auf diese Weise ergründet wird, realisiert man die wahre Natur<br />

der Objekte als reines Bewusstsein.<br />

* * *<br />

Die Geschichte von VipaÁcit<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.2:107,<br />

108<br />

636


Das gesamte Universum ist reines Bewusstsein; aber als ein Objekt ist es<br />

eine leblose Erscheinung. Daher ist alles, obwohl es lebt, wie tot. Und auch du<br />

und ich sind wie tot, obwohl wir leben. Indem wir die Idee der Welt in der<br />

Welt und die Ich-Du-Idee in uns selbst aufgeben, befassen wir uns mit der der<br />

Situation angemessenen Handlung und tun hier, was nötig ist. Weshalb? Weshalb<br />

taucht diese Welterscheinung überhaupt auf? Es gibt keinen Grund<br />

dafür, so wenig wie es einen Grund oder eine Motivation gibt für das Spiel<br />

eines Kindes. Man soll daher sein Leben nicht mit der nutzlosen Suche nach<br />

Wissen betreffend Materie und Gemüt verschwenden, denn wer Gold sucht,<br />

muss dazu nicht den Himmel fegen.<br />

Höre dir nun die folgende Geschichte an: In diesem Universum, auf diesem<br />

Kontinent namens JambÆdvīpa gab es eine berühmte Stadt namens Tatam,<br />

die vom König VipaÁcit (wörtl.: weise, gelehrt) regiert wurde. Sein Glanz war<br />

unbeschreiblich. Sogar die Hofpoeten hatten ihre sämtlichen Talente erschöpft,<br />

ohne jedoch der Beschreibung seiner Tugenden gerecht zu werden.<br />

Aber sie liebten und genossen seine Gesellschaft. Der König wiederum war<br />

ihnen herzlich zugetan und gab ihnen täglich großzügige Geschenke. Er verehrte<br />

die Brāhmaņen (die Priester) wie auch das Feuer, dem er täglich huldigte.<br />

Er hatte vier Minister, die sein Königreich eifrig an seinen vier Grenzen bewachten.<br />

Dank ihrer Weisheit und Tapferkeit war der König siegreich und<br />

unüberwindlich. Eines Tages besuchte ihn ein weiser Mann aus dem Osten. Er<br />

gebrauchte gegenüber dem König harsche und unerfreuliche Worte.<br />

Er sprach: „Oh König, du hast dich selbst mit Händen und Füßen an diese<br />

Erde gefesselt. Höre nun, was ich dir zu sagen habe und entscheide dann, was<br />

zu tun ist. Dein Minister, der die östliche Seite deiner Stadt beschützt, ist tot.<br />

Derjenige, der die südliche bewacht, versuchte, auch die östliche Seite zu<br />

verteidigen, wurde jedoch vom Feind überwältigt. Auch er ist tot. Als der<br />

Minister, der den Westen bewachte, zur südlichen Seite eilte, wurde er vom<br />

Feind abgefangen und getötet.“<br />

Während er so sprach, eilte ein anderer Mann in den Palast und kündigte<br />

an, dass der den Norden bewachende Minister am Palasttor sei. Der König<br />

alarmierte seine Armee und befahl, den Minister hereinzubringen. Der Minister<br />

trat ein und grüßte den König. Er sah mitgenommen aus und sein Atem<br />

ging mühsam. Aufgrund seiner Schwäche hatte der Feind ihn überwältigen<br />

können. Er sagte zum König: „Oh Herr, alle anderen drei Minister sind in die<br />

Welt der Toten gegangen, um dieses Reich für dich zu erobern. Nur du vermagst<br />

jetzt noch, den Feind niederzustrecken.“<br />

In der Zwischenzeit kam noch ein Mann und berichtete: „Herr, die Stadt ist<br />

vollständig vom Gegner eingekreist worden. Ihre Waffen sind überall zu sehen.<br />

Sie sind wie Dämonen äußerst mächtig. Ihre Rüstungen glänzen so wie<br />

Euer Ruhm. Ihre Armeen sind in perfekter Schlachtordnung aufgereiht. Sie<br />

sind zornig und ihre Schlachtrufe erklingen schreckenerregend. Der Befehls-<br />

637


VI.2:109,<br />

110<br />

haber dieser Armee hat mich geschickt, um dir diese Neuigkeiten zu berichten.<br />

Tue nun, was zu tun ist.“<br />

Nachdem er diese Nachricht überbracht hatte, ging der Mann fort. In der<br />

Armee des Königs bereiteten sich nun alle auf die Schlacht vor und erhoben<br />

ihre Arme und Waffen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In der Zwischenzeit hatten sich sämtliche Minister um den König versammelt.<br />

Sie rieten ihm wie folgt: „Herr, wir haben die Lage betreffend unseren<br />

Feind gründlich untersucht. Wir sind zum Schluss gekommen, dass in diesem<br />

Fall die üblichen drei friedlichen Wege zur Verhandlung mit dem Feind unangebracht<br />

sind und nur noch der vierte Weg – Bestrafung oder Gewalt – übrig<br />

bleibt. Wir haben bisher weder Freundschaft noch Bündnis mit diesen Feinden<br />

gesucht, und daher sind diese Wege versperrt. Es gibt Feinde, welche für<br />

friedliche Verhandlungen nicht zugänglich sind: Sünder, Barbaren, Ausländer,<br />

diejenigen, die stark vereint sind, wie auch diejenigen, die unsere Schwächen<br />

sehr gut kennen. Lasst uns daher nicht säumen! Befehlt die Generalmobilmachung<br />

und die Vorbereitung eines totalen Krieges.“<br />

Der König erteilte die nötigen Befehle und sandte die Minister auf das<br />

Schlachtfeld, nachdem er ihnen mitgeteilt hatte, dass er nach der üblichen<br />

Verehrung des heiligen Feuers zu ihnen stoßen werde. Dann nahm er sein<br />

Bad und ging zum heiligen Feuer, um ihm zu huldigen. Er betete: „Oh Herr,<br />

bisher habe ich alle meine Feinde mühelos bezwungen und dieses sich weithin<br />

erstreckende Reich durch Ausübung meiner Hoheit über viele Inseln und<br />

Kontinente regiert. Ich herrschte über viele Menschen einschließlich Dämonen.<br />

Aber vielleicht bin ich jetzt alt geworden. Deshalb hielten meine Feinde<br />

diesen Zeitpunkt für günstig, um in mein Gebiet einzudringen. Herr, so wie<br />

ich bisher diesem heiligen Feuer seine verschiedenen Opfergaben habe zukommen<br />

lassen, so biete ich heute meinen eigenen Kopf als Opfergabe an. Ich<br />

bete, dass diesem Feuer vier mächtige Wesen entsteigen mögen, wie die vier<br />

Arme von Lord Nārāyana!“<br />

Nachdem der König so gesprochen hatte, hieb er mit äußerster Unbekümmertheit<br />

seinen eigenen Kopf ab, der zusammen mit dem Rest des Körpers<br />

ins Feuer stürzte. Aus diesem Feuer tauchte dann der König als vier strahlende<br />

Krieger, ausgestattet mit außergewöhnlichem Glanz und Kampfkraft sowie<br />

den besten und mächtigsten Waffen aller Art, wieder auf. Es war unbestreitbar,<br />

dass diese Krieger durch keine kriegerischen Mittel, seien dies nun Raketen,<br />

Mantras, Drogen usw., besiegt werden konnten.<br />

Zur selben Zeit rückten die gegnerischen Kräfte weiter vor. Es entbrannte<br />

eine schreckliche Schlacht. Der Himmel war mit Rauch und Raketen bedeckt.<br />

Schwerter blitzten und Revolver feuerten unablässig – der Anblick war<br />

schauerlich. Es entstanden Ströme von Blut, in denen sogar die Kriegselefanten<br />

dahintrieben. Ab und zu kollidierten zwei Raketen in der Luft und tauchten<br />

den Himmel in das blendende Licht ihrer Explosionen. Im Herzen und<br />

Gemüt aller Krieger gab es nur einen einzigen Gedanken: „Ich muss den Feind<br />

638


vernichten, sonst wird er mich vernichten.“ Der Krieg ließ auch die guten und<br />

edlen Qualitäten in den Menschen zum Vorschein kommen, die bis dahin<br />

unsichtbar gewesen waren. Aber es geschahen auch viele wüste Gräueltaten.<br />

Hie und da töteten Krieger sogar Flüchtlinge und plünderten, wo und was<br />

immer sie konnten.<br />

Die Menschen, die nicht an der Schlachtbeteiligt waren (die Nicht-<br />

Kombattanten), flohen. Das Schlachtfeld war erfüllt von Kriegern, für die alle<br />

Unterschiede zwischen Leben und Tod aufgehört hatten.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der König in seinen vier Gestalten bewegte sich in die vier Richtungen des<br />

Schlachtfeldes. Er erkannte, dass seine Armee gegenüber der gut vorbereiteten<br />

und gut ausgestatteten Armee des Feindes unterlegen war. Er dachte<br />

nach: „Der Weise Agastya trank den Ozean aus. Ich werde nun ein weiterer<br />

Agastya werden und diesen Ozean aus feindlichen Kräften trockenlegen.“ Er<br />

dachte an die Waffe der Windrakete, die unverzüglich erschien. Er verneigte<br />

sich und schickte ein Gebet für seine Untertanen zum Himmel. Dann sandte<br />

er die Windrakete in Richtung der gegnerischen Kräfte. Sofort gab es überall<br />

fliegende Massen von Raketen und Waffen. Die Winde, die nun bliesen, waren<br />

wie die Winde der kosmischen Auflösung. Schon sehr bald waren die Feindeskräfte<br />

vernichtet. Die Windrakete verursachte außerdem strömenden<br />

Regen, brausende Windböen und dichte, finstere Wolken.<br />

Die verschiedenen Abteilungen der feindlichen Armee flohen in verschiedene<br />

Richtungen. Die Cedi-Armee (aus dem Land der Perlen und Schlangen)<br />

floh in eine südliche Richtung. Die Pārsis gingen in einem Wald namens<br />

VaÇjula zugrunde. Die Soldaten von Darada versteckten sich in Höhlen. Die<br />

Krieger von Daåārïa, die in einen nahegelegenen Wald geflüchtet hatten,<br />

wurden von Löwen getötet. Die Krieger des Áaka-Territoriums fürchteten sich<br />

sehr vor den eisernen Raketen und rannten vor Furcht zitternd davon. Die<br />

Kräfte von TuÇgaïa (deren Farbe golden war) wurden von Räubern ihrer<br />

Kleider beraubt und schließlich von Dämonen aufgefressen.<br />

Die Überlebenden der feindlichen Streitkräfte verbargen sich in den Bergen<br />

namens Sahya-adri und ruhten dort sieben Tage lang aus. Ihre Wunden wurden<br />

von Himmelsbewohnern (vidhyādhara-Frauen) gepflegt, die aus einem<br />

Territorium namens Gāndhāra stammten. Die Krieger aus HÆïa, CÅna und<br />

KirāÂa hatten durch die Raketen des Königs VipaÁcit entsetzliche Entstellungen<br />

erlitten. Sogar die Bäume erschraken vor der Macht des Königs und standen<br />

auch nach dem Krieg eine sehr lange Zeit lang wie erstarrt.<br />

Die Luftwaffe des VidÆra-Territoriums wurde von den starken Winden erfasst<br />

und in die Seen geschleudert. Die Infanterie vermochte aufgrund des<br />

starken Regens nichts mehr zu sehen und konnte nicht einmal mehr laufen.<br />

Die HÆïas, die in den Norden geflüchtet waren, gerieten in Treibsand und<br />

kamen um. Die Áakas, die in den Osten geflohen waren, wurden vom König<br />

gefangengenommen, einen Tag lang festgehalten und dann freigelassen.<br />

VI.2:111,<br />

112<br />

639


VI.2:113,<br />

114, 115<br />

Die Soldaten des Mandra-Territoriums erkletterten den Mahendra-Berg in<br />

der Hoffnung auf Zuflucht. Sie schleppten sich mühselig höher und höher<br />

hinauf und brachen dann in der Nähe einer Einsiedelei von Weisen zusammen,<br />

die sie mit Essen und Trinken usw. versorgten. Ursprünglich waren sie<br />

den Berg hinaufgeklettert, um dem Tode auf dem Schlachtfeld zu entgehen<br />

und um Nahrung zu erbitten. Nun erhielten sie aus der Höhle der Götter zwei<br />

Dinge, nämlich unverzüglichen Schutz und Sicherheit sowie die Gesellschaft<br />

der Weisen, die den dauerhaften Frieden sicherstellt. Manchmal folgt durch<br />

zufällige Umstände (wie bei der Krähe und der Kokosnuss) dem Bösen das<br />

Gute auf dem Fuße. Die Daåārïa-Soldaten nahmen versehentlich Gift zu sich<br />

und starben. Die Haihaya-Soldaten aßen zufälligerweise ein Heilkraut, das sie<br />

in Himmelsbewohner mit der Fähigkeit des Fliegens verwandelte.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die vier Könige (die in Wirklichkeit VipaÁcit waren) hatten während der<br />

Verfolgung ihrer fliehenden Feinde eine lange, lange Strecke zurückgelegt.<br />

Angetrieben vom innewohnenden Bewusstsein, das allmächtig ist, begannen<br />

sie nun mit einem Unternehmen, das die Eroberung der Welt namens<br />

digvijaya zum Ziel hatte. Eine beträchtliche Zeit lang wurden sie noch von<br />

ihren eigenen Streitkräften begleitet. Während sie ihren Marsch ohne Ruhepause<br />

und Erholung fortsetzten, wurden diese Streitkräfte wie auch die des<br />

Feindes, den sie verfolgten, schwächer und schwächer und kamen schließlich<br />

um. Auch die Raketen der Könige verloren ihre Wirksamkeit wie Feuer, das<br />

ohne Brennstoff langsam verlöscht.<br />

Die vier Könige, die in alle vier Himmelsrichtungen gingen, begegneten ungeheuren<br />

Ozeanen. Die Raketen, die noch übrig geblieben waren, fielen in den<br />

Schlamm, der durch die starken Regenfälle entstanden war, und funktionierten<br />

nicht mehr. Die vier Brüder nahmen die riesigen Ozeane mit großem<br />

Erstaunen wahr (es folgt eine höchst poetische Beschreibung des Ozeans).<br />

Die Minister des Königs, die ihn auf dieser Expedition begleitet hatten, wiesen<br />

die Könige auf die verschiedenen herrlichen Sehenswürdigkeiten hin –<br />

die Wälder, die Bäume, die Ozeane, die Berge, die Wolken und auch die verschiedenen<br />

dort lebenden Bergstämme. (Auch hier gibt es im Text eine poetische<br />

Beschreibung all dieser Dinge. Es gibt außerdem einen Vergleich des<br />

Gegenteils.) So wie Brahman, obgleich einer, in der Vielfalt als geteilt erscheint<br />

und – obwohl unendlich – er diese endliche und verderbliche Welt<br />

erschaffen zu haben scheint, so erschien auch dieser Ozean, obwohl einer, als<br />

geteilt in mehrere Ozeane und schien gleichzeitig aus ewigen als auch vergänglichen<br />

Wellen zu bestehen.<br />

Die Minister wiesen auf weitere Ozeane hin und sprachen: „Herr, hier auf<br />

diesem Ozean ruht Lord Nārada. Hier in diesem anderen Ozean verstecken<br />

sich seine Feinde, die Dämonen. In jenem Ozean liegen Berge verborgen. In<br />

einem anderen Ozean wiederum befindet sich das kosmische Feuer, bestehend<br />

aus unvorstellbarer Hitze, zusammen mit den Wolken der kosmischen<br />

Auflösung. Wie wunderbar ist es, dass dieser Ozean so ungeheuer groß und<br />

640


so fest gestaltet ist und so viele Lasten zu tragen vermag. Schaut euch den<br />

Mond an. Wenn er am östlichen Himmel auftaucht, verstrahlt er sein sanftes<br />

Licht in alle Richtungen, bringt Segen für alle Wesen und erlöst sie von ihrer<br />

Furcht vor Finsternis und Nacht. Aber sogar dieser Mond ist mit dunklen<br />

Flecken besudelt. Wenn es sogar mit den Himmelskörpern so steht – was<br />

können wir in dieser Welt ein unbeflecktes Objekt bezeichnen, was können<br />

wir in dieser Welt wohl gut und vorzüglich nennen, was von Zeit oder Schicksal<br />

nicht im nächsten Augenblick getrübt wird? Ganz gewiss gibt es nichts<br />

dergleichen auf der Erde.“<br />

DIE MINISTER UND ANDERE sprachen:<br />

Gewahre, oh König, die Herrscher über die Grenzen der Erde, wie sie in ihre<br />

Schlachten vertieft sind. Die himmlischen Nymphen steuern die Luftfahrzeuge,<br />

die die in der Schlacht gefallenen Edlen fortbringen. Dies betrachtet man<br />

als die besten Ziele, die in diesem Leben zu erreichen sind: ein Leben in Gesundheit<br />

und Reichtum, das nicht das Missfallen der Gesellschaft hervorruft,<br />

und dass man sich auch für andere an gerechten Kriegen beteiligt. Wer jemanden<br />

tötet, der ihn angegriffen hat, und dabei die moralischen Regeln<br />

gerechter Kriegsführung nicht verletzt, ist ein Held und geht in den Himmel.<br />

Gewahre den Himmel, oh König, an dem die mächtigen Götter und Dämonen<br />

in Gestalt der Sterne erscheinen und der gleichzeitig der Raum ist, in dem<br />

sich die riesigen Planeten und Sterne wie Sonne und Mond bewegen. Die<br />

Toren erachten all dies als leeren Raum. Trotz all dem Kreisen dieser Sterne<br />

und Planeten, trotz all der Schlachten zwischen Göttern (Licht) und Dämonen<br />

(Finsternis) wurde dieser Raum noch nie besudelt oder verschmutzt oder in<br />

irgendeiner anderen Hinsicht verändert.<br />

Oh Raum! Obwohl du in deinem Schosse die Sonne und sogar Lord<br />

Nārāyana und sein gesamtes Gefolge trägst, hast du doch niemals die in dir<br />

wohnende Dunkelheit aufgegeben. In der Tat ist dies ein großes Rätsel. Und<br />

doch erachten wir den Raum als weise und erleuchtet, denn er ist unberührt<br />

von den Mängeln und Fehlern der Welten, die ihn ihm treiben.<br />

Oh Raum! Während des Tages erstrahlst du. Zur Zeit der Dämmerung und<br />

bei Anbruch der Nacht erglühst du purpurrot. Zur Nachtzeit bist du dunkel.<br />

Du bist ohne Materialität. Weder hältst du noch trägst du die Lasten irgendeines<br />

Stoffes. Daher wirst du als Māyā gesehen. Niemand, nicht einmal die<br />

Gebildeten und die Weisen, vermögen dich und deine wahre Natur genau zu<br />

verstehen. Oh Raum, du besitzt nichts, aber erlangst doch alles. In dir selbst<br />

bist du reine Leerheit und bewirkst doch, dass alles in dir wächst und erhaben<br />

ist.<br />

Im Raum gibt es weder Städte noch Dörfer, weder Wälder noch Gärten, weder<br />

Bäume noch Schatten, und doch durchkreist ihn die Sonne jeden Tag aufs<br />

Neue. Wahrlich, die Edlen erfüllen ohne Versäumnis ihre Pflicht, wie schwierig<br />

und verdrießlich diese auch immer sein mag.<br />

VI.2:116<br />

641


VI.2:117-<br />

121<br />

Obwohl scheinbar untätig, regelt der Raum das Wachstum der Pflanzen und<br />

Bäume, indem er übermäßiges Wachstum verhindert. Wie könnte dieser<br />

Raum, in dem die unendlichen Universen geboren werden und in dem sie sich<br />

wieder auflösen, als leer bezeichnet werden? Etwas ist falsch mit den Gelehrten.<br />

DIE MINISTER UND ANDERE fuhren fort:<br />

(Die nächsten Kapitel sind ebenfalls angefüllt mit dichterischen und künstlerischen<br />

Beschreibungen der Phänomene der Natur, der Flora und Fauna<br />

sowie mit interessanten spirituellen Vergleichen, für die beispielhaft die<br />

folgenden beiden wiedergegeben werden.)<br />

Oh Herr, gewahre den Kranich. Wie fleißig und emsig ist er im Erjagen und<br />

Verspeisen der Fische. Verruchte Menschen sehen im natürlichen Verhalten<br />

des Kranichs eine Rechtfertigung ihres eigenen bösartigen Grundsatzes, dass<br />

man andere zum Erreichen der eigenen selbstsüchtigen Ziele vernichten<br />

dürfe.<br />

Schau dir den Pfau an. Er stillt seinen Durst mit reinstem Regenwasser.<br />

Niemals trinkt er verschmutztes Wasser aus den Gräben und Kanälen. Aber<br />

beständig verehrt er die Wolken und den Regen, der aus ihnen fällt und empfindet<br />

dadurch Zufriedenheit. Wenn das Herz der Verehrung der Heiligen<br />

ergeben ist, werden sogar unerfreuliche Ereignisse erfreulich.<br />

Oh König, gewahre das junge Paar dort, welches miteinander spricht und<br />

sich erfreut. Der junge Mann, völlig verliebt in seine Gefährtin, hat sie gerade<br />

nach einer langen Zeit der Trennung wiedergetroffen. Er sagt zu ihr :<br />

„Geliebte, höre, was mir an einem Tag während unserer Trennung geschehen<br />

ist. Ich betrachtete die Wolken und betete zu den Wolken, dass sie dir<br />

eine Nachricht von mir überbringen mögen. So groß war mein Verlangen<br />

nach dir, dass ich ohnmächtig wurde. Mein Atem hielt an. Meine Erinnerung<br />

setzte aus. Mein Körper wurde kalt und starr wie ein Holzklotz. Wer kann<br />

schon angemessen das Unglück beschreiben, welches denjenigen überfällt,<br />

der von der Geliebten getrennt ist?<br />

Reisende, die vorüberkamen und alles beobachtet hatten, hielten mich für<br />

tot und trafen Vorbereitungen für die Verbrennung des entseelten Körpers.<br />

Ich wurde auf den Verbrennungsplatz gebracht. Sie legten mich auf den Scheiterhaufen<br />

und zündeten ihn an. In wenigen Augenblicken erfuhr ich nun alle<br />

möglichen Arten von seltsamen Empfindungen, Gefühlen und Visionen. Ich<br />

fühlte, wie ich in ein Loch im Boden fiel. Beschützt wurde ich dabei von der<br />

Rüstung deiner Liebe und der Kontemplation deiner Gestalt. Ich erfreute<br />

mich in meinem Herzen deiner Gesellschaft. Ich erinnerte mich noch des<br />

kleinsten Details unserer amourösen Begegnung, in der wir uns einander<br />

selbstvergessen hingaben. Währenddessen erblickte ich rund um mich herum<br />

Flammen.“<br />

Als sie dies vernahm, wurde das Mädchen ohnmächtig. Ihr Liebhaber brachte<br />

sie wieder zu sich und setzte seine Erzählung fort:<br />

642


VI.2:124<br />

„Ich rief sofort: 'Feuer! Feuer!', und erwachte aus meiner Ohnmacht. Die<br />

Leute, die den Scheiterhaufen umstanden, glaubten, dass ich vom Tode auferstanden<br />

sei und waren begeistert. Sie sangen und tanzten. Alle kehrten wir<br />

nach Hause zurück.“<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nachdem er sich all dies angehört hatte, verehrte der vierfache VipaÁcit das<br />

Feuer. Der Feuergott erschien. Sie beteten zu ihm: „Wir wünschen dieses aus<br />

den fünf Elementen gebildete Universum in seiner Gänze zu betrachten. Gewähre<br />

uns diesen Wunsch und sorge bitte dafür, dass wir nicht sterben, bevor<br />

wir nicht alles erblickt haben – soweit dies mit dem physischen Körper und<br />

darüber hinaus mit dem Verstand möglich ist.“ Der Feuergott gewährte diesen<br />

Wunsch und verschwand.<br />

RĀMA fragte;<br />

Hoher Herr, wie kam es, dass der vierfache VipaÁcit, der nur eine einzige<br />

Person mit einem einzigen Bewusstsein war, trotzdem in seiner vierfachen<br />

Gestalt verschiedene Wünsche hegen konnte?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Obgleich Bewusstsein eines, nondual und allgegenwärtig ist, scheint es vielfältig<br />

zu sein, wie das Gemüt einer schlafenden (träumenden) Person. So wie<br />

ein Spiegel verschiedene Objekte in sich spiegelt, weil er rein ist, so reflektiert<br />

Bewusstsein, das absolut rein ist, alles in sich selbst. Auch wenn Spiegel aus<br />

demselben Metall gemacht sind, so reflektieren sie wechselseitig und ad<br />

infinitum verschiedene Objekte. Ähnlich reflektiert auch Bewusstsein innerhalb<br />

von sich selbst alles, was vor ihm erscheint.<br />

So kommt es, dass das Viele als Eines erscheint, aber gleichzeitig verschieden<br />

und nicht-verschieden (Eins) ist; denn es ist weder vielfältig noch nichtvielfältig,<br />

es ist verschieden und es ist eines. Was daher in einem der vier<br />

VipaÁcit auftauchte, wurde in seinem Bewusstsein reflektiert und von ihm<br />

entsprechend erfahren. Yogis vermögen, obwohl sie scheinbar an einem Ort<br />

bleiben, überall und in in den drei Perioden der Zeit Tätigkeiten auszuüben<br />

und zu erfahren. Wasser, das stets eins und alles durchdringend ist, tut verschiedene<br />

Dinge zur selben Zeit und scheint verschiedenste Erfahrungen zu<br />

machen. Der eine Viåņu mit seinen vier Armen oder vier Körpern führt die<br />

verschiedenen Handlungen zum Schutz der Welt aus. Ein Wesen (Tier) mit<br />

vielen Armen trägt etwas mit einigen seiner Arme und mit den anderen tötet<br />

es es. Es geschah auf diese Weise, dass die Könige namens VipaÁcit gleichzeitig<br />

mit den verschiedensten Tätigkeiten befasst waren.<br />

Sie schliefen auf unterschiedliche Weise auf ihren Lagern aus Gras auf der<br />

Erde. Sie leben und vergnügten sich auf verschiedenen Kontinenten. Sie<br />

ergingen sich in verschiedenen Wäldern. Sie durchwanderten die Wüsten. Sie<br />

wohnten auf den Gipfeln der Berge und in den Tiefen der Ozeane. Sie verbargen<br />

sich manchmal in den Höhlen der Berge. Sie vergnügten sich in den Meeren<br />

und im Wind, auf den Wellen wie auch am Ufer und in den Städten.<br />

643


Der VipaÁcit, der nach Osten ging, schlief sieben Jahre lang an den Hängen<br />

des Sonnenaufgang-Berges des Kontinents namens Áāka, denn er war von<br />

den dort lebenden Himmelsbewohnern verzaubert worden; nachdem er vom<br />

Wasser im dortigen Felsen getrunken hatte, wurde er selbst wie ein Stein.<br />

Derjenige VipaÁcit, der nach Westen in Richtung des Sonnenuntergang-Berges<br />

auf demselben Kontinent ging, wurde das Opfer der Betörungen einer Nymphe,<br />

die ihn einen ganzen Monat lang bezauberte. Derjenige VipaÁcit, der nach<br />

Osten gegangen war, verweilte einige Zeit inkognito in den Gelbwurzwäldern.<br />

Durch den Zauber eines Himmelsbewohners lebte dort er zehn Tage lang als<br />

Löwe. Weitere zehn Jahre lang lebte er dann, verhext von einem Kobold, als<br />

Frosch. Der VipaÁcit, der nach Norden ging, wohnte einhundert Jahre in einem<br />

toten Brunnen in den Nīlagiri-Bergen (blaue Berge) auf dem Áāka-Kontinent.<br />

Derjenige, der nach Westen ging, erlernte die Methode, ein Himmelsbewohner<br />

zu werden, und lebte danach vierzehn Jahre lang als ein solcher<br />

(vidyādhara).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Den König, der nach Osten ging und dort vom Wasser, das er trank, verhext<br />

wurde, wurde von demjenigen König, der nach Westen gegangen war, errettet.<br />

Als der nach Westen gegangene König ein Felsen geworden war, errettete<br />

ihn der nach Süden gegangene König durch die Einnahme von Fleisch usw.<br />

Als der nach Westen gegangene König durch einen weiblichen Kobold, der die<br />

Gestalt einer Kuh hatte, in einen Bullen verwandelt worden war, war es der<br />

nach Süden gewanderte König, der ihn erneut aus seiner misslichen Lage<br />

befreite. Als sich der nach Süden gegangene König in einen Himmelsbewohner<br />

verwandelte, wurde er aufgrund der Fürbitte des nach Westen gewanderten<br />

Königs von einem anderen Himmelsbewohner befreit. Als der nach Osten<br />

gegangene König in einen Löwen verwandelt wurde, rettete ihn derjenige, der<br />

nach Westen gewandert war.<br />

RĀMA fragte:<br />

Aber wie vermochten diese yogis all diese verschiedenen Handlungen in<br />

den drei Perioden der Zeit auszuführen? Bitte kläre mich darüber auf.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was auch immer die Erklärungen sind, die die unerleuchteten Menschen<br />

für diese Ereignisse ersinnen – lass sie sein. Höre aber die Erläuterungen der<br />

erleuchteten Menschen dazu an.<br />

In der Sicht der Wissenden gibt es nichts anderes als das reine und unendliche<br />

Bewusstsein, während das objektive Universum gänzlich und völlig inexistent<br />

ist. Da gibt es weder eine Schöpfung noch das Gegenteil davon. Wer<br />

für immer in diesem reinen und unendlichen Bewusstsein ruht, ist der allgegenwärtige<br />

und allmächtige Höchste Herr; Er ist alles und das Selbst von<br />

allen und zu allen Zeiten. Sage mir, wer Ihn wie, wo und wann beherrschen<br />

kann? Das Allgegenwärtige erstrahlt nach Seinem Willen wann und wo Er<br />

will, denn Er ist das Selbst von allen. Was ist im Selbst von allem nicht enthal-<br />

VI.2:125<br />

644


ten? Daher erstrahlt Er wie, wann und wo es Ihm beliebt, in der Vergangenheit,<br />

in der Zukunft oder in der Gegenwart und in einem groben oder subtilen<br />

Feld, in dem die Tätigkeiten stattfinden. Ohne jemals Seine Realität als reines<br />

Bewusstsein aufzugeben, ist Er nah und fern tätig und erschafft die großen<br />

Zeitepochen oder ein Augenzwinkern. All dieses findet im Selbst statt, aber<br />

die Erscheinungen sind Māyā (illusorisch). Er selbst ist ungeboren und<br />

unerschaffen und kann weder beherrscht noch gehindert werden. Was IST,<br />

ist, wie es ist. Was auch immer IST, ist eine Masse von Bewusstsein, und dies<br />

sind die drei Welten. Es ist das Selbst der Welt, es ist die Gestalt der Welt, die<br />

aufgrund der Polarisation von Subjekt und Objekt zum Vorschein gekommen<br />

ist. Wer hat diesen Seher von allem erschaffen – wie und wann?<br />

Für dieses Bewusstsein ist nichts unmöglich. Das Bewusstsein VipaÁcits<br />

wurde erweckt, hatte aber noch nicht den höchsten Zustand erlangt. Daher<br />

hat es sich, obwohl es eines war, überall als alles manifestiert. In einem Zustand,<br />

der weder als erwacht noch als nicht-erwacht bezeichnet werden kann,<br />

sind alle diese Dinge möglich. Solange die höchste Wahrheit nicht realisiert<br />

ist, sind Materialisationen dieser Art möglich. Wenn ein solch teilweises Erwachen<br />

vorliegt, geschieht es, dass einer sich psychischer Kräfte erfreut. So<br />

erfuhren also die vier VipaÁcits jeder die Zustände der anderen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn VipaÁcit eine erleuchtete Person war, wie konnte er sich dann selbst<br />

für einen Löwen usw. halten?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Meine Beschreibung dieser Könige als erwacht oder erleuchtet war lediglich<br />

eine Redeweise – tatsächlich war VipaÁcit überhaupt nicht erleuchtet. Die<br />

vier VipaÁcits waren weder erleuchtet noch unwissend – sie befanden sich in<br />

einem Zwischenzustand. Man bemerkt bei solchen Personen zwar die Zeichen<br />

der Erleuchtung, aber auch die Zeichen der Unwissenheit und Bindung.<br />

Sie sind „halb erwacht“. Was VipaÁcit erlangt hatte, hat er durch Kontemplation<br />

erlangt, aber nicht, weil er den höchsten Zustand erlangt hat. Alle diese<br />

siddhis oder psychischen Kräfte können durch solche Kontemplation erworben<br />

werden.<br />

In denen, die den höchsten Zustand erreicht haben, gibt es keine Unwissenheit<br />

oder Täuschung mehr. Wie können sie irrigen Sichtweisen unterliegen<br />

und Falsches sehen? Die yogis, die die Kontemplation praktizieren und durch<br />

Gnade oder Wunscherfüllung die verschiedenen psychischen Mächte erwerben,<br />

sind der Unwissenheit unterlegen, wie in ihnen zu sehen ist. Sie kontemplieren<br />

nicht die Wahrheit, sondern etwas, das von der Realität verschieden<br />

ist.<br />

Es gibt da noch etwas: Sogar im Fall der befreiten Weisen, die noch leben,<br />

gibt es während ihrer alltäglichen Tätigkeiten eine Wahrnehmung von Materialität.<br />

Mokåa oder Befreiung ist auch ein Zustand des Gemüts. Die natürlichen<br />

Funktionen des Körpers folgen diesem und hören nicht auf. Wer von der<br />

645


Unwissenheit oder dem Gemüt befreit ist, wird nie wieder durch das Gemüt<br />

gebunden – so wenig wie eine vom Baum gefallene Frucht wieder mit dem<br />

Baum verbunden werden kann. Auch im Fall der befreiten Person arbeitet der<br />

Körper auf seine natürliche Weise weiter. Das Bewusstsein dieses Menschen<br />

ist jedoch gefestigt und wird durch die Zustände des physischen Körpers<br />

nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen.<br />

Die durch Kontemplation usw. erlangten Kräfte können von anderen wahrgenommen<br />

werden, während der Zustand der Befreiung, den jemand erlangt,<br />

von anderen nicht wahrgenommen werden kann – so wie der Geschmack von<br />

Honig nur von einem selbst gekostet werden kann. Wenn jemand, der den<br />

Zustand der Bindung und auch Freude und Leid erfahren hat, von all diesem<br />

befreit ist, spricht man von ihm als einem Befreiten. Er wird als eine befreite<br />

Person angesehen, dessen inneres Bewusstsein kühl und friedlich ist; aber<br />

der ist in Bindung, dessen Herz und Gemüt verwirrt und unruhig sind; Bindung<br />

und Befreiung werden in den physischen Funktionen nicht bemerkt.<br />

Unabhängig davon, ob der Körper in tausend Stücke geschnitten oder zum<br />

Herrscher gekrönt wird, der Befreite ist befreit, sogar wenn er zu weinen<br />

oder zu lachen scheint. In seinem Innern ist er weder erfreut, noch ist er<br />

niedergeschlagen. Er erfährt weder Glück noch Unglück, obwohl er inmitten<br />

all dieser Erfahrungen zu leben scheint. Er ist nicht tot, auch wenn er tot ist,<br />

er klagt nicht, auch wenn er klagt, er lacht er, auch wenn er lacht – so ist ein<br />

Befreiter! Frei ist er von Anziehung und Abstoßung, auch wenn er angezogen<br />

oder abgestoßen ist. Er wird zornig, obschon er nicht zornig ist; er ist nicht<br />

getäuscht, auch wenn er getäuscht ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

In dem Befreiten tauchen Ideen wie „dies ist Glücklichsein“ oder „dies ist<br />

Unglücklichsein“ nicht auf. Sobald sie die Wahrheit realisiert haben, dass es<br />

weder „eine Welt“ noch „das Selbst“ gibt und dass das Eine das Alles ist, werden<br />

Worte wie „Glücklichsein“ und „Unglücklichsein“ bedeutungslos. Ihr<br />

Kummer ist oberflächlich, denn sie sind frei vom Kummer.<br />

Man sagt, dass Lord Śiva einen der fünf Köpfe von Lord Brahmā abgerissen<br />

habe. Brahmā hätte leicht einen neuen nachwachsen lassen können, um ihn<br />

zu ersetzen. Er tat es aber nicht, weil er wusste: „Wenn diese ganze Schöpfung<br />

illusorisch ist – was soll ich mit einem weiteren Kopf tun?“ Er hatte<br />

durch Tun nichts zu gewinnen und durch Unterlassen nichts zu verlieren.<br />

Was auch immer geschehen mag – lasst es so geschehen; warum sollte es<br />

anders sein?<br />

Lord Śiva hat als eine Hälfte seines Körpers seine Gemahlin, obgleich er die<br />

Macht besaß, sogar den Gott der Liebe zu verbrennen. Er besitzt die Macht,<br />

alle Anhaftungen und Zuneigungen fallen zu lassen, verzichtet aber darauf<br />

und tut, als hinge er an seiner Gemahlin. Weder gewinnt er etwas durch Anhaftung,<br />

noch gewinnt er etwas durch Nicht-Anhaftung. Lasst es sein, wie es<br />

ist!<br />

646


VI.2:126<br />

Auf dieselbe Weise befasst sich Lord Viåņu mit verschiedenen Tätigkeiten<br />

und inspiriert andere, sich ebenfalls mit solchen Tätigkeiten zu befassen. So<br />

„stirbt“ er und „tötet“ andere, wird geboren und wächst, bleibt aber die ganze<br />

Zeit über gänzlich frei von allem. Leicht könnte er sich von all diesem zurückziehen<br />

– aber was wird dadurch gewonnen? Lasst alles so sein, wie es ist! Das<br />

ist die Haltung derjenigen, die in der Realisierung des unendlichen Bewusstseins<br />

leben.<br />

Auch die Sonne, der Mond und das Feuer gehen ihren natürlichen Tätigkeiten<br />

nach, obgleich sie alle befreite Wesen (jīvanmukta) sind. Auch die Lehrer<br />

der Götter (B­haspati) und der Dämonen (Áukra) sind jīvanmuktas, obgleich<br />

sie die Rollen der Anführer gegnerischer Mächte spielen und einander wie<br />

unwissende Menschen bekämpfen. König Janaka ist ebenfalls ein befreiter<br />

königlicher Weiser und doch führt er fürchterliche Kriege. Es gibt weitere<br />

königliche Weise, die sich mit ihren königlichen Pflichten beschäftigten und<br />

doch innerlich frei von Bindung sind. Während sie ihren weltlichen Aufgaben<br />

nachkommen, benehmen sich die Erleuchteten wie unwissende Leute. Die<br />

Unterscheidung zwischen Bindung und Befreiung liegt im Zustand des eigenen<br />

Bewusstseins, welches im Falle von Bindung konditioniert und im Falle<br />

von Befreiung unkonditioniert ist. Sogar mehrere der Dämonen wie Bali,<br />

Prahlāda, Namuci, V­tra, Andhaka und Mura und andere haben Befreiung<br />

erlangt. Das erleuchtete Bewusstsein ist vom Auf- und Abflauen von Vorlieben<br />

und Abneigungen, der mentalen Tätigkeiten und des überbewussten<br />

Bewusstseins unbetroffen. Für denjenigen, der fest im unkonditionierten und<br />

unendlichen Bewusstsein verankert ist, verschwinden diese Unterscheidungen.<br />

Die Vielfalt, die die Menschen in dieser Schöpfung hier erfahren, ist nur<br />

eine Erscheinung, wie die Farben des Regenbogens.<br />

Die Welt scheint in Beziehung zum unendlichen Bewusstsein zu sein, so wie<br />

die Räumlichkeit (Leere oder Distanz) in Beziehung zum Raum zu sein<br />

scheint.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Höre dir nun an, wie es den vier VipaÁcits ergangen ist. Einer von ihnen<br />

wurde von einem Elefanten getötet. Der zweite wurde von einigen Himmelsbewohnern<br />

(yakåas) entführt, die ihn in loderndes Feuer warfen, wo er starb.<br />

Der dritte wurde von den Himmelsbewohnern namens vidyādharas in den<br />

Himmel gebracht. Weil VipaÁcit sich dort nicht vor dem König (Indra) verbeugte,<br />

verfluchte ihn dieser und verbrannte ihn zu Asche. Der vierte schließlich<br />

wurde von einem Krokodil getötet.<br />

Indem sie in ihren subtilen Körpern verblieben, betrachteten diese vier ihre<br />

eigene Geschichte, die in ihren Gemütern aufgrund subtiler Eindrückge gespeichert<br />

war. Im Raum ihres eigenen Bewusstseins sahen sie das gesamte<br />

Universum mit all seinen Ozeanen und Bergen, Städten und Dörfern, Sonnen<br />

und Monden und Sternen und Wolken. Sie sahen sogar ihre eigenen Körper in<br />

ihrem ursprünglichen Zustand. Ausgestattet mit den subtilen (ātivāhika)<br />

Körpern sahen sie nun im Raum vor sich ihre eigenen physischen Körper.<br />

647


Aufgrund der Eindrücke oder Erinnerungen ihrer früheren Lebenszeit erblickten<br />

sie sich als eingekleidet in diese materiellen Leiber, um so die Großartigkeit<br />

der Welt zu bezeugen. Um die Ausmaße der Erde erfassen zu können,<br />

durchwanderten sie fremde Reiche.<br />

Der westliche VipaÁcit durchquerte mehrere Kontinente und sieben Meere<br />

und hatte schließlich das Glück, Lord Viåņu zu treffen. Von diesem empfing<br />

VipaÁcit die höchste Weisheit und blieb sodann fünf Jahre lang in samÃdhi.<br />

Danach gab er seinen physischen Körper auf und erlangte nirvāïa.<br />

Der östliche VipaÁcit hielt sich nahe der Strahlen des Mondes auf und kontemplierte<br />

unaufhörlich den Mond – daher erreichte er das Reich des Mondes.<br />

Der südliche VipaÁcit vernichtete seine sämtlichen Feinde und regiert sogar<br />

noch heute das Land, weil er seine Erinnerungen oder seine Überzeugungen<br />

niemals verloren hatte.<br />

Der nördliche VipaÁcit wurde von einem Krokodil gefressen, in dessen Leib<br />

er tausend und ein Jahr lang lebte. Als dieses Krokodil schließlich starb, kam<br />

er aus dessen Körper als ein anderes Krokodil heraus. Dann durchschwamm<br />

er Ozeane und Eismeere von unvorstellbaren Ausmaßen und erreichte<br />

schließlich den See der Götter, den man Suvarïa nennt. Dort starb er. Weil er<br />

in einem der Reiche der Götter starb, wurde dieser VipaÁcit zu einem Gott, so<br />

wie ein inmitten von glühenden Kohlen liegendes Stück Holz unverzüglich zu<br />

Feuer wird.<br />

Dieser letzte VipaÁcit erreichte die Grenzen dieser Erde, die man die<br />

Lokāloka-Berge nennt, an die er sich aus der Zeit seiner früheren Leben noch<br />

erinnerte. Diese Berge sind mehrere tausend Meilen hoch. Ihre eine Flanke ist<br />

beleuchtet, die andere aber nicht. Von dort aus erblickte er die Erde usw. so,<br />

als wären es ferne Sterne. Anschließend ging er auf die Seite der Berge, die<br />

auf ewig in Dunkelheit gehüllt war. Jenseits davon befindet sich die große<br />

Leere, in der es keine Erde, keine Wesen und nichts Bewegliches oder Unbewegliches<br />

gibt. In ihr existiert nicht einmal die Möglichkeit einer Schöpfung.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, bitte teile mir mit, wie existiert diese Erde, wie dreht sich das<br />

Himmelszelt um sich selbst und wie existieren die Lokāloka-Berge?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So wie ein kleines Kind sich ein Spielzeug im leeren Raum vorstellt und<br />

dann denkt, es sei dort, so entsteht im unendlichen Bewusstsein die Vorstellung<br />

der Existenz dieser Erde. Jemand, dessen Sicht fehlerhaft ist, sieht kleine<br />

Bällchen aus „Haar“ im Raum, die dort überhaupt nicht existieren. Auf dieselbe<br />

Weise tauchen Ideen wie „die Existenz der Erde“ im unendlichen Bewusstsein<br />

auf, und zwar in dem Moment, den man die Schöpfung nennt. Eine Stadt,<br />

die im Gemüt des Tagträumers existiert, benötigt keinerlei Stützen (denn die<br />

Einbildung ist ihre Stütze). Ebenso benötigt auch diese Welt als Stütze nur die<br />

Erfahrung des unendlichen Bewusstseins.<br />

VI.2:127<br />

648


VI.2:128<br />

Was auch immer im Bewusstsein erscheint und wie auch immer und für<br />

wie lange es erscheint – so existiert es dann scheinbar in diesem Bewusstsein<br />

für eben diese Zeitdauer aufgrund der dem Bewusstsein eingeborenen Kräfte.<br />

Deshalb, so wie in den Augen eines Menschen mit einem Augenschaden<br />

„Haarbälle“ im Raum zu schweben scheinen, so existiert dann diese Erde usw.<br />

im Bewusstsein. Falls das Bewusstsein zum Zeitpunkt der Schöpfung Wasser<br />

als bergauf fließend und Feuer als abwärts lodernd „gesehen“ hätte, dann<br />

würden diese Elemente sich sogar heute noch so verhalten. Weil dieses Bewusstsein<br />

jedoch „gesehen“ hat, wie diese Erde im Raum fällt, fällt diese auch<br />

heute noch, und weil das Bewusstsein entsprechend dazu im Verhältnis zur<br />

Erde zu „steigen“ scheint, ist diese Dualität oder verschiedene Bewegungsart<br />

entstanden.<br />

Die Lokāloka-Berge bilden die Grenzen des Erdreiches. Jenseits davon befindet<br />

sich das grosse Loch im Weltall, das mit totaler Finsternis erfüllt ist,<br />

obgleich darin hie und da etwas existiert. Weil sich das Himmelszelt in beträchtlicher<br />

Entfernung befindet, scheint es an manchen Orten etwas Licht<br />

und an anderen etwas Finsternis zu geben. Diese Sterne sind sehr weit von<br />

den Lokāloka-Bergen entfernt. Das gesamte Himmelszelt mit Ausnahme des<br />

Polarsterns dreht sich dauernd um seine eigene Achse. Jedoch ist all dies<br />

nicht verschieden von der Idee, wie sie im reinen Bewusstsein entsteht.<br />

Jenseits der Welten oder des Erdreiches, dessen Grenzen die Lokāloka-<br />

Berge bilden, erscheint das Himmelszelt in gewisser Weise wie die Haut einer<br />

Frucht. Jedoch ist all dies nur eine feste Überzeugung, die im unendlichen<br />

Bewusstsein aufgetaucht ist – man sollte diese Welten nicht für Realitäten<br />

halten.<br />

Jenseits dieses Himmelszeltes gibt es eine weitere Sphäre, die zweimal so<br />

groß ist. Auch diese ist teils beleuchtet und teils in Finsternis getaucht. All<br />

dies ist sozusagen in zwei Schädeldächer eingeschlossen; eines ist oben und<br />

das andere unten, und dazwischen ist Raum. Dieses Universum, welches ein<br />

kosmischer Kreis ist, wird von den Sonnen und Sternen erleuchtet. Was ist<br />

hier „oben“ und was ist „unten“? Aufsteigen, niederfallen, sich bewegen oder<br />

stillstehen sind nichts als Ideen, die im Bewusstsein auftauchen. Nichts von<br />

all dem existiert in Wahrheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Beschreibung des Universums, die ich dir geliefert habe, ist die Frucht<br />

direkter Erfahrung – nicht abgeleitetes Raten. Außer diesem gibt es noch<br />

andere Universen, von denen ich noch nicht gesprochen habe. Welchen Zweck<br />

hat die Untersuchung dieser Welt und anderer, die wie ein Traum sind! Weise<br />

Männer verschwenden nicht ihre Zeit damit, über nutzlose Dinge zu sprechen.<br />

Die nördlichste Extremität ist der Berg Meru, die südlichste sind die<br />

Lokāloka-Berge. Die Bewohner der verschiedenen Ebenen des Bewusstseins<br />

und der unterschiedlichen Welten erfahren jeweils die Materialisation dieser<br />

Welten und keine anderen.<br />

649


Ich hatte dir von den Schädeldächern des Universums erzählt. Jenseits von<br />

diesen ist das gesamte Universum von Gewässern umgeben, die das Zehnfache<br />

im Ausmaß betragen. Jenseits dessen befindet sich eine weitere Umhüllung,<br />

dieses Mal aus Feuer, die das Zehnfache der vorherigen beträgt. Jenseits<br />

dessen befinden sich die Wind-Umhüllung und das Reich des Raumes, die<br />

jede das Zehnfache der jeweiligen Umhüllung davor betragen.<br />

Jenseits dessen liegt der unendliche Raum – dieser ist weder erleuchtet<br />

noch finster. Es ist voll von reinem Bewusstsein. Er ist anfangslos, mitte-los<br />

und endlos. In diesem entstehen an verschiedenen Orten zahllose Millionen<br />

von Universen wieder und wieder und lösen sich wieder und wieder in ihm<br />

auf. In diesem unendlichen Raum gibt es kein Wesen, das eine Idee dieser<br />

Universen hegt– sie existieren in Form und Gestaltung und Art, wie sie eben<br />

existieren.<br />

Höre dir nun die Geschichte des Königs VipaÁcit, der sich auf dem Gipfel des<br />

Lokāloka-Berges befand. Nachdem er gestorben war, sah er wie sein Körper<br />

von einem riesigen Geier verzehrt wurde. In seinem Bewusstsein tauchte<br />

weder die Idee eines anderen physischen Körpers auf, noch erlangte er die<br />

Erleuchtung. Daher wünschte er sich weiterhin zu betätigen. Für rein mentale<br />

Aktivität wird ein physischer Körper nicht benötigt. Für Illusion, Traum,<br />

Tagträumen und Halluzinationen erschafft das Gemüt sein eigenes Feld, welches<br />

als der subtile Körper (ātivāhika) bekannt ist. Nur wenn dieser vergessen<br />

oder aufgegeben wird, erscheint der physische Körper. Wenn man durch<br />

rechte Ergründung die Unwirklichkeit des physischen Körpers realisiert,<br />

taucht der subtile (ātivāhika) Körper wieder auf.<br />

Ergründe daher die Natur des ātivāhika-Körpers bis hin zu der Erkenntnis,<br />

dass das unendliche Bewusstsein allein die Wahrheit darstellt. Die Realisierung<br />

von „Wo sind Dualität, wo ist Hass oder Liebe? All dies ist der reine Śiva<br />

– anfangslos und endlos“ ist Erleuchtung.<br />

VipaÁcit befand sich noch im subtilen Körper, unerleuchtet. Wie ein Fötus<br />

im Mutterleib war er von Dunkelheit eingehüllt. Er erfuhr schließlich das<br />

Reich der Erde, das Reich des Wassers, das Reich der Feuers und das Reich<br />

des Raumes. Dann begann er die Natur seines eigenen subtilen Körpers zu<br />

untersuchen und fragte sich: „Was erhält mich, da ich doch reines Bewusstsein<br />

bin?“ Er betrat den unendlichen Raum des Brahmā und erblickte dort<br />

alles. Da er jedoch die illusorische Natur der Unwissenheit nicht ergründet<br />

hatte, befindet er sich immer noch darin; trotz der Tatsache, dass sie nicht<br />

wirklich existiert und nur Brahman allein ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Auch einer der anderen VipaÁcits erlangte denselben Zustand nach langen<br />

Wanderungen von Kontinent zu Kontinent und nach Erreichen des unendlichen<br />

Raumes von Brahmā, in dem er Millionen von Universen erblickte. Dort<br />

lebt er noch heute. Und ein weiterer VipaÁcit wurde das Opfer seiner eigenen<br />

mentalen Konditionierung und wurde, nachdem er seinen Körper zurückgelassen<br />

hatte, zu einem Reh und lebt auf einem Berg.<br />

VI.2:129<br />

650


RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, als die vāsanā (mentale Konditionierung) des Königs VipaÁcit<br />

nur eine war, wie kam es dann, dass sie sich vervielfältigte und zu den verschiedenen<br />

Ergebnissen in den vier VipaÁcits führte?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Die vāsanās der Wesen werden durch wiederholtes Darandenken und Wiederholung<br />

ihrer Wirkungen entweder dicht oder flüchtig. Sie sind außerdem<br />

dem Einfluss von Zeit, Ort und Aktivität unterworfen. Wenn sie „flüchtig“<br />

werden, verwandeln sie sich in etwas anderes; sind sie dagegen tief verwurzelt,<br />

verwandeln sie sich nicht. Auf der einen Seite sind da Zeit, Ort und Aktivität<br />

(die Wiederholung der aus den vāsanās geborenen Gewohnheiten) – auf<br />

der anderen Seite ist es das vāsanā (mentale Konditionierung) selbst. Beide<br />

(Umstände und das vāsanā selbst) üben eine wechselseitige Wirkung aufeinander<br />

aus. Das Stärkere gewinnt. So wurden diese vier VipaÁcits in alle<br />

Himmelsrichtungen gezogen, obgleich sie zu Beginn mit denselben vāsanās<br />

ausgestattet waren: Zwei von ihnen wurden im Netz der Unwissenheit gefangen,<br />

einer wurde befreit und der andere wurde zu einem Reh.<br />

Sogar jetzt sind diese beiden, die sich im Netz der Unwissenheit verfangen<br />

haben, immer noch nicht fähig, sich aus ihrer Lage zu befreien. Die Unwissenheit<br />

ist sozusagen auch unendlich, weil ihr keinerlei reale Existenz zukommt.<br />

Entwickelt man jedoch das innere Licht und ergründet mit Hilfe<br />

dieses Lichtes die Unwissenheit, dann verschwindet sie in einem Augenblick.<br />

Der VipaÁcit, der von einem Land zum anderen und von einer Welt zur<br />

nächsten wanderte, sah eine illusorische Schöpfung. Er erblickte eine illusorische<br />

Welt, die in Wahrheit nichts als Brahman war. Irgendwie kam er dann<br />

mit einem heiligen Mann in Kontakt. Mit seiner Hilfe realisierte VipaÁcit die<br />

Wahrheit über die illusorische Natur der Welt und erkannte unverzüglich das<br />

unendliche Bewusstsein oder Brahman. Genau in diesem Moment hörte seine<br />

Unwissenheit (wie auch sein Körper) auf zu existieren.<br />

So habe ich dir also, oh Rāma, die Geschichte von VipaÁcit erzählt. Diese<br />

Unwissenheit ist so unendlich wie Brahman unendlich ist, denn die Unwissenheit<br />

besitzt keinerlei von Brahman getrennte unabhängige Existenz. Es ist<br />

das unendliche Bewusstsein allein, welches hier und da und ab und zu all die<br />

zahllosen Universen und Welten erblickt. Wird diese Wahrheit nicht realisiert,<br />

nennt man dies Unwissenheit; wird sie dagegen erkannt, dann wird das<br />

gleiche Bewusstsein als Brahman bezeichnet. Eine Trennung zwischen beiden<br />

gibt es nicht, denn diese Trennung ist unwirkliche Unwissenheit, die in<br />

Wahrheit Brahman selbst ist. Die Trennung scheint im Bewusstsein aufzutauchen<br />

und ist daher nicht verschieden vom Bewusstsein. Folglich ist Brahman<br />

allein die Welterscheinung und die Trennung ist Bewusstsein.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie konnte es kommen, dass VipaÁcit das von Brahmā dem Schöpfer geschaffene<br />

Schädeldach des Universums nicht zu erreichen vermochte?<br />

651


VASIåèHA erwiderte:<br />

Im selben Moment, als er ins Dasein trat, zerteilte Brahmā der Schöpfer den<br />

Raum mit seinen beiden Armen. Was dabei nach oben gedrückt wurde, wurde<br />

immer weiter nach oben gedrückt, und was nach unten gedrückt wurde,<br />

wurde immer weiter nach unten gedrückt. Sämtliche erschaffenen Elemente<br />

ruhen in dem Zwischenraum und werden von diesen beiden Extremitäten<br />

gehalten. Das, was sich zwischen diesen beiden befindet, ist Raum, der grenzenlos<br />

und als von blauer Farbe erscheint. Wasser und andere ähnliche Elemente<br />

berühren diesen Raum nicht, und tatsächlich befinden sie sich auch<br />

gar nicht in ihm (da der Raum von ihnen unabhängig ist und dort existiert,<br />

wo man sich die Existenz von Wasser, Luft usw. nur denkt). Alle diese Elemente<br />

sind bloß Ideen, die in weiteren Ideen aufgetaucht sind.<br />

VipaÁcit ging diesen Weg, um das Ausmaß der Unwissenheit zu ermessen,<br />

und begann das Himmelszelt zu erforschen. Brahman ist unendlich – daher<br />

ist auch die Unwissenheit über Brahman unendlich. Die Unwissenheit existiert<br />

so lange, wie Brahman nicht realisiert ist. Wenn Brahman realisiert ist,<br />

wird gesehen, dass Unwissenheit nicht existiert. Jedoch wie weit VipaÁcit<br />

auch ging – immer noch hatte er die Reiche der Unwissenheit nicht durchschritten.<br />

Von den anderen erlangte der eine die Befreiung, ein anderer wurde ein<br />

Reh, und ein weiterer wanderte ebenfalls in der Unwissenheit umher. Die<br />

beiden, die so die fernen Welten durchwanderten, sind in unserem Bewusstsein<br />

nicht sichtbar. Derjenige jedoch, der ein Reh geworden ist, befindet sich<br />

im Feld unseres Verstehens. Diese Welt, in der VipaÁcit als Reh lebt (nachdem<br />

er die fernen Welten durchwandert hatte), ist diese Welt hier, die in einer der<br />

fernen Ecken des unendlichen Raums des Bewusstseins ist.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, VipaÁcit lebte höchstpersönlich in dieser Welt und verließ sie.<br />

Wie kam er dann als Reh in diese Welt zurück?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So wie jemand, der Glieder besitzt, diese stets kennt, so kenne ich alles, was<br />

in Brahman existiert, weil Brahman mein eigenes Selbst ist. Die Vergangenheit<br />

kennt die Zukunft nicht und umgekehrt – Bewusstsein jedoch, das durch<br />

die Zeit nicht gespalten ist, ist sich all dessen bewusst. In diesem Bewusstsein<br />

befindet sich alles immer „hier“, obgleich die gewöhnliche Wahrnehmung die<br />

Dinge weit entfernt wähnen mag. Ich sah daher die Welt, in der VipaÁcit umherwanderte,<br />

und ich vermochte zu sehen, wie er in dieser Welt hier zu einem<br />

Reh wurde. Ich weiß sogar, wo sich dieses Tier in diesem Moment befindet,<br />

oh Rāma. Es ist das Reh, das dir als Geschenk vom König des Trigartha<br />

überreicht wurde.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Als der Weise Vāsi«Âha dies gesagt hatte, waren Rāma und die Versammlung<br />

von Staunen ergriffen. Rāma veranlasste einige Jungen, das Reh herbeizu-<br />

652


VI.2:130<br />

bringen. Als die Versammlung das Tier erblickte, war sie verblüfft. Alle riefen<br />

aus: „Wahrhaftig ist diese Māyā (Illusion) grenzenlos und unendlich!“<br />

RĀMA fragte:<br />

Oh Weiser – wie, durch wen und mit welchen Mitteln kann dieses Geschöpf<br />

aus seiner unglücklichen Existenz befreit werden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Der Weg aus diesem Unglück besteht in dem, was die ursprüngliche Ursache<br />

des Unglücks war. Kein anderer Weg wäre der richtige und würde nicht<br />

zu Glück, Wohlfahrt oder gewünschten Ergebnissen führen. Der König<br />

VipaÁcit verehrte das Feuer, und sobald dieses Reh ins Feuer geht, wird es<br />

seinen früheren Zustand wiedererlangen, so wie Gold seinen Glanz wiedererlangt,<br />

wenn es im Feuer gereinigt wird. Seht – ich werde nun dieses Reh veranlassen,<br />

ins Feuer zu gehen!<br />

VùLMýKI sprach:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, trank der Weise Vāsi«Âha etwas Wasser<br />

aus seinem heiligen Wassertopf und erzeugte in der Mitte der Versammlungshalle<br />

ein Feuer – ohne Brennmaterial. Dieses brannte sodann hell ohne<br />

Funken und ohne Rauch. Die Versammlung zog sich aus der Mitte der Halle<br />

zurück. Das Reh freute sich offensichtlich am Anblick des Feuers. In seinem<br />

Entzücken begann es zu springen und zu tollen. Vāsi«Âha befand sich in einem<br />

Zustand tiefer Kontemplation und segnete das Tier, damit es von seinen früheren<br />

sündigen Neigungen frei werden möge. Dann betete er zum Feuergott:<br />

„Im Erinnern an seine frühere Existenzform, oh Feuer, gib bitte diesem Reh<br />

seine alte Gestalt als König VipaÁcit zurück!“<br />

Im selben Moment, da der Weise diese Worte sprach, stürzte sich das Reh<br />

mit großer Freude in die Flammen. Es blieb einige Minuten lang still im lodernden<br />

Feuer, während die Versammlung ihm zuschaute. Nach und nach<br />

verwandelte sich dann seine Gestalt in die eines menschlichen Wesens. Diese<br />

war strahlend und stattlich anzusehen. Sobald dieses Wesen aus dem Feuer<br />

aufgetaucht war, verschwand das Feuer. Alle riefen wie mit einer Stimme: „Oh,<br />

was für ein Strahlen (bhā) diese Person doch besitzt! Wie die Sonne leuchtet<br />

(bhāsa) sie. Gewiss wird er als Bhasa berühmt werden.“ Daher wurde diese<br />

Person künftig Bhāsa genannt.<br />

Mit Hilfe tiefer Kontemplation realisierte Bhāsa in einem Augenblick alles,<br />

was in seinen früheren Inkarnationen geschehen war.<br />

In der Zwischenzeit hatten sich die Überraschung und Verblüffung und die<br />

Gespräche in der Versammlung gelegt und es war wieder Stille eingetreten.<br />

Bhāsa erhob sich, ging zum Weisen Vāsi«Âha und verneigte sich vor ihm. Der<br />

Weise segnete ihn, indem er sprach: „Möge die Unwissenheit, in deren Bann<br />

du dich so lange abgemüht hast, dich für immer verlassen.“ Bhāsa grüßte<br />

Rāma und pries ihn.<br />

653


Danach hieß der König DaÁaratha Bhāsa willkommen und sprach: „Willkommen,<br />

oh König. Nimm hier Platz. Du bist in diesem saæsāra weit und für<br />

eine sehr lange Zeit gewandert. Nun ruhe dich hier aus.“ Bhāsa nahm seinen<br />

Platz unter den Weisen in der Versammlung ein. König DaÁaratha fuhr fort:<br />

„Oh weh! Wie ein angebundener Elefant musste sich dieser König VipaÁcit<br />

zahllosen Prüfungen und Drangsalen unterziehen! Wie groß ist doch das<br />

Unheil, welches aus unvollkommener Sichtweise der Wirklichkeit und pervertiertem<br />

Verständnis der Wahrheit entsteht. Obgleich essenziell unwirklich<br />

und inexistent, ist die Macht dieser Illusion verblüffend, die im unendlichen<br />

Bewusstsein all diese vielfältigen Welten und zahllosen Erfahrungen zu erschaffen<br />

vermag.“<br />

VIÁVĀMITRA sprach:<br />

Wie er, oh König, gibt es die vielen, vielen Menschen, die in diesem saæsāra<br />

umherwandern, da sie das beste Wissen oder die Erleuchtung nicht gewinnen.<br />

Es gibt da einen König, der in diesem saæsāra die ganzen letzten<br />

einemillionsiebenhunderttausend Jahre gewandert ist. Diese unwissenden<br />

Menschen sind an der Erforschung der Natur weltlicher Objekte interessiert –<br />

immer wieder geraten sie in den Bann des saæsāra, ohne sich davon abzuwenden.<br />

Diese Schöpfung existiert im unendlichen Raum als bloße Idee im Verstand<br />

des Schöpfers Brahmā. So wie kleine Ameisen sich auf der Oberfläche eines<br />

Spielballes hin und her bewegen, so bewegen sich die Menschen auf der<br />

Oberfläche dieses Planeten. Im Raum gibt es weder ein „unten“ noch ein<br />

„oben“. Die Richtung, in die die Objekte fallen, wird „unten“ genannt, und<br />

diejenige, in die die Vögel aufsteigen, wird „oben“ genannt.<br />

Es gibt hier in dieser Welt einen Ort namens VaÂadhānā und in diesem Königreich<br />

drei Prinzen. Sie fassten eines Tages den Entschluss, die Grenzen<br />

dieser Erde zu erforschen und alles zu ergründen, was sich auf ihr befand.<br />

Einige Zeit erforschten sie die Objekte der festen Erde und dann einige Zeit<br />

die Objekte der Ozeane. Sie wurden wieder und wieder geboren und setzten<br />

jedes Mal ihr Ziel der Ergründung und des vollständigen Wissens über diese<br />

Erde fort. Jedoch vermochten sie die „Enden“ dieser Welt niemals zu erreichen,<br />

weil sie die ganze Zeit über, wie die Ameisen auf dem Spielball, einfach<br />

nur von einem Teil der Erde zum andern wanderten. Sie wandern sogar noch<br />

heute auf dieser Erde umher.<br />

Daher gibt es kein Ende der Illusion in diesem saæsāra. Da diese Illusion als<br />

eine Idee im unendlichen Bewusstsein auftaucht, nimmt sie sogar selbst den<br />

Anschein der Unendlichkeit an. Die Essenz (Realität oder Substanz) dieser<br />

Vorstellung ist das höchste Brahman und umgekehrt. Beide sind reines Bewusstsein,<br />

und einen Unterschied oder eine Getrenntheit im Bewusstsein gibt<br />

es nicht, so wie es auch keinen Unterschied zwischen Raum und Leere gibt.<br />

Die Strömungen und Wirbel, die auf der Oberfläche von Wasser sichtbar<br />

werden, sind nichts als Wasser. Wie sollte es etwas anderes als Bewusstsein<br />

VI.2:131<br />

654


geben, da doch nichts als Bewusstsein möglich ist? Das unendliche Bewusstsein<br />

allein ist es, welches durch sich selbst als diese Welt scheint, ohne überhaupt<br />

eine Absicht dazu zu hegen. Wo auch immer und in welcher Gestalt das<br />

unendliche Bewusstsein zu erscheinen wünscht, es tut dies und erfährt so<br />

seine eigene Natur in dieser gewünschten Form, so lange es dies wünscht.<br />

Innerhalb des winzigsten Atoms des unendlichen Bewusstseins existiert die<br />

Möglichkeit sämtlicher Erfahrungen – so wie es Steine und Felsen innerhalb<br />

des Berges gibt. Alle diese Erfahrungen existieren und erfahren fortwährend<br />

und überall alle ihre eigenen, spezifischen Modi der Erfahrung. In Wahrheit<br />

jedoch existieren sie natürlich nicht als Erfahrungen, sondern ausschließlich<br />

als unendliches Bewusstsein. Es sind diese mannigfaltigen Erfahrungen, die<br />

kollektiv die Welt genannt werden, die wiederum eine strahlende Erscheinung<br />

des Brahman ist. Es ist in der Tat ein großes Wunder, dass dieses unendliche<br />

Bewusstsein, ohne seine eigene Realität jemals aufzugeben, von sich<br />

selbst als „Ich bin ein jīva“ denken kann! Nun aber, oh König Bhāsa, erzähle<br />

uns von deinen vergangenen Erfahrungen.<br />

BHĀSA sprach:<br />

Ich sah so viele Dinge und ich wanderte so weit, ohne dabei zu ermüden.<br />

Ich erfuhr viele Dinge auf vielfältige Art und Weise. An all dieses erinnere ich<br />

mich. Ich erfuhr zahlreiche Freuden und Leiden in vielen Körpern über lange<br />

Zeiträume hinweg und an weit auseinanderliegenden Orten innerhalb dieses<br />

grenzenlosen Raumes. Ich erlangte aufgrund von Segen und Fluch verschiedene<br />

Körper und sah in all diesen Verkörperungen zahllose Objekte und<br />

Szenerien. Ich war selbst fest entschlossen, all dies zu sehen und zu erfahren.<br />

Dies war übrigens auch der anfängliche Segen, den ich mir vom Feuergott<br />

erbeten hatte. Obwohl ich daher auf verschiedenen Ebenen verschiedene<br />

Körper angenommen hatte, verfolgte ich immer noch das Ziel dieser ursprünglichen<br />

Motivation, ein gründliches Wissen über diese Welt zu erhalten.<br />

Eintausend Jahre lang lebte ich als Baum. Ich hatte in dieser Zeit viele Leiden<br />

zu ertragen. Mein Gemüt war vollkommen in mir selbst zentriert, und ich<br />

erzeugte ohne jede mentale Aktivität Blüten und Früchte. Einhundert Jahre<br />

lang war ich ein Reh auf dem Berg Meru. Ich war von goldener Farbe. Ich<br />

lebte von Gras und liebte Musik. Ich war sehr klein und daher nicht gewalttätig.<br />

Fünfzig Jahre lang war ich ein Śarabha (ein achtfüßiges Tier – stärker als<br />

ein Löwe). Danach wurde ich ein vidyādhara-Himmelsbewohner. Danach<br />

wurde ich der Sohn eines Schwans, der das Fahrzeug für den Schöpfer<br />

Brahmā war. Als Schwan lebte ich sodann eintausendfünfhundert Jahre lang.<br />

Weitere hundert Jahre lang lauschte ich der göttlichen Musik der himmlischen<br />

Diener Lord Nārāyanas (Viåņu). Schließlich wurde ich ein Schakal und<br />

lebte in einem Wald. Ein riesiger Elefant verwüstete das Gebüsch, in dem ich<br />

wohnte. Während ich im Sterben lag, sah ich, wie dieser Elefant von einem<br />

Löwen getötet wurde. Danach wurde ich eine Nymphe in einer anderen Welt<br />

und lebte dort aufgrund eines Fluches durch einen Weisen allein eine halbe<br />

Epoche lang. Daraufhin lebte ich einhundert Jahre lang als ein valmÅka-Vogel.<br />

655


Als unser Nest zusammen mit dem Baum, in dem wir es errichtet hatten,<br />

zerstört wurde, verlor ich meine Partnerin und lebte anschließend für den<br />

Rest meines Lebens allein an einem weit entfernten Ort. Dann wurde ich zu<br />

einem Asketen, da ich in der Zwischenzeit ein beträchtliches Ausmaß an<br />

Leidenschaftslosigkeit gewonnen hatte.<br />

Ich sah viele faszinierende Dinge. Ich erblickte eine Welt, die gänzlich aus<br />

Wasser gemacht war. Dann wieder erblickte ich eine Frau, in deren Körper<br />

die drei Welten wie in einem Spiegel reflektiert wurden. Als ich sie fragte, wer<br />

sie sei, erwiderte sie: „Ich bin reines Bewusstsein und sämtliche Welten sind<br />

meine Gliedmaßen. So wie ich in dir Verblüffung hervorgerufen habe, so sind<br />

auch alle diese Dinge. Bis du nicht alles mit derselben Verblüffung und Verwunderung<br />

zu betrachten vermagst, kannst du die wahre Natur der Dinge<br />

nicht kennen. Alle Welten sind deine eigenen Glieder. Ich höre sie alle, wie<br />

jemand im Traum Klänge und Worte hört.“ Ich sah, wie zahllose Wesen in<br />

dieser Frau erschienen und sich wieder in ihr auflösten. Dann wieder erblickte<br />

ich eine ungewöhnlich aussehende Wolke, die furchterregende Töne von<br />

aufeinandertreffenden Raketen erzeugte und aus der es Waffen zur Erde<br />

hernieder regnete. Ich sah noch weitere Wunder: Die ganze Erde war in Finsternis<br />

gehüllt und ganze Siedlungen flogen davon in eine weit entfernte Welt.<br />

Ich erblickte euer Dorf in einer anderen Welt. Dann wieder sah ich, wie alle<br />

Wesen von derselben Natur waren. Ich sah eine Welt ohne Sonne, Monde und<br />

Sterne und trotzdem herrschte keinerlei Finsternis, denn sämtliche Bewohner<br />

strahlten und waren erleuchtet... Es gibt wohl keine Welt, die ich noch<br />

nicht gesehen habe; nichts, was ich nicht erfahren habe.<br />

BHĀSA fuhr fort:<br />

Einmal schlief ich mit einer himmlischen Nymphe in einem Garten. Plötzlich<br />

erwachte ich und sah, wie ich wie ein Grashalm einen Fluss hinuntertrieb.<br />

Überrascht fragte ich die Nymphe: „Was ist das?“ Sie erklärte mir: „Ganz<br />

in der Nähe gibt es einen Mondstein-Berg. Sobald der Mond aufgeht, schwillt<br />

die Quelle in diesem Berg an und wird zur Flut. Wegen der großen Wonne,<br />

welche ich durch dich erlebte, vergaß ich, dich zu warnen.“<br />

Nachdem sie so gesprochen hatte, nahm die Nymphe mich mit und flog einfach<br />

in den Raum hinaus. Sieben Jahre lang lebte ich dann mit ihr auf dem<br />

Gipfel des Berges namens Mandara.<br />

Danach wanderte ich in anderen Welten umher, in denen Leute lebten, die<br />

von innen heraus leuchteten. Ich traf auf eine Welt, die keinerlei Himmelsrichtungen<br />

wie Osten und Westen, keine Tage und Nächte, keine Schriften<br />

und Debatten, keine Unterscheidungen zwischen Göttern und Dämonen<br />

kannte. Schließlich wurde ich zu einem Himmelsbewohner mit dem Namen<br />

Amarasoma und lebte vierzehn Jahre lang als Asket.<br />

Immer noch ausgestattet mit dem Segen, den mir der Feuergott gewährt<br />

hatte, vermochte ich mich im Raum mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit<br />

zu bewegen. Irgendwo fiel ich dann in einen großen Ozean und irgendwo<br />

anders erlebte ich das Fallen im leeren Raum. Das Durchqueeren der Atmo-<br />

VI.2:132<br />

656


VI.2:133<br />

sphäre war meine einzige Beschäftigung. Ich ermüdete schließlich und schlief<br />

eine sehr, sehr lange Zeit.<br />

Während ich schlief, kam ich in die Welt der Träume. Auch dort erfuhr ich<br />

die verschiedensten Welten und Objekte und in mir entstand eine große<br />

Ruhelosigkeit. Was auch immer meine Augen erblickten – ohne Verzug befand<br />

ich mich an jenem Ort. Von diesem Ort aus erblickte ich neue Dinge und war<br />

unverzüglich dort ohne Rücksicht auf Entfernungen.<br />

So verbrachte ich, von einer Welt zur nächsten mit großer Geschwindigkeit<br />

wandernd, viele Jahre. Jedoch hatte ich immer noch nicht das Ende der Manifestationen<br />

der Unwissenheit, die man „das objektive Universum“ nennt,<br />

erreicht, denn es war eine Illusion, die sich selbst irgendwann fest in meinem<br />

Herzen verankert hatte wie die Furcht eines Kindes vor einem Gespenst. Wie<br />

sehr ich auch durch intensive Ergründung realisiere „Dies ist nicht real“, „das<br />

ist nicht real“, so hört das Empfinden von „dies ist“ doch nicht auf! In jedem<br />

Augenblick entstehen und vergehen neue Erfahrungen von Vergnügen und<br />

Schmerz wie der fließende Lauf eines Stromes.<br />

Ich erinnere mich außerdem an einen riesigen Berggipfel, der durch sein<br />

eigenes Licht erglänzte, obwohl es da weder Sonne noch Mond gab. Er war so<br />

herrlich, dass er sogar das Herz derjenigen Weisen bezauberte, die ein Leben<br />

in der Abgeschiedenheit lieben.<br />

VIPAÁCIT (BHĀSA) fuhr fort:<br />

Ich werde dir nun ein anderes, großes Wunder nahebringen, das ich in einer<br />

anderen Welt erlebt habe. Es gibt da eine leuchtende Welt im großen<br />

Weltraum, die sich jenseits eurer Reichweite befindet. Diese Welt ist so verschieden<br />

von dieser hier wie eine Traumwelt von der Welt des Wachzustandes<br />

verschieden ist. Während ich diese Welt auf der Suche nach den Grenzen<br />

des objektiven Universums durchwanderte, bemerkte ich einen gigantischen<br />

Schatten, der die gesamte dortige Erde einhüllte. Als ich meine Augen zum<br />

Himmel erhob, um die mögliche Ursache dieses riesigen Schattens festzustellen,<br />

erblickte ich ein riesengroßes Ding, das die Gestalt eines Menschen hatte,<br />

die im Weltraum fällt und offenbar im Begriff war, auf die Welt, in der ich war,<br />

herniederzustürzen. Sie war so riesig, dass sie sogar die Sonne verdeckte und<br />

so den ganzen Planeten in totale Finsternis hüllte.<br />

Während ich diese Gestalt noch mit Verwunderung und Entsetzen betrachtete,<br />

fiel sie auf die Erde nieder. Ich fühlte, dass mein Ende gekommen war,<br />

und aus Angst stürzte ich mich ins Feuer. Ich hatte den Feuergott sehr viele<br />

Inkarnationen lang verehrt, und er versicherte: „Habe keine Angst!“ Ich betete<br />

zum Feuergott um Schutz. Der Feuergott befahl mir, sein eigenes Fahrzeug<br />

zu besteigen und sagte: „Lass uns beide zur Welt des Feuers gehen.“ Anschließend<br />

machte der Feuergott ein kleines Loch in den gigantischen Körper,<br />

der auf die Erde gefallen war, und beide entkamen wir dann in den Weltraum.<br />

Erst von dort aus vermochten wir die kolossalen Ausmaße dieses Körpers<br />

zu erkennen, der auf den Planeten niedergestürzt war. Durch seinen Fall hatte<br />

657


er sämtliche Ozeane aufgerührt und alle Städte, Siedlungen und Wälder zerstört.<br />

Er hatte den Fluss der Gewässer angehalten. Überall hörte man Klagen<br />

und Jammern. Die Erde stöhnte unter seinem Gewicht. Orkane und Sturzregen<br />

traten auf, die an die kosmische Auflösung denken ließen. Die Gipfel der<br />

Himālayas waren in die Unterwelt gefallen. Die Sonne fiel auf die Erde. Die<br />

gesamte Erdoberfläche war verwüstet. Die Himmelsbewohner, die die Himmel<br />

durchkreuzten, erblickten diesen gewaltigen Körper und glaubten, er sei<br />

eine neu erschaffene Erde oder die andere Hälfte des Universums oder vielleicht<br />

sogar ein Teil des Raums, der von seinem ursprünglichen Standort<br />

abgebrochen war!<br />

Als ich jedoch genau hinschaute, konnte ich erkennen, dass er aus Fleisch<br />

gemacht war und die Erde nicht groß genug war, um auch nur ein einziges<br />

Glied dieses Körpers zu bedecken. Nachdem ich dies geschaut hatte, wandte<br />

ich mich an meine Schutzgottheit, den Feuergott, und fragte ihn: „Hoher Herr,<br />

was ist das?“<br />

Der Feuergott erwiderte: „Kind, warte, bis die durch den Sturz dieses Körpers<br />

entstandenen Turbulenzen sich gelegt haben. Danach werde ich dir alles<br />

über ihn erzählen.“<br />

Dann war der Raum um die Erde herum mit Weisen, siddhas und Himmelsbewohnern,<br />

den Manen und den Göttern erfüllt, die alle ätherische Körper<br />

besaßen. Sie neigten ihre Köpfe und richteten an die göttliche Mutter<br />

Kālarātri ein Gebet: „Möge die göttliche Mutter, die mit einem schwarzen Leib<br />

ausgestattet ist, die das gesamte Universum verzehrt, die den Kopf Brahmās<br />

auf der Spitze ihres Schwertes balanciert, die einen Gürtel mit den Köpfen der<br />

Götter und Dämonen trägt und die absolut rein ist, uns beschützen.“<br />

VIPAÁCIT (BHĀSA) fuhr fort:<br />

Als Antwort auf die Gebete der Weisen und siddhas erschien die göttliche<br />

Mutter am Himmel. Sie war „trocken“ und blutlos. Begleitet wurde sie von<br />

zahllosen Kobolden und anderen Geistern. Sie war mehrere tausend Meilen<br />

hoch. Sie war im höchsten Wesen verankert. Sie saß auf dem toten Körper.<br />

Die Götter sprachen zu ihr: „Oh göttliche Mutter, dies ist unsere Opfergabe<br />

für dich. Wir beten darum, dass du und deine dienstbaren Geister sie<br />

schnellstmöglichst verzehren mögen.“ Kaum hatten die Götter dies ausgesprochen,<br />

begann die göttliche Mutter mit Hilfe ihrer prāïa-Áakti (Lebenskraft)<br />

das Lebensblut des Leichnams aufzusaugen. Als dieses Blut in ihren<br />

Mund floss, begann sich ihr dünner Körper mit Blut zu füllen und ihr Bauch<br />

dehnte sich aus. Sie begann zu tanzen. Die Götter, die auf den Lokāloka-<br />

Bergen (den Grenzen des Erdreiches) saßen, beobachteten diesen Tanz. Die<br />

Kobolde begannen, das Fleisch des Leichnams zu vertilgen. In der Tat war der<br />

Zustand der Welt zu dieser Zeit mitleiderregend.<br />

Die Berge der Erde waren verschwunden. Das Firmament schien wie in rotes<br />

Tuch gekleidet. Als die göttliche Mutter im Rausch ihres Tanzes ihre göttlichen<br />

Waffen in allen Himmelsrichtungen herumwirbelte, wurden die restli-<br />

VI.2:134<br />

658


chen noch verbliebenen Städte und Siedlungen der Erde zerstört und nur<br />

noch die Erinnerung an sie blieb erhalten. Die gesamte Erde war nun von den<br />

Kobolden und den dienstbaren Geistern, die das Gefolge der göttlichen Mutter<br />

bildeten, bewohnt. Als sie diese gänzliche Zerstörung erblickten, waren<br />

die auf den Lokāloka-Bergen sitzenden Götter bestürzt.<br />

RĀMA fragte Vāsi«Âha:<br />

Wie konnten die Lokāloka-Berge noch sichtbar sein, da der Körper doch die<br />

gesamte Erde bedeckt hat?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Diese Berge ragten hinter den Schultern des Leichnams hervor. Die bestürzten<br />

Götter dachten folgendermaßen nach: „Oh weh, oh weh – wo ist die Erde,<br />

wo sind die Ozeane, was ist mit den Menschen und den Bergen geschehen?<br />

Wo ist der Malaya-Berg mit all seinen Sandelholzwäldern und zahlreichen<br />

Blumengärten? Oh weh, sogar der blütenweiße Schnee des Himālaya ist jetzt<br />

schmutzig und schlammig. Oh weh, der Milchozean (die Heimstatt von Lord<br />

Viåņu), der wunscherfüllende Baum, sämtliche anderen Ozeane (voll geronnener<br />

Milch, Wein und Honig) und die Berge voller Kokospalmen sind fort. Oh<br />

weh, der Kontinent Krauñca mit seinen herrlichen Bergen, der Kontinent<br />

Puåkara (in dem der Schwan, der das Fahrzeug für Brahmā den Schöpfer ist,<br />

in einem See voller Lotos lebte und in dessen Berghöhlen sich die Himmelsbewohner<br />

zu ergötzen pflegten), der Kontinent Gomedha, umgeben von einem<br />

Frischwasserozean, und der Kontinent Śāka, dessen Gedenken verheißungsvoll<br />

ist, wurden alle zerstört. Sämtliche Gärten und Wälder sind fort.<br />

Wo sollen die müden und Erholung suchenden Menschen nun ruhen? Wann<br />

werden wir wieder die Süße des Zuckers und die kleinen Zuckerfiguren kosten<br />

können, da alle Zuckerrohrfelder vernichtet wurden? Oh weh, der<br />

JambÆdvīpa, der die Stütze aller anderen Kontinente war, wurde ebenfalls<br />

zerstört. Oh weh, wohin ist die gute Erde veschwunden?“<br />

* * *<br />

Die Geschichte vom Jäger und dem Reh<br />

VASIåèHA (oder BHĀSA) fuhren fort:<br />

Die Götter besprachen sich untereinander wie folgt: „Die Kobolde haben<br />

das Fleisch und das Blut dieses Leichnams gegessen und getrunken, und<br />

daher vermag man nun die Erde wieder zu sehen. Aus den Knochen dieses<br />

Kadavers sind die neuen Berge geworden.“ Nachdem die Götter so gesprochen<br />

hatten, begannen die gesättigten Kobolde im Raum zu tanzen. Die Götter<br />

VI.2:135,<br />

136<br />

659


emerkten, dass auf der Erde noch etwas Blut zurückgeblieben war. Sie füllten<br />

damit die Ozeane und verwandelten das Blut mit Hilfe ihrer Willenskraft<br />

in Wein. Die Kobolde tranken von diesem Wein und tanzten daraufhin weiter<br />

– sogar heute noch! Da die neue Erde aus dem Fleisch (meda) des Leichnams<br />

gemacht war, wurde sie fortan „medinī“ (Erde) genannt. Auf diese Weise<br />

wurden die Erde und ihre Bewohner neuerlich ins Dasein gebracht. Der<br />

Schöpfer erschuf eine neue Menschheit.<br />

(BHĀSA sprach:) Dann fragte ich den Feuergott: Wer war diese Person vor<br />

ihrem Tod? Der FEUERGOTT erzählte mir daraufhin die folgende Geschichte:<br />

Höre! Es gibt da unendlichen Raum, der voll reinem Bewusstsein ist. In ihm<br />

treiben die zahllosen Welten wie ebenso viele Atome. In ihm tauchte eine mit<br />

Selbst-Gewahrsein ausgestattete kosmische Person auf. Diese Person erfährt<br />

ihr eigenes Licht so, wie du ein Objekt im Traum siehst. Aus diesen verschiedenen<br />

Erfahrungen entstehen dann die Sinne und die dazugehörigen Organe,<br />

die zusammen den Körper bilden. Diese Sinne nehmen sodann ihre eigenen<br />

Sinnesgegenstände wahr, die die Welt werden.<br />

In dieser Welt entstand dann eine Person namens Asura (Dämon). Er war<br />

stolz auf seine Macht. Einmal zerstörte er die Einsiedelei eines Weisen, der<br />

ihn daraufhin folgendermaßen verfluchte: „Du hast dies getan, weil du stolz<br />

auf deinen gigantischen Körper bist. Du wirst nun sterben und zu einem<br />

Moskito werden.“ Im Feuer dieses Fluches wurde der Asura zu Asche verbrannt.<br />

Er wurde zu einer entkörperten Persönlichkeit, so wie das Gemüt<br />

einer nicht bewussten Person. Er wurde eins mit dem physischen Raum.<br />

Schließlich vereinigte er sich in diesem Raum mit dem Wind. Dieser Wind ist<br />

die Lebenskraft (prāïa). Der Asura erwachte nun als ein Lebewesen und<br />

verlangte nach Energie, Wasser usw. Indem er erneut mit den fünf Elementen<br />

(den tanmātras) und einem Partikel des unendlichen Bewusstseins ausgestattet<br />

war, begann er wie ein individuelles Lebewesen zu vibrieren. Daraufhin<br />

entstand in ihm Selbst-Gewahrsein – wie ein Same unter günstigen Umständen<br />

als Keimling zu sprießen beginnt. In diesem Selbst-Gewahrsein lebte<br />

der Fluch des Weisen und daher die Idee, ein Moskito zu sein. Daher wurde er<br />

ein Moskito.<br />

(Als Antwort auf Rāmas Frage sprach Vāsi«Âha: „Von Brahmā abwärts bis<br />

hin zu einem Grashalm sind sämtliche Wesen zwei Arten der Geburt unterworfen:<br />

Die erste ist Brahmās Schöpfung selbst und die andere eine illusorische.<br />

Diejenige Schöpfung, die spontan im Gemüt des Schöpfers auftaucht<br />

und die man zuvor noch nicht erfahren hat, ist die Schöpfung Brahmās, aber<br />

nicht diejenige, die man „Geburt aus dem Mutterleib“ nennt. Was dann aufgrund<br />

latenter Täuschung als diese illusorische Geburt entsteht, ist aus der<br />

Subjekt/Objekt-Beziehung heraus geboren worden.“)<br />

Der Moskito wohnte inzwischen glücklich zusammen mit seinem Partner<br />

auf einem Grashalm. Dieses Gras wurde dann von einem Reh verzehrt. Weil<br />

der Moskito sterbend das Reh angeschaut hatte, wurde er zu einem Reh. Das<br />

Reh wurde von einem Jäger getötet und daher in seiner nächsten Geburt als<br />

660


VI.2:137<br />

Jäger wiedergeboren. Während dieser Jäger den Wald durchstreifte, hatte er<br />

das Glück, auf einen Weisen zu treffen, der ihn mit den folgenden Worten<br />

spirituell erweckte: „Weshalb lebst du dieses grausame Leben als Jäger? Gib<br />

dieses sündige Leben auf und bemühe dich um das Erlangen von nirvāïa.“<br />

DER JÄGER sprach:<br />

Sei es so, oh Weiser. Aber teile mir bitte mit, wie man das Leiden überwinden<br />

kann, ohne dabei zu „harten“ oder „weichen“ Praktiken greifen zu müssen.<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Lege jetzt sofort diesen Bogen und die Pfeile beiseite. Bleibe hier und führe<br />

das Leben der Stille, frei von Sorgen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Jäger tat so, ohne zu zögern. Innerhalb von Tagen erlangte er die Weisheit<br />

der Schriften, so wie eine Blume als Duft in den Körper eines Menschen<br />

gelangt. Eines Tages fragte er den Weisen: „Wie kommt es, oh Weiser, dass der<br />

Traum, der doch im Innern stattfindet, sich außen abzuspielen scheint?“<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Eben diese Frage ist auch am Anfang in meinem Innern aufgetaucht. Um<br />

eine Antwort auf diese Frage zu finden, praktizierte ich die Konzentration. Ich<br />

saß in der Lotosposition und verblieb als reines Bewusstsein. Ich sammelte<br />

alle Strahlen meines Gemüts, die sich über die tausend Dinge verstreut hatten,<br />

und zentrierte sie alle in meinem Herzen. Zusammen mit der Lebenskraft<br />

„hauchte“ ich das Gemüt aus dem Körper aus. Dieses prāïa betrat dann ein<br />

Lebewesen, das vor mir erschien. Dieses Wesen „inhalierte“ dieses prāïa und<br />

empfing es in seinem eigenen Herzen.<br />

Dann betrat ich das Herz dieses Wesens. Durch meinen eigenen Intellekt<br />

gebunden, folgte ich diesem bis ins Innere dieses Wesens. Ich sah, dass im<br />

Innern dieser Person zahllose Kanäle waren, die alle aussahen, als wären sie<br />

außerhalb. Das Wesen war außerdem angefüllt mit unterschiedlichen Organen<br />

und Eingeweiden wie Leber, Milz usw., so wie ein Haus angefüllt mit<br />

Möbeln ist. Es war warm im Innern. Eine kühle Brise, die von außerhalb dieses<br />

Körpers kam und in ihn eintrat, hielt ihn am Leben und machte ihn bewusst.<br />

Die Kanäle übertrugen die Essenz der Nahrung. Es war sehr finster im<br />

Innern, wie in der Hölle. Der Fluss der Lebenskraft entlang der genannten<br />

Kanäle schwankte in Übereinstimmung mit den physischen Ungleichgewichten,<br />

die den Fluss der Lebenskraft bestimmten. In einem Kanal, der einem<br />

Lotosstengel glich, strömte eine strahlende, feurige Kraft, die das ferne Geräusch<br />

eines Windes, der durch eine enge Röhre streicht, hervorrief. Die Kraft<br />

war mit verschiedenen Objekten angefüllt. Zusammengehalten wurde sie<br />

durch die Luftbewegungen. Dieser Kanal war manchmal angenehm und<br />

manchmal erregt. Es tönte, als würden himmlische Musiker irgendwo unterhalb<br />

des Bereiches der Zunge singen, und woanders war es, als wäre da eine<br />

sehr erlesene Musik.<br />

661


Ich betrat das Herz des Wesens. In diesem Herz erreichte ich das Prinzip<br />

des Lichts. In ihm fand ich die drei Welten gespiegelt. Es ist das Licht der drei<br />

Welten. Es ist die eigentliche Essenz aller Dinge. Der jīva ist dort. Der jīva<br />

durchdringt zwar den gesamten Körper, jedoch ist dieser „ojas“ (inneres<br />

Licht) sein eigentlicher Sitz. Er wird auf allen Seiten durch die Lebenskraft<br />

geschützt. Ich betrat ihn so wie Wasser einen irdenen Topf durchdringt. Indem<br />

ich dann dort saß, vermochte ich das gesamte Universum so zu sehen<br />

wie durch mein eigenes „ojas“.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Auch in dieser Traumwelt gab es eine Sonne, Berge und Ozeane wie auch<br />

Götter und Dämonen und Menschen. Es gab da Städte und Wälder, Zeiteinteilungen<br />

und Himmelsrichtungen. Die Traumerscheinungen wirkten dauerhaft<br />

und beständig – als wären sie gleich nach meinem Aufwachen aufgetaucht.<br />

Ich fragte mich: „Wie kann es sein, dass ich diesen Traum wahrnehme, obwohl<br />

ich nicht schlafe?“ Nach einer langen Ergründung realisierte ich: „Gewiss<br />

ist dies die göttliche Gestalt der Wahrheit des Bewusstseins. Was auch<br />

immer dieses Bewusstsein in sich selbst manifestiert, ist dann diese sogenannte<br />

Welt.“ Wo auch immer dieser Same des Bewusstseins sozusagen seine<br />

eigene Gestalt wahrnimmt, sieht es die Welt, ohne dabei jemals seine eigene<br />

Realität als unendliches Bewusstsein aufzugeben.<br />

Ich habe nun erkannt, dass diese Welt, die man ein Traumobjekt nennt, die<br />

Wahrnehmung dieses unendlichen Bewusstseins ist. Die Manifestation (das<br />

Leuchten) dieses Bewusstseins wird sowohl die Wachwelt als auch die<br />

Traumwelt genannt. Es ist ein Bewusstsein – eine Getrenntheit gibt es darin<br />

nicht. Traum ist Traum im Verhältnis zum Wachzustand, während der Traum<br />

der Wachzustand im Verhältnis zum Traum selbst ist. Der Traum ist nicht<br />

vom Wachzustand verschieden; der Wachzustand ist daher von zweifacher<br />

Natur.<br />

Eine Person ist nichts als Bewusstsein. Auch wenn hundert Körper verderben,<br />

das Bewusstsein verdirbt nicht. Bewusstsein ist wie Raum, aber es existiert<br />

als wäre es der Körper. Das Unendliche erscheint wie geteilt in unendlich<br />

viele Objekte mit und ohne Form. Dies ist so, weil innerhalb des unendlichen<br />

Bewusstseins zahllose Partikel der Erfahrungen leuchten. Wenn sich der jīva<br />

von der Erfahrung der äußeren Welten abwendet und sich den inneren Welten<br />

im Herzen zuwendet, taucht der Traum auf. Sobald der jīva ein veräußerlichtes<br />

Bewusstsein hat, gibt es den Wachzustand. Wenn derselbe jīva seinen<br />

Blick auf sich selbst richtet, taucht der Traum auf. Es ist der jīva selbst, der<br />

sich als der Raum, die Erde, der Wind, die Berge und die Ozeane ausbreitet –<br />

ob diese nun außen oder innen gesehen werden. Sobald diese Wahrheit realisiert<br />

wird, ist man frei von den vāsanās oder mentaler Konditionierung.<br />

Dann fragte ich mich selbst: „Was ist der Schlaf?“ Ich begann, den Schlaf zu<br />

erforschen. Wenn man denkt: „Was habe ich mit diesen Objekten der Welt zu<br />

tun? Lass mich eine Zeit lang in völligem Frieden ruhen“, kommt der Schlaf. So<br />

wie es in ein und demselben Körper lebende und nicht lebende Dinge gibt<br />

662


VI.2:138<br />

(wie Nägel, Haare usw.), so ist der Schlaf gleichzeitig durch Leben und Leblosigkeit<br />

gekennzeichnet. „Lass mich in Frieden ruhen“ – wenn diese Idee im<br />

eigenen Gemüt vorherrscht, entsteht der Schlaf. Geschehen kann dies sogar<br />

im Wachzustand.<br />

Dann begann ich den Zustand von turīya (dem vierten) zu ergründen. Wenn<br />

man fest in turīya verankert ist, hört die Welterscheinung aufgrund vollkommener<br />

Erleuchtung auf. Dann existiert diese Welt nur noch so, wie sie ist –<br />

nichts hört auf zu sein. Wegen der Existenz von turīya existieren Wachen,<br />

Träumen und Schlaf so, wie sie sind. Die Erkenntnis, dass „diese Welt niemals<br />

erschaffen worden ist, weil es keine Ursache für ihr Auftauchen gibt“ und<br />

dass „Brahman allein als diese Welt leuchtet“, ist turīya.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Dann wollte ich eins werden mit dem Bewusstsein dieses Wesens. Als ich<br />

das „ojas“ dieses Wesens verließ, um in das Bewusstsein einzutreten, wurden<br />

meine eigenen Sinne unverzüglich erweckt. Jedoch hielt ich sie sofort zurück<br />

und betrat zuerst das Bewusstsein. Als ich es betrat, erfuhr ich zur selben Zeit<br />

zwei Welten. Alles erschien doppelt. Da die zwei erfahrenden Intelligenzen<br />

ähnlich waren, erschien auch die Dualität ähnlich und wie Wasser und Milch<br />

gut vermischt.<br />

Innerhalb eines Augenblicks zog ich mit Hilfe meines Bewusstseins das Bewusstsein<br />

des anderen Wesens in mich. Unverzüglich verschmolzen die „zwei<br />

Welten“ zu einer einzigen – so wie jemand nach der Heilung seiner Fehlsichtigkeit,<br />

die ihn doppelte Monde erblicken ließ, jetzt nur noch einen Mond<br />

sieht. Meine eigene Weisheit hatte ich nicht aufgegeben, jedoch war meine<br />

Gedankenform schwach geworden und hatte die Gedankenform des anderen<br />

Wesens angenommen. Daher begann ich die Welt nun so wie dieses Wesen zu<br />

erfahren.<br />

Nach einiger Zeit legte sich das Wesen zum Schlaf nieder. Er sammelte die<br />

Strahlen seines Gemüts. So wie eine Schildkröte ihre Glieder in sich selbst<br />

zurückzieht, so wurden seine Sinne zusammen mit ihren Funktionen in sein<br />

eigenes Herz zurückgezogen. Seine Sinnesorgane wurden wie tot oder wie<br />

gemalte Bilder. Ich befand mich innerhalb des Wesens, folgte dem Pfad seines<br />

Gemüts und betrat sein Herz. Einen Moment lang erfreute ich mich des Glückes<br />

des Schlafes, indem ich alle Wahrnehmung äußerer Objekte völlig aufgegeben<br />

hatte und in das „ojas“ eingetreten war. Alle Kanäle innerhalb des Wesens<br />

waren aufgrund seiner Müdigkeit verstopft und verdichtet. Wegen der<br />

genossenen Nahrung und Getränke strömte die Lebenskraft nur langsam<br />

durch seine Nüstern. Die Lebenskraft wendet sich ihrer eigenen Quelle innerhalb<br />

des Herzens zu und erleichtert dadurch das Gemüt von der Empfindung<br />

der Materialität (oder macht das Gemüt bedeutungslos), denn es ist natürlicherweise<br />

sein eigenes Objekt. Das Selbst ist nun sein eigenes Objekt – und es<br />

gibt keine andere veräußerlichende Aktivität mehr. Daher leuchtet es in sich<br />

als es selbst.<br />

RĀMA fragte:<br />

663


Das Gemüt vermag nur aufgrund der Lebenskraft zu denken und besitzt in<br />

sich selbst keinerlei eigene Substanz. Was ist es dann in sich selbst?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Obwohl der Körper als real erfahren wird, existiert er in Wahrheit nicht.<br />

Das Gemüt ist so real wie der im Traum erblickte Berg. Da in Abwesenheit<br />

jedweder Ursache kein „Objekt“ jemals erschaffen wurde, existiert das Gemüt<br />

(citta) überhaupt nicht. All dies ist Brahman und da Brahman alles ist, existiert<br />

die Welt so, wie sie ist. Sogar Körper und Gemüt usw. sind nichts als<br />

Brahman, aber so wie die Wissenden dies sehen, können und sollen wir es<br />

nicht beschreiben.<br />

Das eine unteilbare Bewusstsein nimmt sich selbst als sein eigenes Objekt<br />

wahr, was man dann als das Gemüt bezeichnet. Sobald darin die Idee von<br />

Bewegung auftaucht, manifestiert sich diese Idee als prāïa oder Lebenskraft.<br />

Prāïa lässt die Erfahrungen der Sinne entstehen, woraufhin die Welt erscheint.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Gemüt (citta) ist der Schöpfer der Welten mitsamt allem, was darin real,<br />

irreal oder eine Mischung davon ist. Prāïa (Lebenskraft) wurde vom Gemüt<br />

mit Hilfe der Idee: „Das prāïa ist meine Bewegung; ich sollte nicht ohne<br />

prāïa oder Lebenskraft sein. Daher soll es mein Ziel sein. Auch wenn ich eine<br />

Zeitlang ohne prāïa sein sollte, soll ich gleich wieder mit prāïa sein“. Im<br />

Moment, in dem dieses prāïa sich mit dem Gemüt vereinigt, erblickt es die<br />

illusorische Welt. Aufgrund der festen Idee: „Ich soll niemals wieder ohne die<br />

Lebenskraft und den Körper sein“, erlangt es sodann seine wahre Natur als<br />

reines Bewusstsein nicht mehr.<br />

Es erfährt Leid, weil es aufgrund von Zweifel von einer Seite zur anderen<br />

schwingt. Dies hört erst durch Selbsterkenntnis auf. Nichts anderes als die<br />

Selbsterkenntnis vermag die falsche Idee „Ich bin dies“ zu beseitigen. Selbsterkenntnis<br />

taucht außerdem durch nichts anderes als durch Ergründung der<br />

Mittel zur Befreiung auf. Ergründe daher mit all deinen Kräften die Mittel der<br />

Befreiung.<br />

Das Gemüt hegt beständig die Idee, dass „die Lebenskraft mein eigenes Leben<br />

ist“. Deshalb ruht das Gemüt im prāïa. Wenn der Körper in einem Zustand<br />

des Wohlbefindens ist, funktioniert das Gemüt recht gut; wenn aber<br />

kein Wohlbefinden da ist, dann sieht das Gemüt nichts anderes als die physische<br />

Störung. Wenn das prāïa (Lebenskraft) stark mit seiner eigenen kraftvollen<br />

Bewegung beschäftigt ist, ist es in seine eigene Bewegung absorbiert<br />

und unfähig, sich um Selbsterkenntnis zu bemühen.<br />

Die Beziehung zwischen dem Gemüt und dem prāïa ist daher wie diejenige<br />

von Fahrer und Fahrzeug. Dies war von Anfang an die vom unendlichen Bewusstsein<br />

gehegte Vorstellung, und diese Beziehung hat sich bis heute erhalten.<br />

Wer nicht erleuchtet ist, vermag dies nicht zu transzendieren. Die unwis-<br />

VI.2:139<br />

664


sende Person hält weiterhin an ihren unerschütterlichen Überzeugungen<br />

bezüglich von Zeit, Raum, Materie, Gemüt, prāïa und Körper fest. Wenn Gemüt<br />

und prāïa harmonisch zusammenarbeiten, geht die Person verschiedenen<br />

Aktivitäten nach. Sobald es eine Störung gibt, gibt es Disharmonie. Sind<br />

beide friedlich, ist da Schlaf. Wenn die nā¬īs (Energiekanäle) durch Nahrung<br />

usw. verstopft sind und Trägheit herrscht, wird auch die Bewegung des prāïa<br />

träge und der Schlaf kommt. Aber auch wenn die nā¬īs nicht durch Nahrung<br />

usw. verstopft sind, aber Schwäche oder Müdigkeit entstanden ist, kann sich<br />

das prāïa nicht mehr ungehindert bewegen – und man schläft ein. Wenn die<br />

nā¬īs selbst aus irgendwelchen Gründen weich und schwächlich geworden<br />

und mit allen möglichen Unreinheiten beladen sind und das prāïa daher mit<br />

ausserordentlichen Aktivitäten beschäftigt ist, kommt es ebenfalls zum<br />

Schlaf.<br />

DER WEISE sprach:<br />

Als die Dunkelheit hereinbrach, fiel die Person, deren Herz ich betreten hatte,<br />

in tiefen Schlaf. Auch ich erfreute mich dieses Schlafs. Dann, als die von der<br />

Person gegessene Nahrung verdaut und die nā¬īs wieder rein waren, begann<br />

sich die Lebenskraft lebhaft zu regen und den Schlaf aufzulösen.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Als der Schlaf sich aufzulösen begann, erblickte ich die Welt mit ihrer Sonne<br />

usw., als wäre sie im Herzen aufgetaucht. Ich sah alles da, wo ich gerade war.<br />

Jedoch wurde diese Welt von der Sturmflut der kosmischen Auflösung heimgesucht.<br />

Mich selbst sah ich zusammen mit meiner Braut in einem Haus sitzen.<br />

Die Sturmflut trug uns beide fort, zusammen mit dem ganzen Haus usw.<br />

welches der Flut zu trotzen schien, als wollte es am Leben bleiben. Schon bald<br />

brach dieses Haus, in dem ich saß und welches von der Flut davongetrieben<br />

wurde, in tausend Stücke. Ich sprang ins Wasser. Ich hatte meine Familie und<br />

meine Freunde vergessen und dachte nur noch an die Rettung meines eigenen<br />

Lebens. Manchmal ging ich unter und manchmal schwamm ich an der<br />

Oberfläche. Als ich einen Halt für die Füße an einem Felsen fand und eine<br />

Weile ausruhen wollte, kam eine riesige Welle und spülte mich erneut in die<br />

Flut. Es gab kein einziges Leiden, das mir in dieser Zeit erspart geblieben<br />

wäre; allen Arten schmerzhafter Erfahrungen war ich ausgesetzt.<br />

Da erinnerte ich mich – weil ich in einem Zustand äußerster Verzweiflung,<br />

aber dennoch völlig wach und bewusst war – an die Erfahrung eines früheren<br />

Lebens in einem Zustand von samÃdhi. Damals war ich ein Asket. Ich war in<br />

eine andere Person eingegangen und war begierig, den Traumzustand zu<br />

beobachten. Ich wusste, dass ich nur eine Illusion sah. Gleichzeitig nahm ich<br />

die gegenwärtigen Erfahrungen wahr, und obwohl ich von der Flut<br />

davongespült wurde, erlebte ich Freude.<br />

Während ich die Flut und die durch sie verursachte Zerstörung betrachtete,<br />

dachte ich wie folgt nach: „Was vermag Schicksal nicht zu tun? Sogar der<br />

dreiäugige Gott wird von dieser Flut zerschmettert. Sämtliche Götter und<br />

665


Dämonen werden in der Flut umhergeschleudert. Die turmhohen Wellen<br />

schlagen sogar an den Thron von Brahmā, dem Schöpfer. Diese Wellen sehen<br />

wie Elefanten aus, sind so mächtig wie Löwen und scheinen im Himmel wie<br />

Wolken zu treiben. Sogar die Beschützer dieser Erde stürzen zusammen mit<br />

ihren Palästen und Fahrzeugen in diese Flut und ertrinken darin. Die Götter<br />

und die Dämonen schwimmen gemeinsam in dieser Flut und halten sich<br />

aneinander fest. Wegen der fallenden Städte und treibenden Paläste scheinen<br />

die Wasser der Flut wie solide Mauern zu sein. Sogar die Sonne wurde von<br />

dieser Flut überwältigt und in die Unterwelt getrieben. Nur die Wissenden<br />

(die Weisen der Selbsterkenntnis) erfahren überhaupt keinen Kummer – sie<br />

sehen ihre Körper den Strom hinuntertreiben, ohne die falsche Idee: „Ich bin<br />

dieser Körper“. Hilflose Frauen ertrinken. In dieser Flut der kosmischen Auflösung,<br />

in der sämtliche Wesen vom Tod verzehrt werden – wer kann durch<br />

wen errettet werden? Das gesamte Universum scheint jetzt nichts anderes als<br />

ein unendlicher Ozean zu sein. Wo sind alle diese Götter, die von Indra angeführt<br />

wurden?“<br />

DER JÄGER fragte:<br />

Tauchen Halluzinationen dieser Art denn sogar in den Großen wie dir auf,<br />

oh Weiser? Hat die Praxis der Meditation diesem kein Ende gesetzt?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Am Ende des Weltzyklus hört alles auf. Einige Dinge gelangen nach und<br />

nach an ein Ende, während andere abrupt aufhören. Noch einmal: Was geschehen<br />

soll, wird unvermeidlich geschehen. Darüber hinaus sind durch das<br />

Erscheinen des Unglücks die Kraft, die Intelligenz und die Vitalität (Strahlen)<br />

alle immer und überall nachteilig betroffen, sogar im Falle der Großen. Außerdem<br />

war das, was ich beschrieben hatte, nichts als ein Traum. Was ist in<br />

einem Traum unmöglich oder unvereinbar?<br />

Und doch ist es wichtig, dass ich dir diese Traumerfahrung erzähle. Ich<br />

werde dir nun die Wahrheit offenbaren.<br />

Während ich also diese große Flut der kosmischen Auflösung beobachtete,<br />

gelangte ich zu einem Berggipfel. Ich kletterte auf diesen Gipfel. Im nächsten<br />

Moment verwandelte sich plötzlich die gesamte Szenerie. Ich wusste nicht,<br />

weshalb und wie die Flutwasser mit einem Male verschwanden. Die gesamte<br />

Erde war nun eine einzige Masse Schlamm, in dem die Götter wie auch Indra<br />

und Tiere wie die Elefanten bis zum Hals versanken. Dann wurde ich von<br />

Müdigkeit und Schlaf überwältigt.<br />

Anschließend war, obwohl ich in meinem eigenen „ojas“ blieb, immer noch<br />

die psychologische Konditionierung der früheren Erfahrungen in mir. Nachdem<br />

ich nach dem Aufwachen eine Art doppeltes Bewusstsein erfahren hatte,<br />

sah ich den Berggipfel im Herzen der anderen Person. Am zweiten Tag sah ich<br />

dort den Sonnenaufgang. Danach stiegen alle anderen Objekte dieser Welt<br />

auf.<br />

VI.2:140<br />

666


Ich versuchte nun alles zu vergessen und wendete mich wieder meinen alltäglichen<br />

Aktivitäten in dieser Welt zu. Ich sagte mir: „Ich bin sechzehn Jahre<br />

alt, dies sind meine Eltern usw.“ Dann erblickte ich ein Dorf und darin eine<br />

Einsiedelei. Ich begann in dieser Einsiedelei zu leben, die mir immer realer<br />

vorkam, während die Erinnerung an die früheren Erfahrungen zu schwinden<br />

begann. Ich betrachtete den Körper als meine einzige Hoffnung. Die Weisheit<br />

hatte sich weit, weit von mir entfernt. In den vāsanās oder der mentalen<br />

Konditionierung bestand nun die Essenz meines Wesens und ich war dem<br />

Erwerb von Wohlstand ergeben. Ich erfüllte alle meine gesellschaftlichen und<br />

religiösen Pflichten. Ich wusste, was zu tun und was zu unterlassen war.<br />

Eines Tages kam ein Weiser als mein Gast zu mir. Ich sorgte gut für ihn. In<br />

der Nacht erzählte er mir eine Geschichte. Er beschrieb das grenzenlose<br />

Universum in allen Einzelheiten und schloss seine Erzählung mit der Erklärung,<br />

dass all dies das unendliche Bewusstsein sei. Nun war meine innere<br />

Intelligenz plötzlich erweckt. Sogleich erinnerte ich mich an die gesamte<br />

Vergangenheit, wie ich den Körper eines Anderen betreten hatte usw. Ich<br />

glaubte, dass die andere Person die kosmische Person gewesen war und<br />

versuchte sie zu verlassen. Indem ich eins mit ihr wurde, konnte ich sie verlassen.<br />

Daraufhin sah ich vor mir sofort meinen eigenen, in der Lotosposition<br />

sitzenden Körper auftauchen, und zwar in einer Einsiedelei, bedient von<br />

Schülern. Laut diesen Schülern war, seit ich in den samÃdhi gegangen war,<br />

nur eine einzige Stunde vergangen. Die Person, deren Herz ich betreten hatte,<br />

war auch ein Reisender gewesen, der geschlafen hatte. Ich erzählte dies niemandem<br />

und betrat anstelle dessen rasch das Herz dieser schlafenden Person<br />

ein weiteres Mal. In diesem Herz war die kosmische Auflösung an ein Ende<br />

angelangt. Das Dorf, in dem ich mit meinen Verwandten gelebt hatte, war<br />

verschwunden. Alles war von den Feuern der kosmischen Auflösung in Brand<br />

gesetzt worden. Ich praktizierte die Wind-Kontemplation und wanderte darin<br />

umher.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Obwohl ich ringsum von diesen schreckenerregenden Feuern umgeben war,<br />

fühlte ich mich überhaupt nicht bedroht. Wenn man weiß, dass der Traum<br />

nur ein Traum ist, ist man sogar vom Feuer unberührt. Während ich die Natur<br />

dieses Feuers untersuchte und währenddessen aufgrund des Wissens, dass<br />

ich einen Traum vor mir hatte, unberührt von ihm blieb, tauchte eine entsetzliche<br />

Hitzewelle auf. In dem daraus entstehenden tollen Wirbel begannen alle<br />

Dinge umherzufliegen und zu Asche zu verbrennen. Es war wie ein Tanz der<br />

völligen Zerstörung.<br />

Ich begann mich zu fragen: Schließlich ist dies alles nur ein Traum, der von<br />

mir geträumt wird, der ich im Herzen von jemand anderem sitze. Weshalb<br />

sollte ich das Beobachten all des Leidens fortsetzen und nicht lieber aus all<br />

dem herauskommen?<br />

DER JÄGER fragte:<br />

VI.2:141,<br />

142<br />

667


Du hast das Herz dieser Person betreten, um herauszufinden, was der<br />

Traum ist. Weshalb hast du dann entschieden, wieder herauszukommen?<br />

Hast du demnach die Wahrheit herausgefunden?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Zunächst möchte ich festhalten, dass die Schöpfung für ihr Dasein keinerlei<br />

Ursache hat. Daher besitzen weder Worte wie „Schöpfung“ noch Objekte wie<br />

„Schöpfung“ eine reale Substanz. Sie existieren nicht. Jedoch ist diese Unwissenheit<br />

oder Unwirklichkeit ebenfalls eine im Bewusstsein oder der Wirklichkeit<br />

auftauchende Idee – im Bewusstsein oder der Realität liegt das, was<br />

(als Schöpfung) existiert, auf der Hand. Ich kann dir von der Wahrheit nur aus<br />

der Sicht eines Menschen sprechen, in dem Unwissenheit und Torheit zu<br />

Ende sind; was vom Gesichtspunkt des Unwissenden und Toren aus wahr ist,<br />

vermag ich nicht zu sagen. Die Wahrheit ist: All dies ist reines Bewusstsein,<br />

welches alles durchdringt.<br />

Wo ist der Körper, wo ist das Herz, was ist Traum, wo sind Wasser und Flut<br />

usw., wo sind Erwachen und das Aufhören des Erwachens, wo sind Geburt<br />

und Tod? Es gibt nur reines Bewusstsein. In Gegenwart dieses Bewusstseins<br />

erscheint sogar der winzigste und subtilste Raum makrokosmisch. Auf spontane<br />

Weise „denkt“ dieses Bewusstsein einen Augenblick lang etwas und die<br />

Idee der Welt erscheint, obgleich es immer noch reiner Raum ist. Wie im<br />

Traum legt auch hier das Bewusstsein lediglich unterschiedliche Masken an;<br />

Städte usw. gibt es da nicht, da die Welt reines Bewusstsein ist. Für uns gibt<br />

es keine Erscheinung, nichts Reales oder Irreales, keinen Raum, sondern nur<br />

das eine formlose, anfangslose, endlose, nonduale unendliche Bewusstsein.<br />

Träume entstehen ohne jede Ursache – nichts als das reine Bewusstsein des<br />

Erfahrenden existiert (ohne ein unabhängiges Objekt). Auch hier besteht<br />

keinerlei Ursache – es gibt daher weder ein Subjekt noch ein Objekt. Was als<br />

einziges existiert, ist das reine Bewusstsein oder was auch immer es sein mag<br />

–aber es ist reines Erfahren, das nondual und jenseits jeder Beschreibung ist.<br />

Zeit ist gleichzeitig Existenz und Zerstörung – ihr Same ist selbst all das,<br />

was aus ihm von den Blumen bis hin zu den Früchten auftaucht. Ebenso ist<br />

auch Brahman all dies. Bewusstsein erstrahlt immer rein. So wie während des<br />

Träumens der Traum die Qualität des Wachens besitzt, so ist die Natur des<br />

Wachens selbst nichts anderes als die Natur des Traums. Sobald alle mentalen<br />

Aktivitäten aufgehört haben, bist du das, was ist.<br />

DER JÄGER sprach:<br />

Hoher Herr, wer ist vom vergangenen karma betroffen und wer nicht?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Diejenigen, die gleich zu Beginn der Schöpfung ins Dasein kommen – wie<br />

Brahmā der Schöpfer – besitzen weder Geburt noch Tod. Sie besitzen kein<br />

Empfinden von Dualität, kein saæsāra und keinerlei Ideen: Ihr Bewusstsein<br />

ist rein. Ohnehin hat gleich zu Beginn der Schöpfung niemand irgendein<br />

karma, denn davor hat ja nur das absolute und unendliche Brahman existiert.<br />

668


Zu Beginn der Schöpfung war es daher Brahman, das die Schöpfung manifestierte.<br />

So wie sich Brahmā der Schöpfer und alle anderen zu Beginn der<br />

Schöpfung manifestierten, so manifestierten sich dann auch die zahllosen<br />

jīvas. Diejenigen jedoch, die sich als verschieden von Brahman empfinden,<br />

betrachten sich selbst als unwissend und nehmen Dualität wahr. In ihrem Fall<br />

tauchen Geburt und Tod aus ihnen selbst heraus auf, weil sich diese Wesen<br />

sich an das Unwirkliche halten. Diejenigen dagegen, die sich (wie Brahmā,<br />

Viåņu und Śiva usw.) nicht als verschieden von Brahman sehen, erfahren<br />

keinerlei karma.<br />

Das unendliche Bewusstsein ist absolut rein. Brahman ruht in sich selbst.<br />

Jedoch entsteht in ihm die winzige Idee des jīva. Wo diese Idee vom jīva auftaucht,<br />

dort taucht auch die Unwissenheit auf, und das wird von demselben<br />

Bewusstsein als Schöpfung betrachtet. Von selbst erwacht das Bewusstsein<br />

zu seiner eigenen, wahren Natur und realisiert, dass es Brahman ist und auch<br />

schon immer gewesen ist.<br />

Wasser nimmt von selbst die Form des Strudels an – Brahman nimmt ebenso<br />

von selbst die Erscheinungsform dieser Schöpfung an. Diese Schöpfung ist<br />

das manifeste Brahman – weder ist sie ein Traum noch die Realität des Wachzustandes.<br />

Was ist in diesem Fall karma, wem kommt es zu und wie viele<br />

verschiedene Arten gibt es? In Wahrheit gibt es kein karma, keine Unwissenheit,<br />

keine Schöpfung – alle diese Ideen tauchen nur aufgrund der eigenen<br />

Erfahrung auf.<br />

Brahman allein erstrahlt als die Schöpfung, die individuellen Seelen, karma,<br />

Geburt und ähnliche Ideen. Da er der Höchste Herr ist, erfährt er diese Ideen<br />

so, als wären sie wahr. Zu Beginn der Schöpfung ist der jīva keinerlei karma<br />

unterworfen; danach jedoch verwickelt er sich in das karma aufgrund seiner<br />

Ideen. Was ist der Körper oder die Persönlichkeit eines Strudels? Worin besteht<br />

dessen karma? Er ist Wasser und nichts anderes – ebenso ist alles<br />

Brahman.<br />

Die in einem Traum erblickten Personen besitzen kein karma. Auch der jīva,<br />

der zu Beginn der Schöpfung auftaucht, besitzt kein karma, weil er reines<br />

Bewusstsein ist. Die Idee des karma taucht erst auf, wenn man fest an der<br />

Idee der Wirklichkeit der Welt festhält. Dann beginnen diese jīva hier umherzuwandern<br />

– gefesselt durch das karma. Sobald realisiert wird, dass diese<br />

Schöpfung selbst Nicht-Schöpfung ist und Brahman allein existiert – wo ist<br />

dann karma? Wessen ist dieses karma und wer gehört zu diesem karma?<br />

Karma existiert nur in der Unwissenheit – sobald die rechte Erkenntnis auftaucht,<br />

hört die Bindung durch karma auf.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Der paï¬ita (der Selbsterkenntnis erlangt hat) ist wie die Sonne, der den<br />

Lotos von dharma, karma und Erkenntnissen erblühen lässt. Verglichen mit<br />

der Weisheit eines Weisen der Selbsterkenntnis ist sogar der Status eines<br />

Königs der Götter nur wertloses Stroh. Sobald die Selbsterkenntnis erscheint,<br />

schwindet die illusorische Wahrnehmung der Welt und die Erkenntnis Brah-<br />

VI.2:143<br />

669


mans als die einzige Wirklichkeit taucht auf; so wie im Licht, das die Dunkelheit<br />

vertreibt, die Girlande, welche mit einer Schlange verwechselt wurde, als<br />

Girlande erstrahlt.<br />

Die im Traum erblickten Leute haben keine Eltern – ebenso hat dieser Welttraum<br />

keine Ursache. Die Traum-Leute besitzen kein früheres karma, das ihre<br />

gegenwärtige Geburt verursacht hat. Die scheinbar realen Menschen in dieser<br />

Traumwelt besitzen ebenfalls kein karma. So wie der jīva hier Träume wahrnimmt<br />

und erlebt, so fantasiert und erlebt er entsprechend seiner eigenen<br />

mentalen Konditionierung (vāsanā) auch frühere Leben und karmas als real.<br />

Zu Beginn der Schöpfung und am Ende der Existenz des Körpers erfährt der<br />

jīva einen traumartigen Zustand. Was auch immer er erfährt, scheint zu sein<br />

und ist real und irreal. ImTraum kommt es zu Kontakten mit „anderen“ Objekten,<br />

obgleich es diese nicht gibt. Auf diese Weise sind Erfahrungen mit den<br />

Objekten des Wachzustandes möglich, obgleich auch sie irreal sind. „Wachen“<br />

und „träumen“ sind zwei Worte, die die Bewegung innerhalb des Bewusstseins<br />

bezeichnen, die zu Gewahrsein führt. Dieses Gewahrsein oder Erfahrung,<br />

die zu Beginn der Schöpfung (sargādi) und am Ende des Lebenszyklus<br />

des Körpers (dehānta) auftaucht – dieses Gewahrsein oder diese Erfahrung<br />

existiert weiterhin, bis sie aufhört zu sein (oder bis Befreiung erlangt wird),<br />

und dies nennt man Schöpfung.<br />

Einen Unterschied zwischen Bewusstsein und dem Gewahrsein von Objekten,<br />

die entweder im Wachzustand oder im Traum gesehen werden, gibt es<br />

nicht, so wie es auch keinen Unterschied zwischen Wind und Bewegung gibt.<br />

Brahman allein scheint zu entstehen und zu vergehen oder zu sterben und<br />

Objekte zu erfahren; aber es ist nichts als reines Bewusstsein, das keinerlei<br />

Wandel unterworfen und für immer im Frieden und rein ist. Was auch immer<br />

dieses unendliche Bewusstsein oder diese kosmische Person in sich selbst<br />

wahrnimmt, wird gleichzeitig zu Ursache und Wirkung. Diese Schöpfung ist<br />

im Herzen dieses unendlichen Bewusstseins, wie der Traum in deinem Herzen<br />

ist – als Ursache und Wirkung.<br />

Auf welche Art und Weise dies auch immer zu Beginn der Schöpfung aufgetaucht<br />

ist, als das hat es sich als seine eigene natürliche Ordnung, als Zeit,<br />

Raum usw. bis heute fortgesetzt. Welche Eigenschaften auch immer die<br />

Schöpfung damals erworben hat – diese haben sich seitdem fortgepflanzt. Als<br />

erstes entstand da eine Idee oder ein Empfinden oder ein Konzept im Bewusstsein,<br />

und dann folgte die sogenannte Schöpfung – doch ist all dies<br />

nichts als das erstaunliche Blendwerk des Bewusstseins! Der unermessliche<br />

Raum scheint von blauer Farbe zu sein – das unermessliche Bewusstsein<br />

scheint als diese Schöpfung zu existieren.<br />

DER JÄGER sprach:<br />

Wie erlangt man nach der Aufgabe dieses Körpers einen anderen Körper,<br />

um mit diesem Vergnügen und Schmerz zu erfahren? Worin besteht die kausale<br />

Ursache und was sind die zusammenwirkenden Ursachen?<br />

670


DER WEISE erwiderte:<br />

Dharma (Tugend), adharma (Sünde), vāsanā (latente Neigungen oder mentale<br />

Konditionierung), das aktive Selbst und der jīva – all dies sind Synonyme<br />

für Ideen ohne eine dazugehörige Realität. Bewusstsein hegt all diese Ideen<br />

im Raum (Ebene) des Bewusstseins. Das Selbst erfährt die Körperidee, weil<br />

es reines Bewusstsein ist, völlig unabhängig vom Körper. Obgleich die Körperidee<br />

unwirklich ist, wird sie wie eine Realität erfahren, gleich wie ein<br />

Traumobjekt. Für die gestorbene Person erstrahlt die „andere Welt“ als eine<br />

Idee in ihrem eigenen Bewusstsein. Da sie sie einige Zeit lang erblickt, hält sie<br />

sie für real.<br />

Wenn man behauptet, dass die verstorbene Person durch jemanden geboren<br />

wird, wie kann dann die letztere sich an ihre vergangene Inkarnation<br />

erinnern? Der Tote wird nicht wiedergeboren - jedoch erfährt er aufgrund<br />

seiner eigenen mentalen Konditionierung in seinem eigenen Bewusstsein die<br />

Idee „Ich bin hier in diesen Umständen usw.“ Sobald diese Erfahrung einige<br />

Zeit anhält und Wurzeln schlägt, erlangt sie die Gewissheit der Realität. Das<br />

Selbst, welches reiner Raum ist (Leerheit), erblickt innerhalb dieses Raums<br />

einen Traum. Es erinnert sich dann wieder und wieder an diesen Traum und<br />

lässt dadurch die Wiedergeburten und weitere Welten entstehen. Dann<br />

glaubt es, dass diese Welt und diese Geburt real sind und beginnt, in dieser<br />

Welt als jīva tätig zu sein.<br />

Auf diese Weise gibt es Millionen und Abermillionen von Welten. Wird deren<br />

Wahrheit klar verstanden, sind sie nichts als reines Bewusstsein oder<br />

Brahman, während sie andernfalls als Weltschöpfung erscheinen. Sie sind<br />

nichts und gehören zu niemandem. Sie wurden niemals wirklich erschaffen.<br />

Jeder jīva erfährt jede einzelne dieser Welten als „dies ist die Welt“. Eben<br />

diese wechselseitige Beziehung verleiht dieser Illusion den Eindruck der<br />

Realität. Wenn die Wahrheit dieser Welten verstanden ist, werden sie als<br />

unerschaffene Realitäten erkannt. Was real für den Weisen ist, ist für den<br />

Unwissenden eine undurchdringliche Illusion. Was unwirklich für den Weisen<br />

ist, ist für den Unwissenden eine auf der Hand liegende Wahrheit.<br />

Was auch immer das unendliche Bewusstsein erfährt, scheint jetzt und hier<br />

zu existieren; solche Erfahrungen sind daher wirklich in Beziehung zum<br />

jeweiligen Erfahrenden. Da sie jedoch sämtlich (der Erfahrende und die Erfahrungen)<br />

reines Bewusstsein sind, gibt es nichts, von dem man als „das<br />

andere“ oder als Dualität sprechen kann. Wenn im unendlichen Bewusstsein<br />

die Idee „dies ist dies“ auftaucht, erstrahlt dieses „dies ist dies“ als solches.<br />

Wird es jedoch als „dies ist dies“ gesehen, dann wird es natürlich irreal! Wenn<br />

es die Erfahrung des Bewusstseins ist, dann ist sie nicht-verschieden vom<br />

Bewusstsein; nur im inexistenten Zustand der Unwissenheit wird die Erfahrung<br />

als etwas Unabhängiges erfahren. Daher hat die Selbsterkenntnis keinerlei<br />

Objekt, das man kennen kann. Erkenntnis, die zum Gekannten wird,<br />

wird zum Selbst, dass sich selbst kennt.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

671


Wie gründlich wir auch immer forschen und schauen – etwas anderes als<br />

Realität vermögen wir nicht zu erblicken. Was die Unwissenden und Toren<br />

sehen, wissen wir nicht. In der erleuchteten Sichtweise des Weisen ist all dies<br />

hier reines, unteilbares Bewusstsein, das in den Augen des Unwissenden als<br />

die zahllosen, getrennten Objekte (fühlende und nicht-fühlende) erscheint.<br />

Das eine reine Bewusstsein erscheint als die verschiedenen Traumobjekte im<br />

Traum. Alle diese Millionen von Objekten, die im Traum auftauchen, werden<br />

im Tiefschlaf wieder eins. In ähnlicher Weise, wenn diese Traumwelt ins<br />

unendliche Bewusstsein eintritt, wird dies Schöpfung genannt. Wenn diese<br />

dann in den Zustand, der dem des Tiefschlafs entspricht, eintaucht, wird dies<br />

die kosmische Auflösung genannt. Dies ist gesunder Menschenverstand!<br />

Das eine unteilbare Bewusstsein wird sowohl zu den vielfältigen Objekten<br />

und auch die unendlich vielen Individuen; es wird in sich selbst sowohl die<br />

Leere als auch die Materie – wie in einem Traum. All diese Vielfalt ist nichts<br />

als Erfahren. Sie ist rein. Sie erstrahlt auf die Art, in der sie wahrgenommen<br />

wird. Sie kann nicht beseitigt werden. Dieses Bewusstsein allein wird zu<br />

Beginn der Schöpfung zu Feuer usw., um diese Traumwelt hervorzurufen. Es<br />

ist reines Erfahren allein, das als die Erde usw. erstrahlt, obwohl da in Wahrheit<br />

nichts als Raum oder Leere ist, was als die erschaffene Welt erstrahlt.<br />

Dieses Gewahrsein oder Erfahren scheint manchmal unüberwindlich und<br />

manchmal der Zerstörung ausgeliefert zu sein. Tatsächlich kann nichts ihm<br />

ein Ende setzen, da reines Erfahren immer übrig bleiben wird, nachdem<br />

sämtliche anderen Dinge an ihr Ende gelangt sind. Es ist, wie wenn du von<br />

Ost nach West gehst – du kennst nun den Osten wie den Westen, obwohl die<br />

Erfahrung des Kennens dieselbe bleibt! Was auch immer du vorsätzlich eine<br />

längere Zeit hindurch denkst, erfährst du dann auch. Oder ruhe einfach im<br />

Frieden und erfahre dann diesen Frieden. Du gehst von Ost nach West und<br />

nun kennst du diese. Ein anderer geht nicht, sondern bleibt am Ort und kennt<br />

diese trotzdem. Das unendliche Bewusstsein, welches unbewegt ist, bleibt<br />

dasselbe, ob es nun erfahren oder nur gedacht wird. Beide Erfahrungen tauchen<br />

auf und beide Erfahrungen hören auf. Sobald der Wunsch „ich sollte von<br />

Süden nach Norden gehen“ auftaucht, tauchen diese beiden im unbewegten<br />

Bewusstsein auf. Taucht ein solcher Wunsch dagegen nicht auf, dann existieren<br />

die Himmelsrichtungen „Nord“ und „Süd“ nicht. Sobald das Bewusstsein<br />

denkt: „Ich will eine Stadt im Himmel sein“ oder „Ich will ein Tier auf der<br />

Erde sein“, treten diese beiden in Erscheinung. Hören solche Ideen auf, hören<br />

auch die Erscheinungen auf. Für andere ist diese Welt irgendetwas anders.<br />

Ob der Körper nun sterblich oder unsterblich ist – die Wahrheit besteht darin,<br />

dass saæsāra und jīva wie ein Traum sind. Sogar unter den Fremden gibt<br />

es viele Leute, die sich an Ereignisse aus ihren früheren Leben erinnern.<br />

Gewiss „starben“ diese nicht. Daher ist das unendliche Bewusstsein, welches<br />

als all dieses hier erscheint, todlos, wandellos und ewiglich. Das unbewegte<br />

Bewusstsein bleibt immer – ganz gleich was für Ideen in ihm hier und da<br />

auftauchen. Was ist Wahrheit und was ist falsch? Lasst uns daher die Körper,<br />

Handlungen, Sorgen oder Vergnügen so erfahren, wann und wie sie auftau-<br />

672


VI.2:144<br />

chen, oder lasst uns all dies aufgeben. In all dem liegt überhaupt kein Sinn.<br />

Lasst es doch „so“ oder „so“ oder sogar überhaupt nicht sein – gebt diese<br />

Täuschungen auf und seid erleuchtet.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Alles, was existiert, und alles, was nicht existiert, ist Traumerlebnissen<br />

gleich. Da dies die Wahrheit ist – was ist dann Bindung und wer ist befreit?<br />

Die Wolkenformationen am Himmel zeigen unablässig sich wandelnde Gestaltungen<br />

und Muster. Auf dieselbe Weise wandelt sich auch diese Welterscheinung<br />

ständig. Aufgrund von Unwissenheit erscheint sie als solide und<br />

unveränderlich. Es gibt in diesem unendlichen Raum zahllose Welten, so wie<br />

wir hier unsere eigene Welt haben; die Welt der einen Person kann nicht von<br />

einem anderen erfahren werden. Die Maßstäbe und Erfahrungen von Fröschen,<br />

die in einem Brunnen, einem See oder im Meer leben, unterscheiden<br />

sich voneinander. Sie haben nicht dieselbe Erkenntnis. Leute, die gemeinsam<br />

in einem Haus schlafen, erfahren unterschiedliche Träume, in denen sie das<br />

Leben sozusagen in verschiedenen Welten erleben. Auf dieselbe Weise erfahren<br />

die Menschen im selben (Welt)Raum verschiedene Welten, während<br />

andere vielleicht gar keine erfahren. All dies ist nichts als das mysteriöse und<br />

tatkräftige Wirken des unendlichen Bewusstseins.<br />

Das Bewusstsein besitzt die eingeborene Fähigkeit, an etwas festzuhalten.<br />

Eine so festgehaltene Idee wird saæskāra genannt. Wenn jedoch realisiert<br />

wird, dass die Idee nur im Bewusstsein reflektiert ist, sieht man, dass es kein<br />

saæskāra unabhängig vom Bewusstsein gibt. Im Traum gibt es keine vorherige<br />

Erfahrung, sondern nur die Erfahrung der Objekte, wie sie zur Zeit ihrer<br />

Erfahrung erlebt werden. Man mag sogar im Traum den eigenen Tod wie auch<br />

Objekte erfahren, die wie zuvor gesehene erscheinen.<br />

Diese Schöpfung war nur das Spiegelbild im unteilbaren Bewusstsein ganz<br />

am Anfang. Folglich war es von diesem Bewusstsein nicht verschieden.<br />

Brahman (das unendliche Bewusstsein) allein erstrahlt als diese Welt, welche<br />

nicht etwas Neues ist. Die Ursache selbst ist die Wirkung. Die Ursache existierte<br />

vor der Wirkung und wird auch nach dem Aufhören der Wirkung noch<br />

da sein. Da die Ursache „wirksam tätig“ (saæyak karoti) ist im Hervorbringen<br />

der Wirkung, ist sie selbst ein saæskāra.<br />

Das, was vor dem Auftauchen des Traums existierte, aber als das erstrahlt,<br />

was zuvor gesehen wurde, wird als saæskāra bezeichnet. Es gibt keinen anderen<br />

externen Faktor ausser saæskāra (üblicherweise übersetzt mit „latente<br />

Eindrücke aufgrund vergangener Erfahrungen und Handlungen“). Sichtbare<br />

und unsichtbare Dinge existieren im Bewusstsein, das in seinem eigenen<br />

Licht leuchtet und alle diese Dinge erfährt, als wären sie bereits einmal gesehen<br />

worden. Im Traum tauchen die im Wachzustand erzeugten saæskāras<br />

auf. Aber im Wachzustand selbst werden sie dann neu erzeugt. Diejenigen,<br />

die die Wahrheit kennen, erklären, dass sie in einem Zustand erzeugt wurden,<br />

der wohl als der Wachzustand erscheint, dies aber tatsächlich nicht ist. So<br />

673


wie in der Luft spontan Bewegung entsteht, so entstehen auch im Bewusstsein<br />

Ideen – es ist nicht nötig, dass saæskāras sie erzeugen. Sobald die Erfahrung<br />

von tausenden von Dingen im Bewusstsein auftaucht, wird dies als die<br />

Schöpfung bezeichnet. Und wenn die Erfahrung von diesen tausenden von<br />

Dingen im Bewusstsein aufhört, wird dies als die kosmische Auflösung bezeichnet.<br />

Auf diese Weise bringt das reine Bewusstsein (cidākāÁa) diese Vielfalt<br />

mit all ihren Namen und Formen ins Dasein, ohne je seine Unteilbarkeit<br />

aufzugeben– so wie du in deinem Traum eine Welt erschaffst.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Die Wahrnehmung oder die Erfahrung von „der Welt“ existiert innerhalb<br />

des atomischen Partikels des unendlichen Bewusstseins. So wie die Reflexion<br />

in einem Spiegel nur der Spiegel ist, so ist sie auch nicht verschieden vom<br />

unendlichen Bewusstsein. Dieses unendliche Bewusstsein ist anfangslos und<br />

endlos – das allein ist die sogenannte Schöpfung. Wo immer dieses Bewusstsein<br />

erstrahlt, existiert auch diese Schöpfung, die davon so wenig verschieden<br />

ist, wie ein Körper nicht von den Gliedern verschieden ist. Du und ich sind<br />

Bewusstsein, die gesamte Welt ist Bewusstsein – durch diese Realisation wird<br />

die Schöpfung als integraler Teil des Bewusstseins gesehen und ist selbst<br />

folglich unerschaffen. Folglich bin ich dieses atomische Partikel des Bewusstseins<br />

und als solches unendlich und allgegenwärtig. Daher sehe ich alles, wo<br />

immer ich mich auch befinde, von eben jenem Ort aus. Ich bin ein Partikel des<br />

Bewusstseins, aber eins mit dem unendlichen Bewusstsein aufgrund der<br />

Verwirklichung dieser Wahrheit – so wie Wasser dasselbe wie Wasser ist.<br />

Durch Eintreten in das „ojas“ erfuhr ich daher die drei Welten. All dieses<br />

geschah innerhalb, und innerhalb von dem sah ich auch die drei Welten –<br />

nicht außerhalb. Ob man dies nun Traum oder Wachen nennt, innen oder<br />

außen – all dies befindet sich innerhalb des unendlichen Bewusstseins.<br />

DER JÄGER fragte:<br />

Wenn diese Schöpfung ursachelos ist, wie wird sie dann? Wenn sie eine Ursache<br />

hat, was ist die Ursache der Traumschöpfung?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Am Anfang hatte die Schöpfung überhaupt keine Ursache. Da die Objekte<br />

dieser Schöpfung keine Ursache kannten, gab es auch keine widersprüchliche<br />

Verschiedenheit von Objekten. Das eine absolute Brahman allein strahlte als<br />

all dies – es wird durch Worte wie „Schöpfung“ usw. bezeichnet. Diese<br />

ursachelose Schöpfung ist Brahman, aber sie erscheint als Teil von etwas, was<br />

keine Teile hat, als etwas Geteiltes im Unteilbaren, als Form im Formlosen.<br />

Weil sie reines Bewusstsein ist, scheint sie verschiedene Formen anzunehmen<br />

wie die bewegten und die unbewegten Objekte. Und als Götter und Weise<br />

erschafft und erhält sie eine ganze Weltordnung mit all ihren Geboten und<br />

Verboten. Existenz, Nicht-Existenz, Grobes und Subtiles usw. berühren in gar<br />

keiner Weise das allgegenwärtige Bewusstsein.<br />

674


Von da an jedoch entstanden keine Wirkungen mehr ohne eine Ursache. Die<br />

Weltordnung und ihr Herr (Brahman) wirken aufeinander so wie ein Arm<br />

den anderen zurückhält, obgleich beide derselben Person gehören.<br />

Diese Schöpfung entstand also ohne Wunsch und ohne psychologische Verursachung.<br />

Die Weltordnung (niyati) existiert innerhalb von Brahman –<br />

Brahman existiert nicht ohne niyati. Daher hat diese Schöpfung eine Ursache,<br />

jedoch nur in Beziehung zu demjenigen, dessen Schöpfung sie ist und so<br />

lange die Schöpfung in Beziehung zu diesem andauert. Der Unwissende<br />

glaubt, dass Brahman als diese Schöpfung ohne eine Ursache erstrahlt oder<br />

erscheint; und es ist auch der Unwissende, der in diesem Netz von Ursache-<br />

Wirkung-Beziehungen oder der irrigen Idee, dass Kausalität ein unverletzbares<br />

Gesetz sei, gefangen ist. Die Schöpfung findet als zufälliges Ereignis statt –<br />

die reife Kokosnuss fällt in demselben Moment, in dem eine Krähe auf der<br />

Palme landet. Niyati bestimmt dann, „dies ist dies“ und „das ist das“.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Der jīva kennt und erfährt die äußere Welt mit den äußeren Sinnen und die<br />

innere Traumwelt mit den inneren Sinnen. Sobald die Sinne mit den Erfahrungen<br />

der äußeren Welt beschäftigt sind, wird das Feld der inneren Ideenhaftigkeit<br />

vage und undeutlich. Wenden sich die Sinne jedoch nach innen,<br />

dann erfährt der jīva die Welt in sich mit der größten Klarheit. In dieser Welterscheinung<br />

gibt es zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Widersprüche – alles<br />

ist so, wie man es sieht. Wenn die Augen daher nach außen gerichtet sind,<br />

erfährt der jīva die Welt als wäre sie außerhalb im unendlichen Bewusstsein.<br />

Jīva nennt man das Aggregat der Sinne des Hörens, Berührens (Haut), Sehens<br />

(Augen), Geruches (Nase), Geschmackes (Zunge) und Wunsches. Der jīva<br />

selbst ist reines Bewusstsein, das mit Lebenskraft ausgestattet ist. Dieser jīva<br />

existiert daher in allem überall als alle Dinge und erfährt deshalb alle Dinge<br />

überall.<br />

Wenn der jīva („ojas“ oder die vitale Essenz) mit „Schleim“ (Ále«ma oder<br />

kapha, einer der drei Körpersäfte, die die vitale Essenz des Körpers ausmachen)<br />

angefüllt ist, sieht er deren Wirkungen sofort. Er „sieht“, wie er sich<br />

selbst aus dem Milchozean erhebt; er sieht den Mond im Himmel schweben;<br />

er sieht die Seen und Lotosse, Gärten und Blumen, Feiern und Feste, auf denen<br />

die Frauen singen und tanzen, Festessen mit vielen Gerichten und Getränken,<br />

Flüsse, die in den Ozean fließen, riesige, weißgestrichene Paläste,<br />

Felder bedeckt mit frischem Schnee, Parks mit darin ruhenden Rehen sowie<br />

Bergketten.<br />

Ist der jīva dann von „Galle“ (pitta, ein weiterer Körpersaft) erfüllt, erfährt<br />

er ihre Wirkungen auf der Stelle. Er „sieht“ dann wunderschöne Flammen, die<br />

ein Schwitzen der Nerven erzeugen und schwarzen Rauch in den Himmel<br />

ausstoßen, der diesen verfinstert; er sieht Sonnen, die blendend in ihrer<br />

Strahlkraft und glühend in ihrer Hitze sind; er sieht Ozeane und den Nebel,<br />

der ihnen entsteigt; er sieht unpassierbare Wälder, Luftspiegelungen mit<br />

darin schwimmenden Schwänen; er sieht sich selbst voll Angst und bedeckt<br />

VI.2:145<br />

675


mit heißem Staub die Straßen entlang rennen; er sieht, wie die Erde durch<br />

Hitze und Trockenheit ausdörrt. Was auch immer die Augen sehen – sie sehen<br />

nur Feuer; sogar die Wolken regnen Feuer und alles erstrahlt aufgrund dieses<br />

allgegenwärtigen Feuers.<br />

Wenn der jīva mit „Wind“ (vāta, ein weiterer Körpersaft) erfüllt ist, erfährt<br />

er die folgenden Wirkungen: Er sieht die Welt wie neu, er sieht sich selbst<br />

und sogar die Felsen und Berge umherfliegen, alles dreht sich und rotiert; er<br />

sieht fliegende Engel und Himmelsbewohner; die Erde und alles darauf und<br />

darin bebt; er sieht sich selbst, wie er in einen toten Brunnen fällt oder in<br />

eine schreckliche Notlage gerät oder in gefährlicher Lage zuoberst auf einem<br />

riesigen Baum oder Berggipfel.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Wenn der jīva mit vāta, pitta und Ále«ma angefüllt ist (Wind, Galle und<br />

Schleim), gerät er unter den Einfluss des Windes und erfährt Qualen. Er sieht<br />

ein Niederstürzen von Bergen und Felsen und hört schreckenerregende Laute,<br />

die durch das Umherwirbeln der Bäume in den Eingeweiden der Erde<br />

entstehen. Ganze Urwälder mitsamt den darin lebenden Tieren werden<br />

umhergeschleudert. Alle Bäume brennen und aus den Berghöhlen hallen die<br />

Geräusche der Brände. Er beobachtet, wie die Berge zusammenstoßen. Er<br />

sieht, wie die Ozeane aufsteigen, um den gesamten Himmel zu erfüllen und<br />

ganze Wälder und sogar Wolken fortgetragen und in die Regionen von<br />

Brahmā dem Schöpfer emporgehoben werden. Der ganze Himmel scheint<br />

aufgrund all dieses Treibens und Reibens darin völlig rein und leergefegt zu<br />

sein. Die drei Welten scheinen mit den Schlachtrufen von Soldaten und Kriegern<br />

erfüllt zu sein.<br />

Wenn der jīva dann durch diesen furchterregenden Anblick entsetzt und<br />

erregt ist, verliert er das Bewusstsein. Wie ein in der Erde begrabener Wurm,<br />

wie ein in einem Stein verborgener Frosch, wie ein Fötus in der Gebärmutter,<br />

wie der Same innerhalb der Frucht, wie der noch ungeborene Keimling des<br />

Samens, wie ein Atom in einem Molekül und wie das noch nicht herausgehauene<br />

Bildnis im Marmorblock ruht er dann in sich selbst – ungestört von<br />

der Bewegung des prāïa, da es an seinem Ruheort keinerlei „Löcher“ oder<br />

Ausgänge gibt. Er tritt in den Tiefschlaf ein, der wie das Schlafen im Innern<br />

eines Felsens oder toten Brunnens ist.<br />

Sobald mentale Bemühung dann eine Öffnung in diesen Ruheplatz schlägt,<br />

erlangt er Wissen über die Welt der Träume, da er durch die Bewegung der<br />

Lebenskraft oder des prāïa ihrer gewahr geworden ist. Sobald diese Lebenskraft<br />

sich von einem nā¬i (Nervenkanal) zum anderen bewegt, entsteht eine<br />

Vision, wie wenn es von Bergen regnet. Falls es zuviel von dieser durch vāta,<br />

pitta und Ále«ma verursachten Bewegung gibt, treten zahllose solche Erfahrungen<br />

auf. Ist die Bewegung geringer, sind die Erfahrungen geringer.<br />

Was auch immer der jīva aufgrund von vāta, pitta und Ále«ma in sich selbst<br />

erfährt (im Traum usw.), erfährt er auch außen, wo dann seine Handlungsor-<br />

676


gane (Arme, Beine usw.) angemessen funktionieren. Wenn er im Innern und<br />

im Außen gestört oder beunruhigt ist, erfährt der jīva wenig Unruhe, sofern<br />

vāta, pitta und kapha (Ále«ma) sich nur leicht bewegen, und er erfährt einen<br />

Zustand des Gleichgewichts, sofern sie sich im Gleichgewicht befinden. Der<br />

jīva erfährt die folgenden Dinge im Außen, sobald die drei Körpersäfte gestört<br />

oder erregt sind: Brennen, Ertrinken, Fliegen in der Luft, Ruhen auf Bergen<br />

und Felsen, die Hölle, Aufsteigen in den und Niederfallen aus dem Himmel,<br />

Halluzinationen wie Ertrinken auf einem Spielfeld, Sonnenschein um Mitternacht,<br />

eine Perversion des Verstandes, die darin besteht, dass Vertraute als<br />

Fremde und Feinde als Freunde erscheinen. Bei geschlossenen Augen wird all<br />

dies innerhalb von einem selbst wahrgenommen, während es bei offenen<br />

Augen im Außen gesehen wird. Alle diese Illusionen aber werden durch das<br />

gestörte Gleichgewicht der drei Körpersäfte erzeugt. Wenn diese sich im<br />

Zustand des Gleichgewichts befinden, sieht der in ihm ruhende jīva die ganze<br />

Welt so, wie sie wirklich IST, d.h. als nicht verschieden von Brahman.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Während ich mich im „ojas“ der anderen Person befand, trafen plötzlich die<br />

Vorboten der kosmischen Auflösung ein. Der Himmel begann Berge zu regnen.<br />

Ich sah dies alles, während ich innerhalb des „ojas“ der anderen Person<br />

saß. Tatsächlich wurde diese Illusion von Bergen, die aus einem finsteren<br />

Himmel herabregneten, durch Teile der Nahrung, die in den Kanälen ihres<br />

Körpers kreisten, hervorgerufen; diese Finsternis war die Finsternis ihres<br />

eigenen, tiefen Schlafes. Auch ich fiel in den Tiefschlaf.<br />

Als ich aus dem Schlaf erwachte, erfuhr ich den Traumzustand. Innerhalb<br />

desselben „ojas“ erblickte ich einen mächtigen Ozean, der mir wie ich selbst<br />

vorkam. Was auch immer in diesem „ojas“ erschien, welches das Feld der<br />

Erfahrung war, sah ich ohne Verzerrung oder Entstellung, da mein Bewusstsein<br />

unbewegt und stetig war. Bewusstsein breitet sich überall und rundherum<br />

aus; in ihm taucht die Welterscheinung auf; die Welterscheinung kommt<br />

aus dem Tiefschlaf so wie ein Kind aus dem Schoss der Mutter kommt.<br />

DER JÄGER sprach:<br />

Du sagst, dass die Welterscheinung aus dem Tiefschlaf kommt. Bitte sage<br />

mir, was man im Tiefschlaf erfährt.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Dualistische Ausdrucksweisen wie „wurde geboren“, „erscheint“ und<br />

„taucht als die Welt auf“ sind nur Worte und gänzlich bedeutungslos. Ich<br />

werde dir nun sagen, was „geboren“ (jāta) wirklich bedeutet. Die Essenz<br />

dieses Ausdrucks besteht in der Bedeutung von „ins Sein treten“, wobei sich<br />

dieses „Sein“ auf die ewig existierende Wirklichkeit bezieht. Auch das Wort<br />

„Schöpfung“ (sarga) hat dieselbe Bedeutung und bezieht sich auf „Existenz“<br />

(die Struktur der Wörter „jāyate“ und „sarga“ wird hier entsprechend der<br />

Sanskrit-Grammatik erläutert. „Jani“ ist gleichzusetzen mit „prādurbhāva“,<br />

wobei der wichtige Teil des letzten Worts „bhÆ÷“ ist, was „Sein“ bedeutet).<br />

VI.2:146<br />

677


VI.2:147<br />

Für uns Erleuchtete gibt es keine Schöpfung, keinen Tod und kein Aufhören<br />

von etwas – alles ist auf ewig ungeboren und friedvoll. Brahman ist reines<br />

Sein. Auch die Welt ist reines Sein. Wen können dann Gebote und Verbote<br />

betreffen? Die Māyā genannte illusorische Macht allein ist das Thema der<br />

Diskussion und Argumentation um das „es ist“ und „es ist nicht“ herum. Dispute<br />

dieser Art werden daher von den unwissenden Leuten auf Brahman<br />

oder das unendliche Bewusstsein ausgedehnt.<br />

Für diejenigen, die die Wahrheit oder den höchsten Zustand kennen, existieren<br />

die Zustände von Wachen, Träumen und Schlafen überhaupt nicht. Was<br />

ist, ist wie es ist. Die Traumwelt wie auch überhaupt die Welt, die man in der<br />

eigenen Einbildung sieht, ist nicht wirklich, obwohl sie für die Zeit ihres Dasein<br />

als solche erfahren wird. Sie existierte auch zu Beginn dieser Weltschöpfung<br />

nicht oder trat irgendwie ins Dasein. Wenn somit die Welt als reines<br />

Bewusstsein realisiert wird, ist sie kein Objekt der Wahrnehmung; deshalb<br />

gibt es weder ein Subjekt oder einen Beobachter, noch eine Erfahrung oder<br />

einen Erfahrenden.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Als ich aus dem Tiefschlaf erwachte, entstand diese Welt in meinem Traum<br />

wie aus einem Ozean, wie eine Statue aus einem Stein, wie Blüten auf einem<br />

Baum, wie die Erinnerung im Gemüt und wie die Wellen auf dem Ozean. Es<br />

war, als fielen sie aus dem Himmel, als stiegen sie aus dem Erdinnern, als<br />

erblühten sie im Herzen, als würden sie wie Weizen dem Acker entspriessen,<br />

als wäre der Vorhang, der sie verhüllte, gelüftet worden, als kämen sie aus<br />

einem Tempel. Von wo ist diese Welt gekommen? Niemand weiß es. Gewiss<br />

ist sie das im Steinblock namens unendliches Bewusstsein verborgene Bildnis.<br />

Sie ist wie die eingebildete Stadt bestehend aus Mauern, die reiner Raum<br />

oder Leere sind. Sie ist das Kunststück des Taschenspielers namens Unwissenheit.<br />

Obgleich sie wie eine solide Realität erscheint, ist sie in ihrem Wesen<br />

ohne Zeit und Raum. Obgleich sie vielfältig zu sein scheint, ist sie nondual -<br />

vielfältig und ein Nichts zu ein und derselben Zeit. Gewiss kann sie nur mit<br />

einem Schloss am Himmel verglichen werden, da sie sogar im Wachzustand<br />

gesehen und erfahren wird.<br />

Obwohl sie niemals erschaffen wurde, existiert sie so, als wäre sie erschaffen<br />

worden. Sie ist reines Bewusstsein. Sie scheint die Eigenschaften von Zeit,<br />

Raum, Materie, Aktivität, Schöpfung und Zerstörung zu besitzen. Sie verfügt<br />

über Götter, Dämonen, Menschen und vielfältige andere Formen von Leben.<br />

Es gibt in ihr Flüsse, Berge, Wälder, Himmel und Sterne.<br />

Ich betrachtete dieses „Feld der Beobachtung“. Gleichzeitig gewahrte ich da<br />

zusammen mit den Häusern all meiner Verwandten ein Haus, welches ich<br />

schon zuvor gesehen hatte, und dazu auch noch alles andere, wie es früher<br />

gewesen war. All dies war durch die latenten vāsanās oder psychologischen<br />

Neigungen in das Feld der Beobachtung hineingezogen worden. Aufgrund der<br />

vāsanā begann ich sofort, meine Verwandten usw. zu begrüßen und zu um-<br />

678


armen, denn ich hatte vorübergehend die Erkenntnis ihrer illusorischen<br />

Existenz verloren.<br />

So wie ein Spiegel alle vor ihn gestellten Objekte reflektiert, so nimmt das<br />

Bewusstsein die Form dessen an, was ihm dargeboten wird. Hat man jedoch<br />

realisiert, dass alles das reine, unendliche Bewusstsein ist, dann ist man von<br />

der anscheinenden Dualität nicht länger betroffen. Man verbleibt frei, allein<br />

und unberührt. Wer niemals die Erkenntnis des Einsseins verliert, wird von<br />

diesem Kobold namens „Wahrnehmung von Vielfalt oder Getrenntheit“ nicht<br />

mehr verfolgt. Diejenigen, die durch die Gemeinschaft der Heiligen und das<br />

Studiums der Schriften diese Erkenntnis gewonnen haben, verlieren sie nicht<br />

wieder. Damals jedoch war mein Verständnis noch nicht klar und ungetrübt,<br />

und folglich wurde ich von den Konzepten von Verwandtschaft u.ä. heimgesucht.<br />

Heute jedoch vermag nichts mehr in der Welt mein Verstehen zu erschüttern<br />

oder meine Realisation zu umwölken. Auch dein Gemüt, oh Jäger,<br />

ist noch nicht stetig genug, denn du hast noch nicht satsaÇga gehabt, die<br />

Gemeinschaft mit den Heiligen.<br />

DER JÄGER sprach:<br />

Wahr ist dies, oh Weiser. Es ist genau, wie du sagst. Daher gibt es auch, obwohl<br />

ich deinen erleuchtenden Worten gelauscht habe, immer noch Zweifel in<br />

mir: „Kann dies alles wirklich die Wahrheit sein?“ Oh weh, was für eine Tragödie<br />

ist das doch! Sogar wenn diese Unwissenheit ganz offenbar geworden<br />

ist, ist es immer noch schwer, sie loszulassen.<br />

DER JÄGER fragte:<br />

Ich trage einen großen Zweifel in mir, oh Weiser: Wie können Traumobjekte<br />

gleichzeitig als real und irreal betrachtet werden?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Im Traum gibt es den Anschein von Zeit, Raum, Tätigkeit und Materialität.<br />

Dieser Anschein tritt aufgrund der Ideen auf, die rein zufällig (Koinzidenz) im<br />

Bewusstsein auftauchen. Daher erstrahlt dieser Anschein im Traum wie eine<br />

Realität. Halluzinationen, die mit Hilfe von Edelsteinen (Zauberstab?), Mantras<br />

und Drogen erzeugt werden, sind manchmal real und manchmal gänzlich<br />

illusorisch. Wenn man im Traum eine reale Substanzialität erfährt, ist dies<br />

allein dank der Koinzidenz. Wenn eine feste Überzeugung im Bewusstsein<br />

auftaucht, materialisiert sie sich auf diese Weise, weil Bewusstsein diese<br />

Macht der Materialisation besitzt. Wenn diese Materialisation durch eine<br />

andere Macht gemindert werden könnte, wie können wir dann behaupten,<br />

dass die im Bewusstsein auftauchende Idee fest ist?<br />

Es gibt weder innen noch außen eine Materialität ausser der<br />

Materialisierung des „Wunsches“ oder der Idee des unendlichen Bewusstseins.<br />

Sobald die Idee „dies ist ein Traum“ auftaucht, wird dieser Traum zu<br />

einer Realität. Gibt es dann die Idee eines Zweifels, nimmt der Traum die<br />

Gestalt des Zweifels an und wird irreal. Es ist möglich, dass der Träumer beim<br />

Träumen Erfahrungen macht, die mit dem Traum nicht in Zusammenhang<br />

VI.2:148<br />

679


VI.2:149<br />

stehen. Er schreibt diese dennoch dem Traum zu. Daher ist die im Bewusstsein<br />

auftauchende Welterscheinung früher oder später aufgrund schierer<br />

Koinzidenz Wandlungen unterworfen.<br />

Die Idee der Schöpfung kommt ganz am Anfang im Bewusstsein zum Vorschein<br />

und materialisiert sich. Diese Materialisation ist reines Bewusstsein.<br />

Abgesehen davon ist alles andere entweder real oder irreal, geordnet oder<br />

ungeordnet. In den Augen der Unwissenden erscheinen Träume daher<br />

manchmal als wahr und manchmal als unwahr – in den Augen des Erleuchteten<br />

dagegen sind sie weder real noch irreal. Die Welterscheinung ist eine<br />

Erscheinung, die im Bewusstsein auftaucht; hier verbietet allein schon das<br />

Wort „Erscheinung“ alle diese Erscheinung betreffenden ernsthaften Ergründungsversuche.<br />

Man schläft nach dem Traum und man schläft nach dem Wachzustand. Wachen<br />

und Träumen sind folglich nicht verschieden voneinander. Nur das „leblose“<br />

Objekt des Bewusstseins wird als Wachen, Träumen und Schlafen erachtet<br />

– all dies sind nur Worte ohne reale Bedeutung. In diesem Lang-Traum<br />

gibt es weder Ordnung noch Unordnung. Was auch immer im Traum auftaucht,<br />

ist so – wie die Bewegung in der Luft, denn in Abwesenheit des Verursachungsprinzips<br />

wird die Ordnung irrelevant. Ebenso ist auch die gesamte<br />

Schöpfung ohne definitive Verursachung – was ein Objekt zu sein scheint, das<br />

ist es auch, und eben darin besteht die Weltordnung. Träume sind manchmal<br />

real und manchmal irreal und daher keinem festen Prinzip oder Ordnung<br />

unterworfen. Sie sind pure Koinzidenz. Die Visionen, die aufgrund von Magie,<br />

Mantras oder Drogen auftauchen, existieren ebenso im Wachzustand. Das<br />

unkonditionierte, reine Bewusstsein wird nicht durch die Wach-, Traum- und<br />

Tiefschlafzustände konditioniert und ist daher stets als einziges real.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Als ich, während ich mich im Herzen der anderen Person befand, meine eigenen<br />

Verwandten usw. erblickte, vergaß ich für einen Moment, dass diese<br />

nur die Erzeugnisse meiner eigenen Ideen waren. Ich lebte mit ihnen dann<br />

sechzehn Jahre. Eines Tages kam ein großer Asket zu meinem Haus. Ich diente<br />

ihm mit Liebe und Ergebenheit. Ich ergriff die Gelegenheit, ihm die folgende<br />

Frage zu stellen: „In dieser Welt erfahren die Menschen, wie man sagt, die<br />

guten und bösen Resultate ihrer guten und bösen Taten. Ist dies in allen Fällen<br />

die Wahrheit?“<br />

Der Asket zeigte sich von dieser Frage überrascht.<br />

DER ASKET erwiderte:<br />

Bitte sage mir, was ist in dir, was das Gute vom Bösen unterscheidet? Wer<br />

bist du, wo bist du, wer bin ich, was ist diese Welt? All dies ist nichts als ein<br />

Traum. Ich bin dein Traumobjekt und du bist mein Traumobjekt. Das Objekt<br />

besitzt in Wahrheit keinerlei Gestalt. Wenn das Bewusstsein sich selbst jedoch<br />

eine Gestalt zuschreibt, nimmt es diese auch an. Die Idee: „all dies hat<br />

680


eine Ursache “, lässt die kausalen Beziehungen auftauchen; die Idee: „es gibt<br />

keine Ursachen“, sieht keine Kausalität.<br />

Wir alle leben im Herzen eines makrokosmischen Wesens, welches von uns<br />

allen als ein solches betrachtet wird. Ebenso wird es weitere makrokosmische<br />

Wesen für andere geben. Dieses makrokosmische Wesen ist die Ursache<br />

der Erfahrungen von Vergnügen und Schmerzen sowie für die unterschiedlichen<br />

Arten der Tätigkeiten. Sobald das „ojas“ dieses makrokosmischen Wesens<br />

gestört ist, gerät es in Erregung. Die Wirkung davon wird von uns allen,<br />

die sich in seinem Herzen befinden, erfahren. Dann erfahren wir Naturkatastrophen,<br />

die in dem Moment aufhören, in dem dieses Herz den Gleichmut<br />

wiedererlangt. Dieses makrokosmische Wesen ist daher die Wirklichkeit<br />

dieser speziellen Schöpfung. Wenn manche Menschen zufällig böse Taten<br />

begehen, sind wir alle von den Folgen betroffen.<br />

Das Bewusstsein erlegt demjenigen, dessen Handlungen aus seiner eigenen<br />

persönlichen Wahrnehmung („ich tat dies“) entstanden sind, die Folgen dieser<br />

Handlungen auf. Ist das Bewusstsein von einer solchen Wahrnehmung<br />

befreit, haben die Handlungen keine Früchte mehr. Welche Idee wo auch<br />

immer und in welchem Ausmaß auftaucht, diese trägt dann Früchte, ob da<br />

nun eine korrespondierende Ursache war oder nicht. Wie im Traum wird die<br />

Wirkung einer Handlung nicht durch eine endgültige Ursache bestimmt.<br />

Manchmal hat die Traumerfahrung eine Ursache – manchmal wiederum<br />

nicht. All dies sind einfach nur Zufälle. Die Erfahrung des Wachzustandes<br />

scheint einer definitiven Kausalität zu unterliegen – in Wahrheit jedoch ist<br />

schon diese Idee ein Traum und nichts anderes. All dies ist eine bloße Erscheinung<br />

im unendlichen Bewusstsein.<br />

Was ist die Ursache der Unwissenheit, der Schöpfung, der Schöpfung von<br />

Brahmā dem Schöpfer? Was ist die ursprüngliche Ursache von Feuer, Luft,<br />

Wasser oder Raum? Weshalb sterben die Leute und erlangen einen subtilen<br />

Leib? All dies hat überhaupt keine Ursache – all dies geschieht seit Urzeiten.<br />

Nach einem gewissen Zeitraum haben diese Ideen oder Erscheinungsformen<br />

eine Materialität angenommen. Alle jemals im Bewusstsein aufgetauchten<br />

Ideen bestehen bis heute als solche fort. Jedoch kann das Bewusstsein dies<br />

durch neue Bemühung verändern.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Nachdem ich so von dem Asketen unterwiesen worden war, war ich unverzüglich<br />

erleuchtet. Ich wollte mit ihm zusammenbleiben. Auf meine Bitte hin<br />

begann er dann, bei mir zu wohnen. Dieser Asket sitzt jetzt direkt neben dir.<br />

DER JÄGER war überrascht und sprach:<br />

Es ist wunderbar und seltsam, oh Weiser, dass das, was als Traum angesehen<br />

wurde, sich im Wachzustand materialisiert zu haben scheint. Wie kommt<br />

es, dass dieser heilige Mann, der dir im Traum erschienen ist, nun sogar im<br />

Wachzustand Wirklichkeit ist?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

VI.2:150<br />

681


Übereile nichts. Ich werde dir alles erklären. Nachdem ich die Ausführungen<br />

dieses heiligen Mannes angehört hatte, überlegte ich folgendermaßen:<br />

„Oh weh, aufgrund meines Verlangens nach Sinnesvergnügen und nach den<br />

Objekten dieses Vergnügens bin ich von meinem Weg abgekommen, obgleich<br />

ich doch ein weiser Mann war. Obwohl die Idee „ich bin dies“ illusorisch und<br />

unwirklich ist, lässt sie doch tausende von seltsamen Begebenheiten entstehen.<br />

Auch wenn ich all dies als unwirklich erachte und mir sage: „ich bin<br />

nicht“, IST all dieses doch immer noch. Was soll ich nun tun? Ich erblicke in<br />

mir den Samen der Getrenntheit – sofort werde ich diesem entsagen! Lass<br />

diese Illusion oder Unwissenheit bleiben – da es nur eine nichtige Erscheinung<br />

ist, habe ich nichts damit zu tun. Jetzt habe ich die Täuschung abgewiesen.<br />

Sogar der Weise, der mich gelehrt hat, ist nur Illusion. Ich bin das unendliche<br />

und absolute Brahman, und das ist er auch; alle relativen Formen sind<br />

nur wie vorüberziehende Wolken.“<br />

Nachdem ich zu dieser Erkenntnis gekommen war, sprach ich zu dem Asketen:<br />

„Oh Weiser, ich werde dich nun verlassen, um nach meinem eigenen und<br />

nach dem Körper, den ich zu ergründen begonnen hatte, zu schauen.“ Als er<br />

dies vernommen hatte, begann er zu lächeln: „Wo sind denn diese Körper? Sie<br />

sind jetzt weit, weit weg. Falls du dir darüber jedoch selbst Gewissheit verschaffen<br />

möchtest, dann geh nur.“ Ich bat ihn: „Bitte bleibe hier, bis ich zurückkehre.“<br />

Dann bestieg ich ein ätherisches Fahrzeug und flog sehr weit und<br />

für eine sehr lange Zeit. Und trotzdem vermochte ich keinerlei Ausgang aus<br />

dem Herzen der Person, in der ich mich befand, zu entdecken. Ich war niedergeschlagen.<br />

Ich erkannte, dass ich an dieses Haus gebunden war. Ich kehrte<br />

daher zurück und fragte den Asketen: „Bitte kläre mich darüber auf, was all<br />

dies hier ist. Wo sind der Körper, in den ich eingetreten war und derjenige,<br />

der der meine war? Wie kommt es, dass ich keinen Ausgang finden konnte?“<br />

Der Asket erwiderte: „Du wirst alles verstehen, sobald du es im eigenen inneren<br />

Licht erblickst. Du bist nicht diese unbedeutende Persönlichkeit – du<br />

bist die makrokosmische Person selbst. Irgendwann hast du dich dazu entschlossen,<br />

das Herz eines Wesens zu betreten, um einen Traum zu erfahren.<br />

Das, was du betreten hast, ist diese Schöpfung. Während du in diesem Körper<br />

weiterhin geträumt hast, entstand ein großes Feuer, das den Wald innerhalb<br />

des Körpers, den du betreten hast, verzehrte. Dieses Feuer hat sowohl deinen<br />

wie auch den Körper der Person, deren Herz du betreten hast, vernichtet.“<br />

(Als Antwort auf die Frage des Jägers erwiderte der Weise:) Die Ursache des<br />

Feuers war nur die Bewegung der Gedanken im Bewusstsein – so wie die<br />

Ursache für die Erscheinung der Welt die Bewegung von Gedanken im unendlichen<br />

Bewusstsein und die Bewegung von Gedanken im Bewusstsein von<br />

Brahmā dem Schöpfer ist.<br />

DER ASKET fuhr fort:<br />

Als dann während eures Schlafes eure beiden Körper vom großen Feuer<br />

zerstört wurden, hast du weiterhin als bloßes Bewusstsein vibriert. Da der<br />

Körper zum „ojas“ gehört und die beiden Körper zusammen mit den „ojas“<br />

VI.2:151,<br />

152<br />

682


VI.2:153,<br />

154<br />

zerstört worden sind, konntest du keinen Ausgang mehr finden. Da du die<br />

beiden Körper nicht finden konntest, existierst du nun in dieser „Welt“. So hat<br />

sich also dein Traum zu einer Realität des Wachzustandes materialisiert. Wir<br />

alle hier sind deine Traumobjekte. Du selbst bist unser Traumobjekt. Das, in<br />

dem all dies geschieht, ist das reine Bewusstsein (cidākāÁa), welches immer<br />

und überall existiert. Du warst auch früher ein Traumobjekt. Da du jedoch die<br />

Überzeugung gewonnen hattest, das dies die Welt des Wachzustandes sei,<br />

wurdest du zu einem Familienmann mit einer Familie und Verwandten usw.<br />

Damit habe ich dir nun alles mitgeteilt, was geschehen ist.<br />

DER WEISE sprach:<br />

Wenn dies die Natur des Traumes ist, dann kommt er mir aber sehr real vor.<br />

DER ASKET erwiderte:<br />

Wenn das Reale ins Dasein zu treten vermag, ist es auch möglich, anderes<br />

für real zu halten. Wenn die Realität des ersteren zweifelhaft ist, wie kann<br />

man die Realität des letzteren bestätigen! Andererseits ist sogar die ursprüngliche<br />

Schöpfung wie ein Traum. Sie ist nur eine illusorische Erscheinung.<br />

Zwar enthält sie keine Erde mit allem darin, erscheint aber so, als hätte<br />

sie eine Erde usw. Oh Lehrer des Jägers! Die ursprüngliche traumartige<br />

Schöpfung der Welt und auch der Traum, den wir jetzt erfahren, sind beide<br />

irreal. Der gegenwärtige Traum enthält Objekte, die früher gesehen worden<br />

sind, und die traumartige Schöpfung taucht im Raum auf, als wäre sie zuvor<br />

schon gesehen worden. Weshalb sagst du daher so zögernd und zweifelnd:<br />

„Der Traum kommt mir real vor“? Wenn du diese Welt doch als etwas Reales<br />

erfährst, wie entstehen Zweifel bezüglich ihrer Realität?“<br />

DER WEISE sprach (zum Jäger):<br />

Ich unterbrach die Erklärungen des Asketen und fragte ihn: „Wie und weshalb<br />

beziehst du dich auf mich als den Lehrer des Jägers?“<br />

DER ASKET erwiderte:<br />

Höre, ich werde dir nun erzählen, was in der Zukunft geschehen wird. Ich<br />

bin ein Asket mit einer langen Praxis der Askese. Du bist eine rechtschaffene<br />

Person. Wenn du daher diese Wahrheit hörst, wirst du glücklich sein. Du und<br />

ich – wir werden hier bleiben. Ich werde dich nicht verlassen.<br />

Nach einigen Jahren wird es hier eine große Hungersnot geben. Durch sie<br />

werden alle deine Verwandten umkommen. All die lasterhaften Könige werden<br />

Krieg gegeneinander führen und dabei alles vernichten. Wir selbst werden<br />

jedoch kein Leid empfinden, da wir die Wahrheit kennen und unangehaftet<br />

(frei) sind. Wir werden hier am Fuße eines Baumes weiterleben. Im Verlaufe<br />

der Zeit wird ein sehr schöner Wald heranwachsen. Dieser Wald wird<br />

den Lustgärten gleichen, die es in Fülle in den Himmeln gibt.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Der Asket sagte: „Wir beide werden dann in jenem Wald eine lange Zeit unseren<br />

Askesepraktiken nachgehen. Eines Tages wird ein Jäger auf der Suche<br />

683


nach Wild in den Wald kommen. Diesen wirst du dann mit deinen Geschichten<br />

und Gesprächen erleuchten. Auch er wird der Welt entsagen und sich in<br />

dem nämlichen Wald Askesepraktiken widmen. Er wird dir auf der Suche<br />

nach Selbsterkenntnis Fragen nach den Träumen stellen. Du selber wirst<br />

Gespräche über Selbsterkenntnis mit ihm führen. So wirst du zu seinem Guru,<br />

und das ist der Grund, weshalb ich dich den Guru des Jägers nannte. Ich habe<br />

dir damit alles über mich selbst und dich und deine zukünftigen Erlebnisse<br />

erzählt.“<br />

Ich war erstaunt, all dies zu vernehmen. Der Asket blieb auch weiterhin im<br />

Hause und ich fuhr fort, ihn hingebungsvoll zu verehren und ihm zu dienen.<br />

Ich blieb hier wie ein Berg, und machte verschiedene Erfahrungen. Weder<br />

wünschte ich mir den Tod, noch wünschte ich zu leben. Ich bin was ich bin –<br />

frei von aller mentalen Erregung.<br />

Schließlich begann ich die Natur der objektiven Welt zu erforschen. Ich<br />

fragte mich, was die Ursache dieser Welt ist, was die Welt ist und wer ihrer<br />

gewahr ist. Gewiss existiert nur dieses eine unendliche Bewusstsein. Das<br />

Firmament, die Erde, die Luft und der Raum, die Berge, Flüsse und die Himmelsrichtungen<br />

sind nichts anderes als dasselbe unteilbare (raumartige)<br />

Bewusstsein. Alle diese Dinge existieren als Ideen in diesem Bewusstsein.<br />

Daher gibt es in diesem keinerlei Getrenntheit oder Widersprüchlichkeit.<br />

Weder sind dies hier Berge noch ist dies die Erde noch der Weltraum. Dies ist<br />

ebenfalls kein „ich“. All dieses sind bloße Erscheinungen, die im reinen Bewusstsein<br />

auftauchen.<br />

Was ist die Ursache der Erscheinung dieses Körpers, da doch nichts ohne<br />

Ursache auftauchen kann? Wenn man sagt, dies sei eine Täuschung, worin<br />

besteht dann die Ursache dieser Täuschung? Wer sieht diese Täuschung und<br />

wer denkt darüber nach? Derjenige, in dessen Herzen ich als der Erfahrende<br />

gelebt habe, wurde zusammen mit mir zu Asche verbrannt. Folglich existiere<br />

ich in reinem Bewusstsein, das frei von Tätigkeit, vom Täter und den Instrumenten<br />

des Tuns ist. Was existiert, ist nicht einmal die Erscheinung des unendlichen<br />

Bewusstseins, sondern nur reines Bewusstsein als solches. Wie<br />

kann dieses zu einer Erscheinung werden? Wer ist der Seher dieser Erscheinung?<br />

Ich lebe also in dieser objektiven Welt ohne jede mentale Unruhe; ohne Halt<br />

oder Abhängigkeit und ohne Eitelkeit. Ich tue, was im passenden Moment zu<br />

tun ist, während ich in Wahrheit nichts tue. Was geschieht, geschieht. Der<br />

Himmel, die Erde, der Wind usw. sind nichts als das eine Selbst; sämtliche<br />

Elemente sind der Körper des Bewusstseins. Ich bin im Frieden und frei von<br />

Verboten und Geboten und ohne jede Getrenntheit zwischen innen und außen.<br />

Während ich so lebte, trafst du zufällig auf mich. Daher habe ich dir alles<br />

über Träume, über uns und über diese Schöpfung erzählt. Sei nun mit diesem<br />

Wissen im Frieden. Nirvāïa wird von selbst kommen oder es geschieht gar<br />

nichts.<br />

DER JÄGER sprach:<br />

684


In diesem Fall werden wir wohl alle unwirklich werden!<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Wahr ist, dass alle diese Wesen sich gegenseitig als real ansehen. So wie sie<br />

einander wahrnehmen, so erfahren sie einander auch. Du hast dies alles nun<br />

gehört, ruhst aber immer noch nicht in der Wahrheit. Nur durch beständige<br />

Praxis wird diese Wahrheit vollständig gefestigt.<br />

DER FEUERGOTT sprach:<br />

Nachdem er die Unterweisungen des Weisen angehört hatte, blieb der Jäger<br />

wie ein gemaltes Bild in eben diesem Wald sitzen. Da er sich jedoch nicht mit<br />

der beständigen Praxis der Unterweisungen befasst hatte, war sein Herz noch<br />

nicht im höchsten Zustand verankert. Statt dessen wurde er wie die Schaumkronen<br />

der Wellen auf und ab getragen oder wie auf einem Karussell<br />

umhergedreht. Er fühlte sich hilflos – als würde er von einem Krokodil angegriffen<br />

und wüsste nicht, wie sich verteidigen. Er war voller Zweifel. Ständig<br />

fragte er sich: „Ist dies jetzt nirvāïa?“ oder „vielleicht ist dies gar nicht<br />

nirvāïa – vielleicht ist etwas anderes nirvāïa“. Er dachte: „Die Unterweisung<br />

dieses Weisen ist noch nicht tief in meinem Herzen verwurzelt, weil diese<br />

Welterscheinung in der Unwissenheit aufgetaucht ist. Ich sollte mich daher<br />

von ihr entfernen. Ich sollte durch die Ausübung von Entsagungspraktiken<br />

einen subtilen Leib erlangen und mich damit weit, weit weg an einen Ort<br />

begeben, wo nicht einmal der Raum existiert.“ Damit bewies er, dass er noch<br />

gänzlich unwissend war und die Lehren des Weisen, die nicht assimiliert und<br />

nicht in ihm lebendig wurden, sich für ihn als nutzlos erwiesen.<br />

Er gab die Jagd auf. Vom Weisen begleitet, begann er mit intensiven Bußübungen.<br />

Er nahm die Lebensgewohnheiten der Asketen an und setzte seine<br />

Entsagungspraktiken viele tausend Jahre lang fort. Eines Tages stellte er dem<br />

Weisen die folgende Frage erneut: „Wie kann ich jemals im Selbst ruhen?“<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Die Weisheiten, die ich dir geteilt habe, haben wie schwach glimmendes<br />

Feuer, das schlafend in einem abgestorbenen Baumstumpf wohnt, nur wenig<br />

in deinem Herzen Fuß gefasst. Das Feuer war nicht fähig, die Unwissenheit zu<br />

verbrennen und zu vernichten. Du bist nicht im Höchsten Herrn verankert,<br />

weil du die Unterweisung nicht assimiliert hast und diese nicht lebendig in<br />

dir geworden ist. Wenn du die Unterweisung assimilierst und sie lebendig<br />

wird, wirst du gewiss im Höchsten Herrn ruhen. Ich werde dir nun von den<br />

künftigen Ereignissen erzählen. Höre bitte zu.<br />

Ohne Zweifel verlangst du nach Selbsterkenntnis, aber du hast noch keinen<br />

Halt in vernünftiger Weisheit gefunden. Daher schwingst du wie ein Pendel<br />

hin und her. Du möchtest gern aus dieser Welterscheinung heraus, und zu<br />

diesem Zweck willst du das Ausmaß dieser Welterscheinung kennen. Deshalb<br />

praktizierst du Bußübungen. Du wirst diese Bußübungen noch mehrere<br />

Weltzyklen lang fortsetzen. Dann wird der Höchste Herr vor dir erscheinen,<br />

erfreut von deiner Buße. Du wirst ihn um die folgende Gunst bitten:<br />

VI.2:155<br />

685


„Höchster Herr, ich verstehe, dass dieses ganze Universum der Unwissenheit<br />

entsprungen ist. Ich vermag die reine und transparente Erkenntnis des<br />

Selbst nicht zu erlangen. Was ist das Ende dieser Welterscheinung und was<br />

befindet sich jenseits davon? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, bitte<br />

ich dich, mir die folgenden Gnadenerweise zu schenken:<br />

Veranlasse, dass ich erst dann sterbe, wenn ich dies wünsche. Möge mein<br />

Körper frei von allen Krankheiten sein. Möge mir die Schnelligkeit von<br />

Garu¬a verliehen werden. Möge ich fähig sein, den Raum ohne Hindernis zu<br />

durchqueren. Möge mein Körper eine Meile pro Stunde wachsen, so dass ich<br />

bald größer als diese Welt sein werde. Auf diese Weise werde ich das Ausmaß<br />

dieser Schöpfung ermessen können.“<br />

Der Höchste Herr erwies ihm diese Gnaden und verschwand aus seiner<br />

Sicht.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Nachdem dich der Höchste Herr verlassen haben wird, wirst du deine Bußübungen<br />

fortsetzen. Dein Körper wird zu einem Skelett abmagern, aber dann<br />

aufgrund der Gnade strahlen. Du wirst dich vor mir verbeugen und schon<br />

bald wird dein Körper göttlich werden. Er wird schneller als Garu¬a „umherfliegen“,<br />

ständig an Größe zunehmen und in sich Himmelskörper enthalten. In<br />

diesem ständig größer werdenden Körper wirst du die zahllosen Universen<br />

wie ebenso viele Wellen auf dem Ozean sehen. So wie zu Beginn alle diese<br />

Universen im unendlichen Bewusstsein aufgetaucht sind, so werden zu diesem<br />

Zeitpunkt diese Universen in die Sphäre deines Sichtfeldes gelangen.<br />

Dann wirst du erkennen, wie all dieses in der Sichtweise des Unwissenden<br />

unwirklich und vielfältig, aber für den Erleuchteten real und unteilbar ist.<br />

Du wirst eine sehr, sehr lange Zeit damit verbringen, dem Auftauchen und<br />

Untergehen dieser zahllosen Universen zuzuschauen. Du wirst voll Bewunderung<br />

für diese unendliche Intelligenz sein. Du wirst dir deines eigenen Körpers<br />

bewusst werden und dir sagen: „Was ist dieser jämmerliche Körper<br />

schon – so riesengroß und schwer? Er hat enorme Dimensionen angenommen,<br />

da ich mit ihm den gesamten Raum erfülle. Was soll ich nun damit anfangen?<br />

Ich weiß es selbst nicht! Es kommt mir so vor, als wäre diese Unwissenheit<br />

(und die Welterscheinung) wahrhaftig unermesslich. Ohne eine direkte<br />

Erkenntnis des Brahman kann sie nicht ermessen werden. Ich werde<br />

diesen Körper aufgeben, der völlig nutzlos geworden ist. Dieser mein Körper<br />

ist zwar riesig, aber damit kann ich nicht die Gemeinschaft mit den erleuchteten<br />

Weisen erlangen.“<br />

Nachdem du dich so entschieden hast, wirst du deinen Körper aufgeben.<br />

Dein nur noch mit der Lebenskraft (prāïa) versehener jīva wird noch subtiler<br />

als Luft werden. Der Körper, vom jīva aufgegeben, wird (kleiner geworden)<br />

fallen und durch sein schieres Gewicht und seine Größe die Erde usw. zerschmettern.<br />

Die Göttin namens „Trockenheit“ wird diesen Körper verzehren<br />

686


und so die Erde reinigen. Damit habe ich dir erzählt, was die Zukunft für dich<br />

bereit hält.<br />

DER JÄGER fragte:<br />

Hoher Herr, wie schreckenerregend sind die Qualen, die ich ohne jeden Gewinn<br />

ertragen muss. Gibt es ein Mittel, mit dem dieses Schicksal abgewendet<br />

werden kann?<br />

DER WEISE sprach:<br />

Was unvermeidlich ist, kann von niemandem zu irgendeiner Zeit abgewendet<br />

werden. Keine Mühe ist groß genug, um dies abzuwenden. Der rechte Arm<br />

ist der rechte und der linke der linke – niemand vermag diese Tatsache aufzuheben.<br />

Kopf und Fuß können sich nicht gegenseitig ersetzen. Was ist, ist.<br />

Sogar die Wissenschaft der Astrologie vermag nur das vorherzusagen, was<br />

kommen wird, aber nicht abzuwenden, was unvermeidbar geschehen wird.<br />

Und doch leben die Weisen der Selbsterkenntnis wie im Tiefschlaf in dieser<br />

Welt. Sie erfahren die Ergebnisse der vergangenen Handlungen, erlauben<br />

jedoch dem inneren Bewusstsein nicht, pervertiert zu werden – auch nicht,<br />

wenn der Körper verbrannt wird. Sie überwinden sämtliche karmas.<br />

DER JÄGER fragte: Hoher Herr, bitte teile mir mit, was mit mir danach geschehen<br />

wird.<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Dein jīva wird dann die gesamte Welt so gewahren, wie du die Welt in deinen<br />

Träumen gewahrst. Dann wird er sich selbst für einen König halten. Er<br />

wird glauben: „Ich bin der König Sindhu, der weithin respektiert wird. Mein<br />

Vater hatte sich in den Wald zurückgezogen. Daraufhin wurde ich mit nur<br />

acht Jahren König. Jenseits der Grenzen meines Königreiches gibt es ein anderes,<br />

das von dem mächtigen König VidÆratha regiert wird, der schwer zu<br />

überwinden ist. Bis heute habe ich dieses Königreich während mehr als hundert<br />

Jahren regiert und alle königlichen Freuden genossen. Oh weh, nun wird<br />

mein Königreich von König VidÆratha erobert.“ Aufgrund dieses Gedankens<br />

wird eine hitzige Schlacht zwischen dir und dem König VidÆratha entbrennen.<br />

Du wirst VidÆratha töten. Danach wirst du zum König der gesamten Welt<br />

werden. Umgeben von Ministern wirst du die folgenden Gespräche führen:<br />

Der MINISTER wird folgendes zu dir sagen: Es ist ein Wunder, oh König,<br />

dass du diesen König VidÆratha überwinden konntest. DU wirst dann antworten:<br />

Ich bin reich und mächtig – weshalb erachtest du es als ein Wunder, dass<br />

ich VidÆratha überwinden konnte?<br />

Der MINISTER wird antworten: Er hat eine Frau namens Līlā, die aufgrund<br />

ihrer Askese und Hingabe die Göttin Sarasvatī günstig stimmen konnte. Die<br />

Göttin hat Līlā als Tochter adoptiert und alle ihre Gebete erhört. Es wäre für<br />

sie nicht schwer gewesen, dich zu vernichten. DU wirst sagen: In diesem Fall<br />

war es in der Tat ein großes Wunder, dass ich VidÆratha bezwingen konnte.<br />

VI.2:156<br />

687


VI.2:157<br />

Sage mir, weshalb VidÆratha mich nicht mit Hilfe der Göttin zu besiegen versucht<br />

hat?<br />

Der MINISTER wird sagen: Er hatte um Befreiung von Bindung und<br />

saæsāra gebeten und aufgrund dessen danach verlangt, von dir getötet zu<br />

werden. DU wirst antworten: Weshalb sollte ich in diesem Fall nicht die Göttin<br />

verehren und um Befreiung bitten?<br />

Der MINISTER wird sagen: Sie ist die Weisheit, die in aller Herzen leuchtet.<br />

Da sie die Essenz (rasa) des Geistes in allen ist, wird sie Sarasvatī genannt. Sie<br />

verleiht allen unverzüglich alles, worum sie bitten, weil sie das Selbst aller ist.<br />

Daher erfährt man die Früchte seines eigenen Gebetes. Du hast nicht um<br />

Befreiung gebeten, sondern um die Vernichtung deines Feindes.<br />

DU wirst sagen: Weshalb habe ich nicht um Befreiung gebeten? Du sagtest,<br />

dass sie in meinem eigenen Herzen wohne – weshalb hat sie mich nicht dazu<br />

inspiriert, um Befreiung zu bitten? Der MINISTER wird sagen: Dies geschah<br />

nicht, weil in deinem Herzen die unreine Gewohnheit des Wunsches nach der<br />

Vernichtung deiner Feinde wohnte. Daher hast du nicht um Befreiung, sondern<br />

um Vernichtung der Feinde gebeten. Was immer das citta (Gemüt, Herz)<br />

ist, das ist ein Wesen – dies ist sogar die Erfahrung von Kindern. Was man im<br />

eigenen Herzen weiß und was man wieder und wieder in seinem Herzen<br />

erfährt, das wird zu einer Gewohnheit und materialisiert sich, sei es nun gut<br />

oder nicht gut.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

DU wirst sagen: Was habe ich in meiner früheren Geburt getan, dass ich einer<br />

solch üblen Gewohnheit unterlag? Der MINISTER wird sagen: Ich werde<br />

dir dieses Geheimnis enthüllen. Es gibt da etwas, was ohne Anfang und ohne<br />

Ende existiert, als das „ich“ und das „du“ usw., und das Brahman genannt<br />

wird. Dieses Brahman wurde zu seinem eigenen Objekt des Gewahrseins und<br />

folglich zum jīva und dann zum Gemüt. Dieser subtile psychologische oder<br />

ätherische Körper verdichtete sich schließlich zu einem physischen Körper.<br />

Er ist nichts als das Gemüt, welches keinerlei Form besitzt, aber so existiert,<br />

als hätte es eine solche (nämlich den Körper). Das Gemüt allein ist diese Welt<br />

– einen Unterschied zwischen den beiden gibt es nicht. In Brahman tauchte<br />

ursprünglich nur Satva (die reinste Form des Gemüts) auf, das nun extrem<br />

dicht und trübe (tāmasa-tāmasa) wurde.<br />

DU wirst sagen: Worin besteht dieses tāmasa-tāmasa und wie konnte es in<br />

diesem höchsten Zustand auftauchen? Der MINISTER wird sagen: Die Lebewesen<br />

hier haben verschiedene Gliedmaßen. Auch das subtile Selbst oder<br />

Bewusstsein besitzt sozusagen Gliedmaßen, nämlich den subtilen, ätherischen<br />

Leib. Dieser hält sich selbst für einen groben Körper bestehend aus<br />

physischen Elementen wie beispielsweise Erde. Er ist in dieser Welterscheinung,<br />

die in demselben Bewusstsein wie in einem Traum auftaucht, mit Hilfe<br />

seiner Vorstellungen tätig. Du selbst hast in deinem eigenen ätherischen<br />

Körper die Idee: „Dies ist die finsterste Finsternis“, woraufhin diese Idee dann<br />

688


VI.2:158,<br />

159<br />

geboren wird. Alle diese Vielfalten existieren in Brahman, obgleich dieses<br />

absolut rein ist.<br />

Die erste Idee, die in Brahman auftaucht, sobald es zum jīva wird, wird von<br />

buddhi (Intelligenz) als vollkommene Reinheit (sātvika-sātvika) erfahren.<br />

Wenn diese in den Lebensstrom eintritt und mit edlen Qualitäten ausgestattet<br />

ist, wird sie als reine sātvika-Geburt bezeichnet. Die Geburt, die im Lebensstrom<br />

auftaucht und dazu bestimmt ist, den verschiedenen Vergnügen zu<br />

erfahren, sich dabei aber in Richtung Befreiung bewegt, wird rājasa-rāsaja<br />

genannt. Wenn diese Geburt im Lebensstrom auftaucht und keinerlei edle<br />

Qualitäten besitzt, wird sie einfaches rājasa genannt. Wenn sich das Lebewesen<br />

dann sehr lange Zeit hindurch im Lebensstrom aufgehalten und sich<br />

gerade erst in die Richtung der Befreiung gewendet hat, spricht man von<br />

tāmasa-tāmasa. Die gewöhnliche Geburt, die das Ergebnis mehrerer aufeinanderfolgender<br />

Geburten ist, die sich um Befreiung bemüht haben, wird<br />

einfaches tāmasa genannt.<br />

Es gibt daher in diesem Sinne zahlreiche Klassifikationen von Geburten. Du<br />

selber wurdest in der Klasse tāmasa-tāmasa geboren. Du hast wie auch ich<br />

bereits viele Geburten erlebt. Ich kenne diese, du jedoch nicht. Indem du in all<br />

diesen Geburten umhergewandert bist, hast du viel Zeit verschwendet. Weil<br />

du so stark konditioniert warst, vermochtest du dich nicht selbst zu befreien.<br />

DU wirst sagen: Wie kann ich nun die Wirkungen dieser vergangenen Leben<br />

überwinden? Der MINISTER wird sagen: Es gibt nichts, was einer, der<br />

ohne mentale Unruhe ist, nicht erreichen kann. Die bösen Taten von gestern<br />

werden durch die edlen Taten von heute in gute Handlungen verwandelt.<br />

Strebe daher danach, gut zu sein und tue Gutes. Man strebt nach dem, was<br />

man zu erlangen wünscht – gewiss wird man sein Ziel dann auch erreichen.<br />

Nachdem König Sindhu so vom Minister beraten worden ist, wird er unverzüglich<br />

seinem Königtum entsagen und sich in einen Wald zurückziehen. Er<br />

wird Zuflucht zu den Füßen der Heiligen nehmen. Aufgrund ihrer Gemeinschaft<br />

wird er dann die höchste Weisheit erlangen und befreit werden.<br />

DER FEUERGOTT fuhr fort:<br />

Der Jäger hörte all dies von dem Weisen und war von Staunen erfüllt. Der<br />

Jäger und der Weise setzten ihre Entsagungspraktiken fort. Etwas später<br />

erlangte der Weise nirvāïa und gab seinen Körper auf. Nach einer sehr langen<br />

Zeit erschien Brahmā der Schöpfer vor dem Jäger, um diesem seine Gunst<br />

zu erweisen. Der Jäger konnte den natürlichen Zwang seiner eigenen mentalen<br />

Konditionierung nicht abwenden, obwohl er sich derProphezeiung des<br />

Weisenerinnerte. Aus diesem Grunde bat er um eben die Gunsterweise, die<br />

sich aus seiner Konditionierung ergaben.<br />

Und so begann sich der Körper des Jägers auszudehnen und kosmische<br />

Proportionen anzunehmen. Als er trotz all dieser Möglichkeiten die Grenzen<br />

der Unwissenheit immer noch nicht auszuloten vermochte, wurde er bestürzt<br />

und beunruhigt. Er gab mit Hilfe des mysteriösen Vorgangs des Aufhörens des<br />

689


prāïa seinen Körper auf, der daraufhin im Raum fiel. Er selbst verblieb im<br />

Raum und betrachte sich selbst als König Sindhu.<br />

Der Körper tauchte oberhalb einer gewissen Welterscheinung in diesem<br />

Universum auf und besaß die Gestalt eines Haarballes. Er war groß genug, um<br />

die gesamte Erde bedecken zu können.<br />

Oh VipaÁcit – so habe ich dir nun die Identität dieses Körpers beschrieben.<br />

Diese Welterscheinung, auf die der Körper niedergestürzt ist, ist unsere Welt,<br />

so wie sie uns erscheint. Nach dem Verzehr des Blutes dieses Körpers schwoll<br />

der ausgetrocknete Leib der Göttin an. Sie wurde dann als Caï¬ikā bekannt.<br />

Das Fleisch dieses Körpers wurde zum Erdelement. Im Verlaufe der Zeit<br />

nahm die Welt ihre gegenwärtige Gestalt als die Erde an. Aufs Neue wurde die<br />

Erde von Lebewesen bevölkert und mit Wäldern, Dörfern und Städten bedeckt.<br />

Die Erde ist nun wieder solide und fest. Oh guter Mann – gehe nun, wohin<br />

es dir beliebt. Von Indra, dem Oberhaupt der Götter, der mit meiner Hilfe<br />

einen heiligen Ritus ausführen möchte, wurde ich in das Königreich der<br />

Himmel eingeladen. Dahin werde ich mich begeben.<br />

BHĀSA (VIPAÁCIT) sagte:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, entschwand der Feuergott. Ich ging dann<br />

meiner Wege und meinen Aufgaben nach, zusammen mit aller psychologischen<br />

Konditionierung in meinem Gemüt.<br />

Wieder erblickte ich im unendlichen Raum die zahllosen Welten und Universen.<br />

Einige von ihnen waren wie Sonnenschirme, andere wie Tiere, manche<br />

waren voller Bäume, andere voller Felsen. Jedoch hatte ich das Ende der<br />

Unwissenheit, ihre Grenze, noch nicht erlangt, und daher war ich entmutigt<br />

und niedergeschlagen. Ich entschied mich daher, Bußübungen auszuüben.<br />

Indra sah dies und sprach zu mir: „Oh VipaÁcit, im Raum haben du und ich<br />

den Leib eines Rehs. Aufgrund der illusorischen Vorstellung eines Himmels,<br />

die sich zuvor in mir befand, wandere ich im Himmel umher.“ Nachdem ich<br />

dies vernommen hatte, sagte ich zu Indra: „Oh König des Himmels, ich bin<br />

dieses saæsāra leid. Sei gnädig und erlöse mich rasch von diesem saæsāra.“<br />

INDRA sprach zu VipaÁcit:<br />

Dein Bewusstsein wandert noch bei den Rehen umher. Daher sehe ich, dass<br />

eine Geburt als ein Reh unvermeidlich ist. Als Reh wirst du zu dieser großen<br />

Versammlung kommen, wo du deine eigene Geschichte erfahren und dadurch<br />

erweckt wirst. Wenn du dann in das Feuer der Weisheit eintrittst, wirst du<br />

menschliche Gestalt und auch das spirituelle Aufblühen in deinem Herzen<br />

erlangen. Dann wirst du fähig sein, die Unwissenheit aufzugeben und wie<br />

unbewegter Wind den äußersten Frieden wiederzugewinnen.<br />

VIPAÁCIT (BHĀSA) sagte:<br />

Nachdem Indra so gesprochen hatte, entstand das Bewusstsein „ich bin ein<br />

Reh“ in mir. Seit diesem Zeitpunkt bin ich in den Wäldern als Reh umherge-<br />

690


wandert. Als ein Jäger mich einmal zu verfolgen begann, lief ich davon. Er fing<br />

mich jedoch ein und nahm mich mit nach Hause. Dort hielt er mich einige<br />

Tage fest und brachte mich dann als Haustier zu dir. Damit habe ich dir nun<br />

meine Geschichte erzählt, oh Rāma, die ganz klar die illusorische Natur dieses<br />

saæsāra verbildlicht. Wahrhaft grenzenlos ist diese Unwissenheit, die ihre<br />

zahllosen Zweige in alle Richtungen erstreckt. Sie kann nur durch die Selbsterkenntnis<br />

ans Ende gelangen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie war es dir möglich, dich für andere sichtbar zu machen, als deine Gestalt<br />

in deinem saÇkalpa auftauchte?<br />

VIPAÁCIT (BHĀSA) fuhr fort:<br />

Einmal, als Indra den Himmel durchquerte und voller Stolz auf ein erfolgreich<br />

durchgeführtes heiliges Ritual war, stieß er versehentlich den Körper<br />

des Weisen Durvāsa an, der meditierte. Der Weise verfluchte ihn: „Oh Indra,<br />

diese Erde, die du aufsuchst, wird schon bald zu einem Nichts werden. Weil<br />

du mich angestoßen hast in dem Glauben, ich sei tot, wirst du bald auf eben<br />

diese Erde niedergehen und dort so lange als ein Reh leben, wie VipaÁcit dort<br />

als Reh lebt.“<br />

So wurden wir zu Rehen, die von andern gesehen werden konnten. Natürlich<br />

ist ein im eigenen Verstand auftauchendes Objekt so unwirklich wie das<br />

Objekt, das in jemand anderem auftaucht. Noch einmal: Da Brahman, das<br />

unendliche Bewusstsein, all dies ist und fähig ist, alles zu bewirken, was ist<br />

für es und in ihm unmöglich? Aufgrund seiner Allmacht kann es geschehen,<br />

dass zwei eingebildete Objekte einander gewahren oder einander nicht gewahren.<br />

Wo es Schatten gibt, gibt es auch Licht, der Schatten entsteht aufgrund<br />

des Lichts. Im unendlichen Bewusstsein existiert die grenzenlose Unwissenheit<br />

– daher ist alles in ihm möglich. Seltsam und wunderbar ist diese<br />

Māyā, die verblüfft und die Täuschung im Verstand hervorruft, in der These<br />

und Antithese einträchtig nebeneinander ohne Konflikt oder Widerspruch<br />

existieren. Darin besteht die Wahrheit über Brahman, das die Unwissenheit in<br />

sich selbst erfährt, als etwas, was einen Anfang und als als etwas, was keinen<br />

Anfang hatte.<br />

Wie sollte es dem unendlichen Bewusstsein möglich sein, nach der Periode<br />

der kosmischen Auflösung die drei Welten neuerlich zu erschaffen, wenn<br />

diese nicht bloße Materialisationen von Ideen waren, die im unendlichen<br />

Bewusstsein erschienen sind? Folglich ist klar, dass diese Schöpfung nicht<br />

mehr als eine Bewegung innerhalb des unendlichen Bewusstseins und das<br />

Auftauchen der latent in diesem liegenden Erscheinung ist.<br />

VIPAÁCIT (BHĀSA) fuhr fort:<br />

Der Weise weiß, dass vom Gesichtspunkt der reinen Weisheit aus alle Dinge<br />

sofort und richtig verstanden werden – anders ist dies nicht möglich. Diese<br />

Welterscheinung ist das Ergebnis des unendlichen Bewusstseins, welches die<br />

691


Idee „ich bin unwissend“ hat (so entsteht sogar die Unwissenheit nur aufgrund<br />

des unendlichen Bewusstseins).<br />

Niemand stirbt hier, und niemand wird geboren – beide Ideen tauchen im<br />

Bewusstsein auf und geben den Anschein, als seien Geburt und Tod etwas<br />

Reales. Falls der Tod das letztgültige und wahrheitsgemäße Ende bedeuten<br />

sollte, dann wäre er in der Tat ein höchst willkommenes und glückliches<br />

Ereignis! Aber wenn jemand, der gestorben ist, wieder gesehen werden kann,<br />

dann war er gewiss die ganze Zeit über am Leben. Folglich gibt es keinen Tod<br />

und deshalb auch keine Geburt. Beide Ereignisse erscheinen aufgrund der<br />

Bewegung im Bewusstsein als real und wären andernfalls irreal. Wenn man<br />

sie für real hält, sind sie auch real; nimmt man sie dagegen für irreal, sind sie<br />

irreal. Dies bedeutet, dass allein das Denken real ist. Sage mir doch, ob es<br />

Leben ohne Bewusstsein geben kann? In diesem reinen Bewusstsein gibt es<br />

weder Kummer noch Tod; wer also erfährt Kummer und wer stirbt? Was der<br />

Strudel für das Wasser ist, ist der Körper für die höchste Wahrheit. Die Erscheinung<br />

wird von der Realität durchdrungen, während die Erscheinung nur<br />

eine Erscheinung ist ohne eigene Substanzialität. Es gibt da keine<br />

Getrenntheit, Unterschiede oder Widersprüche zwischen den beiden. Und<br />

doch scheint das unendliche Bewusstsein diese Schöpfung voller Widersprüchlichkeit<br />

zu sein – in der Tat ist dies ein großes Wunder!<br />

Erkenne, dass diese Welterscheinung mit all ihren Widersprüchen nicht<br />

mehr als eine inexistente Erscheinung ist. Nur dieses unendliche und unteilbare<br />

Bewusstsein existiert als das eine Ding hier und als ein anderes Ding<br />

anderswo. Es gibt daher weder Vielfalt noch überhaupt Einheit. Weder gibt es<br />

da eine Widersprüchlichkeit noch eine Nicht-Widersprüchlichkeit. Diejenigen,<br />

die die Wahrheit kennen, realisieren, dass dies weder real noch irreal ist<br />

– sie betrachten die Wahrheit daher als vollkommene Stille. Was man hier als<br />

das objektive Universum sieht, ist in Wahrheit das Höchste Brahman. Nur<br />

dieses Brahman ist es, welches verschiedene Vorstellungen hat, die sich dann<br />

hier als die verschiedenen Objekte manifestieren. Jedoch gibt es in dem, was<br />

dieseVorstellungen hat, keinerlei Getrenntheit – Getrenntheit ist daher unwirklich.<br />

Jeder Zoll des Raumes ist mit den Schöpfungen „toter“ jīvas angefüllt. Diese<br />

Welten sind zahllos. Sie sind unsichtbar. Alle existieren miteinander, ohne<br />

Widerspruch oder Konflikt. Sie sehen sich gegenseitig nicht. Alle diese Objekte<br />

der Wahrnehmung sind nichts als reiner Raum. Bewusstsein allein ist der<br />

Wahrnehmer oder Beobachter von allem; Bewusstsein sieht diese Objekte im<br />

Raum so, wie man Objekte im Traum sieht. Auch wenn dieses Bewusstsein<br />

völlig erwacht und erleuchtet ist, hält die Erscheinung seines Objekts an, wie<br />

die Finsternis bis zur Morgendämmerung anhält. Aber ob die Welterscheinung<br />

nun real oder irreal ist – wenn die Wahrheit realisiert wird, gibt es da<br />

großen Frieden. So wie Wogen und Schaum auf der Oberfläche des Ozeans<br />

auftauchen, eine Zeitlang zu existieren scheinen und sich dann in der nächsten<br />

Minute wieder mit dem Ozean vermischen, so erscheint diese Welt in<br />

692


Brahman und hört als solche im nächsten Moment wieder auf, denn nur<br />

Brahman ist real.<br />

VùLMýKI sagte:<br />

Der König DaÁaratha traf die angemessenen Vorkehrungen für die Versorgung<br />

von VipaÁcit. Inzwischen war ein weiterer Tag zu Ende gegangen. Am<br />

nächsten Tag trafen die Teilnehmer der Versammlung erneut zusammen und<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Gewiss ist das hier Gesehene keine Unwissenheit. Das war der Grund, weshalb<br />

VipaÁcit ihre Grenzen oder Ausmaß nicht feststellen konnte. Die Unwissenheit<br />

bleibt nur so lange Unwissenheit, wie sie als solche nicht recht verstanden<br />

wird. Wenn ihre Realität erkannt ist, wird ebenfalls erkannt, dass es<br />

da niemals „Wasser in der Luftspiegelung“ gegeben hat. Du selbst hast all dies<br />

mit deinen eigenen Augen gesehen und mit deinen eigenen Ohren von den<br />

Lippen dieses VipaÁcit (oder Bhāsa) vernommen. Auch er wird wie ihr alle<br />

hier erleuchtet werden, wenn er unseren Diskurs hört.<br />

Sobald Brahman am Gewahrsein der Unwissenheit festhält, erscheint diese<br />

Unwissenheit als wirklich. Aufgrund dieser Täuschung erscheint dann das<br />

Unwirkliche als wirklich. Sobald erkannt wird, dass diese Unwissenheit<br />

Brahman ist, wird sie gleichzeitig als nicht verschieden von Brahman erkannt<br />

–und diese Trennung verschwindet.<br />

Diese Unwissenheit lässt die faszinierendsten Objekte auftauchen, obgleich<br />

sie in sich selbst ein Nichts ist. Wer sich aufmacht, die Grenzen der Träume zu<br />

erkunden, stellt schon bald fest, dass sie keine Grenzen haben. Wer sich aufmacht,<br />

um die Grenzen dieser in der Unwissenheit auftauchenden Welterscheinung<br />

zu erkunden, entdeckt schon bald, dass auch sie keine hat. Die<br />

Objekte, die sich aufgrund von im Bewusstsein auftauchenden Ideen materialisiert<br />

haben und vom Wahrnehmenden dieser Ideen aufgegeben wurden, nur<br />

um daraufhin neue Ideen zu gestalten, existieren im Raum als die Welten der<br />

siddhas – die nichts voneinander wissen. Diese Welten haben verschiedene<br />

Naturen und werden von den unterschiedlichsten Kreaturen bewohnt. Da es<br />

jedoch nichts anderes als Brahman gibt, sind alle diese ebenfalls von Brahman<br />

erfüllt. Gleich zu Beginn der Schöpfung gab es keinerlei Ursache und<br />

daher auch überhaupt keine Schöpfung. Das unendliche Bewusstsein ersann<br />

unendliche Vorstellungen, die sich dort materialisierten, wo sie auftauchten.<br />

Was sollte daran erstaunlich sein? Sogar jetzt seid ihr und alle anderen die<br />

Erscheinungen, wie sie aufgrund der Existenz intensiver Vorstellungen, die<br />

mit einer enormen Kraft der Konzentration ausgestattet waren, erzeugt worden<br />

sind.<br />

Wer zwei Dinge (wie diese Welt und den Himmel) als real erachtet, erlangt<br />

beide. Manche siddhas betrachten auch die Hölle als real, die dann auch als<br />

real erscheint. Was von einer Person nachdrücklich als existierend gedacht<br />

wird, wird von dieser dann auch physisch erfahren, denn der Körper ist<br />

nichts anderes als das Gemüt. Der jīva gibt beim Verlassen des Körpers einen<br />

VI.2:160<br />

693


VI.2:161<br />

bestimmten Zustand auf und hegt dann weitere Ideen über einen anderen<br />

Zustand. Falls diese Idee gut ist, erfährt er eine gute Welt; ist sie böse, erfährt<br />

er eine böse Welt. Wenn er sich die Welt der siddhas denkt, erfährt er diese;<br />

hat er unreine Gedanken, dann erfährt er unverzüglich die Hölle.<br />

In der Hölle erfährt der jīva verschiedene Leiden und Qualen; er wird von<br />

Pfeilen durchbohrt, oder Steine zertrümmern seine Brust, er umarmt eine<br />

rotglühende Säule, er wird bei lebendigem Leibe verbrannt, er isst aus Hunger<br />

Leichen, er schwimmt in Strömen von Blut und Eiter und hat das Gefühl<br />

von: „Üble Taten haben zu diesen bösen Erfahrungen geführt“.<br />

RĀMA fragte:<br />

In der gerade vernommenen Geschichte haben wir gehört, wie der Weise<br />

und der Jäger verschiedene Erfahrungen durchlebt haben. Ist es die eigentliche<br />

Natur der Dinge, die diese Erlebnisse bestimmt, oder gibt es noch einen<br />

anderen Grund dafür?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Diese Strudel von Erscheinungen tauchen von selbst die ganze Zeit über im<br />

Ozean des unendlichen Bewusstseins auf. Eine Gruppe dieser strudelartigen<br />

Erscheinungen mag einem unveränderlich vorkommen, bis dann eine andere<br />

auftaucht und sie verdrängt. Manche dieser Erscheinungen wirken dauerhaft,<br />

weil es sie schon lange gibt, während andere nur temporär sind. Jedoch wie<br />

der Luft Bewegung eigentümlich ist, so gering sie auch sein mag, so existiert<br />

auch im unendlichen Bewusstsein stets diese Erscheinung. Der Erleuchtete<br />

nennt sie reines Bewusstsein, der Unwissende nennt sie die Welt. Sie ist weder<br />

real noch irreal – wie soll man sie nennen? Dieses Universum ist die Bewegung<br />

des Gewahrseins im unendlichen Bewusstsein oder im Höchsten<br />

Herrn. Für ihn sind sowohl Hoffnung als auch Hoffnungslosigkeit bedeutungslos.<br />

Oh weise Männer – seid, was ihr seid!<br />

Das unendliche Bewusstsein selbst betrachtet die Bewegung, die in ihm auftaucht,<br />

als die Welt – wo ist die Erde (und andere, ähnliche Elemente) darin?<br />

Es ist das Licht des unendlichen Bewusstseins, welches strahlt – ein anderes<br />

Licht gibt es nicht. Brahman allein ruht auf ewig in Brahman, und es ist dieses<br />

Selbstgewahrsein, welches dann Unwissenheit genannt wird! Der gesamte<br />

Raum ist erfüllt von der Fülle des Bewusstseins, was man dann Schöpfung<br />

nennt. Es gibt in dieser weder Widerspruch noch Dualität.<br />

Wenn allein dieses unendliche Bewusstsein existiert, was kann dann je zu<br />

Ende gehen? So wie die im Traum erfahrene Welt nicht existiert, so existiert<br />

diese Welt, obwohl sie wahrgenommen wird, nicht als eine materielle Wesenheit.<br />

So wie nur das eigene Bewusstsein als der Traum erstrahlt, so erstrahlt<br />

dasselbe Bewusstsein im Wachzustand als die objektive Welt. Daher<br />

gibt es keinerlei Unterschied zwischen Traum und Wachzustand. Wenn einer<br />

aus dem Traum erwacht, denkt er: „Dies hier ist so, aber nicht so wie das, was<br />

ich im Traum gesehen habe“, und er denkt dies sogar noch nach dem Tod:<br />

„Dies hier ist so, aber nicht so wie das, was ich vor dem Tod gesehen habe“.<br />

694


VI.2:162<br />

Der Traum mag kurz und das Leben lang gewesen sein, aber die Erfahrung<br />

des Augenblicks ist in beiden dieselbe. So wie man zu Lebzeiten hunderte von<br />

Träumen hat, so erlebt man, bis man nirvāïa erlangt hat, hunderte von<br />

Wachzuständen. So wie sich manche Leute an ihre Träume erinnern, so erinnern<br />

sich manche an ihre vergangenen Leben.<br />

Wenn es also keinerlei Unterschied zwischen den beiden gibt, kann man<br />

auch nicht wissen, was die Welt und was die Unwissenheit ist. Wenn Unwissenheit<br />

nicht existiert – was ist Bindung? Ich bitte euch, legt denjenigen nicht<br />

in Fesseln, der auf ewig frei ist! Es gibt nichts „anderes“ als das eine reine,<br />

formlose Bewusstsein. Obwohl diese Welterscheinung in jenem Bewusstsein<br />

existiert, wird es doch in keiner Weise durch diese gebunden, und daher gibt<br />

es auch keine Befreiung. Im Bewusstsein gibt es keine Unwissenheit und es<br />

gibt keine Ideen im reinen Bewusstsein. Raum allein ist Raum. Das, was sogar<br />

im Tiefschlaf „gewahr“ ist, ist als einziges im Traum wie auch im Wachzustand<br />

gewahr, und dies ist das reine Bewusstsein. Es ist dieses Bewusstsein<br />

allein, welches für das Gewahrsein von Vielfalt verantwortlich ist. Die Schöpfung<br />

ist selbst das Höchste Brahman – es ist gleichzeitig die Einheit und die<br />

Vielfalt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Diese Welt existiert mit all ihren Objekten als die eigentliche Bedeutung der<br />

Materialisation des unendlichen Bewusstseins – daher sind die Form, ihr<br />

Wahrnehmen und die sie betreffenden Gedanken alle zusammen nur dasselbe<br />

reine Bewusstsein und nichts anderes. Die Vielfalt der Traumobjekte ist<br />

Traum – nicht Vielfalt. Ebenso ist die Vielfalt, die während des Wachzustandes<br />

im unendlichen Raum gesehen wird, der unendliche Raum (Bewusstsein)<br />

– Vielfalt gibt es da nicht. Es ist das unteilbare Bewusstsein, welches den<br />

Anschein der Vielfalt angenommen hat.<br />

Diese Realität des Bewusstseins wird vom Weisen und vom Unwissenden<br />

verschieden erfahren. Daher spricht man davon, dass diese Schöpfung gleichzeitig<br />

real und irreal sei. Da die beiden Gesichtspunkte einander diametral<br />

entgegengesetzt sind, ist es für den einen unmöglich zu sehen, was der andere<br />

sieht –er kann dem andern nicht verständlich machen, was er sieht. Die<br />

Schöpfung ist das, was man sieht und dessen man gewahr ist, und das liegt<br />

innerhalb von einem selbst. Wenn diese innere Erfahrung andauert, spricht<br />

man von der andauernden Schöpfung; wandelt sie sich, spricht man von der<br />

sich wandelnden Schöpfung.<br />

Im Traum sind die Objekte wirklich immateriell und subtil und werden<br />

doch wie solide Substanzen betrachtet. Ebenso sind auch die Objekte in dieser<br />

Schöpfung in Wahrheit subtil und nicht sichtbar, erscheinen aber als solide<br />

und wahrnehmbar. Dies ist auch für den Körper so: Zwar ist er als solcher<br />

eine Täuschung und inexistent, wird aber wie ein Geist als eine Realität heraufbeschworen.<br />

Sogar die psychologischen und physikalischen Bedingungen<br />

sind nur Erscheinung wie etwa der Klang, den man hört, oder wie der Wind,<br />

der bläst (der gehört wird, obwohl er überhaupt nicht da ist).<br />

695


Was auch immer hier wahrgenommen oder als existierend gedacht wird, ist<br />

nichts als reines Bewusstsein. Es hat niemals einen Grund gegeben, weshalb<br />

etwas anderes hätte ins Dasein treten sollen. Deshalb realisiere: „Ich bin im<br />

Frieden, ich bin wie der unendliche Raum“. Gib die Idee auf, dass du der jīva<br />

bist. Wer sich so nicht selbst erlösen kann, hat kein anderes Mittel, denn man<br />

ist sein eigener Freund, und man ist sein eigener Feind. Setze alles daran, dich<br />

noch in deinen jungen Jahren mit Hilfe des reinen und rechten Verstehens<br />

oder buddhi zu befreien. Tue es jetzt gleich. Was hoffst du zu erreichen, wenn<br />

du alt und senil bist? Alter ist selbst eine Last – mehr als das vermagst du<br />

nicht zu schultern. Kindheit und Alter sind nutzlos – nur die Jugend ist die<br />

rechte Zeit. Wenn du ein Weiser sein willst, dann lebe wie ein solcher! Nachdem<br />

man sich nun einmal in diesem saæsāra befindet, in dem das Leben so<br />

unbeständig ist, sollte man sich mit Hilfe der heiligen Schriften und der Heiligen<br />

bemühen, sich selbst emporzuarbeiten.<br />

Wenn die Wahrheit erkannt ist, hört dieses Universum auf, dich zu quälen,<br />

obwohl es weiterhin gesehen wird und voll Ruhelosigkeit ist.<br />

RĀMA fragte:<br />

Ohne die völlige Beherrschung der Sinne hört die Unwissenheit nicht auf.<br />

Bitte sage mir, wie man die Beherrschung der Sinne erlangt?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ich werde dir nun beschreiben, wie man leicht und nur durch Eigenbemühung<br />

die Kontrolle der Sinne erlangt. Das Selbst (oder die individuelle Persönlichkeit)<br />

ist wahrhaftig nichts als reines Bewusstsein – aufgrund seines<br />

Selbstgewahrseins wird es dann zum jīva. Was auch immer der jīva denkt,<br />

dazu wird er dann unverzüglich. Daher sollten alle Versuche, die Kontrolle<br />

über das Selbst oder die Sinne zu erlangen, im Hinblick auf dieses Selbstgewahrsein<br />

unternommen werden. Das Gemüt (citta) ist der Befehlshaber,<br />

während die Sinne seine bewaffneten Streitkräfte sind. Die Kontrolle des<br />

Gemüts bedeutet daher gleichzeitig das Erlangen der Kontrolle (oder den<br />

Sieg) über die Sinne. Wenn man lederne Schuhe trägt, scheint die gesamte<br />

Welt mit Leder bedeckt zu sein!<br />

Sobald das eigene Gewahrsein ins Herz erhoben wird und fest im reinen<br />

Bewusstsein lebt, wird das Gemüt auf natürliche und mühelose Weise still.<br />

Durch andere Mittel wie Askese, Pilgerreisen oder rituelle Handlungen wird<br />

es nicht still. Wenn so das Selbst der Erfahrung gewahr wird, hinterlässt die<br />

Erfahrung keine Eindrücke oder Erinnerungen mehr im Bewusstsein und<br />

wird sozusagen sofort „vergessen“. Sogar der Versuch, dies zu tun, bringt<br />

einen näher zum höchsten Zustand der Selbsterkenntnis.<br />

Sei fest verwurzelt in dem zufriedenen Zustand, in dem du nur das als das<br />

Deine anerkennst, welches du dank deiner eigenen angemessenen Handlungen<br />

erhältst. Der ist ein Mensch, der sich selbst besiegt hat, der im Frieden<br />

und in der Zufriedenheit ruht und dabei tut, was zu tun ist, und vermeidet,<br />

was zu vermeiden ist. Dessen Gemüt ist ruhig, und er hat seine Freude an der<br />

VI.2:163<br />

696


Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle und ist nicht an äußeren Geschehnissen<br />

und Wahrnehmungen interessiert. Wenn man sein eigenes Gewahrsein in<br />

diesem Sinne in sich selbst konzentriert, gibt das Gemüt seine gewohnheitsmäßige<br />

Ruhelosigkeit auf und bewegt sich in Richtung der Weisheit. Der<br />

weise Mensch erlangt den Sieg über die Sinne und ertrinkt nicht in den Wellen<br />

der vāsanās oder mentalen Konditionierung. Er sieht die Welt so, wie sie<br />

ist. Schließlich hört die Illusion des saæsāra oder der Welterscheinung auf,<br />

und damit endet alles Leid.<br />

Wenn man realisiert, dass es nur das reine Bewusstsein ist (welches sich<br />

jenseits des Denkens befindet und daher niemals zum Objekt der Wahrnehmung<br />

oder des Erfahrens werden kann), welches als diese Welt erscheint,<br />

was ist dann Bindung und und was ist Befreiung. Dehydriertes Wasser fließt<br />

nicht und ursachelose Erfahrung erzeugt keinerlei psychologische<br />

Getrenntheit. Erfahrung ist wie leerer Raum, der die verschiedenen Gestaltungen<br />

von „ich“ und „du“ usw. annimmt und scheinbar dort eine Vielfalt<br />

erzeugt, wo keine sein kann. Das, was diesen gesamten Raum erfüllt, ist reines<br />

Bewusstsein, neben dem nichts anderes existiert.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wenn man die direkte Erfahrung der Wahrheit hat: „Ich bin weder der Täter<br />

noch die Tat noch das Tatinstrument, sondern reines Bewusstsein – die Welt<br />

ist etwas Undefinierbares“, dann weiss man, dass da Selbst-Gewahrsein ist.<br />

Die Welt erscheint als etwas, was sie nicht ist – deshalb ist die Selbsterkenntnis,<br />

die die Welt enthüllt, die höchste Wahrheit.<br />

Im Falle eines Wesens mit mehreren Gliedern ist dieses ein einheitliches<br />

Wesen mit mehreren Gliedern. Ebenso ist Brahman das eine Sein mit zahllosen<br />

Gliedern, die man jīva usw. nennt. Das Objekt ist nur eine Erscheinung –<br />

Bewusstsein ist unendlicher Friede, der auf ewig unverändert existiert. Diese<br />

zu erforschen, als wären sie verschieden, ist nutzlos. Im Unendlichen gibt es<br />

unendliche Ideen, die man dann „Unwissenheit“ nennt; eine andere Unwissenheit<br />

gibt es nicht.<br />

Der jīva wandert zwischen den Zuständen des Wachens und Träumens und<br />

wiederum des Träumens und Wachens hin und her und ist doch selbst das<br />

Konstante, ob er nun wacht oder träumt. Die zwei Zustände des Tiefschlafs<br />

und des turīya (der vierte Zustand) bilden die Realität, die den beiden Zuständen<br />

von Wachen und Träumen zugrundeliegt. Die beiden letzten Zustände<br />

sind identisch, wobei es faktisch allein der turīya ist, der alle anderen<br />

Zustände als solche kennt. Für den Erleuchteten sind Wachen, Träumen und<br />

Tiefschlaf selbst nichts anderes als der turīya, denn im turīya existiert keinerlei<br />

Unwissenheit. Deshalb, auch wenn in ihm Vielfalt zu sein scheint, ist er<br />

nondual. Nur die kindischen und unwissenden Leute schwatzen über Dualität<br />

und Nondualität – der Erleuchtete lacht über all dies. Und doch ist es ohne<br />

eine solche Debatte, die von Dualität und Nondualität ausgeht, nicht möglich,<br />

das eigene Bewusstsein von der Unwissenheit zu reinigen. Es geschieht nur<br />

697


VI.2:164,<br />

165<br />

aus diesem Grund, dass ich all diese Themen behandelt habe, als dein treuer<br />

Freund.<br />

Weise Menschen sprechen untereinander beständig über diese Wahrheit<br />

und erleuchten sich damit gegenseitig. Indem sie diese Wahrheit immer wieder<br />

bedenken, gewinnen sie die Erleuchtung (buddhi-yoga), mit deren Hilfe<br />

sie den höchsten Zustand erlangen (Hinweis: Diese beiden Verse gleichen der<br />

Bhagavad Gita mit der bedeutsamen Abwandlung im zweiten Vers, der den<br />

Eindruck vermittelt, dass Erleuchtung geschieht, sobald der Schüler dafür<br />

bereit ist).<br />

Der höchste Zustand wird nicht ohne Bemühung erlangt. Um dir dabei zu<br />

helfen, einen klaren Begriff der Wahrheit zu bekommen, habe ich diese Dinge<br />

daher wiederholt und mit unterschiedlichen Verbildlichungen erläutert.<br />

Sogar eine unwissende Person erlangt die Erleuchtung, sobald sie diese wieder<br />

und wieder dargelegte Wahrheit kostet. Wer diese Wahrheiten einmal<br />

liest und dann denkt: „Ich weiss dies alles und brauche nichts mehr zu wissen“,<br />

ist wahrhaftig ein Dummkopf. Die Erkenntnis, die durch das Studium<br />

dieser Schrift erlangt wird, wird nicht durch das Studium einer anderen<br />

Schrift erlangt. Diese Schrift verleiht dir sowohl gutes, tüchtiges Handeln als<br />

auch vollkommene Weisheit<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im unendlichen Bewusstsein (das mit dem Sonnenball verglichen werden<br />

kann) gibt es zahllose Lichtteilchen, die jivas genannt werden. Wenn man von<br />

ihnen sagt: „Sie sind darin“, werden sie als seine (des unendlichen Bewusstseins)<br />

Teile betrachtet, während es in Wahrheit keinerlei solche Teile hat. Das<br />

Viele gibt seine Vielfalt auf, wenn es die Erleuchtung erlangt. Wird das Viele<br />

aber als das Eine beschrieben, dann ist es zu nichts anderem geworden als es<br />

schon immer gewesen ist. Es ist unter allen Umständen und in allen Zuständen<br />

stets dasselbe. Es ist der Inhalt des Bewusstseins oder Gewahrseins des<br />

Weisen. Das allein ist – nichts anderes hat jemals existiert. Es ist nur aufgrund<br />

dieses Bewusstseins, dass der Unwissende das Objekt seiner eigenen Unwissenheit<br />

wahrnimmt. Wir kennen das „ich“ oder „du“ oder auch das Objekt<br />

nicht, welches der Unwissende in seiner Unwissenheit wahrnimmt. Im Erleuchteten<br />

tauchen die Empfindungen von „ich bin erleuchtet“, „er ist unwissend“<br />

und „dies ist die Wahrheit“ nicht auf. Was hier die Schöpfung genannt<br />

wird, wurde weder erschaffen, noch trat es je ins Dasein. Diese Welt ist<br />

Brahman, die so ist, wie sie hier ist. Daher existieren hier keine unwissenden<br />

Leute oder Wesen. Es gibt hier nichts als den unendlichen Raum, in dem<br />

Ideen wie „dies ist Brahma der Schöpfer“ usw. treiben.<br />

Das Bewusstsein, welches im Wachzustand existiert, wird im Traumzustand<br />

zum Traum. Das Traumbewusstsein, welches im Traum gewahr ist, erlangt im<br />

Traum den Zustand von Wachheit. Der Traumzustand geht in den Wachzustand<br />

über – und der Wachzustand gibt den Traum auf und erwacht. Sobald<br />

der Wachzustand in den Traumzustand kommt, wacht der Träumer auf. Der<br />

Träumer erachtet den Wachzustand als Traum – für ihn ist das Bewusstsein<br />

698


des Traums der wahre Wachzustand. Ganz gewiss ist für den Träumer der<br />

Traum sein wahrer Wachzustand, nicht der andere Wachzustand.<br />

In Beziehung zum Wachzustand erscheint der Traumzustand als kurzlebig.<br />

Auf dieselbe Weise erscheint auch dem Träumer der Wachzustand als kurz.<br />

Zwischen beiden besteht nicht der geringste Unterschied; keiner ist real.<br />

Sobald das Gewahrsein aufhört, hören auch Wachen und Träumen auf. Dann<br />

ist da Leere. Der lebende Mensch erfährt weder im Traum noch im Wachen<br />

„die andere Welt“, solange nicht das Bewusstsein des Todes auftaucht. So wie<br />

Träume im Bewusstsein erscheinen und die drei Welten erschaffen, so erscheint<br />

auch die Welt im Wachzustand. So wie die Traumschöpfung reine<br />

Leerheit ist, so ist auch die Welt des Wachzustands leer mit Ausnahme des<br />

unendlichen Bewusstseins, in dem allein all diese Erscheinungen auftauchen.<br />

Die Welt ist die Illusion, die im Bewusstsein aufgrund seiner eingeborenen<br />

Kräfte zum Vorschein kommt. Bewusstsein allein erstrahlt als Wasser, Erde,<br />

Raum und Mauern. Es gibt in ihm nichts, was man greifen oder festhalten<br />

kann.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Selbst oder das unendliche Bewusstsein ist die offensichtlichste Wahrheit,<br />

die keiner Worte wie „Selbst“ oder „Erkenntnis“ bedarf und von diesen<br />

unabhängig ist. Direkt vom Anfang der ursprünglichen Schöpfung an existiert<br />

nur dieses unendliche Bewusstsein, welches in sich die Idee der Schöpfung<br />

barg. Weise Männer und Gelehrte haben erklärt, dass die Selbsterkenntnis<br />

frei von Ideenbildungen und von Wissen über materielle Objekte ist. Aber all<br />

dies ist nichts als das Selbst. Niemals hat es hier eine Kenntnis (eine Kategorie)<br />

namens Nicht-Wissen gegeben. Wissen und Nicht-Wissen (Unwissenheit)<br />

sind zwei Konzepte, denen keinerlei Realität zugrundeliegt. Was sollte da zu<br />

wissen und nicht zu wissen sein? Die Erkenntnis dessen, was ist, die Erkenntnis,<br />

dass dieses dies ist, und die Erkenntnis, dass dies unwirklich ist –<br />

all dies taucht im Bewusstsein auf. Die Erkenntnis des Selbst, die Erkenntnis<br />

des Unwirklichen, die Abwesenheit von Erkenntnis, die Erkenntnis, dass die<br />

Wahrheit anders als die Erscheinung ist – all dieses ist nur das Spiel des unendlichen<br />

Bewusstseins und bloße Manifestation oder Erweiterung der<br />

Selbsterkenntnis.<br />

Die Tatsache der Selbsterkenntnis existiert sogar dann, wenn der Begriff<br />

„Selbsterkenntnis“ fallengelassen wird. Selbsterkenntnis allein ist. Lass mich<br />

dies veranschaulichen: Es gibt da einen mächtigen Felsen, der riesig ist und<br />

dessen Flanken der blaue Himmel bildet. Er hat keine Verbindungen, weil er<br />

keine Trennungen hat. Er ist absolut solide und ungeteilt. Er ist unvergänglich.<br />

Er ist unvergleichlich und einzigartig. Sein Ursprung liegt im Dunkeln.<br />

Sein Inneres ist nicht-materiell, aber fest. In ihm befinden sich zahllose Eindrücke<br />

oder Bilder, die ihm selbst als jīva bekannt sind. Er ist fühlend und<br />

nicht-fühlend.<br />

Niemand vermag diesen Felsen aufzubrechen. Und doch befinden sich in<br />

ihm alle diese Eindrücke, die man Götter, Dämonen und Menschen nennt, mit<br />

VI.2:166<br />

699


VI.2:167<br />

und ohne Gestalt. Ich habe diese Eindrücke, wie sie in dem Felsen existieren,<br />

gesehen. Wenn du möchtest, kannst du sie ebenfalls sehen.<br />

RĀMA fragte: Wie konntest du das Innere dieses Felsens sehen, wenn er<br />

unteilbar ist?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

In der Tat vermag niemand, ihn aufzubrechen. Da ich selbst mich jedoch als<br />

ein Eindruck in ihm befinde, kann ich auch alles andere sehen.<br />

Was ich dir gerade beschrieben habe, ist die höchste Realität, das Selbst.<br />

Wir sind in diesem unteilbaren unendlichen Bewusstsein enthalten. Dieser<br />

Raum hier, der Wind und die anderen Elemente, alle diese Handlungen und<br />

Aktivitäten, alle diese Bedingungen und das Zeitempfinden, all diese sind<br />

Glieder dieses Wesens. Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum, Gemüt, buddhi und<br />

der Ich-Sinn sind alle Glieder dieses Höchsten Selbst. Was gibt es da anderes<br />

als dieses unendliche Bewusstsein? Die Objekte dieser Welt sind nichts als<br />

reines Gewahrsein oder Erfahren, das selbst eine Masse reinen Bewusstseins<br />

ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Selbsterkenntnis, Nicht-Kenntnis oder Kenntnis des Unwirklichen usw. sind<br />

Worte und Gesichtspunkte. In den Augen des Wissenden sind sie gänzlich<br />

unwirklich. All dieses taucht im reinen Bewusstsein auf, das klar in mir zu<br />

sehen ist. „Dies ist das Selbst“ und „dies ist Erkenntnis“ sind sicherlich falsche<br />

Ideen, die innerhalb des Bewusstseins auftauchen, aber sie sind nicht real.<br />

Gib die Worte auf und verbleibe in der Wahrheit verankert, auf die diese<br />

Worte hindeuten.<br />

Obwohl in ihm zahllose Aktivitäten stattfinden, ist es gänzlich still und ruhig.<br />

Obgleich es mit zahllosen Superlativen beschrieben wird, bleibt es unbewegt.<br />

Obgleich es beständig in Bewegung ist, ist es so unerschütterlich wie<br />

ein Felsen. Obgleich es die eigentliche Substanz der fünf Elemente ist, ist es<br />

wie Raum unberührt von diesen. Obgleich es die Heimstatt aller Objekte ist,<br />

verbleibt es reines Bewusstsein. Obgleich es wie eine Traumstadt sichtbar ist,<br />

verbleibt es unsichtbares Bewusstsein.<br />

RĀMA sprach:<br />

So wie Erinnerung an der Wurzel der Wahrnehmung in den Wach- und<br />

Traumzuständen liegt, so lässt auch nur die Erinnerung das Empfinden entstehen,<br />

dass die äußeren Objekte real sind.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Anschein der vielfältigen Objekte des Universums taucht im unendlichen<br />

Bewusstsein dann auf, wenn dieses seiner selbst gewahr wird – dies<br />

geschieht per Zufall (d.h. die reife Kokosnuss fällt, wenn eine Krähe auf der<br />

Palme landet). Wann immer und wo immer dieses Bewusstsein sich selbst auf<br />

welche Weise auch immer ersinnt, erscheint es dann und dort auch so, ohne<br />

jede Ursache. Ideen wie „dies ist Wachen“, „dies ist Traum“, „dies ist Schlaf“<br />

700


und „dies ist turīya“ tauchen im Bewusstsein auf, weil sie Bewusstsein sind.<br />

Tatsächlich gibt es da weder Traum noch Wachen noch Schlaf noch turīya<br />

noch irgend etwas jenseits davon – alles ist nur reine Stille und Ruhe. Man<br />

mag auch sagen, dass all dies nur ein ewiges Wachen oder Träumen oder ein<br />

ewiger Tiefschlaf oder ein ewiges turīya sei. Oder man mag sagen, dass man<br />

nicht wisse, was all dieses ist, weil alles so erfahren wird, wie man darüber<br />

denkt.<br />

Seine Manifestation und Nicht-Manifestation – Erkenntnis und Unwissenheit<br />

– sind zwei inhärente Zustände wie die Bewegtheit oder Nicht-<br />

Bewegtheit der Luft. Es gibt daher weder einen Unterschied in den Zuständen<br />

des Wachens usw. noch ist da irgendetwas, was man als Erinnerung oder<br />

Wunsch bezeichnen könnte. All dies sind begrenzte Sichtweisen. Wo sind<br />

Objektivität und Erinnerung, wenn es doch nur die innere Erfahrung ist, die<br />

als externes Objekt erstrahlt? Erinnerung kann nur aus der Erfahrung kommen,<br />

während Erfahrung nur möglich ist, wenn das Objekt real ist. Die ideengebundene<br />

Erscheinung des unendlichen Bewusstseins nennt man zu einem<br />

späteren Zeitpunkt Erde usw. Lasst dieses Bewusstsein erstrahlen wie es ihm<br />

beliebt – es ist weder real noch irreal, weder etwas noch nichts. Es wohnt<br />

selbst im Herzen als die Idee von einem Objekt, das im Außen wahrgenommen<br />

wird. Was ist „innen“ und „außen“? Betrachte es als OM und ruhe im<br />

Frieden.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So wie ein Baum ohne jede mentale Aktivität und Willen (Absicht) verschiedene<br />

herrliche Äste hervorbringt, so lässt das ungeborene und<br />

unerschaffene unendliche Bewusstsein die vielfältige und farbenprächtige<br />

Welterscheinung (Schöpfung) erscheinen. Es ist wie Raum, der Raum entstehen<br />

lässt. So wie der Ozean ohne mentale Tätigkeit oder Absicht Wellen hervorbringt,<br />

so lässt das Bewusstsein absichtslos alle Arten von Erfahrungen<br />

entstehen, da es der Höchste Herr von allem ist. All diesen Erfahrungen verleiht<br />

dasselbe Bewusstsein dann verschiedene „Namen“ wie „Gemüt“,<br />

„buddhi“, „Ich-Sinn“ usw. Ohne jede mentale Tätigkeit und Absicht lässt das<br />

unendliche Bewusstsein in sich selbst die Idee eines Objekts mitsamt der<br />

Aneinanderreihung von buddhi usw. zum Vorschein kommen. Sogar die Weltordnung<br />

(niyati), die die fundamentalen Eigenschaften jedes Objekts bestimmt,<br />

taucht im unendlichen Bewusstsein ohne jeden Vorsatz und ohne<br />

mentale Aktivität auf.<br />

Ausserdem ist all dies Eines: Der Baum beinhaltet den Stamm, die Äste, die<br />

Blätter und die Blüten – Unterscheidungen sind rein verbal. Auf dieselbe<br />

Weise beinhaltet das unendliche Bewusstsein alles – Unterscheidungen sind<br />

rein verbal. Falls du immer noch fragst: „Weshalb gibt es dann diese nutzlose<br />

Erfahrung von Objekten?“, dann erinnere dich, dass all dies nur ein langer<br />

Traum ist. Wer sucht sein Heil im Nicht-Existierenden oder in unauffindbaren<br />

Dingen? So wie wir in unserem Verstand Bilder wie „dies ist ein Baum“ geformt<br />

haben, so existieren im unendlichen Bewusstsein Bilder des Raums<br />

VI.2:168<br />

701


usw. So wie Raum (Entfernung) untrennbar eins mit Raum und Bewegung<br />

untrennbar eins mit der Luft ist, so verhält es sich auch mit buddhi (Intelligenz)<br />

usw. und dem Höchsten Sein oder dem unendlichen Bewusstsein. Diese<br />

Schöpfung ist vom unendlichen Bewusstsein nicht verschieden.<br />

Die Schöpfung taucht wie in einem Traum gleich zu Beginn im unendlichen<br />

Bewusstsein auf. Diese Erscheinung hat außerdem keine Ursache. Wie kann<br />

sie dann etwas anderes als das unendliche Bewusstsein sein? Dies verhält<br />

sich analog zum täglich und universell von uns allen erfahrenen Traum, und<br />

daher sollten wir dies ergründen. Was ist die Essenz oder die Realität des<br />

Traums mit Ausnahme der reinen Intelligenz oder des Bewusstseins, welches<br />

ihn erschafft und in dem er existiert?<br />

Diese Schöpfung taucht nicht als „Erinnerung“ im unendlichen Bewusstsein<br />

auf. Sie taucht ohne jeden Grund und ohne jede Ursache im Bewusstsein auf<br />

(es ist eine Koinzidenz wie bei der reifen Kokosnuss, die beim Landen einer<br />

Krähe fällt) – Träumen und Konzeptualisierung usw. folgen erst später. Sobald<br />

diese Schöpfung einmal ohne jede Ursache im unendlichen Bewusstsein zum<br />

Vorschein gekommen ist, folgt als nächstes ihre „Existenz“. Obwohl daher<br />

diese Schöpfung erschaffen worden zu sein scheint, wurde sie jedoch nicht<br />

erschaffen, und wenn sie nicht erschaffen wurde, kann sie gewiss auch nicht<br />

existieren.<br />

Im reinen Raum des unendlichen Bewusstseins existieren alle diese zahllosen<br />

Welterscheinungen. Sie treten ins Dasein und lösen sich wieder auf, obgleich<br />

alle essenziell leer (ÓÆnya) sind. Sie beeinflussen sich wechselseitig<br />

und erschaffen so diese Welterscheinung, obgleich sie essenziell leer (ÓÆnya)<br />

sind. Diese Schöpfung ist leer – die Leere aber wächst und hört als solche<br />

auch wieder auf („leer“, weil sie ohne Idee eines „Selbst“ ist).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die Schöpfung des Universums und ihre Auflösung sind nur illusorische<br />

Vorstellungen, die im Bewusstsein auftauchen. Sobald die Idee der Schöpfung<br />

längere Zeit hindurch aufrechterhalten wird, wird sie für real gehalten. Die<br />

objektive Erscheinung des Universum taucht spontan im kosmischen Wesen<br />

auf – so wie ein Traum nach einer Zeit des Tiefschlafs auftaucht. Nur Bewusstsein<br />

erstrahlt als dieses Universum, welches daher sein Körper ist.<br />

Anschließend lässt das Bewusstsein in sich selbst die Ideen der Erinnerung<br />

und der psychologischen Kategorien, der Erde und der anderen Elemente<br />

entstehen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, Erinnerungen sind Eindrücke, die in buddhi zurückgeblieben<br />

sind. Wie kann irgendetwas ins Dasein treten oder wie können überhaupt<br />

Ideen erscheinen, falls solche Eindrücke und daher auch die Erinnerung<br />

abwesend sind?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

702


VI.2:169<br />

Ich werde deinen Zweifel sofort beseitigen, oh Rāma, und die Nondualität<br />

wieder herstellen. Diese Welterscheinung ist wie eine Figur, die noch nicht<br />

aus dem Holz des Baumes herausgeschnitzt worden ist. Erst wenn eine Figur<br />

aus einem Baum herausgeschnitzt worden ist, kann sie Figur genannt werden.<br />

Da das unendliche Bewusstsein jedoch nondual ist, findet dies nicht<br />

statt. Im leblosen und nicht-fühlenden Holz taucht die Figur erst auf, nachdem<br />

es vollständig herausgeschnitzt wurde. Da Bewusstsein jedoch voll Bewusstsein<br />

ist, erstrahlt die Welterscheinung innerhalb ihrer selbst. Tatsächlich<br />

hört dieses Bewusstsein nie auf, Bewusstsein zu sein, noch wird die Welt<br />

aus ihm herausgeschnitzt – und doch erstrahlt es als diese Welt.<br />

Zu Beginn der Schöpfung hat das Bewusstsein, angefüllt mit den Ideen aller<br />

Möglichkeiten, diese Ideen manifestiert. Weil auch diese Ideen mit Bewusstsein<br />

ausgestattet sind, erscheinen sie real, wie in einem Traum. Im Herzensraum<br />

lässt das Bewusstsein verschiedene Ideen entstehen wie: „Dies ist die<br />

Idee des Brahman, die selbst die Idee des reinen Bewusstseins ist“, „dies ist<br />

die Idee des jīva“, „dies ist der Ich-Sinn, buddhi, das Gemüt, Zeit und Raum“,<br />

„ich bin so und so“, „dies ist Aktivität“, „dies sind die Elemente“, „dies sind die<br />

Sinne“, „dies ist der subtile Körper (purya«Âaka) und das der grobe, physische<br />

Körper“, „ich bin Brahmā der Schöpfer, ich bin Śiva, ich bin Viåņu, ich bin die<br />

Sonne“, „dies ist innen und dies außen“, „dies ist die Schöpfung und dies die<br />

Welt“ - all diese Ideen tauchen im Bewusstsein auf. Es gibt da weder physikalische<br />

noch materielle Substanzen, da sind weder Erinnerung noch Dualität.<br />

Ohne Ursache taucht diese Welterscheinung im Bewusstsein auf. Sie wird<br />

vom Bewusstsein innerhalb seiner selbst erfahren. Es ist das Bewusstsein,<br />

welches sich selbst für die Welt hält und diese erfährt. Daher gibt es da weder<br />

Erinnerung, Traum oder Zeit usw., die darin involviert wären. Das, was in sich<br />

selbst eine Masse von Bewusstsein ist, erscheint im Außen als die Welt; aber<br />

es gibt weder ein Außen noch ein Innen und keine andere Realität als nur die<br />

Höchste Wirklichkeit. So real wie das unendliche Brahman ist, so real ist auch<br />

dieses gesehene objektive Universum.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Für wen Freude keine Freude und Kummer kein Kummer ist, der ist befreit.<br />

Wessen Herz auch während der Erfahrung von Vergnügen nicht erregt ist, der<br />

ist befreit. Derjenige ist befreit, der sich am reinen Bewusstsein erfreut und<br />

auch an der objektiven Welt.<br />

RĀMA fragte:<br />

Gewiss muss der Befreite, der kein Vergnügen am Vergnügen und keinen<br />

Kummer am Kummer zu empfinden vermag, empfindungslos und träge sein.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das Gewahrsein dieses Menschen ist völlig im Bewusstsein absorbiert. Er<br />

erfährt daher keinerlei Vergnügen, ausser er macht einen Versuch dazu. Man<br />

sagt von ihm, dass er im Bewusstsein ruht. Seine Zweifel sind zu Ende, und<br />

seine Verbindung mit den Objekten der Welt ist mit dem Duft der Weisheit<br />

703


getränkt. Die Welt hat für ihn ihren „Geschmack“ verloren, obgleich er nach<br />

wie vor in ihr tätig ist und von Moment zu Moment tut, was nötig ist.<br />

Aufgrund der Tatsache, dass die Befreiten im Selbst oder Bewusstsein ruhen,<br />

erscheinen sie wie schlafend, obwohl sie tätig sind. Sie sind nicht empfindungslos<br />

oder träge. Sie werden nicht wegen ihrer Empfindungslosigkeit<br />

als „Schlafende“ betrachtet, sondern weil sie diese Welterscheinung wie einen<br />

langen Traum verstehen. Sie ruhen in dieser Wahrheit oder im höchsten<br />

Frieden, der für die Unwissenden so finster wie die Nacht ist – daher nennt<br />

man sie Schlafende, aber sie sind nicht empfindungslos. Da sie an der Welt<br />

des Unwissenden nicht interessiert sind, betrachtet man sie als Schlafende in<br />

der Welt. Sie erfreuen sich alle Zeit am Selbst und sind daher nicht empfindungslos.<br />

Sie haben sich über allen Kummer erhoben.<br />

Nachdem der jīva diesen saæsāra durchwandert und alle Arten von Freuden<br />

und Leiden erfahren hat, begegnet er schließlich einem heiligen Mann,<br />

der ihm hilft, diesen Ozean des saæsāra zu überqueren. Auch ohne Bett<br />

schläft er nun in großem Frieden. Obgleich er hier mit intensiver Tätigkeit<br />

befasst ist, erfreut er sich des Friedens wie im Tiefschlaf. Dies ist ein großes<br />

Wunder! Dieser „Schlaf“ kann durch nichts gestört werden. Derjenige ist<br />

wahrhaftig trunken, der diese „Welt“ nicht sieht, obwohl seine Augen weit<br />

offen sind. Er genießt den Segen des Tiefschlafs. Er hat die Idee der Welt aus<br />

seinem Herzen vertrieben und die Fülle erlangt. Er hat den Nektar in vollen<br />

Zügen getrunken und befindet sich im Frieden. Sein Entzücken ist unabhängig<br />

von Vergnügen. Er hat sich von der Gier abgewendet. Er weiß, dass sich in<br />

jedem Atom ein Universum befindet. Er ist mit verschiedenen, intensiven<br />

Tätigkeiten befasst, obgleich er überhaupt nichts tut. Er ist sich bewusst, dass<br />

diese Welterscheinung dieselbe Realität besitzt wie der Traum und ist aufgrund<br />

dessen im Frieden und in der Seligkeit des Tiefschlafs. Sein Bewusstsein<br />

ist noch ausgedehnter als der unendliche Raum. Durch höchste Eigenbemühung<br />

hat er die Selbsterkenntnis gewonnen und lebt fortan so, als sähe<br />

er im reinen Raum einen langen Traum. Er ist voll erwacht und erleuchtet,<br />

obgleich es scheint, dass er schläft; er erfreut sich des größten Entzückens,<br />

obwohl er wie schlafend erscheint. Er hat den höchsten Zustand erreicht.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, wer ist der Freund des weisen Menschen, mit wem erfreut er<br />

sich, was sind seine Freuden oder Entzücken und auf welche Weise genießt er<br />

diese Freuden?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Der Freund des weisen Menschen, oh Rāma, ist seine eigene Tat, die spontan<br />

in ihm auftaucht und in der es keine Getrenntheit und keinen Konflikt<br />

gibt. Wie ein Vater ermutigt sie ihn und erfüllt ihn mit Enthusiasmus. Wie<br />

eine Ehefrau prüft sie ihn, zügelt ihn und leitet ihn. Sie verlässt ihn nicht<br />

einmal in den Zeiten schlimmster Not. Sie ist frei von Zweifel. Sie fördert den<br />

Geist der Entsagung. Da sie Ärger und Hass auf diese zurückwirft, ist sie wie<br />

VI.2:170<br />

704


der Genuss von Nektar in vollen Zügen. Sie ist sein Freund und Helfer in den<br />

dichten Wäldern der Schwierigkeiten und Probleme. Sie ist die Schatztruhe,<br />

welches den kostbaren Edelstein des Glaubens enthält. Sie errettet ihn vom<br />

Übel und ist wie ein Vater stets um sein Wohlergehen besorgt.<br />

Sie (die eigene Tat) führt ihm alle Arten von Entzücken zu. In allen Arten<br />

von Situationen und Umständen sorgt sie für die Gesundheit seines Körpers.<br />

Sie zeigt ihm: „Dies sollte getan werden“ und „dies sollte nicht getan werden“.<br />

Sie bringt wünschenswerte Objekte und Erfahrungen und wendet unerwünschte<br />

Objekte und Erfahrungen ab. Sie macht, dass die Rede sanft und<br />

erfreulich ist, und sie sorgt dafür, dass auch das eigene Betragen sanft und<br />

liebevoll, hilfreich, bewundernswert, frei von selbstsüchtigen Wünschen oder<br />

Leidenschaften und förderlich für das hohe Ziel der Selbsterkenntnis ist. Sie<br />

ist gänzlich dem Schutz der Guten und der allgemeinen Gemeinschaft ergeben.<br />

Sie verhindert Krankheiten des Körpers und des Gemüts. Sie vergrößert<br />

das Glück der gelehrten Menschen, indem sie mit ihnen heilsame Diskussionen<br />

führt. Im Falle von Ebenbürtigen ist der Eindruck einer Dualität rein<br />

äußerlich. Welcher auch der Stand im eigenen Lebens sein mag – sie (die<br />

eigene Tat) ist der Selbst-Aufopferung, der Wohltätigkeit, der Entsagung und<br />

der Wallfahrt ergeben. Sie stellt durch die großzügige Verteilung von Nahrung<br />

und Getränken die heilsamen Verbindungen mit dem Sohn, der Frau, den<br />

Brāhmaņen, den Dienern und Verwandten her. Der weise Mensch erfreut sich<br />

von Natur aus der Gesellschaft eines solchen Busenfreundes und dessen<br />

Gemahlin, und dieser Freund ist die eigene Tat.<br />

Dieser Freund (die eigene Tat) hat Söhne, die man Baden (Reinheit des<br />

Körpers), Wohltätigkeit, Entsagung und Meditation nennt. Auch sie sorgen<br />

sich um die Wohlfahrt und das Glück aller Wesen. Der Geist des<br />

Glücklichseins (oder das freudige Gemüt) ist seine Frau, die natürlich und<br />

mühelos auf alle Segen herabregnen lässt. Ihr Name lautet samatā (Gleichmut<br />

oder Ausgeglichenheit des Gemüts). Sie ermutigt ihren Gemahl (die natürliche<br />

Handlung) zu rechter oder angemessener Handlung.<br />

Sie hat eine ständige Begleiterin an ihrer Seite, die man maitrī (Freundlichkeit)<br />

nennt.<br />

Der weise Mensch, der die Gesellschaft dieses besten aller Freunde zusammen<br />

mit dessen Frau und weiteren Begleitern genießt, hat keinen Grund, in<br />

Freuden und Vergnügen himmelhoch zu jauchzen oder in unerfreulichen<br />

Situationen zu Tode betrübt zu sein. Er hasst nicht, noch wird er zornig. Er<br />

erfreut sich in allen Umständen des Zustands des nirvāïa, während er beständig<br />

tätig ist in dieser Welt. Er schweigt bei nutzloser Argumentation, er<br />

ist taub für müßiges Reden, er ist wie ein Leichnam bei unrechtmäßigem<br />

Handeln, er ist dagegen äußerst lebendig bei rechtschaffenen Handlungen, er<br />

kann das Glückverheissende brillant darlegen, und er enthüllt innerhalb eines<br />

Augenblicks die größten Wahrheiten.<br />

All dies ist für den weisen Menschen natürlich. Er muss sich nicht anstrengen,<br />

um diese Qualitäten zu erwerben.<br />

705


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nur das unendliche Bewusstsein erstrahlt als diese Welt hier. In Wirklichkeit<br />

jedoch gibt es weder eine Welt noch eine Leere noch überhaupt Bewusstsein.<br />

Nur soviel kann gesagt werden: Was man die Welt nennt, ist nicht das.<br />

Weil sie subtiler als sogar der Raum ist, erscheint sie als etwas anderes als sie<br />

ist.<br />

Zwischen „diesem“ und „jenem“ befindet sich der Körper des Bewusstseins<br />

und dieser Körper wird als Objekt der Wahrnehmung erfahren. Jedoch hat<br />

eine solche Schöpfung keinerlei Ursache – folglich gibt es auch keinen Grund<br />

für ihr Auftauchen. Wie kann man sagen, dass sie jetzt existiert? Daher liegt<br />

keinerlei Rechtfertigung dafür vor, von der Existenz eines äußeren Universums<br />

auszugehen – nicht einmal von einem Atom dieser Existenz! Falls hier<br />

etwas als das äußere Universum gesehen wird, dann ist dies ganz gewiss das<br />

unendliche Bewusstsein selbst. So wie eine schlafende Person in die Traumerfahrung<br />

hineinwandert, ohne dabei ihren Schlaf aufzugeben, so lässt auch<br />

dieses Bewusstsein, welches rein und unteilbar ist, in sich selbst die Idee des<br />

objektiven Universums auftauchen, ohne dabei jemals seine eigene, essenzielle<br />

Natur als Bewusstsein aufzugeben. Folglich gibt es keinerlei Materialität<br />

wie etwa die Erde usw. Die letztgültige Wahrheit ist, dass nur das eine unendliche<br />

Brahman als all dieses erstrahlt, unabhängig von dem Empfinden, dass<br />

man Formen oder auch keine Formen sieht. So wie der Träumer beim Aufwachen<br />

die Traumberge als reine Leerheit erkennt, so werden alle diese Formen<br />

als inexistent erkannt, sobald man erleuchtet ist.<br />

Diese Welt ist für die Erleuchteten das unteilbare und Höchste Brahman.<br />

Obgleich wir sehr intelligent sind, wissen wir nicht, was Nicht-Erleuchtung<br />

(Unwissenheit) ist! Zwischen „diesem“ und „jenem“ befindet sich die Masse<br />

des Bewusstseins, welches die essenzielle Natur aller Wesen ist. Dies ist der<br />

höchste Zustand des Selbst. Zwischen „diesem“ und „jenem“ befindet sich<br />

dieser unendliche Raum, welcher die Masse des Bewusstseins ist, in dem<br />

alles fest gegründet ist. Was auch immer diese Masse des Bewusstseins ist, ist<br />

allein all dies hier, und zwar wirklich und unwirklich zu ein und derselben<br />

Zeit. Form, Wahrnehmung und auch die dazugehörigen Konzepte, wie sie im<br />

Gemüt auftauchen, sind alle reines Bewusstsein wie Wellen auf dem Meer<br />

sind. Zwischen „diesem“ und „jenem“ befindet sich das unendliche Bewusstsein<br />

– wird dies ohne jeden Abstrich und ohne jede Veränderung als solches<br />

erkannt, dann wird gesehen, dass nur es ist und es keine Welt gibt. Dann<br />

werden sogar Anziehung und Abstoßung, Existenz und Nicht-Existenz zu<br />

seinen eigenen Gliedern, ohne die wahre Natur dieses Bewusstseins im geringsten<br />

zu beeinträchtigen. Zwischen beiden „Enden“ ist das reine Bewusstsein,<br />

während die „Enden“ nur Konzepte sind und nicht unabhängig von der<br />

Wirklichkeit, die die Mitte darstellt, existieren; darin besteht die essenzielle<br />

Natur des unendlichen Selbst oder Bewusstseins. Ein anderer Name für dieses<br />

Bewusstsein, welches zwischen „diesem“ und „jenem“ existiert, lautet<br />

„Welt“.<br />

VI.2:171<br />

706


Ganz von Anfang an kam diese Schöpfung überhaupt nicht ins Dasein. Zu<br />

meinen, dass diese Welt als solche existiert, ist reine Fiktion. Es ist bedauernswert<br />

und eine Tragödie, dass die Leute behaupten, dass diese Welt existiert<br />

(obwohl dies nicht stimmt) und das Höchste Brahman nicht existiert<br />

(obwohl nur es existiert).<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Wo kann ich das finden, was nicht Brahman oder das unendliche Bewusstsein<br />

ist? Oh weh, die Welt ist ein seltsamer Ort, wo die Menschen diese unwirkliche<br />

Welt (das Objekt der Wahrnehmung) als wirklich erachten. Und<br />

doch erreichen auch sie dasselbe Brahman. Das Strahlen eines kostbaren<br />

Edelsteins ist weder dessen Schöpfung noch ist es unabhängig vom Edelstein,<br />

und auf dieselbe Weise ist die Welterscheinung nicht verschieden vom Selbst,<br />

das reines Bewusstsein ist. In diesem höchsten Zustand des Bewusstseins<br />

erstrahlt die Sonne – die Sonne ist vom Selbst nicht verschieden. Jedoch vermögen<br />

weder die Sonne noch der Mond das Selbst zu beleuchten oder zu<br />

enthüllen. Es geschieht durch die diesem Bewusstsein eingeborenen Kräfte,<br />

dass die Sonne und der Mond selber erstrahlen und die Wahrnehmungsobjekte<br />

enthüllen.<br />

Dieses Bewusstsein hat Form und hat keine Form – all dies sind nur Worte<br />

und sinnlose Konzepte. Die Partikel des Lichtes, die die Strahlen der Sonne<br />

ausmachen, sind selbst die Strahlen der Sonne und nicht von dieser verschieden.<br />

Daher ist es korrekt zu behaupten, dass sie gleichzeitig scheinen und<br />

nicht scheinen. Ebenso ist es richtig zu sagen, dass die Sonne und der Mond<br />

scheinen, und es ist gleichzeitig richtig zu sagen, dass sie nicht scheinen. Wie<br />

kann man behaupten, dass sie nicht scheinen, da doch die Sonne und alle<br />

anderen Leuchtkörper aufgrund des unendlichen Bewusstseins scheinen?<br />

Dieser höchste Zustand ist jenseits aller Konzepte; sogar der Konzepte von<br />

„Masse von Bewusstsein“ und „Leere“. Er ist leer von allem und doch gleichzeitig<br />

voll von allem. Daher existiert die Erde usw., während andererseits<br />

wiederum nichts darin existiert. Obgleich es unendlich viele jīvas in ihm gibt,<br />

existieren sie doch nicht als jīvas unabhängig vom Bewusstsein. „Etwas“,<br />

„nichts“ usw. sind nur Konzepte, die weit entfernt von der Realität oder dem<br />

unendlichen Bewusstsein sind.<br />

Das reine Bewusstsein, welches nondual, ewiglich und allgegenwärtig ist,<br />

existiert und wird „Welt“ genannt. Sobald man all diese Objektivität entfernt,<br />

bleibt von der Welt der Vielfalt nichts als die Wahrheit zurück. Es ist dieses<br />

Bewusstsein selbst, welches sich als die unendlichen Erfahrungen manifestiert.<br />

Der Wachzustand des Bewusstseins steht mit turīya (dem transzendentalen<br />

Zustand) in exakt derselben Verbindung wie der Traumzustand mit dem<br />

Tiefschlaf. Für die erleuchtete Person jedoch sind alle diese Zustände nur der<br />

eine turīya-Zustand des Bewusstseins.<br />

Die Theorien betreffend die Erschaffung oder Umwandlung des Selbst oder<br />

Bewusstseins in Materie sind Ausdrucksweisen, wie sie von Lehrern zur<br />

Unterweisung ihrer Schüler gebraucht werden – sie enthalten kein Jota<br />

707


Wahrheit. Wenn man den Traum als Traum erkennt, freut man sich. Wird dies<br />

dagegen nicht erkannt, dann ist man unglücklich, wenn man von einem unglücklichen<br />

Ereignis träumt. Der erleuchtete Weise lebt in einem Zustand der<br />

Verwirklichung der Wahrheit, während er nebenbei mit den verschiedenen<br />

Tätigkeiten befasst ist. In der Vielfalt erfährt er die Einheit – er freut sich<br />

sogar in unerfreulichen Situationen. Obgleich er in dieser Welt lebt, ist er<br />

nicht in ihr. Was gibt es für eine erleuchtete Person hier noch zu gewinnen?<br />

So wie Eis stets kühl ist, lebt der Weise ein natürliches Leben, indem er alles<br />

selbstverständlich tut, ohne etwas erreichen oder abwenden zu wollen. Das<br />

Charakteristikum des unwissenden Menschen besteht darin, nach etwas<br />

anderem zu streben, als er in Wahrheit ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Schöpfer ist nichts als das Gemüt, ohne die geringste Spur von Materialität.<br />

Er besitzt daher weder einen Körper noch Sinne noch vāsanā noch mentale<br />

Konditionierung. Da er am Ende des letzten Weltzyklus die Befreiung erlangt<br />

hat, existiert in ihm keinerlei Erinnerung. Wenn es keinerlei Erinnerung an<br />

etwas gibt, gibt es auch keine Ursache für eine Wiederverkörperung. Auch<br />

wenn eine Erinnerung im Schöpfer möglich wäre, so wäre sie ohne Materie,<br />

wie eine Traumstadt. Dies wird aber nur zur argumentativen Verdeutlichung<br />

gesagt; in den Befreiten ist Erinnerung unmöglich.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, bitte sage mir, weshalb es in ihnen keine Erinnerung gibt und<br />

wie die guïas (die Bausteine der Schöpfung) in Abwesenheit der Erinnerung<br />

auftauchen können.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Erinnerung entsteht nur in Beziehung zum objektiven Universum und sorgt<br />

für die Abfolge von Ursache und Wirkung. Wie und wo kann eine Erinnerung<br />

auftauchen oder existieren, wenn das Objekt der Wahrnehmung selbst inexistent<br />

ist? Da die Wahrheit darin besteht, dass all dies Brahman oder das unendliche<br />

Bewusstsein ist, gibt es keinerlei Raum für Erinnerung.<br />

Das Denken an die Objekte, die in den Lebewesen auftauchen, wird sm­ti<br />

(Erinnerung) genannt. Natürlich sind solche Objekte inexistent. Wie kann<br />

dann sm­ti existieren? Da das unendliche Bewusstsein jedoch die Wirklichkeit<br />

in allen Wesen ist, ist ein solches Denken dem Bewusstsein sozusagen<br />

eingeboren, und daher habe ich mich hier auf sm­ti bezogen. Jedoch ist dies<br />

lediglich vom Gesichtspunkt des gewöhnlichen, unwissenden Menschen<br />

gesagt. Genug davon! Auch diese natürliche Bewegung, die im Bewusstsein<br />

erscheint, wird sm­ti genannt. Wenn diese Bewegung wiederholt auftritt,<br />

wird sie im Außen als Materie wahrgenommen. Was auch immer das Bewusstsein<br />

aufgrund seiner eigenen Natur erfährt, nennt man sm­ti. Alle diese<br />

Erfahrungen tauchen aus eigenem Antrieb im unendlichen Bewusstsein auf,<br />

als seine eigenen Glieder und ohne jede kausale Verknüpfung (wie eine reife<br />

VI.2:172<br />

708


VI.2:173<br />

Kokosnuss zufällig beim Landen einer Krähe fällt). Genannt werden sie Erinnerungen.<br />

Dies ist die Wahrheit betreffend alle Geschehnisse, sogar wenn<br />

diese scheinbar einer kausalen Bedingung zugeschrieben werden können.<br />

Weshalb sollten wir diese ganz zufälligen Erinnerungen ergründen wollen,<br />

nachdem wir erkannt haben, dass die Objekte der Wahrnehmung, auf die sie<br />

sich beziehen, selber inexistent sind? Nur in den Augen des Unwissenden<br />

existieren sie. Ich lege hier die Mittel der Befreiung nicht zum Nutzen solcher<br />

unwissenden Leute dar. Diese Darlegungen sind nur für diejenigen gedacht,<br />

die erwacht sind, aber diesbezüglich noch Zweifel hegen. Man sollte sich<br />

niemals mit unwissenden Leuten zusammentun, die die Wahrheit nicht verstehen<br />

können. Wenn etwas vom Bewusstsein auch nur ansatzweise erfahren<br />

wurde und diese Erfahrung anschließend wiederholt wird, entsteht ein mentaler<br />

Eindruck (saæskāra). Auf diese Weise wird die Welterscheinung erschaffen.<br />

Aber all dies ist vom unendlichen Bewusstsein durchdrungen. Da<br />

gibt es weder eine Form noch eine Erinnerung, die damit in Verbindung stehen.<br />

Wenn Dualität selbst inexistent ist, kann es gewiss auch keine Bindung<br />

geben.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie identifiziert sich das allgegenwärtige Bewusstsein selbst mit dem Körper?<br />

Wie identifiziert das Bewusstsein sich selbst mit Steinen und Holz?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

So wie das verkörperte Wesen sich selbst mit seiner Hand identifiziert, so<br />

identifiziert sich das unendliche Bewusstsein selbst mit dem Körper. Auf<br />

dieselbe Weise, wie sich der Körper selbst mit den Fingernägeln und Haaren<br />

identifiziert, so identifiziert sich das allgegenwärtige Selbst mit Steinen, Holz<br />

usw. So wie nur reines Bewusstsein im Traum zu Steinen und Holz wird, so<br />

tauchen diese Ideen gleich zu Beginn der Schöpfung im unendlichen Bewusstsein<br />

auf. So wie es im Körper eines Individuums fühlende und nichtfühlende<br />

Teile gibt, so scheint es im kosmischen Körper des unendlichen<br />

Bewusstseins fühlende und nicht-fühlende Objekte zu geben, während es in<br />

Wahrheit keine Formen gibt. Sobald all dies klar gesehen wird, hören diese<br />

Dinge auf– so wie ein Traum im Moment des Erwachens des Schläfers verschwindet.<br />

All dieses ist reines Bewusstsein – es gibt da weder einen Seher<br />

noch ein Objekt der Wahrnehmung.<br />

In diesem unendlichen Bewusstsein mögen tausende von Weltzyklen beginnen<br />

und aufhören, und doch sind sie alle so wenig verschieden vom unendlichen<br />

Bewusstsein wie Wellen vom Ozean. „Ich bin keine Welle, ich bin<br />

der Ozean“ - wenn die Wahrheit klar erkannt ist, hört alles Wellen-sein auf.<br />

Die Welterscheinung steht zu Brahman in derselben Beziehung wie die Wellen<br />

zum Ozean. Die Existenz und Nicht-Existenz dieser Welterscheinung sind<br />

die zwei Arten, auf die sich Brahmans eingeborene Energie manifestiert.<br />

Die Erfahrung, die im Bewusstsein wie in einem Traum auftaucht, nennt<br />

man Gemüt oder Brahmā den Schöpfer, den Großvater aller Schöpfung. Dieses<br />

709


VI.2:174<br />

Wesen ist namenlos, formlos und unwandelbar. In ihm tauchen alle diese<br />

Ideen von „ich“ und „du“ usw. auf. Sie sind jedoch nicht verschieden vom<br />

Schöpfer. Das reine Bewusstsein, in dem alle diese Ideen zum Vorschein<br />

kommen, ist der Ur-Großvater sämtlicher Kreaturen. So wie die auf dem<br />

Meere steigenden und fallenden Wellen nichts als Meer und nicht verschieden<br />

davon sind, so sind alle diese Schöpfungen und Auflösungen nicht verschieden<br />

vom kosmischen Bewusstsein.<br />

Die im unendlichen Bewusstsein auftretende Bewegung der Energie nennt<br />

man die kosmische Person, die mit einem Magnetfeld und Gravitationskraft<br />

ausgestattet ist. In ihr taucht diese Schöpfung wie ein Traum auf. Die Schöpfung<br />

ist ein Traum. Der Wachzustand ist ein Traum. Obwohl diese Schöpfung<br />

oder Welterscheinung scheinbar wahrgenommen und erfahren wird, ist sie in<br />

Wahrheit die Verwirklichung der in uns auftauchenden Ideen – und nur sie<br />

existieren als die kosmische Persönlichkeit. Bewusstsein selbst erfährt die<br />

Ideen, die wieder und wieder in ihm auftauchen. Es ist diese kosmische Person,<br />

die durchdrungen und erfüllt von Bewusstsein ist, die als all diese<br />

Traumobjekte erscheint. So wie der Schauspieler, der sich im Traum auf der<br />

Bühne spielen sieht und sein Publikum unterhält, so wird sich dieses Bewusstsein<br />

der eigenen Erfahrung dieser Welterscheinung bewusst.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Nur das Bewusstsein ist es, welches vom Beginn der Schöpfung an als dieses<br />

Universum leuchtet. Die drei Welten sind daher nicht verschieden von<br />

Brahman. Brahman ist wie der Ozean – in ihm sind die Schöpfungen wie die<br />

Wellen und das Erfahren ist das Wasser. Auch danach (nach der Schöpfung)<br />

wird es reine, unkonditionierte Seligkeit geben. Wo sind Dualität, Nondualität<br />

und alles andere? Tiefschlaf und Träumen sind alternierende Zustände, die<br />

während des Schlafes auftauchen. Ebenso sind Erscheinung und Verschwinden<br />

dieser Schöpfung alternierende Ereignisse im unendlichen Bewusstsein.<br />

Wenn der Weise erkennt, dass diese Welt wie eine Traumstadt ist, ruhen<br />

seine Hoffnungen nicht länger auf ihr. Der Tagträumer träumt ausgiebig von<br />

seinen zahlreichen Erwartungen und Zukunftsvisionen. Obwohl solchen<br />

Tagträumen eine gewisse Realität zuzukommen scheint, sind sie doch inexistent.<br />

Wenn du jedoch nach einer anderen Erklärung für diese Welterscheinung<br />

suchst, weshalb akzeptierst du dann nicht die Möglichkeit der Täuschung<br />

oder Illusionen und Halluzinationen?<br />

Die Praxis der Kontemplation, die das Gemüt daran hindert, sich irgendwelchen<br />

Modifikationen auszusetzen, ist nichts als eine erlesene Form von Trägheit.<br />

Wenn aber solche Modifikationen im Gemüt existieren, ist es zum Sitz<br />

von Vielfalt oder saæsāra geworden. Durch solche Kontemplation kann der<br />

Zustand des Gleichmuts nicht erlangt werden. Wenn behauptet wird, dass<br />

Befreiung erlangt werden kann, indem das Gemüt gewaltsam an allen Modifikationen<br />

gehindert wird, weshalb wird sie dann nicht im Schlaf erlangt? Nur<br />

wenn man erkennt, dass es überhaupt keine Schöpfung gibt, kommt die wahre<br />

Selbsterkenntnis, die zur Befreiung führt. Diese Befreiung ist niemals en-<br />

710


dend, unendlich und unkonditioniert, wahrlich nirvikalpa samÃdhÃna<br />

(samÃdhi). In ihr verbleibt man fest verwurzelt in der Selbsterkenntnis ohne<br />

die geringste Erregung. Genannt wird sie außerdem auch ewiger Schlaf,<br />

turīya, nirvāïa und mokåa.<br />

Dhyāna oder Kontemplation oder Meditation ist vollkommenes Erwachen<br />

oder Erleuchtung. Vollkommenes Erwachen ist, wenn man realisiert, dass das<br />

objektive Universum nicht existiert. Dies hat weder einen Zustand zur Folge,<br />

der einer Trägheit oder Tiefschlaf oder nirvikalpa samÃdhi oder savikalpa<br />

samÃdhi ähnelt noch einen solchen, der unwirklich ist und auf Einbildung<br />

beruht. In diesem Zustand existiert das Universum so wie es ist, aber es ist<br />

gleichzeitig aufgelöst. Es gibt in ihm keinerlei Konzepte von Einheit und Vielfalt<br />

oder deren Mischung und deren Nicht-Existenz. Es gibt in ihm den höchsten<br />

Frieden.<br />

Das vollkommene Erwachen wird durch das sorgfältige und beständige tägliche<br />

und nächtliche Studium dieser Schrift erlangt, nicht aber durch Pilgerfahrten<br />

und Wohltätigkeit, nicht durch den Erwerb von Wissen, nicht durch<br />

die Praxis der Meditation oder von <strong>Yoga</strong>, nicht durch Askese (Bußübungen)<br />

und auch nicht durch religiöse Rituale. Keine dieser Methoden setzt der Illusion<br />

ein Ende – sie bahnen lediglich den Weg zum Himmel und zu ähnlichen<br />

Belohnungen, aber nicht zur Befreiung. Die Täuschung endet nur dann, wenn<br />

die Selbsterkenntnis dämmert in einem, der diese Schrift sorgfältig studiert<br />

und ergründet hat.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Weder diese Welt noch die andere entstanden am Anfang in diesem unendlichen<br />

Bewusstsein. Im Bewusstsein tauchte – wie die Erfahrung des Umarmens<br />

einer Frau im Traum – eine unwirkliche, eingebildete Erfahrung auf. Im<br />

Traum existiert nur der Träumer – ebenso existiert in der unwirklichen Erfahrung<br />

nur das unendliche Bewusstsein. In diesem Bewusstsein, welches auf<br />

immer rein ist, taucht das auf, was als die Welt erscheint. Wie kann Unreinheit<br />

im reinen Bewusstsein auftauchen? Diese Erfahrung ist auch rein. Es ist<br />

die Traumstadt oder die Traumschöpfung. Es ist die Welt, denn ganz zu Beginn<br />

der Schöpfung gab es keine Erde usw. Durch die Bewegung von Energie<br />

im unendlichen Bewusstsein geschah es, dass die Erde und die physikalischen<br />

Elemente, das Gemüt und die anderen psychologischen Kategorien<br />

erzeugt wurden, die selbst nichts anderes als Ideen im Bewusstsein sind.<br />

Diese Bewegung von Energie ist wie die Bewegung, die der Luft eigentümlich<br />

ist, die ohne mentale Aktivität oder Absicht stattfindet.<br />

Bewusstsein erscheint im Bewusstsein als dessen eigener Körper oder Materialisation.<br />

Das Gemüt selbst wird wie im Traum zu den Objekten der<br />

Wahrnehmung. Keine andere Ursache ist möglich. Daher existiert keine Dualität<br />

und es gibt keinerlei Vielfalt im Bewusstsein. Das Höchste Brahman ist<br />

frei von allen Formen – wenn es eine Form zu haben scheint, wird es zu dieser<br />

Welterscheinung. Es existiert ewiglich. So wie während des Traumes in<br />

VI.2:175<br />

711


einem die Vielfalt auftaucht, so scheint diese Welterscheinung in dem einen<br />

unendlichen Brahman aufzutauchen.<br />

Das Gemüt selbst ist Brahmā der Schöpfer. Es ist das wahre Herz dieser<br />

Schöpfung und es tut alles und zerstört alles. Wenn man all dies gründlich<br />

erforscht, sieht man klar, dass nur das reine Bewusstsein und nichts anderes<br />

existiert. Es befindet sich jenseits jedweder Beschreibung. Am Ende der Ergründung<br />

bleibt als einziges vollkommenes Schweigen. Obgleich mit sämtlichen<br />

Tätigkeiten befasst, bleibt es unberührt wie Raum – als wäre es stumm.<br />

Daher erlangt der Erleuchtete die Erkenntnis des Unendlichen und bleibt<br />

daraufhin gänzlich still. Er ist der beste unter den Menschen.<br />

Brahmā der Schöpfer bringt diese Welterscheinung ohne die geringste Absicht<br />

hervor. Mit „geschlossenen Augen“ ist das unendliche Bewusstsein es<br />

selbst – mit „offenen Augen“ ist es die Welt. In beiden Zuständen jedoch bleibt<br />

das unendliche Bewusstsein stets es selbst. Folglich ist es „ist“ und „ist nicht“,<br />

real und irreal zur selben Zeit. Diese beiden Zustände wechseln einander<br />

kontinuierlich ab – niemals ist der eine ohne den anderen. Daher kenne die<br />

Wahrheit so, wie sie ist, als höchster Frieden und wisse, dass sie ungeborener<br />

und unsterblicher Raum ist. Wisse auch, dass die Welterscheinung so ist,<br />

obgleich sie manchmal auch nicht so ist. Das objektive Universum ist nie<br />

aufgetaucht, noch hört es auf, obgleich es scheinbar jetzt erfahren wird. Es ist<br />

ein mysteriöses Produkt der Energie oder Macht des unendlichen Bewusstseins.<br />

Was auch immer wann und wo erfahren wird – sei es nun real oder irreal –<br />

scheint unverzüglich zu existieren. Keine andere Anschauung ist angemessen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Das erfährt man als wirklich und offenbar, worüber man ständig nachsinnt,<br />

was beständig das eigene Gemüt beschäftigt und woran man mit ganzer Kraft<br />

ergeben ist. Wenn das Gemüt mit dem Bewusstsein von Brahman gesättigt ist,<br />

wird es Das, denn das Gemüt wird zu dem, was es am meisten liebt. Wenn das<br />

Gemüt in der höchsten Realität, dem unendlichen Bewusstsein ruht, dann<br />

handelt man automatisch richtig und ist nicht länger an selbstsüchtiger Tätigkeit<br />

interessiert.<br />

Wenn dieses objektive Universum nicht existiert oder wenn man seine Existenz<br />

weder verifizieren noch leugnen kann, dann ist es auch nicht möglich zu<br />

entscheiden, wer der Täter der Handlungen und der Genießende der Erfahrungen<br />

ist. Was man gemeinhin Brahmā den Schöpfer oder buddhi oder erwachte<br />

Intelligenz nennt, ist selbst nur das unendliche Bewusstsein, welches<br />

absolut rein ist. Der Friede am Himmel ist reine Leerheit. Die Erscheinung<br />

von Dualität in all diesem ist illusorisch und nicht-existent. Vielfalt ist daher<br />

ein bedeutungsloses Konzept. So wie man nach dem Tiefschlaf in den Traumzustand<br />

wechselt, so bewegt sich ein und dasselbe unendliche Bewusstsein<br />

vom Zustand absoluter Stillheit zum Zustand des Erschaffens – es gibt in ihm<br />

weder Dualität noch Einheit. Das unendliche Bewusstsein nimmt diese<br />

Schöpfung innerhalb des Raumes seines eigenen Bewusstseins wahr.<br />

712


VI.2:176<br />

So wie es in den Träumen keinerlei logische Abfolge oder Ordnung oder eine<br />

kausale Beziehung gibt, so gibt es in dieser Welterscheinung keinerlei<br />

definitive kausale Verknüpfung oder Abfolge, obgleich genau dieser Eindruck<br />

entsteht. Im Traum gibt es keine Getrenntheit und es gibt auch keine solche in<br />

den Objekten der Wahrnehmung. Ein und dasselbe Brahman oder unendliche<br />

Bewusstsein erscheint vor deinen Augen als dieses Universum als die Schöpfung.<br />

Im Traum findet weder ein Wiedererkennen der im Traum gesehenen<br />

Objekte statt, noch gibt es da saæskāra (mentale Eindrücke), noch überhaupt<br />

Erinnerung, da der Träumer nicht „ich habe dies früher schon gesehen“<br />

denkt. Ähnlich gibt es auch im Wachzustand, wenn diese drei Faktoren weggelassen<br />

werden, nur das unendliche Bewusstsein, welches der unwissende<br />

Mensch als Erinnerung identifiziert.<br />

Im Höchsten Sein scheinen Bejahung und Verneinung, Gebote und Verbote<br />

zu existieren, obwohl sie in Wahrheit darin nicht existieren. Ein schwindeliger<br />

Mann glaubt, dass sich die Welt um ihn herum dreht, während der<br />

Schwindel in ihm selbst stattfindet. Auch wenn jemand weiß und erkannt hat,<br />

dass das objektive Universum Täuschung oder Illusion ist, verschwindet<br />

dieses nicht, außer durch nachdrückliche und lange Praxis. Diese Illusion hört<br />

daher nur durch das hingebungsvolle Studium dieser Schrift auf – einen anderen<br />

Weg gibt es nicht. Durch Selbsterkenntnis oder Erleuchtung geschieht<br />

es, dass diese drei (Gemüt, die Objekte der Wahrnehmung und der Körper)<br />

einen befriedeten Zustand der Ausgeglichenheit erlangen – aber nicht sonst;<br />

denn diese drei entstehen aus der Unwissenheit. Diese Unwissenheit wird<br />

durch bloßes Studium dieser Schrift zerstreut. Man sollte jeden Tag wenigstens<br />

einen kleinen Teil dieser Schrift studieren. Ihre Schönheit liegt auch<br />

darin, dass der Leser niemals mit seiner Ratlosigkeit alleingelassen wird –<br />

falls etwas nicht sofort klar sein sollte, so macht das weitere Studium das<br />

Verständnis fester. Diese Schrift zerstreut die Täuschung und versetzt dich in<br />

die Lage zu realisieren, dass das alltägliche Leben selbst der höchste Zustand<br />

ist.<br />

Daher sollte man täglich wenigstens einen kleinen Teil dieser Schrift studieren.<br />

Falls aber jemand meint, dass diese Schrift nicht autoritativ und menschlichen<br />

Ursprungs ist, dann kann er immer noch seine Zuflucht zu einer anderen<br />

Schrift nehmen, die sich mit der Selbsterkenntnis und der endgültigen<br />

Befreiung befasst. Aber man sollte seine Lebenszeit nicht unnütz verschwenden.<br />

RĀMA fragte:<br />

Weshalb unterrichtest du mich in der Natur des Universums, wenn doch<br />

alle diese zahllosen Universen unablässig im unendlichen Bewusstsein auftauchen<br />

und sich darin wieder auflösen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Auf diese Weise hast du das Verständnis erlangt, dass die Welt ein langer<br />

Traum ist. Du hast das Verständnis der Beziehung zwischen einem Wort und<br />

713


seiner Bedeutung oder dem durch es bezeichneten Objekt erlangt. Daher<br />

waren alle diese Erörterungen der Welterscheinung und der eingebildeten<br />

Schöpfung durchaus nicht überflüßig. Veranschaulichung ist der beste Weg,<br />

um die spirituelle Wahrheit nahezubringen, die den Menschen befähigt, das<br />

Wort und das mit ihm in Verbindung stehende Konzept zu erfassen. Nur diese<br />

wird dann auch zu einer lebendigen Wahrheit, die den Menschen im Alltag zu<br />

leiten vermag. Wenn du alles weisst, was du wissen musst und die Erkenntnis<br />

der drei Perioden der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) erlangt hast,<br />

wirst du diese Wahrheit selbst schauen können.<br />

In jedem Atom dieses Seins gibt es zahllose Universen – wer kann sie zählen?<br />

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Geschichte, die<br />

mein Vater Brahmā der Schöpfer mir einst erzählte. Ich werde sie dir nun<br />

wiedererzählen – bitte höre sie dir an. Ich fragte meinen Vater Brahmā damals:<br />

„Was ist diese Welterscheinung und wo existiert sie?“<br />

BRAHMĀ sprach:<br />

All dies hier, was als das Universum erscheint, oh Weiser, ist nichts als das<br />

unendliche Bewusstsein, Brahman. Der Weise kennt es als das reine satva<br />

(die unkonditionierte Intelligenz), das unendlich ist, während der Unwissende<br />

es als das materielle Universum betrachtet. Ich werde diese Wahrheit mit<br />

der folgenden Erzählung betreffend dieses Brahmāï¬a (das kosmische Ei)<br />

erläutern.<br />

Es gibt in diesem grenzenlosen Raum hier das unendliche Selbst, welches<br />

nicht verschieden vom Raum ist. Dieses Selbst nahm sich selbst in sich selbst<br />

als einen jīva wahr, als ein konditioniertes und lebendiges Wesen. Ohne jemals<br />

seine eigene, essenzielle Natur als unendlicher Raum aufzugeben, betrachtete<br />

es sich selbst als „ich bin“ oder den Ich-Sinn, obwohl da noch Raum<br />

für den Körper (des jīva) war. Dieses „ich bin“ erweiterte sich zu „ich bin<br />

buddhi oder Intellekt“ und daraufhin betrachtete es sich selbst als buddhi, die<br />

festlegt, was „dies“ und „das“ ist, dabei jedoch grundsätzlich der Illusion der<br />

konditionierten Wahrnehmung folgt. Danach unterhielt es in sich selbst die<br />

Idee: „Ich bin das Gemüt“, und verwickelte sich in die Ideen oder in das vielschichtige<br />

und verdrehte Denken. Dieses Gemüt hatte anschließend die Idee<br />

der fünf Sinne, die, obwohl formlos, grob und materiell zu sein scheinen, wie<br />

im Traum erblickte Berge. Das Gemüt glaubte als nächstes, einen Körper zu<br />

besitzen, bestehend aus den drei Welten mit einer Vielzahl von Kreaturen<br />

und allen Arten von Beziehungen, die angeblich zwischen diesen existierten,<br />

und die alle der Zeit unterworfen waren.<br />

Auf diese Weise erblickte es alles so, wie man die verschiedenen Objekte in<br />

einem Spiegel erblickt. Was es erblickte, war bezaubernd und farbenprächtig.<br />

In jedem subatomaren Partikel existieren solche Universen. Die Unwissenheit<br />

betrachtet all dies mit dem Auge der Unwissenheit und hält es für eine grenzenlose<br />

Schöpfung, aber sobald es als Brahman erkannt wird, wird es das<br />

reine Brahman. Auch wenn man all dies tatsächlich sieht, wird doch nichts<br />

714


VI.2:177<br />

gesehen, da alles nur ein Traum ist. Wer ist hier der Wahrnehmende, was<br />

wird wahrgenommen und wie kann es Dualität im unendlichen Sein geben?<br />

RĀMA fragte:<br />

Die Welterscheinung taucht im unendlichen Bewusstsein ohne die kleinste<br />

Ursache dafür auf. Wenn dies die Wahrheit ist, weshalb haben sich dann diese<br />

unverursachten Ereignisse nicht bis heute als solche fortgesetzt?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Jede Vorstellung, die man hat, die erfährt man als wahr. In Brahman existieren<br />

sowohl Verursachung als auch Ursachelosigkeit, da Brahman allmächtig<br />

ist. Im Falle eines Lebewesens sehen wir, dass der intelligente Körper gleichzeitig<br />

auch nichtfühlende Haare und Nägel hat. Wenn man etwas anderes als<br />

Brahman erfährt, dann ist es sicher wegen einer irrigen Ursache. Wie kann es<br />

aber Ursachen und Resultate geben, wenn nur das unendliche Bewusstsein<br />

überall erstrahlt?<br />

RĀMA fragte:<br />

Für den Unwissenden gibt es jedoch eine kausale Abfolge. Was ist unverursacht<br />

in ihm und wie existiert es?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Für den Erleuchteten existiert kein Unwissender. Weshalb sollten wir unsere<br />

Zeit damit verschwenden, über das Inexistente zu sprechen?<br />

Es gibt Dinge, die verursacht sind, während andere wiederum keinerlei Ursache<br />

haben. Alles hängt von dem eigenen Gesichtspunkt ab – nur was man<br />

als gültig erachtet, wird auch als gültig akzeptiert. Diese Schöpfung hat überhaupt<br />

keine Ursache. Der Glaube, dass die Welt von Gott usw. erschaffen<br />

worden ist, ist nur ein Spiel mit Worten. Es gibt nichts, was diese Wahrheit<br />

beweist, wie auch der Traum nichts beweist.<br />

Wenn die Schöpfung als ein Traum nicht klar verstanden wird, entsteht eine<br />

große Illusion. Wird sie dagegen richtig verstanden, verschwindet die Illusion.<br />

Alle spekulativen Erörterungen im Zusammenhang mit dieser Schöpfung<br />

sind nichts als Unwissenheit und Torheit. Ist Feuer die „Ursache“ für die Hitze,<br />

die doch seine Natur ist? Die Bestandteile des Körpers sind in der Tat<br />

formlose ätherische Substanzen – folglich hat der physische Körper keine<br />

reale Ursache. Ausserdem, was kann die Ursache des Körpers sein, der das<br />

nicht existierende Universum erfährt?<br />

All dies ist die Natur der Natur (wie immer diese auch beschaffen sein<br />

mag), auch wenn man eine Ursache unterstellt. Sogar das hier verwendete<br />

Wort „Natur“ ist nur eine Redeweise. Alle diese Objekte und deren vermeintliche<br />

Ursachen sind daher nur Illusionen, die im Gemüt des Unwissenden<br />

auftauchen. Die Weisen wissen, dass sämtliche Wirkungen aus Ursachen<br />

entstehen. Wenn man träumt, ausgeraubt zu werden, und wenn man weiß,<br />

dass es nur ein Traum ist, gibt es keine Sorge – sobald die Wahrheit realisiert<br />

wird, ist das Leben frei von Sorge.<br />

715


Die Wahrheit ist sicherlich, dass dieses Universum niemals erschaffen worden<br />

ist, da die Schöpfung selbst überhaupt keine Ursache hat. Sie trat ins<br />

Dasein und existiert wie ein Traumobjekt im unendlichen Bewusstsein. Sie ist<br />

Brahman allein und erstrahlt in Brahman. So wie Schlaf und Traum zwei<br />

Aspekte des Schlafes sind, so sind diese Schöpfung und die Auflösung des<br />

Universums die zwei Aspekte des einen unteilbaren Bewusstseins.<br />

RĀMA fragte:<br />

Hoher Herr, es gibt Substanzen in dieser Welt, die teilbar und andere, die<br />

unteilbar sind. Die teilbaren kollidieren miteinander, während die unteilbaren<br />

nicht miteinander kollidieren. Wir sehen den Mond, unsere Augen treffen ihn<br />

sozusagen, ohne ihn zu teilen oder auch nur zu berühren... Ich stelle diese<br />

Frage vom Gesichtspunkt der unerweckten Person. Wer regelt das Einatmen<br />

und Ausatmen des Lebensatems im Körper? Der Körper ist solide und bietet<br />

Widerstand – was ist diese Kraft, die subtil ist und keinen Widerstand in sich<br />

selbst hat, aber doch fähig ist, den Körper zu bewegen? Wenn das, was subtil<br />

und nicht-widerstehend ist, auf solide und widerstehende Substanzen einzuwirken<br />

vermag, weshalb kann man dann nicht durch die Kraft der Gedanken<br />

Berge versetzen?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Der Lebensatem betritt und verlässt den Körper während des Ein- und Ausatmens,<br />

sobald sich die subtile Nervenkraft, die im Herzen ruht, wie der Blasebalg<br />

des Schmieds ausdehnt und zusammenzieht.<br />

RĀMA fragte:<br />

Im Falle des Blasebalgs ist es der Schmied, der sie handhabt. Was ist es, das<br />

die nā¬i im Herzen auf ähnliche Weise kontrahieren und expandieren lässt?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

So wie der Schmied in dieser Welt den Blasebalg sich ausdehnen und zusammenziehen<br />

macht, so gibt es ein inneres Bewusstsein, das alle inneren<br />

Organe im Körper arbeiten lässt. Aufgrund davon geschieht es, dass alles in<br />

dieser Welt lebt und funktioniert.<br />

RĀMA fragte erneut:<br />

Jedoch sind der Körper und alle seine Bestandteile solide – wie kann das<br />

subtile Bewusstsein sie dann bewegen? Es gibt ja keinen Kontakt zwischen<br />

dem Soliden und dem Subtilen.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Höre diese Unterweisung an, die den ganzen Baum des Zweifels entwurzelt.<br />

In dieser Welt existiert nichts Solides und Widerstrebendes. Alle Dinge sind<br />

überall für alle Zeiten subtil und nicht-widerstrebend. All dieses ist reines<br />

Bewusstsein, das die scheinbar soliden Substanzen so erfährt wie man<br />

Traumobjekte erfährt. Erde, Wasser, Wind, Raum, die Berge und Ozeane usw.<br />

sind alle nur subtiles Bewusstsein. So sind auch das Gemüt und alle anderen<br />

inneren Instrumente. In diesem Zusammenhang erzähle ich dir nun eine alte<br />

VI.2:178<br />

716


Legende. Ich habe sie bereits in einem anderen Zusammenhang erzählt. Wenn<br />

du sie hörst, wirst du erkennen, dass alles, was du hier siehst, reines Bewusstsein<br />

und nichts anderes ist.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es lebte einmal ein Brāhmaņe namens Indu. Er hatte zehn Söhne. Im Verlaufe<br />

der Zeit starb Indu. Seine Frau folgte ihm sehr bald in die andere Welt. Die<br />

Söhne führten das Begräbnisritual aus. An den Geschäften der Welt waren sie<br />

nicht interessiert. Sie begannen darüber nachzudenken, welches die beste<br />

Form der Kontemplation wäre, die sie zu einem Leben wie die Götter befähigen<br />

würde.<br />

Um ihr Ziel zu verwirklichen, gingen sie in den Wald und befassten sich mit<br />

intensiver Kontemplation und Bußübung. Sie waren wie Statuen oder gemalte<br />

Bilder. Ihre Körper verwelkten und was verblieb, wurde von Aasfressern<br />

verzehrt. Sie waren in die Kontemplation von „ich bin Brahmā der Schöpfer“,<br />

„ich bin die Welt“ und „ich bin diese gesamte Schöpfung“ versunken. Da die<br />

Gemüter der zehn ohne Verkörperung und gesättigt von ihrer starken Kontemplation<br />

waren, wurden diese Gemüter zu dem, was sie kontemplierten. So<br />

wurden ihre Gedanken zu dem, was wir hier als diese Schöpfung sehen.<br />

Dieses Universum ist reines Bewusstsein. Sogar die Erde, die Berge usw.<br />

sind reines Bewusstsein. So wie die Gemüter der Söhne Indus sich hier als<br />

das Universum manifestiert haben, so erscheint diese Schöpfung hier als die<br />

Idee des Universums oder der Schöpfung, wie sie in Brahmā dem Schöpfer<br />

aufgetaucht ist. Daher sind alle diese Elemente, die Erde und die Berge nichts<br />

als reines Bewusstsein.<br />

Der Töpfer des Bewusstseins hat mit der Hilfe der Töpferscheibe seines eigenen<br />

Körpers (Bewusstsein) und mit dem Ton, der ebenfalls sein eigener<br />

Körper ist, diese Schöpfung geformt. Wenn somit alle diese Kreaturen und<br />

Substanzen nicht Bewusstsein sind – was sind sie dann? Diese Schöpfung<br />

steht zum Bewusstsein in derselben Beziehung wie das Strahlen zum Juwel.<br />

All dies ist wahrhaftig Brahman – dies ist gewiss und unbestreitbar.<br />

Wenn und sobald diese Wahrheit klar gesehen wird, gibt es unverzüglich<br />

ein Ende des Kummers. Wird diese Wahrheit dagegen nicht erkannt, wird der<br />

Kummer fest und nachhaltig. Die Schlechten und die Unwissenden sehen<br />

diese Wahrheit nicht. In ihren Augen ist dieser saæsāra eine solide Realität –<br />

sie erkennen die Wahrheit nicht. Es gibt keine Formen. Es gibt weder Existenz<br />

noch Nicht-Existenz, weder Geburt noch Tod. Es gibt nichts, was man Realität<br />

und nichts, was man Nicht-Realität nennen kann. Das Höchste, das absoluter<br />

Friede ist, nimmt diese Schöpfung in sich selbst wahr und sie ist nicht unabhängig<br />

von Brahman, dem unendlichen Bewusstsein. Weshalb sollten wir<br />

dann die falsche Vorstellung einer unabhängigen Manifestation hegen? In<br />

seiner nicht befreiten Gestalt hat es tausende von Augen und Gliedern – in<br />

seiner befreiten Gestalt ist es Alles, Friede und Stille. Aber genug von all diesen<br />

Beschreibungen!<br />

717


VASIåèHA fuhr fort:<br />

Alle drei Welten sind nichts als reines Bewusstsein; sie sind das<br />

unkonditionierte Gemüt (satva). Die Elemente und die Kreaturen, die der<br />

Unwissende in dieser Welt erblickt, existieren überhaupt nicht. Wo ist angesichts<br />

dieser Wahrheit der solide Körper usw.? Was auch immer hier wahrgenommen<br />

wird, ist wahrhaftig nicht solide, sondern extrem subtiles Bewusstsein.<br />

Nur Bewusstsein existiert in Bewusstsein – Friede ruht im Frieden –<br />

Raum existiert in Raum – nur Weisheit existiert in der Weisheit.<br />

Wo ist der Körper und wo sind die Glieder, wo sind die inneren Organe und<br />

das Skelett? Wisse, dass dieser Körper reines Bewusstsein ist wie Raum – es<br />

ist subtil und sieht doch solide aus. Die Arme sind Bewusstsein und ebenso<br />

verhält es sich mit dem Kopf und sämtlichen Sinnen. All dieses ist subtil – da<br />

gibt es nichts, was solide zu nennen wäre. Diese Welt scheint im unendlichen<br />

Raum oder Brahman wie ein Traum aufzutauchen. Wegen der eigenen Natur<br />

des unendlichen Bewusstseins scheint es als diese Schöpfung zu existieren.<br />

Daher ist es weder verursacht noch unverursacht. Natürlich gibt es ohne eine<br />

Ursache keine Wirkung. Was auch immer man mit Hilfe seines eigenen Bewusstseins<br />

ersinnt, wird dann von einem selbst so gesehen. Wie in einem<br />

Traum sämtliche Dinge überall auf jede nur denkbare Art und Weise auftauchen,<br />

so taucht die Welt im Wachzustand überall auf jede nur denkbare Art<br />

und Weise auf.<br />

So wie die Söhne Indus durch die Macht ihrer Kontemplation zum Universum<br />

wurden, so wurde das Eine zum Vielen. Das Viele wird Eines, so wie die<br />

Ergebenen von Lord Viåņu eins mit ihm wurden. Flüsse gibt es viele, aber der<br />

Ozean ist einer. Die Zeit ist eins, auch wenn man die Jahreszeiten und die<br />

Jahre mit verschiedenen Namen benennt. Dieser Körper ist ebenfalls reines<br />

Bewusstsein und existiert wie ein Traumobjekt im Bewusstsein. Wie ein<br />

Traumobjekt ist er formlos, obgleich seine Gestalt offensichtlich als Realität<br />

erfahren wird.<br />

Der eine Schlaf wird zu einer Zeit als Traumerfahrung und zu einer anderen<br />

als tiefer traumloser Schlaf erlebt, und doch ist der Schlaf nur einer und unteilbar.<br />

Ebenso ist das Bewusstsein eines, ob es in ihm nun ein Gewahrsein<br />

von Objekten gibt oder nicht. Was daher als die Welt erfahren wird, ist nichts<br />

als reines Bewusstsein. Der Seher (der Erfahrende), das Objekt (die Erfahrung)<br />

und der Akt des Sehens (das Erfahren) sind alle das eine Bewusstsein,<br />

welches wahrhaftig unteilbar ist. Die Erscheinung der Welt in diesem Bewusstsein<br />

als etwas anderes als Bewusstsein ist eine Illusion; sie hört auf,<br />

wenn man die Wahrheit realisiert, so wie ein Albtraum einen nicht länger<br />

verfolgt, wenn man die Wahrheit des Albtraums erkannt hat. Es sind die<br />

unendlichen Möglichkeiten des einen unendlichen Bewusstseins, die hier als<br />

die unendlichen Objekte der Schöpfung auftauchen.<br />

VI.2:179<br />

718


Die Geschichte von Kundadanta<br />

VI.2:180<br />

RĀMA sagte:<br />

Hoher Herr, als ich mich einmal im Haus meines Lehrers aufhielt, betrat jemand<br />

den Raum. Er war eine äußerst strahlende Erscheinung. Er kam gerade<br />

vom Hof des Königs Videha. Er grüßte die versammelten Heiligen, und auch<br />

wir Schüler grüßten ihn angemessen. Nachdem er sich auf seinem Sitz niedergelassen<br />

und ein wenig ausgeruht hatte, fragte ich ihn: „Heiliger, du<br />

scheinst ermüdet wie von einer langen Reise. Woher kommst du?“<br />

DER BRĀHMA×A erwiderte:<br />

Ja, du hast recht: Ich suche etwas und bin müde, weil ich mich so sehr angestrengt<br />

habe, es zu erlangen. Ich werde dir nun mitteilen, weshalb ich hier<br />

bin. Ich bin ein Brāhmaņe aus dem Land Videha. Ich werde Kundadanta genannt.<br />

Ich verlor das Interesse an den weltlichen Angelegenheiten und suchte<br />

die Gesellschaft der Heiligen und Asketen. Ich habe eine sehr lange Zeit auf<br />

dem Śrī-Berg gelebt und bin dort Bußübungen nachgegangen.<br />

Eines Tages sah ich auf diesem Berg etwas Seltsames: Ein Asket baumelte<br />

an einem Ast, an den er mit den Füßen gebunden war. Ich grüßte ihn und ging<br />

näher zu ihm hin. Ich dachte: „Dieser Asket muss lebendig sein, da sein Körper<br />

auf die Wechsel der klimatischen Umstände reagiert.“ Ich blieb dort einige<br />

Tage, diente ihm und gewann sein Vertrauen. Eines Tages fragte ich ihn:<br />

„Was ist das Ziel deiner Bußübungen?“ Der Asket erwiderte: „Verkörperte<br />

Wesen haben viele interessante Ziele im Leben.“ Ich bestand auf einer Antwort.<br />

DER ASKET sagte:<br />

Ich wurde in der Stadt Mathurā geboren und bin dort auch aufgewachsen.<br />

Ich erwarb das Wissen der Schriften. Ich hörte: „Der König erfreut sich aller<br />

Arten von Vergnügen.“ Dieses Ziel begann mich zu inspirieren. Ich entschloss<br />

mich, zum Herrscher der ganzen Welt zu werden. Daher kam ich hierher und<br />

habe mich die letzten zwölf Jahre über mit Bußübungen befasst. Damit habe<br />

ich deine Frage beantwortet, und du kannst jetzt deiner Wege gehen. Ich<br />

werde meine Bußübungen fortsetzen.<br />

DER BRĀHMA×A fuhr fort:<br />

Ich bat ihn, für die Dauer seiner Bußübungen meine Dienste anzunehmen.<br />

Im Moment, als ich dies sagte, schloss er seine Augen und wurde wie tot. Von<br />

diesem Tag an blieb ich sechs Monate an diesem Ort und diente ihm. Eines<br />

Tages erschien ein Wesen, so strahlend wie die Sonne. Ich verehrte ihn gebührlich,<br />

während der Asket ihm mental huldigte. Dieses strahlende Wesen<br />

sprach zu dem Asketen: „Oh Asket, beende diese Askese. Ich werde dir dann<br />

den Wunsch deiner Wahl erfüllen. Du wirst zum Herrscher der gesamten<br />

Welt werden, siebentausend Jahre lang als solcher regieren und diese Zeit<br />

über diesen deinen Körper behalten.“ Nach dem das Wesen diese Gunst ver-<br />

719


liehen hatte, verschwand es. Nachdem es gegangen war, sagte ich zu dem<br />

Asketen: „Nun da du die Gunst deiner Wahl erlangt hast, kannst du diese<br />

Bußübungen beenden und zu deinen üblichen Pflichten zurückkehren.“ Der<br />

Asket akzeptierte dies. Ich durchschnitt das Seil, welches seine Füße an den<br />

Baum band. Dann gingen wir beide nach Mathurā.<br />

DER BRĀHMA×A KUNDANTA fuhr fort:<br />

Auf dem Weg nach Mathurā verbrachten wir einige Zeit in einem Dorf namens<br />

Rodha und zwei Tage in einer Stadt namens Salim. Am dritten Tag erreichten<br />

wir einen Wald. Dort verließ der Asket die gewohnte Straße und<br />

sagte zu mir: „Lass uns zum Gaurī ĀÓramaæ gehen, der nahebei liegt. Dort<br />

leben meine sieben Brüder. Wir sind acht Brüder. Obwohl wir als Individuen<br />

geboren wurden, sind wir alle in demselben Bewusstsein vereint und haben<br />

alle dasselbe Ziel vor Augen, nach dem wir streben. Deswegen sind auch sie<br />

mit Bußübungen befasst. Ich bin zusammen mit ihnen hierhergekommen und<br />

habe gleich am Anfang diesen Wald erblickt, in dem sich der Gaurī ĀÓramaæ<br />

befindet. Komm, lass uns zum ĀÓramaæ gehen, der einen von allen Sünden<br />

reinigt. Sogar die Gemüter und Herzen der Gelehrten und der Wissenden sind<br />

vom Wunsche beseelt, Heilige zu besuchen. Daher sollten wir den Besuch<br />

dieser Einsiedelei als einen großen Segen betrachten.“<br />

Als wir in die Nähe des ĀÓramaæ kamen, sahen wir nichts als nackte Erde,<br />

als ob eine große Überschwemmung die Einsiedelei fortgeschwemmt hätte.<br />

Es gab keinen Baum, keine Einsiedelei, kein menschliches Wesen, keinen<br />

Weisen – gar nichts. Wir riefen beide aus: „Oh weh, was ist mit diesem Ort<br />

geschehen?“ Wir gingen durch die Umgebung und fanden einen alleinstehenden<br />

Baum. Als wir uns diesem Baum näherten, sahen wir unter ihm einen<br />

alten Asketen sitzen, der offenbar tief in samÃdhi versunken war. Wir setzen<br />

uns in seine Nähe und warteten eine beträchtliche Zeit. Er erhob sich jedoch<br />

nicht aus seiner Meditation. Dann ging ich zu ihm hin und schrie so laut ich<br />

konnte: „Oh Weiser, erhebe dich aus deiner Meditation.“ Da öffnete der Weise<br />

seine Augen und äußerte die folgenden Worte mit einer Stimme, die dem<br />

Brüllen eines Löwen ähnelte: „Ihr Heiligen, wer seid ihr? Was ist mit dem<br />

Gaurī ĀÓramaæ geschehen, der sich hier befand? Oder hat mich etwa jemand<br />

an diesen trostlosen Ort gebracht? Was ist die gegenwärtige Epoche?“ Wir<br />

waren verwirrt. Ich sagte zu ihm: „Du weißt gewiss alles, oh Weiser. Daher<br />

vermagst nur du deine eigenen Fragen zu beantworten. Weshalb versuchst du<br />

nicht, alle bisherigen Geschehnisse im Licht deiner eigenen yogischen Vision<br />

zu betrachten?“<br />

Nachdem ich so gesprochen hatte, ging der Weise erneut in tiefe Meditation.<br />

Mit Hilfe seiner inneren, psychischen Kräfte erfuhr er alles, was bisher geschehen<br />

war.<br />

Der Weise blieb eine Zeitlang still und sagte dann zu uns: „Ihr Heiligen! Hört<br />

euch diese erstaunliche Erzählung an.“<br />

DER WEISE sagte:<br />

VI.2:181<br />

720


VI.2:182<br />

Ihr seht diesen Baum hier. Aufgrund meiner Gegenwart hier ist er prachtvoll<br />

erblüht. Aus unbekannten Gründen verbrachte die Göttin des Lernens<br />

und der Sprache hier zehn Jahre und wurde währenddessen von den verschiedenen<br />

Jahreszeiten verehrt. Dieser Ort wurde zu einem dichten Urwald,<br />

der später als Gauri-vana (Gauri-Wald) bekannt wurde. In diesem Wald pflegten<br />

sich sogar die Göttinnen und die Frauen der siddhas oder der vollkommenen<br />

Weisen zu vergnügen. Sogar die Götter suchten diesen Ort auf, um zu<br />

Füßen der Göttin ihre Verehrung zu erweisen.<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Nachdem sie zehn Jahre hier verbracht hatte, kehrte Gauri an die linke Seite<br />

ihres Gemahls Lord Śiva zurück. Da sie diesen Baum berührt hatte, alterte<br />

er nicht mehr. Nach einer Zeit wurde der Wald zu einem gewöhnlichen Wald,<br />

der von den Menschen der Umgebung für ihre Zwecke genutzt wurde. Zu<br />

dieser Zeit war ich der König von MÃlava. Ich entsagte dem Königreich und<br />

kam hierher, um Bußübungen zu praktizieren. Hier trat ich in tiefe Meditation<br />

ein. Einige Zeit später kamt dann ihr acht Brüder auch hierher. Nachdem wir<br />

hier einige Zeit verbracht hatten, gingst du fort zum Śrī-Berg, ein anderer<br />

zum Krau¤ca-Berg, ein anderer nach KÃÓī und wieder ein anderer in die<br />

HimÃlayas. Die verbliebenen vier setzten hier ihre Bußübungen fort. Jeder<br />

von ihnen wollte zum Herrscher der gesamten Erde werden. Alle erlangten<br />

sie die entsprechenden Gunstbeweise der Götter. Nachdem sie sich lange<br />

genug der Früchte ihrer Bußübungen erfreut hatten, kehrten alle mit der<br />

Ausnahme von dir nach Hause zurück. Ich selbst habe diesen Platz nie verlassen.<br />

Die Leute hielten mich und diesen Baum in großer Verehrung. Ich bin<br />

hier seit sehr langer Zeit. All dieses konnte ich mit Hilfe meiner yogischen<br />

Kräfte sehen. Nun kehre auch du heim zu deiner Familie.“<br />

(Als Erwiderung auf Kundadantas Frage: „ Es gibt nur eine Erde – wie kann<br />

sie von acht Leuten gleichzeitig regiert werden?“ sagte der Weise) „Dies ist<br />

nicht die einzige rätselhafte Sache, es gibt da noch andere! Tatsächlich werden<br />

alle diese acht Brüder nach der Aufgabe ihrer physischen Körper die Erde<br />

innerhalb ihres eigenen Hauses regieren. Sie werden außerdem ihre (acht)<br />

Frauen stets bei sich als ihre Sterne behalten... Denn diese ihre Frauen versanken<br />

in untröstlicher Trauer, als ihre Gatten zum Zweck der Bußübungen<br />

ihr Zuhause verließen – Frauen können die Trennung von ihren Ehegatten<br />

nicht ertragen. Auch diese Frauen nahmen dann intensive Bußübungen auf.<br />

Dies erfreute die Göttin PÃrvati, die ihnen daraufhin eine Gunst gewährte. Sie<br />

sprachen: „So wie du deinen Herrn liebst, so lieben wir unsere Gatten. Bitte<br />

gewähre ihnen die Unsterblichkeit!“ Die Göttin wies jedoch darauf hin, dass<br />

dies gegen die natürliche Ordnung verstößt. Sie forderte sie auf, sich eine<br />

andere Gunst zu erbitten. Die Frauen baten: „Auch wenn unsere Gatten sterben<br />

und ihre Körper abwerfen, sollen sie doch niemals unser Zuhause auch<br />

nur für einen Moment verlassen.“ Die Göttin gewährte diese Gunst und noch<br />

eine weitere, nämlich dass ihre Gatten die Erde regierten sollten. Bald danach<br />

721


VI.2:183<br />

kehrten die sieben Brüder nach Hause zurück. Heute wird auch der achte<br />

zurückkehren.<br />

In dieser Geschichte gibt es noch etwas Wunderbares. Als die acht Brüder in<br />

den Wald zur Praxis der Bußübungen fortgegangen waren, begaben sich die<br />

trauernden Eltern begleitet von den Frauen der acht Brüder auf eine Pilgerfahrt.<br />

Auf ihrem Weg begegnete ihnen ein kleingewachsener, aschebeschmierter<br />

Asket von rötlicher Hautfarbe, der sich auf dem Weg nach einem heiligen<br />

Ort namens KalÃpagrÃma befand. Sie verehrten ihn nicht, sondern begegneten<br />

ihm mit Argwohn. Der Asket, der in Wahrheit DurvÃsa war, wurde zornig<br />

und verfluchte sie: „Ihr werden den Preis eures Hochmuts bezahlen. Eure<br />

Söhne und eure Schwiegertöchter werden zwar Gunstbeweise von den Göttern<br />

erlangen, doch werden diese in ihr Gegenteil ausschlagen!“ Sie erkannten<br />

ihren Fehler und beeilten sich, die Vergebung des Asketen zu erlangen.<br />

Dieser jedoch verschwand, noch bevor sie ihn erreichen konnten.<br />

KUNDADANTA sprach:<br />

Oh Weiser, es gibt nur eine Erde – wie können diese sieben Herrscher der<br />

Erde denn gleichzeitig regieren? Wie kann jemand zum Herrscher der Erde<br />

werden, der sein Haus niemals verlässt? Welches Schicksal erwartet eine<br />

Person, die gleichzeitig Segen (Gunstbeweise) und Fluch, welche einander<br />

widersprechen, empfangen hat?<br />

DER WEISE sprach zum Asketen:<br />

Du wirst selbst sehen, wie alles dieses möglich wird!<br />

Du wirst schon bald nach Hause zurückkehren und wieder mit deiner Familie<br />

vereint sein. Im Verlaufe der Zeit werdet ihr alle sterben. Eure Körper<br />

werden von euren Verwandten verbrannt. Ihr alle werdet eine kurze Zeit lang<br />

getrennt und wie im Tiefschlaf im Raum des Bewusstseins verweilen. In der<br />

Zwischenzeit werden sich eure sämtlichen karmas (die Gunstbeweise und die<br />

Flüche) um euch herum versammeln. Die Gunstbeweise wie auch die Flüche<br />

werden eine eigene Gestalt annehmen. Die Gunstbeweise werden einen erfreulichen<br />

Ausdruck und lotosgleiche Hände, vier Arme und einen Streitkolben<br />

haben. Die Flüche werden grimmig dreinblicken, schwarz, zweiarmig und<br />

dreiäugig sein und einen Dreizack haben.<br />

Die Gunstbeweise werden zu den Flüchen sagen: „Verschwindet, ihr Flüche<br />

– unsere Zeit ist gekommen und ihr könnt sie nicht übertreten.“ Die Flüche<br />

werden zu den Gunstbeweisen sagen: „Verschwindet, ihr Gunstbeweise –es<br />

ist unsere Zeit, und niemand vermag dem zuwider zu handeln.“<br />

Die Gunstbeweise werden sagen: „Ihr wurdet von dem Weisen gemacht,<br />

aber wir wurden von der Sonne gemacht.“ Die Flüche werden erwidern: „In<br />

der Tat wurdet ihr von der Sonne erschaffen, aber wir sind aus einem Teil von<br />

Lord Rudra selbst geboren worden, der sogar den Devas und Göttern überlegen<br />

ist; der Weise ist ein Teil oder ein Glied von Lord Rudra.“ So antwortend,<br />

werden die Flüche ihren Dreizack zum Kampf erheben.<br />

722


Daraufhin werden die Gunstbeweise erwidern: „Oh ihr Flüche, betrachtet<br />

nur all das Böse, welches aus eurem Hader hier erwächst. Gebt eure feindselige<br />

Haltung auf und lasst uns gemeinsam darüber befinden, was hier am<br />

besten zu tun ist. Eventuell müssen wir uns für eine Entscheidung an Brahmā<br />

den Schöpfer wenden. Weshalb nicht gleich zu ihm gehen?“ Die Flüche werden<br />

zustimmen, denn wahrhaftig schlägt nur ein Narr einen weisen Rat in<br />

den Wind. Alle zusammen werden sich zu Brahmā begeben und ihn über den<br />

Disput informieren. Brahmā wird dann zu ihnen sagen: „Derjenige von euch,<br />

der die Wahrheit in sich trägt, wird den Disput gewinnen. Schaut daher nach<br />

innen und findet heraus, was sich innen befindet.“<br />

Daraufhin werden die Flüche sagen: „Wir sind besiegt, oh Höchster Herr,<br />

denn in uns gibt es nichts von Wert. Wir alle, oh Höchster Herr, sowohl die<br />

Gunstbeweise wie auch die Flüche, sind tatsächlich reines Bewusstsein – wir<br />

besitzen nicht einmal einen Körper.“<br />

DER WEISE fuhr fort:<br />

Die Flüche werden dann noch erklären: „Das Bewusstsein, welches die<br />

Gunst gewährt durch den Geber der Gunst, lässt den Empfänger der Gunst<br />

denken: „Ich habe die Gunst empfangen.“ Dasselbe Bewusstsein erfährt dann<br />

die entsprechende Verkörperung und die Früchte der Gunstbeweise. Das<br />

Gewähren des Gunstbeweise durch diejenigen, die sie gewähren, als auch das<br />

Empfangen der Gunstbeweise durch diejenigen, die sie erbittet haben, setzen<br />

sich daher in ihrer beider Bewusstsein fest und bilden so einen Teil ihrer<br />

Essenz. Auf diese Weise werden sie für uns unüberwindlich. Das Reine erobert<br />

stets das Unreine. Nur falls die Gunstbeweise und die Flüche ebenbürtig<br />

sind, erzeugen sie gemischte Ergebnisse wie mit Wasser vermischte Milch.<br />

Diese Ergebnisse werden von der Person wie in einem Traum erfahren.<br />

Höchster Herr, erlaube uns zu gehen.“ Die Flüche werden sich dann zurückziehen.<br />

Es wird eine neue Situation entstehen. Jetzt werden sich die Gunstbeweise,<br />

die dazu führen sollten, dass die jīvas der Brüder niemals das Haus verlassen<br />

sollen, in einen Fluch verwandeln und den Gunstbeweis bezüglich der Herrschaft<br />

über die gesamte Erde anfechten. Der letztere wird sich zur Entscheidung<br />

der Lage an Brahmā den Schöpfer wenden. Brahmā wird sagen: „Obgleich<br />

beide Gunstbeweise, oberflächlich betrachtet, miteinander zu kollidieren<br />

scheinen, sind tatsächlich beide von ihnen bereits in Erfüllung gegangen.<br />

Denn die acht Brüder existieren nun in ihrem eigenen Haus und sind doch,<br />

seit sie ihren physischen Körper verlassen haben, gleichzeitig auch die Herrscher<br />

der gesamten Welt.“<br />

Sämtliche Gunstbeweise werden nun Brahmā ihre Zweifel vortragen: „Wir<br />

haben gehört, dass es nur eine Erde gibt. Wie ist es den acht Brüdern dann<br />

möglich, die Erde zu regieren und trotzdem in ihren Häusern zu verweilen?“<br />

Brahmā wird erwidern: „Eure Welt und unsere Welt sind beide reine Leere<br />

und existieren in einem subatomaren Teilchen, wie ein Traumobjekt innerhalb<br />

von einem selbst erfahren wird. Was ist denn so erstaunlich an den acht<br />

723


VI.2:184<br />

Brüdern, die in ihren eigenen Häusern die Existenz mehrerer Welten erfahren?<br />

Gleich nach dem Tode wird diese Welt als genau das erfahren, was sie ist:<br />

als eine dichte Leere innerhalb des eigenen Gemüts. Schon in einem einzigen<br />

Atom erstrahlt die gesamte Erde – um wie viel mehr in einem Haus. Was auch<br />

immer ist, ist das unendliche Bewusstsein – etwas, was man die Erde nennen<br />

könnte, gibt es nicht.“ Nachdem Brahmā so gesprochen haben wird, werden<br />

sich die Gunstbeweise vor ihm verneigen und wieder ihre subtile Existenzform<br />

annehmen, nachdem sie zuvor ihre falschen Vorstellungen über eine<br />

physische Existenzform ablegen werden.<br />

Sofort werden dann die acht Brüder, die sich gegenseitig nicht kennen, zu<br />

den Herrschern der Erde werden. Der eine wird Ujjaini, ein anderer<br />

Śākadvīpa, ein anderer KuÓadvīpa, ein anderer Sālmāidvīpa regieren und sich<br />

beim Spiel im Wasser mit Himmelsbewohnern erfreuen. Ein anderer wird<br />

Krauñcadvīpa und wieder ein anderer Gomedadvīpa regieren. Der letzte wird<br />

Pu«karadvīpa regieren. So werden also beide Gunstbeweise erfüllt werden.<br />

KUNDADANTA fragte:<br />

Wie können in einem Haus acht Erdenbälle existieren?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Das unendliche Bewusstsein ist allgegenwärtig und erstrahlt überall auf<br />

jede Weise. Das Selbst nimmt die Welt innerhalb von sich selbst wahr.<br />

KUNDADANTA fragte erneut:<br />

In dem einen Höchsten Herrn, der das unendliche Bewusstsein ist, wie existiert<br />

die Vielfalt, als wäre sie real?<br />

DER WEISE sprach:<br />

Es gibt nur ein unendliches Bewusstsein, das höchster Friede ist, während<br />

es Vielfalt überhaupt nicht gibt, obwohl sie als solche erfahren werden mag.<br />

Die Vielfalt, die scheinbar existiert, ist wie Traum und Tiefschlaf illusionär<br />

und falsch. Obgleich es da Bewegung zu geben scheint, gibt es keine – die<br />

Berge sind keine Berge. Wie in einem Traum existiert nur die Natur des Selbst<br />

als all dies. Aber sogar diese Natur existiert nicht und daher existieren auch<br />

die verschiedenen Objekte nicht. Nur das, was das unendliche Bewusstsein<br />

sich einmal vorgestellt hat, existiert immer noch, wie es war. Nicht einmal<br />

diese Vorstellungen sind real, denn nur das unendliche Bewusstsein existiert,<br />

wie es schon immer existiert hat.<br />

Nur das höchste Wesen existiert in den Blumen, Blättern, Früchten, Säulen,<br />

Bäumen überall und in allem als alles und als „das andere“. Die beiden Ausdrücke<br />

wie „das höchste Wesen“ und „das Universum“ sind Synonyme. Sobald<br />

diese Wahrheit durch das Studium der Schriften, die von der Selbsterkenntnis<br />

handeln, realisiert wird, ist da Befreiung. Der Inhalt oder die Realität der<br />

Ideen und Gedanken ist Brahman oder das unendliche Bewusstsein, welches<br />

selbst der Inhalt oder die Realität der Welterscheinung ist. Daher ist die Welt<br />

724


Brahman. Beschreibungen und was jenseits aller Beschreibung ist, Gebote<br />

und Verbote, Existenz und Nicht-Existenz, Stille und Nicht-Stille, jīva und das<br />

Selbst – all dies ist Brahman und nur die Realität scheint eine irreale Erscheinungsform<br />

angenommen zu haben. Was ist Aktivität und was ist Entsagung<br />

und alles andere, wenn doch all dies hier nur Brahman ist? Wie in einem<br />

Schlaf sowohl der Schlaf wie auch tausend Träume auftauchen, so tauchen in<br />

dem einen unteilbaren Bewusstsein die zahllosen Erscheinungen auf. Alle<br />

diese sind essenziell reines Bewusstsein, das extrem subtil ist. Obwohl sie<br />

sichtbar zu sein scheinen, sind sie in Wahrheit unsichtbar. Das gesamte Universum<br />

(einschließlich von Rudra, Viåņu und Brahmā) ist wie ein Traum.<br />

In diesem einzigen Ozean des Bewusstseins taucht all diese Vielfalt mit all<br />

ihren Freuden und Leiden auf. So wie jemand mit einer Fehlsichtigkeit seltsame<br />

Objekte am Himmel sieht, so nehmen die unwissenden Menschen die<br />

Welt wahr. Die Ideen, die in Brahmā dem Schöpfer (namens Weltordnung)<br />

auftauchen, bringen all dieses hervor und erhalten es am Leben.<br />

KUNDADANTA sagte:<br />

Die Erinnerung taucht auf, wenn im eigenen Bewusstsein eine vergangene<br />

Erfahrung auftaucht. Wessen Erinnerung hat sich zu Beginn dieser Schöpfung<br />

zu dieser Schöpfung erweitert?<br />

DER WEISE erwiderte:<br />

Alles wird gesehen und erfahren, obwohl es zuvor noch niemals gesehen<br />

oder erfahren worden ist – wie wenn man vom eigenen Tod träumt. Zu einer<br />

Erinnerung wird das, was man wiederholt in der Form von „dies habe ich<br />

schon früher gesehen“ denkt. Das eingebildete Objekt erscheint im Raum des<br />

eigenen Bewusstseins und man vermag nicht zu sagen, ob es real oder irreal<br />

ist. Nur durch die Gnade (oder die Macht) des Bewusstseins werden Träume<br />

und ähnliches überhaupt erfahren. Wie ist es dann für dieses reine Bewusstsein<br />

unmöglich, die Welterscheinung wie eine wiederbelebte Erinnerung<br />

hervortreten zu lassen? So wie man am Ende des Tiefschlafs zu träumen<br />

beginnt, so erscheinen im unendlichen Bewusstsein die drei Welten. Was man<br />

die Welt nennt, ist reine Leere. Was ist und in was es ist und von woher es ist<br />

– das, was alles ist, existiert überall und immer.<br />

Erhebe dich nun und tue, was zu tun ist. Ich werde meine Kontemplation<br />

fortsetzen, denn ohne Kontemplation kann Kummer entstehen.<br />

KUNDADANTA sprach:<br />

Nachdem er so gesprochen hatte, schloss der Weise sofort seine Augen und<br />

trat in tiefe Meditation ein. Sein Lebensatem und sein Gemüt hatten aufgehört<br />

sich zu bewegen, und daher saß er nun still wie ein gemaltes Bild. Wir versuchten,<br />

ihn anzusprechen, aber er hörte uns nicht. Wir waren unglücklich<br />

darüber, ihn verloren zu haben. Schließlich gingen wir doch von dort fort und<br />

gingen langsam wieder zum Haus.<br />

Im Verlaufe der Zeit verstarben sieben Brüder. Nur mein Freund, der achte<br />

Bruder, lebte noch. Auch er verschied später. Ich fühlte mich von Gram über-<br />

VI.2:184,<br />

185<br />

725


wältigt. Ich begab mich deshalb ein weiteres Mal zu dem Weisen am Fuße des<br />

Kadamba-Baumes. Ich wartete darauf, dass er mich bemerken würde. Nach<br />

drei Monaten öffnete er seine Augen. Als Antwort auf meine Gebete sagte er<br />

zu mir: „Ich bin samÃdhi oder der Kontemplation ergeben. Ich vermag dies<br />

nicht einmal einen Moment lang aufzugeben. So lange du die Wahrheit nicht<br />

immer und immer wieder vernommen und darüber immer und immer wieder<br />

meditiert hast, wird sie dir nicht restlos klar werden. Daher werde ich dir<br />

nun sagen, was du tun solltest: Gehe nach AyodhyÃ. Dort gibt es einen König<br />

namens DaÁaratha. Sein Sohn heißt Rāma. Sein Guru Vāsi«Âha führt Diskurse<br />

über die Mittel der Befreiung. Höre dir diese an. Dann wirst du den höchsten<br />

Frieden erlangen.“ Nachdem er so gesprochen hatte, trat er erneut in samÃdhi<br />

ein. So bin ich an diesen Ort gekommen, um mit dir zusammen zu sein.<br />

RĀMA sagte:<br />

Dieser Kundadanta sitzt hier neben mir und hat andächtig diesem Diskurs<br />

über die Mittel der Befreiung gelauscht. Heute ist er daher von allen Zweifeln<br />

befreit.<br />

VASIåèHA fragte Kundadanta:<br />

Sage uns, was du im Verlaufe dieses Diskurses gelernt hast.<br />

KUNDADANTA erwiderte:<br />

Nur die Eroberung des Gemüts führt zur Zerstörung aller Zweifel. Ich habe<br />

eine Erkenntnis erlangt, in der es keine Widersprüche gibt. All meine Vorbehalte<br />

haben sich gelegt. Ich bin fest im höchsten Zustand verankert. Ich habe<br />

dies von dir erfahren: Nur das unendliche Selbst oder Bewusstsein existiert<br />

im unendlichen Raum als diese Welt. Alles existiert überall in allem als alles<br />

und für immer. Das gesamte Universum existiert in einem Senfsamen; wird<br />

die Realität jedoch erkannt, dann existiert das Universum nicht in einem<br />

Senfsamen. Das Universum existiert in einem Haus, aber das Haus selbst ist<br />

reine Leere. Es ist nur Brahman oder das unendliche Bewusstsein, welches<br />

als all dies erscheint und als all dies erfahren wird.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Es ist wunderbar, dass dieser große Mann nun die Erleuchtung erfahren<br />

hat. Er hat vollkommen erkannt, dass das gesamte Universum Brahman ist.<br />

Nur aufgrund von Täuschung geschieht es, dass Brahman als die Welt gesehen<br />

wird. Doch ist diese Täuschung selbst Brahman, der höchster und unendlicher<br />

Friede ist. Was auch immer ist, wo, wann und wie, das ist dann dort<br />

und auf diese Weise. Was auch immer das unendliche Bewusstsein von sich<br />

selbst denkt, als das erscheint es. Das gesamte Universum (brahmÃï¬a) existiert<br />

in einem Atom des unendlichen Bewusstseins – daher ist ein Atom selbst<br />

das Universum. Das unendliche Bewusstsein ist unteilbar. Wenn dies erkannt<br />

wird, hören Bindungen von Geburt usw. auf, und das ist Befreiung. Sei, was<br />

du bist – frei von aller Pein.<br />

VI.2:185,<br />

186<br />

726


Du bist das Objekt der Wahrnehmung; du bist der Seher. Du bist Bewusstsein<br />

und du bist Trägheit. Du bist etwas und du bist nichts. Denn Brahman<br />

ruht in sich selbst. Es gibt keine zwei Dinge wie Brahman und das objektive<br />

Universum – sie sind eins wie Raum und Leere. Ein intelligenter, bewusster<br />

Mensch, wenn er schläft, scheint leblos und nicht-fühlend zu sein. Auf dieselbe<br />

Weise scheint das unendliche Bewusstsein die leblosen Objekte in dieser<br />

Schöpfung zu sein. Das unendliche Bewusstsein wird später die fühlenden<br />

Objekte, so wie der schlafende Mensch zu träumen beginnt. Dies setzt sich so<br />

lange fort, bis die Person die Befreiung erlangt und realisiert, dass diese<br />

Welterscheinung ein langer Traum gewesen ist. Es geschieht aufgrund des<br />

dem unendlichen Bewusstsein eingeborenen Gewahrseins, dass es sich selbst<br />

für ein nicht-fühlendes und unbewegliches Wesen hält. Aufgrund desselben<br />

Gewahrseins hält es sich dann wiederum für ein fühlendes und bewegliches<br />

Wesen. So wie ein und dieselbe Person fühlende und scheinbar leblose Körperteile<br />

hat, so bilden all die fühlenden und nicht-fühlenden Objekte dieser<br />

Schöpfung zusammen den Körper des unendlichen Bewusstseins.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Ganz am Anfang der Schöpfung sind im unendlichen Bewusstsein traumartige<br />

Gestaltungen aller Art erschienen und bestehen bis heute als diese<br />

Schöpfung fort. Bewusstsein jedoch ist unteilbar und extrem subtil – es gibt<br />

daher in ihm keinerlei Vielfalt, auch jetzt nicht. Schöpfung, Existenz und Auflösung<br />

sind in der Sichtweise der Erleuchteten wie uns inexistent. Obgleich<br />

das unendliche Bewusstsein unteilbar ist, erfährt es in sich selbst die zwei<br />

Zustände von Bindung und Befreiung, wobei die traumartige Erfahrung der<br />

Vielfalt Bindung und der schlafähnliche Zustand Befreiung genannt wird.<br />

Allein das unendliche Bewusstsein sieht: „Dies ist die Schöpfung“, „dies ist<br />

die Auflösung“, „dies ist Wachen“ und „dies ist Träumen“. Das unendliche<br />

Bewusstsein kann man mit dem homogenen Tiefschlafzustand vergleichen,<br />

während der mit einem Traum vergleichbare Teil das Gemüt darstellt. Dieses<br />

Gemüt betrachtet als jīva sich selbst als Gott, Dämon usw., befreit aber auch<br />

alle Wesen wieder von dieser Vielfalt. Sobald dies realisiert wird, ist die Homogenität<br />

des traumlosen Schlafes hergestellt und dies wird von denen, die<br />

sich um die Befreiung bemühen, als Befreiung angesehen.<br />

Nur das Gemüt ist all dies: Mensch, Gott, Dämon, Bäume und Berge, Kobolde,<br />

Vögel und Würmer. Nur es selbst wird zu der hier wahrgenommenen<br />

unendlichen Vielfalt, die von Brahmā dem Schöpfer bis zur Säule reicht. Es ist<br />

das Gemüt, welches den Raum über uns wahrnimmt. Das Gemüt ist die dynamische<br />

und aggressive Form des unendlichen Bewusstseins. Sobald daher<br />

die Idee des Universum im unendlichen Bewusstsein auftaucht, denken wir,<br />

dass es das Gemüt ist, welches alles hervorgebracht hat. Nur das Gemüt ist<br />

der jīva. Es ist ohne Anfang und ohne Ende. Es ist wie Raum, der in Töpfen<br />

und Krügen enthalten zu sein scheint, ohne durch sie begrenzt zu werden. Er<br />

nimmt Körper an und gibt sie wieder auf. Realisiert es jedoch seine eigene<br />

727


wahre Natur, dann hört die irreführende Idee der physischen Verkörperung<br />

auf.<br />

Das Gemüt ist wie das winzigste Teilchen eines Atoms. Das Gemüt ist die<br />

Persönlichkeit oder der jīva. Die Welt oder die Schöpfung existiert daher in<br />

der Person oder dem jīva. Alle in dieser Welt wahrgenommenen Objekte sind<br />

nichts als das Gemüt selbst – so wie die Traumobjekte nichts als das Gemüt<br />

selbst sind. Noch einmal: Die Person oder jīva ist auch nichts anderes als das<br />

Gemüt. Daher ist klar, dass die Welterscheinung und das Selbst nicht verschieden<br />

voneinander sind.<br />

Alle Substanzen, die in diesem Universum wahrgenommen werden, sind<br />

tatsächlich reines Bewusstsein. Was abgesehen von diesem Bewusstsein<br />

wahrgenommen wird, ist wie ein Traum; nur eine Idee oder ein Gedanke wie<br />

etwa das Schmuckstückhafte des Goldes.<br />

Diese Vorstellung der Schöpfung, die im unendlichen Bewusstsein erscheint,<br />

wird das Universum genannt. Dieses Phänomen wurde verschiedentlich<br />

als saÇkalpa (Gedanke oder Idee) usw. beschrieben.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im Verlaufe der Zeit taucht durch die konstante Praxis von vicÃra oder Ergründung<br />

und des Gleichmuts im weisen Menschen (oder bei dem von Geburt<br />

an reinen Wesen) die vollkommene Erkenntnis auf, die ihn befähigt, in allem<br />

die Realität zu sehen. Daraufhin erlangt diese buddhi oder erweckte Intelligenz<br />

ihre Natur als reines Bewusstsein, frei von aller Dualität, zurück. Das<br />

unendliche Bewusstsein ist ohne Körper und nicht verschleiert; sein einziger<br />

Körper ist sein Gewahrsein und seine Fähigkeit, alle Dinge zu erleuchten.<br />

Dadurch geschieht es, dass das Bewusstsein alles, woran es als existierend<br />

denkt, als Ergebnis seiner eigenen Gedanken wahrnimmt. Dieses gesamte<br />

Universum ist eine Idee, die im unendlichen Bewusstsein auftaucht. Auch das<br />

Selbst ist fähig dazu, in sich selbst verschiedene Gedanken auftauchen zu<br />

lassen und dann die Materialisation dieser Gedanken zu erfahren. Daher<br />

werden auch Gunstbeweise und Flüche als im Bewusstsein erscheinende<br />

Gedanken erfahren, aber sie sind nicht von diesem verschieden. So lange der<br />

Schleier der Unwissenheit noch nicht beseitigt ist und man immer noch<br />

verschiedenen Gedanken über Dualität und Vielfalt nachhängt, sind die von<br />

einer solchen Person gewährten Gunstbeweise wirkungslos.<br />

RĀMA fragte:<br />

Auf welche Weise verleiht eine unerleuchtete, aber rechtschaffene Person<br />

eine Gunst?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was auch immer Brahmā der Schöpfer zu Beginn der Schöpfung verfügt<br />

hat, das existiert auch heute noch. Brahmā ist nicht verschieden von Brahman,<br />

dem unendlichen Bewusstsein. Es war Brahmā, der durch seine eigene<br />

Gedankenkraft die Maßstäbe der Rechtschaffenheit, die Wohltätigkeit, die<br />

Entsagung, die edlen Eigenschaften, die Veden und weitere Schriften und die<br />

728


fünf großen Elemente ins Dasein gerufen hat. Er hat darüber hinaus verfügt,<br />

dass die Äußerungen (Gunstbeweise usw.) von Asketen und den Wissenden<br />

Realität werden mögen. Es war Brahmā, der auch die Natur sämtlicher Substanzen<br />

hier festgelegt hat. So wie wir im Traum zu unseren eigenen Traumobjekten<br />

werden, so wird das Bewusstsein, obgleich real und bewusst, zu der<br />

unwirklichen Welterscheinung mit all ihren fühlenden und nicht-fühlenden<br />

Objekten. Die unwirkliche Welterscheinung wird dann später aufgrund beständig<br />

wiederholter Affirmation und der Überzeugung ihrer Wirklichkeit als<br />

eine Realität betrachtet. Wer sich Tagträumereien hingibt, vermag sogar<br />

Steinskulpturen wie reale Tänzer tanzen zu sehen. Ebenso wird diese Welterscheinung,<br />

die in Brahman auftaucht, als eine Realität erdacht.<br />

Der Seher und das Gesehene sind nicht verschieden voneinander – Bewusstsein<br />

ist sich seiner selbst als Bewusstsein bewusst. Daher sieht es all<br />

das, was es zu sehen wünscht. Ich bin das unendliche Brahman, das die kosmische<br />

Person ist, deren Körper die Welt ist. Folglich sind die Welt und<br />

Brahman nicht verschieden voneinander. So wie ein bewusstes Wesen sich<br />

gelegentlich in einem unbewussten Zustand befinden mag, so existiert sogar<br />

das höchste Wesen oder das unendliche Bewusstsein als die anscheinend<br />

leblose Welt. Im Traum gibt es „Licht“ und im Tiefschlaf gibt es Finsternis,<br />

obwohl beides in ein und demselben Schlaf stattfindet. Auf dieselbe Weise<br />

scheinen Licht und Finsternis in dem einen, unendlichen Bewusstsein zu<br />

existieren.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wie funktioniert in dieser Welterscheinung mit aller ihrer verblüffenden<br />

Vielfalt die kosmische Ordnung (niyati)? Wie kommt es, dass von allen Himmelskörpern<br />

die Sonne so heiß ist, und wer hat verfügt, dass die Tage<br />

manchmal länger und dann wiederum kürzer sind?<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Die kosmische Ordnung erscheint und existiert im höchsten Wesen oder<br />

dem unendlichen Bewusstsein aufgrund von schierer Koinzidenz (wie die<br />

reife Kokosnuss zufällig beim Landen einer Krähe darauf herabfällt). Die Art<br />

und Weise, wie sie existiert, nennt man das Universum. Wegen der Unendlichkeit<br />

und der Allmacht des Bewusstseins wird diese kosmische Ordnung<br />

als erfüllt von Intelligenz gesehen. Was dann als solches existiert, nennt man<br />

die kosmische Ordnung, niyati.<br />

Eine momentane Bewegung innerhalb des Bewusstseins wird von diesem<br />

betrachtet als: „Dies ist die Schöpfung“. Gibt es dann eine weitere momentane<br />

Bewegung von Energie im Bewusstsein, betrachtet dieses es als: „Dies ist eine<br />

Epoche“. Weitere Bewegungen von dieser Art der Energie im Bewusstsein<br />

werden als Zeit, Tätigkeit, Raum, Substanz usw. bezeichnet. Sogar die Form,<br />

das Sehen und der Gedanke betreffend all dies sind nur Bewegungen von<br />

Energie, die aus eigenem Antrieb im Bewusstsein, das formlos ist, auftaucht.<br />

Was auch immer so auftaucht, nennt man die Eigenschaften der betreffenden<br />

Substanz und dies wurde dann als die kosmische Ordnung bekannt.<br />

VI.2:187<br />

729


In ihrem Wesen sind ein Augenblick und eine Epoche ähnliche Bewegungen<br />

der Energie im unendlichen Bewusstsein. Beide entstehen auf natürliche<br />

Weise im Bewusstsein und werden daher als Natur oder kosmische Ordnung<br />

betrachtet. So tauchen in dem einen Bewusstsein zahllose Substanzen mit<br />

ihren jeweils spezifischen Eigenschaften auf. Die Erde beispielsweise ist mit<br />

Festigkeit und Solidität ausgestattet und ist in der Lage, lebende Wesen zu<br />

erhalten, und das ist ihre Eigenschaft in der kosmischen Ordnung. Dasselbe<br />

gilt für die fünf Elemente usw. einschließlich der Sonne. Ihre Eigenschaften<br />

tauchen als entsprechende Bewegung von Energie im Bewusstsein auf und<br />

werden dann zur kosmischen Ordnung. Das Himmelszelt dreht sich wie ein<br />

Rad, und auch das wiederum aufgrund der Bewegung der Energie, die im<br />

Bewusstsein auftaucht. Es gibt darin mehr oder weniger strahlende Sterne,<br />

während andere wiederum überhaupt nicht leuchten. In dieser Welterscheinung<br />

sind die Eigenschaften der verschiedenen Objekte selbst verschieden. In<br />

Wirklichkeit jedoch wurden sie alle nicht als diese Objekte erschaffen. Nur<br />

das unendliche Bewusstsein erscheint als all dies. Die Art und Weise, in der<br />

diese Dinge so lange zu existieren scheinen, wie sie existieren, nennt man die<br />

Natur oder die kosmische Ordnung, niyati.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Im unendlichen Raum ist das Wurzelelement des Klanges verborgen wie<br />

der Keimling im Samen. Daraus haben die närrischen Leute dann Theorien<br />

über eine materielle Schöpfung gesponnen zur Unterhaltung anderer närrischer<br />

Leute. Nichts ist jemals ins Dasein getreten, noch hört irgendetwas auf<br />

zu sein; was ist, existiert als solches fest verankert im höchsten Frieden wie<br />

das Innere eines Felsens. So wie es beim Lebewesen mit Gliedmaßen und<br />

Organen die beständige und endlose Erneuerung aller Zellen (Atome) der<br />

Organe gibt, so gibt es kein Ende der Universen im höchsten Wesen.<br />

Das unendliche Bewusstsein wird sich eines Teils seines eigenen Seins bewusst,<br />

woraufhin das Gewahrsein darin auftaucht. Diesem folgt die Vorstellung<br />

einer Beziehung, das Wort dafür und das entsprechende Objekt. Da<br />

dieses Gewahrsein die Fähigkeit hat zur Beobachtung und Ergründung dessen,<br />

was es beobachtet, wird es als Bewusstsein erkannt.<br />

Aus dieser Masse von Bewusstheit tauchen der jīva und alles andere auf.<br />

Auf dieser Stufe ist er jedoch in Ermangelung der Unwissenheit noch nicht<br />

individualisiert. Sobald jedoch die Unwissenheit in ihm auftaucht, wendet er<br />

sich dem saæsāra zu. Angefüllt ist er mit den ungeborenen Elementen. Auf<br />

dieser Stufe kommen der Ich-Sinn oder die Individualisierung zusammen mit<br />

dem Empfinden von Zeit zum Vorschein. Dies ist der vitale Faktor bezüglich<br />

der Existenz der Welt.<br />

Das Bewusstsein selbst wird auf diese Weise individualisiert. In ihm taucht<br />

der Gedanke des Wurzelelements des Raums auf. Mit diesem zusammen<br />

erscheint dessen Beziehung, das betreffende Wort (der Name) und die Bedeutung<br />

(das Objekt). Später entstehen aus diesem die anderen Elemente<br />

und die vierzehn Welten.<br />

730


Das Bewusstsein entwickelt schließlich den Gedanken von Bewegung. Diese<br />

Bewegung ist Luft mit den dazugehörigen Aktivitäten des Berührungssinns<br />

und des Lebens aller Wesen. Ähnlich ist es mit dem Licht, welches im Bewusstsein<br />

als das Wurzelelement der Form erstrahlt und allen Wesen ihre<br />

Form verleiht. Die Erfahrung des Sehens ist Licht, die Erfahrung der Berührung<br />

ist der Berührungssinn, die Erfahrung des Hörens ist der Gehörsinn.<br />

Ebenso tauchen die Wurzelelemente für Geschmack und Geruch auf. Obgleich<br />

als unabhängige Substanzen irreal, erscheinen sie wie im Traum als real. Alle<br />

diese verbinden sich später miteinander und erzeugen dadurch die groben<br />

Formen usw. Sie sind keine realen Wesenheiten, sondern nur Materialisationen<br />

der Vorstellungen oder Ideen, die im unendlichen Bewusstsein auftauchen.<br />

Das, was Formen sehen lässt, nennt man Auge; das, was Töne hören lässt,<br />

nennt man Ohr; das, was Berührung erfahren macht, nennt man Haut; das,<br />

was Geschmack erfahrbar macht, nennt man Zunge; das, was Geruch erfahrbar<br />

macht, nennt man Nase (oder anstelle der Organe den entsprechenden<br />

inneren Sinn). Aufgrund der räumlichen und zeitlichen Begrenzungen bindet<br />

sich der jīva in die kosmische Ordnung ein und wird dann unfähig, alles auf<br />

einmal zu erfahren.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der Ausdruck: „Am Anfang“, der so verwendet wird, als gäbe es tatsächlich<br />

einen Anfang oder auch nur den Gedanken an eine Schöpfung, dient nur dem<br />

Zweck der Unterweisung und ist nicht die Wahrheit. Der Gedanke, der im<br />

Bewusstsein auftaucht, aber als solcher nicht vom Bewusstsein selbst verschieden<br />

ist, wird als jīva bezeichnet, sobald er nach außen wandert, um<br />

Objekte wahrzunehmen.<br />

Dieser Gedanke oder dieses Konzept hat verschiedene Namen und Beschreibungen.<br />

Da Bewusstsein durch ihn zu einer lebenden Wesenheit geworden<br />

ist, nennt man ihn jīva. Da er sich des Objekts bewusst ist, wird er<br />

Bewusstsein (cit) genannt. Da er sämtliche Dinge in „dies ist dies“ einordnet,<br />

nennt man ihn buddhi (klassifizierende Intelligenz). Da er Konzepte und<br />

Wahrnehmungen ersinnt, nennt man ihn Gemüt (manas). Weil er sich selbst<br />

als „ich bin“ versteht, nennt man ihn Ich-Sinn (ahaækāra). Weil er reich an<br />

Bewusstsein ist, nennt man ihn citta (Psyche). Weil er ein Netzwerk fester<br />

Ideen webt, nennt man ihn purya«Âaka. Weil er zu Beginn der Schöpfung<br />

auftaucht, nennt man ihn prak?ti (Natur). Weil er nicht bekannt ist (d.h. weil<br />

er aufhört), sobald man Befreiung erlangt, nennt man ihn Unwissenheit<br />

(avidyā). Alle diese Beschreibungen gründen auf der Existenz des subtilen<br />

(ātivāhika) Körpers. Obgleich hiermit die illusorische Welterscheinung in<br />

Worte gefasst wurde, existiert sie als solche nicht.<br />

Der ātivāhika-Körper ist nur subtile Leere. Er taucht nicht auf und muss<br />

nicht aufhören. Und doch existieren im Feld des unendlichen Bewusstseins<br />

die zahllosen Universen weiter. Der subtile mentale Körper reflektiert das<br />

Universum so wie ein Spiegel ein sich davor befindliches Objekt reflektiert.<br />

VI.2:188<br />

731


VI.2:189<br />

Am Ende der Periode, die der kosmischen Auflösung folgt, denkt das höchste<br />

Wesen an den subtilen (ātivāhika) Körper, der dann im unendlichen Bewusstsein<br />

auftaucht. Dieser subtile Körper hält sich selbst für Brahmā, Virāt,<br />

Viåņu usw. Als was sich dieser subtile Körper identifiziert, als das scheint er<br />

dann zu existieren. Obwohl alle diese verschiedenen Wesenheiten erschaffen<br />

zu sein scheinen, sind sie nur eine optische Täuschung. Nichts wurde jemals<br />

erschaffen. Alles ist reine Leere, die alles durchdringt. Nur das anfangslose<br />

Brahman existiert. Aufgrund der Tatsache jedoch, dass dieser kosmische<br />

subtile Körper den Gedanken entwickelt hat, er erführe diese Vielfalt, scheint<br />

sie dann auch zu einer unwidersprochenen Wahrheit zu werden.<br />

In diesem ātivāhika (subtilen)-Körper entstehen die Gedanken oder Konzepte<br />

der physischen Körper und ihrer entsprechenden Teile, die Ideen von<br />

Geburt, Aktivität usw., die Konzepte von Zeit, Raum, Abfolge usw. wie auch die<br />

Konzepte vom Altern, Tod, von Tugenden und Mängeln, Erkenntnis usw.<br />

Nachdem der subtile Körper selber diese Konzepte heraufbeschworen hat,<br />

erfährt er das aus den fünf Elementen zusammengesetzte objektive Universum<br />

so, als würde es in Wirklichkeit existieren. Und doch ist all dies reine<br />

Illusion; wie Traumobjekte und Traumerfahrungen.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Der kosmische subtile (ātivāhika)-Körper, der durch schiere Koinzidenz<br />

(wie beim Fallen der reifen Kokosnuss beim Landen einer Krähe darauf) als<br />

der Schöpfer Brahmā aufgetaucht ist, existiert aufgrund der eingeborenen<br />

Natur des Bewusstseins weiter. Er ist selbst das Universum. Der Seher, das<br />

Gesehene und der Akt des Sehens sind sämtlich unwirklich. Oder wenn man<br />

sie als real betrachtet, sogar dann sind sie immer noch Brahman, und nur<br />

Brahman ist real.<br />

Der kosmische, subtile Körper entsteht aus eigenem Antrieb und wird dann<br />

selbst durch beständiges Daran-denken zu einer soliden Substanz – so wie<br />

ein Traum, wenn er länger und länger wird, als real erscheint. Auf diese Weise<br />

entsteht sogar die Materialität oder Substantialität aus eigenen Antrieb<br />

aus dem subtilen (ātivāhika)-Körper. „Ich bin dies“, „ich bin das“ - so erscheinen<br />

dann die Ideen, die in diesem Körper auftauchen, als Berge und die verschiedenen<br />

Himmelsrichtungen, während sie samt und sonders nur Täuschung<br />

oder optische Illusionen sind. Sobald der ātivāhika-Körper vom<br />

Schöpfer Brahmā als materiell oder aus physischen Substanzen bestehend<br />

gedacht wird, entsteht diese Materialität.<br />

Das Bewusstsein hält sich selbst für Brahmā den Schöpfer. Dann denkt es:<br />

„Das ist der Körper“ und „dies ist der Unterhalt für den Körper“, womit es<br />

eine Beziehung zwischen dem Körper und seinem Unterhalt schafft, die dann<br />

zur Bindung wird. Sobald es in unwirklichen Phänomenen die Idee von Realität<br />

gibt, entsteht Bindung. Wenn viele dieser Ideen auftauchen, tritt die Vielfalt<br />

ins Dasein.<br />

Diese Person gibt dann Töne von sich, gestikuliert und teilt alles für sie<br />

Mitteilenswerte mit. Sie singt die Mantras der Veden, nachdem sie OM into-<br />

732


VI.2:190<br />

niert hat. Schon bald befasst sie sich dann mit Hilfe all dieser Dinge mit den<br />

verschiedensten Tätigkeiten. Die Person hat die Natur des Gemüts und erfährt,<br />

was immer sie ersinnt. Es kann nicht schwierig für jemanden sein, seine<br />

eigene Natur und das, was aufgrund dieser Natur in ihm erschienen ist, zu<br />

sehen. Wenn die Person in sich selbst die Idee der Welt wahrnimmt, wird<br />

diese bald zu einer soliden Realität. Obgleich dieses physikalische und materielle<br />

Universum nichts als ein langer Traum oder Zauberkunststück ist, erstrahlt<br />

es im subtilen Körper oder in Brahmā dem Schöpfer wie etwas Wahres.<br />

Es ist klar, dass das physikalische oder materielle Universum nirgendwo<br />

und zu keinem Zeitpunkt existiert. Der subtile Körper selber erscheint aufgrund<br />

der Idee von Solidität, wie sie wiederholt in ihm auftaucht, als der<br />

solide Körper. Seine eigentliche Quelle ist unwirklich. Die einzige Realität in<br />

all diesem ist Brahman. Es gibt hier nichts anderes als Brahman.<br />

VASIåèHA fuhr fort: Sobald Erkenntnis zum Objekt des Erkennens geworden<br />

ist, wird es Bindung genannt. Befreiung ist, wenn die Erkenntnis aufhört,<br />

ein Objekt des Erkennens zu sein.<br />

RĀMA fragte: Wie gelangt die feste Überzeugung davon, dass Erkenntnisdas<br />

Objekt des Erkennens ist, an ein Ende?<br />

VASIåèHA sprach: Bei vollständigem Erwachen endet die Stumpfheit der<br />

Intelligenz. Dann tritt die Befreiung, die formlos, friedvoll und real ist, ins<br />

Dasein.<br />

RĀMA sagte: Was ist dieses vollkommene Erwachen, das vollkommene Erkenntnis<br />

ist und ein Lebewesen von der Bindung befreit?<br />

VASIåèHA sagte: Erkenntnis hat kein Objekt, dass sie kennen könnte. Erkenntnis<br />

ist unabhängig und ewig, sie ist jenseits von Beschreibung und Definition.<br />

Wenn diese Wahrheit direkt realisiert wird, gibt es vollkommene Erkenntnis.<br />

RĀMA sagte: Worin besteht diese Getrenntheit, die zwischen der Erkenntnis<br />

und dem Objekt der Erkenntnis auftaucht? In welchem Sinne verwenden<br />

wir das Wort „Erkenntnis“?<br />

VASIåèHA sagte: Vollständiges Erwachen oder Erleuchtung ist jñāna oder<br />

Erkenntnis. Seine Kontemplation ist der Weg zu solchem Erwachen. In Wirklichkeit<br />

gibt es keine Getrenntheit zwischen Erkenntnis und dem Objekt des<br />

Erkennens.<br />

RĀMA sagte: Wenn sich dies so verhält, wie konnte dann überhaupt diese<br />

irreführende Sichtweise von Erkenntnis und dem Objekt der Erkenntnis<br />

auftauchen und sich fest verankern?<br />

VASIåèHA sagte: Die Getrenntheit entsteht aufgrund des irrigen Glaubens,<br />

dass es noch etwas anderes als die Erkenntnis gibt, etwas außerhalb dieser<br />

selbst. Tatsächlich gibt es da weder innen noch außen etwas.<br />

733


RĀMA sagte: All dies scheint so offensichtlich zu sein – ich, du, usw. und alle<br />

diese Elemente und die verschiedenen Wesen, die wir mit Gewissheit erfahren.<br />

Wie kann man zugeben, dass sie nicht existierten?<br />

VASIåèHA sagte: Die kosmische Person oder Virāt und der Kosmos usw.<br />

sind ganz am Anfang der Schöpfung tatsächlich nie ins Dasein getreten. Daher<br />

hat es zu keinem Zeitpunkt ein wie auch immer geartetes „Objekt des Sehens“<br />

gegeben.<br />

RĀMA sagte: Diese Welt war, ist und wird sein; sie wird alltäglich erfahren.<br />

Wie kann man behaupten, sie sei niemals erschaffen worden?<br />

VASIåèHA erwiderte: Diese Welterscheinung ist so unwirklich wie die folgenden<br />

Dinge, obwohl sie als real erscheinen: Die Traumobjekte, das Wasser<br />

in der Luftspiegelung, der zweite Mond des Fehlsichtigen und die Luftschlösser.<br />

RĀMA fragte: Wie kann man behaupten, dass „ich“, „du“ usw. zu Beginn der<br />

Schöpfung überhaupt nicht entstanden sind?<br />

VASIåèHA erwiderte: Eine Wirkung entsteht aus einer Ursache, nicht aber<br />

andersherum. Während der kosmischen Auflösung, die der angenommenen<br />

Schöpfung vorausgegangen ist, gab es den höchsten Frieden, in dem es keinerlei<br />

Ursache für das Entstehen eines Universums gab.<br />

RĀMA sagte: Auch während der kosmischen Auflösung verbleibt gewiss das<br />

ungeborene und ewige Wesen unberührt. Weshalb kann dieses nicht als die<br />

Ursache dieser Schöpfung betrachtet werden?<br />

VASIåèHA erwiderte: In der Wirkung findet sich stets nur das, was auch in<br />

der Ursache ist. Etwas Unwirkliches kann im Wirklichen nicht existieren. Ein<br />

Stück Tuch kann nicht mit Hilfe eines Kruges produziert werden.<br />

RĀMA sagte: Vielleicht existiert diese ganze Schöpfung während der kosmischen<br />

Auflösung in einem subtilen Zustand in Brahman dem unendlichen<br />

Bewusstsein, und es ist vielleicht nur dieses, das sich selbst während der<br />

nächsten Schöpfung manifestiert.<br />

VASIåèHA erwiderte: Wer hat die Wahrheit einer solchen Annahme je erfahren?<br />

Weshalb also an solche Spekulationen glauben?<br />

RĀMA sagte: Gewiss haben die Wissenden in diesem Zustand die Erfahrung<br />

gewonnen, dass es da reines und unendliches Bewusstsein gibt. Natürlich gab<br />

es keinen Raum. Die „reale“ und materielle Welt kann offenkundig nicht aus<br />

der Leere entstehen.<br />

VASIåèHA sagte: Falls dies so wäre, dann wären die drei Welten gewiss<br />

nichts als reines Bewusstsein. Für denjenigen, dessen Körper reines Bewusstsein<br />

ist, gibt es weder Geburt noch Tod.<br />

RĀMA fragte: Dann sage mir bitte, wie diese Weltillusion überhaupt in Erscheinung<br />

treten konnte?<br />

734


VASIåèHA erwiderte: In der Abwesenheit von Ursache und Wirkung gibt es<br />

weder Sein noch Nicht-Sein. Wie taucht dann also dieses „Objekt der Wahrnehmung“<br />

auf? Es tauchte gar nicht auf – das Selbst denkt an sich selbst und<br />

erfährt sich selbst dann als ein Objekt der Wahrnehmung. All dies ist nur<br />

Bewusstsein und nichts anderes.<br />

RĀMA fragte: Das leblose „Objekt der Wahrnehmung“ denkt! Der Höchste<br />

Herr, der der Seher von allem ist, wird zum Objekt. Wie ist dies möglich? Ist<br />

es dem Holz möglich, Feuer zu verbrennen?<br />

VASIåèHA erwiderte: Der Seher wird nicht zum Objekt der Wahrnehmung,<br />

weil das letztere überhaupt nicht existiert. Der Seher ist stets nur diese eine<br />

Masse des Bewusstseins.<br />

RĀMA fragte: Das unendliche Bewusstsein nimmt in sich selbst Bewusstsein<br />

als ein Objekt wahr, wodurch die Welterscheinung ins Dasein tritt. Wie<br />

entsteht daraus das Objekt?<br />

VASIåèHA erwiderte: Da die Ursache fehlt, taucht das Objekt überhaupt<br />

nicht auf. Daher ist das Bewusstsein auf immer frei und auf ewig<br />

unbeschreibbar und undefinierbar.<br />

RĀMA fragte: Wenn dies so ist, wie entstehen dann der Ich-Sinn und die anderen<br />

Kategorien? Wie erfährt man die Welt?<br />

VASIåèHA erwiderte: Da die Ursache fehlt, taucht keines dieser Dinge jemals<br />

auf. Wo ist das Objekt der Wahrnehmung? All diese sogenannten Objekte<br />

sind nur Illusionen der Wahrnehmung.<br />

RĀMA fragte: Wie kann in diesem reinen Bewusstsein, das ohne Bewegung<br />

und daher ohne Gewahrsein eines Objekts ist, die Illusion entstehen?<br />

VASIåèHA erwiderte: Oh Rāma, auch die Illusion gibt es nicht, weil die Ursache<br />

fehlt. All dies (ich, du und alles andere) ist der eine, unendliche Friede.<br />

RĀMA fragte: Hoher Herr, ich bin verblüfft und weiß nicht mehr, was noch<br />

zu fragen wäre. Ich bin vollkommen erweckt oder erleuchtet – was soll ich<br />

jetzt fragen?<br />

VASIåèHA erwiderte: Da die Ursache von all diesem fehlt, befasse dich nicht<br />

länger mit Fragen nach den Ursachen („weshalb“). Dann wirst du leicht in der<br />

höchsten, unbeschreibbaren Realität ruhen.<br />

RĀMA fragte: Ich akzeptiere, dass es aufgrund fehlender Ursache niemals<br />

eine Schöpfung gegeben hat. Aber für wen entsteht diese Verwirrung bezüglich<br />

der Erkenntnis und ihres Objekts eigentlich?<br />

VASIåèHA erwiderte: Da die Ursache fehlt und da außerdem der eine, unendliche<br />

Friede allein existiert, gibt es auch keine Illusion. Du ruhst noch<br />

nicht im Frieden, weil du die Wahrheit noch nicht oft genug kontempliert<br />

hast.<br />

RĀMA fragte: Wie entsteht Kontemplation und was ist keine Kontemplation?<br />

Wir sind schon wieder in derselben Falle gefangen!<br />

735


VASIåèHA erwiderte: Tatsächlich gibt es im Unendlichen überhaupt keine<br />

Illusion. Weil Bewusstsein unendlich ist und nie abnimmt, taucht in ihm dieses<br />

Konzept der wiederholten Kontemplation über diese Wahrheit auf.<br />

RĀMA fragte: Falls all dies der eine, unendliche Friede ist, worin besteht<br />

dann die Bedeutung der Worte „Lehrer“ und „Schüler“ und wie ist diese Dualität<br />

überhaupt entstanden?<br />

VASIåèHA erwiderte: „Lehrer“ und „Schüler“ sind beide Brahman, die in<br />

Brahman existieren. Für den Erleuchteten gibt es weder Bindung noch Befreiung.<br />

RĀMA fragte: Wenn die Vielfalt von Zeit, Raum, Materie, Energie und alles<br />

andere nicht existiert, wie ist dann das Konzept der Einheitdieser Vielfalt<br />

entstanden?<br />

VASIåèHA erwiderte: Die Vielfalt von Zeit, Raum, Materie, Energie (Tätigkeit)<br />

und Erfahren existiert nur in der nicht-existierenden Unwissenheit. Ein<br />

davon unabhängiges Konzept gibt es nicht.<br />

RĀMA fragte: Wenn die Dualität von „Lehrer“ und „Schüler“ falsch ist, was<br />

ist dann Erwachen oder Erleuchtung?<br />

VASIåèHA erwiderte: Erwachen wird durch Erwachen erlangt und danach<br />

wird das Konzept des „Erwachens“ klar verstanden. Natürlich ist all das nur<br />

für Leute wie dich verständlich, nicht aber für uns.<br />

RĀMA fragte: Wenn also die Erleuchtung selbst auf den Ich-Sinn bezogen<br />

ist, wird sie zu etwas anderem als Erleuchtung. Wie kann eine solche<br />

Getrenntheit im reinen, unteilbaren Bewusstsein erscheinen?<br />

VASIåèHA erwiderte: Der Licht des Erleuchteten selbst ist das Selbst-<br />

Gewahrsein. Die scheinbare Getrenntheit oder Dualität ist wie der Wind und<br />

seine Bewegung.<br />

RĀMA sagte: Wenn das die Wahrheit ist, ist es dann nicht möglich, die Existenz<br />

der Vielfalt (der Kenner, das Kennen und das Objekt des Kennens) zu<br />

akzeptieren, gemäss der Analogie, dass der Ozean und Wellen nicht verschieden<br />

sind.<br />

VASIåèHA erwiderte: Wenn dies akzeptiert wird, dann ist Getrenntheit kein<br />

Fehler, obgleich die Wahrheit darin besteht, dass die Realität das eine unteilbare<br />

Bewusstsein ist.<br />

RĀMA sagte: Hoher Herr, in wem taucht der Ich-Sinn auf, und wer erfährt<br />

diese Welterscheinung oder Illusion?<br />

VASIåèHA erwiderte: Nur die Überzeugung von der Realität des Objekts der<br />

Erfahrung führt zur Bindung. Es genügt zu wissen, dass das Objekt nicht<br />

existiert. Da Bewusstsein alles ist, gibt es weder Bindung noch Befreiung.<br />

RĀMA sagte: Eine Lampe beleuchtet Objekte, die daraufhin sichtbar werden.<br />

Erleuchtet auch das Bewusstsein äußere Objekte, die real sind?<br />

736


VASIåèHA erwiderte: Die äußere Welt hat keine Ursache für ihre Schöpfung.<br />

Eine Wirkung taucht ohne Ursache nicht auf. Daher handelt es sich um<br />

eine illusorische Wahrnehmung.<br />

RĀMA sagte: Ob man ihn nun als real oder irreal erachtet – ein Albtraum<br />

verursacht Pein, so lange er andauert. Ebenso steht es mit der Welterscheinung.<br />

Wie können wir dies überwinden?<br />

VASIåèHA erwiderte: So wie der Albtraum und die durch ihn verursachte<br />

Pein beim Aufwachen aufhören, so hört der durch die Wahrnehmung der<br />

Weltillusion verursachte Kummer auf, sobald man von dieser Illusion erwacht<br />

und sich beständig der Anhaftung und des Anklammerns an die Objekte der<br />

Welt enthält.<br />

RĀMA fragte: Wie erlangt man das Objekt, das einen glücklich macht? Wie<br />

gelangt außerdem die vermeintliche Solidität der Objekte dieses Weltraums<br />

an ihr Ende?<br />

VASIåèHA erwiderte: Durch Erforschung des „davor“ und des „danach“ hört<br />

die Solidität der Substanzen auf. Durch die Kontemplation der Wahrheit, dass<br />

dies sogar für den Traum zutreffend ist, hört der Glaube an die Grobheit dieser<br />

Substanzen auf.<br />

RĀMA fragte: Was sieht man, wenn dieser Glaube geschwächt ist? Wie hört<br />

diese Weltillusion in jemandes Sicht auf?<br />

VASIåèHA erwiderte: In seiner Sicht besitzt die unwirkliche Welterscheinung<br />

den Charakter eines Schlosses in der Luft oder eines Gemäldes, das vom<br />

Regen ausgewaschen wurde. Sein Gemüt ist daher frei von vāsanā oder psychologischer<br />

Konditionierung.<br />

RĀMA fragte: Was geschieht danach mit ihm?<br />

VASIåèHA erwiderte: Die Welterscheinung, die als bloße Idee existiert, verblasst.<br />

Und bald ist er vollkommen frei von den Begrenzungen und der Konditionierung.<br />

RĀMA fragte: Gewiss hat seine Konditionierung im Verlaufe der Zeit aufgrund<br />

der viele Leben lang andauernden Wiederbelebung und Vertiefung<br />

tiefe Wurzeln geschlagen. Wie kann sie aufhören?<br />

VASIåèHA erwiderte: Durch die Erkenntnis der Wahrheit, dass sämtliche<br />

Objekte und Substanzen im Selbst oder unendlichen Bewusstsein als verdrehte<br />

Ideen existieren, gelangt sein Anhaften an jene Substanzen (und vice<br />

versa) an ein Ende. Das Rad des saæsāra dreht sich langsamer und stoppt<br />

irgendwann.<br />

RĀMA fragte: Was geschieht danach und wie erlangt er den Frieden?<br />

VASIåèHA erwiderte: Wenn so die Illusion der Solidität der Objekte aufgehört<br />

hat und sogar die Bemühungen zur Auflösung dieser Illusion an ein Ende<br />

gelangt sind, hört jedes Vertrauen in die Welt auf.<br />

737


RĀMA fragte: Weshalb verursacht das Aufhören dieser Welterscheinung,<br />

die als Idee sogar im Gemüt eines Kindes existiert, keine Schmerzen?<br />

VASIåèHA erwiderte: Wie können Schmerzen entstehen, wenn ein nicht<br />

existierendes Objekt aufgegeben wird? So lange es Gedanken, Ideen, Konzepte<br />

und Wahrnehmungen im Verstand gibt, sollte man sich mit der Ergründung<br />

ihrer Natur befassen.<br />

RĀMA fragte: Was ist das Gemüt (cittam), wie ergründet man dessen Natur<br />

und worin besteht die Frucht einer solchen Ergründung?<br />

VASIåèHA erwiderte: Bewusstsein wird seiner selbst als ein Objekt gewahr<br />

und dies wird cittam (Gemüt) genannt. Die Ergründung besteht in der Ergründung<br />

seiner Aktivität. Dadurch gelangt die mentale Konditionierung an<br />

ein Ende.<br />

RĀMA fragte: Wie ist es für dieses cittam möglich, unkonditioniert zu werden,<br />

damit nirvāïa erlangt werden kann?<br />

VASIåèHA erwiderte: Ein Objekt oder eine mentale Konditionierung ist keine<br />

Realität. Daher ist auch cittam keine reale Wesenheit.<br />

RĀMA sagte: Und doch erfahren wir ihre Existenz!<br />

VASIåèHA erwiderte: Die Welt ist nicht das, als was sie in den Augen der<br />

Unwissenden erscheint. Das, was real ist in den Augen der Erleuchteten, ist<br />

unbeschreiblich.<br />

RĀMA sagte: Was ist die Sicht der Unwissenden? Und weshalb ist die Sicht<br />

der Erleuchteten unbeschreiblich?<br />

VASIåèHA erwiderte: Der Unwissende nimmt die Welt so wahr, als ob sie<br />

einen Anfang und ein Ende hätte. Der Erleuchtete sieht sie wiederum überhaupt<br />

nicht, da sie niemals erschaffen wurde und daher auch nicht existiert.<br />

RĀMA sagte: Wie kommt es dann aber, dass wir ihre Existenz erfahren?<br />

VASIåèHA erwiderte: Sie wird so wie ein Objekt im Traum erfahren, das in<br />

Wahrheit nicht existiert.<br />

RĀMA fragte: Dann geschieht es wohl aufgrund der vorherigen Erfahrungen<br />

im Wachzustand, dass das Traumobjekt erfahren wird.<br />

VASIåèHA sagte: Beziehen sich denn diese beiden Erfahrungen auf dasselbe<br />

Objekt?<br />

RĀMA fragte: Aufgrund der durch den Wachzustand im Gemüt entstandenen<br />

Eindrücke erscheinen nur solche Erfahrungen im Traum.<br />

VASIåèHA erwiderte: Wie kommt es dann, dass das Haus, das im Schlaf<br />

zerstört wurde, am nächsten Morgen immer noch steht?<br />

RĀMA sagte: Natürlich ist die Realität des Wachzustandes während des<br />

Traumes nicht real. Was erscheint, ist Bewusstsein (Brahman). Wie kann aber<br />

etwas, was es zuvor nicht gegeben hat, ins Dasein treten?<br />

738


VASIåèHA erwiderte: Es ist reines Bewusstsein, das zu allen Zeiten so erstrahlt,<br />

als wäre all das schon erfahren worden, unabhängig davon, ob dies<br />

auch tatsächlich der Fall ist.<br />

RĀMA fragte: Hoher Herr, wie wird man diese Illusion los?<br />

VASIåèHA erwiderte: Ergründe: „Wie kann es den Anschein haben, dass<br />

dieser saæsāra existiert, wenn es doch keine Ursache für sein Dasein gibt?“<br />

RĀMA sagte: Das Gemüt (cittam) ist die Grundlage für die Traumobjekte,<br />

die daher nichts anderes als das Gemüt sind. Genauso verhält es sich auch mit<br />

der Welt.<br />

VASIåèHA sagte: Das Gemüt ist nicht verschieden von der Masse reinen<br />

Bewusstseins. Es gibt nichts anderes.<br />

RĀMA sagte: So wie der Körper nicht verschieden von den Gliedern ist, aus<br />

denen er besteht, so ist das Universum nicht verschieden von Brahman.<br />

VASIåèHA sagte: Daher wurde die Welt also überhaupt nicht erschaffen. Sie<br />

ist das ewige Brahman.<br />

RĀMA sagte: Ich erkenne, dass die Illusion der Schöpfung und Auflösung<br />

der Welt reiner Zufall ist, der von den illusorischen Ideen des „ich bin der<br />

Täter“ und „ich erfahre“ begleitet wird.<br />

RĀMA sagte:<br />

Hoher Herr, diese Welt ist zu allen Zeiten und auf jede Weise von der höchsten<br />

Realität erfüllt und daher entsteht sie nicht und vergeht auch nicht. Die<br />

Welterscheinung ist eine Illusion – ob sie nun als eine Illusion betrachtet wird<br />

oder nicht, so ist sie doch in Wahrheit nur Brahman.<br />

VASIåèHA sagte: Brahman erstrahlt in sich selbst durch Zufall (wie eine reife<br />

Kokosnuss beim Landen einer Krähe darauf fällt), und das wird durch sich<br />

selbst und in sich selbst als diese Schöpfung gekannt.<br />

RĀMA sagte:<br />

Hoher Herr, sage mir, wie das Licht des unendlichen Bewusstseins erstrahlen<br />

kann, bevor die Schöpfung beginnt und nachdem sie aufgelöst worden ist,<br />

und wie es zugleich mit einer Getrenntheit darin erstrahlen kann?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Gewahre das Licht des unendlichen Bewusstseins innerhalb von dir selbst<br />

durch dein Selbst. Licht wird nur in Beziehung zu etwas anderem erfahren.<br />

Da es von Anfang an keine Getrenntheit oder Dualität gab, erfahre dieses<br />

Licht innerhalb von dir selbst. Dieses Licht selbst ist der Seher, das Sehen und<br />

das Gesehene (Objekt). Dieses Licht des Bewusstseins selbst erstrahlt zu<br />

Beginn der Schöpfung als diese Schöpfung. Das eine Bewusstsein leuchtet als<br />

die Drei (das Subjekt, das Objekt und die Erfahrung) und erscheint zu Beginn<br />

der Schöpfung als die Schöpfung. Darin besteht seine Natur, nämlich dass es<br />

durch sich selbst leuchtet.<br />

VI.2:191<br />

739


VI.2:192<br />

Darin besteht auch die Erfahrung von Träumen und Tagträumen oder Halluzinationen,<br />

nämlich dass das Licht des Bewusstseins auch in diesen leuchtet.<br />

Was als die Welt im Raum erstrahlt, ohne Anfang und ohne Ende, ist dieses<br />

Licht des Bewusstseins. Die Emanation seines Lichtes erstrahlt als diese<br />

Universen.<br />

Dieses Licht des Bewusstseins leuchtet auf natürliche Weise in uns, den Erleuchteten,<br />

ohne jede Getrenntheit in Subjekt und Objekt. Zu Beginn der<br />

Schöpfung jedoch gab es weder Subjekt noch Objekt – daraus ist dann später<br />

wie die fälschliche Wahrnehmung eines Mannes in einem Baumstamm diese<br />

aus der Unwissenheit geborene Getrenntheit hervorgegangen. Da es jedoch<br />

keinerlei Ursache für diese Getrenntheit gegeben hat, ist deutlich geworden,<br />

dass sogar jetzt nur das Licht des Bewusstseins als all dies hier leuchtet.<br />

Es gibt weder einen Wachzustand noch einen Traumzustand noch überhaupt<br />

einen Tiefschlafzustand. Überall gibt es nur Brahman, das seit Beginn<br />

der Schöpfung an erstrahlt. Dieses Brahman erachtet dieses Universum als<br />

seinen eigenen Körper – was als die Welt gekannt wird, ist von Brahman nicht<br />

verschieden.<br />

RĀMA sagte:<br />

Oh weh, wie lange Zeit hindurch haben wir doch, ohne die Realität zu kennen,<br />

in Täuschung diesen unendlichen Raum durchwandert. Diese Illusion<br />

der Welterscheinung schwindet, sobald man erweckt und erleuchtet ist. Dann<br />

erkennt man, dass sie niemals war, nicht ist und niemals sein wird. All dies ist<br />

reines Bewusstsein und höchster Friede – es existiert als das Unendliche.<br />

All dies ist in der Tat das höchste Bewusstsein, welches uns als saæsāra erscheint,<br />

weil wir seine wahre Natur noch nicht richtig verstanden haben. Es<br />

ist das höchste Wesen selbst, welches als das Objekt solcher Aussagen wie:<br />

„Dies ist verschieden“, „es leuchtet wie dieses“, „dies sind die Welten“ und<br />

„dies sind Berge“ erscheint.<br />

Zu Beginn der Schöpfung und mit dem Anfang des eigenen Lebens in der<br />

anderen Welt wie auch zu Beginn eines Traumes oder einer Träumerei gibt es<br />

nur Bewusstsein, das als sein eigenes Objekt auftaucht. Wie könnte es da ein<br />

Anderes geben? Sobald es die Idee: „Ich bin im Himmel oder ich bin in der<br />

Hölle“ gibt, erfährt man dies als eine Tatsache.<br />

Da ist kein Seher, kein Objekt, keine Schöpfung, keine Welt und nicht einmal<br />

Bewusstsein; da sind weder Wachen noch Träumen noch Schlaf. Was zu sein<br />

scheint, ist ebenfalls irreal. Wenn man ergründet: „Wie konnte diese illusorische<br />

Wahrnehmung der Nicht-Realität ins Dasein treten?“, dann ist diese<br />

Ergründung unrichtig, denn wie kann eine Illusion zu einer Realität werden?<br />

Im Bewusstsein, das unanfechtbar ist, kann keine Illusion auftauchen. Was<br />

daher als eine Illusion erscheint, ist ebenfalls Bewusstsein.<br />

Die illusorische Wahrnehmung entsteht wie der eigene Tod im Traum aufgrund<br />

von Missverständnis. Ergründet man die Natur der Realität, hört der<br />

Traum auf. Es ist hier wie mit der Furcht vor Gespenstern im Verstand des<br />

740


kleinen Jungen – sie wird tiefverwurzelt, sobald da keine Ergründung ist, und<br />

sie hört auf, sobald Ergründung geschieht.<br />

Daher ist die Fragestellung: „Wie konnte das Unwirkliche ins Dasein treten“<br />

unrichtig – nur die Ergründung betreffend die Realität, nicht jedoch die Irrealität,<br />

ist sinnvoll. Was bei der Ergründung nicht realisiert werden kann, ist<br />

irreal, und falls es als real erfahren wird, ist diese Erfahrung eine Täuschung.<br />

Wenn ein Ding auch nach intensiver und langwieriger Forschung nicht entdeckt<br />

werden kann, muss es gewiss wie der Sohn der unfruchtbaren Frau<br />

inexistent sein.<br />

Dann aber kann aber das Unwirkliche auch nicht zu irgendeiner Zeit existieren.<br />

Daher ist all dies hier ohne alle Schleier von der Masse des Bewusstseins<br />

durchdrungen und gesättigt. Was als die Welt erstrahlt, ist nur das<br />

höchste Wesen – nur das höchste Wesen existiert als das höchste Wesen. Es<br />

gibt da weder Licht noch Dunkelheit. Das höchste Wesen allein existiert als<br />

das, was existiert.<br />

RĀMA sagte:<br />

Nur diese Realität, die anfangslos und endlos ist und welche sogar Götter<br />

und Weise nicht kennen – nur diese Realität erstrahlt. Was ist „Welt“ und was<br />

ist „Objekt“? Genug von diesen verwirrenden Debatten über Einheit und<br />

Vielfalt. Das, was schon zu Beginn war, dieser Friede ist wandellos. So wie es<br />

Raum (Entfernung) im Raum gibt, so gibt es diese Schöpfung in Brahman,<br />

dem unendlichen Bewusstsein. Sobald diese Erkenntnis im jīva auftaucht, legt<br />

sich dieser Kobold namens saæsāra zur Ruhe, obschon er immer noch zu<br />

existieren scheint. Sobald die Sonne der Unwissenheit untergegangen ist,<br />

hört die Hitze der Sorgen auf und das Tageslicht namens „Überzeugung von<br />

der Realität des saæsāra“ gelangt an ein Ende. Von der Unwissenheit befreit,<br />

geht der Wissende verschiedenen Tätigkeiten nach, als Teil seines Lebensschicksals<br />

bestehend aus Geburt, Tod und Altern usw. Er existiert weiterhin,<br />

obgleich er in Wahrheit nicht existiert.<br />

Es gibt hier weder Unwissenheit noch Täuschung, weder Kummer noch<br />

Vergnügen. Erkenntnis und Unwissenheit, Vergnügen und Schmerz sind nur<br />

Brahman allein. Im Licht der Erkenntnis wird es als Brahman realisiert – in<br />

der Abwesenheit der Erkenntnis gibt es nichts, was man als Nicht-Brahman<br />

bezeichnen könnte. Ich bin erleuchtet, und alle meine irrigen Gedanken sind<br />

zur Ruhe gekommen. Ich lebe im Frieden und im Gleichmut. Ich bin Das, und<br />

ich betrachte diese Welt nun als reine Leerheit. Vor der Erleuchtung war<br />

Brahman, aber als Unwissenheit betreffend das Selbst; nun ist dasselbe<br />

Brahman da als Selbsterkenntnis. Als Erkenntnis oder als Unwissenheit, als<br />

Gekanntes oder Ungekanntes – nur Brahman ist da zu allen Zeiten, so wie der<br />

Himmel einer ist, obwohl er leer ist; er ist ungeteilt und er ist blau.<br />

Ich bin nirvāïa. Ich bin von allen Zweifeln befreit. Ich bin frei. Ich bin die<br />

Seligkeit selbst. Ich bin wie ich bin, als das Unendliche. Ich bin alles zu allen<br />

Zeiten oder ich bin nichts und im Frieden. Ich bin die eine Realität und ich bin<br />

VI.2:193-<br />

194<br />

741


nicht. Wunderbar ist doch dieser höchste Friede. Was zu gewinnen ist, wurde<br />

gewonnen. Die Wahrnehmung der Objekte wurde aufgegeben. Die Morgendämmerung<br />

der wahren Erleuchtung geschah und diese wird nie wieder<br />

untergehen. Die erleuchtete Intelligenz erfährt alles, als das was es ist. Zahllose<br />

Universen erscheinen und verschwinden die ganze Zeit über im unendlichen<br />

Bewusstsein. Manche werden von einigen gesehen und andere nicht.<br />

Wer kann sie zählen? Die Unterscheidung zwischen den Organen und dem<br />

Organismus ist willkürlich und rein verbal. Ebenso verhält es sich auch mit<br />

Brahman und dem Universum. Das erstere allein ist, aber das letztere nicht.<br />

Sobald dies realisiert wird, hört das Verlangen auf, und es herrscht höchster<br />

Friede, der nirvāïa ist.<br />

Diese Erleuchtung wird nicht durch buddhi oder den Intellekt herbeigeführt.<br />

Sie wird auch nicht durch die Unterdrückung des Intellekts erzielt.<br />

Erleuchtung ist ihrer selbst nicht gewahr, da sie kein Objekt des Gewahrseins<br />

ist.<br />

RĀMA fuhr fort:<br />

Das Erwachen oder die Erleuchtung geschieht durch sich selbst, so wie das<br />

Strahlen der Sonne zur Mittagszeit. Sämtliches Verlangen und alle Wünsche<br />

gelangen im erleuchteten Menschen an ein Ende. Nirvāïa taucht in ihm auf,<br />

ohne dass er es wünscht. Er ist für immer in Meditation, er ist stets in seiner<br />

eigenen wirklichen Natur verankert und sucht daher nach nichts und weist<br />

nichts zurück. Wie eine Lampe, in deren Licht sämtliche Tätigkeiten stattfinden<br />

und an denen die Lampe selbst nicht interessiert ist, lebt und handelt er<br />

und ist dabei frei von jeder Willentlichkeit.<br />

Nur das unendliche Bewusstsein existiert – es manifestiert sich als die<br />

Schöpfung und wird dann Brahmā genannt. Wer dies zu sehen vermag, ruht<br />

im Frieden. Alle Objekte dieses Universums sind tatsächlich nicht von diesem<br />

unendlichen Bewusstsein verschieden. Jenseits davon ruhen die Wissenden<br />

im unendlichen Bewusstsein; aber das ist gänzlich unbeschreiblich und undefinierbar.<br />

Sogar Ausdrücke wie „nur das allein ist“ sind unangemessen und<br />

irreführend.<br />

Saæsāra ist voller Sorgen – nirvāïa dagegen ist vollkommen kühl. Das letztere<br />

ist die Realität, das erstere nicht. Wie die noch nicht geschnitzten Figuren<br />

im Holz existieren, so existiert saæsāra im unendlichen Bewusstsein, das<br />

unteilbar ist, aber von den verschiedenen Wesen verschieden erfahren wird,<br />

von denen jedes einzelne aus diesem Bewusstsein sozusagen das<br />

herausschnitzt, was es sich wünscht, seien dies nun Vergnügen oder die Befreiung.<br />

Jedoch sind alle diese ihrem Wesen nach die Wirklichkeit selbst – so<br />

wie die geschnitzten Figuren ihrem Wesen nach nicht verschieden vom Holz<br />

sind. Das im Traum gesehene Leben oder der Tod von Verwandten hat auf<br />

den, der aus dem Schlaf erwacht, keinerlei Auswirkung – ebenso sind die<br />

Erleuchteten unberührt von der Welterscheinung.<br />

742


Wenn all dies als das eine unendliche Bewusstsein gesehen wird, gibt es<br />

keinen Raum mehr für Täuschung. Das Verlangen hört auf. Das Aufhören des<br />

Verlangens verstärkt wiederum das Erwachen oder die Erleuchtung, und<br />

diese verstärkt wiederum das Aufhören des Verlangens. Dieses Aufhören des<br />

Verlangens ist das Gütesiegel der Erleuchtung. Wenn dieses Aufhören des<br />

Verlangens nicht stattfindet, gibt es keine Erleuchtung, sondern nur Gelehrtheit,<br />

was nichts anderes als Unwissenheit oder Lasterhaftigkeit ist. Wenn<br />

diese beiden einander nicht fördern, sind sie beide offensichtlich inexistent<br />

und abwesend. Das vollkommene Aufhören des Verlangens, geboren aus<br />

vollkommener Erleuchtung, ist Erleuchtung selbst. Wenn dies erlangt wird,<br />

erfährt man keinen Kummer mehr, auch wenn man weiterlebt.<br />

Für denjenigen, der in seinem eigenen Selbst ruht und sich im Selbst erfreut,<br />

dessen Verlangen aufgehört hat und dessen Ich-Sinn abwesend ist, wird<br />

das Leben nicht-willentlich und daher vollkommene Reinheit. Nur einer in<br />

Millionen jedoch ist fähig, diesen unkonditionierten Zustand reines Seins zu<br />

erlangen.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Bravo, oh Rāma du bist erleuchtet! Deine Worte besitzen die Kraft der Erleuchtung.<br />

Die hier scheinbar existierende Unwirklichkeit verschwindet,<br />

wenn sie nicht mehr wahrgenommen oder wenn nicht mehr an sie gedacht<br />

wird. Dieser höchste Friede ist nirvāïa, und das ist die höchste Wahrheit.<br />

Dieser Zustand, in dem der Erleuchtete existiert, als würde er im Innern eines<br />

Felsens leben – ob er nun allein und in Ruhe oder mit verschiedenen Tätigkeiten<br />

befasst ist –, ist der Zustand der Reinheit und das ist Befreiung. Wir leben<br />

in diesem Zustand, oh Rāma, obwohl wir beständig tätig sind. Ruhe auch du<br />

in diesem Zustand und setze deine normalen Tätigkeiten fort.<br />

Nun, oh Rāma, sage mir, auf welche Weise du diese Welt, die als so real erscheint,<br />

als inexistent erkennst.<br />

RĀMA erwiderte:<br />

Diese Welt wurde von Anfang an nicht erschaffen. Wie kann man dann jetzt<br />

von ihrer Existenz ausgehen? Sie hat keine Ursache – wie kann es eine Wirkung<br />

ohne eine Ursache geben? Wandel beinhaltet das Aufhören eines Zustandes<br />

und das Auftauchen des nächsten Zustandes. In der wandellosen<br />

Realität ist dies unmöglich. Wenn man diese Welt als eine illusorische Erscheinung<br />

betrachtet, die eingebildeterweise in Brahman existiert, dann ist<br />

sie eine Illusion. Im Traum wird ein Augenblick wie ein ganzes Leben erfahren<br />

– auf dieselbe Weise wird die Zeit in dieser Welterscheinung zusammen<br />

mit der Sonne und dem Mond, auf denen die Zeit basiert, erfahren.<br />

Im unendlichen Bewusstsein gibt es diese Idee der Schöpfung zusammen<br />

mit allen ihren Folgeerscheinungen wie Zeit, Raum usw. Diese Nicht-<br />

Wesenheit scheint zu wirken, was ebenfalls falsch ist. Das zufällige Auftauchen<br />

dieser Idee scheint anzudauern und sich zu vertiefen.<br />

VI.2:195<br />

743


Oder man muss sie als real betrachten. Wie kann das Falsche aber auch nur<br />

scheinbar existieren? Oder vielleicht gibt es auch nichts Reales und nichts<br />

Irreales. Was ist, ist. Das was ist, ist so klar wie der Himmel, so voll wie das<br />

Innere eines Felsens, so still und friedvoll wie ein Stein und unendlich. Solcherart<br />

ist die Schöpfung. Denn diese Schöpfung existiert im reinen, unendlichen<br />

Bewusstsein, das die Wirklichkeit sämtlicher Gedanken und Konzepte<br />

ist, die zusammen sozusagen den subtilen Körper des unendlichen Bewusstseins<br />

bilden. Das reine Erfahren oder das Gewahrsein, welches in diesem<br />

Körper auftaucht, wird die Schöpfung genannt. Daher ist diese Schöpfung<br />

selbst Brahman.<br />

Im höchsten Wesen selbst existiert das „andere“ (die Schöpfung) – das letztere<br />

gehört zum ersteren und ist von diesem nicht verschieden. Daher ist<br />

dieses selbst der höchste Friede. Es gibt da weder eine Schöpfung noch eine<br />

Bewegung noch eine Aktivität. Sobald der Traum als Traum realisiert wird,<br />

verschwindet die falsche Idee. Das Gewahrsein lässt sein Objekt (die Welt)<br />

fallen und ruht im unendlichen Bewusstsein.<br />

VASIåèHA fragte:<br />

Weshalb sollten wir nicht davon ausgehen, dass Brahman die Ursache der<br />

Schöpfung ist, so wie der Same die Ursache für den Keimling ist?<br />

RĀMA erwiderte:<br />

Der Keimling im Samen wird als Keimling nicht gesehen, sondern nur als<br />

Same. Daher ist er nur Same. Auf dieselbe Weise existiert diese Welt in Brahman;<br />

sie ist nur Brahman und nicht die Welt; Brahman ist keinerlei Wandel<br />

unterworfen. Da Brahman wandellos und formlos ist, kann man unmöglich<br />

akzeptieren, dass es die Welt, die wandelhaft und mit Form versehen ist,<br />

entstehen lässt. Zu behaupten, dass diese Schöpfung im unteilbaren Brahman<br />

liegt wie der Edelstein im Schmuckkästchen, ist nur Geplapper. Auch die<br />

Theorie, das höchste Brahman sei die Grundlage des Universums, welches<br />

eine Form hat, ist nicht akzeptabel, da das Formhafte verderben muss. Das<br />

Konzept, dass diese Welt nichts als ein sich materialisierendes Traumobjekt<br />

sei, ist ebenfalls zu verwerfen, denn Traumobjekte werden von einen selbst<br />

erfahren. Wach- und Traumrealitäten gehören zwei verschiedenen Ebenen<br />

an, denn dieselbe Person, von deren Tod man geträumt hat, wird beim Erwachen<br />

wieder gesehen. Daher wird die Welt nicht einmal als ein Traumobjekt<br />

erschaffen. So wie das Traumobjekt nur Bewusstsein ist, so ist alles als die<br />

Welt wahrgenommene nur das eine unendliche Bewusstsein.<br />

Es gibt weder etwas wie „real“, „irreal“, „Erfahrender“ oder „Erfahrung“,<br />

noch werden diese Dinge erfahren. Was auch immer ist, ist als solches unbeschreiblich.<br />

Im unendlichen Bewusstsein verschwinden alle diese Unterscheidungen<br />

zwischen „Sein“ und „Nicht-Sein“ . Brahman existiert als Brahman<br />

in Brahman so, wie der Raum im Raum als Raum existiert. Was man als<br />

die Schöpfung kennt, ist nur das unteilbare Brahman. So wie der einmal gesäte<br />

Same zu sprießen beginnt, so wird aus der Bewegung in Brahman etwas<br />

Beschreibbares. Sämtliche Wesen im Universum sind in meinen Augen er-<br />

744


leuchtet. Für diejenigen, die diese Welt für real halten, erscheint sie als real;<br />

für diejenigen, die Selbsterkenntnis besitzen, ist sie eine falsche Erscheinung.<br />

In Wahrheit ist nur Brahman allein.<br />

Für die diejenigen, die die Wirklichkeit kennen, ist alles was existiert (sowohl<br />

das Fühlende und das Leblose als auch das Bewegliche und das Unbewegliche)<br />

reine Leere. Ich bin Leere, du bist Leere, das Universum ist reine<br />

Leere. Ich verneige mich vor dem Besten aller Menschen, der wie grenzenloser<br />

Raum ist, der Kenntnis wie grenzenloser Raum besitzt und der ohne<br />

Subjekt-Objekt-Beziehung (Kenner und Kennbares) ist. Du hast alle in den<br />

Schriften beschriebenen Zustände transzendiert und bist im höchsten,<br />

nondualen Bewusstsein verankert.<br />

Diese höchste Wahrheit wird nur in totaler Stille erlangt, nicht aber durch<br />

Logik, Debatte und Argumentation.<br />

RĀMA sagte:<br />

So also, oh Weiser, ist deutlich geworden, dass die Selbsterkenntnis jenseits<br />

der Wortspiele ist. Wie kann sie mit Hilfe der einander widersprechenden<br />

Aussagen der Schriften erlangt werden? Wenn sie so nicht erlangt werden<br />

kann – worin besteht dann der Nutzen der Schriften? Bitte sage mir, ob sich<br />

die Selbsterkenntnis aus den Anweisungen des Lehrers und dem Studium der<br />

Schriften ergibt.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Es ist wahr, oh Rāma, dass das Studium der Schriften nicht die Ursache für<br />

das Erlangen der Selbsterkenntnis ist. Die Schriften setzen sich aus verschiedenen<br />

Aussagen zusammen – das höchste Wesen dagegen ist unbeschreiblich.<br />

Jedoch möchte ich dir nun erklären, auf welche Weise das Studium der Schriften<br />

mit der Selbsterkenntnis verknüpft werden kann.<br />

Die Einwohner eines gewissen Dorfes wurden während langer Zeit vom<br />

Unglück verfolgt. Sie hungerten und starben. Bedrückt durch Armut und<br />

Elend suchten sie nach Wegen und Mitteln, um ihren Lebensunterhalt zu<br />

verdienen. Sie entschieden, in den nahe gelegenen Wald zu gehen, um Feuerholz<br />

zu sammeln und zu verkaufen und so den Lebensunterhalt zu verdienen.<br />

Von Tag zu Tag verdienten sie sich so ihr Leben. In diesem Wald fanden sie<br />

auch Edelsteine, die manchmal versteckt und manchmal offen zutage lagen.<br />

Von den Menschen, die in den Wald nach Feuerholz gingen, fanden einige<br />

diese kostbaren Steine, andere hervorragendes Sandelholz, andere fanden<br />

Früchte, aber andere hatten auch da kein Glück und fanden nichts außer<br />

nutzlosem Feuerholz. Diejenigen, die die Edelsteine gefunden hatten, waren<br />

sofort von Armut und Sorgen befreit.<br />

Als alle so mit dem Sammeln von Feuerholz und dem Verdienst des Lebensunterhalts<br />

beschäftigt waren, fanden sie eines Tages den Stein der Weisen<br />

(der alle Wünsche erfüllt). Mit seiner Hilfe erhielten sie alles, was sie brauchten<br />

und wünschten und lebten für immer glücklich und zufrieden. Sie hatten<br />

VI.2:196,<br />

197<br />

745


nach Feuerholz gesucht, aber dabei tatsächlich den überaus kostbaren Stein<br />

der Weisen gefunden.<br />

Die Dorfbewohner in dieser Geschichte stehen für die Menschen der Erde.<br />

Ihre Armut ist die schlimmste Art von Armut, denn es ist die Unwissenheit,<br />

die die Quelle allen Kummers ist. Der Wald der Geschichte steht für den spirituellen<br />

Lehrer und die Schriften. In den Wald gingen sie auf der Suche nach<br />

der Befriedigung ihrer Bedürfnisse – auf dieselbe Art nehmen die Menschen<br />

zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse die Hilfe der Lehrer und der Schriften in<br />

Anspruch. Im Laufe der Zeit erlangen sie mit Hilfe der Anweisungen der Lehrer<br />

und der Schriften etwas weitaus Kostbareres als das ursprünglich verlangte.<br />

Diejenigen, die nach Feuerholz gesucht hatten, bekamen den Stein der<br />

Weisen. Menschen, die ihre Zuflucht zu den Schriften nehmen und sich dadurch<br />

die Erfüllung ihrer Hoffnungen versprechen, erlangen die höchste<br />

Wahrheit.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Manche Menschen treibt die Neugierde oder der Zweifel („Was kann das<br />

Studium der Schriften wohl bewirken?“) zum Studium der Schriften, während<br />

andere in ihnen den Schlüssel zu Reichtum und Vergnügen zu finden hoffen.<br />

Wieder andere nehmen das Studium der Schriften aus anderen Beweggründen<br />

auf. So wie die Dorfbewohner auf der Suche nach Feuerholz den Stein der<br />

Weisen fanden, so finden diejenigen Menschen, die die Schriften aus den<br />

unterschiedlichsten Erwägungen heraus studieren, die höchste Wahrheit. Bei<br />

all diesen Bemühungen werden die Menschen von den Heiligen angeleitet,<br />

die sich der Wohlfahrt der Menschheit verpflichtet fühlen. Die Menschen<br />

erkennen, dass die Heiligen die Schriften nicht für andere Zwecke als nur das<br />

Erlangen des höchsten, spirituellen Ziels verwenden. Durch sie inspiriert,<br />

beginnen Menschen, die Schriften zu studieren.<br />

So wie manche Dorfbewohner Sandelholz usw. im Wald gefunden haben, so<br />

erlangen auch manche von denen, die die Schriften studieren, entweder Vergnügen,<br />

Wohlstand oder Anleitung zu rechter Lebensführung. Nur diese drei<br />

werden in den Schriften dargelegt, während die Erkenntnis des Brahman<br />

jenseits jeder Beschreibung ist und daher in den Unterweisungen der Schriften<br />

nicht gefunden wird.<br />

Die direkte Erkenntnis der höchsten Wahrheit wird weder durch das Studium<br />

der Schriften noch durch das Anhören der Unterweisungen des Lehrers<br />

noch durch die Verehrung der Götter erlangt. Denn sie ist jenseits von all<br />

dem. Ich werde dir aber nun sagen, weshalb diese, obwohl nicht die eigentlichen<br />

Mittel, trotzdem als Mittel zur Erlangung der Selbst-Verwirklichung<br />

betrachtet werden. Durch die Praxis der Anweisungen der Schriften wird das<br />

Gemüt rein und transparent und dann kann man – ohne es überhaupt zu<br />

wünschen – die höchste Wahrheit sehen. Die Schriften unterstützen den<br />

sātivka-Teil der Unwissenheit, der in der Reinheit des Gemüts besteht. Diese<br />

Reinheit zerstört den tāmasischen (trägen) Teil der Unwissenheit.<br />

746


Nur durch ihr Erscheinen am Himmel spiegelt sich die Sonne im Ozean wider,<br />

ohne dass beide von ihnen die Absicht dazu hegen. Ebenso wird durch<br />

das simple Zusammentreffen von Schrift und Sucher die Wahrheit im letzteren<br />

reflektiert. Ein Kind mit schmutzigen Händen greift in den Schlamm und<br />

reibt seine Hände und wäscht sie dadurch – dadurch werden die Hände sauber.<br />

Auf dieselbe Weise reinigen die Schriften das Gemüt und das reine Gemüt<br />

reflektiert die Wahrheit.<br />

Überall im Himmel gibt es Licht, aber nur durch das Zusammentreffen mit<br />

einem reflektierenden Objekt gibt es Beleuchtung. Auf dieselbe Weise gibt es<br />

Erleuchtung, wenn die Schriften (oder der Guru) mit dem Sucher zusammentreffen.<br />

Daher wird die höchste Wahrheit realisiert, sobald man mit Hilfe der<br />

Worte des Lehrers, satsaÇga (Gemeinschaft mit Heiligen), Selbstbeherrschung<br />

und Geisteskontrolle über die wahre Bedeutung der Schriften nachdenkt.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Noch einmal werde dir etwas mitteilen, oh Rāma, bitte leihe mir dein Ohr.<br />

Durch wiederholtes Anhören der Wahrheit wird sogar die unwissende Person<br />

erweckt.<br />

Zu Beginn habe ich das sthiti prakaraïaæ dargelegt, in dem die Wahrheit<br />

betreffend die Schöpfung dieses Universums enthüllt wurde. Danach habe ich<br />

das upaÓānti prakaraïaæ dargelegt, in dem die Mittel zur Überwindung<br />

dieser Weltillusion behandelt wurden. Nachdem man von dieser Weltillusion<br />

frei geworden ist, sollte man hier ohne mentale Erregung und Qual leben.<br />

Man sollte in dieser Welt leben im Zustand des Gleichmuts, der sämtliche<br />

Segnungen verleiht und selbst die höchste Form der spirituellen Tröstung<br />

darstellt, der der größte Reichtum ist und das eigene Glück fördert. Der<br />

Gleichmut lässt die Reinheit wachsen. Aus dem Gleichmut ergeben sich all die<br />

anderen edlen Qualitäten. Gleichmut kann mit keinem Segen und keinem<br />

Wohlstand in der Welt verglichen werden. Er setzt allem Kummer ein Ende.<br />

Selten sind die Seelen, die im Gleichmut verankert sind und für die alle<br />

Freunde sind.<br />

Für denjenigen, der im Gleichmut verankert ist, bedeuten die Sorgen Glück<br />

und der Tod neues Leben. Wer kann die Größe desjenigen ermessen, der frei<br />

von Jubel und von Niedergeschlagenheit ist; der tut, was getan werden muss<br />

und wie es getan werden muss; der das, was zu sehen ist, als das sieht, was es<br />

ist. In einen solchen Menschen, der ein natürliches Leben führt, haben<br />

Freunde und Verwandte, Feinde und Könige das allergrößte Vertrauen.<br />

Durch solch eine natürliche Lebensweise wird niemand verletzt, auch wenn<br />

er zornig werden sollte. Die Menschen applaudieren dem, was er tut oder was<br />

er isst sogar dann, wenn er andere überwältigt oder zurechtweist: denn er ist<br />

im Gleichmut verankert. Sie applaudieren dem, was er jetzt tut oder in der<br />

Vergangenheit getan hat, ob dies nun gut oder nicht so gut gewesen ist.<br />

VI.2:198<br />

747


VI.2:199<br />

Diejenigen, die im Gleichmut verankert sind, erleben keinerlei Verzweiflung,<br />

ob sie nun dem Glück oder grossem Unglück ausgesetzt sind.<br />

(Es folgen knappe Hinweise auf einige große Männer, die sich gern für das<br />

Wohl der anderen aufopferten und selbst in den schlimmsten Notlagen unberührt<br />

blieben: Der König Śibi, der König, dessen Frau in seiner Gegenwart<br />

beleidigt wurde; YudhiåÂhira, der König von Trigarta, der König Janaka, der<br />

König von Sālva, Sauvirā, Kandapa, der Dämon des Kadampa-Waldes, Ja¬a<br />

Bharata, der edle Jäger; der Weise Kapardana. Zwei Faktoren sind wichtig: 1.<br />

Diese Beispiele des Gleichmuts entstammen unterschiedlichen Lebensläufen,<br />

2. historisch gesehen sind viele von ihnen nach Rāma’s Zeit.)<br />

Alle diese haben den Gleichmut erlangt und wurden daraufhin sogar von<br />

den Göttern verehrt, obgleich unter ihnen nicht nur Könige, sondern auch<br />

gewöhnliche Menschen waren. Daher sollte man in allen Umständen des<br />

Lebens – im Erfreulichen und Unerfreulichen, in Ehre und Schande – den<br />

Gleichmut erlangen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Weshalb haben diese Weisen, die ständig in der Seligkeit der Selbsterkenntnis<br />

waren, nicht sämtlichen Aktivitäten entsagt?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Sie hatten alle Gedanken an: „Dies ist wünschenswert“ und „dies ist nicht<br />

wünschenswert“ aufgegeben. In ihrem Fall wurden daher das Aufgeben von<br />

Tätigkeiten wie auch die Tätigkeit selbst bedeutungslos. Daher taten sie, was<br />

auch immer zu tun war so, wie es zu tun war.<br />

Rāma, so lange es Leben gibt, lebt und arbeitet und bewegt sich der Körper.<br />

Dies soll so weitergehen, weshalb sollte man etwas anderes wünschen? Weshalb<br />

nicht einfach das Richtige tun, sobald es irgendwann etwas zu tun gibt?<br />

Was immer man mit einem reinen und klaren Verstand tut, der im Gleichmut<br />

ruht, ist recht und angemessen und niemals mangelhaft. Unter uns, oh Rāma,<br />

gibt es viele, die in fehlerhafte Tätigkeiten involviert waren, ohne dabei ihre<br />

Weisheit oder Klarsicht aufgegeben zu haben.<br />

Es gibt manche Befreite, die als Haushälter leben, dabei aber ohne jede Anhaftung<br />

sind. Dann gibt es die königlichen Weisen, die wie du ihre königlichen<br />

Pflichten ohne Anhaftung und ohne Erregtheit ausüben. Wieder andere üben<br />

die von den Schriften vorgegebenen Pflichten und Riten aus. Andere sind Gott<br />

und der Meditation und ihren eigenen Pflichten ergeben. Dann gibt es wieder<br />

solche, die im Innern alles aufgegeben haben, aber wie scheinbar Unwissende<br />

leben und mit allerhand Tätigkeiten befasst sind. Es gibt solche, die in dichten<br />

Urwäldern leben und in tiefe Meditation versunken sind. Es gibt andere, die<br />

an heiligen Orten leben. Es gibt solche, die in fernen Ländern umherziehen,<br />

um so alle ihre Zu- und Abneigungen vollständig loszuwerden. Manche wandern<br />

ständig von Ort zu Ort.<br />

748


VI.2:200<br />

Einige haben ihre natürlichen Pflichten aufgegeben, während andere ihnen<br />

ergeben sind. Manche benehmen sich wie weise Männer und andere wie<br />

Verrückte. Manche sind Menschen, andere dagegen Götter oder Dämonen.<br />

Es gibt in dieser Welt die vollständig Erleuchteten, die unerleuchteten und<br />

die Halb-Erleuchteten, wobei die letzteren die rechten Handlungen auch<br />

aufgegeben haben und daher weder hier noch dort sind. Das Waldleben ist<br />

für die Befreiung nicht Bedingung, man muss auch nicht in seinem Heimatland<br />

wohnen oder ein asketisches Leben führen noch die Tätigkeiten aufgeben.<br />

Die Befreiung wird von demjenigen erlangt, dessen Natur gänzlich frei<br />

und unangehaftet ist. Wessen Gemüt frei und unangehaftet ist, verwickelt sich<br />

nicht wieder im saæsāra. Oh Rāma, du bist selbst der höchste Zustand. Bleibe<br />

was du bist, frei von Zu- und Abneigungen und sei verankert in der höchsten<br />

Wahrheit. Es gibt in diesem Brahman keine Unreinheiten, Wandel, Schleier,<br />

Verlangen oder Aversionen. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.<br />

VùLMýKI sprach:<br />

Nachdem er so seinen Diskurs über nirvāïa abgeschlossen hatte, blieb der<br />

Weise Vāsi«Âha stumm. Sämtliche Teilnehmer der Versammlung waren nun<br />

im höchsten (nirvikalpa) samÃdhi oder der Kontemplation versunken. Die<br />

vielen Himmel erklangen vom Jubel der versammelten Weisen und Heiligen.<br />

Die Himmelswesen ließen ihre Trommeln und andere Instrumente ertönen.<br />

Es regnete Blumen.<br />

DIE SIDDHAS (die Vollkommenen) sprachen:<br />

Seit dem Beginn dieser Epoche an sind uns schon viele Diskurse über die<br />

Mittel der Befreiung zu Ohren gekommen, aber noch keiner wie dieser. Sogar<br />

die Tiere und die Kinder werden erleuchtet, wenn sie die Worte des Weisen<br />

hören.<br />

DER KÖNIG DAŚARATHA sprach:<br />

Hoher Herr, in dieser Welt gibt es nichts, womit du angemessen verehrt<br />

werden kannst. Höre jedoch mein Gebet und sei nicht beleidigt. Ich bete dich<br />

an und verehre dich durch mich selbst, meine Familie und die von mir erworbenen<br />

Verdienste wie auch all die guten Taten, die ich hier und in der anderen<br />

Welt getan habe. All diese sind dein, oh hoher Herr. Wir nehmen nun deine<br />

Befehle entgegen.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

Wir sind mit der Verehrung zufrieden, oh König. Für mich ist dies genug.<br />

Nur du weißt, wie die Welt zu regieren ist.<br />

RĀMA sagte:<br />

Hoher Herr, was kann ich dir anbieten? Ich falle dir zu Füßen!<br />

Nach ihm verehrten auch die Brüder den Weisen. Dann verehrten die Könige<br />

und alle anderen, die von weither gekommen waren, um den Weisen anzuhören,<br />

diesen mit Blumen. Vāsi«Âha wurde buchstäblich mit Blumen bedeckt.<br />

749


VI.2:201,<br />

202<br />

Nachdem all dies beendet war, sprach VASIåèHA:<br />

Oh ihr Weisen, bitte sagt mir, ob es in diesem Diskurs Mängel, Unzulänglichkeiten<br />

oder falsche Unterweisung gegeben hat?<br />

Die VERSAMMELTEN WEISEN erklärten:<br />

In deinem Diskurs, oh hoher Herr, gab es nicht den kleinsten Misston. Er<br />

war immer von der höchsten Wahrheit durchdrungen. Du hast den Schleier<br />

der Sünde gelüftet, der unsere Gemüter und Herzen bedeckte. Unser Herzenslotos<br />

ist voll erblüht. Wir verehren dich – du bist unser Guru.<br />

Nachdem sie so gesprochen hatten, riefen sie mit einer Stimme aus: „Verehrung!<br />

Verehrung! Verehrung sei dir!“ Wieder ließen sie Blumen auf ihn herabregnen.<br />

Die versammelten Weisen priesen auch König DaÁaratha, der die<br />

Versammlung einberufen hatte. Sie priesen Rāma. Sie grüßten Rāma und<br />

seine drei Brüder. Sie priesen die Weisen Vāsi«Âha und ViÓvāmitra. Denn nur<br />

durch die Gnade von all diesen konnten sie dem erlesenen Diskurs von<br />

Vāsi«Âha lauschen, der die Täuschung unverzüglich zerstreut.<br />

So verehrten sie alle wieder und wieder den Weisen Vāsi«Âha.<br />

Schließlich fragte VASIåèHA Rāma:<br />

Oh Rāma, was willst du noch von mir wissen? Wie nimmst du diese Welterscheinung<br />

nun wahr? Wie ist deine innere Erfahrung?<br />

RĀMA erwiderte:<br />

Durch deine Gnade habe ich die höchste Reinheit erlangt und sämtliche Unreinheiten<br />

wurden fortgewaschen. Alle meine Missverständnisse und Täuschungen<br />

sind verschwunden. Meine Fesseln wurden durchtrennt. Mein<br />

Verstand ist nun klar wie ein Kristall. Mein Gemüt verlangt nicht nach weiteren<br />

Instruktionen.<br />

Ich habe mit nichts etwas zu tun – weder mit Instruktionen noch irgendwelchen<br />

Objekten, weder mit Verwandten noch Schriften und nicht einmal<br />

mit der Entsagung. Ich gewahre die Welt als das reine, unendliche, unteilbare<br />

Bewusstsein. Die Welt ist wie eine Leere, die im selben Moment verschwindet,<br />

in dem die Illusion aufhört. Ich werde tun, was auch immer du wünschest,<br />

dass ich tue. Ich werde leben und das tun, was ich zu tun habe oder zu<br />

tun wünsche, ohne Frohlocken oder Niedergeschlagenheit, denn meine Täuschung<br />

ist verschwunden. Auch wenn diese Schöpfung etwas anderes wird<br />

oder die Winde der kosmischen Auflösung toben oder dieses Land zu Wohlstand<br />

gelangt – ich bin in der Selbsterkenntnis verankert. Ich bin im Frieden.<br />

Meine Sicht ist klar. Mein wahrer Zustand kann nur schwer gesehen und<br />

verstanden werden. Ich bin frei von Hoffnungen und Wünschen. Ich werde<br />

leben und regieren wie die anderen Könige, ob diese nun erleuchtet oder<br />

unwissend sind, ohne alle mentale Erregung und mit ausgeglichener Sicht. So<br />

lange dieser Körper lebt, werde ich dieses Königreich regieren, mit reiner<br />

Sicht und ohne Zweifel betreffend die Natur dieses saæsāra – so wie ein Kind<br />

mit Spielen beschäftigt ist.<br />

750


VASIåèHA sprach:<br />

Bravo, oh Rāma, du hast wahrhaftig den höchsten Zustand jenseits von<br />

Freude und Leid erlangt und alles das transzendiert, was in dieser und der<br />

nächsten Welt vorkommt. Erfülle nun die Wünsche des Weisen ViÓvāmitra<br />

und regiere das Königreich.<br />

Nachdem die Versammlung erneut ihren Jubel zum Ausdruck gebracht hatte,<br />

sagte RĀMA:<br />

Hoher Herr, du hast unsere Herzen gereinigt wie das Feuer Gold reinigt.<br />

Diejenigen, die ihre Körper als alles betrachtet hatten, sehen nun das gesamte<br />

Universum als das Selbst an.<br />

Ich habe die Fülle des Seins erlangt. Ich bin von allen Zweifeln befreit. Ich<br />

bin voll ewiger, ungetrübter Seligkeit. Ich frohlocke in meinem eigenen Herzen,<br />

das durch die nektargleichen Worte der höchsten Wahrheit gereinigt<br />

worden ist. Durch deine Gnade habe ich den Zustand erreicht, in dem die<br />

gesamte Welt als die ewige, unsterbliche und unendliche Wirklichkeit erscheint.<br />

VASIåèHA sprach zu Rāma;<br />

Oh Rāma, du hast nun alles gehört, was wert ist zu hören und weißt nun<br />

alles, was wert ist zu wissen. Was ich dir gesagt habe und was du den Schriften<br />

entnommen hast, bringe nun durch deine eigene direkte Erfahrung in den<br />

Zustand der Harmonie.<br />

Noch einmal werde ich dir die höchste Wahrheit darlegen: Der Spiegel<br />

strahlt mit umso größerer Klarheit, je mehr er gereinigt und poliert wird. Alle<br />

Dinge hier sind das Mass des eigenen Gewahrseins oder der eigenen Erfahrung.<br />

Sämtliche Klänge sind wie die Klänge fließenden Wassers. Alles hier<br />

Gesehene ist die illusorische Erscheinung des unendlichen Bewusstseins.<br />

Diese Welt ist wie ein Traum aufgetaucht. Was man die Realität des Wachzustands<br />

nennt, ist ein Traum und ist nicht verschieden vom Bewusstsein, das<br />

die einzige Wirklichkeit ist. Daher ist die Welt wahrlich ohne Form.<br />

Sage mir, oh Rāma, wie die Erde und alles andere in dieser Traumstadt erscheinen?<br />

Wer hat dies alles ausgearbeitet, worin besteht ihre wahre Natur<br />

und worin ihre Funktion?<br />

RĀMA sagte:<br />

Nur das Selbst oder das unendliche Bewusstsein ist die Wirklichkeit von all<br />

diesem hier – von der Erde, den Bergen usw. Das Selbst ist wie Raum, formlos<br />

und ohne Grundlage. Alles hier wurde überhaupt nicht erschaffen. Diese Idee,<br />

die im Bewusstsein auftaucht, ist das Gemüt, und das Gemüt allein existiert<br />

als all dies.<br />

Zeit, Raum und alles andere sind Erscheinungen des Bewusstseins. Auch<br />

die Berge sind nichts als Bewusstsein. Alle Elemente sind Bewusstsein. Es ist<br />

das Bewusstsein allein, welches die Essenz der Eigenschaften aller Elemente<br />

wie die Festigkeit der Erde, die Flüssigkeit des Wassers usw. ist. In Wahrheit<br />

VI.2:203,<br />

204<br />

751


VI.2:205<br />

jedoch existieren die Erde und die anderen Elemente überhaupt nicht, denn<br />

nur das unendliche Bewusstsein existiert. Aufgrund der Flüssigkeit des Wassers<br />

lässt der Ozean die Wellen und die Strömungen entstehen, und dank der<br />

unendlichen Möglichkeiten des Bewusstseins kann es als verschieden und<br />

vielfach erscheinen. Sobald in ihm die Idee der Solidität und der Härte auftaucht,<br />

wird es zum Berg – und so verhält es sich auch mit allen anderen<br />

Objekten. Bewusstsein wird niemals dem geringsten Wandel unterworfen.<br />

Die Ideen von „ich“, „du“ usw. tauchen darin ohne jede Ursache und ohne<br />

einen Grund auf; sie sind nicht verschieden vom Bewusstsein.<br />

Das Gemüt, buddhi, der Ich-Sinn, die fünf Elemente und diese ganze Welterscheinung<br />

existieren im unendlichen Bewusstsein, ohne von diesem verschieden<br />

zu sein. Nichts wurde jemals erschaffen – nichts geht verloren.<br />

RĀMA fragte:<br />

Wenn also das unendliche Bewusstsein alles ist und die Welt nur ein Traum,<br />

wie erscheint dann dieses Bewusstsein im wachen Traumzustand als verkörpert?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Was auch immer man im Traum oder Wachzustand erblickt, hat keine andere<br />

Grundlage als Raum. Es ist aus Raum geboren und besitzt selbst die<br />

Natur von Raum (Leere). Raum ist nichts anderes als das unendliche, höchste<br />

Bewusstsein. Nichts, nicht einmal dieser Körper, wurde jemals erschaffen und<br />

daher existiert nichts. Das unendliche Bewusstsein erfährt die Existenz von<br />

all diesem wie in einem Traum. Diese Erfahrung existiert im Bewusstsein wie<br />

eine solide Schöpfung. Die Vielfalt, die aufgrund der grenzenlosen Möglichkeiten<br />

im unendlichen Bewusstsein auftaucht, lässt dann scheinbar die Vielfalt<br />

der verschiedenen Kreaturen entstehen.<br />

RĀMA fragte:<br />

Du hast davon gesprochen, dass da zahllose Schöpfungen seien. Du sagtest<br />

ferner, dass sie von verschiedenen Wesen bewohnt sind mit verschiedenen<br />

Eigenschaften und Funktionen. Bitte sage mir, wie unter all diesen diese<br />

Schöpfung hier existiert.<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Wenn der Lehrer das darlegt, was zuvor weder erfahren noch gesehen noch<br />

jemals gehört wurde, bedient er sich entsprechender Illustrationen, die das<br />

Erfassen und Erschließen der Wahrheit erleichtern. Du kennst jedoch jetzt<br />

die Natur dieses Universum.<br />

Nur das eine, unendliche Brahman existiert ohne einen Anfang und ohne<br />

ein Ende – ohne Form und ohne Wandel. Im unendlichen Raum, der von<br />

Brahman durchdrungen ist, existiert dieses Universum als nicht verschieden<br />

von Brahman. Das Universum ist ebenfalls anfangslos und endlos. Dieses<br />

Universum ist das, was das unendliche Bewusstsein als sich selbst betrachtet<br />

und was es in sich selbst erfährt. Das unendliche Bewusstsein betrachtet<br />

752


diese Erfahrung als das Universum. Folglich ist dieses unwirklich wie das<br />

Traumobjekt des Träumenden.<br />

Weder sind die Berge hart noch die Gewässer flüssig. Als was, wie und wo<br />

sich das unendliche Bewusstsein selbst sieht, das erscheint dann auch so. Ein<br />

Berg taucht in einem Traum auf und existiert dann als ein Nichts im Nichts –<br />

mit dem Universum verhält es sich ebenso, denn es ist der Traum des unendlichen<br />

Universums. Brahman allein existiert jederzeit als Brahman – nichts<br />

wird jemals erschaffen oder zerstört. In Brahman gibt es weder Vielfalt noch<br />

Nicht-Vielfalt. In ihm sind sämtliche Konzepte wie Einheit, Vielfalt, Wahrheit,<br />

Falschheit usw. bedeutungslos.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Das was ohne jede Ursache zu existieren scheint, ist nicht – folglich ist als<br />

einziges nur Das (die Realität).<br />

Ich werde dir nun für die Vertiefung deines Verständnisses von einer interessanten<br />

Frage erzählen, dir mir einmal gestellt wurde. Es gibt eine Insel<br />

namens KuÓadvīpa. Darauf befand sich eine Stadt namens Ilāvatī. Sie wurde<br />

von dem König Prajñapti regiert. Einmal traf ich mit ihm zusammen. Nachdem<br />

er mich verehrt hatte, stellte er mir die folgende Frage:<br />

„Was waren der Grund und die Ursache für die Schöpfung des Universums,<br />

nachdem das gesamte sichtbare Universum aufgelöst worden ist? Was ist<br />

dieses Universum? Einige Teile sind immer von der Finsternis verhüllt, während<br />

es anderswo von Würmern bewohnt wird. Wie tauchen diese die Welt<br />

konstituierenden Elemente auf und wie wurden das Gemüt, buddhi usw.<br />

erschaffen? Wer ist der Schöpfer von all diesem und wer nimmt es wahr? Wer<br />

hält es aufrecht?<br />

Offensichtlich gibt es keine endgültige Auflösung des Universums. Jedes Lebewesen<br />

erfährt das, was es wahrnimmt. Was ist dann unzerstörbar und was<br />

ist real? Wenn jemand hier stirbt und der Körper kremiert wird, wer erzeugt<br />

dann einen Körper für ihn in der Hölle, um dort die nötigen Erfahrungen zu<br />

machen? Gewiss weder Tugend (dharma) noch Untugend (adharma), da<br />

diese subtil und formlos sind. Aber die Behauptung, dass „die andere Welt“<br />

nicht existiert, erscheint gleichermaßen irrig, denn dies widerspricht den<br />

Aussagen der Schriften.<br />

Es ist absurd zu behaupten, dass jemand, der formlos ist, Erfahrungen wie<br />

etwa Bestrafungen erleiden kann. Sage mir auch, wie die Substanzen hier<br />

dem Wandel unterworfen sind. Worin besteht der Nutzen der Schriften, die<br />

von Geboten und Verboten handeln? Was meint die Schriftstelle, dass zuerst<br />

das Unwirkliche existierte und dass es später wirklich wurde? Wenn Brahmā<br />

der Schöpfer der Leere entsprungen ist, weshalb hat dann die Leere nicht<br />

noch irgendwo weitere Schöpfer entstehen lassen? Wie haben die Kräuter<br />

usw. ihre Eigenschaften und ihre Natur erhalten? An einem heiligen Ort leben<br />

zur selben Zeit zwei Leute, von denen einer ein Freund und der andere ein<br />

Feind von jemandem ist. Der Freund betet für ein langes Leben und der Feind<br />

VI.2:206<br />

753


VI.2:207<br />

für einen frühen Tod. Wessen Gebete werden erfüllt? Falls tausend Menschen<br />

wünschen: „ Ich möchte ein Mond am Firmament sein“, weshalb kann es dann<br />

nicht tausende von Monden geben, die zur selben Zeit scheinen? Falls tausend<br />

Männer meditieren und dafür beten, dass sie alle eine bestimmte Frau<br />

als Ehegattin erhalten und zur gleichen Zeit diese Frau meditiert und betet,<br />

dass sie Jungfrau bleibt – worin besteht dann das Ergebnis?<br />

Wie erfahren die Verstorbenen in Abwesenheit ihrer Körper die Früchte der<br />

Begräbnisse und der nachfolgenden Rituale?“<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Oh König, höre zu. Ich werde deine Fragen auf eine Weise beantworten, die<br />

alle deine Zweifel zerstreut.<br />

Sämtliche Dinge in dieser Welt sind auf immer unwirklich, aber gleichzeitig<br />

auch real, weil das Bewusstsein ihr Inhalt und die einzige Realität ist. Was<br />

dieses Bewusstsein als „dies ist so und so“ festlegt, wird dann auch so, ob es<br />

nun real oder irreal ist. Darin besteht die Natur des Bewusstseins.<br />

Dieses Bewusstsein stellt sich einen Körper vor und wird daraufhin dieses<br />

Körpers gewahr. Es ist das Selbst-Gewahrsein, welches sich des Körpers gewahr<br />

wird – nicht umgekehrt. Zu Beginn der Schöpfung gab es nichts anderes<br />

– nur Bewusstsein war da. Die Welterscheinung tauchte daher in diesem<br />

Bewusstsein wie ein Traum auf. Wie auch immer sich das Bewusstsein die<br />

Welt vorstellte, dazu und nur dazu wurde sie. Was sonst ist diese Welt? Da die<br />

Welt nichts anderes als Bewusstsein oder Brahman ist, wird sie so von den<br />

Schriften beschrieben.<br />

Jedoch gründen die törichten und unwissenden Menschen wie der Frosch in<br />

dem toten Brunnen ihr Verständnis auf den Erfahrungen des Augenblicks und<br />

werden so aufgrund ihres falschen Verständnisses zu dem irreführenden<br />

Glauben geführt, dass nur der Körper die Quelle von Erfahrung und Gewahrsein<br />

sei. Mit diesen Leuten haben wir nichts zu schaffen. Ein Mensch, der sich<br />

als unfähig erweist, Zweifel zu zerstreuen, muss als unwissend betrachtet<br />

werden, wie klug er auch immer sein mag. Wenn Selbst-Gewahrsein ein<br />

Charakteristikum des physischen Körpers ist, warum empfindet der Leichnam<br />

dann nichts?<br />

Die Wahrheit lautet anders herum: Es ist das Bewusstsein Brahmans, des<br />

unendlichen Bewusstseins, welches als dieses Universum erscheint wie<br />

Traumobjekte in deinem Bewusstsein auftauchen. Brahman ist das unendliche<br />

Bewusstsein und ersinnt die Traumstadt, welche virāt oder die kosmische<br />

Person ist. Diese kosmische Person ist der Schöpfer Brahmā und auch<br />

reines Bewusstsein, obgleich man sie als das Universum bezeichnet.<br />

Was auch immer in dieser Traumstadt von Brahmā dem Schöpfer ersonnen<br />

wird, wird hier auf dieselbe Art und Weise erfahren. Der Körper verfügt daher<br />

über zwei Zustände, nämlich den lebendigen und den toten. Auf dieselbe<br />

Weise erscheint und verschwindet diese Schöpfung. Sie hat keine andere<br />

Ursache als Brahman, da es nichts anderes als Brahman gibt. Ob der Körper<br />

754


VI.2:209<br />

existiert oder nicht existiert, dieses Bewusstsein erfährt stets und überall das,<br />

dessen es sich gewahr ist – vor und nach dem „Tod“. Nur Bewusstsein ersinnt<br />

die andere Welt“ und erfährt sie dann als solche .<br />

Diese illusionären Erfahrungen hören nicht auf, bis man seine Zuflucht zu<br />

den rechten Mitteln der Befreiung nimmt und das Erwachen erlangt, sodass<br />

die mentale Konditionierung aufhört und das Bewusstsein unkonditioniert<br />

wird.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Was und wann auch immer das unendliche Bewusstsein ersinnt, das erfährt<br />

es auch. Auch Gunstbeweise und Flüche beziehen ihre Macht aus dem unendlichen<br />

Bewusstsein. Es geschieht dank der entsprechenden Vorstellung im<br />

Bewusstsein, dass Gebote und Verbote ihre Autorität und ihre Macht erlangen.<br />

Weil das verkörperte Wesen in dieser Welt nicht begreifen konnte, was vor<br />

dem Anfang der Schöpfung existierte, wird gesagt, dass zuvor nur das Nicht-<br />

Sein existierte. Existenz und Nicht-Existenz, Schöpfung und Auflösung sind<br />

wie Öffnen und Schließen der Augen des unendlichen Bewusstseins. Die<br />

eigentliche Natur des unendlichen Bewusstseins besteht darin, dass unaufhörlich<br />

Schöpfungen auftauchen und wieder verschwinden – so wie du in<br />

deinen Tagträumereien mentale Bilder in einem Augenblick erschaffst und<br />

wieder verschwinden lässt. Und doch sind all diese nur mentale Bilder, die im<br />

unendlichen Bewusstsein auftauchen; es selber tut überhaupt nichts.<br />

Da das unendliche Bewusstsein überall zu allen Zeiten ist, gibt es in ihm<br />

keine Barrieren; es kann jederzeit und an jedem Ort Bilder entstehen lassen.<br />

Gebote und Verbote existieren nur für die Erhaltung der sozialen Strukturen.<br />

Aber da sie alle im Bewusstsein verankert sind, können sie Resultate erzeugen,<br />

auch wenn jemand aus dieser Welt abgegangen ist.<br />

Brahman tritt weder ins Sein, noch hört es auf zu sein. Sobald jedoch in ihm<br />

die Subjekt-Objekt-Beziehung auftaucht, spricht man davon, dass es ins Sein<br />

getreten ist; und das Objekt wird Schöpfung genannt. Wenn Brahman diese<br />

Beziehung aufgibt und in sich selbst als es selbst verweilt, spricht man davon,<br />

dass Brahman als unendlicher Raum und höchster Friede existiert. Diese<br />

beiden (die Existenz und die Nicht-Existenz der Beziehung) sind natürlich für<br />

Brahman – wie die Bewegtheit und Unbewegtheit natürlich sind für den<br />

Wind.<br />

Altern, Tod usw. und auch die Unterteilungen der Zeit tauchen im unendlichen<br />

Bewusstsein wieder und wieder auf, so wie in deinen Tagträumen immer<br />

wieder Bilder auftauchen. Auf dieselbe Weise sind auch die Kräuter, die<br />

Heilpflanzen und die verschiedenen Objekte in den drei Welten entstanden.<br />

Nur das eine unendliche Bewusstsein erscheint als diese unendliche Vielfalt<br />

aufgrund der unendlichen (bewussten) Bilder, die in ihm auftauchen. Jedoch,<br />

in und als all dieses ist es immer nur das eine Brahman, welches erstrahlt.<br />

VASIåèHA sprach:<br />

VI.2:208<br />

755


Du hast den Fall des Freundes und des Feindes erwähnt, die an dem heiligen<br />

Ort für einander widersprechende Ziele gebetet haben. All dieses wurde<br />

vom unendlichen Bewusstsein von Anfang an festgelegt. Die Heiligkeit der<br />

Orte und das Betragen, welches Verdienste erwirbt, befähigt einen dazu,<br />

diese Verdienste an diesen Orten zu erwerben. Durch die Verdienste eines<br />

heiligen Ortes werden die Lasten eines Sünders erleichtert oder eliminiert. Ist<br />

das Gewicht einer Sünde viel leichter als die Stärke eines Verdienstes, dann<br />

wird die Sünde gewiss völlig gelöscht. Sind beide von gleicher Stärke, dann ist<br />

es möglich, dass im Bewusstsein sogar zwei Körper auftauchen, um Verdienst<br />

und Mängel auszuarbeiten.<br />

Die Wirkungen von Verdienst und Tadel hängen davon ab, welche Ideen im<br />

unendlichen Bewusstsein auftauchen und darin existieren. Ich, du und all<br />

dies hier wird von den Bildern regiert, die im unendlichen Bewusstsein vorherrschen,<br />

ob diese nun Verdienste oder Tadel betreffen.<br />

Der sterbende Mann denkt, dass er stirbt und andere wegen ihm weinen.<br />

Ebenso tauchen die Ideen von Tod und Verbrennung usw. in den anderen auf,<br />

die dann wegen des toten Verwandten wehklagen. Der sterbende Mann sieht<br />

die Welt, wie sie in ihm auftaucht. Die anderen jedoch (wie der Feind, der für<br />

seinen Tod gebetet hat) denken, dass er tot ist, während andere (wie der<br />

Freund, der für sein Wohlergehen gebetet hat) glauben, dass er die Unsterblichkeit<br />

erlangt hat. Daher werden beide Gebete erfüllt. Die drei Welten sind<br />

die illusorischen Produkte der Täuschung – aber es gibt in ihnen keine<br />

Getrenntheit oder Widersprüche. Was ist in einer Illusion unmöglich?<br />

DER KÖNIG sprach:<br />

Wie können formlose Verdienste und Tadel einen Körper erscheinen lassen?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Dieses Universum ist Brahmans Traumstadt – was ist darin unmöglich? In<br />

einem Traum oder während des Tagträumens wird man zum Millionär. Auf<br />

dieselbe Weise, wenn das unendliche Bewusstsein zu träumen beginnt, wird<br />

man tausend (zu einer Armee). Und die tausend werden dann wieder, wie im<br />

Tiefschlaf, einer. Daher ist es nicht möglich zu behaupten, dass hier irgendetwas<br />

unmöglich ist, noch dass hier etwas geschieht! Was man erfährt, ist, wie<br />

man es erfährt – die Wissenden sehen daher in all dem keine Widersprüche<br />

oder Unmöglichkeiten. Diskussionen darüber, was möglich und was unmöglich<br />

sei, sind nur sinnvoll, wenn sie sich auf eine Realität beziehen. Da die<br />

Welterscheinung jedoch eine Illusion oder ein langer Traum ist, sind diese<br />

Diskussionen sinnlos. In einer Traumerfahrung ist der einzige Prüfstein die<br />

„Erfahrung“, denn was immer erfahren wird, gilt als real. Was hier existiert,<br />

ist in Übereinstimmung mit dem Bild, welches im unendlichen Bewusstsein<br />

auftaucht .<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

VI.2:210<br />

756


Nun werde ich dir erklären, weshalb keine hundert Monde am Firmament<br />

erscheinen, obwohl hundert Leute kontempliert und gebetet haben: „Ich<br />

möchte ein Mond sein“. Alle hundert erscheinen nicht an diesem bestimmten<br />

Firmament noch gehen sie in einen bestimmten Mond ein. Eine Person kann<br />

nicht die Traumstadt einer anderen betreten. Jede verfügt über ihre eigene<br />

Traumwelt, und es ist dann in dieser Traumwelt, dass die Person zum Mond<br />

wird. Ebenso verhält es sich mit den vielen Männern, die dafür gebetet haben,<br />

dass alle eine bestimmte Frau zum Weibe erhalten mögen. Die Frucht dieser<br />

Gebete wird im Bewusstsein jedes einzelnen mit der jeweils spezifischen<br />

Erfahrung so reflektiert, als wäre sie real. Gewiss ist all dies völlige Einbildung<br />

– und was ist in der Einbildung unmöglich?<br />

So erfährt man auch in der anderen Welt die Früchte der eigenen Wohltätigkeit<br />

usw. Solche Wohltätigkeit hat im eigenen Bewusstsein ein bestimmtes<br />

Bild geformt, während sich das Bewusstsein daraufhin vorstellt, dass es in<br />

der anderen Welt die Früchte dieser Wohltätigkeit erntet. Dies ist auch die<br />

Sichtweise der weisen Männer.<br />

DER KÖNIG fragte:<br />

Hoher Herr, wie erscheint der Körper überhaupt?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Was du den Körper nennst, existiert in den Augen der Weisen überhaupt<br />

nicht. Er ist Brahman und nichts anderes. Das Wort „Traum“ wird ebenfalls<br />

nur zur Veranschaulichung der Wahrheit über das Illusorische der Welterscheinung<br />

verwendet – einen „Traum“ gibt es im unendlichen Bewusstsein<br />

nicht. Es gibt weder einen Körper noch einen Traum darin. Es gibt weder den<br />

Wachzustand noch den Traum noch den Schlaf. Was auch immer ist, ist Leere,<br />

es ist OM. Genug von diesen Beschreibungen.<br />

Zwischen „diesem“ und „jenem“ befindet sich der Körper des Bewusstseins,<br />

der Einheit und Vielfalt ist. Die Fülle (Unendlichkeit) erweitert sich zu Unendlichkeit,<br />

und dann existiert nur die Unendlichkeit als die Welt. Sie scheint zu<br />

sein, ist aber nicht das, als was sie erscheint. Wo auch immer das Bewusstsein<br />

Schöpfung ersinnt, dort scheint dann Schöpfung zu existieren. Das unteilbare<br />

Bewusstsein existiert überall und all das ist auch diese Schöpfung. All dies<br />

hier ist das ewig friedvolle Brahman oder unendliche Bewusstsein, welches<br />

auch die Schöpfung genannt wird.<br />

Es kann nicht anders sein. Alles andere ist Unwissenheit und Perversion.<br />

Dies ist die Erfahrung aller in der Welt, dies wird von den Schriften und den<br />

Veden verkündet. Wenn diese Wahrheit realisiert wird, wird die Realisation<br />

selbst zu Brahman und dieses gesamte Universum wird als nicht verschieden<br />

von Brahman erkannt. Meine Sichtweise befindet sich daher in Übereinstimmung<br />

mit der Erfahrung und den Erklärungen der Schriften. Sie führt hier<br />

und jetzt zur Befreiung und ist daher die beste und angemessenste. Sobald<br />

die Wahrheit über saæsāra klar verstanden ist, taucht die Erkenntnis auf:<br />

„Ich bin diese drei Welten“, und das ist Befreiung. Das sichtbare Universum<br />

757


VI.2:211<br />

bleibt wie es ist, hört aber auf, ein Objekt des Bewusstseins zu sein; es verschmilzt<br />

mit dem unendlichen Bewusstsein.<br />

RĀMA fragte:<br />

Was sind diese siddhas (die Vollkommenen), die sādhyas (himmlische Wesen),<br />

was ist yama (der Tod), was ist Brahmā der Schöpfer, was sind die<br />

vidyādharas und die divaukasas (Himmelsbewohner) und worin bestehen<br />

deren Welten?<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Alle Nächte und Tage erblickst du vor und hinter und über dir die Welten<br />

dieser siddhas und der anderen. Du siehst sie, wenn du sie sehen willst; andernfalls<br />

siehst du sie nicht. Wer die Kunst des Sehens dieser Welten nicht<br />

praktiziert, betrachtet sie als weit entfernt. Auch diese Welten sind subtil und<br />

übersinnlich (übernatürlich); der ganze Raum ist von ihnen erfüllt.<br />

Genau wie diese Welt illusorisch und eingebildet ist, so sind auch die Welten<br />

der siddhas und Himmelsbewohner. Durch ihre psychischen Kräfte wurden<br />

diese Welten gefestigt. So kannst auch du die Welt deiner eigenen Einbildung<br />

durch intensive Kontemplation stabilisieren. Die siddhas oder Vollkommenen<br />

haben so ihre Welt fest gemacht, während andere dies schwierig<br />

finden. Dieses Universum ist erfüllt vom unendlichen Bewusstsein und dieses<br />

Universum ist das, was das unendliche Bewusstsein als Bild in sich hegt.<br />

Das Universum ist nicht aus oder durch irgendetwas entstanden – zu Beginn<br />

der Schöpfung hat keine solche Ursache existiert. Es ist das, was als<br />

Vorstellung oder Bild im Bewusstsein erscheint. In der eigenen Fantasie<br />

tauchen Berge auf, die es in Wirklichkeit nicht gibt. So ist auch die Natur der<br />

Welterscheinung. Deshalb leben die Wissenden hier so, als wären sie wandernde<br />

Bäume.<br />

All diese Universen erscheinen in Brahman als nicht verschieden davon, so<br />

wie Wellen im Ozean nicht verschieden von diesem sind. Obgleich dieses<br />

Universum schon seit sehr langer Zeit zu existieren und eine funktionierende<br />

Realität zu sein scheint, ist es doch nichts als reine Leere und nicht wirklicher<br />

als eine eingebildete Stadt. Sie existiert nicht, obwohl die Menschen ihre<br />

Existenz erfahren; so wie man seinen eigenen Tod im Traum sieht. Das Unwirkliche<br />

erscheint als wirklich. Die Realität und die Irrealität der Welt sind<br />

zwei Aspekte des höchsten Wesens. Auch das Konzept des höchsten Wesens<br />

ist nur ein Konzept, nicht die Wahrheit. Lass alles so sein oder lass die Wahrheit<br />

anders sein. Weshalb soll man verwirrt und bestürzt sein? Gib die Jagd<br />

nach den Früchten der Handlungen auf. Du bist erleuchtet. Gib dich nicht<br />

sinnlosen Zielen hin.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

Brahman betrachtet sich selbst als unendlicher Raum, weil Brahman unendliches<br />

Bewusstsein ist. Der unendliche Raum selbst ist die kosmische<br />

Person, in der diese Welt existiert. Und doch ist all dies nicht verschieden von<br />

Brahman – und daher ist alles Brahman! Die Welterscheinung ist andererseits<br />

VI.2:212<br />

758


VI.2:213<br />

eine Illusion, obwohl sie als eine Realität gesehen wird, so wie Wasser in<br />

einer Luftspiegelung unwirklich und illusorisch ist, obgleich es zu existieren<br />

scheint.<br />

RĀMA fragte:<br />

Bitte sage mir, wann Brahman sich selbst nicht als das sieht.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

In Brahman, dem unendlichen Bewusstsein, existiert das Bild der Schöpfung<br />

sogar jetzt noch. Es ist aber wahr, dass, obwohl Schöpfung und Nicht-<br />

Schöpfung überall und zu allen Zeiten in Brahman existieren, sie nicht unabhängig<br />

von ihm existieren. Von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet,<br />

existieren sie daher überhaupt nicht. Brahman kennt sich nicht als Objekt.<br />

Die Schöpfung ist folglich ohne Anfang und Ende und das ist Brahman.<br />

Wenn du noch nicht erleuchtet bist und ein Erwachen aufgrund des bloßen<br />

Lauschens auf diese Worte erfährst, erfährst du eine scheinbare Dualität oder<br />

Vielfalt in dem, was in Wahrheit nonduales Brahman ist. Nichts existiert hier,<br />

und daher gibt es auch keine Konzepte von Objekten. Es gibt da nichts anderes<br />

als das Selbst, und das Selbst ersinnt keine Objekte. Was als die drei Welten<br />

erscheint, erscheint immer, aber es ist nur das höchste, friedvolle Brahman,<br />

in dem es keinerlei Vielfalt gibt. Nur so lange du noch nicht voll erleuchtet<br />

bist, erfährst du die scheinbare Vielfalt. Wenn du voll erleuchtet bist,<br />

brauchst du weder Schriften noch Unterweisungen und erfährst keine Dualität<br />

oder Verschiedenheit, die auf dem Gedanken des „ich“ beruht.<br />

RĀMA fragte:<br />

Was geschieht, wenn die Idee des „ich“ im Höchsten entsteht ?<br />

VASIåèHA erwiderte:<br />

Wenn die „Ich“-Idee im Bewusstsein auftaucht, taucht das Konzept des unendlichen<br />

Raumes mit ihr zusammen auf. Daraus ergibt sich dann dieses Zeit-<br />

Raum-Kontinuum, und daraus ergeben sich Getrenntheit und Vielfalt. Dann<br />

entstehen aufgrund dessen Gedanken wie „ich bin hier“, was bedeutet: „Ich<br />

bin nicht dort“. Wenn alle diese aufgetaucht sind, wird das „ich“ sowohl der<br />

subtilen Wurzelelemente gewahr, aus der die Welterscheinung entsteht, als<br />

auch der Welterscheinung selbst. So entsteht aus Brahman, dem unendlichen<br />

Bewusstsein, anscheinend etwas, was nicht Brahman ist. Jedoch ist dies nur<br />

scheinbar und keineswegs real – in Wahrheit existiert nur das unendliche<br />

Brahman.<br />

VASIåèHA fuhr fort:<br />

So wie du mich heute befragt hast, oh Rāma, so hast du mich bereits in einer<br />

früheren Epoche befragt. Zu der Zeit warst du mein Schüler und ich dein<br />

Guru. Ich erinnere mich noch genau an den damaligen Dialog und werde ihn<br />

dir wiederholen.<br />

DER SCHÜLER fragte: Bitte sage mir, hoher Herr, am Ende des Weltzyklus,<br />

was ist das, was verdirbt, und was ist das, was dauert und nicht verdirbt.<br />

759


Der LEHRER sagte: Mein Sohn, was immer gesehen wird (die Objekte der<br />

Wahrnehmung), verdirbt, so wie die Traumwelt verdirbt, sobald du in den<br />

Tiefschlaf übergehst. Alle diese Welten mit ihren Bergen und ihren Himmelsrichtungen<br />

verderben gänzlich; ebenso die Zeit und die Tätigkeiten und die<br />

Weltordnung. Sämtliche Wesen verderben und sogar der Raum verschwindet,<br />

weil es niemanden gibt, der noch an Raum denkt oder der im Raum denkt.<br />

Sogar Götter wie Brahmā der Schöpfer, Viåņu der Erhalter und Rudra der<br />

Erlöser hören auf zu sein und existieren nicht einmal mehr dem Namen nach.<br />

Was bleibt übrig? Nur das unendliche Bewusstsein, obwohl auch dies nur ein<br />

Rückschluss auf eine frühere Erfahrung ist.<br />

Der SCHÜLER sagte: Es wird gesagt, dass das Unwirkliche nicht ins Dasein<br />

tritt und das Wirkliche kein Nicht-Sein hat. Wie ist dies zu verstehen, und wie<br />

verdirbt das, was wir sehen?<br />

Der LEHRER sagte: Mein Sohn, dieses vermag nicht zu verderben und daher<br />

sagt man : „Es wird nicht gesehen“. Man sagt, dass das Unwirkliche kein Sein<br />

und das Wirkliche kein Nicht-Sein hat. Was nicht überall und jederzeit existiert,<br />

ist bereits Nicht-Sein. Wie verdirbt es also ? Was ist an dem in der Luftspiegelung<br />

gesehenen Wasser dauerhaft und was ist dauerhaft in einer Illusion?<br />

Was auch immer hier im Universum gesehen wird, ist eine Illusion, und<br />

weshalb soll eine Illusion nicht aufhören? So wie Träume beim Erwachen an<br />

ein Ende gelangen und beim Schlafengehen der Wachzustand an ein Ende<br />

gelangt, so kommt auch diese Welterscheinung an ihr Ende. Wenn man aufwacht,<br />

wohin geht die Traumstadt? Genau so weiß man auch nicht, wohin die<br />

Welterscheinung gegangen ist.<br />

Der SCHÜLER fragte: Weshalb scheint all dies zu sein, und weshalb hört<br />

diese Erscheinung dann auf zu sein?<br />

Der LEHRER erwiderte: Es ist das unendliche Bewusstsein selbst, welches<br />

als all dies erscheint, denn unabhängig von ihm gibt es keine Welt. Auch wenn<br />

das Bewusstsein als all dies erscheint, so verliert es doch in keinen Augenblick<br />

seine eigene wahre Natur oder Identität. Sowohl Erscheinung als auch<br />

Nicht-Erscheinung sind Aspekte des Bewusstseins. Wenn beispielsweise<br />

deine Gestalt im Wasser reflektiert wird, so ist die Reflexion nur temporär,<br />

während es deine eigene Gestalt nicht ist. Träumen und traumloser Schlaf<br />

sind Aspekte des einen Schlafes – so sind auch Schöpfung und Auflösung<br />

Aspekte von Brahman.<br />

Der SCHÜLER sagte: In einem Traum gibt es jemand anderes als den Träumer<br />

(reines Bewusstsein nämlich, das nicht in den Träumer und den Traum<br />

geteilt ist). Ist es nicht möglich, dass es auf eben diese Weise jemand anderes<br />

als den Wahrnehmer der Weltillusion geben kann?<br />

Der LEHRER sagte: So ist es auch. Daher ist seine wahre Natur oder Gestalt<br />

nicht die Welterscheinung. Bewusstsein allein ist und beleuchtet alles, was<br />

ist, aber die Erscheinung wird von jemand anderem erfahren. Daher ist es die<br />

Synthese aller Widersprüche. Es beleuchtet nichts und es kann nicht einmal<br />

760


VI.2:214<br />

gesagt werden, dass es Existenz sei. Es ist die Erscheinung im unendlichen<br />

Bewusstsein. Wie kann daher „real“ oder „irreal“ im Beobachter sein?<br />

Falls man meint, es sei überall als alles immer zu sehen, kann man ebenso<br />

gut sagen, dass es nicht überall als alles immer gesehen wird. Es ist immer die<br />

Realität und die Nicht-Realität. Es ist das unendliche Bewusstsein. Es verdirbt<br />

nicht und das andere (die Welterscheinung) verdirbt ebenfalls nicht. Einen<br />

großen Kummer gibt es nur dann, wenn die Realität des unendlichen Bewusstseins<br />

mit seinen beiden Aspekten von Schöpfung und Auflösung nicht<br />

erkannt wird; wird sie aber erkannt, dann ist da großer Friede.<br />

Der Höchste Herr oder das unendliche Bewusstsein allein ist der Krug, der<br />

Berg, dasTuch, der Baum, das Gras, das Feuer, das Bewegliche und das Unbewegliche<br />

– alles. Der Höchste Herr ist, was ist und was nicht ist; die Leere, die<br />

Tätigkeit, die Zeit, der Raum und die Erde, die Existenz und ihre Zerstörung,<br />

das Gute und das Böse. Es gibt nichts, was das unendliche Bewusstsein nicht<br />

ist. Es ist alles überall und immer – es ist nichts irgendwo und irgendwann.<br />

Ein Grashalm ist der Täter und der Genießende; ein Krug ist sowohl der Täter<br />

als auch der Genießende; ein Stück Tuch ist der Täter und der Genießende;<br />

das Sehen ist sowohl der Täter als auch der Genießende; der Berg ist<br />

sowohl der Täter als auch der Genießende; der Mensch ist der Täter und der<br />

Genießende – alle sind der Höchste Herr selbst. In allen diesen Dingen ist der<br />

Höchste Herr selbst der Täter und der Genießende oder der Erfahrende, denn<br />

alles ist Brahman, der anfangslos und endlos ist und alles bestimmt. Daher<br />

sind sogar Schöpfung und Auflösung Aspekte des einen Höchsten Herrn oder<br />

des unendlichen Bewusstseins. Allein das Bewusstsein ist sowohl der Täter<br />

als auch der Erfahrende von allem in allem. Daher ist niemand hier der Täter<br />

und der Erfahrende von etwas, oder der Höchste Herr ist der Täter und der<br />

Erfahrende von allem. Daher ist es möglich, dass alles (Gebote und Verbote)<br />

im Höchsten Herrn existiert und in Wahrheit nicht existiert. All dies ist all<br />

das, wie es von jedem erfahren wird.<br />

So hatte ich dich aufgeklärt, oh Rāma. Damit habe ich dir alles, was wert ist<br />

zu wissen, mitgeteilt. Verweile in dieser Realität, im Zustand der Erleuchtung.<br />

Sei frei im nirvāïa und regiere das Königreich gerecht.<br />

VASIåèHA sagte:<br />

Als der Weise Vāsi«Âha seine Unterweisung abgeschlossen hatte, ertönte<br />

himmlische Musik und es regnete Blumen. Jeder in der Versammlung verehrte<br />

den Weisen mit Blumen.<br />

Dann sprach König DAÁARAHTA: Wir haben vollkommene Erkenntnis erlangt.<br />

Wir ruhen im höchsten Zustand. Unsere Gemüter und Herzen sind<br />

durch die erleuchtenden Unterweisungen des Weisen von allen Täuschungen<br />

und Illusionen, Ideen und Verdrehtheiten gereinigt.<br />

RĀMA sagte: Durch deine Gnade, oh hoher Herr, ist meine Täuschung verschwunden<br />

und ich habe den höchsten Zustand erlangt. Ich bin vollendet mit<br />

einer vollkommen klaren Intelligenz. Ich bin von allen Zweifeln befreit. Ich<br />

761


uhe in meinem eigenen natürlichen Zustand als Brahman oder in der Erkenntnis<br />

des nirvāïa. Ich werde tun, wie du gesagt hast. Es gibt durch Tun<br />

oder Nicht-Tun nichts mehr für mich zu gewinnen. Ich habe weder Freunde<br />

noch Feinde. Wie kann man all dies realisieren ausser durch deine Gnade?<br />

Wie kann ein kleiner Junge den Ozean ohne Brücke oder Boot überqueren?<br />

LAKåMA×A sagte: Durch die Verdienste, die wir in früheren Geburten erworben<br />

haben, konnten wir dem Weisen zuhören und so von allen Zweifeln<br />

befreit werden.<br />

VIÁVĀMITRA sagte: Es ist, als hätten wir in tausend geheiligten GaÇgās<br />

(Flüssen) gebadet .<br />

NĀRADA sprach: Wir haben gehört, was wir weder im Himmel noch auf der<br />

Erde je vernommen haben. Und so sind wir vollkommen gereinigt.<br />

ÁATRUGHNA sagte: Ich habe höchsten Frieden und Seligkeit erlangt.<br />

Nachdem alle gesprochen hatten, sagte der Weise Vāsi«Âha zum König: „Am<br />

Ende der Rezitation der Schriften sollten die Weisen verehrt werden. Erfülle<br />

daher die Wünsche der Brāhmaņen. Du wirst die Früchte dieses heiligen<br />

Unternehmens ernten.“ Der König lud daraufhin zehntausend Brāhmaņen aus<br />

allen Teilen des Landes ein. Er verehrte sie. Er gab ihnen Nahrung. Er überschüttete<br />

sie mit Geschenken. Später verehrte er die Bürger, die Diener, die<br />

Armen und die Krüppel.<br />

Danach gab es in der Hauptstadt ein großes Fest mit Musikkonzerten, Tanzaufführungen<br />

und Rezitationen der Veden und anderer Schriften. Sämtliche<br />

Künstler wurden mit Essen und Getränken versorgt und erhielten üppige<br />

Geschenke an Kleidern und Edelsteinen.<br />

Der erleuchtete König DaÁaratha feierte den erfolgreichen Abschluss der<br />

Unterweisung des Weisen Vāsi«Âha eine ganze Woche lang mit den vielfältigsten<br />

Unterhaltungen und religiösen Ritualen.<br />

VĀLMýKI sprach:<br />

Oh Bharadvāja, so erlangten also Rāma und andere die höchste Erkenntnis<br />

und den Zustand jenseits des Kummers. Erwirb auch du diese Haltung und<br />

lebe, frei vom Zweifel, als befreiter Weiser. Wahrlich, indem du diese Schrift<br />

vernommen hast, bist du bereits befreit, du bist ein jīvanmukta. Sogar ein<br />

kleiner Junge, der dies hört, erlangt die Selbsterkenntnis. Auch die Unwissenden,<br />

in deren Herzen die durch Verlangen geknüpften Bande stark und fest<br />

sind, erheben sich durch das Studium dieser Schrift, die von der Befreiung<br />

handelt, über den Zustand der Getrenntheit; so wie junge Burschen reife<br />

Männer (Nicht-Junge) werden. Sie werden sich nie wieder im saæsāra verlieren.<br />

Auch diejenigen, die diese Schrift rezitieren, ohne ihre Bedeutung zu verstehen,<br />

die sie in ein Buch abschreiben, die andere dazu veranlassen, sie zu<br />

lesen oder die sie kommentieren, erwerben große Verdienste und erfreuen<br />

762


sich eines Lebens im Himmel. In der dritten Geburt erlangen sie schließlich<br />

die Befreiung.<br />

VĀLMýKI sagte zu König AriåÂanemi: So habe ich dir also kundgetan, was<br />

Vāsi«Âha Rāma gelehrt hat. Durch diesen Pfad wirst du die Wahrheit erlangen.<br />

Der KÖNIG sprach: Hoher Herr, durch deine Gnade habe ich saæsāra überquert.<br />

(Zum Boten der Götter sprach der KÖNIG:) Du bist mir ein treuer<br />

Freund gewesen. Du magst nun gehen. Ich werde die Wahrheit kontemplieren,<br />

die ich hier vernommen habe.<br />

Der BOTE sprach zum Himmelsbewohner: Es war außerordentlich erregend<br />

für mich, all dies anhören zu dürfen. Ich werde mich nun zu Indras Reich<br />

begeben.<br />

Der HIMMELSBEWOHNER sagte: Ich bin wahrhaftig gesegnet, dies von dir<br />

zu hören, oh Bote der Götter. Du kannst nun zu Indra gehen.<br />

AGNIVEÁYA sagte zu Kāruïa: So blieb dann der Himmelsbewohner in Kontemplation<br />

versunken. Hast du alles gut gehört? KĀRU×YA sprach: Gewiss.<br />

Meine Täuschung ist verschwunden. Ich werde nun ein nicht-willentliches<br />

Leben der spontanen Aktivität leben.<br />

AGASTI sprach zu Sutīkåïa: Auf diese Weise instruierte AgniveÓya seinen<br />

Sohn Kāruïa. Zweifle nicht an dieser Unterweisung, denn wer daran zweifelt,<br />

verdirbt. SUTýKå×A sprach: Meine Unwissenheit wurde vertrieben und die<br />

Lampe der Erkenntnis entzündet. Ich erkenne, dass alle Objekte dieser Welt<br />

wie die Wellen im Ozean im unendlichen Bewusstsein existieren. Daher werde<br />

ich ein Leben spontaner, nicht-willentlicher Aktivität führen. Ich bin wahrhaftig<br />

gesegnet. Ich verneige mich vor dir, denn der Schüler soll seinem Guru<br />

durch Worte, Gedanken und Taten dienen und ihn lieben. Hoher Herr, durch<br />

deine Gnade habe ich diesen Ozean des saæsāra durchquert. Ich verneige<br />

mich vor dem Höchsten Wesen, durch dessen Kontemplation man realisiert,<br />

dass alles hier wahrhaftig Brahman, das unendliche Bewusstsein, ist. Ich<br />

verneige mich vor dem göttlichen Lehrer Vāsi«Âha.<br />

Oõ TAT SAT – ENDE<br />

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