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49 III. KONKRETES: EINBLICK IN DREI BEISPIELE Im dritten ...

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<strong>III</strong>. <strong>KONKRETES</strong>:<br />

<strong>E<strong>IN</strong>BLICK</strong> <strong>IN</strong> <strong>DREI</strong> <strong>BEISPIELE</strong><br />

<strong>Im</strong> <strong>dritten</strong> Kapitel meiner Arbeit widme ich mich den Untersuchungen<br />

der Darstellungsweisen von Jesus Christus in einzelnen Filmen: Il vangelo<br />

secondo Matteo (1964), The Last Temptation of Christ (1988), Jésus de<br />

Montréal (1989). Demnach habe ich dieses Kapitel in drei alleinstehende<br />

Teile strukturiert. Je einem Teil entspricht ein Versuch der Wiedergabe des<br />

Bildes Jesu Christi, wie ich es in jedem Film wahrgenommen habe. Die<br />

Anordnung der drei Beispiele in diesem Kapitel entspricht der Reihenfolge<br />

ihrer Entstehung.<br />

Da die Unterschiede der analysierten Filme gross sind, kann das<br />

Vorgehen bei den einzelnen Analysen der Person Jesu Christi nicht ganz<br />

identisch sein. <strong>Im</strong> allgemeinen lassen sich folgende Schritte festlegen: Nach<br />

einer kurzen Charakteristik und den wichtigsten Angaben zum Film fasse<br />

ich die Handlung des Films kurz zusammen und lege die Kritik und<br />

Reaktion des Publikums zu jedem Film dar. Danach frage ich nach dem<br />

Ausgangspunkt, dem Plot bei den einzelnen Filmen und zugleich nach der<br />

eigentlichen Intention des Regisseurs. Wie und mit welchen Mitteln diese<br />

Intention verwirklicht wurde, sind Inhalte weiterer Abschnitte jedes Teiles, die<br />

mir dann die eventuellen Stärken und/oder Schwächen jedes Films<br />

enthüllen und die negative als auch positive Rezeption der betreffenden<br />

Filme begründen helfen. Da das „Märchenhafte” eines jeden solchen Films<br />

die Wunder Jesu ausmachen, widme ich diesen je einen ganzen Abschnitt.<br />

Bei den Analysen nutze ich im grossen Ausmass die Recherchen-<br />

Kenntnisse aus dem ersten Kapitel und die Sequenzbeschriebe, die ich zu<br />

jedem Film zusammengestellt und im Anhang aufgelistet habe.<br />

<strong>49</strong>


ERSTER TEIL:<br />

Jesus Christus in Pasolinis Il vangelo secondo Matteo<br />

1.1. Charakteristik und Angaben zum Film<br />

Pier Paolo Pasolini hatte Il vangelo secondo Matteo 1964 in Süditalien<br />

gedreht, in einer Zeit, die von der Suche nach einem „christlichnichtchristlichen”<br />

Dialog 1<br />

geprägt war. Er hat deshalb auch seinen Film<br />

Papst Johannes XX<strong>III</strong>., dem Förderer dieses Dialogs, gewidmet.<br />

Il vangelo secondo Matteo hat eine Länge von 140 Min. (deutsche<br />

Fassung 136 Min.) 2 und ist ganz gegen den damaligen Trend schwarz-weiss<br />

und ausschliesslich mit Laiendarstellern realisiert worden.<br />

Pasolinis Jesusfilm ist der Tradition der direkten Jesusfilme<br />

zuzuordnen. Mit der Darstellung Jesu Christi nach einem einzigen<br />

Evangelium brachte er für längere Zeit ein Ende der synoptischen<br />

Darstellungsweisen 3 . Die Uraufführung fand am 4. September 1964<br />

anlässlich des Filmfestivals von Venedig statt 4 .<br />

Das deutschsprachige Publikum lernte Pasolinis Il vangelo secondo<br />

Matteo unter dem Titel Das Erste Evangelium – Matthäus 1965 kennen 5 .<br />

Seitdem wird der Film sporadisch am Fernsehen gezeigt, in Deutschland<br />

1 Vgl. HORSTMANN, Johannes: Christusbilder im Spielfilm. Notizen zu einigen Aspekten<br />

filmischen Erzählens von Jesus. In: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />

Bistums Essen 5-6, 1991, S. 15.<br />

2 Angaben nach: PR<strong>IN</strong>ZLER, Hans Helmut: Filmografie. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. 201.<br />

3 Nach 1964 sind zwar einige synoptische Jesus-Verfilmungen entstanden, die aber nicht das<br />

Niveau von Pasolinis Film erreicht haben.<br />

4 Vgl. PR<strong>IN</strong>ZLER, Hans Helmut: Filmografie. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram<br />

(Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. 201.<br />

5 Ebda.<br />

50


gehört er „(...) zum österlichen Standard-Programm zunächst der öffentlich<br />

rechtlichen, dann zunehmend der privaten Anstalten” 6 .<br />

Die mehrmaligen Wiederholungen am Bildschirm halfen dabei, Il<br />

vangelo secondo Matteo im Gedächtnis des Publikums am Leben zu<br />

erhalten. Für die „Unsterblichkeit” dieses Films sorgt aber am besten Pasolini<br />

selber und nicht nur die Kino- und TV-Veranstalter, denn der Film findet auch<br />

heute noch breite Anerkennung 7 .<br />

1.2. Die Handlung<br />

Eine junge Frau namens Maria erwartet ein Kind. Es ist das Kind, das<br />

sein Volk von seinen Sünden erlösen wird (vgl. Mt 1, 21) und dem sie<br />

zusammen mit ihrem Verlobten Josef den Namen Jesus geben wird, damit<br />

sich erfüllt, was die Propheten gesagt haben: „(...) man wird ihm den Namen<br />

<strong>Im</strong>manuel geben, das heisst übersetzt: Gott mit uns.” (vgl. Mt 1, 23) Der<br />

junge Mann Jesus stammt aus einfachen Verhältnissen und ist sich seiner<br />

einzigartigen Aufgabe und seiner göttlichen Sendung bewusst. Bei der Taufe<br />

durch Johannes den Täufer wird Jesus als der Sohn Gottes bezeugt und<br />

nach der Festnahme von Johannes dem Täufer beginnt er seine Sendung<br />

allen Menschen zu verkünden. Unter den „Kleinsten dieser Welt” wählt er<br />

sich seine Anhänger aus, zieht mit ihnen durch das ganze Land, lehrt und<br />

verbreitet die Botschaft vom Reich Gottes. Er handelt und spricht<br />

kompromisslos, tritt lautstark und engagiert auf. Seine Gedanken sind nicht<br />

leicht zu verstehen und treffen deshalb nicht auf allzu grosse Sympathien<br />

6 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: Baumgartner, Konrad; Rück, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 72.<br />

51


und Zuneigung der Massen. Doch der Anziehungskraft Jesu kann sich kaum<br />

jemand entziehen. Es ist gerade diese seine Kraft und Kompromisslosigkeit,<br />

die bei den Mächtigen dieser Welt sowie den Schriftgelehrten und<br />

Pharisäern schnell auf Widerstand stösst und Jesus ans Kreuz führt. Sein<br />

Tod markiert aber kein Ende: er bleibt seiner erlöserischen Aufgabe treu und<br />

verspricht seinem Volk und seinen Anhängern, mit ihnen bis zum Ende der<br />

Welt zu bleiben (vgl. Mt 28, 20).<br />

1.3. Kritik und Reaktion des Publikums<br />

Die Reaktionen auf Pasolinis Film sind sehr unterschiedlich gewesen.<br />

Die zahlreichen Zeitungsartikel und gesammelten Fachkritiken zeugen<br />

sowohl von Lob als auch von Ablehnung:<br />

„Kein Film Pasolinis – ausgenommen vielleicht sein letzter, ‘Saló’,<br />

dessen Diskussionen jedoch durch Aufführungsverbote abrupt<br />

abgeschnitten wurden – hat derart viele kontroverse Meinungen<br />

provoziert wie ‘Il vangelo secondo Matteo’.” 8<br />

Die Ursachen dafür werden dabei immer wieder in den Zusammenhang<br />

gebracht, dass ihn ein Marxist geschaffen hatte 9 . Die Vorwürfe der Marxisten<br />

zielten darauf, dass der Film nicht marxistisch und atheistisch genug sei; die<br />

7 Vgl. BIEGER, Eckhard: Revolte und Religion. Gedanken zu Pasolinis Jesus-Gestalten im<br />

Abstand von 30 Jahren. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und<br />

Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 32-35.<br />

8 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Kommentierte Filmografie. Il vangelo secondo Matteo. In:<br />

JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12.<br />

München, Wien 1977, S. 122.<br />

Dazu noch: Vgl. Ausgewählte Kritiken und Materialien zu: Das 1. Evangelium – Matthäus. In:<br />

film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Fillme.<br />

November 1992, S. 62-65.<br />

9 Das könnte auch einer der Gründe gewesen sein, warum Il vangelo secondo Matteo so<br />

rasch auch in den Kinos der damaligen osteuropäischen Ländern gezeigt werden durfte:<br />

1965 in Budapest und drei Jahre später 1968 in Prag und in den slowakischen Kinos.<br />

Vgl. Kol. von Autoren: Encyklopédia filmu. Bratislava 1993, S. 984.<br />

Vgl. Kol. von Autoren: Kronika filmu. Praha 1995, S. 351.<br />

52


Kritik der Fundamentalisten zielte dahin, der Film wolle eine fragliche<br />

Analogie zwischen Christus und Lenin herstellen 10 .<br />

Seitens der zeitgenössischen Filmkritik ist der Film mit grosser<br />

Anerkennung aufgenommen worden: Unmittelbar nach seiner Uraufführung<br />

am 4. September 1964 am Filmfestival von Venedig ist Il vangelo secondo<br />

Matteo mit dem Sonderpreis der Internationalen Jury ausgezeichnet worden;<br />

das OCIC (Office Catholique International du Cinèma) verlieh ihm den<br />

Grossen Preis und ausserdem wurde er „(...) 1965 als erster Jesusfilm in die<br />

Jahresbestenliste der katholischen Film- und Fernsehliga aufgenommen.” 11<br />

Pasolini soll in den Augen der damaligen Fachkritik einen Ansatz<br />

gründen, der zur Deutung des Jesusereignisses in der Konfrontation von<br />

biblischer Überlieferung mit dem Marxismus beiträgt 12 . Und dies dank der<br />

persönlichen Annäherung Pasolinis an die Gestalt Jesu Christi mit einem<br />

eigenen, fast nicht wiederholbaren Stil. Der Film ist in die (Jesusfilm-)<br />

Geschichte als ein Versuch eingegangen, der Jesus Christus dem heutigen<br />

Publikum verständlicher machen möchte 13 .<br />

Trotz dieses grossen Wirbels um den Film und den Regisseur<br />

(„Allerorten sprach man vom ‘Pasolini-Ereignis’” ) 14 konnte der Film zur Zeit<br />

der ersten Aufführungen nicht viele Zuschauer für sich gewinnen. <strong>Im</strong><br />

10 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Kommentierte Filmografie. Il vangelo secondo Matteo. In:<br />

JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12.<br />

München, Wien 1977, S. 122-131.<br />

Vgl. SB: Ein neuer Leben-Jesu-Film. In: Orientierung 29, 1965, S. 178-179.<br />

11 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: Baumgartner, Konrad; Rück, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 100.<br />

12 Dabei sei hier Marxismus im spezifischen italienischen Stil und Verständnis gemeint, der<br />

nicht ganz im Gegensatz zum Christentum steht, sondern dessen Züge beinhaltet.<br />

Vgl. Ebda. S. 90.<br />

13 Vgl. Ebda. S. 101.<br />

14 Vgl. Ebda. S. 65.<br />

53


Kinogeschäft zählte er nicht zu den Kassenschlagern à la Rays King of Kings<br />

und Stevens` The Greatest Story Ever Told:<br />

„Das grosse Publikum blieb ihm versagt; die Reaktion vieler<br />

Kinogänger auf seinen von der Kritik als ‘sozialkritisch’<br />

angekündigten Jesus, der in kargen Bildern agierte, war also<br />

sozusagen die ‘Nicht-Reaktion’, das Fernbleiben.” 15<br />

Diese Nicht-Reaktion des Publikums und eine schwache Werbung für<br />

den Film seitens der Organisatoren und Kinoveranstalter seien sogar dafür<br />

verantwortlich gewesen, dass sich der Film für den Verleih nicht ausgezahlt<br />

habe und bald von den Spielplänen verschwinden müsste 16 .<br />

Erst später habe Il vangelo secondo Matteo das Publikum für sich<br />

gewinnen können, als er auch via Fernsehen bekannt geworden sei 17 . Die<br />

Gründe sind der Tatsache zugeschrieben worden, dass Pasolini damals ein<br />

ungewöhnliches, dem breiten Publikum eher nicht vertrautes Bild von Jesus<br />

dem Christus, der als ein Revolutionär angekünigt wird, gebracht hat.<br />

Die spontanen Eindrücke des heutigen Publikums zeugen davon,<br />

dass der Film in vielen Menschen eine neuerwachte Neugier erweckt, sich<br />

mit dem Matthäus-Evangelium eingehender zu beschäftigen 18 . Mir ging es<br />

ähnlich. Beim Visionieren vom Pasolinis Film hatte ich das Gefühl gehabt,<br />

plötzlich ein lebendiges Evangelium gesehen zu haben und das Bedürfnis,<br />

nach Matthäus zu greifen und es Wort für Wort und Zeile für Zeile mit dem<br />

Film zu vergleichen. Das habe ich auch getan und dazu einen Vergleich des<br />

15 Vgl. Ebda. S. 80.<br />

16 Vgl. Ebda. S. 72.<br />

17 Vgl. Ebda.<br />

18 Vgl. HUPPMANN, Roland: Hauptrolle Jesus. In: Das Genre der Jesusfilme. Arbeitshilfe für<br />

Filmseminare 1. Institut für Kommunikation und Medien der Hochschule für Philosophie –<br />

München (Hg.). München Oktober 1986, S.3.<br />

54


Films mit dem Matthäus-Evangelium zusammengestellt (im Anhang Beilage<br />

Nr. 4), der mich auf folgendes aufmerksam gemacht hat:<br />

1. Pasolini hat mit seinem direkten Jesusfilm die Arbeit eines Evangelisten<br />

geleistet. (Abschnitt 1.4. dieses Kapitels);<br />

2. In seiner Verabeitung hat Pasolini beide Dimensionen Jesu respektiert<br />

und gleichwertig zum Ausdruck bringen wollen. (Abschnitt 1.5., 1.6. dieses<br />

Kapitels);<br />

3. Die Mittel, die im Film Pasolinis als Stärken zu bewerten sind, können sich<br />

zugleich als seine Schwächen auswirken. (Abschnitt 1.7. 1.8. dieses<br />

Kapitels).<br />

1.4. Matthäus als „Drehbuchautor”?<br />

Aus der Beilage Nr. 4, dem Vergleich des Films und des<br />

Evangeliums, 19<br />

ist zu entnehmen, dass Pier Paolo Pasolini seine<br />

Drehbuchvorlage, das Matthäus-Evangelium mit solcher Präzision verfolgt<br />

hat, dass man auf den ersten Blick einerseits sagen möchte, Matthäus<br />

selber habe das Drehbuch geschrieben. Andererseits muss man aber<br />

gestehen, dass Pasolini selber die Aufgabe des Evangelisten übernommen<br />

und das Evangelium neu zusammengestellt hat. Beide Eindrücke haben<br />

etwas an sich.<br />

Den Eindruck der Präzision und den Respekt gegenüber der<br />

literarischen Vorlage zeigt Pasolini mit der möglichst grossen Treue zum<br />

19 Zwick bietet einen Vergleich vom Pasolinis Film mit dem Matthäus-Evangelium mit<br />

detailliert markierten Verschiebungen und Veränderungen an. Für meine Bedürfnisse schien<br />

er mir aber viel zu komplex zu sein: Ich möchte mit meiner Arbeit keine theologische Analyse<br />

dessen bieten, wie das Matthäus-Evangelium im Film von Pasolini verarbeitet worden ist,<br />

sondern was für ein Bild von Jesus Pasolini mit seinem Film gebracht hat.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

55


Originaltext des Matthäus-Evageliums, indem er für seinen Film ganze<br />

Passagen des Matthäus-Evangeliums teilweise sogar wort-wörtlich<br />

übernimmt und keine eingenen Texte – keine erfundenen Dialoge oder<br />

Monologe zufügt. Er lässt seine Figuren das erzählen, was im Evangelium<br />

steht und fügt nur wenige Texte aus dem Alten Testament hinzu (die Jesaja-<br />

Ergänzungen) 20 . Somit wird die Reinheit des Textes gegenüber der<br />

biblischen Vorlage gesichert.<br />

Ebenfals „erfindet” Pasolini keine neuen Geschehnisse, die das<br />

biblische Geschehen eventuell ergänzen könnten. Er beschränkt sich nur auf<br />

die Ereignisse, die auch in der Bibel vorhanden sind. Das Maximum, das er<br />

sich erlaubt, besteht darin, dass er bestimmten biblischen Ereignissen mehr<br />

Platz zuteilt, als in der Vorlage vorhanden ist. So ist z. B. die Verkündigung,<br />

die Huldigung der Sterndeuter, der Kindermord, der Tod von Herodes, der<br />

Tanz von Salome oder das Geschehen um den Tod von Johannes dem<br />

Täufer inszeniert. Allerdings bleibt er auch hier dem Original treu. Diese<br />

Stellen im Film verlaufen fast ohne Worte, womit sie wie Stummfilm-<br />

Sequenzen wirken. Die ergänzenden Worte des Erzählers (Stimme des<br />

Propheten Jesaja) und die spärlichen Dialoge werden somit zu recht mit den<br />

Zwischentiteln eines Stummfilmes verglichen.<br />

Was die Personen betrifft, ist Pasolini gegenüber der literarischen<br />

Vorlage auch treu. Sie werden mit den vorgeschriebenen Charakteren und<br />

ihren Aufgaben übernommen (Johannes der Täufer ist der Wegvorbereiter<br />

Jesu, Judas ist der Verräter, Maria ist die schweigend leidende Mutter).<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 165-<br />

169.<br />

20 Zwick führt diesbezüglich eine genauere Analyse des Textes durch und stellt fest, dass die<br />

hinzugefügten Texte im Film keine Erfindungen Pasolinis sind, sondern wiederum Zitate<br />

andrer Bibelstellen.<br />

56


Seine Treue gegenüber der literarischen Vorlage des Matthäus-<br />

Evangeliums betrifft aber nicht die Anzahl der übernommenen Stellen, ihre<br />

Auswahl und ihre neue Anordnung. Pasolini hat natürlich nicht alles<br />

verfilmen können. Die Auslassungen und Umstellungen beginnen im Film<br />

schon ziemlich früh – gleich zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu nach<br />

der Berufung der ersten Jünger – und verlaufen bis zum Leiden und zur<br />

Auferstehung Jesu. Der Anfang und das Ende des Films bleibt identisch mit<br />

Matthäus. Die meisten Auslassungen betreffen gerade die Stellen des<br />

Evangeliums, die ich im ersten Kapitel als die schwierigsten zum Verfilmen<br />

bezeichnet habe: die Reden Jesu – sie werden nur teilweise übernommen;<br />

die Gleichnisse – sie fallen fast alle weg; die (Wunder-)Taten Jesu – sie<br />

fallen ebenfalls fast alle aus. Die übernommenen Teile ordnet dann Pasolini<br />

neu an (Beilage Nr. 4).<br />

In Bezug zu Jesus als Revolutionär, ist vor allem die Auswahl der<br />

übernommenen und ausgelassenen Stellen des Evangeliums, die Pasolini<br />

für den Film getroffen hat, von Bedeutung. Aus exegetischer Sicht hat Zwick<br />

diese Problematik untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass Pasolini<br />

die Rolle Jesu als Autoritätskritiker und Sozialreformer besonders betont 21 .<br />

Aus dem Umgang Pasolinis mit dem Evangelium kann man<br />

schliessen, dass er mit grösster Vorsicht und Respekt mit den Matthäus-<br />

Texten umgegangen ist, so als ob er das „Heiligtum” dieses Textes nicht<br />

zerstören wollte. Somit spürt man in seinem Film auch einen gewissen Grad<br />

an „Heiligkeit”.<br />

Pasolini übernimmt ebenfalls die Grund-Intention des Evangelisten: er<br />

möchte keine Biographie von Jesus herstellen und ist an den fehlenden<br />

Vg. Ebda. S. 173-177.<br />

57


Informationen des Evangeliums nich interessiert. Er hält sich ausschliesslich<br />

nur an den vorliegenden Text, was ihn auch dazu zwingt, die Struktur des<br />

Films vom Evangelium zu übernehmen. Somit lösst er auch das Problem der<br />

Zeit- und Ort-Sprünge, der fehlenden Zusammenhänge im Evangelium, die<br />

er einfach nicht wahrnimmt und seine Sequenzen, ähnlich wie die Kapitel<br />

des Evangeliums, ordnet. Somit ist vom Anfang an zu spüren, dass Pasolinis<br />

Verfilmung kein „Jesus-Abenteuerfilm” ist, sondern eine Art Kunststück,<br />

Kunst-Bilderzyklus mit gespielten Szenen zu Matthäus-Texten. Was aber<br />

Pasolini noch mehr als bei Matthäus unterstreichen möchte, ist die<br />

eigentliche Intention von Matthäus:<br />

„Bei Matthäus geht es nicht mehr (wie bei Markus) um die Frage<br />

des Christwerdens, um Glaube oder Unglaube, ihm geht es um<br />

die Frage der Bewährung im Christsein, um Glaube oder<br />

Kleinglaube.” 22<br />

Pasolini wendet sich unter anderen ebenfalls an eine gläubige<br />

Gemeinschaft (der Film ist schliesslich Papst Johannes XX<strong>III</strong>. gewidmet) und<br />

innerhalb dieser bekämpft er in einer teilweise aktualisierten Form Heuchelei,<br />

Pharisäertum, inkonsequente Glaubensausübung und soziale<br />

Ungerechtigkeit. Es geht ihm um den kleinen Menschen, um die Liebe zu<br />

ihm und um Gerechtigkeit, die sein Jesus vehement verteidigt. Diesem Ziel<br />

ordnet er alle seine Mittel unter; so dass man am Schluss sagen möchte,<br />

Pasolini hätte das Evangelium zwar nicht neu geschrieben, er hat es aber<br />

neu geordnet und dabei geradezu ein „Evangelium nach Pasolini”<br />

zusammengestellt.<br />

21 Vg. Ebda. S. 181.<br />

22 Vgl. BECK, Eleonore; MILLER, Gabriele: Das Evangelium nach Matthäus.Anmerkungen.<br />

In: Die Heilige Schrift. Familienbibel. Luzern 1966.<br />

58


1.5. Zwischen Jesus und Christus<br />

Einige Autoren stellen fest, dass Pasolini den Stammbaum aus dem<br />

Matthäus-Evangelium nicht thematisiert hat. Doch der Film beginnt gleich im<br />

Vorspann mit einer musikalischen Verdichtung. Es erklingen zwei<br />

Musikarten, die nicht nur den Hauptmusikeinsatz im Film repräsentieren,<br />

sondern zugleich den eigentlichen Stammbaum Jesu symbolischmusikalisch<br />

darstellen: die kreolische Messe und die Matthäus-Passion von<br />

J. S. Bach 23 . Sie beide stehen da für das Leben und das Leiden Jesu<br />

Christi und für seine zwei Dimensionen: für die menschliche und die<br />

göttliche. Somit erfüllen sie die eigentliche Funktion des<br />

„Stammbaumes” im Film. Wenn der Stammbaum Jesu im Evangelium<br />

andeutet, dass im Menschen Jesus der für Christus nötige Ursprung<br />

verborgen ist und dass die Geschichte Jesu Christi im Evangelium die<br />

Geschichte Christi, des Sohnes Gottes ist, dann füllen die zwei Musikarten<br />

genau diese Funktion im Film aus. Pasolini wählt diese musikalische<br />

Verdichtung, um seine Absicht auszudrücken und dieses Prinzip von<br />

„Zweispurigkeit” zieht er wie einen roten Faden durch den ganzen Film.<br />

1.5.1. Zwei Charakteristiken Jesu Christi<br />

Jesus von Nazaret wird in Il vangelo secondo Matteo von Enrique<br />

Irazoqui, einem jungen spanischen Studenten verkörpert. Rein vom<br />

Aussehen her trägt er zwar einige Züge des bekannten „Nazarener-Typus”,<br />

entspricht aber nicht dem süsslichen Nazarener, wie er von früheren Filmen<br />

23 Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />

Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />

Film 12. München, Wien 1977, S. 38-40.<br />

59


her dem Publikum vertraut ist: Enrique Irazoqui hat ein ovales Gesicht, stark<br />

ausgeprägte Augenbrauen, eine langgezogene Nase, dunkle Haare. Er ist<br />

aber kein blauäugiger „Weichling”, hat dunkle Augen und einen überwiegend<br />

strengen, durchdringenden Blick. Er hat kein langes gelocktes, sondern<br />

kurzes glattes Haar, trägt keinen auffallenden, längeren Bart, sondern nur<br />

eine Art „Dreitagebart”.<br />

Die körperliche Konstitution von Pasolinis Jesus entspricht ebenfalls<br />

nicht dem starken, kräftigen Mann der meisten Jesusfilme (wie z.B. Rays<br />

The King of Kings, Stevens`The Greatest Story Ever Told, Zeffirellis Gesú di<br />

Nazareth aber auch Scorseses The Last Temptation of Christ). Enrique<br />

Irazoqui ist nicht zu gross und wirkt eher verletzlich. Pasolini selber solle<br />

Irazoquis Jesus mit den Portraits des leidenden Christus von Rouault und El<br />

Greco verglichen haben 24 . Mit diesem Typ von Irazoqui lösst er sich zwar<br />

nicht vom einem gewissen Pathos, vermeidet aber gleichzeitig eine<br />

Identifikation Jesu mit dem stereotypen Nazarener einerseits und eine völlige<br />

Fremd-Wirkung auf den Zuschauer andererseits.<br />

Mit der Austrahlung, die Irazoqui seiner Figur verleiht, gibt er seinem<br />

Jesus einige Züge einer durchaus einzigartigen Person. Auch hier sind<br />

wieder zwei Verhaltensweisen Jesus-Irazoqui identifizierbar: die strenge und<br />

die „weiche”. Jesus ist eher zurückhaltend, zugleich aber auch selbstbewusst<br />

im Auftreten. Er provoziert nicht, sucht keine Konflikte, geht ihnen aber auch<br />

nicht aus dem Weg. Er hat keine Angst vor der Konfrontation beim<br />

Meinungsaustausch und trotzdem kann er weinend kurz vor seinem Tod im<br />

Garten Getsemani niederknien. Diese seine Haltung entspricht auch ganz<br />

24 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 375.<br />

60


der Physiognomie von Jesus-Irazoqui und seinen zwei Charakteristiken: er<br />

ist ernsthaft so beim seinem öffentlichen Auftreten, zeigt aber auch<br />

einfühlsam Tränen, als er erfährt, dass Johannes der Täufer getötet wurde<br />

Sq.25; er lächelt bei der Begegnug mit ihm Sq. 10, oder mit Kindern z.B. Sq.<br />

27. Jesus wirkt sicher und selbstbewusst in seinen Worten und Taten, hat<br />

fast immer eine sehr ernste Miene, ist eher traurig als sprudelnd vor<br />

Lebensfreude, weswegen er auch als Jesus der Pantokrator bezeichnet<br />

wird 25 . Zugleich aber ist er durchaus menschlich: die einfachen, kranken<br />

und armen Menschen finden bei ihm Zuflucht, folgen ihm und hören ihm zu.<br />

Ob sie ihn auch gut verstehen, ist allerdings nicht ganz klar; es findet kaum<br />

ein Dialog zwischen dem Volk und Jesus statt. Mit dieser zweierlei<br />

Charakteristik schafft Pasolini eine klare Trennung Jesu von den anderen<br />

Personen im Film.<br />

Aus den Charakteristiken von Jesus Christus könnte man schliessen,<br />

dass Pasolini durch das Äussere an seinem Jesus und das Innere an ihm<br />

die Dimension Christi an Jesus betonen wollte. Es ist gerade das Nahe, das<br />

Bekannte an seinem Christus und zugleich das weit Entfernte, das<br />

Unerreichbare an ihm, was in der Vorstellungswelt des Publikums von Jesus<br />

Christus präsent ist: Jesus zeigt sich zugleich als strenger und herrschender<br />

Christus, aber auch als leidender Bruder. Diese zwei Bilder von Jesus dem<br />

Christus sind zwar auch dem Publikum bekannt, aber gerade in dieser<br />

Kombination eher ungewöhnlich. Pasolini selber sprach von einer<br />

25 Vgl. Ebda. S. 387.<br />

Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Fillm 12. München,<br />

Wien 1977, S. 128.<br />

61


„schrecklichen Zweideutigkeit”, 26 die er seinem Jesus verliehen hat und mit<br />

der er für eine gewisse Verwirrung beim Publikum sorgte (die schon<br />

erwähnte „Nicht-Reaktion” des Publikums). Sein Jesus agiert und leidet nicht<br />

für sich selbst, er steht da für die Menschen, für das Publikum, dem somit<br />

nichts anderes bleibt, als sich auf diesen Christus einzulassen oder ihn<br />

abzulehnen.<br />

1.5.2. Zwei Aufgaben Jesu Christi<br />

Auf der Handlungsebene lässt Pasolini wieder im Sinne der<br />

„Zweispurigkeit” Jesus als Propheten und als Erlöser erkennen – als den<br />

Nachfolger von Johannes dem Täufer und als den von Gott gesandten Sohn.<br />

1. Jesus und Johannes der Täufer – Jesus als Prophet<br />

Die Geschichte von Johannes dem Täufer wird in einigen kurzen<br />

Sequenzen zu einer Parallelhandlung entwickelt, die das Schicksal Jesu<br />

immer einige Züge voraus andeutet und ihm somit tatsächlich bis zum<br />

Täufers Tod „den Weg bereitet”.<br />

Johannes der Täufer wird als ein Prophet dargestellt, der das<br />

Ankommen des Messias verkündet, deswegen in Konflikt mit den Pharisäern<br />

gerät und dafür sein eigenes Leben hingibt. Pasolini verändert somit das<br />

Motiv der Enthauptung von Johannes dem Täufer: Obwohl die Schuld daran<br />

entsprechend dem Evangelium weiterhin Herodias trägt, wird zum Grund<br />

seiner Festnahme nicht der Vorwurf des unmoralischen Zusammenlebens<br />

Herodes mit Herodias (Mt. 14,3-5), sondern die eigentliche Wirkung von<br />

26 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Fillm 12. München,<br />

Wien 1977, S. 123.<br />

62


Johannes dem Täufer, die man ebenfalls als revolutionär bezeichnen kann.<br />

Auch er bekämpft die Heuchelei, verkündet das Heil den Armen, Kranken<br />

und „Kleinen” dieser Welt (Sq.10). Sogar einen Judas findet Pasolini zu ihm<br />

– die Herodias, indem Pasolini durch sie den Verrat am Täufer symbolisch<br />

inszeniert. Das geschieht durch einen Kuss von Herodias an Salome(Sq.24).<br />

Das Opfer Johannes des Täufers wird wiederum durch ein symbolisches<br />

Tanz-Spiel (Sq.24) von der festlich gekleideten Salome inszeniert, wo durch<br />

einen Zweig dargestellte Unschuld des Johannes des Täufers zu den<br />

Füssen des mächtigen Herodes gelegt wird. Die ganze Sequenz ist wie ein<br />

zärtliches Spiel inszeniert, belegt durch leichte spielerische Töne der Flöte,<br />

die aber ab und zu unterbrochen werden, als ein Zeichen der Unsicherheit<br />

oder eine Vorahnung des Verbrechens an einem Unschuldigen. Die Szene<br />

der Enthauptung wird mit der Musik begleitet, die zum ersten Mal beim<br />

Kindermord in Betlehem (Mt. 2, 16-18; Sq.7) erklingt, womit Pasolini wieder<br />

auch eine musikalische Parallele zum Lebensweg Jesu Christi schafft.<br />

<strong>Im</strong> Bild wird Jesus als „Nachfolger” von Johannes dem Täufer zum<br />

ersten Mal bei der Taufe im Jordan definiert (Sq.10): nach der Verkündigung<br />

der Ankunft des Messias überblendet das Bild Jesus in einer<br />

Grossaufnahme das Bild von Johannes dem Täufer. Dieser Wechsel der<br />

Einstellungen, der auf eine Übergabe der Aufgaben hinweist, wird auch<br />

musikalisch betont. Während Johannes die Menschen im Jordan tauft<br />

(Sq.10), ertönt die gleiche Musik, die die Huldigung der Sterndeuter (Sq.4)<br />

begleitet: „Sometimes I feel like a Motherless Child...” Nach dem<br />

„Erscheinen” Jesu am Jordan geht dann die Musik in ausgesprochene<br />

Trauermusik über, was den Unterschied zwischen Jesus und Johannes auch<br />

musikalisch zum Ausdruck bringt. Johannes der Täufer wird im Laufe des<br />

63


Films noch ein paar Mal kurz eingeblendet (Sq.12, 20, 24), nicht mehr aber<br />

als engagierter Verkünder, sondern als Mann, der das Kommen des Reiches<br />

Gottes erwartet.<br />

2. Jesus als Erlöser<br />

Drei wichtige Momente lassen Jesus als den von Gott gesandten<br />

Erlöser erkennen: Die Ankündigung der Geburt Christi (Sq.1), das Motiv der<br />

Ankündigung der Geburt Christi zum zweiten Mal (Sq.22) und die<br />

Auferstehung (Sq.41).<br />

Das allererste Bild des Films ist die Grossaufnahme von Maria, einer<br />

jungen, eher traurigen Frau, die schweigend und gehorchsam den Willen<br />

Gottes erfüllt: sie erwartet „das Kind aus dem Heiligen Geiste” – Jesus wird<br />

geboren werden (Sq.1). Damit diese Wahrheit bestätigt und wahrgenommen<br />

werden kann, „schickt Gott seinen Engel” auf die Erde, der dem verwirrten<br />

Josef, dem zukünftigen Mann Marias alles erklärt: „(...) Sie wird einen Sohn<br />

gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von<br />

seinen Sünden erlösen.”(Mt. 1,21, Sq.1). Dies lässt den Film als eine<br />

Geschichte vom Erlöser Jesus lesen. Nach dieser Sequenz (Nr.1) ordnet<br />

Pasolini das ganze öffentliche Wirken Jesu: Wahl der Zwölf, Von der Grösse<br />

der Ernte, Aufforderung zum furchtlosen Bekenntnis, Seligpreisungen, die<br />

Bergpredigt, Beginn der Entscheidung, aber auch die zwei übernommenen<br />

Heilungen und der Gang auf dem Wasser (die Reihenfolge ist in der Beilage<br />

Nr. 4 und 5 markiert).<br />

Zu einem Bruch, der als eine neue „Ankündigung der Geburt Christi”<br />

gelesen werden kann, kommt es nach der Sequenz Nr. 21 – die etwa die<br />

Verteidigungsrede Jesu, die Verweigerung eines Zeichens und die Rede von<br />

den wahren Verwandten Jesu beinhaltet. Hier (Sq.22) setzt Pasolini das<br />

64


Motiv der Ankündigung der Geburt Christi vom Anfang des Films zum<br />

zweiten Mal ein und lässt den Erlöser selber kommen. Von der<br />

Nahaufnahme der alten Maria werden die Jünger in Halbnah überblendet.<br />

Sie gehen am Haus Marias vorbei, Maria steht vor dem Haus, schaut ihnen<br />

traurig zu, Jesus in Grossaufnahme mit Tränen in den Augen und einem<br />

traurigen „Röntgenblick” zu ihr hin geht seinen Weg, den Weg des Erlösers.<br />

Auch das Motiv des Ankommens Josefs in die Stadt, wo ihm der Engel zum<br />

ersten Mal begegnet ist, wiederholt sich hier. Diesmal wird kein Bote zu<br />

Menschen geschickt; der Sohn Gottes selber kommt in die Stadt (Sq.23).<br />

Von diesem Moment an übernimmt Jesus deutlich seine erlöserische<br />

Aufgabe. Nach dieser Sequenz werden die Sequenzen geordnet (Beilage Nr.<br />

5) wie die Enthauptung von Johannes dem Täufer, das ganze<br />

Passionsgeschehen (alle Ankündigungen von Leiden und Auferstehung, das<br />

Messiasbekenntnis des Petrus, Einzug in Jerusalem und die entscheidenden<br />

Konflikte Jesu mit Pharisäern, das letzte Abendmal, Tod Jesu bis zu seiner<br />

Auferstehung). Rein inhaltlich sind in dieser zweite Hälfte des Films die Teile<br />

plaziert, die Jesus als Christus erkennen lassen. Diese seine erlöserische<br />

Aufgabe erfüllt sich endgültig mit der Auferstehung Christi (Sq.41). Hier<br />

erinnert das Bild wieder an den Anfang des Films: das allerletzte Bild ist<br />

Jesus in der Grossaufnahme und ähnelt der Grossaufnahme der jungen<br />

Maria. Dieses Bild kann als die Aussage interpretiert werden, dass am<br />

Anfang des Films Jesus, am Ende Christus geboren wurde. Die lertzen<br />

Worte Jesu sind: „Ich bleibe mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.” Die<br />

Zusage Gottes vom Anfang des Films erfüllt sich und – um an das erste<br />

Kapitel anzuknöpfen – der Erkennensweg von Jesus zu Christus im Film<br />

wird vollendet.<br />

65


1.5.3. Zum Ansatz Pasolinis<br />

In der Intention von Pasolini ist die Beziehung Jesu zum Volk und zu<br />

den Pharisäern von grösserer Bedeutung, denn gerade dadurch kann Jesus<br />

als ein Revolutionär wahrgenommen und der Ansatz Pasolinis definiert<br />

werden. Diese Beziehung Jesu zum Volk ist hier ganz spezifisch, wiederum<br />

„zweispurig”, und ich würde sie als „kämpferisch-zärtlich” bezeichnen.<br />

Pasolini selber hat diese Eindrücke bestätigt, als er sich über das Matthäus-<br />

Evangelium folgendermassen geäussert hat:<br />

„The Christ (of Matthew) who moves through Palestine is really a<br />

revolutionary whirlwind: anyone who comes up to two people and<br />

says‚ Throw away your nets, follow me, and I will make you fishers<br />

of men,’ is totally revolutionary.” 27<br />

Dazu trägt noch sein besonderer Musik-Einsatz und die Bild-<br />

Komposition bei, für die sich Pasolini entschieden hatte. Die Tatsache, dass<br />

der Film schwarz-weiss und nicht in Farbe gedreht wurde, macht auf eine<br />

Eigenschaft Jesu aufmerksam, die man auch als revolutionär bezeichnen<br />

kann – seine Kompromislosigkeit. Diese zeigt sich vor allem im Kampf gegen<br />

das Pharisäertum, wo Jesus als Führer und als Mitte seines Volkes und<br />

seiner Angehörigen zugleich gezeigt wird.<br />

1. Jesus und das Volk<br />

Der Konflikt mit den Pharisäern, lässt Pasolini schon bei der ersten<br />

persönlichen Auseinandersetzung Jesu mit ihnen spüren, als diese<br />

vorhatten, Jesus zu töten (Sq.17). Diesem Komplott geht aber das Wirken<br />

27 Zit. nach:<br />

66


Jesu voraus, das nach der Festnahme von Johannes dem Täufer einsetzt<br />

(Sq.12). Da (Sq.13) wird Jesus gezeigt, wie er energisch durch das Land<br />

zieht und die entgegenkommenden Landarbeiter anspricht: „Endet eueren<br />

Sinn, denn das Himmelreich ist nahe!” (Mt. 4,17) Gerade dieser Moment ist<br />

als Anfang seiner öffentlich-revolutionären Wirkung gegen das Pharisäertum<br />

zu bezeichnen. Indem sich Jesus hier gerade an die Landarbeiter wendet<br />

und dazu noch ein Partisanenlied 28 ertönt, lässt Pasolini seine revolutionären<br />

Züge und Absichten erkennen. Diese erklärt er nach der Berufung der<br />

Jünger auch verbal. Er gibt seinen Anhängern die ersten Anweisungen und<br />

fügt bei: „Denkt nicht, ich bin gekommen, um Frieden zu bringen, sondern<br />

das Schwert” (Mt. 10, 34-36; Sq.14). Dieses biblische Wort von der Spaltung<br />

wird von manchen als Motto des ganzen Films angesehen 29 . Jesus bekämpft<br />

die Heuchelei, die er fast ausschliesslich bei den Reichen und Geistlichkeit<br />

findet. Andere Machthaber der Welt scheinen ihn im Grunde gar nicht zu<br />

interessieren. (Herodes und die Römer sind zwar im Film anwesend, spielen<br />

aber eher eine untergeordnete Rolle; sie sind nur die Ausführenden der<br />

Befehle der Pharisäer und Schriftgelehrten – Sq.35-38 Festnahme und<br />

Verhör Jesu.)<br />

Pasolini zeigt mit dem auffälligen Einbezug der Landarbeiter ins<br />

Geschehen eine besondere Stellung Jesu zum Volk auch im Bild. Er habe<br />

das Volk zum 13. Jünger Jesu gemacht, immer wenn er seine Anwesenheit<br />

durch die „Volks-Perspektive”, oft mit bewegter Kamera, habe spüren<br />

BAUGH,Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Kansas City 1997, S. 95.<br />

28 Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />

Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />

Film 12. München, Wien 1977, S. 38-39.<br />

29 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 177.<br />

67


lassen 30 . Dieses deutet er gleich nach der Wahl seiner Jünger an, als er das<br />

Volk und den Zuschauer in das Film-Geschehen mithineinzieht und es<br />

wieder durch ein Partisanenlied unterlegt (Sq.14). Jesus zeigt sich hier zwar<br />

als einer von ihnen, der aber zugleich ein besondere Stellung unter ihnen<br />

hat. Er ist mit den Jüngern zwar immer auf die Gleiche Raum-Ebene 31<br />

gestellt, wird aber kaum von diesen umgeben gezeigt. Jesus nimmt die erste<br />

Position an, wenn er unterwegs mit den Jüngern ist oder er steht ihnen von<br />

Angesicht zu Angesicht, wenn er sie direkt anspricht. Jesus wird somit in<br />

erster Linie nicht zum Zentrum der Jünger-Truppe und des Volkes gemacht,<br />

sondern zu ihrem Führer. Dieses Besondere an Jesus wird noch bei der<br />

Sequenz 21 unterstrichen, wo Jesus das Volk zu Brüdern und Schwestern<br />

erklärt. Am Anfang seiner Rede (Mt 12, 46-50; Sq.21) wird Jesus zum ersten<br />

Mal von unten nach oben aufgenommen und spricht dabei einen<br />

revolutionären Gedanken aus. Für Pasolinis sind das die eigentlichen<br />

„Worte der Spaltung”: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!” (Mt. 12,30).<br />

Die darauf folgenden Reden und entscheidenden Auftritte Jesu nehmen<br />

dabei stark an Intensität zu. Sie werden immer schneller ausgesprochen und<br />

sind immer deutlicher als gegen die Heuchelei und das Pharisäertum<br />

ausgerichtet, erkennbar. Da wird Jesus zum tatsächlichen Kämpfer, den<br />

man aber nicht „antasten” kann. Er hat etwas Unerreichbares an sich. Erst<br />

beim Einzug in Jerusalem (Sq. 27) drängen sich Massen um ihn und als er in<br />

den Tempel hineingeht, bilden Kinder und Kranke eine Art Kreis um Jesus.<br />

In diesen Momenten wird Jesus zum Zentrum seines Volkes und das Volk<br />

bekennt sich als seine Gefolgschaft zu ihm.<br />

30 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. 130.<br />

31 Vgl. Ebda.<br />

68


Das Volk bei Pasolini wird nicht als eine „Herde braver Schäfchen”<br />

dargestellt. Es sind kaum grosse Menschenmassen zu sehen, die von der<br />

Persönlichkeit und den Taten Jesu ausserordentlich fasziniert wären 32 . Das<br />

Volk erweckt eher den Eindruck, dass es sich einfach auf Jesu einlässt, ihm<br />

zuhört, auch wenn gewisse Angstgefühle, Unsicherheit und Zweifel an Jesus<br />

aus den Reihen des einfachen Volkes spürbar werden. Oft zeigen sie gar<br />

keine Reaktion auf die Worte Jesu (Sq. 20, wo die Menschen zwar zuhören,<br />

aber nicht reagieren) 33 Dieses könnte einerseits daran liegen, dass Pasolini<br />

eigene Text-Zugaben strikt ablehnt und sich ausschliesslich am Evangelium<br />

orientiert. Das Volk aber fast reaktionslos darzustellen, im positiven wie im<br />

negativen Sinne, kann nur die Interpretation von Pasolini selber und nicht<br />

von Matthäus sein. (Sq.36 – das Verhör Jesu, wo nur ein paar Stimmen aus<br />

dem Volk gegen Jesus zu hören sind. Das Volk trägt einerseits Mitschuld am<br />

Urteil über Jesus, andererseits aber auch nicht, was wieder eine zweispurige<br />

Haltung des selben Volkes aufzeigt.)<br />

2. Jesus als Revolutionär<br />

Es ist nicht zu übersehen, dass Il vangelo secondo Matteo eine<br />

politische Verfärbung hat, die dem Evangelium-Geschehen eine gewisse<br />

Aktualisierung verleiht. Ausser der Handlung, die für Pasolini ohnehin<br />

revolutionär ist und ausser der klaren Raum-Aufteilung – Jesus und seine<br />

Jünger bewegen sich fast ausschliesslich auf dem Land, wo alle Heilungen<br />

geschehen; der Lebensraum von Pharisäern und Schriftgelehrten ist die<br />

32 <strong>Im</strong> allgemeinen vermeidet Pasolini überwältigende Massenszenen. Es sind nur etwa die<br />

Szene der Rede Jesu an das Volk nach seiner Auseinandersetzung mit Schriftgelehrten,<br />

oder Anfang der Kreuzigungszene.<br />

33 Dieses könnte meiner Meinung nach auch als ein autobiographischer Zug von Pasolini<br />

angesehen werden, denn seine Gedanken sind auch oft missverstanden worden.<br />

69


Stadt und ihre symbolischen Festungen, die sie sich aus den Gesetzen und<br />

Vorschriften erbaut haben und innerhalb deren Jesus immer in Konflikt gerät,<br />

da er sich in ihre Festungen nicht einschliessen lässt – ist es vor allem die<br />

schon erwähnte Musik, die in dieser Richtung eine aktive Rolle spielt. Sie<br />

sagt das, was im Bild nicht gezeigt werden kann. Auf diese Tatsache kann<br />

an mehrere Stellen im Film hingewiesen werden. Die bedeutendste von<br />

ihnen ist die Szene der Kreuzigung, wo wieder das Partisanenlied vom<br />

Anfang der öffentlichen Wirkung Jesu unterlegt wird und die deshalb als<br />

Szene gelesen wird, „(…)wo das Volk das Opfer und Christus gemeint ist.” 34<br />

Kleinere <strong>Im</strong>pulse, die mich an „sozialistische Zeiten” erinnert haben,<br />

gibt es im Film mehrere. Sei es der schon erwähnte Beginn der öffentlichen<br />

Wirkung Jesu mit den fröhlich gelaunten Landarbeitern (Sq.13) – Bilder, die<br />

ich aus den sozialistischen Propagandafilmen der kommunistischen Zeiten<br />

der 50-ger Jahre kenne. Auch die Ansprache, die öffentliche Rede Jesu zum<br />

Volk nach seiner Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten (Sq.30), die<br />

an eine Art von „Streik-Vorbereitung” erinnert und zu der noch eine Musik<br />

erklingt, die ich wiederum von den Feiern zu Ehren der gefallenen<br />

sowjetischen Partisanen aus den kommunistischen Zeiten vor 11 Jahren<br />

kenne. Obwohl ich das Kommunistische in meiner Wahrnehmung als etwas<br />

Negatives empfinde, stehen diese zwei Komponenten plötzlich nicht mehr im<br />

Widerspruch, sondern nur in einem Spannungsfeld, das vom Regisseur<br />

thematisiert wird. Ich glaube, dass der Ansatz Pasolinis gerade darin<br />

besteht, auf die Gemeinsamkeiten der beiden Standpunkte aufmerksam zu<br />

34 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />

Wien 1977,S. 129.<br />

70


machen, ohne die Grenzen zwischen ihnen zu verwischen 35 . Jesus ist ja<br />

nicht als ein typischer politischer Partisanenführer dargestellt. Er selber ist<br />

zwar einer aus dem Volk, tritt als sein Verteidiger auf, ist Lehrer und Führer.<br />

Er ist gewaltlos, seine einzige Waffe ist das Wort und das Mitleid mit den<br />

Menschen. Ohne Aufforderung geht ihm das Volk nach; es gibt keine Stelle<br />

ausser der Berufung der Jünger, wo er die Menschen aufgefordert hätte, ihm<br />

zuzuhören oder ihm zu folgen. Die Beziehung des Volkes zu Jesus, seine<br />

Reaktionslosigkeit kann man gewissermassen als einen autobiographischen<br />

Zug von Pasolini bezeichnen. Schliesslich besetzt er auch die Rolle der<br />

Mutter Jesu mit seiner eigenen Mutter.<br />

1.6. Wunder<br />

Ausser der Darstellung der Person Jesu, der Handlung, wo sich<br />

Jesus als Erlöser zu erkennen gibt, der Symbolik der katholischen Kirche in<br />

Verbindung mit dem besonderen Musikeinsatz, zu denen ich noch im Teil<br />

1.7. über die Mittel komme, sind es gerade die Wunderdarstellungen, die oft<br />

benutzt werden, um das Göttliche an Jesus auszudrücken. <strong>Im</strong> Film Pasolinis<br />

wirken sie aber nicht als „Beweise für die Gottessohnschaft Christi”.<br />

Pasolini integriert nur einige Wunderdarstellungen des Matthäus-<br />

Evangeliums in seinen Film (Beilage Nr. 4): die Wirkung des ersten<br />

Auftretens (Mt. 4,23-25; Sq.15), die Heilung eines Aussätzigen (Mt. 8,1-4;<br />

Sq.15), die Heilung eines Mannes am Sabbat (Mt. 12,9-14; Sq.17), die<br />

Speisung der Fünftausend (Mt. 14,15-18; Sq.18), der Gang auf dem Wasser<br />

35 Was den Ansatz Pasolinis betrifft, wäre es vielleicht interessant, den Film mit der<br />

Befreihungstheologie in Zusammenhang zu bringen, und der Frage nachzugehen, was für<br />

einen Beitrag denn Pasolini zur Entstehung dieser geleistet haben könnte.<br />

71


(Mt. 14,22-32; Sq.19), die Verfluchung eines Feigenbaums (Mt. 21,19-22;<br />

Sq.28) und die Auferstehung (Mt. 28,1-8; Sq.41). Ausserdem thematisiert er<br />

die Ankündigungen durch den Engel (Mt. 1,18-25; 2,1-12; 2,13-15; 2,19-23;<br />

28,1-8), das Bekenntnis Gottes zu seinem Sohn bei der Taufe Jesu im<br />

Jordan (Mt. 3,16-17) und die Geschehnisse um den Tod Jesu (Mt.<br />

27,45-56). Sie alle<br />

werden im Film auf eine direkte Art dargestellt, (d. h. es werden keine Dritt-<br />

Beteiligten in den Film integriert, die von den Wundern berichtet hätten),<br />

Pasolini verleiht ihnen mit seiner Verarbeitungsweise der einfachen Schnitt-<br />

Gegenschnitt-Technik eine gewisse Naivität, er inszeniert sie aber nicht als<br />

ein Wirken übernatürlicher Kräfte. Er verzichtet auf die Darstellung der<br />

Wunder als authentische reale Geschehnisse, es gibt kein Bemühen um<br />

Theatralität bei ihm. Pasolini basiert auf der Zeichenhaftigkeit der Wunder<br />

und schafft dabei eine eigene Auslegung der biblischen<br />

Wunderbeschreibungen. Es ist gerade diese Zeichenhaftigkeit der<br />

Wunderdarstellungen Pasolinis, die es dem Zuschauer erlaubt, auch hinter<br />

die Bilder zu schauen.<br />

1.6.1. Wunder-Taten Jesu<br />

Darunter sind vor allem die Heilungen gemeint. Ihr Verlauf ist ganz<br />

einfach: In Begleitung einer nicht definierbaren Musik werden Kranke<br />

gezeigt. Mit Hilfe von Schnitt und Gegenschnitt auf Jesus und dann auf die<br />

geheilten Personen geschehen sie ohne grosse Spektakularität. Erst die<br />

auffallenden Grossaufnahmen von Gesichtern der Geheilten ohne<br />

Musikeinsatz oder die Detailaufnahme ihrer Augen, untermalt von einer<br />

72


fröhlichen Musik der kreolischen Messe 36 , die die Wunder geradezu<br />

dokumentieren, erlauben dem Zuschauer einen Blick ins Innere des<br />

geheilten Menschen. Wenn die Augen als Fenster der Seele des Menschen<br />

gelten, dann sagen diese im Detail gezeigten strahlenden Augen aus, dass<br />

die Heilung vom Inneren des Menschen kommen muss. Sie scheinen den<br />

Zuschauer beinahe einzuladen, sich mit dem Aussätzigen zusammen von<br />

Christus innerlich reinigen zu lassen.<br />

Bei der Heilung eines Mannes am Sabbat wird das Prinzip Schnitt-<br />

Gegenschnitt beibehalten. Der Geheilte wird aber von hinten gezeigt, wie er<br />

seine Krücken fallen lässt und mit eigener Kraft auf seinen geheilten Beinen<br />

steht. <strong>Im</strong> Zusammenhang mit diesem Wunder habe ich mich auch gefragt,<br />

warum Pasolini die Krankheit des Mannes gegenüber dem Evangelium<br />

geändert hat. Bei Matthäus ist von einem Mann die Rede, dessen Hand<br />

verdorrt war (Mt. 12,9-14). Pasolini lässt aber einen Mann heilen, der an<br />

Krücken geht. Dies könnte vielleicht auch mit den „geistigen Krücken” der<br />

Pharisäer zusammenhängen, die Jesus in dieser Szene angreifen. In dem<br />

Fall wäre der Aufruf Jesu: „Lasse deine Krücken fallen!” auch an die<br />

Pharisäer adressiert. Derjenige, der Jesus zuhört, wird geheilt, diejenigen,<br />

die ihm nicht zuhören, sind über ihn empört. Da bietet Pasolini gleich zwei<br />

mögliche Blicke nach innen: einen gesunden und fröhlichen durch die Augen<br />

des Geheilten und einen empörten und kranken durch den Blick der<br />

Pharisäer.<br />

Die Technik des Schnitts-Gegenschnitts wird bei allen übrigen<br />

Wunderdarstellungen gebraucht und dabei wird ihnen eine gewisse<br />

36 Die gleiche Musik ist bereits im Vorspann oder beim Einzug in Jerusalem zu hören.<br />

73


Alltäglichkeit verliehen. Die Wunder verlaufen als ganz normale und auf<br />

keinen Fall als überwältigende Geschehnisse 37 . Der Gang auf dem Wasser<br />

hat mir anfangs aber etliche Mühe bereitet. Hier wird Jesus tatsächlich auf<br />

dem Wasser schreitend gezeigt und ähnlich inszeniert, wie der bekannte aus<br />

dem Wasser aufgetauchte und sich nähernde Jesus bei Méliès 38 . Pasolini<br />

geht es aber nicht um den Verlauf dieses Ereignisses, sondern um dessen<br />

Sinn: mit Hilfe der Zoom-Technik, welche das Ereignis als subjektives<br />

Erlebnis der Jünger darstellt (Überraschung, Nicht-Verstehen und<br />

Angstgefühle der Jünger), betont Pasolini die Notwendigkeit des<br />

persönlichen Glaubensvollzugs. Diese Zoom-Technik trägt entscheidend<br />

dazu bei, dass Pasolini auch bei diesem Wunder nicht der Spektakularität<br />

verfällt.<br />

Bei den Wundern bemüht sich Pasolini nicht um eine „realistische”<br />

Wiedergabe. Er wählt einen Weg der Einfachheit und ”Alltäglichkeit” und<br />

bewahrt somit das Geheimnis dieser Geschehnisse. Er versucht sie nicht zu<br />

enthüllen oder gar zu banalisieren und trotz einer gewissen „Naivität” in ihrer<br />

Darstellung, zeigt Pasolini vor ihnen Respekt 39 .<br />

1.6.2. Übrige Wunder-Darstellungen<br />

Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />

Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />

Film 12. München, Wien 1977, S. 38-40.<br />

37 Zwick schreibt noch zu der Alltäglichkeit der WunderPasolinis, dass es bei diesen keine<br />

besonders überraschenden Momente gibt. Alle Beteiligten nehmen sie ganz normal wahr.<br />

Nur beim Gang auf dem Wasser gibt es eher Anzeichen von Angstgefühlen der Jünger.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 335-<br />

339.<br />

38 Vgl. Jésus-Christ, star de cinéma. SRG, TSR1, 2.4.1999. Realisateur Martin Goldsmith.<br />

39 Zwick schreibt zur Problematik der Wunder Pasolinis, dass sie „(...) wie ins Bild gehobene<br />

fromme Legenden” wirken.<br />

74


Auch für sie gelten die gleichen Prinzipien wie für die Wunder-Taten<br />

Jesu: Schnitt-Gegenschnitt, kein Bemühen um eine „realistische”<br />

Wiedergabe, Vorrang einer symbolischen Darstellungsweisse. Er lässt Platz<br />

für das Nicht-Darstellbare, das Verborgene und macht so das Unsichtbare<br />

sichtbar. So wird das Bild des vom intensiven Licht beleuchteten Jesus bei<br />

der Taufe im Jordan mit sprudelndem Fluss im Hintergrund plötzlich zur<br />

Metapher für „Lebendiges Wasser”, das Bild der Brotvermehrung wird zur<br />

Metapher über das „Brot des Lebens”, das nur Jesus geben kann.<br />

Einen wirklich naiven, volkstümlichen Charakter verleiht Pasolini den<br />

biblischen „Gestalten” des Engels und des Teufels, indem er sie „real”<br />

auftreten lässt (genaue Stellen sind im Sequenzbeschrieb markiert). Doch<br />

auch diese sind keine magisch wirkenden, sondern Gestalten, die einfach da<br />

sind. Ihre „unrealistiche Herkunft” betont Pasolini wieder nicht mit dem<br />

Bemühen um eine geheimnisvolle und überwältigende Atmosphäre, sondern<br />

ganz im Gegenteil mit einem Weg-Nehmen des realistischen Hintergrunds<br />

im Ton: bei dem Engel wird die „reale Ambiance” durch Stille und Wind<br />

ersetzt; das Erscheinen des Teufels begleiten unbestimmte Klänge wie bei<br />

der Wirkung des ersten Auftretens vor dem Geschehen des eigentlichen<br />

Wunders. Beim Verschwinden von diesen kehren Bild und Ton in die<br />

filmische Realität zurück. Obwohl die Darstellung von Engel und Teufel sehr<br />

naiv ist, lässt Pasolini dem Zuschauer doch genügend Platz, um diese<br />

Gestalten und ihre Bedeutung in der ganzen Geschichte zeichenhaft<br />

wahrnehmen zu können. Sie verkörpern symbolisch das, was nicht gezeigt<br />

werden kann.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 318.<br />

75


1.6.3. Tod und Auferstehung Jesu<br />

Bei der Kreuzigung (Sq.39) und Auferstehung (Sq.41) Jesu wählt<br />

Pasolini sowohl eine direkte als auch eine indireke Daratellung. Die<br />

Schmerzen Jesu bei der Kreuzigung lässt er den Zuschauer nicht durch<br />

Jesus miterleben, sondern durch die Schmerzen eines der beiden<br />

Verbrecher, der ans Kreuz geschlagen wird und durch das Leiden der<br />

anwesenden Frauen, die während der eigentlichen Kreuzigung Jesu<br />

unmittelbar nach dem Schlag eines Nagels ins Holz des Kreuzes im Bild<br />

gezeigt werden. Das Leiden Jesu wird somit im Bild durch das Leiden der<br />

Frauen ersetzt. Dank dieser indirekten Darstellungsweise in musikalischer<br />

Umrahmung von Mozarts Maurerischer Trauermusik 40 vermeidet es Pasolini<br />

dem Zuschauer eine unglaubwürdige Darstellung der Schmerzen Jesu bei<br />

der Kreuzigung vorzuspielen. Nicht ganz in diesem Sinn ist aber der Tod<br />

Jesu dargestellt: Jesus am Kreuz mit starkem Gegenlicht von oben<br />

beleuchtet wird noch das letzte Mal dem Evangelium entsprechend im Bild<br />

laut aufschreien. Dieser letzte Schrei Jesu am Kreuz, den ich nicht als<br />

glaubwürdig empfunden habe, löst in dieser Sequenz (39) das Wunder der<br />

Verdunkelung und des Erdbebens nach dem Tod Jesu aus. Durch dieses<br />

Wunder soll sowohl im Film als auch im Evangelium die Bedeutung des<br />

Geschehens akzentuiert werden. Nur vielleicht hätten sie eine stärkere<br />

Wirkung haben können, wenn die indirekte Erzählweise vom Anfang der<br />

Kreuzigungszene weitergezogen worden wäre und Pasolini auf den Schrei<br />

als Auslöser dieses Geschehens verzichtet hätte. Obwohl er das Wunder<br />

40 Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />

Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />

Film 12. München, Wien 1977,S. 39.<br />

76


des Erdbebens allerdings nur mit einfachen Mitteln und durch Verzicht auf<br />

jegliche Effekte thematisiert (laut Zwick geht es innerhalb der Stilisierung um<br />

eine holzschnittartige Rekonstruktion 41 ), hatte ich doch Mühe, dieses<br />

Begleitwunder in der Bedeutung wahrzunehmen, für die es im Evangelium<br />

steht. Um so stärker und glaubwürdiger fand ich hingegen das plötzliche<br />

Durchrechen des Bildes ins Schwarze kurz vor dem Tod Jesu am Kreuz, wo<br />

der Erzähler die Worte des Propheten Jesaja zitiert (Mt 13,14-15):<br />

„Ihr werdet es hören mit euren Ohren. Ihr werdet es sehen mit<br />

euren Augen, aber nicht verstehen. Denn das Herz dieses Volkes<br />

hat sich verhärtet. Sie haben ihre Ohren verstopft und haben ihre<br />

Augen geschlossen, um nicht zu sehen mit den Augen, um nicht<br />

zu hören mit den Ohren.”<br />

Das Wunder der Auferstehung wird wie folgt gezeigt: die Musik der<br />

kreolischen Messe ersetzt das Partisanenlied, das die Frauen und das Volk<br />

bisher zum Grab begleitet hat. Gleichzeitig wird der Grabstein in einer<br />

Zeitluppe fallend gezeigt und wieder mit der Schnitt-Gegenschnitt Technik<br />

dem Zuschauer beinahe dokumentarisch ein kurzer Blick auf das Grabtuch<br />

in Grossaufnahme im leeren Grab erlaubt. Dieser Moment sagt mehr aus,<br />

als überhaupt gezeigt werden kann. Um das Wunder zu „erklären”, lässt<br />

Pasolini dem Evangelium ensprechend den Engel erscheinen. Dieser<br />

verkündet allen, die Jesus bisher treu gefolgt sind (wieder das einfache Volk<br />

vom Anfang des Films) was geschehen ist. Pasolini versucht wieder nicht,<br />

das Geschehen nachzuahmen, sondern er konstatiert durch die Sprache der<br />

Bilder.<br />

Er lässt anschliessend das Volk in Begleitung von Klängen der<br />

41 Vg. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

77


kreolischen Messe (wie im Vorspann des Films) sich auch mit dem<br />

Auferstandenen kurz treffen. Diese Stelle wird mit dem Anfang, der<br />

Verkündigung, verbunden und das Kommen Christi vom Engel zum zweiten<br />

Mal verkündet. Christus wird so „zum zweiten Mal geboren” und der<br />

Erkennensweg von Jesus zum Christus wird auch für die Zuschauer deutlich<br />

vollzogen.<br />

1.6.4. Zusammenfassung zur Darstellung der Wunder<br />

Pasolini ist sich der Tatsache bewusst, dass sich die Wunder im Film<br />

gar nicht zeigen lassen. <strong>Im</strong> Zentrum seines Interesses steht deswegen nicht<br />

das eigentliche Geschehen und der Verlauf des Wunders, sondern seine<br />

Bedeutung. Um diese akzentuieren zu können und sie zugleich darzustellen,<br />

nutzt Pasolini die christliche Tradition, die in der Vorstellungswelt der<br />

Menschen bis heute noch präsent ist. Dabei macht er aber aus Jesus keinen<br />

Zauberer und aus Gott keinen unsichtbaren Geist. Pasolini wählt den Weg<br />

der Einfachheit, Zeichenhaftigkeit, er entscheidet sich für keine theatralen,<br />

bombastischen und triumphalistischen Bilder, er konstatiert einfach mittels<br />

seiner Bilder. Mit Hilfe der einfachen Schnitttechnik lässt er seine<br />

Beobachter in den Wundern die Bedeutung entdecken, für die sie im<br />

Evangelium stehen: sie bieten dem Zuschauer eine Möglichkeit, sich<br />

berühren zu lassen und einen kritischen Blick nach innen zu werfen 42 . Wenn<br />

von Wunderdarstellungen Pasolinis nur das im Bild Gezeigte<br />

wahrgenommen wird, wenn sich der Zuschaer nicht bemüht hinter die Bilder<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 310.<br />

42 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 302-<br />

316.<br />

78


zu gelangen und zwischen den Zeilen zu lesen, dann können die Bilder für<br />

ihn tatsächlich peinlich wirken und wie ein plattes Abbild der christlichen<br />

Tradition aussehen.<br />

1.7. Die Mittel<br />

Pasolini bringt in den zwei unterschiedlichen zuvor beschriebenen<br />

Charakterzügen seines Jesus – Jesus als Führer und Erlöser – und<br />

besonders<br />

in seinem diskreten und zurückhaltenden Auftreten die innere Kraft Christi<br />

zum Vorschein, die er als Ausdruck der göttlichen Natur Jesu Christi<br />

versteht. Innerhalb dieser Inszenierung vom Leben und Leiden Christi<br />

arbeitet er mit Regeln, die sich in drei Prinzipien zusammenfassen lassen:<br />

das Prinzip einer zweispurigen Inszenierung, das Prinzip einer einfachen<br />

Inszenierung, das Prinzip einer aktualisierten Inszenierung. Die Anwendung<br />

der filmischen Mittel in Kombination mit diesen Prinzipien hilft Pasolini nicht<br />

nur über den Menschen Jesus von Nazaret etwas auszusagen, sondern<br />

auch von Christus, von Gott, wie er ihn wahrnimmt, etwas spüren zu lassen.<br />

1.7.1. Prinzip einer doppelspurigen Inszenierung<br />

Zu diesem Prinzip habe ich mich schon in vorausgehenden<br />

Abschnitten geäussert, indem ich die Zweispurigkeit an der Person Jesu<br />

angesprochen habe. Es lässt sich daraus schliessen, dass die zweispurige<br />

Haltung im Film Pasolinis ein Hauptmittel ist, um auf die Dimesion Christi<br />

hinzuweisen. Sie führt im Ganzen aber auch zu einer einzigartigen Balance<br />

zwischen beiden Dimensionen Jesu Christi:<br />

79


1. Keine eindeutige Historizität – Pasolini lässt zwar seinen Jesus die<br />

Evangelientexte wörtlich zitieren; trotzdem bemüht er sich nicht um eine<br />

historische Stimmigkeit. Er forscht nicht nach, er ist nicht an den historichen<br />

Hintergründen interessiert, im Gegenteil, er abstrahiert von diesen und zeigt<br />

einfach, was im Evangelium steht. Deswegen ist der Film in der Tradition der<br />

direkten historisierenden Jesusfilme eine Ausnahme, weil er nicht eindeutig<br />

als historisierend bezeichnet werden kann 43 . In diesem Sinne stellt Pasolini<br />

auch seinen Jesus der Geschichte dar, der einersetis als eine der<br />

exaktesten Jesusdarstellungen bezeichnet werden kann, weil er sich strikt an<br />

die tatsächlich gegebene Vorlage hält. Da er sie aber weder historisch<br />

überprüft noch ergänzt und sich dabei an die Tradition hält, kann er<br />

andererseits auch nicht als Annäherung an den Jesus der Geschichte<br />

angesehen werden. Dieser Haltung enspricht auch der ästhetische Stil<br />

Pasolinis, der auch nicht eindeutig als Neo-Realismus oder gar als<br />

Dokumentarismus bezeichnet werden kann 44 . Die Laiendarsteller, eine<br />

gewisse Authentizität des Ortes, die Schwarzweiss-Dramaturgie, die Arbeit<br />

mit Zoom und die bewegte Kamera sind Merkmale dieses Stils, der im<br />

Wesentlichen sehr subjektiv bleibt. Das Hauptmittel Pasolinis ist die von ihm<br />

entwickelte Methode der Indirekten freien Rede 45 , was auch schliesslich der<br />

Wechsel der Erzählperspektiven andeutet (einmal via Augen eines<br />

Angehörigen, einmal via Augen des Volkes ...). Das alles macht authentische<br />

Aussagen, ohne allerdings zu behaupten, es sei so gewesen. So kann<br />

43<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 47.<br />

44 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.):Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />

Wien 1977, S. 122-131.<br />

45 Vgl. JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.):Pier Paolo Pasolini. Selbstzeugnisse.<br />

Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. <strong>49</strong>-84.<br />

80


Pasolinis Jesus sicher nicht als Jesus der Geschichte im theologischen<br />

Sinne verstanden werden. Sein Jesus der Geschichte ist das heute noch<br />

gültige Bild Jesu der Evangelien und das Bild, welches die Menschen von<br />

Jesus bis heute während der christlichen Tradition entwickelt haben. Er<br />

selber hat erklärt: „(...) My film is the life of Christ plus two thousand years of<br />

history told about the life of Christ.” 46<br />

Eine ähnliche zweispurige Haltung kann auch im Verständnis<br />

Pasolinis von Christus des Glaubens festgestellt werden, die ebenfalls<br />

damals nicht ganz der Verkündigung entsprach (ob dieses auch heute noch<br />

so ist, könnte vielleicht im Bezug auf die Befreiungstheologie nachgeprüft<br />

werden). Dieses eigene Bild vom Christus des Glaubens brachte Pasolini in<br />

seinem Ansatz zum Ausdruck. Trotz allen Abweichungen ist Pasolinis<br />

Haltung der Position am nähesten, die Jesus der Geschichte mit dem<br />

Christus des Glaubens gleichstellt. Sein Jesus von Nazaret tritt während der<br />

ganzen Geschichte immer wieder als Christus auf, ohne etwas an Intensität<br />

zu verlieren. Dazu nutzt Pasolini möglichst viele Mittel aus, die er in einer<br />

einfachen Form anwendet.<br />

1.7.2. Prinzip einer einfachen Inszenierung<br />

Robert Bresson soll sich einmal in dem Sinn geäussert haben, dass<br />

ihn die Malerei gelehrt habe, keine schönen, sondern nur notwendige Bilder<br />

zu malen. Ich denke, dass diese seine Worte im Il vangelo secondo Matteo<br />

wieder ihre Bestätigung gefunden haben. Pasolini hält sich tatsächlich nur an<br />

46 In diesem Sinne hat sich auch Enrique Irazoqui, der Darsteller Jesu im Film Pasolinis<br />

geäussert.<br />

Vgl. Jésus-Christ, star de cinema. SRG, TSR1, 2.4.1999. Realisateur Martin Goodsmith.<br />

Hier zitiert nach:<br />

81


die notwendigsten Bilder, Gesten und Worte und arbeitet dabei mit<br />

folgenden Mitteln:<br />

1. Einfachheit im Erzählstil – innerhalb der direkten Darstellungsweise, für<br />

die sich Pasolini enscheidet, bleibt er gegenüber der literarischen Vorlage<br />

ausserordentlich treu, was ihn dazu bringt, einen sauberen, exakten und<br />

einfachen Erzählstil zu wählen. Es ist einerseits die schon angesprochene<br />

Treue zum Text der literarischen Vorlage, wo er keine „überflüssigen” Texte<br />

integriert und andererseits ein gewisses Ausmass an Abstraktion von den<br />

historischen Hintergründen, die es ihm erlauben, sich nur an dem zu halten,<br />

was Jesus und die Figuren direkt betrifft. Pasolini denkt sich keine neuen<br />

Handlungen aus, spekuliert nicht über die eventuellen Gründe dieses oder<br />

jenes Handelns seiner Figuren, analysiert nicht die psychologischen<br />

Vorgänge der Betroffenen. Er stellt einfach fest im Text, in der Musik und im<br />

Bild.<br />

2. Schwarz-weisse Dramaturgie – diese unterstützt das Prinzip der<br />

Einfachheit des Erzählens. Pasolini möchte dem Zuschauer nichts<br />

vormachen, er möchte keinen falschen Eindruck erwecken, als ob es ein<br />

historischer Film über Jesus sei oder sich zu einer Aussage verleiten lassen,<br />

sein Jesus sei der einzig wahre Jesus Christus. Er ist sich bewusst, dass das<br />

Geschehen um Jesus, welches fast zweitausend Jahre zurückliegt, gar nicht<br />

rekonstruierbar ist.<br />

In der schwarz-weissen Verarbeitung kommen auch Pasolinis<br />

Gegenlichtaufnahmen von Jesus gut zur Geltung, die auf die Autorität Jesu<br />

Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City 1997,<br />

82


und zugleich auf seine zweite Dimension hinweisen (vgl. die Verfluchung<br />

eines Feigenbaumes, wo Jesus als Sohn Gottes zu Judas spricht; die Szene<br />

Jesu am Kreuz, wo Jesus im Gegenlicht aufgenommen wird und wo somit<br />

seine ganze „Grösse” betont wird; die ganze Sequenz der Bergpredigt<br />

ausser den Seligpreisungen, wo sich Jesus im Gegenlicht als eine „göttliche<br />

Autorität” an den Zuschauer wendet oder als Prediger-Revolutionär im<br />

Gegenlicht bei seiner Rede nach der Auseinandersetzung mit den<br />

Pharisäern im Tempel gezeigt). Mit dieser Anwendung von schwarz-weisser<br />

Dramaturgie und mit seiner fast schon typischen Lichtführung macht Pasolini<br />

aus seinem Film viel mehr ein Kunstwerk denn einen Versuch um eine<br />

Rekonstruktion der Jesus-Geschichte.<br />

3. Laiendarsteller – sie verfügen über einfache aber dafür starke<br />

Aussagekraft und versuchen nicht, etwas vorzuspielen, was nicht da ist. Sie<br />

sind wie sie eben sind und ihr stärkstes Ausdrucksmittel sind dabei oft die<br />

Augen. Auffallend ist die teilweise fast stumme Augenkommunikation: die<br />

ganze Sequenz der Verkündigung der Geburt Jesu (Sq.2), Huldigung der<br />

Sterndeuter (Sq.3,4), der Tod von Herodes (Sq.8), der Kindermord in<br />

Betlehem (Sq.7), oder der Augenkontakt zwischen Herodias und Salome<br />

(Sq.24), Kreuzigung Jesu (Sq.39) und sein Begräbnis (Sq.40). Die Darsteller<br />

sind auch sehr „sparsam”, wenn es um die Gestikulation geht. Wenn sie<br />

schon gestikulieren, wirken ihre Gesten dann um so stärker und kommen<br />

dem Zuschauer von der Liturgie der katholischen Kirche her bekannt vor. Mit<br />

solchen Gesten ist z. B. die Huldigung der Sterndeuter (Sq.4) in Szene<br />

gesetzt: sie nehmen das Kind in die Arme, heben es hoch, genau wie beim<br />

S. 95.<br />

83


Dankgebet in der katholischen Liturgie. Dies geschieht in Verbindung mit<br />

dem Spiritual-Lied „Sometimes I feel...” und kann als Bild vom kleinen Jesus<br />

als Lamm Gottes interpretiert werden. Ein weiteres Beispiel dafür ist das<br />

Beten Jesu in der Wüste oder in Betanien, wo er wie ein Priester in der<br />

Liturgie die Hände in der Gebetsstellung ausbreitet. Diese „Sprache der<br />

Augen” der Laiendarsteller und die sparsam eingesetzte Gestik der Figuren<br />

verleiht dem Film eine starke Authentizität. Gleiches gilt auch für den<br />

Darsteller Irazoqui, der in der Mimik und Gestik ebenfalls sehr sparsam und<br />

zurückhaltend auftritt, was ihn von anderen Jesusdarstellern deutlich<br />

unterscheidet. „Wortlastig” ist er eigentlich nur in der Sequenz der<br />

Bergpredigt (Sq.16).<br />

4. Tradition der christlichen Kunst – sie dient Pasolini einerseits als<br />

Inspirationsquelle, was sich besonders bei den Wundern zeigt, bei der Wahl<br />

des Jesus-Darstellers, bei der Besetzung der allegorischen Figuren des<br />

Teufels und des Engels, aber auch bei der Wahl der Umgebung. Pasolini<br />

selber hat sich in dem Sinn geäussert, dass er seinen Film mit den Augen<br />

eines Gläubigen zu erzählen versucht hätte und sich dabei mit der<br />

christlichen Tradition beholfen habe, da er selber nicht gläubig sei 47 . Das<br />

bedeutet aber nicht, dass er seinen Film als ein Abbild der Tradition<br />

inszeniert hätte. Pasolini betont die Zeichenhaftigkeit in jedem Zug seiner<br />

Inszenierung, arbeitet aber auch bewusst mit Irritationen 48 , die vermeiden,<br />

47 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 369.<br />

48 Vgl.SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />

Wien 1977, S. 122-131.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />

Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />

84


dass der Film ins Klischeehafte abrutscht (Wahl der Darsteller – die Wahl<br />

von Jesus und Maria, die nicht einfach „süssliche” Schönheiten verkörpern<br />

und das Agieren und Reagieren seiner Figuren).<br />

5. Verzicht auf Effekte und Klischees – Pasolini vermeidet effektvolle<br />

Darstellungen in seinem Film, was am markantesten bei den<br />

Wunderdarstellungen (wo er ausser dem Gang auf dem Wasser keine Tricks<br />

benutzt) zum Ausdruck kommt. Er inszeniert auch keine effektvollen<br />

Massenszenen, die dem Abbildrealismus nahe stehen könnten, integriert<br />

keine triumphalistische Hintergrundmusik, sondern er entscheidet sich da für<br />

Musik, die einen eher irritieren könnte (wenn man z.B. an das Partisanenlied<br />

denkt). Auch Bild-Klischees sind zwar einige im Film vorhanden (z.B. das<br />

Bild des Heiligen Josef mit dem Kind auf den Armen – Sq.9). Doch prinzipiell<br />

gibt Pasolini solche Klischees zu und dann wirken sie eher zeichenhaft oder<br />

er verbindet eine gewisse Irritation mit ihnen (es fehlt z. B. die Pietà unter<br />

dem Kreuz, dafür wird das Thema der Pietà gleich am Anfang bei der<br />

Huldigung der Sterndeuter angedeutet Sq.4), oder wieder vezichtet er ganz<br />

auf Klischees (so fehlt die Thematisierung des Sterns von Betlehem z. B.) Es<br />

sind gerade diese bewusst gewählten Irritationen, das Vermeiden von<br />

Klischees, die den Zuschauer auffordern, Christus ernst zu nehmen.<br />

6. Musikeinsatz – es gibt im Film keine Original-Musik, welche den<br />

Monumentalfilmen eigen war. Pasolini benutzt Ausschnitte schon bekannter<br />

musikalischer Werke, die mit dem Bild zusammen eine sehr starke<br />

Aussagekraft besitzen. Die Musik sagt das aus, was Pasolini nicht anders<br />

(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 389-<br />

85


zum Ausdruck bringen wollte oder konnte. Die Einfachheit im Musikeinsatz<br />

widerspiegelt sich in zwei Grund-Musikarten: politische Musik, vertreten<br />

durch das Partisanenlied und sakrale Musik, vertreten durch Negro-Spiritual<br />

und Musik von Bach, Mozart, aber auch der kreolischen Messe.<br />

7. Die Kameraführung – sie hält einen „dokumentarischen Abstand” vom<br />

Geschehen und zeigt einfach, was die Kamera sieht. Sie interpretiert nicht,<br />

sie suggeriert kein Gefühl, es sei tatsächlich so gewesen und der Zuschauer<br />

müsse es glauben, sondern sie stellt ihre Bilder zu einer eigenen<br />

Interpretation des Zuschauers zur Verfügung.<br />

1.7.3. Prinzip einer aktualisierten Inszenierung<br />

Pasolini dreht zwar seinen Jesusfilm an einem Ort, wo die<br />

minimalsten oder besser keine Spuren der heutigen Zivilisation zu entdecken<br />

sind, kleidet seine Darsteller in historische Kostüme, lässt die Bibel wörtlich<br />

zitieren und doch gibt es genug Faktoren im Il vangelo secondo Matteo,<br />

dank denen die Aktualität der Botschaft Jesu im Film beibehalten werden<br />

kann:<br />

1. Zeit- und Ortorientierung im Film – Pasolini hält es nicht für nötig, den<br />

Zuschauer darüber zu orientieren, wo und zu welcher Zeit er sich im Film<br />

gerade befindet. Mehr noch, er unterdrückt bewusst diese zwei<br />

Komponenten im Film. Das einzige, was der Zuschauer noch deutlich<br />

auseinander halten kann, ist die Unterscheidung zwischen dem Land, dem<br />

Wirkungsgebiet von Jesus und der Stadt, der Festungen der Pharisäer. Ob<br />

392.<br />

86


es das Land von Galiläa, Jerusalem oder Kafarnaum ist, ist zweitrangig.<br />

Damit wird die Universalität der Botschaft betont – es spielt keine Rolle wo<br />

man ist, die Prinzipien Jesu sind überall gültig. Ähnliches lässt sich über die<br />

Zeit im Film sagen: Pasolini legt keine genaueren Zeitabläufe fest, was<br />

wiederum die Zeitlosigkeit der Botschaft des Evangeliums betont.<br />

2. Der Ansatz Pasolinis – er bringt eine Neuauslegung der Botschaft und<br />

der Persönlichkeit Jesu mit sich und erinnert an das bekannte „Christus wird<br />

immer wieder gekreuzigt”. Hier ist der Gegenwartsbezug garantiert.<br />

3. Die Musik – sie stellt keinen Versuch um eine authentische Musik aus<br />

Jesus-Zeiten dar, sondern hat einen starken Gegenwartsbezug. Sie ist keine<br />

Hintergrundsmusik, sondern übernimmt mit ihrer starken Aussagekraft eine<br />

wesentliche dramaturgische Funktion im Film. Es ist dabei besonders die<br />

Musik von Prokofieff oder das Partisanenlied zu erwähnen, wo die Bilder im<br />

Zusammenhang mit dem Ansatz Pasolinis plötzlich ganz eindeutig zu<br />

interpretieren sind und wo sich Gegenwart und Vergangenheit verbinden.<br />

4. Einbezug des Zuschauers ins Geschehen – die Authentizität des<br />

Geschehens wird betont, wenn zu den erwähnten Mitteln oder Faktoren noch<br />

die Kameraführung dazukommt. Dies geschieht besonders dank der<br />

bewegten Kamera oder durch die Beobachtung eines Geschehens immer<br />

mit den Augen einer Figur im Film, womit das Gefühl der momentanen<br />

Anwesenheit des Zuschauers am Geschehen stark unterstützt wird.<br />

87


1.8. Das Phänomen Publikum<br />

Um an den Anfang dieses Teiles anzuknüpfen, versuche ich eine<br />

Antwort darauf zu finden, warum der Film Pasolinis eine „Nicht-Reaktion” des<br />

breiten Publikum hervorgerufen hat, obwohl er<br />

beide Dimensionen<br />

Jesu Christi gleichwertig zum Ausdruck gebracht hat. Eines der<br />

Hauptmerkmale von Pasolinis Jesus ist es, dass er sich in den „Festungen<br />

der Pharisäer” nicht einsperren lässt. Diese Charaktereigenschaft Jesu, die<br />

zugleich sein Handlungsprinzip ist, überträgt Pasolini auf den ganzen Film<br />

und macht sie zu seinem ästhetischen Prinzip. Dies könnte man in<br />

Kombination von anderen bereits erwähnten Prinzipien als eine Stärke<br />

bewerten. Vom breitem Publikum wird es aber als Schwäche angesehen.<br />

Pasolini sorgt dafür, dass sein Film „dogmatisch” stimmt – Jesus bleibt<br />

der Christus, der Sohn Gottes. Aber sein Jesus hat etwas, was Menschen an<br />

ihm bisher nicht wahrgenommen haben – die Kombination des<br />

Revolutionären, Kämpferischen und des Göttlichen. Die Tradition wird<br />

einerseits beibehalten, andererseits wird sie auch neu überdacht. Sie wird<br />

nicht so dargestellt, wie sie das Publikum von früher her kennt. Die<br />

Reaktionslosigkeit des Volkes im Film auf Jesus, seine Taten, seine Reden<br />

überträgt sich plötzlich auf das Publikum, das weder den Film noch die<br />

Hauptfigur Jesus nicht einordnen kann. Es ist genau so, wie mit den<br />

verschiedensten Bildern von Jesus, die sich die Leser der Evangelien von<br />

ihm machen: es ist ein ganzes Spektrum von Wahrnehmungen möglich, was<br />

darauf hinweist, dass Jesus all die polarisierenden und scheinbar nicht zu<br />

vereinbarenden Züge tatsächlich besitzt. Es gibt aber auch Rezipienten, die<br />

sich einfach auf ihn einlassen können. Diese Eigenschaft Jesu, sich weder<br />

einordnen noch geistig einsperren zu lassen, macht das Geheimnisvolle an<br />

88


ihm aus. Und gerade diese Eigenschaft Jesu bei Pasolini und zugleich die<br />

Merkmale seines Films sowie die „Nicht-Reaktion” des Publikums, könnten<br />

doch auch Anzeichen dafür sein, dass der marxistische Pasolini trotz allem<br />

ein „authentisches” Bild Jesus Christus geschaffen hatte, Nicht im Aussehen<br />

oder nicht im Sichtbaren, sondern gerade in dem Sich-Nicht-Einsperren-<br />

Lassen und in der inneren Kraft, die Pasolini seiner Figur dadurch verleiht.<br />

ZWEITER TEIL:<br />

Jesus Christus in Scorseses The Last Temptation of Christ<br />

2.1. Charakteristik und Angaben zum Film<br />

The Last Temptation of Christ hat eine lange Vorgeschichte hinter<br />

sich. Zweimal vor der Entstehung des Films 1988 musste der Beginn der<br />

Dreharbeiten verschoben werden. Entscheidend trugen dazu Protestwellen<br />

gegen die Verfilmung des von der Kirche verbotenen gleichnamigen Romans<br />

des griechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis bei. Sie führten<br />

schliesslich dazu, dass die Filmgesellschaften und Sponsoren die<br />

Finanzierung des Films abgesagt haben <strong>49</strong> . Diese zwei Drehversuche<br />

<strong>49</strong> Vgl. ARNOLD, Frank:Biographie. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.):<br />

Martin Scorsese. Reihe Film 37. München, Wien 1986, S. 183.<br />

89


Scorseses fallen in die Zeit zwischen 1980 und 1984 50 . Erst 1988 zeigte sich,<br />

dass die „Versuchung” Scorseses, seinen Jesusfilm trotz allem zu<br />

verwirklichen, stärker war, als die Proteste selber, denn 1988 konnte der<br />

Film seine Premiere feiern. The Last Temptation of Christ, ein direkter<br />

historisierender Jesusfilm, ist somit in die Filmgeschichte als einer der<br />

grössten Skandale eingegangen.<br />

Uraufgeführt wurdedie 164 Min. 51 lange The Last Temptation of Christ<br />

im europäischen Raum 1988 anlässlich des Internationalen Filmfestivals von<br />

Venedig und bald danach konnten die ersten Premieren in den Kinos<br />

Europas beginnen. Trotz gewaltiger Probleme mit den Aufführungen ist der<br />

Film unter dem Titel Die letzte Versuchung Christi dem deutschsprachigen<br />

Publikum vorgestellt worden und findet bis heute noch seinen Platz bei<br />

verschiedenen Fernsehsendern, das letzte Mal beim Sender ARTE am 8.<br />

Mai 2000.<br />

2.2. Die Handlung<br />

Der Zimmermann Jesus, der in Nazaret für die Römer Kreuze<br />

herstellt, gerät in eine grosse Identitätskrise, als er in sich eine „göttliche<br />

Bestimmung” entdeckt. Von Selbstzweifeln geplagt, begibt er sich in die<br />

Wüste, um zu meditieren und das Gespräch mit Gott zu suchen und so zu<br />

sich selber zu finden. Judas, der ursprünglich von Zeloten beauftragt wurde,<br />

Jesus, den Kollaborateur mit den Römern, zu töten, wird zu seinem besten<br />

Freund. Er entscheidet sich, Jesus auf seinem schmerzhaften Weg zur<br />

50 Ebda.<br />

51 Daten nach: Jesus im Film– eine Auswahlfilmographie. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der<br />

Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992. S. 83.<br />

90


Selbstfindung beizustehen und ihn zu begleiten. Er gibt Jesus den Rat, zu<br />

Johannes dem Täufer zu gehen. Jesus lässt sich daraufhin von Johannes<br />

dem Täufer taufen und findet die Bestätigung, dass er der Messias ist. Er<br />

beginnt öffentlich zu wirken, sammelt die Jünger um sich, vollbringt Wunder<br />

und kehrt schliesslich nach Jerusalem zurück, wo er gekreuzigt wird. Von<br />

Judas, dem stärksten seiner Jünger, erwartet er dabei das grösste Opfer,<br />

den Verrat an ihm, dem Sohn Gottes.<br />

Während Jesus am Kreuz hängt, fällt er in Ohnmacht und hat eine<br />

Vision: ein Schutzengel kommt zu ihm, befreit ihn vom Kreuz und erklärt ihm,<br />

dass sein Opfer völlig überflüssig ist, da er gar kein Christus sei. Der Engel<br />

führt ihn dann zu Maria Magdalena, damit Jesus sie heiratet. Als<br />

hochschwangere Frau wird sie von Gott gerufen und stirbt. Der Schutzengel<br />

hift Jesus dann zum zweiten Mal; er führt ihn zu Maria und Marta, mit denen<br />

Jesus schliesslich ein ganz normales Leben führt. Er gründet mit beiden<br />

Frauen eine Familie, zeugt Kinder und erreicht ein hohes Alter. Kurz vor<br />

seinem Tod suchen ihn einige seiner früheren Jünger auf. Es ist wieder<br />

Judas, der stärkste von ihnen, der Jesus aus dem Schlaf seiner letzten<br />

Versuchung aufweckt und ihm zeigt, dass er nicht seinem Schutzengel,<br />

sondern Satan gefolgt war. Jesus bittet daraufhin Gott um Vergebung,<br />

bekräftigt seinen Willen, Messias zu sein, und erwacht aus dem „teuflischen”<br />

Traum. So widersteht er seiner letzten Versuchung und stirbt. Die Welt hat<br />

doch einen Erlöser.<br />

2.3. Kritik und Reaktion des Publikums<br />

91


Nach der komplizierten „Geburt” von Scorseses The Last Temptation<br />

of Christ erwartete den Film ein „Schicksal”, das nicht weniger schmerzhaft<br />

war. Es gab viele Protestströme verschiedener Art: Unterschriften wurden<br />

gesammelt, Rosenkränze gebetet, sogar ein Kino wurde angezündet, damit<br />

diese Gotteslästerung – so die Protesterklärungen – nicht weiter verbreitet<br />

werden kann. So skandalisiert fühlte sich ein (grosser) Teil des Publikums,<br />

als der Film in die Kinos kam, ja sogar schon bevor er überhaupt aufgeführt<br />

wurde. Die Vorwürfe derjenigen, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt<br />

fühlten, betrafen vor allem die Darstellung Jesu Christi als eines Menschen,<br />

mit seinen Versuchungen, Zweifeln und allzu menschlichen Schwächen. Die<br />

deutsche Filmbewertungsstelle Wiesbaden, die zur Zeit des Kinostartes von<br />

The Last Temptation of Christ in Deutschland, zu einer „Sammelstelle”<br />

solcher Protestbriefe geworden ist, hatte die Gründe dafür folgendermassen<br />

ausgewertet:<br />

„Der zentrale Punkt der Auseinandersetzung dabei war, dass<br />

Christus (im Roman und Film) als ein Mensch dargestellt wird, der<br />

sich zu seiner Sexualität bekennt, den Geschlechtsverkehr, die<br />

Zeugung von Kindern und das Leben in einer Familie bejaht.”” 52<br />

Die vielfälltigen Proteste, hätten wenigstens vorübergehend erreicht,<br />

dass der Film nur noch selten gezeigt worden war 53 . Es gab aber auch genug<br />

neugierige Zuschauer, die sich gerade wegen dieser Proteste den Film<br />

anschauen wollten. So sei „(...) diese Protestwelle in den Genuss einer<br />

52 Vgl. HUPPMAN, Roland: „Die letzte Versuchung ...” – immer noch ein Thema?! „Film im<br />

öffentlichen Wider-Streit” an der Münchner Film-Hochschule. In: Das Genre der Jesusfilme.<br />

Arbeitshilfe für Seminare. IKM-Materialien 1. München, S.10.<br />

53 Vgl. WIEGMANN, Frauke; CONRAD, Michael: Die alte Angst vor neuen Bildern. In: Film<br />

und Fakten 7/88, S.9.<br />

92


Propaganda gekommen, wie sie der Produzent so selber nie hätte bezahlen<br />

können.” 54<br />

Seitens fachlicher Filmkritik sind teilweise auch kontroverse<br />

Meinungen zum Film aufgetreten. Einerseits ist dem Film die ästhetische<br />

Fragwürdigkeit, die kitschigen Klischees vorgeworfen und nicht selten ein<br />

Verständnis für diejenigen, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt<br />

fühlten, zum Ausdruck gebracht worden 55 . Zu dieser Gruppe ist auch die<br />

OCIC-Stellungnahme zu zählen, die keine Empörung sondern tiefe<br />

Enttäuschung über den Film zur Zeit seines Kinostartes im europäischen<br />

Raum bekanntgegeben hatte 56 . Andererseits ist auch eine positive<br />

Bewertung zu Scorseses Film zu finden: die deutsche Film-Bewertungsstelle<br />

Wiesbaden sprach dem Film 1989 das höchste Prädikat zu – „Besonders<br />

wertvoll” – und fand keine Verletzung religiöser Gefühle vor 57 .<br />

The Last Temptation of Christ ist im Fühling 1999 unter dem Titel<br />

Posledné pokusenie Krista auch in einem überwiegend katholischen Land<br />

wie der Slowakei gezeigt worden. Dies geschah im Rahmen eines<br />

thematischen Projekts, „Projekt 100”, organisiert von Assoziationen der<br />

slowakischen und tschechischen Filmverbände 58 . Diese sich um ein Jahrzent<br />

verspätete Premiere hatte auch etwas Positives an sich: Das Publikum<br />

konnte sich den Film ansehen, ohne von Protesten und Vorurteilen<br />

vorbelastet zu sein. Und wie die Kritiken und Publikum-Echos nach der<br />

54 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />

18 (1988), S. 8-12.<br />

55 Nach Kritikauszügen mehrerer Autoren unter dem Titel: Die letzte Versuchung Christi. In:<br />

film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme.<br />

November 1992, S. 68-70.<br />

Weiter: Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S.48-71.<br />

56 Vgl. Zoom 18 (1988), S.12.<br />

57 Vgl. HUPPMAN, Roland: „Die letzte Versuchung ...” – immer noch ein Thema?! „Film im<br />

öffentlichen Wider-Streit” an der Münchner Film-Hochschule. In: Das Genre der Jesusfilme.<br />

Arbeitshilfe für Filmseminare. IKM-Materialien 1. München, S. 9f.<br />

93


Aufführung von Scorseses Film gezeigt haben, ist er auf keinen Fall als<br />

Skandal rezipiiert worden 59 ; Begeisterung hat er aber auch nicht<br />

hervorgerufen. Trotzdem aber gehört The Last Temptation of Christ zu den<br />

umstrittensten Jesusfilmen der Filmgeschichte.<br />

2.4. Intention<br />

Zum Anfang des Films führt Scorsese ein Zitat von Nikos Kazantzakis<br />

aus dem Vorwort zur englischen Ausgabe seines Romans auf, womit<br />

zugleich die Thematik des Films zum Ausdruck gebracht wird:<br />

„Das doppelte Wesen Christi – die Sehnsucht des Menschen so<br />

menschlich, so übermenschlich, zu Gott zu gelangen... bleiben mir<br />

stets ein tiefes unergründliches Geheimnis. Mein grösster<br />

seelischer Konflikt und Quell all meiner Freuden und Qualen seit<br />

meiner Jugend war der erbarmungslose Kampf zwischen dem<br />

Geist und dem Fleisch. Denn meine Seele ist das Schlachtfeld,<br />

auf dem diese beiden Armeen von jeher ihren Kampf ausgetragen<br />

haben.”<br />

Der Film handelt ebenso wie der Roman im Sinne des Vorwortes von<br />

der Identitätssuche Jesu von Nazaret, die bei ihm zu einem tiefen seelischen<br />

Konflikt führt. Martin Scorsese geht es nicht darum, eine Biographie Jesu<br />

Christi zu verfilmen, sondern sich mit diesem grundlegenden Geheimnis des<br />

christlichen Glaubens auseinanderzusetzen. Der Film beruht somit nicht auf<br />

der Heiligen Schrift, wie es Scorsese im Vorspann präzisiert, sondern auf der<br />

58 Vgl. MISÍKOVÁ, Katarína: Posledné pokusenie Krista ako pribeh cloveka. In: SME<br />

31.3.1999, S.9.<br />

59 Ebda.<br />

94


persönlichen Reflexion der beiden Autoren – des Autors der literarischen<br />

Vorlage und des Regisseurs selber – über die beiden Wesen Christi.<br />

Scorsese stellt ins Zentrum seines Films Jesus von Nazaret, den Menschen<br />

und Messias, und konzentriert sich dabei auf das Wesentliche, das mit dem<br />

inneren Weg Jesu zum Erlöser im Zusammenhang steht 60 :<br />

1. Die Beziehung Jesu zu Gott – seinem Vater, die Jesus in eine<br />

Identitätskrise störzt und womit Scorsese implizit die Frage nach dem<br />

Ursprung der menschlichen Existenz stellt.<br />

2. Der Sinn der Selbstopferung Jesu, womit wieder der Sinn der<br />

menschlichen Existenz überhaupt angesprochen wird.<br />

Dieses führt Scorsese durch, indem er als den roter Faden seiner filmischen<br />

Erzählung die psychischen Gänge Jesu (im Roman) nimmt, womit er<br />

zugleich die Erzählperspektive des Films bestimmt und einen Jesus<br />

erscheinen lässt, der mit dem Jesus Christus der Evangelien fast nichts<br />

Gemeinsames mehr zu haben scheint. Er öffnet somit eine neue Sichtweise<br />

auf Jesus Christus, die zwar zur Diskussion über beide Wesen des Sohnes<br />

Gottes beitragen kann, die aber allgemein als problematisch angesehen<br />

wird.<br />

Erzählung die psychischen Gänge Jesu (im Roman) nimmt, womit er<br />

zugleich die Erzählperspektive des Films bestimmt und einen Jesus<br />

erscheinen lässt, der mit dem Jesus Christus der Evangelien fast nichts<br />

Gemeinsames mehr zu haben scheint. Er öffnet somit eine neue Sichtweise<br />

auf Jesus Christus, die zwar zur Diskussion über beide Wesen des Sohnes<br />

60 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />

18 (1988), S. 8-12.<br />

95


Gottes beitragen kann, die aber allgemein als problematisch angesehen<br />

wird.<br />

2.5. Der Gottessohn nach Scorsese<br />

Während sich Pasolini in seiner Verfilmung an die christliche Tradition<br />

hält, wählt Martin Scorsese einen Zugang zu Jesus Christus, der gegen jede<br />

traditionelle Sichtweise geht. Er besetzt zwar die Hauptperson Jesus von<br />

Nazaret mit Willem Dafoe, der seinem Aussehen nach mit den Jesusbildern<br />

vom Anfang dieses Jahrhunderts verglichen werden kann 61 . Scorseses Jesus<br />

trägt ebenfalls eher blondes, leicht gelocktes Haar, er hat helle bis blaue<br />

Augen, einen kurzen Bart und ein ziemlich schmales Gesicht. Von der<br />

physischen Konstitution her stellt er einen ziemlich grossen, starken, gut<br />

gebauten Mann dar, d.h. er hat die Züge eines der gängigen Jesusbilder der<br />

meisten monumentalen Jesusfilme. Auf keinen Fall entspricht er aber dem<br />

sanftmütigen, süssen „Nazarener”, denn sein Denken, Empfinden und<br />

Handeln ist alles andere als sanft.<br />

Das Auftreten Jesu in The Last Temptation of Christ ist schon dadurch<br />

vorgegeben, dass Scorsese keinen „fertigen” Christus ins Zentrum seines<br />

Films stellt, sondern sich auf den „Reife-Prozess” des Messias konzentriert.<br />

Sein Jesus ist voller Widersprüche im Verhalten und Denken und voller<br />

Ängste in seinem Inneren, was bei einem kräftigen Mann, wie es Jesus in<br />

Dafoes Verkörperung ist, eher überraschend wirkt. Die traditionelle<br />

Sichtweise, mit der Scorsese zu brechen versucht, betrifft nicht so sehr den<br />

Lebensweg Jesu selber, denn die wichtigsten Anhaltspunkte aus dessen<br />

61 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S. 62.<br />

Vgl. EICHENBERGER, Ambros: Martin Scorsese, ein (Un)fall für die christliche Filmkritik? In:<br />

Zoom 18, 1988, S.15.<br />

96


Leben stimmen durchaus mit den biblischen überein (obwohl der Film nicht<br />

auf den Evangelien basiert): Jesus von Nazaret in The Last Temptation of<br />

Christ ist der Sohn eines Zimmermanns, er trifft sich mit Johannes dem<br />

Täufer, vor seinem öffentlichen Wirken begibt er sich in die Wüste, er beruft<br />

seine Jünger und wird von ihnen Rabbi genannt, er vollbringt Wunder, heilt<br />

und weckt Tote auf, er wird verraten, verhaftet und gekreuzigt. Sogar eine<br />

Andeutung der Auferstehung ist im Film zu spüren. Was aber Scorsese mit<br />

seinem Film zu ändern versucht, sind die Vorstellungen über Jesus Christus<br />

als eines idealen Menschen, wie ihn der Katechismus darstellt. Er geht<br />

davon aus, dass sich Jesus ständig in einer Art von Entscheidungskrise<br />

befand, denn er musste als Mensch immer zwischen Gut und Böse wählen<br />

und als Gott musste er sich für das Gute entscheiden können, was dem<br />

filmischen Jesus wieder als einem Menschen nicht leicht gefallen ist, ja auch<br />

nicht immer gelungen ist 62 .<br />

Als Hauptmotiv für die Geschichte Christi im Film nimmt Martin<br />

Scorsese (entsprechend der Vorlage) die allegorischen Versuchungen Jesu,<br />

die er personifiziert und in reale Versuchungen des filmischen Jesus<br />

verwandelt. Scorseses Jesus ist somit ständigen inneren Kämpfen<br />

ausgeliefert, die sich sowohl auf der vertikalen als auch auf der horizontalen<br />

Ebene abspielen:<br />

1. Ebene zwischen Jesus und Gott – wo es um seine inneren Zwänge wegen<br />

seiner göttlichen Berufung geht (Abschnitte 2.5.1., 2.5.2.);<br />

62 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />

18,1988, S. 8-12.<br />

Scorsese solle sich über Jesus einmal geäussert haben: „ Wegen der zwei Seelen in ihm,<br />

der menschlichen und der göttlichen, ist jeder Augenblick seines Lebens Konflikt und Sieg.”<br />

Hier zitiert nach:<br />

Vgl. WIEGMANN, Frauke; CONRAD,Michael: Die alte Angst vor neuen Bildern. In: Film und<br />

Fakten. 7, 1988, S. 8.<br />

97


2. Ebene zwischen Jesus und seinen Mitmenschen – wo es um seine<br />

menschlichen Versuchungen geht (Abschnitt 2.5.3.).<br />

Zwischen diesen beiden Ebenen steht die Erlösung der Menschheit<br />

durch Jesus, die wieder auf beiden Ebenen entsprechend den<br />

Versuchungen ein anderes Verständnis voraussetzt. Das Problematische an<br />

Scorseses Jesus-Darstellung aber besteht darin, dass er seinen Jesus gar<br />

nicht als einen freien Menschen darstellt, der sich tatsächlich zwischen Gut<br />

und Böse frei entscheiden könnte. Alles was sein Jesus tut, tut er nicht, weil<br />

er davon überzeugt wäre, sondern weil er gezwungen ist, so und nicht<br />

anders zu handeln. Dieses findet seine Widerspiegelung genauso in der<br />

Beziehung zwischen Jesus und Gott als auch in der Beziehung zwischen<br />

Jesus und den anderen.<br />

2.5.1. Die Beziehung zwischen Jesus und Gott<br />

Alle Krisen, die Jesus von Nazaret in Scorseses Film durchmacht,<br />

wurzeln darin, dass er zwei Naturen in sich trägt. Während die göttliche und<br />

die menschliche Natur Christi bei Pasolinis Jesus eine harmonische Einheit<br />

bilden und zu einer natürlichen, ja sogar „übernatürlichen” Autorität Christi<br />

führen 63 , treffen sich diese bei Scorseses Jesus kaum in einem Moment<br />

zusammen, so dass sie ebenfalls eine Einheit bilden könnten. Denn<br />

Scorseses Jesus muss während seines „Reife-Prozesses” von Mensch zu<br />

Gott zwei Grundprobleme lösen: das Problem seiner eigenen Identität und<br />

das Problem der Erfüllung seines göttlichen Auftrags.<br />

63 Trotz der Sprunghaftigkeit Jesu, trotz seiner „Zweideutigkeit”, von der Pasolini selber<br />

gesprochen habe. Dazu:<br />

Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />

Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />

Wien 1977, S. 123.<br />

98


1. Das Problem der Identität<br />

Jesus von Nazaret wird als eine gespaltene Persönlichkeit dargestellt,<br />

die immer wieder zwischen seiner göttlichen und menschlichen Natur hin<br />

und her gerissen wird, was ihm während des ganzen Films nicht erlaubt, sich<br />

zu einer starken Pesönlichkeit zu entfalten 64 . Er ist in The Last Temptation of<br />

Christ eine psychisch geplagte Person, die ihre göttliche Berufung als<br />

Versuchung des Satans empfindet, mit ihr kämpft und ihr deswegen<br />

entgehen möchte, indem er lieber Kreuze zimmert, damit ihn Gott hasst<br />

(Sq.7). Er fühlt sich von Gott verfolgt, wie ein Tier in die Enge getrieben und<br />

weiss nicht, wer er eigentlich ist. Zu einem scheinbaren Bruch bei der<br />

Identitätssuche Jesu kommt es während der Versuchungen in der Wüste: da<br />

wird ihm geoffenbart, dass er seiner Aufgabe als „zweiter Adam” nicht<br />

entgehen kann (Sq. 16 – die Szene, als Jesus in der Wüste vom Apfelbaum<br />

einen Apfel pflückt und in ihn hineinbeisst) und die Aufgabe des Messias auf<br />

sich nehmen muss. Die Identitätskrise Jesu löst Scorsese aber erst, wenn<br />

Jesus am Kreuz seiner letzten Versuchung, kein Messias sein zu wollen,<br />

widersteht.<br />

2. Das Problem der Erfüllung des göttlichen Auftrags<br />

Die gespaltene Persönlichkeit Jesu widerspiegelt Scorsese auch<br />

darin, dass er Jesus während des ganzen Films nie seine Unsicherheit<br />

ablegen lässt, denn er sich darüber nicht im Klaren, ob er auf dem richtigen<br />

Weg zu Gott ist. Er hat aber auch „gute Momente”, wenn er die Nähe Gottes<br />

und die Verbundenheit mit ihm spürt: als er Maria Magdalena vor der<br />

64 Baugh bezeichnet die gespaltene Persönlichkeit Jesu sogar als paranoide Schizophrenie.<br />

99


Steinigung rettet (Sq.11) und den Glauben an die Liebe verkündet (Sq.11).<br />

Da spürt Jesus, dass es Gott gewesen sein muss, der ihm die passenden<br />

Worte in den Mund gelegt hatte, obwohl er auch dabei ungeschickt<br />

aufgetreten ist. Andererseits weiss Jesus nicht, wie er die Menschheit<br />

eigentlich retten soll: mit der Liebe oder mit der Axt. Er behauptet zwar: „Ich<br />

bin das Herz, so liebe ich” und verkündet auch die Liebe (Sq.12, Sq.21,<br />

Gleichnis vom Sämann – Sq.11), selber kann er sich aber auch wütend und<br />

aggressiv geben. In diesem Zusammenhang könnten mehrere Szenen<br />

angeführt werden, von denen vielleicht am stärksten die Szene ist, als Jesus<br />

aus der Wüste zurückkehrt und anstatt innere Kraft und Überzeugung<br />

auszustrahlen, voller Wut plötzlich eine Axt in der Hand hält und sagt: „Ich<br />

glaubte an die Liebe, jetzt aber glaube ich daran!” (Sq.18). Damit kann die<br />

Axt nicht bloss als symbolisches Mittel zur Bekämpfung der Sünde, sondern<br />

als Zeichen des irdischen Kampfes verstanden werden. So geschieht es<br />

auch bei seinen öffentlichen Auftritten (Sq.11,21,24,), als Jesus den Glauben<br />

an Gott als den Glauben an das Gute so „enthusiastisch” verkündet, dass er<br />

eher Erschrecken denn Einverständnis bei den anderen hervorruft 65 . Diese<br />

Unsicherheit und innere Unausgeglichenheit Jesu zieht sich durch den<br />

ganzen Film. Sie hört auch dann nicht auf, wenn es zum zweiten Bruch auf<br />

dem Weg Jesu zu Gott kommt. Als Gott Jesus endlich durch den Propheten<br />

Jesaja in einem Traum offenbart, was er von ihm erwartet: die Erlösung der<br />

Menschheit durch seinen Tod (Sq.26). Jesus gehorcht, er will dem Wunsch<br />

Gottes entgegenkommen und sich kreuzigen lassen, ohne den Sinn seines<br />

Todes näher zu kennen und erklären zu können. Am Ende des Films wird<br />

Jesus schliesslich zu einem „Masochisten” deformiert (wie ihn Baugh auch<br />

Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S.71.<br />

100


wegen seines Opferbewusstseins ohnehin bezeichnet 66 ), als Jesus am Kreuz<br />

vom Blut überströmt und mit einem verkrampften Lächeln aus voller Kraft<br />

seine letzten Worte vom Kreuz schreit: „Es ist vollbracht!” (Sq.42).<br />

Der „Reife-Prozess” Jesu von Mensch zu Gott in The Last Temptation<br />

of Christ, während dessen Jesus seine innere Ruhe und den Sinn seiner<br />

Existenz sucht, zeichnet Scorsese wie einen Kreuzweg Jesu im Bild auf,<br />

indem er den Anfang des Films mit seinem Ende verbindet: Jesus trägt das<br />

Kreuz für den Zeloten (Sq.3), der die „Erlösung” im Aufstand gegen die<br />

Römer sieht. Er nimmt somit die Last seines Kreuzes auf sich, das während<br />

des Films immer mehr zu seinem eigenen Kreuz wird, bis er dann selber<br />

seinen eigenen Kreuzweg gehen muss (Sq.34). Der Bogen vom Anfang des<br />

Films wird dann weitergezogen, bis Jesus bei seinem Ende mit gleich<br />

brutalen Bildern ans Kreuz geschlagen wird und stirbt. Scorsese stilisiert<br />

zwar den Kreuzweg Jesu (Sq.34) als einen Weg, den Jesus für die<br />

Menschheit und wegen der Menschheit gehen muss. In verlangsamten<br />

Bildern mit vielen Grossaufnahmen aus verschiedenen Perspektiven<br />

suggeriert er die Aussage: die Menschen wissen nicht, was sie tun. In<br />

Wirklichkeit jedoch wird Jesus sich selber zur grössten Last, die er tragen<br />

muss. Er geht seinen Kreuzweg von einem krankhaften Verfolgungswahn<br />

am Anfang durch krankhafte Unsicherheit und endet mit einer krankhaften<br />

Hingabe. Trotz dieses nicht gerade kurzen Abschnitts im Leben Jesu,<br />

während dessen er sich immer wieder von seiner Identität überzeugen muss<br />

und sich dabei als ein leidender Mensch zeigt, bleibt Jesus eigentlich immer<br />

konstant 67 : er widerspricht sich bis zum letzten Moment, in seiner Botschaft<br />

65 Vgl. Ebda. S. 55.<br />

66 Vgl. Ebda. S. 51-71.<br />

67 Vgl. Ebda.<br />

101


schafft er es nicht, überzeugend zu sein und wirkt eher abschreckend als zur<br />

Nachfolge animierend. Scorsese lässt aber seinen Jesus nicht als Sohn<br />

Gottes erkennen, der selber das „Inbild” des Guten ist, denn die Beziehung<br />

zwischen Jesus und Gott entspricht nicht der zwischen Sohn und Vater.<br />

Vielmehr ähnelt sie einer Beziehung Opfer und Täter, womit auch das Bild<br />

Gottes bei Scorsese problematisch wird.<br />

2.5.2. Das Gottesbild Scorseses<br />

Wie schon im vorigen Abschnitt angedeutet, sind es zwei Punkte an<br />

Scorseses Gottesdarstellung, die sich als problematisch erweisen. Zuerst ist<br />

es die Tatsache, dass Martin Scorsese seinen Jesus unter einer<br />

aggressiven, nicht sichtbaren Gestalt leiden lässt und zweitens ist es die<br />

Tatsache, dass der Tod Jesu in Scorseses Film als etwas Sinnloses<br />

dargestellt wird.<br />

Nach Scorseses Darstellung hat Gott mehrere Gesichter. Einmal zeigt<br />

Scorsese einen Raubvogel, der sich mit seinen Krallen in den Schädel Jesu<br />

hineingräbt, um ihn festzuhalten und zu zwingen, das zu tun, was er von ihm<br />

verlangt (Sq.2). Dieser Eindruck wird in der allerersten Einstellung mit dem<br />

inneren Monolog Jesu und zugleich auch im Bild entsprechend vermittelt: mit<br />

einer schnellen Kamerafahrt zum auf dem Boden liegenden Jesus, unterlegt<br />

mit einem Vogelgeräusch wird dieser Anflug suggeriert. Wiedereinmal ist es<br />

ein überall dagewesener unsichtbarer Geist, der Jesus im Schlaf quält (Sq.4)<br />

und überallhin verfolgt (Sq.4), um ihn wieder als Raubvogel auf den Boden<br />

werfen zu können. Ein anderes Mal wieder bezeichnet Jesus selber seinen<br />

Gott als Luzifer, der ihn vorwärts treiben möchte, als personifizierte Angst,<br />

die Jesus ständig seinetwegen empfindet (Sq.7). Diese Bilder entsprechen<br />

102


der subjektiven Wahrnehmung Jesu im Film, sie ändern sich aber auch dann<br />

nicht, wenn sich Jesus seiner göttlichen Berufung bewusst wird. (Gott lässt<br />

ihn nicht auf die weniger schmerzhafte Art sterben, er verlangt seinen Tod<br />

am Kreuz – Sq. 27.) Scorseses Gott ist also kein Gott, zu dem Jesus<br />

Vertrauen haben könnte oder zu welchem er gar voller Hoffnung beten<br />

könnte 68 . Denn es ist wieder Gott, welcher von Jesus sein Opfer am Kreuz<br />

fordert und nicht Menschen, die Jesus weder verstanden noch angenommen<br />

haben. Die Kreuzigung Jesu ist also viel zu wenig als Ergebnis seines<br />

Konfliktes mit Pharisäern gezeigt 69 . Deswegen habe ich leider auch die<br />

danach folgenden Bilder von der Geisselung und Kreuzigung Jesu, die sonst<br />

als Bilder „berührender Kraft” 70 bezeichnet werden können 71 , nicht als den<br />

Blick eines leidenden Gottes und schon gar nicht eines gütigen Vaters<br />

rezipiiert. <strong>Im</strong> Gegenteil, Scorseses sonst sich einmischender Gott schaut in<br />

diesen Bildern machtlos, vielleicht sogar despotisch zu, wie sein „Sohn” von<br />

den Römern erbarmungslos gegeisselt wird, als Scorsese diese Szene aus<br />

der Vogelperspektive zeigt. Obwohl diese Bilder auch in anderen Filmen<br />

sehr ähnlich stilisiert werden (Arcands Bilder in Jésus de Montréal erinnern<br />

an Scorseses Szene von der Geisselung), sagen sie nicht aus, dass der<br />

Sohn Gottes gequält wird, sondern dass Gott selber Jesus foltern lässt.<br />

Ebenso wenig väterlich wirkt Scorseses Gott dank ähnlichen Gottes-<br />

Darstellungen, als Jesus in Getsemani zu ihm spricht und ihn um Hilfe bittet.<br />

In dieser Einstellung, die ich in der Beziehung Gott – Jesus als sehr<br />

68 Vgl. Ebda<br />

69 Das Problem liegt nicht darin, dass Scorsese den Konflikt Jesu mit den Pharisäern zu<br />

wenig oder etwa nicht logisch geschildert hätte. Es ist vielleicht noch deutlicher als im Film<br />

Pasolinis. Ich finde, das Problematische liegt in der Schilderung Gottes im Film.<br />

70 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />

18 (1988), S. 8-12.<br />

71 Arcand bringt in diesem Zusammenhang ähnliche Bilder auch was die vom Regisseur<br />

ausgewählte Perspektive betrifft.<br />

103


glaubwürdig empfunden habe (noch glaubwürdiger als bei Pasolini), kann<br />

leider das Schweigen Gottes, das als ein Windhauch (ähnlich wie bei<br />

Pasolini) dargestellt wird, nur als das Schweigen einer grausamen Gestalt<br />

und nicht als die Machtlosigkeit eines Vaters wirken, gegenüber der<br />

wahnsinnigen Menschheit, die den Messias, den Sohn Gottes, ja Gott selber<br />

tötet. <strong>Im</strong> Unterschied zu Pasolinis Gottesbild, welches Gott als einen<br />

mitleidenden Vater und Jesus als einen mitleidenden Bruder und als die<br />

personifizierte Hoffnung darstellt, wirkt Scorseses Gottes- und Jesusbild<br />

gespenstisch und vielleicht sogar sinnlos. Scorsese macht somit Gott selber<br />

und die Unsicherheiten Jesu zum eigentlichen Kreuz, das Jesus während<br />

seines irdischen Lebens tragen und er-tragen muss.<br />

2.5.3. Zwischen Axt und Liebe<br />

Auf der Beziehungsebene zwischen Jesus und seinen Mitmenschen<br />

spielen zwei Personen eine besondere Rolle, die Scorsese als Gegenspieler<br />

zu Jesus aufstellt: Judas und Maria Magdalena. Sie beide füllen im Film<br />

mehrere Funktionen aus und sind zum Gegenstand der Kritik geworden:<br />

1. Als innerlich zerrissene Person sehnt sich Jesus selber nach Erlösung<br />

von seinen Zwängen und sucht Zuflucht nicht nur bei Gott, sondern bei<br />

einer starken Persönlichkeit, wie es Judas in der Darstellung Scorseses ist.<br />

Judas, ein Zelote, der anfangs seinen Messias töten wollte, wird zum<br />

einzigen Jünger, mit dem Jesus über seine Zwänge und Pläne sprechen<br />

kann, und bei dem Jesus sogar Sicherheit zu finden glaubt. Jesus selber<br />

bezeichnet ihn als den „Stärksten” und überträgt auf ihn sogar einen Teil<br />

seiner erlöserischen Aufgabe, als er zu ihm sagt: „Wir zwei müssen die Welt<br />

104


etten.” (Sq.9), „Ich bin das Opfer, ohne deine Mithilfe kann es keine<br />

Erlösung geben.” (Sq.28). Obwohl die Vorstellungen Jesu über die Aufgabe<br />

eines Messias sich von denjenigen von Judas ganz und gar unterscheiden,<br />

ist Judas für Jesus nicht nur der stärkste seiner Jünger, sondern sogar der<br />

stärkere als er selber: Jesus gibt zu, dass ihm Gott die leichtere Aufgabe<br />

zugeteilt hatte – den Tod am Kreuz (Sq. 28). Scorseses Film vertauscht<br />

somit die biblischen Rollen von Jesus und Judas: Jesus wird zu demjenigen,<br />

der seine erlöserische Aufgabe verraten möchte und Judas zu dem, der<br />

Jesus in seiner Aufgabe ermutigt und der als einziger unter den Jüngern<br />

Jesu fest an seinen Messias glaubt. Judas übernimmt somit im Film die<br />

Position des biblischen Petrus als Fels und von Johannes als<br />

„Lieblingsjünger” Jesu (obwohl die beiden Figuren im Film präsent sind).<br />

Die filmische Maria Magdalena ist ebenfalls als eine Person<br />

dargestellt, die Jesus Zuflucht bieten kann und die ihn von seinen<br />

Schuldgefühlen „erlösen” kann. Denn gerade wegen Jesus ist Maria<br />

Magdalena zur Prostituierten geworden; Jesus bittet sie deswegen um<br />

Vergebung (Sq.5). Ausserdem ist Maria Magdalena in The Last Temptation<br />

of Christ die Frau, die Jesus Liebe (und zusammen mit noch zwei weiteren<br />

biblischen Gestalten Maria und Martha) ein ganz normales familiäres Leben,<br />

verbunden mit menschlicher Nähe und Wärme, bieten kann, wie es<br />

Scorsese in der „letzten Versuchung” Jesu am Kreuz deutlich zeigt (Sq.35-<br />

41).<br />

2. Doch sowohl Judas als auch Maria Magdalena können Jesus auf seinem<br />

Weg nicht weiter behilflich sein, denn sie haben ein anderes<br />

Messiasverständnis als Jesus. Sie legen zwar ein Stück ihres irdischen<br />

105


Lebensweges gemeinsam mit ihm zurück, doch sie denken ganz anders als<br />

Jesus. Ihre Wege laufen zwar parallel nebeneinander, in keinem einzigen<br />

Moment sind sie aber „deckungsgleich”. Während Judas die Erlösung im<br />

Aufstand gegen die Römer sieht, versucht Maria Magdalena, Jesus klar zu<br />

machen, dass seine Aufgabe auf der Erde in einem glücklichen<br />

gemeinsamen Leben mit ihr besteht, womit sie zugleich ihre eigene Erlösung<br />

in der Form von sinnlicher, von Jesus erwiderter Liebe erwartet. Somit stellt<br />

Scorsese in Judas und Maria Magdalena die personifizierten<br />

Versuchungen Jesu dar, die Jesus ständig auf seinem Weg zum Messias<br />

„begleiten”.<br />

Martin Scorsese lässt Judas und Maria Magdalena auch in den<br />

allegorischen Versuchungen Jesu auftreten (Sq.16): Judas im Körper eines<br />

Löwen, der die irdische Macht symbolisiert und Maria Magdalena als eine<br />

Schlange, die Jesus wieder zur Erbsünde verführen möchte und ihm einen<br />

einfacheren Weg zu Leben weisen möchte.<br />

3. Zusammen mit Jesus repräsentieren Judas und Maria Magdalena den<br />

Umbruch vom alttestamentlichen zum neutestamentlichen Denken.<br />

Während Jesus die Erlösung der Menscheit in der Befreiung der Seele sieht,<br />

sieht Judas und Maria Magdalena das Fundament nicht in der Seele,<br />

sondern im Körper. Dementsprechend will Jesus die Seele mit der Liebe<br />

befreien, wobei Judas und Maria Magdalena eigene Mittel zur Befreiung des<br />

Körpers sehen: Judas die Axt und Magdalena die Sinnlichkeit und<br />

Geborgenheit. Dieses neutestamentliche Denken Jesu kommt im Film zwar<br />

klar aber leider nicht genügend stark zum Ausdruck, weil Jesus von Nazaret<br />

nicht als eine starke und überzeugende Persönlichkeit auftritt.<br />

106


In diesem Zusammenhang ist noch die Person des Johannes des<br />

Täufers zu erwähnen. Scorsese stellt ihn nicht als Beginn des Umbruches<br />

zum neuen Denken und schon gar nicht als einen Wegvorbereiter Jesu dar:<br />

Johannes der Täufer ist ein Wahnsinniger, der die Menschen eher zu einem<br />

exstatischen Ausleben ihrer Religiosität führt, denn zur Bekehrung auffordert<br />

(Sq.14). Johannes der Täufer selber erkennt den Messias nicht, als er von<br />

Jesus angesprochen wird (Sq.14), er verkündet keine „innere Reinigung” der<br />

Seele, sondern führt ein Ritual der „Körper-Reinigung” der am Jordan<br />

versammelten Menge durch. Auch das Gebot der Liebe bedeutet ihm nicht<br />

allzuviel, denn er ermutigt den Messias nicht zur Verkündigung der Liebe,<br />

sondern zur Verkündigung des Zornes Gottes. Jesus soll nach einer Axt<br />

greifen und so die Sünde in der Welt bekämpfen.<br />

Auch auf der Beziehungsebene Jesu zu seinen Mitmenschen kann<br />

man feststellen, dass Scorsese das Gegenteil von Pasolinis Jesus zum<br />

Ausdruck bringt. Während Pasolini seinen Jesus als einen Menschen zeigt,<br />

der mit den Einfachsten und Ärmsten fühlen und leiden kann und als<br />

„Vermittler” zwischen Gott und den Menschen das Heil verkündet, zeigt<br />

Scorsese einen Jesus, der sich selber nach Erlösung sehnt. Während<br />

Pasolinis Jesus die personifizierte Hoffnung repräsentiert, stellt Scorseses<br />

Jesus eine Person dar, die selber keine Sicherheit und Hoffnung vermitteln<br />

kann. Das betrifft auch das neue Gebot der Liebe, das Jesus zwar<br />

verbalisiert, selber aber nicht danach handeln kann. Dort, wo Pasolini das<br />

Geheimnis an Jesus zu bewahren versucht (er spekuliert nicht über das<br />

Identitäts-Bewusstsein Jesu, er stellt ihn einfach als einen Leidenden dar),<br />

versucht Scorsese, diesem Geheimnis einen logischen Grund zu geben und<br />

107


es zu enthüllen. Die Zweispurigkeit und Zerrissenheit seiner Jesus-Figur wird<br />

dabei bis an die Grenze des Erträglichen getrieben.<br />

2.6. Versuchungen und Wunderdarstellungen<br />

Obwohl der Film von Scorsese nicht auf der Heiligen Schrift basiert,<br />

beinhaltet er auch einige Wunderdarstellungen und Versuchungen, was<br />

auch ein Beweis dafür sein kann, dass sie einfach zu Jesus gehören. In The<br />

Last Temptation of Christ wurde ihnen aber eine besondere Rolle zugeteilt:<br />

sie finden im realen Leben Jesus ihren Niederschlag. Dabei möchte<br />

Scorsese, ähnlich wie Pasolini, mit seiner Darstellung der Versuchungen<br />

keine Gottessohnschaft Jesu beweisen. <strong>Im</strong> Gegenteil, er möchte seine<br />

Aussagen symbolisch darstellen. Leider montiert er aber eine zu „starke<br />

Symbolik” in seine<br />

Bilder hinein, bis diese „überladen” werden und kaum eine Aussage über<br />

Gott und seinen Sohn erlauben. Ausserdem hat Scorsese in der Wahl einer<br />

geeigneten Symbolik nicht gerade eine glückliche Hand. Anders verhält es<br />

sich bei der Darstellung von Wundern. Dort, wo Pasolini Augen in<br />

Detailaufnahmen und Musik sprechen lässt, versucht Scorsese den<br />

Zuschauer einerseits mit Effekten und andererseits mit naturalistischen<br />

Bildern 72 zu „verzaubern”. <strong>Im</strong> Gegensatz zu Pasolini macht Scorsese<br />

somit aus seinem Jesus einen „Zauberer”.<br />

2.6.1. Die Versuchungen Jesu<br />

72 Vgl. HUPPMAN, Roland: “Die letzte Versuchung ...” – immer noch ein Thema?! “Film im<br />

öffentlichen Wider-Streit” ab der Münchner Film-Hochschule. In: Das Genre der Jesusfilme.<br />

Arbeitshilfe für Filmseminare. Institut für Kommunikation und Medien der Hochschule für<br />

Philosophie. München 1986, S. 9-11.<br />

108


Während es bei Pasolini die Wunder waren, welche die grössere<br />

Rolle im Leben Jesu spielten, sind es in The Last Temptation of Christ die<br />

Versuchungen Jesu, denen die wichtigere Rolle zugeordnet wird. Martin<br />

Scorsese zeichnet die Versuchungen anders als andere Jesusfilme. Er lässt<br />

sie nicht nur allegorisch sondern auch real geschehen: anhand von<br />

Beziehungen Jesu zu Maria Magdalena und Judas, die ich schon im Abshnitt<br />

2.5.3 beleuchtet habe.<br />

Die Versuchungen Jesu entsprechen seinen Visionen und Träumen,<br />

von denen er von Zeit zu Zeit heimgesucht wird, sei es im Kloster (Sq.8), in<br />

der Wüste (Sq.16) oder am Kreuz (Sq.35-41). Auch aus diesen Gründen<br />

wurde Scorseses Film so heftig kritisiert: einerseits wegen der<br />

gestalterischen Mittel, mit denen Scorsese die Visionen darstellt und<br />

andererseits wegen des Inhalts der „letzten Versuchung” Jesu – dem Traum<br />

am Kreuz (Sq.35-41).<br />

In den allegorischen Versuchungen greift Scorsese nach einer<br />

Ästhetik, die leider eher an moderne Märchen-Spielfilme erinnert und somit<br />

eine ernsthafte Auseinandersetzung des Autors mit der Problematik<br />

überdeckt: Jesus wird von einer Schlange überfallen, die sich durch den<br />

Boden gräbt, um Jesus mit der menschlichen Stimme von Maria Magdalena<br />

zu verführen (Sq.8). Am Widerstand Jesu scheitert sie aber, verschwindet<br />

aus dem Bild und damit auch die ganze Vision. Unter ähnlichen<br />

„märchenhaften” Visionen lässt Scorsese seinen Jesu auch in der Wüste<br />

leiden, wo er sich „harten Proben”, einem „Märchen-Prinzen” vergleichbar,<br />

stellen und den Satan bekämpfen muss (Sq.16). Jesus zeichnet einen<br />

„magischen” Kreis in den Sand um sich herum, der ihn vor Satans Angriffen<br />

109


schützen soll 73 . Als erste lässt Scorsese wieder die Schlange mit der Stimme<br />

von Maria Magdalena kommen. Als zweite Versuchung möchte ein Löwe mit<br />

der Stimme von Judas Jesus überzeugen, dass er als personifizierte Macht<br />

sein Herz sei. Danach bricht plötzlich die Flamme auf, aus welcher der Satan<br />

selber mit einem Hall–Effekt in der Stimme spricht. Als diese wieder<br />

verschwindet, wächst an der gleichen Stelle ein Apfelbaum mit zahlreichen<br />

Früchten, denen Jesus schliesslich nicht widerstehen kann: aus dem Apfel,<br />

in den er hineinbeisst, fliesst plötzlich Blut – dem blutigen Opfer des neuen<br />

Adam kann Jesus nicht entgehen. Ein ähnliches Bild begleitet die Reaktion<br />

Jesu beim Tod des Täufers, wo sich Jesus sein blutendes Herz aus seinem<br />

Körper reisst (Sq.18). Solche Bilder der allegorischen Versuchungen Jesu in<br />

der Wüste können aber nicht ernst genommen werden, da sie zu<br />

märchenhaft und sogar peinlich für einen Jesusfilm wirken und leider eine<br />

ernsthafte Aussage verunmöglichen. Es ist nicht die Stille, die Einfachheit<br />

des Schnitts-Gegenschnitts und der Verzicht auf Effekte der Versuchung-<br />

Szenen bei Pasolini, sondern das pure Gegenteil. Scorsese greift nach<br />

Effekten in Bild und Ton, um die Realität der Visionen zu betonen.<br />

2.6.2. Die letzte Versuchung<br />

Ganz anders ist die letzte Vision Jesu am Kreuz inszeniert. Obwohl<br />

auch da plötzlich ein Engel unter dem Kreuz Jesu erscheint und am Ende<br />

wieder wie der Satan in den Versuchungen Jesu in der Wüste als Flamme<br />

verschwindet, ist sie vom breiten Publikum nicht aus ästhetischen Gründen,<br />

sondern aus inhaltlichen kritisiert worden und nur auf die Sexualität Jesu<br />

begrenzt worden. Ich muss auch zugeben, dass ich mich im ersten Moment<br />

73 Obwohl der Kreis mit Christus in der Mitte in der christlichen Symbolik die Aussage des<br />

Christus als Mitte des Universums vermittelt, ist diese leider mit den danach folgenden<br />

Versuchungsdarstellungen relativiert, da sie einfach nicht ernst genommen werden können.<br />

110


ebenfalls gegen einige Szenen „gewehrt” habe (Liebesakt zwischen Jesus<br />

und Maria – Sq.36; der Engel ermutigt Jesus auch mit Martha zu schlafen –<br />

Sq.38.) Doch die ganze Traumsequenz habe ich nicht als problematisch<br />

rezipiiert. Scorsese trennt sie ganz klar als einen Traum von der Realität;<br />

Jesus widersteht ihr und schliesslich ist sie keine Darstellung des<br />

Sexuallebens Jesu (die „störenden” Szenen zeigen sich als zweitrangig im<br />

Kontext der ganzen Traumsequenz). In der „letzten Versuchung” werden alle<br />

Sehnsüchte und Versuchungen Jesu noch einmal verdichtet nacherzählt:<br />

1. Jesus braucht nicht zu sterben, um die andere Welt Gottes<br />

kennenzulernen, wie er schon in Gestemani zu Gott betete. Es reicht, wenn<br />

er die Erde anders betrachtet und schon kann er im Paradies leben (Sq.35).<br />

2. Den Himmel, den er in Kana als Hochzeit zwischen Gott und der Seele<br />

bezeichnet, kann er schon auf Erden erleben, indem er Magdalena zur Frau<br />

nimmt (Sq.35).<br />

3. Selbst wenn Jesus nicht gestorben wäre, würden die Menschen sich einen<br />

eigenen Erlöser ausdenken, einen, der ihnen passt (Sq.39). Paulus gibt<br />

Jesus somit die Antwort auf seine Frage, die er selber vor seiner Festnahme<br />

Gott gestellt hatte: „Muss ich sterben? Gibt es keinen anderen Weg?”<br />

(Sq.31)<br />

Was aber auch wichtig an dieser Traumsequenz zu sein scheint, ist<br />

die Tatsache, dass Scorsese gerade in dieser Sequenz, „(...) in der sich die<br />

Dualität des ganz Mensch und ganz Gott Seins zu einer Parabel über<br />

111


Fleisch- und Geistwerdung verdichtet (...)” 74 eigentlich das Thema des<br />

Filmes zu einem metaphorischen Höhepunkt bringt.<br />

2.6.3. Zusammenfassung der Versuchungen<br />

Trotz der misslungenen Darstellung der allegorischen Versuchungen<br />

in The Last Temptation of Christ bringt Scorsese etwas Neues im<br />

Verständnis der Versuchungen Jesu:<br />

1. Damit, dass die Versuchungen ihre filmische Abbildung in einer<br />

zweifachen Art finden (als reale Geschehnisse, mit denen Jesus zu kämpfen<br />

hat und als Visionen in seinem Unterbewusstsein, in denen diese<br />

Geschehnisse thematisiert werden), bricht Scorsese mit der Vorstellung,<br />

Jesus wäre nur allegorisch versucht worden. In diesem Film erlebt Jesus<br />

seine ganz konkreten, realen und alltäglichen Versuchungen.<br />

2. Nach Scorseses Darstellung geschehen die Versuchungen nicht nur in der<br />

Wüste, in der Isolation, sondern überall mitten unter Menschen, wobei sie<br />

aus dem Inneren eines Menschen kommen. Dieses wird im Film auch<br />

explizit betont, vom Mönch des Klosters, als Jesus von der Schlange<br />

überfallen wird (Sq.8).<br />

3. Den Versuchungen muss Jesus ständig widerstehen können, sie lassen<br />

sich nicht einmal in der Wüste für immer abwenden. Damit schafft Scorsese<br />

die märchenhafte Vorstellung ab, Jesus käme nie wieder in Versuchung.<br />

74 JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom 18,<br />

1988, S. 11.<br />

112


Leider aber kreiert Scorsese mit der Darstellung der allegorischen<br />

Versuchungen in der Wüsste eine neue, märchenhafte Darstellung.<br />

2.6.4. Wunder<br />

Scorsese wählt in The Last Temptation of Christ einen anderen<br />

Zugang zu den Wunderdarstellungen als Pasolini. Dieser war nicht am<br />

Geschehen oder an der Durchführung eines Wunders interessiert, er zeigte<br />

einfach die „Ausgangsituation” vor und die Situation nach dem Wunder.<br />

Ebenso wenig interessierte ihn die Wirkung des Wunders bei Jesus selber;<br />

er zeigt die Wirkung des Wunders bei den Betroffenen. In The Last<br />

Temptation of Christ macht Scorsese das Gegenteil. Er zeigt ganz sorgfälltig<br />

den Verlauf des Wunders in Bild und Ton und die Wirkung von diesem fast<br />

ausschliesslich bei Jesus selber. Er erklärt auch, was er unter einem Wunder<br />

versteht, um das Gespür für das Geschehen im Leben Jesu beim Publikum<br />

zu wecken. Für Scorsese ist es schon ein Wunder, wenn er die Liebe unter<br />

den Menschen verkündet und dabei die richtigen Worte findet (Sq.11): Es sei<br />

Gott, der gesprochen habe, nicht Jesus. Neben solchen „Wundern”<br />

thematisiert Scorsese entsprechend der literarischen Vorlage von<br />

Kazantzakis auch einige Wunder-Taten Jesu: die Heilungen (Sq.19), die<br />

Auferweckung von Lazarus (Sq.23), das Wunder in Kana (Sq.20), die<br />

Wandlung von Brot und Wein beim letzten Abendmahl (Sq.30). Ausserdem<br />

zeigt er einige Wunder, die sowohl in der Bibel als auch in der literarischen<br />

Vorlage vorhanden sind – das Begleitwunder bei der Taufe Jesu (Sq.14) und<br />

die Auferstehung Jesu (Sq.42-43). Schliesslich thematisiert Scorsese wieder<br />

einige Visionen Jesu, die man zu den Wundern zählen kann: das schon<br />

erwähnte „Wunder” beim Erzählen des Gleichnisses vom Sämann (Sq.11),<br />

das als eine subjektive überlegung Jesu dargestellt ist; das plötzliche<br />

113


Erscheinen eines Apfelbaumes (Sq.13) – ähnlich märchenhaft, wie bei den<br />

Versuchungen Jesu; die Stigmatisierung Jesu (Sq.27) die plötzlich an seinen<br />

Händen erscheint, als Jesus ein Zeichen zum Ausbruch der Revolution<br />

gegen die Römer geben soll. Bei all diesen „Wundern” betont Scorsese<br />

besonders ihre Wirkung an Jesus. Bei dem einen ist es sein Stolz und seine<br />

Unsicherheit (Sq.11), beim anderen ist es die überraschung Jesu (Sq.13)<br />

oder einfach ein „Schwächenanfall” (Sq.27).<br />

Die Heilungen (Sq.19) werden in Scorseses Film in Anlehnung an<br />

Jesus Christ Superstar von Norman Jewison dargestellt. Jesus, der in<br />

Begleitung seiner Jünger durchs Land zieht, von Kranken geradezu<br />

„überfallen” und fast gezwungen wird, sie zu heilen. Auch Scorsese zeigt die<br />

zahlreichen „Unreinen”, wie sie aus den Boden-Löchern herauskriechen, um<br />

zu Jesus zu gelangen (bei Jewison waren es Felsenhöhlen). Ebenso braucht<br />

Jesus viel Kraft und Überwindung, um eine Heilung überhaupt zu bewirken.<br />

Er stösst die Geheilten einen nach dem anderen kräftig von sich ab, als ob<br />

sie ihm im Wege stünden. Scorsese bemüht sich dabei um eine<br />

„realistische” Darstellung. Die Hauptaussage, die zugleich die Voraussetzung<br />

für eine Heilung ist („dein Glaube hat dich gerettet”), wird gerade durch diese<br />

realistische Darstellung verdrängt und kommt somit nicht ganz klar zum<br />

Vorschein. Jesus wird so zu einem „Wunder-Heiler” und Magier. Um die<br />

Tatsache eines Wunders zu betonen, greift Scorsese auch nach einer<br />

indirekten Erzählweise, indem er Judas als Zeugen einer Heilung auftreten<br />

lässt: „Sehet, er war blind und Jesus heilte ihn!” (Sq.19). Diese indirekte<br />

Erzählweise relativiert aber nicht das Bemühen um eine realistische<br />

Darstellung; im Gegenteil, sie betont es noch zusätzlich.<br />

114


Geradezu naturalistisch möchte Scorsese auch den Verlauf der<br />

Auferweckung von Lazarus darstellen (Sq.23). Er zeigt Menschen vor dem<br />

Grab stehend, die sich sogar die Nasen vor dem Geruch des Toten zuhalten;<br />

an Lazarus sind bereit Spuren der Zersetzung seines Körpers zu erkennen.<br />

Dann lässt er Jesus eine Bewegung durchführen, die an asiatische<br />

Kampfkünste erinnert. Danach wird Jesus wie in einem Actionfilm geschockt,<br />

als der auferweckte Lazarus seine weisse Hand zu ihm ausstreckt, wonach<br />

ihn Jesus mit viel Mühe aus dem Grab herauszieht. Die Symbolik der<br />

weissen, nach oben zum Licht hin ausgestreckten Hand im dunklen Grab,<br />

vor dem Jesus steht, welcher sie aus der Tiefe des Todes zurück ins Leben<br />

zieht, wird mit diesen Bildern wieder relativiert.<br />

Mit naturalistischen Bildern lässt Scorsese den Wein zum Blut Christi<br />

wandeln (Sq.30), als er ihn in Detailaufnahme Blut durch die Finger von<br />

Petrus auf das Brot tropfen lässt. Diese Wandlung wirkt zu prosaisch, ohne<br />

jegliche Symbolik. Baugh bezeichnet diese Bilder sogar als Bilder an der<br />

Grenze zum Kanibalismus (nach Schraders Drehbuchvorlagen sollten die<br />

Jünger sogar tatsächlich auch Fleisch anstatt Brot teilen) 75 .<br />

Fast als Gegengewicht zu solchen abschreckenden „Wundern”, zeigt<br />

Scorsese einen Jesus, wie er mit viel Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit<br />

das Wasser zu Wein bei der Hochzeit in Kana wandelt (Sq.20).<br />

Während es sich bei den Versuchungen und Wundertaten Jesu um<br />

eine Symbolik mit vielen Details aber letztendlich ohne Aussagekraft handelt,<br />

geht es bei den Begleitwundern um einen Versuch um Stilisierung. Bei der<br />

Taufe Jesu (Sq.14) geschieht das Wunder, indem Scorsese die Ambiance<br />

unterbricht und Jesus durch Johannes den Täufer im Jordan, aus der<br />

75 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S.48-71.<br />

115


Vogelperspektive betrachtet, taufen lässt. Nach dem Wunder kehrt der Ton<br />

zurück. Scorsese schafft es leider auch mit diesen einfachen Mitteln nicht,<br />

die an Pasolini erinnern, eine Metapher zu zeigen, denn Jesus befindet sich<br />

in dieser Szene nicht unter Gläubigen, die sich innerlich auf das Kommen<br />

des Sohnes Gottes vorbereiten sollten. Jesus wird in dieser Szene zu einem<br />

der „Sektenangehörigen” von Johannes gemacht, die auf falschen Wegen zu<br />

Gott gelangen wollen.<br />

Scorsese lässt auch das Gewitter als Begleitwunder zur Kreuzigung<br />

(Sq.34) ausbrechen, konzentriert sich aber nicht auf das Wunders selber. Er<br />

wendet die Aufmerksamkeit des Zuschauers von diesem ab, indem er kurz<br />

darauf in die Subjektive wechselt und Jesus in seinen Traum hineintauchen<br />

lässt. Nach dem Aufwachen aus der letzten Versuchungs-Szene Jesu zeigt<br />

Scorsese den Tod und die Auferstehung Jesu zugleich (Sq.42-43). Nach<br />

dem Aufschrei Jesu: „Es ist vollbracht!”, bricht das Bild ab, etwa so wie die<br />

Unterbrechung eines Filmbandes. Das Wechseln von verschiedenen Farben<br />

soll die Auferstehung betonen und Jesus als Christus offenbaren.<br />

Gleichzeitig werden im Ton Gesänge des letzten Bildes weitergezogen, zu<br />

denen die regelmässigen Klänge einer Osterglocke gemischt werden. Diese<br />

sollen wiederum die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Auferstehung<br />

Jesu richten. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Bilder im Kontext des<br />

ganzen Films diese Aussagekraft tatsächlich auch besitzen. Baugh lehnt<br />

diese Annahme ab, weil die Gesänge des irdischen Lebens Jesu und seines<br />

Todes nach den letzten Glockenklängen im Abspann noch einmal stark<br />

akzentuirt werden 76 . Scorsese lässt die Gesänge und Glocken anfangs<br />

ineinander hineinfliessen, ganz im Sinne des letzten Satzes in Kazantzakis<br />

76 Vgl. Ebda.<br />

116


Buch: „Alles ist ein Ende und alles ist ein Beginn.” Der Schluss des Films<br />

nach dem Abspann entspricht aber nicht dieser Aussage. Mehr noch aber<br />

hat mich am Film von Scorsese gestört, dass ich Jesus in keinem Moment<br />

des Filmes als Christus identifizieren konnte, der als Sohn Gottes erkennbar<br />

wird, obwohl der Titel des Filmes die Dimension Christi klar zum Ausdruck zu<br />

bringen scheint. Jesus steht nur als ein Mensch da, der fast vergeblich zu<br />

Gott gelangen will. Da Gott auch nicht als Vater in Erscheinung tritt, wirkt die<br />

symbolische Auferstehung Jesu und der Gesang am Schluss fast zynisch.<br />

2.7. Die Mittel<br />

Martin Scorsese lässt sich bei der Darstellung Jesu Christi in The Last<br />

Temptation of Christ von Kazantzakis’ Hell-Dunkel-Malerei inspirieren.<br />

Andererseits beeinflusst ihn Pasolinis Jesus in Il vangelo secondo Matteo mit<br />

seiner zweispurigen Haltung 77 . Scorsese scheint das Motto von Pasolini zu<br />

„übernehmen” und es noch deutlicher, noch stärker herausgearbeitet zu<br />

haben: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das<br />

Schwert.” (Mt.10,34) Bei Scorsese ist es nicht das Schwert, sondern die Axt.<br />

Dies ist an der entgegengesetzt verlaufenden Darstellung der zwei Naturen<br />

Jesu Christi transparent geworden, die aber wieder ganz anders als bei<br />

Pasolini zum Ausdruck gebracht werden. Scorsese stellt die Dualität Jesu<br />

Christi in der gespaltenen Persönlichkeit Jesu dar und macht diese zugleich<br />

zum wichtigsten Ausdrucksmittel des „Gottseins” bei seinem Jesus. Wenn<br />

aber Gott als etwas Positives wahrgenommen wird (Gott – Gut – Liebe –<br />

77 Als sich Scorsese den Jesusfilm von Pasolini angesehen hatte, sei er begeistert und<br />

schockiert zugleich gewesen, denn gerade so – zweispurig – habe er sich selber seinen<br />

Jesus vorstellen können.<br />

Dazu:<br />

117


Vater – Gnade – Vergebung – Ewigkeit – Licht – Leben – Reinheit usw.)<br />

kann ein Gespalten-Sein kaum ein geeignetes Ausdrucksmittel für das Gott-<br />

Sein werden. Scorsese wählte innerhalb seiner zweispurigen Inszenierung<br />

immer den extremen Weg (Wut – Angst; Axt – Liebe; Überzeugung –<br />

Unsicherheit...). Dabei treibt er das „Spiel” mit jeder dieser Variablen immer<br />

bis an die Grenze des Erträglichen oder sogar noch weiter. So verunmöglicht<br />

er, dass sich diese Variablen zu konstruktiven Irritationen entwickeln<br />

können,wie es bei Pasolinis Jesusfilm der Fall war. Das Problematische an<br />

The Last Temptation of Christ liegt deshalb nicht in der Handlung des Filmes<br />

(im Groben stimmt sie durchaus und ausserdem kann Jesus ruhig seine<br />

Visionen, Versuchungen und Träume haben). Vielmehr liegt das<br />

Problematische in der Intensität, die bei jeder Variablen ins Extreme<br />

gezogen wird und sich zu einer „Schock-Inszenierung” entwickelt, sowohl im<br />

Inhalt (Jesus findet nie seine innere Ausgewogenheit) als auch im Bild<br />

(Wunderdarstellungen, Versuchungen und die drastische Symbolik). Ganz<br />

sicher geht Scorsese somit gegen jede süse, sanfte Darstellungsweise Jesu<br />

in den Grossfilmen vor, wofür nicht allein die Erzählperspektive seines Films<br />

spricht. Auch die Betonung der Drastik der symbolischen Details gehört dazu<br />

(Blut des Zeloten im Gesicht Jesu, Blut der Osterlämmer, Blut der Wunden<br />

Jesu, Blut des Herzens Jesu, Blut und Geld, Blut und Dornenkrone, Blut auf<br />

dem Brot). Zwar ist Scorsese dabei auch nicht ganz konsequent (sein Jesus-<br />

Typ könnte sicher zu Grossproduktionen besser passen als Pasolinis Jesus-<br />

Irazoqui; er vermeidet zwar Massenszenen, aber schon am Anfang lässt er<br />

die Zeloten und die Römer wie in allen Grossfilmen gegeneinander kämpfen;<br />

er besetzt die Haupt-Figuren mit Stars und bemüht sich um ein Maximum an<br />

Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City 1997,<br />

118


ealistischer Darstellung, die noch mit den in Details durchgearbeiteten<br />

historischen Kostümen und Masken – Tätowierungen von Maria Magdalena<br />

– betont wird) ist es ihm doch gelungen, in keinem Moment des Films<br />

pathetisch und „fromm” zu sein. Ausserdem greift Scorsese nach Trick-<br />

Wundern (so sind die Versuchungen und Wunder inszeniert), von denen<br />

vielleicht am peinlichsten die Szene wirkt, als Jesus dem Soldaten sein<br />

abgeschnittenes Ohr (Sq.31) wieder „zuklebt”. Solche gestalterischen Mittel<br />

bedecken leider die Aussagekraft jeder Stilisierung.<br />

Scorseses Mittel sind nicht gerade einfach, wie bei Pasolini, denn sein<br />

Film ist prächtig in Farben, grosszügig in Besetzung und effekt-konzentriert<br />

in der Duchführung. Sein Film kann als ein historisierender Jesus-Film<br />

bezeichnet werden. Das bestätigt teilweise auch der Musikeinsatz von Peter<br />

Gabriel, der in der Durchführung einerseits einen Versuch um authentische<br />

Musik darstellt (obwohl er auch für den nicht korrekten Einsatz kritisiert<br />

wurde – die Musik und der Tanz wirkte zum Teil eher arabisch denn<br />

hebräisch) 78 . Andererseits versucht er, sich mittels neuster Musik-<br />

Techniken 79 gegen den Traditionalismus und Triumphalismus<br />

durchzusetzen. Auf keinen Fall übernimmt die Musik aber eine aktive<br />

dramaturgische Funktion im Film, wie bei Pasolini. Die Musik von Peter<br />

Gabriel übernimmt eher die Rolle einer Hintergrundmusik.<br />

Während sich Pasolini für die Zweispurigkeit in Kombination mit einer<br />

zurückhaltenden und immer aktuellen Inszenierung entschieden hat, was<br />

allgemein als seine Stärke angesehen wird, hat Scorsese die letzten zwei<br />

Prinzipien gestrichen und sie durch äussere Mittel zur Erzielung von einem<br />

S. 54.<br />

78 Vgl. Ebda.<br />

119


Maximum an Realität ersetzt, was leider nicht funktioniert hat und eher als<br />

Schwäche dieses Films angesehen werden kann.<br />

2.8. Das Phänomen Publikum<br />

Der Film macht von Anfang an den Zuschauer darauf aufmerksam,<br />

seinen Jesus nicht mit dem Jesus der Evangelien zu vergleichen. Das ist<br />

eine Art Aufforderung des Regisseurs, die aber aus folgenden Gründen nur<br />

schwer erfüllbar ist:<br />

1. wegen der Vorprägung des Publikums eines Jesusfilms (Teil 2.8.1.);<br />

2. wegen der Tatsache eines direkten historisierenden Jesusfilms (Teil<br />

2.8.3.);<br />

3. wegen der Gewichtsverschiebung im Titel (Teil 2.8.4.).<br />

2.8.1. Das Problem der Vorprägung<br />

Bei einem Jesusfilm muss der Regisseur immer damit rechnen, dass<br />

die meisten Zuschauer bereits ein Vorwissen (oder zumindest eine Ahnung)<br />

von der Person Jesu Christi haben und davon nicht einfach so abstrahieren<br />

können. Dieses bringt sie im Laufe des Films immer in „Versuchung”, den<br />

filmischen Jesus mit dem eigenen Bild von ihm zu vergleichen, um so mehr,<br />

als es im Fall von The Last Temptation of Christ um einen direkten<br />

historisierenden Jesusfilm geht. Wenn also das Jesusbild des Zuschauers<br />

nicht mindestens ein bisschen dem filmischen ähnelt, kann der Film nur<br />

schwer verstanden werden, da der Zuschauer seinen Jesus nicht einordnen<br />

kann und sich in der Handlung verliert. Wenn Scorseses Jesusbild von The<br />

Last Temptation of Christ den Evangelien gegenübergestellt wird, ergibt sich,<br />

79 Vgl. Ebda. S. 59f.<br />

120


dass der Film, obwohl er auf der Handlungsebene in groben Zügen stimmt,<br />

eine zweifache Diskontinuität mit sich bringt:<br />

1. Jesus ist in The Last Temptation of Christ aufgrund seiner gespaltenen<br />

Persönlichkeit und der Widersprüche, die er in sich trägt, nicht das Inbild<br />

dessen, was er verkündet.<br />

2. Scorseses Jesus entspricht weder dem Jesus der Geschichte noch dem<br />

Christus des Glaubens. Scorsese ist an der historischen Stimmigkeit nicht<br />

nur nicht interessiert, da seine Intention einfach eine andere ist, er ignoriert<br />

sie in ganz wichtigen Punkten:<br />

– Die Kreuzigung Jesu als Opfer, das er aufgrund seines Traumes selber<br />

provoziert und gesucht hatte.<br />

– Die Jünger bilden keine „kompakte” Gruppe mit der Aufgabe, die Lehre<br />

Jesu zu übernehmen und weiter zu verbreiten, womit sie geradezu<br />

überflüssig werden. Judas ist der einzige, der eine wichtigere Rolle spielt.<br />

Wenn der Zuschauer nicht ständig daran denkt, dass der Film eine<br />

Roman- und nicht eine Evangeliumsverfilmung ist und ihn mit seinen<br />

Bibelkenntnissen vergleicht, kann er den Jesus dieses Filmes nicht mehr<br />

einordnen und somit auch nur bedingt verstehen.<br />

Ähnliches lässt sich vom Christus des Glaubens sagen, den die<br />

Menschen aus der Verkündigung kennen und von dem im Film keine Spur<br />

zu finden ist. Schon das Wichtigste an Jesus, dass sich in ihm Gott selber<br />

offenbart hat, wird im Film kaum je transparent gemacht. Der<br />

Offenbarungskreis, von dem ich im ersten Kapitel geschrieben habe, ist im<br />

Film nicht vorhanden. Scorsese bildet zwar einen Bogen zwischen dem<br />

121


Anfang des Films und seinem Ende: das Leben Jesu ist ein Kreuzweg.<br />

Doch es fehlt ihm die Dimension Christi, die während des ganzen Filmes<br />

kaum entwickelt wurde:<br />

– Gott ist im Film fast wie ein Tyrann dargestellt, an keiner Stelle wird er<br />

zum Vater, zu dem Jesus „Abba” 80 sagen könnte und der sich in Jesus<br />

offenbaren sollte;<br />

– Jesus spürt kaum die im Evangelium bezeugte Verbundenheit mit Gott<br />

(“Ich und der Vater sind eins!” – Joh 10,30) und es fehlt ihm die Weisheit<br />

„seines Vaters”;<br />

– Jesus handelt mehr aus Angst denn aus Liebe zu den Menschen, er wirkt<br />

fast lieblos und ist teilweise aggressiv;<br />

– Der Glaube spielt bei ihm eine eher untergeordnete Rolle;<br />

– Die Ethik des Neuen Testaments, das Gebot der Nächsten- und<br />

Feindesliebe, wird kaum zum Ausdruck gebracht.<br />

Das Problematische an Scorseses Film liegt also nicht daran, dass er<br />

Jesus als einen Menschen darstellen wollte, mit seinen Versuchungen,<br />

Ängsten und Unsicherheiten, sondern, dass den Versuchungen so viel Platz<br />

eingeräumt wird, dass Scorsese andere wichtige Momente und Aussagen<br />

der Evangelien nicht mehr thematisieren kann oder will. Deswegen kann das<br />

Publikum den Film nur bedingt verstehen. Scorsese findet ausserdem in<br />

keinem Moment seines Films adäquate Bilder, um auf Jesus (auch) als den<br />

Sohn Gottes aufmerksam zu machen.<br />

80 Vgl. GASPER, Hans: Die Letzte Versuchung Christi. Eine leicht gekürzte Filmkritik<br />

übenommen von film-dienst 22, 1988. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur<br />

Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 68f.<br />

122


Scorsese stellt Jesus aber auch nicht als einen ganz normalen<br />

Menschen dar, denn sein Jesus hat keinen freien Willen und wirkt<br />

deswegen krankhaft. Es drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage<br />

auf, inwieweit dieses die Handschrift Scorseses und inwieweit die von<br />

Kazantztakis ist.<br />

2.8.2. Von Kazantzakis zu Scorsese<br />

Scorseses Werk kann als eine treue Verfilmung der Romanvorlage<br />

bezeichnet werden: Nikos Kazantzakis interessiert sich nicht für eine<br />

Wiederherstellung oder Nacherzählung der Biographie Jesu von Nazaret in<br />

seinem Roman und ebensowenig interessiert ihn die historische Stimmigkeit<br />

dessen, was er schreibt. Er nimmt einige Evangelien-Geschehnisse heraus,<br />

ergänzt diese mit eigenen Überlegungen und füllt somit die Lücken der<br />

Evangelien aus. Das Ergebnis seiner Überlegungen zur Person Jesus von<br />

Nazaret ist ein historisierender, mehr aber psychologisierender Roman über<br />

Jesus Christus, mit dem er ein Bild von Jesus entwarf, das die Menschen<br />

ganz sicher nicht aus der Katechese kennen. Sein Jesusbild, oder besser:<br />

Christusbild, ist nicht der von Anfang an dagewesene Mensch und Gott in<br />

einem, sondern es ist das Bild eines Menschen, der sich wegen seiner<br />

göttlichen Berufung in der Krise befindet. Dennoch gibt es einige<br />

Unterschiede zwischen dem Buch von Kazantzakis und dem Film von<br />

Scorsese:<br />

1. Kazantzakis’ Jesus macht einen geradlinigen Bewusstseinsprozess zum<br />

Christus-Sein durch. Er wird sich im Unterschied zum Jesus bei Scorsese,<br />

der ständig hin und her laviert, seiner göttlichen Sendung immer mehr<br />

123


ewusst. Trotz seinen inneren Ängsten, empfindet er seinen (göttlichen)<br />

Auftrag als etwas Positives; „Jesus lächelte” steht an manchen Stellen im<br />

Roman, wenn von Jesus als dem Messias die Rede ist. Kazantzakis Jesus<br />

wird als ein Mensch gezeigt, der, obwohl innerlich unausgeglichen, doch viel<br />

fröhlicher wirkt. Er hat einen „optimistischeren” Glauben, was zugleich<br />

andeutet, dass der Glaube Jesu im Roman doch eine wichtigere Rolle spielt.<br />

Scorseses Jesus zeigt viel weniger Vertrauen zu Gott.<br />

2. Das Bild Gottes bei Kazantzakis gegenüber dem bei Scorsese ist auch<br />

nicht so negativ; Jesus zeigt eher Vertrauen gegenüber ihm: „Gott ist nicht<br />

nur gerecht, er ist auch gut; er ist nicht nur gut, er ist auch Vater.” 81 Jesus im<br />

Roman verkündet Liebe, Glaube an Gott und dies auch erfolgreich, was bei<br />

Scorseses Jesus nicht der Fall ist.<br />

3. Jesus im Roman wird auch als „Prophet in eigenem Land” dargestellt,<br />

nicht nur deswegen, weil er für die Römer Kreuze zimmert. Er fühlt sich auch<br />

sonst von den Menschen unverstanden.<br />

4. Während die Liebe im Film von Jesus verbalisiert aber kaum gezeigt wird,<br />

kommt sie im Roman viel stärker zur Geltung. Kazantzakis’ Jesus hat oft<br />

Mitleid mit Menschen, während Scorseses Jesus fast ausschliesslich an sich<br />

selbst leidet und voller Aggressivität ist (weswegen er als eine typische Figur<br />

seiner Filme bezeichnet wird und auch wenig ernst genommen wird).<br />

81 Vgl. KAZANTZAKIS, Nikos: Die letzte Versuchung. Berlin 1998, S. 200.<br />

124


5. Während Jesus im Film ohne Botschaft bleibt, die er seiner Jünger-<br />

Gruppe weitergeben könnte, hat Jesus im Buch eine ganz klare Aufgabe,<br />

seine Lehre und den Glauben an Gott an die Jünger weiterzugeben.<br />

6. Den Jüngern Jesu räumt Kazantzakis viel mehr Platz und Bedeutung<br />

ein. Obwohl seine Jüngergruppe nicht der biblischen entspricht, hat sie eine<br />

klare Aufgabe von Jesus bekommen – seine Lehre weiterzugeben. Der<br />

Evangelist Matthäus beispielsweise, eine wichtige Person im Buch, die alles<br />

Geschehen um Jesus aufschreibt, fällt im Film völlig aus. Ähnlich die<br />

Gestalten von Thomas oder Petrus, die nur als Kulisse zusammen mit der<br />

Jüngertruppe im Film dienen. Die Zusammengehörigkeit der Jünger wird<br />

nicht positiv gezeigt und wenn, dann zeigt Scorsese eine unsichere und an<br />

Jesus zweifelnde Gruppe. Ausserdem, kommt im Film kaum zum Ausdruck,<br />

dass nicht nur viele Jünger, sondern auch viele Menschen an Jesus als dem<br />

Messias glauben. Nur Judas, die wichtigste Person in der Beziehung zu<br />

Jesus, wird mit seiner Aufgabe und seinem Charakter vom Buch ziemlich<br />

treu übernommen. Einen Unterschied zwischen dem Judas bei Kazanzakis<br />

und Scorsese gibt es trotzdem: während Scorsese die Jüngergruppe fast<br />

nur auf Judas reduziert, fühlt sich Kazanzakis’ Judas wegen seines<br />

Denkens und Handelns eher als Aussenseiter. Obwohl die Darstellung<br />

anderer Hauptfiguren neben Jesus, wie sie bei Kazantzakis beschrieben<br />

werden, heute oft als „stereotyp” bezeichnet werden können, ist in dieser<br />

Hinsicht Scorsese Kazantzakis ebenso treu wie Pasolini Matthäus: auch in<br />

Scorseses Film ist Judas der notwendige Verräter, ohne den es keine<br />

Erlösung gäbe und Maria Magdalena eine Prostituierte, die wegen Jesus ein<br />

unmoralisches Leben führen muss.<br />

125


7. Gott hat Jesus die Kreuzigung nur offenbart, er hat sie nicht erzwungen.<br />

<strong>Im</strong> Buch wird sie auch klarer als das Ergebnis der Konflikte mit den<br />

Pharisäern gezeigt.<br />

<strong>Im</strong> allgemeinen kann man feststellen, dass Scorsese seine Gottes-<br />

und Jesusdarstellung gegenüber der von Kazantzakis immer ein wenig<br />

extremer und übertriebener zeichnet.<br />

2.8.3. Das Problem der Historisierung<br />

Da Scorsese kein Interesse an einer (eindeutigen) Aktualisierung des<br />

Jesus-Geschehens zeigt, ergeben sich für den Zuschauer noch zusätzliche<br />

Probleme. Die beschriebene Historisierung in Scorseses Film ist so stark,<br />

dass sie den Zuschauer noch zusätzlich motiviert, einen Bezug zur Bibel zu<br />

suchen, als es bei einer Aktualisierung der Fall wäre. Dies erweist sich als<br />

ein störender Faktor in der Rezeption dieses Films. Die vielen<br />

Missverständnisse und Proteste bestätigen diese Annahme.<br />

Die Historisierung trägt auch dazu bei, dass die „völlig gegen Tradition<br />

und Geschichte” (nicht nur Historizität) gerichteten Bilder in The Last<br />

Temptation of Christ auch um so schokierender wirken können: Jesus wird<br />

von Judas geschlagen, Jesus schläft mit Maria Magdalena und hat eigene<br />

Kinder, Jesus bezeichnet Gott als Luzifer, Jesus zimmert Kreuze usw. Wenn<br />

die Gründe für die Proteste näher betrachtet werden, stellt man fest, dass<br />

es unter anderem auch diese Bilder sind, die mit den Bildern, die das<br />

Publikum von Jesus im biblisch vorgeprägten Bewusstsein hat, mit<br />

Scorseses Darstellungen schnell in Konflikt geraten können. Deshalb kann<br />

126


ich mir gut vorstellen, dass die Intention Scorseses, die an und für sich<br />

nichts Negatives in sich trägt, in der historisierenden Ausführung zu einem<br />

störenden Faktor bei der Rezeption geworden ist.<br />

2.8.4. Der Titel des Films<br />

Nich weniger verwirrend in diesem Zusammenhang ist der Titel des<br />

Films. Während das Buch Die letzte Versuchung heisst, heisst der Film Die<br />

letzte Versuchung Christi. Scorsese hat somit eine Gewichtsverschiebung<br />

von der Versuchung eines Menschen allgemein zur Versuchung Christi<br />

gemacht, was ganz sicher auch zu den Protesten und Missverständnissen<br />

beigetragen hatte. Dabei könnte der Film viel mehr einerseits von Christus<br />

als einem Menschen aussagen und andererseits von einem Menschen ganz<br />

allgemein.<br />

Scorsese sagt zwar ganz klar mit den Worten von Kazantzakis im<br />

Vorspann, dass das Geheimnis des doppelten Wesens Christi für immer ein<br />

Geheimnis bleiben wird (Sq.1) und betont zugleich die subjektive Sicht nicht<br />

nur an Christus als am Geheimnis des doppelten Wesens, sondern auch an<br />

einem Menschen. In erster Linie provoziert er zwar Fragen: Wie war es<br />

eigentlich mit dem Gottessohn seiner Identität? Jesus hatte sehr<br />

wahrscheinlich ein anderes Gott-Bewusstsein als Kind und ein anderes als<br />

ein Erwachsener Mensch. Diese Fragen werden zwar im Film implizit<br />

gestellt. Ihre Wahrnehmung wird aber auch erschwert, da schon im Titel des<br />

Films auf Christus aufmerksam gemacht wird, womit dem Publikum<br />

automatisch die traditionellen, bekannten Bilder von Christus in Erinnerung<br />

gerufen werden.<br />

127


Doch Scorseses Film könnte auch als eine „Studie des Menschen”<br />

überhaupt verstanden werden, inerhalb derer er implizit die Grundfragen<br />

nach dem Ursprung und dem Sinn der menschlichen Existenz stellt und<br />

diese als eine bewusste Provokation des Publikums formuliert. Somit kann<br />

die „Schock-Inszenierung” Scorseses mit der Betonung der „Grausamkeit”<br />

der christlichen Symbolik 82 und die „Grausamkeit” Gottes als Kritik der<br />

Religiosität verstanden werden. Es geht um die Kritik dessen, was Menschen<br />

aus Gott und aus Jesus gemacht haben und zugleich um die Aufforderung<br />

zur Frage, wie mein persönliches Bild von Gott und Jesus aussieht: Ist es ein<br />

Gott, der bestraft, der nur Gerechtigkeit und keine Gnade will?... Wie wäre<br />

es, wenn Gott tatsächlich so wäre? Oder ganz konkret mit den Worten Jesu,<br />

als er seine Jünger fragte: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?” Auch in diesen<br />

Fragen kann sich der Titel des Films aus denselben Gründen eher als ein<br />

Faktor erweisen, der sie schwieriger wahrnehmbar macht.<br />

DRITTER TEIL:<br />

Jesus Christus in Arcands Jésus de Montréal<br />

3.1. Charakteristik und Angaben zum Film<br />

Nur ein Jahr nach der Uraufführung des „Skandalfilms” The Last<br />

Temptation of Christ, der schon im Vorfeld hohe Welle der Empörung<br />

geworfen hatte, wurde 1989 wieder ein neuer Jesus in der Kino-Welt<br />

geboren. Dieser aber stammt aus Kanada: Jésus de Montréal des<br />

82 Vgl. GRE<strong>IN</strong>ER, Ulrich: Die Letzte Versuchung Christi. Eine gekürzte Filmkritik,<br />

übenommen von Die Zeit. 11.11.1988. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur<br />

Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 69f.<br />

128


Regisseurs Denys Arcand. Es ist ein Film, der eine Transfiguration Jesu<br />

Christi in die Gegenwart zeigt und der in die Geschichte der Jesusfilme als<br />

einer der bedeutendsten seiner Tradition eingegangen ist.<br />

Jésus de Montréal, dessen Geschichte in der kanadischen Metropole<br />

und im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern in der Gegenwart spielt,<br />

hat eine Länge von 119 Min. 83<br />

und ist überwiegend in Anlehnung an das<br />

Markus-Evangelium inszeniert worden.<br />

Die Parabel von Denys Arcand, ein gesellschaftskritisches Melodram,<br />

wie es offiziell angekündigt wird, ist im Mai 1989 anlässlich des<br />

Internationalen Filmfestivals in Cannes uraufgeführt worden und gleich zu<br />

Beginn des Jahres 1990 ist der Film auch im deutschsprachigen Raum einer<br />

breiten Öffentlichkeit unter dem Titel Jesus von Montreal vorgestellt<br />

worden 84 . Am Fernsehen ist der Film mehrere Male gezeigt worden, wobei<br />

die letzte Fernsehaufführung im deutschsprachigen Raum beim Sender<br />

Schweiz 4 am 28. März 1997 registriert worden ist.<br />

3.2. Die Handlung<br />

Der arbeitslose junge Schauspieler Daniel Coulombe kehrt nach<br />

Montreal zurück und nimmt das Angebot vom Pater Leclerc an, die schon<br />

längst veralteten Passionspiele ein bischen „aufzufrischen” und sie neu zu<br />

inszenieren. Daniel beginnt über die Person Jesu Christi zu recherchieren<br />

und integriert die neuesten Kenntnisse der Theologie und Archäologie in<br />

seine Version der Passionsspiele, wobei er selber die Hauptrolle von Jesus<br />

83 Angaben nach:<br />

Vgl. Jesus im Film – Eine Auswahlfilmographie. In: film-dienst EXTRA, Jesus in der<br />

Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 84.<br />

84 Vgl. JACOBI, Reinhold: (Fehl-)Versuch am lebenden Objekt. Reflexion über ein heikles<br />

Thema: Filmkritik. In: film-dienst 11,1990, S. 10-13.<br />

129


übernimmt. Er schart ein paar Kollegen um sich und stellt eine kleine<br />

Schauspiel-Truppe zusammen, die das neuverfasste Passionsspiel im<br />

Garten des Wallfahrtsortes am Hügel von Mont Royal, wo Pater Leclerc der<br />

zuständige Pfarrer ist, zum ersten Mal spielt. Da die „Auffrischung” des<br />

traditionellen Passionsspieles so gründlich ist, dass sie mit der offiziellen<br />

kirchlichen Lehre nichts mehr gemeinsam hat, will Pater Leclerc dafür nicht<br />

mehr die Verantwortung übernehmen und verlangt trotz des<br />

überwältigendem Publikumserfolgs, das Spiel vom Programm abzusetzen<br />

und die alte Version des Spieles wieder aufzuführen. Die ersten<br />

Spannungen zwischen dem Regisseur und Hauptdarsteller Daniel Coulombe<br />

und der kirchlichen Obrigkeit nehmen ihren Lauf. Schon bald nehmen sie an<br />

Intensität so sehr zu, dass das Spiel von der Kirche einfach verboten wird.<br />

Die inzwischen gut aufeinander eingespielte Truppe von insgesammt fünf<br />

Schauspielern, die aus verschiedenen Medien-Berufen stammen und dank<br />

diesem Passionspiel einen neuen Sinn in ihrem Leben gefunden haben,<br />

lehnt das Verbot selbstverständlich ab. Sie wagen es, das dokumentarisch<br />

inszenierte Passionsspiel ohne Erlaubnis wieder aufzuführen – zum letzten<br />

Mal. Während der Kreuzigungsszene macht sich Unruhe unter dem<br />

gerührten Publikum breit. Die Ordnungskräfte mischen sich ein und wollen<br />

das Spiel definitiv beenden. Die empörten Zuschauer verteidigen aber ihr<br />

Recht auf Fortsetzung des Spieles so vehement, dass es zu einem<br />

Handgemenge zwischen ihnen und einigen Zuschauern kommt. Dabei wird<br />

das Kreuz umgestossen und drückt mit seinem ganzen Gewicht den auf<br />

diesem hängenden Jesus-Darsteller Daniel zu Boden. Er erleidet dabei<br />

schwere Kopfverletzungen und wird sofort ins Krankenhaus gebracht, wo er<br />

wieder sein Bewusstsein findet, bevor er behandelt werden soll. Es scheint<br />

130


ihm plötzlich besser zu gehen und er begibt sich in Begleitung der beiden<br />

Schauspielerinnen Constanze und Mireille auf den Weg nach Hause. In<br />

einer U-Bahn-Station wird er aber plötzlich von einer apokalyptischen Vision<br />

ergriffen. Sein Zustand verschlechtert sich schlagartig wieder, er bricht<br />

zusammen und stirbt kurz danach in einem jüdischen Krankenhaus. Seine<br />

jungen noch lebenstüchtigen Organe werden ihm nach seinem Tod<br />

entnommen, transplantiert und verhelfen Kranken zu neuem Leben. Die<br />

Schauspiel-Kollegen Daniels gründen nach seinem Tod ein offizielles<br />

Theater, das seinen Namen trägt. Daniels Leben geht trotz seinem Tod<br />

weiter.<br />

3.3. Kritik und Reaktion des Publikums<br />

Insgesamt kann man feststellen, dass der Film keine grossen<br />

Diskussionen verursacht hat. Allerdings ist er auch unterschiedlich rezipiert<br />

worden. Er ist weder ein Skandal-Film geworden, noch hat er keine „Nicht-<br />

Reaktion” wie Pasolinis Jesusfilm hervorgerufen. Er wurde aber auch nicht<br />

zu einem Kassen-Schlager, woraus man aber noch nicht schliessen darf, es<br />

handle sich um einen mittelmässigen Jesusfilm.<br />

Der erste öffentliche Auftritt von Jésus de Montréal in Cannes 1989 ist<br />

gleich zweifach ausgezeichnet worden: mit dem Preis der Internationalen<br />

Jury für den originellsten Film und mit dem Preis der ökumenischen Jury 85 .<br />

Die katholische Filmkritik hat ihm ihre Sympatien auch mit dem Kinotip der<br />

Katholischen Filmkritik 1990 zum Ausdruck gebracht 86 . Ausserdem hat sich<br />

85 Angaben nach:<br />

Vgl. GASPER, Hans: Passionsspiel mit Menschensohn. Jesus von Montreal von Denys<br />

Arcand (1989). In: HASENBERG, Peter; LULEY, Wolfgang; MARTIG, Charles (Hrsg.):<br />

Spuren des Religiösen im Film. Meilensteine aus 100 Jahre Kinogeschichte. Mainz, Köln<br />

1995, S. 115.<br />

86 Vgl. Ebda.<br />

131


der Film zahlreicher anderer Anerkennungen erfreuen können, denn es ist<br />

von Jésus de Montréal oft in Superlativen geschrieben worden:<br />

„Gleichwohl ist ‘Jesus von Montreal’ eine anspruchsvolle<br />

Auseinandersetzung mit Jesus von hohem künstlerischem Format<br />

und vielleicht der unterhaltsamste aller bisherigen Jesus-Filme.” 87<br />

„Eine ästhetisch überzeugende und intellektuell geschliffene<br />

Auseinandersetzung mit der Botschaft Jesu.” 88<br />

„’Jesus von Montreal’ – ein Jesusfilm, den man gesehen haben<br />

‘muss’!” 89<br />

Auch die offiziellen kirchlichen Reaktionen seien begeisternd gewesen,<br />

was eigentlich wegen den zahlreichen Provokationen im Film sehr<br />

überraschend ist. Sogar die fundamentalistischen Kreise hätten den Film mit<br />

grosser Anerkennung angenommen, so dass der Regisseur selber sich<br />

fragen musste, ob er wohl etwas falsch gemacht habe 90 . Doch trotz den<br />

besten Kritiken der christlichen Kreise ist Arcands Jésus de Montréal auch<br />

als ein Film bezeichnet worden, dem es an der spiriuellen Tiefe fehlt 91 .<br />

Eine völlig andere Rezeption von Arcands Film konnte zur Zeit des<br />

eigentlichen Kinostarts von Jésus de Montréal in Deutschland seitens der<br />

„profanen” Filmkritik festgestellt werden, wie es Jacobi aufgrund seiner<br />

Recherche konstatieren konnte 92 . Der Film sei überhaupt nicht verstanden<br />

worden, es habe sogar auch abschätzige Kommentare gegeben. Diese<br />

unkompetente Kritik bei den bedeutendsten Presse-Titeln Deutschlands sei<br />

87 Vgl. Ebda.<br />

88<br />

Vgl. Jesus im Film – Eine Auswahlfilmographie. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der<br />

Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 84.<br />

89 Vgl. LANGENHORST, Georg: Jesus ging nach Hollywood. Düsseldorf 1998, S.208.<br />

90 Vgl. Jésus-Christ, star de cinéma.SRG, TSR1, 2.4.1999. Realisateur Martin Goodsmith.<br />

91 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S. 42.<br />

92 Vgl. JACOBI, Reinhold: (Fehl-)Versuch am lebenden Objekt. Reflexion über ein heikles<br />

Thema: Filmkritik. In: film-dienst 11, 1990, S. 10-13.<br />

132


teilweise dafür verantwortlich gewesen, dass der Film in den ersten zwei<br />

Monaten Laufzeit eine zu kleine Zuschauerzahl in die Kinos geholt hatte.<br />

„Gähnende Leere” solle sich verbreitet haben, obwohl der Film „(…) in den<br />

ersten Wochen in einer Reihe bester Programmkinos (Deuschlands)<br />

gelandet sei” 93 . Die Ursache für diese Unkompetenz sind im fehlenden Code<br />

zu suchen, der für die Rezeption einer Transfiguration notwendig ist und<br />

über den die „Fachleute” einfach nicht verfügt haben.<br />

3.4. Intention<br />

Denys Arcand konfrontiert in Jésus de Montréal die biblische<br />

Überlieferung mit den Widersprüchen der heutigen Gesellschaft. Als Plot für<br />

seinen Film nimmt er die Evangelien und darunter besonders das Markus-<br />

Evangelium 94 . Dabei interessiert er sich nicht für eine Evangeliumsverfilmung<br />

wie Pasolini, sondern stellt sich die Frage, was aus der Botschaft Jesu<br />

Christi bis heute noch übrig geblieben ist. Dieses führt Arcand in der Form<br />

der Transfiguration Jesu Christi durch, indem er:<br />

1. zahlreiche Parallelen von heute zu den Evangelien-Geschehnissen findet,<br />

und zwar in der zivilen Gesellschaft und in den Kirchenstrukturen – daher die<br />

scharfe Gesellschaftskritik und die Kirchenkritik im Film;<br />

2. die Geschichte Jesu vor zweitausend Jahren aus einer neuen Sicht<br />

aufzuhellen versucht – daher das dokumentarische Passionsspiel.<br />

Dabei stellt er nicht in erster Linie Jesus, den Sohn Gottes, ins<br />

Zentrum des filmischen Geschehens, sondern Jesus, den Propheten. Es ist<br />

93 Vgl. JACOBI, Reinhold: (Fehl-)Versuch am lebenden Objekt. Reflexion über ein heikles<br />

Thema: Filmkritik. In: film-dienst 11 (1990), S. 10-13.<br />

94 Vgl. BIEGER, Eckhard: „Jesus von Montreal” – Ansätze zur Interpretation und Analyse. In:<br />

film-dienst Extra, Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme.<br />

November 1992, S. 71.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.18.<br />

133


aber im Film auch die Christus-Figur identifizierbar, wie ich sie im zweiten<br />

Kapitel erleuchtet habe. Dementsprechend entscheidet sich Arcand<br />

innerhalb der Tradition von Transfiguration für zwei scheinbar autonome<br />

Handlungen, die er entwickeln lässt und in denen Jesus die Hauptrolle spielt:<br />

1. das Passionsspiel, wo Daniel Coulombe die Rolle Jesu übernimmt, und<br />

das dem Zuschauer einen Schlüssel zum Lesen der persönliche Geschichte<br />

von Daniel bietet;<br />

2. die persönliche Geschichte von Daniel Coulombe, welche die Dynamik<br />

des Christus-Ereignisses innerhalb des Films annimmt.<br />

In diesen beiden Handlungen thematisiert Arcand einen Jesus, der<br />

historisch nachweisbar ist und einen Christus, der Gegenstand des<br />

Glaubens ist.<br />

3.5. Das Passionsspiel<br />

<strong>Im</strong> filmischen Lebensabschnitt Daniels ist die Geschichte des Jesus<br />

von Nazaret eingebaut (Sq.13, 20, 28). Sie hat das Antlitz eines<br />

dokumentarischen Passionsspieles, das die historische Dimension Jesu von<br />

Nazaret dem Publikum näher bringen soll und ihm eine Art<br />

Gesellschaftspiegel vorhält. Das Passionsspiel entspricht einer indirekten<br />

Erzählweise im doppelten Sinn:<br />

1. Innerhalb des Passionsspiels wird über Jesus von Nazaret indirekt<br />

erzählt: der Teilnehmer an diesem Passionsspiel und auch der Zuschauer<br />

selber wird hier von Moderatoren begleitet, die gleichzeitig auch andere<br />

Rollen im Spiel übernehmen. Sie liefern einige Forschungsergebnisse zur<br />

Person Jesu und sorgen dafür, dass der Zuschauer auch richtig eingestimmt<br />

134


ist für die inszenierten Auschnitte aus dem Leben Jesu und orientieren den<br />

Zuschauer über das sich gerade Abgespielte. Die einzelnen Szenen werden<br />

mit erklärenden Kommentaren zur Historizität miteinander verbunden.<br />

2. <strong>Im</strong> Kontext des ganzen Films wird Jesus von Nazaret auch durch das<br />

Passionsspiel als solches auf eine indirekte Art dargestellt (es ist das Spiel,<br />

das von ihm erzählt, nicht der Film).<br />

In sein Passionsspiel integriert Arcand folgende Szenen: das Verhör<br />

vor Pilatus, den Kreuzweg, die Kreuzigung und Auferstehung, Ursprung und<br />

Stammbaum Jesu, sowie seine Taten und Reden, die miteinander<br />

verflochten werden. Dazu gehören Wunder (Gang auf dem Wasser, Heilung<br />

eines Blinden, Auferweckung eines Toten, Speisung der Viertausend) und<br />

Reden (Bergpredigt, Rede Jesu gegen die Pharisäer). Dabei lässt sich<br />

Jesus als „Menschensohn” erkennen. Nicht zu übersehen ist dabei das Bild<br />

von ihm, welches dieses Spiel durch die Inszenierung und besonders durch<br />

den Kommentar vermittelt.<br />

3.5.1. Jesus des Theaters<br />

Die einzelnen Szenen des Passionsspiels sind ganz im Sinne der<br />

christlichen Tradition inszeniert und ebenso die Verhaltensweise von Jesus-<br />

Daniel, die auch nicht so sehr von der Tradition abweicht. Er ist sanft, wenn<br />

er Wunder tut, steht Menschen sehr nahe, wenn er sie speist, predigt sehr<br />

emotional, wenn es um die Pharisäer geht. Als Typ trägt Jesus-Daniel auch<br />

einige Züge von Pasolinis Jesus-Irazoqui: er hat ebenfalls ein eher schmales<br />

Gesicht, stark ausgeprägte Augenbrauen und trägt ein weisses Gewand.<br />

135


Von der körperlichen Konstitution her ist auch Arcands Jesus nicht sehr<br />

gross, wirkt eher verletzlich und geht mit schauspielerischen Mitteln sehr<br />

sparsam um. <strong>Im</strong> Unterschied zu Pasolinis Jesus, der für das „Heiligtum” des<br />

Matthäus-Evangeliums steht, hat aber Arcands Gesamtbild von Jesus, das<br />

durch den Kommentar vermittelt wird, gar nichts mehr gemeinsam mit der<br />

christlichen Tradition (Sq.13). Es stimmt überhaupt nicht mit dem Bild<br />

überein, das die Zuschauer von der Katechese oder der kichlichen Lehre her<br />

kennen 95 . Arcand greift jedes Dogma und jede naive, süssliche<br />

Vorstellungsweise von Jesus Christus an und legt dabei vor allem Wert auf<br />

die moralische Haltung dieses besonderen Menschen. Mit den<br />

Kommentaren hilft sich Arcand aus, um die mangelnden Informationen aus<br />

den Evangelien zu thematisieren, er gibt diese Lücken einfach zu und<br />

braucht dabei dem Zusachauer nichts vorzuspielen. So löst er das Problem<br />

der heutigen Vorstellungen der Menschen von Jesus. Er schildert kurz die<br />

Entwicklung der Darstellungsweisen Jesu Christi sowie die damaligen<br />

Gebräuche im Zusammehang mit der Geisselung oder Kreuzigung. Arcand<br />

entgeht somit der Gefahr, ein „echtes” Bild und eine Biographie von Jesus<br />

von Nazaret liefern zu müssen. Die Gottessohnschaft interessiert ihn in<br />

diesem Spiel nicht, ja mehr noch, er leugnet sie.<br />

95 Jesus wird zu keinem Sohn Gottes – er sei Sohn eines römischen Soldaten; Maria wird zu<br />

keiner unbefleckten von Gott auserwählten Mutter seines Sohnes – sie sei eine ledige<br />

Mutter, die sich mit dem Soldaten Ben Pantera eingelassen hat; Jesus war ein Magier, wie<br />

damals viele andere – er habe die Magie in Ägypten gelernt; auferstanden ist Jesus erst<br />

nach fünf, zehn Jahren oder sogar mehr... Diesbezüglich hat Reinhold Zwick eine Kritik an<br />

Arcands historischen Recherchierarbeiten ausgeübt. Er wirft ihm eine gewisse<br />

Oberflächlichkeit vor, da Arcand ein gelernter Historiker sei und an einen solchen könne man<br />

schon grössere Ansprüche an Präzision haben. Zu den von Arcand gestellten Thesen zur<br />

historischen Person Jesus von Nazaret hat Zwick gleich Antithesen geliefert, die Arcands<br />

Thesen zwar nicht widerrufen, die aber mindestens grosse Zweifel an diesen erwecken.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.17-47.<br />

136


3.5.2. Der dokumentarische Stil<br />

Das Theater wird nicht als ein Ganzes gezeigt, sondern<br />

fragmentarisch aufgeführt (Sequenzbeschrieb zum Film, Beilage Nr. 9;<br />

Sq.13, 20, 28). Die einzelnen Szenen innerhalb von Spielsequenzen<br />

wechseln immer wieder ihren Platz und spielen sich an einem anderen Ort<br />

ab: das Verhör vor der Kirche, die Geisselung und Kreuzigung abseits der<br />

Kirche, die Wunder wieder auf einem anderen Ort, die Grabszene und<br />

Auferstehung unterhalb der Kirche usw. (Sq.13). Die Moderatoren führen<br />

das Publikum von einem Ort zum anderen und lassen dabei das Gefühl<br />

aufkommen, das Publikum sei das Volk, das Jesus begleitet. Es ist ständig<br />

unterwegs (was an die Inszenierung vom Pasolinis Jesusfilm erinnert) und<br />

an bestimmten Stellen wird auch der Zuschauer zum Teilnehmer dieses<br />

Spiels gemacht (wieder ein Element aus Pasolinis Inszenierung); so etwa bei<br />

der „Station der Wunder”, wo der Zuschauer nicht mehr das Publikum des<br />

Theaters spürt, sondern direkt in das Spiel hieneingenommen wird. Dieses<br />

Gefühl einer direkten Teilnahme des Zuschauers am Passionsspiel wird aber<br />

immer wieder unterbrochen: einmal sind es die sich beeilenden<br />

Schauspieler, die während der Verschiebung des Publikums ihre Kostüme<br />

wechseln müssen, einmal ist es die Frau, die Jesus um Vergebung bittet, ein<br />

anderes Mal ist es der Ordnungshüter, der dem Publikum den Weg zur<br />

nächsten Station weist, oder auch die unmittelbaren Reaktionen des<br />

Publikums während des Spiels. Das auf diese Weise inszenierte<br />

Passionsspiel erfüllt im Film somit gleich mehrere Aufgaben.<br />

3.5.3. Die Funktionen des Passionsspiels<br />

Ausser der Tatsache, dass das Spiel als eine Gegenreaktion des<br />

137


Regisseurs auf alle bisher inszenierten Passionsspiele und Jesusfilme<br />

betrachtet werden kann, geht die Rolle des Passionsspiels in diesem Film<br />

weit über ein gewöhnliches Theaterspiel hinaus:<br />

1. Das Passionsspiel wird zum Schlüssel für die Deutung der persönlicher<br />

Geschichte von Daniel Coulombe. Es erinnert an Griffits Intolerance, wo die<br />

Episoden aus den Evangelien als Anweisung zur Auslegung von anderen<br />

Film-Episoden dienten. Das Passionsspiel von Arcand legt wichtige<br />

Anhaltspunkte zum Verständnis der Geschichte von Daniel dar und liefert<br />

dazu auch den Hintergrund für die entscheidende Rolle bei der Identifikation<br />

der Christus Figur im Film.<br />

2. Das Passionspiel als Mittel gegen Tradition – Dank der<br />

dokumentarischen Inszenierung des Passionsspiels wirken auch die Stellen<br />

der Evangelien, welche ich im ersten Kapitel als die schwierigsten für die<br />

Verfilmung bezeichnet habe, akzeptabel: die Kreuzigung, die Wunder und<br />

die Reden Jesu. Vor allem ist dies eine gute Lösung, diese Stellen des<br />

Evangeliums auf der Ebene des Passionsspiels darzustellen, da der<br />

Zuschauer nicht getäuscht werden kann, dass das sich gerade Abgespielte<br />

dem Geschehen vor 2000 Jahren wirklich entspricht. Diese Annahme wird<br />

mit der dokumentarischen Inszenierung noch einmal abgeschwächt.<br />

Arcand inszeniert die Kreuzigung und Wunder im Passionsspiel<br />

(Sq.13) traditionell und mit Präzision: er lässt Jesus tatsächlich geisseln, er<br />

lässt ihn das Kreuz tragen, ihn ans Kreuz fesseln, sogar ein Nagel wird in<br />

einer Detailaufnahme ins Kreuz geschlagen. Jesus geht auf dem Wasser,<br />

heilt einen Blinden, weckt einen Toten auf – alles verläuft genau so, wie es in<br />

138


der Vorstellung der Gläubigen lebendig ist. Aber diese Tradition, diese<br />

Abbildung und vorgemachte Authentizität wird immer wieder unterbrochen:<br />

das geschieht mittels des schon erwähnten Kommentars, der entweder als<br />

Einzeleinheit (Ursprung Jesu, Auferstehung), Begleitkommentar (Geisselung,<br />

Kreuzigung) oder als Einführungskommentar (Wunder) eingesetzt wird.<br />

Der Kommentar schildert die biblischen an und für sich schrecklichen<br />

Geschehnisse als ein ganz normales und gewöhnliches Vorgehen von<br />

damals. Dies wird etwa in dem Sinne kommentiert, Jesus sei ja nicht der<br />

einzige Gekreuzigte gewesen, für andere Menschen sei die Kreuzigung ein<br />

Ereignis gewesen, etwa wie heute, wenn Neugierige an blutigen<br />

Autounfallstellen zuschauen. Mit ähnlichen Worten, die das Bild begleiten,<br />

hält Arcand das Theater-Publikum und die Zuschauer immer mit beiden<br />

Beinen auf dem Boden der Realität. Mit dieser Erzählweise beugt er dabei<br />

vielen peinlichen Momenten im Film vor, die in zahlreichen direkten<br />

Jesusfilmen immer wieder vorkommen, nämlich das Bemühen um<br />

Authentizität in einer möglichst realistischen Inszenierung. So ist die<br />

Geisselung, der Kreuzweg und die Kreuzigung gezeigt, wo für Gefühle und<br />

Anteilnahme nicht der Jesus-Darsteller sorgen muss, sondern die<br />

ErzählerInnen.<br />

Auch bei den Wundern gibt Arcand einfach zu, dass sie jetzt gerade<br />

gespielt werden und der Zuschauer macht bei diesem Spiel gerne mit. Er<br />

wird sogar positiv überrascht sein, da sie rein optisch plötzlich nicht störend<br />

wirken, sondern akzeptabel. Auf jeden Fall macht aber hier wieder der<br />

Einführungskommentar der beiden Frauen viel aus. Er stellt die Wunder<br />

einfach als blosse Zaubereien Jesu dar und Jesus als einen Propheten, der<br />

139


dank seiner Magie an Popularität gewinnt 96 . Aber Arcand bleibt mit seinen<br />

Jesus-Wundern nicht auf der Ebene der Zauberei stehen, denn die<br />

Inszenierung seiner Wunder entspricht nicht der Magie; die Wunder werden<br />

wieder als ein „ganz normales Vorgehen” Jesu völlig traditionell aufgeführt.<br />

Ein weiteres Mittel, das die angenommene Theaterrealität unterbricht,<br />

ist etwa das Einbeziehen vom Publikum ins Theatergeschehen (am<br />

besten bemerkbar in der Sq.13) – die Frau, die Jesus vor Gefahren zu<br />

warnen versucht, die Medienfrau mit dem Schauspiel-Kollegen von Daniel,<br />

den sie schliesslich doch für ihre Parfümwerbung kriegt, wo der Zusachauer<br />

aus der Theaterrealität wieder in die Filmrealität zurückversetzt wird und<br />

somit darauf aufmerksam gemacht wird, das er sich in einer<br />

Theateraufführung befindet.<br />

Mit diesen Mitteln durchgeführt wirken die Szenen aus dem Leben<br />

Jesu einerseits sehr authentisch und überzeugend, andererseits sind sie<br />

einigermassen verfremdet, was sicher auch ihr Ziel war und was wieder eine<br />

wichtige Rolle bei der Deutung der Geschichte Daniels spielt.<br />

3. Das Passionsspiel als Mittel zur Aktualisierung – Das Passionsspiel<br />

stellt dem Theaterpublikum und dem Zuschauer in seiner aktualisierten Form<br />

eine Art Gesellschaftsspiegel vor und fordert zugleich zur Reflexion über<br />

eigene Haltungen zu Jesus und seiner Botschaft auf. Es weckt Gefühle und<br />

sorgt dank der aktualisierten Form für Distanz. Es gibt Anstoss zum<br />

Nachdenken, bleibt aber für eigene Gedanken des Zuschauers offen. Es<br />

96 Deswegen wird Arcand auch kritisiert, weil er die Wunder eigentlich „gegen die biblische<br />

Überlieferung inszeniert.”<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.17-47.<br />

140


drängt dem Zuschauer nicht eine einzige gültige Meinung auf und wirkt somit<br />

im Kontext des ganzen Films als ein Raum, wo die Gegenhaltungen<br />

miteinander konfrontiert werden können und wo es auch Platz zur<br />

Eigenkonfrontation mit diesen gibt 97 . Arcand nutzt es als Mittel zu einer<br />

expliziten Kritik und gibt somit seinem Passionsspiel die ursprüngliche<br />

Funktion dieser Tradition zurück (vgl. das erste Kapitel). Besonders wirksam<br />

sind diesbezüglich Worte Jesu gegen die Pharisäer, die der Jesus-Darsteller<br />

Daniel Pater Leclerc sowie seinen Kollegen adressiert (Sq.20).<br />

4. Passionsspiel als Ankündigungsmittel – Das Passionsspiel wird ja<br />

innerhalb der Daniel-Handlung aufgeführt und sicher nicht zufällig<br />

fragmentarisch. Aus dem Sequenzbeschrieb (Beilage Nr. 9) ist zu<br />

entnehmen, dass die Szenen des Passionsspiels in drei grösseren Einheiten<br />

gezeigt werden, die zeitlich immer kürzer werden:<br />

In den ersten Abschnitt (Sq.13) ordnet Arcand:<br />

Verhör vor Pilatus – Kommentar zum Ursprung von Jesus – Kommentar zu<br />

den Wundern – Predigt mit einigen eingebauten Wundern – Kommentar zur<br />

Geisselung, zum Kreuzweg und zur Kreuzigung – Kommentar zum Tod<br />

Christi – die Auferstehung – die Bildung der ersten Christgemeinde und<br />

Verkündigug der Botschaft Jesu (nur Liebe, nicht die Gottessohnschaft) –<br />

Das Warten auf das zweite Kommen Christi.<br />

Der zweite Abschnitt (Sq.20) umfasst:<br />

Rede Jesu gegen das Pharisäertum – Kreuzigung, Jesus am Kreuz<br />

hängend.<br />

97 Vgl. HUBER, Otto: Stärker als der Tod... oder: Kann man Erlösung spielen? –<br />

Passionsspiel und Jesus-Film. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur<br />

Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 24-27.<br />

141


Der dritte Abschnitt (Sq.28) zeigt nur das Warten Jesu auf den Tod.<br />

Diese Abschnitte können im Kontext des ganzen Films zweifach<br />

gelesen werden: als öffentliche Wirkung Daniels überhaupt und da die<br />

Abschnitte immer auch die Kreuzigungsszene beinhalten, können sie auch<br />

eine Art von Ankündigung des Leidens Christi übernehmen, die den<br />

Zuschauer immer auf das Kommende im Film vorbereiten. Auf diese<br />

dreifache Weise können sich die beiden Handlungs-Ebenen miteinander<br />

ergänzen und aufeinander Bezug nehmen, was eine wichtige Rolle für die<br />

Transfiguration Jesu spielt.<br />

3.5.4. Zusammenfassung des Passionsspiels<br />

Arcand stellt dem Zushauer den Propheten Jesus von Nazaret als<br />

einen besonderen Menschen unter vielen anderen dar. Er arbeitet mit<br />

Entmythologisierung 98 , findet zu den Fragen des Glaubens in Evangelien<br />

einfach immer eine Antwort und konzentriert sich ausschliesslich auf das<br />

Gebot der Nächstenliebe. Das Publikum fühlt sich berührt, nicht aber von der<br />

„Göttlichkeit”, sondern von der Menschlichkeit dieser Person, die in einem<br />

Passionsspiel tatsächlich kaum zuvor so dargestellt wurde. In der Figur von<br />

Daniel findet Arcand den Prototyp 99<br />

eines solchen Menschen, der sich<br />

konsequent von der Liebe zu anderen Menschen leiten lässt, nach ihr<br />

handelt und sie in der heutigen Zeit verkündet (wie es Zwick aufgeführt hat).<br />

3.6. Die persönliche Geschichte Daniels<br />

Auf der zweiten Handlungsebene wird der Lebensabschnitt von Daniel<br />

Coulombe entwickelt. Er beginnt mit dem Auftrag Daniels, Jesus zu spielen<br />

98 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S. 42.<br />

142


und endet mit Daniels Tod bzw. mit seiner symbolischen Auferstehung.<br />

Seine persönliche Geschichte bildet zahlreiche Parallelen zum<br />

Lebensabschnitt Jesu von Nazaret im Passionsspiel (Beilage Nr. 10) und<br />

lässt dadurch Jesus in der Gegenwart neu erscheinen. Die Hauptelemente<br />

dieser Transfiguration können in folgenden Punkten zusammengefasst<br />

werden:<br />

1. Bildung einer einzigen Handlungsebene;<br />

2. Parallelen der Hauptfigur des Films Daniel zur Hauptfigur des Spieles<br />

Jesus;<br />

3. Verschlüsselungen in den Namen der Hauptfiguren;<br />

4.Parallelen zu Evangelien-Geschehnissen: in zahlreichen Lebens-<br />

Situationen Daniels, in den historischen Hintergründen, Anspielungen in den<br />

Zitaten aus der Bibel, in der Symbolik der ausgewählten Orte.<br />

3.6.1. Handlungsebene Daniel-Jesus: Passion in der Passion<br />

Der Zuschauer kann ziemlich schnell bemerken, dass für die<br />

Geschichte Daniels als Plot die Evangelien genommen und herausgearbeitet<br />

worden sind. Die Theologen können jedoch genauer feststellen, dass es<br />

überwiegend das Markus-Evangelium ist, das die meisten Anhaltspunkte für<br />

die Inszenierung von Daniels kurzem Lebens-Abschnitt liefert und nach dem<br />

auch die Struktur des Films übernommen worden ist 100 . Die Gliederung des<br />

Films verläuft durch die Einstellungen von abendlichem Montreal im Film,<br />

was zugleich die ersten Parallelen zum Markus-Evangelium aufweist 101 . Zum<br />

99 Vgl. Ebd. S.33.<br />

100 Vgl. BIEGER, Eckhard: „Jesus von Montreal” – Ansätze zur Interpretation und Analyse. In:<br />

film-dienst Extra. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme.<br />

November 1992, S. 71.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2<br />

1990, S.18.<br />

101 Vgl. Ebda. S. 20.<br />

143


ersten Mal kommt sie vor nach dem Zusammenkommen von Schauspielern<br />

in Constanzes Wohnung (Sq.10), was der Berufung der Jünger Jesu und<br />

dem Anfang seines öffentlichen Auftretens entspricht (Beilage Nr. 10). Zum<br />

zweiten Mal wird sie nach dem ersten Theater-Auftritt eingeblendet (Sq.16),<br />

wonach die Konflikte, die Verhaftung und die Kreuzigung folgen (Beilage Nr.<br />

10, 9) Zwick findet darin eine Annäherung an die drei letzten Tage der<br />

Karwoche 102 . Diese drei letzten Tage umfassen jedoch auch die drei letzten<br />

Lebensjahre Jesu, den sie somit in der Gegenwart wirken lassen.<br />

Daniels Geschichte beginnt und endet entsprechend dem Markus-<br />

Evangelium: mit dem Prolog, wo Daniel-Jesus vorgestellt wird (Sq.1) und mit<br />

der Erhöhung Jesu als Unterlage für die Endtitel des Films (Sq.40). Der<br />

Ablauf seiner Geschichte findet fast in jedem Schritt eine Analogie zu den<br />

Evangelien-Abläufen, wo sich Arcand allerdings nicht nur auf das eine<br />

Evangelium nach Markus beschränkt. Aus dem Sequenzbeschrieb (Beilage<br />

Nr. 9) und Parallelen zu den Evangelien (Beilagen Nr. 10 ) ist allerdings<br />

auch zu entnehmen, dass die Handlung des Passionsspieles und die<br />

Handlung der Geschichte Daniels so ineinander fliessen, dass sie eigentlich<br />

eine einzige Handlung entwickeln. Sehr vereinfacht können diese<br />

scheinbar autonomen Handlungen nebeneinander gestellt werden:<br />

Die Handlungsebene Daniels<br />

Ankommen Daniels in der Stadt<br />

Anfang des öffentlichen Wirkens<br />

die Wirkung des ersten Auftretens<br />

„Tempelreinigung”<br />

Anklage Daniels, Daniel als psychisch<br />

krank befunden<br />

Das Passionsspiel<br />

der erste öffentliche Auftritt<br />

Wunder Jesu und Bergpredigt<br />

Rede gegen die Pharisäer<br />

102 Vgl. Ebda.<br />

144


Verrat an Daniel<br />

das letzte Abendmal<br />

Tod Daniels<br />

Transplantation als Auferstehung<br />

Gründung der Urgemeinde und Himmelfahrt<br />

Kreuzigung<br />

Jede dieser fragmentarischen Theateraufführungen wird in die<br />

Handlungsebene Daniels hineingelegt, so dass sie im Film mehr bedeutet<br />

oder für mehr da steht, als eine alleinstehende Aufführung je bedeuten<br />

könnte. Von der ersten Probe (Sq.12) wird der Zuschauer direkt ins Spiel<br />

hineingenommen (Sq.13), während des Spiels überschneiden sich diese<br />

Ebenen immer wieder, was den Zuschauer immer auf der Ebene der<br />

persönlichen Geschichte Daniels hält. Die zweite Aufführung (Sq.20) knüpft<br />

an Daniels „Tempelreinigung” (Sq.19) und geht somit von der Gesellschaftszur<br />

Kirchenkritik über, Daniel-Jesus wird am Kreuz angeklagt und<br />

festgenommen. Schliesslich beginnt die dritte Aufführung (Sq.28) mit den<br />

Worten: „Und dann wartete er auf den Tod”, was eine definitive<br />

Überschneidung beider Ebenen bedeutet, denn zum Tode gequält wird<br />

Daniel ebenfalls während des Passionsspiels. Das alles sind die wichtigsten<br />

Momente im Leben Jesu, die das Schicksal Daniels wesentlich beeinflussen,<br />

ja sie werden sogar zum eigentlichen Schicksal Daniels. Arcand nutzt<br />

ausserdem die Ebene des Passionsspiels und ordnet in ihr auch all die<br />

Evangelien-Geschehnisse, die er auf der Ebene der persönlichen<br />

Geschichte Jesu nicht zeigen zu können glaubt: Wunder Jesu, Bergpredigt<br />

und die Rede gegen Pharisäer, die sonst eine entweder unrealistische oder<br />

zu moralisierende Wirkung im Film hätten.<br />

Arcand transponiert auch die Umstände zur Zeit Jesu in die heutige<br />

Zeit. Er wählt sich für seine Jesus-Geschichte die kanadische Metropole<br />

145


Montreal aus. Hier nimmt er besonders das Umfeld der Medienschaffenden<br />

unter die Lupe und verschont mit seiner Kritik auch die Kirche nicht. So<br />

versucht er zugleich, zwei Welten einander gegenüberzustellen: die profane,<br />

vertreten durch die Medienleute, und die sakrale, vertreten durch Pater<br />

Leclerc. Es wäre dabei zu erwarten, dass beide gegensätzlich sind. Der<br />

Zuschauer stellt aber bald fest, dass sie in Wirklichkeit nicht gegeneinander,<br />

sondern nebeneinander stehen und sich auf dem gleichen Niveau befinden.<br />

Beide Welten lassen sich schnell von erhabenen Ideen begeistern, die aber<br />

in ihrer realen Verwirklichung im Alltag kaum Platz finden. So ist es auch mit<br />

der „Idee Gottes”, die sehr schnell gegen materielle Werte eingetauscht wird,<br />

sowohl in der profanen als auch in der sakralen Gesellschaft. Diese beiden<br />

Welten finden ihre Analogien im Jerusalem zur Zeit Jesu: in der Zeit der<br />

heidnischen Götter Roms und des Pharisäertums und der Heuchelei des<br />

damaligen Priestertums. Diesen stellt Arcand Daniel-Jesus gegenüber, der<br />

mit seinen moralischen Prinzipien und Einstellungen nach Montreal-<br />

Jerusalem kommt, um seinen Auftrag zu erfüllen: „Christus” zu sein,<br />

Menschen in Liebe miteinander zu verbinden, ihre heidnischen Götter des<br />

Geldes und Erfolgs gegen den Gott der Nächstenliebe einzutauschen. Es<br />

sind gerade diese Prinzipien Jesu, an denen die Gesellschaft gemessen wird<br />

und im Lichte derer sie traurig erscheint.<br />

Arcands Gesellschafts- und Kirchenkritik kann zwar klischeehaft<br />

wirken, ist aber dennoch sehr zutreffend 103 . Das „profane” Publikum kann am<br />

Ende der Theatervorstellungen in Applaus ausbrechen (Sq.14), am nächsten<br />

Tag aber wieder in die alten Gewohnheiten und Prinzipien zurückfallen (die<br />

103 Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesu”-Filme.<br />

Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />

146


Berichte der Reporter zum Passionspiel Sq.17), es kann begeistert von<br />

Daniel-Jesus weitererzählen, ihm aber nicht nachfolgen, weil es ihn nicht<br />

verstanden hat. Es gibt auch solche, die sich einschmeicheln wollen, nur um<br />

ihre Ziele um jeden Preis zu erreichen (die Werbefrau, die sich an solchen<br />

Veranstaltungen ihre „Opfer” für Werbespotaufnahmen aussucht Sq.1,14).<br />

Nich einmal Pater Leclerc, der die kirchlichen Werte repräsentiert, ist bereit,<br />

sein Leben zu ändern und wegen der „Daniel-Jesu-Moral” etwas zu riskieren<br />

(Sq.15,25). Er belügt sich mit der Zahl der Kirchenbesucher (Sq.25), wählt<br />

lieber den bequemeren Weg seiner Doppelmoral und so wird er lieber zum<br />

Judas als zum Nachfolger Jesu. Die Frage nach dem Sinn der menschlichen<br />

Existenz wird dadurch gestellt und im Laufe des Films immer wieder<br />

aufgerollt; das erste Mal kommt sie mit dem Prolog zum Film (Sq.1) vor, der<br />

eine wichtige Rolle bei der „Suche nach der Christus-Figur” im Film spielt<br />

und mit der apokalyptischen Vision Daniels (Sq.30) in der U-Bahn endet.<br />

3.6.2. Das Bild Daniel-Jesus<br />

Arcand weist auf mehrere Analogien zwischen den Figuren Daniel und<br />

Jesus hin. Beim Vergleich von diesen stellt man aber bald fest, das sie<br />

identisch sind – Daniel Coulombe ist das Inbild Jesu von Nazaret, den er<br />

spielt.<br />

Die auffalendste Analogie zwischen diesen ist die äussere. Daniel<br />

benutzt, anders als seine Schauspiel-Kollegen, keine Maske, wenn er Jesus<br />

spielt. Die einzige Maske ist die Schminke seines gegeisselten Körpers. Er<br />

musste sich als Jesus im Passionsspiel ebenfalls nicht besonders<br />

verkleiden. <strong>Im</strong> Unterschied zu seinen Jüngern-Schauspielern, die immer<br />

Korrespondenz 2,1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />

147


wieder ihre Kostüme wechseln, hat Daniel nur seinen hellen Anzug für ein<br />

weisses Gewand getauscht.<br />

Auch Verhaltensweise und Ausstrahlung ist bei beiden Figuren<br />

gleich. Daniel wird zwar im Passionsspiel Jesus genannt, muss ihn aber gar<br />

nicht spielen. Als Daniel verhält er sich genauso wie Jesus im Passionsspiel.<br />

Er tritt diskret und zurückhaltend im Umgang mit seinen Schauspiel-Kollegen<br />

auf. Er kann sich mit ihren Gefühlen und existentiellen Sorgen solidarisieren,<br />

gibt ihnen aber auch selber eine Alternative zu ihrem Denken und Handeln in<br />

der heutigen komplizierten Welt des Geldes, der Arroganz, der Unehrlichkeit.<br />

Dieses Thema wird mit der Bergpredigt auch im Passionsspiel explizit<br />

aufgegriffen, als Jesus das Publikum mit den Worten angesprochen hatte:<br />

„Sorgt euch nicht…” (Sq.20). Wieder explizit thematisiert das Passionspiel<br />

die Heuchelei in der zivilen Gesellschaft und in der Institution Kirche, wo<br />

Jesus sehr engagiert reagiert. Die genau gleiche Reaktion hat Daniel bei der<br />

Auseinandersetzung mit den Medienleuten, als er Mireille zum Wettbewerb<br />

begleitet hatte (Sq.19) und mehrmals mit Pater Leclerc, der Daniels<br />

Verhaltensweise zwar versteht, vielleicht auch bewundert, nicht aber fähig<br />

ist, ihr zu folgen (Sq.7, 25). Von der Verhaltensweise Daniels her, hat auch<br />

er viel Gemeinsames mit Pasolinis Typ Jesus-Irazoqui. Wo sie sich aber<br />

völlig unterscheiden, ist ihre persönliche Ausstrahlung. Arcands Daniel-Jesus<br />

ist in keinem Moment pathetisch; er ist seinen Jüngern-Schauspielern eher<br />

ein Freund, ein Bruder, einer von ihnen, als der über alles herrschende Herr.<br />

Was ihn aber von den Jüngern unterscheidet, ist die (über)natürliche<br />

Autorität, die er besitzt.<br />

Bistums Essen 5/6, 1991, S. 32.<br />

148


Die „Vorgeschichte” Daniels ist dem Zuschauer ebenso wenig<br />

bekannt wie die von Jesus. Arcand versucht nicht zu erklären, woher Daniel<br />

kommt, was er bisher gemacht hat oder wer seine Eltern sind. <strong>Im</strong> ganzen<br />

Film erwähnt Daniel nur einmal seinen Vater: kurz vor seinem<br />

Zusammenbruch in der U-Bahn, wenn er sagt: „Mein Vater hat mich<br />

verlassen.” (Sq.30) Ausserdem erfährt der Zuschauer, dass Daniel viel<br />

gereist ist (Sq.22, 35). Jesus von Nazaret hat ja auch an mehreren Orten<br />

gewirkt.<br />

Den Namen Daniel Coulombe hat Arcand auch nicht zufällig für<br />

seinen Jesus-Darsteller ausgewählt. Daniel ist ein alttestamentlicher Name<br />

des Propheten, der in die Löwengrube geworfen wird, ohne dass ihm die<br />

Löwen etwas tun. Sein Glaube hat ihn gerettet. Der Löwe steht in der<br />

christlichen Symbolik ausserdem auch im Wappensymbol des Evangelisten<br />

Markus, dessen Evangelium Arcand als Grundlage für die Daniel-Jesus-<br />

Geschichte dient. Der Name „Daniel” steht symbolisch für den Menschen<br />

Jesus in der Figur von Daniel. „Coulombe” bedeutet auf französich „die<br />

Taube”, die wiederum das Symbol des Heiligen Geistes in der christlichen<br />

Tradition ist. Man könnte den Namen Daniel Coulombe als „Mensch-<br />

Prophet” und „Geist” entschlüsseln, worin gleich die beiden Dimensionen<br />

Jesu Christi vertreten wären. (Mit der Dimension Christi in der Figur Daniels<br />

beschäftige ich mich im Abschnitt 3.7. dieses Teiles.) Nicht zu übersehen ist<br />

die Kreuzigung: Daniel wird während des Passionsspiels tatsächlich<br />

umgebracht (Sq.28), als er (als Jesus) am Kreuz tödlich verletzt wird.<br />

1<strong>49</strong>


3.6.3. Judas, Johannes der Täufer und Daniel<br />

Auf der Ebene der persönlichen Geschichte Daniels lässt Arcand<br />

Charaktere entwickeln, die einige Equivalente zu biblischen Figuren,<br />

Freunden oder Feinden Jesu aufweisen. Seien es die Frauen Mireille und<br />

Constanze, die sowohl als biblische Maria und Martha oder auch Maria<br />

Magdalena gelesen werden können. Constanze ist ledige Mutter, die ein<br />

Verhältnis mit Pater Leclerc hat (Sq.7), das sie etwa wie folgt definiert: „Er<br />

hat viel Spass daran und mir macht es nichts aus”, Mireille wieder verkauft<br />

ihren Körper für billige Werbung (Sq.8). Daniel wohnt mit diesen beiden<br />

Frauen zusammen (Sq.18), was an Scorseses „letzte Versuchung” erinnert.<br />

Nur ist seine Beziehung zu ihnen platonisch, völlig asexuel. Die Frauen sind<br />

es also, die ständig Daniel begleiten, oder besser gesagt: die von Daniel<br />

begleitet werden.<br />

Eine mehrdeutige Interpretation in der Beziehung zu Daniel-Jesus<br />

erlauben auch die Figuren von Pater Leclerc und der Schauspielkollege<br />

Daniels vom Anfang des Films. In diesen beiden Figuren findet Arcand einen<br />

„Judas”. Pater Leclerc, der auch als ein Equivalent zum reichen Mann des<br />

Matthäus-Evangeliums (Mt 10,17-22) gelesen werden kann (Sq.25), als ihn<br />

Daniel und Constanze auffordern, ihnen zu folgen, der aber auch zum<br />

Verräter Jesu wird. Bei der Auseinandersetzug zwischen Daniel und dem<br />

Pater unmittelbar nach der ersten Aufführung (Sq.15) fasst Pater Leclerc den<br />

Entschluss, Daniel den kirchlichen Obrigkeiten zu übergeben. Daniel sagt<br />

dazu: „Tun sie, was sie tun müssen!” (Joh 13,27) Indirekt aufgrund dieses<br />

„Verrates” kommt Daniel ums Leben.<br />

Einen anderen Judas entwickelt Arcand in der Figur des eigentlichen<br />

Johannes des Täufers. Am Anfang des Films bereitet der Kollege von Daniel<br />

150


ihm den Weg, indem er zur Umkehr auffordet und Daniel unter vielen<br />

Anwesenden als seinen Freund und Kollegen erkennt (Sq.1): „Da kommt ein<br />

grosser Schauspieler.” Auf die Frage: „Wen spielst du jetzt?” antwortet<br />

Daniel: „Jesus. Du hast mich inspiriert.” Die neuzeitliche Salome, die<br />

Werbemanagerin, welche sich den Kollegen von Daniel für ihre Geschäfte<br />

ausgesucht hat (Sq.1), kriegt schliesslich seinen Kopf (Sq.13,30). Der<br />

Kollege von Daniel „verkauft” seine Prinzipien und lässt seinen Kopf für eine<br />

billige Werbung abbilden, die in der Sequenz Nr. 30 – während der<br />

apokalyptischen Vision Daniels kurz vor sienem Tod nicht zu übersehen ist.<br />

3.7. Wunder und Versuchungen<br />

Von den Wundern Jesu thematisiert Arcand nur einige auf der Ebene<br />

des Passionsspiels (Sq.13): Gang auf dem Wasser, Heilung eines Blinden,<br />

Auferweckung eines Toten, Auferstehung.<br />

1. Taten Jesu – Reinhold Zwick übt Kritik an Arcands Wunderdarstellungen<br />

und bezeichnet sie als „‘klassische’ Schauwunder”<br />

104 , ohne jegliche<br />

Zeichenhaftigkeit und ohne ihren ursprünglichen Sinn in den Evangelien zu<br />

betonen. Er kritisiert sie auch im Zusammenhang mit dem schon erwähnten<br />

Einführungskommentar, der die Wunder Jesu als „Zaubereien” bezeichnet<br />

(Sq.13). Doch Arcand unterscheidet ganz deutlich die Wunder Jesu von den<br />

Wundern der „Magier vom Nahen Osten”. Zusammen mit dem<br />

Einführungskommentar werden kurz Szenen solcher Zaubereien<br />

eingeblendet, nach denen dann die Wunder Jesu gezeigt werden. Diese<br />

104 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.31.<br />

151


sehen aber mit ihrer zurückhaltenden Art im Unterschied zu Magien völlig<br />

anders aus. Ausserdem werden die Wunder mit der Bergpredigt in<br />

Zusammenhang gebracht und im Bild für den Zuschauer freigestellt, womit<br />

er zu einem direkten Teilnehmer gemacht wird. Auf diese Art wird die Ebene<br />

des Passionsspiels andeutungsweise unterbrochen und in dieser Sequenz<br />

wird es nicht mehr Jesus, sondern Daniel sein, der die „Wunder” vollbringt.<br />

Die „Schauwunder” gewinnen plötzlich an Aussagekraft und trotz dem<br />

Einführungskommentar betonen sie den Sinn der Bergpredigt. Wenn Jesus<br />

zu Petrus sagt: „Dein Glaube ist schwach” und danach der Blinde zu Jesus:<br />

„Ich kann dich sehen” worauf Jesus beginnt, mit seinen Worten den Glauben<br />

der Anwesenden zu stärken: „Ihr sollt euch nicht sorgen”, sind das plötzlich<br />

keine Schauwunder mehr. Wenn sie aber nur auf der Ebene des<br />

Passionsspieles rezipiiert werden, bleiben sie ohne Aussagkraft.<br />

Weitere Wunderdarstellungen werden auf der Ebene der persönlichen<br />

Geschichte Daniels gezeigt:<br />

2. Das Gewitter nach dem Tod Daniels (Sq.32), vor dem sich der Schuldige<br />

versteckt, während die Unschuldigen ihm auf der Strasse ausgeliefert sind.<br />

Pater Leclerc schliesst das Fenster und schaut durch die Fensterscheibe<br />

hinaus zum Ort des Unglücks. Baugh interpretiert diese Einstellung als ein<br />

definitives „Nein” des Paters zu Daniel-Jesus und seiner Botschaft, mit der er<br />

sich nicht anfreunden konnte 105 .<br />

3. Die Auferstehung thematisiert Arcand sowohl auf der Ebene des<br />

Passionsspieles als auch auf der Ebene der persönlichen Geschichte<br />

152


Daniels. Da die eine kaum von der anderen zu trennen ist, führe ich diese in<br />

diesem Abschitt 3.7.3. auf.<br />

<strong>Im</strong> Passionsspiel (Sq.13) wird die traditionelle Auferstehung mittels<br />

eines Lichts dargestellt, welches sich durch das Tor im Hintergrund<br />

hineindrängt. Die Schauspielerin Mireille erzählt von diesem Licht als von<br />

einem tatsächlich dagewesenen, gegenwärtigen Jesus, den sie selber<br />

gesehen hatte. Jesus verkörpert das Heil, welches er mit der Auferstehung<br />

bringt, und schenkt den Menschen „(...) die Hoffnung, die das Leben<br />

erträglich macht”, so steht es im Spiel. „Ohne sie wären wir in einem<br />

rätselhaften Universum verloren.” Die Schauspieler fordern dann auch das<br />

Publikum auf, sich den Weg des Heiles und der Liebe zu wählen, welches in<br />

jedem einzelnen individuell zu suchen ist. Und der vorletzte Satz des Spiels<br />

ist: „Jesus lebt, wir sind ihm begegnet.” Der Glaube ist hier auf eine<br />

individualistische Art dargestellt, den jeder Einzelne persölich in sich selbst<br />

finden muss. Was aber hier mit Worten ausgedrückt wird, wird in der<br />

Geschichte Daniels in Taten umgewandelt.<br />

Auf der Ebene der persönlichen Geschichte Daniels verwirklicht sich<br />

die Auferstehung durch die Transplantation der Organe Daniels in die<br />

Kranken, wodurch diese ein neues Leben gewinnen (Sq.33,34,36). Dass es<br />

gerade Augen und Herz sind, hat sicher eine symbolische Bedeutung: aus<br />

dem Dunkel zum Leben voller Licht; aus dem Leben, mit einem „kranken”<br />

Herzen zum Leben voller Liebe. Diese Symbolik des heilbringenden Lichts<br />

und des heilbringenden Herzens (als Gebot der Liebe) ist auch schon im<br />

Passionsspiel thematisiert worden. Arcand wandelt somit die Hoffnung in<br />

Heil um: die ersten Worte der Personen, denen die Organe gespendet<br />

105 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City<br />

153


worden sind, lauten: „Gott, es ist wie ein Wunder!” und „Das Licht!...Danke!”<br />

Die Heils-Botschaft Daniels wird somit erfüllt: die Kranken sind ihm<br />

tatsächlich „begegnet”.<br />

Zwick und Baugh vertreten die Meinung, dass die Auferstehung auch<br />

in der Gründung der Theatergruppe mit dem Namen Daniels (Sq.37)<br />

ausgedrückt wird, womit die Idee Daniels, ja Daniel selber weiterlebe 106 .<br />

Diese Assoziation ist mir leider nicht gekommen, weil der Gründer der<br />

Theatergruppe der Anwalt und Manager Cardinal ist. Vom Namen „Cardinal”,<br />

her stimmt die Assoziation zwar schon, nur übernimmt dieser im Film die<br />

Funktion des biblischen Versuchers (Beilage Nr.10). Drei Mal ergreifft er die<br />

Initiative: zum ersten Mal (Sq.21) will der Anwalt Cardinal Daniel vor dem<br />

Gericht verteidigen und versucht, ihm einzureden, dass er ohne seine Hilfe<br />

verurteilt wird. Diese Versuchung, einen einfacheren Weg zu wählen,<br />

entspricht der bilblischen Versuchung Jesu im Matthäus-Evangelium: „Wenn<br />

du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird.” (Mt. 4,3)<br />

Zum zweiten Mal (Sq.24) macht der Manager Cardinal Daniel einen<br />

lukrativen Vorschlag, mit dem er berühmt und „schwerreich” werden könnte,<br />

er müsse sich nur an seine Anweisungen halten und seinen Namen<br />

verkaufen. Diese Versuchung entspricht wieder der im Matthäus-<br />

Evangelium: „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst<br />

und mich anbetest.” (Mt. 4,9). Der Anwalt Cardinal kommt aber noch einmal<br />

vor und zwar am Ende des Films (Sq.37). Hier versucht er nicht Daniel-<br />

Jesus, sondern seine Anhänger, die Schauspieler, zu überreden, eine<br />

1997, S. 125.<br />

106 Vgl. Ebda. S. 127f.<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.36 .<br />

154


offizielle Theatergruppe zu gründen, die Daniels Namen tragen würde und<br />

mit der sie dann berühmt werden könnten. Diese Stelle assoziiert meiner<br />

Meinung nach nicht die Auferstehung, sondern einfach die dritte<br />

Versuchung: „Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heisst<br />

in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen,<br />

damit dein Fuss nicht an einen Stein stösst.” (Mt. 4,6). Alle Schauspieler sind<br />

mit der Idee des Anwaltes Cardinal einverstanden, ausser Mireille, die die<br />

„letzte Versuchung” durchschaut hatte und die als einzige den „Weg Daniels”<br />

gegangen ist. Mit dieser eher „diabolischen” Sicht der Gründung des<br />

Theaters (und der Institution Kirche) kann das Werk und die Idee Daniels-<br />

Jesu einfach nicht weiterleben. Es bedeutet eher die Zerstörung der<br />

Hoffnung als ihr Weitertragen. Indem Mirreille einen eigenen idividuellen<br />

Weg gewählt hat, wird der Glaube als keine kollektive, sondern individuelle<br />

Sache verstanden, was Arcand schon im Passionsspiel zum Ausdruck<br />

gebracht hatte: „Sucht das Heil nur in euch selbst.” Diese Hoffnung wird am<br />

Ende des Film auch durch die zwei Sängerinnen in der U-Bahn<br />

weitergeleitet, die nicht mehr in der Kirche auftreten, wie am Anfang des<br />

Films 107 .<br />

3.8. Christus des Films?<br />

Nach der Identifikation Daniels als Jesus drängt sich die Frage auf, ob<br />

auch eine Christus-Figur in Arcands Film zu erkennen ist. Nicht jede Figur,<br />

die mit den Worten Jesu spricht oder die zahlreiche Parallelen zu Jesus von<br />

107 Vgl. Ebda. S.39.<br />

Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesu”-Filme.<br />

Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />

Korrespondenz 2, 1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />

Bistums Essen 5/6, 1991, S. 33.<br />

155


Nazaret aufweist, kann als eine Christus-Figur bezeichnet werden. (siehe die<br />

Definition der Christus-Figur im Film im zweiten Kapitel) Bei einer<br />

„Transfiguration Christi” ist es wichtig, ob und wie die Dimension des<br />

Messias, des Sohnes Gottes,<br />

Gott selber, in der Geschichte Daniels<br />

transparent werden, wie ich sie im ersten Kapitel beschrieben habe.<br />

Nach den Beschreibungen von Figuren Jesus des Theaters und<br />

Daniel-Jesus fällt auf, dass es im Film mehrere Stellen gibt, welche die<br />

Dimensionen des Messias in Jésus de Montréal spüren lassen (Beilage<br />

Nr.<br />

10). Für die Interpretation einer solchen Christus-Figur im Film Arcands ist<br />

der Prolog (Sq.1) von grösserer Bedeutung. Er eröffnet eine neue Dimension<br />

hinter den Bildern, gibt Antworten auf die im Film gestellten Fragen, was als<br />

implizite Aufforderung zum Glauben gelesen werden kann und schliesst<br />

auch den Kreis des Erkennens von Daniel-Jesus zu Daniel-Christus in der<br />

Auferstehung.<br />

3.8.1. Der Prolog<br />

Am Anfang des Films schaut sich der Zuschauer das Ende eines<br />

Theaterspiels an (Es handelt sich um eine Szene aus der Aufführung von<br />

Dostojewskijs Die Brüder Karamasow 108 ), das inhaltlich Fragen nach dem<br />

Sinn der menschlichen Existenz aufwirft (Sq.1). Der Zuschauer wird hier mit<br />

der Warnung vor der Zerstörung der „Idee Gottes im Menschen” (ein Zitat<br />

ebenfalls aus dem Vorspann) konfrontiert:<br />

108 Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesus”-Filme.<br />

Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />

Korrespondenz 2,1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />

Bistums Essen 5/6, 1991, S. 31.<br />

156


”Wehe den Selbstmördern! Wehe denen, die sich selbst<br />

zerstören! Es gibt niemanden auf Erden, der unglücklicher ist als<br />

ich. Sie verdammen sich selbst, weil sie Gott und das Leben<br />

verdammen. Sie sind unersättlich über Jahrhunderte hinweg und<br />

wollen kein Verzeihen. Sie verdammen Gott, der sie ruft und<br />

wollen, dass er und seine Schöpfung im Nichts verschwinden. Sie<br />

dürsten nach dem Tod und dem Nichts.”<br />

Diese Worte und der ganze Auftritt, der inhaltlich dem Auftritt von<br />

Johannes dem Täufer entspricht (Beilage Nr. 10), werden gleich thematisch<br />

weiter entwickelt und zwar am Beispiel von Publikums-Reaktionen auf das<br />

Spielende, wie es Hagmann weiter präzisiert 109 . Der Prolog wird somit zu<br />

einer thematischen Verdichtung, die im Laufe des Films weiter entwickelt<br />

wird und somit den Zuschauer immer wieder auf verschiedene Weise an den<br />

Einführungs-Monolog erinnert: sei es in der Medienbranche, wo die<br />

Menschen manipuliert und ausgenutzt werden, sei es in der kirchlichen<br />

Umgebung, die sich als starr und somit für die Menschen nicht offen genug<br />

zeigt, sei es unter den „Verkündern des wahren Glaubens an Christus”, die<br />

mit ihren Überinterpretationen völlig falsch liegen (Sq.14). Mit all diesen<br />

Millieus wird Daniel konfrontiert und sie schieben ihn ein Stück weiter in<br />

seiner Identifikation mit dem Christus, mit seiner Rolle des „Erlösers”. Diese<br />

Rolle Daniels, die er im Film immer stärker offenbart (Beilage Nr. 10),<br />

erreicht ihren Höhepunkt am Ende des Films, wo die Gedanken vom Prolog<br />

in einer anderen Form wieder aufgenommen werden: in der Form der<br />

apokalyptischen Vision Daniels kurz vor seinem Zusammenbruch in der U-<br />

Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.21.<br />

109 Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesus”-Filme.<br />

Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />

157


Bahn (Sq.30). Da warnt er, Daniel-Christus, vor falschen Vorbildern und<br />

fordert zum echten Glauben auf. Einer dieser falschen Vorbilder ist bereits<br />

am Werbe-Plakat in der U-Bahn aufgehängt – der Kopf von Johannes dem<br />

Täufer, der zum Judas geworden ist und den die Werbe-Salome für ihre<br />

Kampagne doch bekommen hatte 110 .<br />

3.8.2. Daniel – eine Christus-Figur<br />

Daniel Coulombe ist im Film nicht explizit als ein religiöser Mensch<br />

dargestellt; religiös in dem Sinne, dass er sich auf irgendeine Art und Weise<br />

zu Gott bekennen würde. Er betet im Film kein einziges Mal, zeigt bewusst<br />

keine Beziehung zu Gott, sagt oder deutet nie an: „Mein Vater und ich sind<br />

eins”. Diese „Merkmale” eines „Christus-Seins” hat Daniel Coulombe nicht.<br />

Dafür verschlüsselt Arcand in seinem Namen „Daniel Coulombe” die<br />

beiden Dimensionen Jesu Christi, die des Menschen und diejenigen Gottes,<br />

wie ich sie schon im Abschnitt 3.6.2. beleuchtet habe. Ausserdem überlässt<br />

Arcand seiner Hauptfigur gleich drei wichtige Funktionen im Film, die<br />

verschlüsselt sogar alle drei Dimensionen des „Christus-Seins” beinhalten.<br />

Daniel ist der Autor seines Passionsspiels, der Regisseur des Passionsspiels<br />

und er übernimmt gleich auch die Hauptrolle Jesu, was an die Deutung des<br />

Vaters, des Heiligen Geistes und des Sohnes Gottes in Daniel erinnert.<br />

Genauso verborgen wie die Dimension Christi in Daniel Coulombe<br />

bleibt auch die Vorgeschichte von Daniel, was seiner Figur etwas<br />

Geheimnisvolles bewahrt. Das deutet an, dass die Dimension Christi an<br />

Daniel Coulombe hinter den Bildern und in Anspielungen gesucht werden<br />

Korrespondenz 2,1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />

Bistums Essen 5/6, 1991, S. 31.<br />

110 Vgl. Ebda.<br />

158


muss. In diesem Zusammenhang und im Zusammenhang mit der Definition<br />

der Christus-Figur im Film ist es wichtig, die Stellen im Film zu finden, welche<br />

die Geschichte Daniels als einen Entwicklungsprozess zur Christus-Figur<br />

erkennen lassen.<br />

Eine dieser Linien auf der Suche nach Christus in Jésus de Montréal<br />

ist die Frage, ob sich Daniel im Film von Anfang an dessen bewusst ist, dass<br />

er die erlöserische Aufgabe Christi übernimmt. Daniel weiss es am Anfang<br />

sicher nicht und macht diesbezüglich eine Entwicklung im Film durch, womit<br />

diese Idee an Sorseses Jesusfilm erinnert (die Identitätsuche seines Jesus).<br />

Während aber Scorsese Jesus als ein bewusstes Opfer für die Erlösung der<br />

Menschen darstellt, lehnt Arcand dieses Bild von Christus ab, indem er<br />

Daniel gleich zu Beginn seines Auftrags die alte pathetishce Version des<br />

Passionsspiels und deren bewusstes Opfer Christi „für die Erlösung von<br />

unseren Sünden” ablehnen lässt (Sq.2.). Daniel identifiziert sich im Laufe<br />

des Films immer stärker mit seiner Rolle als Christus (was ihn aber im<br />

Unterschied zu Scorsese in keine Identitätskrise stürzt). Der erste Moment<br />

dieses Bewusst-Werdens kommt, als Daniel in der Bibliothek darauf<br />

aufmerksam gemacht wird, dass Christus selber ihn berufen wird (Sq.5).<br />

Diese Worte der mysteriösen Frau in der Bibliothek scheinen ihm in den Sinn<br />

zu kommen, als er seine „Berufung” mit der Christusstatue vor der Kirche<br />

erlebt (Sq.6). Daniel entscheidet sich hier, diese Statue endgültig in sein<br />

Spiel zu integrieren.<br />

Etwas markanter wird ihm dieses bewusst, als ihn eine einfache Frau<br />

aus dem Publikum während der ersten Aufführung als Jesus erkennt<br />

(Sq.13). Während es ihm hier noch unangenehm zu sein scheint, steht er zu<br />

seiner Arbeit, seinem Werk und seinem Christus, als er in eine ähnliche<br />

159


Lebenssituation kommt, die auch Jesus erlebt hatte. Da handelt er genauso<br />

wie er. Er kann wütend sein (Tempelreinigung – Sq.19), er verteidigt seine<br />

Rolle, sein Werk, seine Lehre vor der Psychologin: „Das Thema ist sehr<br />

gut... Jesus zu spielen, ist für einen Schauspieler alles andere als dürftig.”<br />

(Sq.22)<br />

Bei der Identifikation mit seiner Rolle „hilft” ihm die Tatsache, dass<br />

das Passionsspiel für sein Leben sehr bedeutungsvoll sein wird. Zuerst ist es<br />

die Tatsache, das es sein Spiel, seine Lehre, sein Werk ist, das seine<br />

persönliche Geschichte in Bewegung bringt. Zweitens ist es die Tatsache,<br />

dass das, was ihm als Jesus-Daniel im Spiel passiert, sich in Wirklichkeit in<br />

sein reales Leben überträgt. Das Passionsspiel bildet für ihn somit einen<br />

Hintergrund, in Widerspiegelung dessen Daniel als Christus erscheinen<br />

kann, wobei Arcand immer wieder mit den Überschneidungen der beiden<br />

Ebenen entweder den Jesus des Theaters betonen lässt oder den Daniel-<br />

Jesus, ja Daniel-Christus. Als Jesus des Theaters tritt Daniel eigentlich nur in<br />

der ersten Aufführung auf (Sq.13), da der zweite und dritte Auftritt schon zu<br />

sehr mit Daniels persönlichem Leben verbunden ist (Sq.20). Am besten zu<br />

sehen ist es bei der Festnahme Daniels im Garten (Sq.20), wo er nach der<br />

Anklage am Kreuz plötzlich zur lebendigen gefesselten „Statue Christi” wird,<br />

der er am Anfang des Films vor der Kirche „sein Einverständnis” gegeben<br />

hatte. Entscheidend für das Schicksal Daniels als Christus ist aber sein Tod<br />

am Kreuz (Sq.28), den Daniel tatsächlich während des Passionsspiels<br />

erleidet und seine völlige Identifikation mit dem Christus in der U-Bahn<br />

(Sq.30), wo er mit den Worten Christi spricht.<br />

160


Signifikant für Daniels Leben wird auch die Auferstehung Jesu, wie er<br />

sie im Spiel inszeniert hatte. Diese „Aufgabe” ist für ihn als Christus am<br />

wichtigsten.<br />

<strong>Im</strong> Zusammenhang mit der einen einzigen Handlungsebene des Films<br />

und dem Erscheinen Daniels als Christus-Figur ist noch die Ortsymbolik des<br />

Spieles und des Films von Bedeutung. Die Begegnung Daniels mit dem<br />

filmischen Johannes dem Täufer geschieht nach einer Theaterauführung<br />

(Sq.1), die öffentliche Wirkung Daniels verläuft vor der Kirche (Sq.13,20),<br />

verhaftet wird Daniel auch im Garten der Kirche (Sq.20), gekreuzigt wird er<br />

ebenfalls im Garten der Kirche (Sq.28), die am Hügel Mont Royal steht. Die<br />

Grabszenen des Spiels entwickeln sich unterhalb der Kirche (Sq.13), wo<br />

auch die letzten Worte über die Hoffnug auf Erlösung als impliziter Glaube<br />

ausgesprochen werden. Die gleiche Symbolik ist in der U-Bahn zu finden<br />

(Sq.30,31) wo Daniel endgültig einschläft und wo die Hoffnung durch die<br />

singenden Frauen weiterverkündet wird (Sq.40).<br />

Ausserdem ist Daniel der Autor des Theaterspiels, wo er wieder nicht<br />

explizit zur Suche nach dem Heil in Gott auffordert, sondern „nur in euch<br />

selbst” (Sq.13), indem sich Menschen einander in Liebe verbinden sollen.<br />

Dieses Gebot der Liebe, legt er ins Passionsspiel hinein und in seiner<br />

persönlichen Geschichte wandelt er es wieder in Tat um. Daniel ist damit im<br />

Film als eine Person dargestellt, die durch sein Leben und Sterben dem<br />

menschlichen Da-Sein und dem Tod einen neuen Sinn gibt.<br />

3.8.3. Daniel – eine Heil-bringende Person<br />

Arcand lässt Daniel Coulombe als eine Christus-Figur erscheinen,<br />

indem er ihm „erlöserische” Aufgaben zuschreibt. Daniel bietet seinen<br />

161


Jüngern ein neues Leben, eine „Erlösung” von ihrem bisherigen Lebensstil<br />

an. Sie widmen sich von nun an voll und ganz nur ihrem gemeinsamen Werk<br />

– dem Passionsspiel. Da sie darin zugleich den Sinn ihres Lebens<br />

entdecken, ist Daniel derjenige, der ihnen den Beginn eines neuen,<br />

sinnvollen Lebens eröffnet hatte, womit der Sinn des Lebens neu definiert<br />

wird.<br />

Das Passionspiel wird aber im Film zum Spiel um Leben und Tod.<br />

Daniel definiert durch sein Leben – ein Leben in der Nächstenliebe – den<br />

Sinn des Lebens allgemein und durch seine Auferstehung wird auch der Tod<br />

neu definiert – Daniels Tod bringt den anderen das Heil.<br />

3.8.4. Die Gegenwart Gottes im Film<br />

Der Prolog zum Film (Sq.1) spricht inhaltlich das Thema des<br />

Glaubens, resp. des Nicht-Glaubens an und öffnet somit eine Perspektive,<br />

aus der die Geschichte Daniels gelesen werden kann. Diese Perspektive, die<br />

die „Dimension Gottes” im Film spüren lässt, beginnt Arcand gleich nach<br />

dem Prolog zu entwickeln, klar lesbar wird sie aber erst am Ende des Films.<br />

Schon in der zweiten Sequenz des Films, die mit dem Vorspann<br />

beginnt, entwickelt Arcand eine Metapher, die etwa einem „Bekenntnis<br />

Gottes” zu seinem Sohn nach der Taufe durch Johannes den Täufer<br />

entsprechen könnte. (Die Assoziation des „Bekenntnisses Gottes” hatte<br />

Baugh gleich nach den Worten Daniels: „Du hast mich inspiriert” –<br />

Inspiration als Heiliger Geist.) Nach dem Prolog, wo sich Daniel als ein<br />

„grosser Schauspieler” durch den filmischen Johannes den Täufer, der in<br />

seinem Theaterauftritt indirekt zur Umkehr auffordert, erkennen lässt, wird<br />

der Zuschauer in die Kirche gebracht (Sq.2), wo der Chor das Lied Stabat<br />

162


mater 111<br />

singt. Inhaltlich wird der Zuschauer auf Christus aufmerksam<br />

gemacht, den Arcand in der nächsten Einstellung auch kommen lässt. Nach<br />

der Halbtotalen von den Chor-Mitgliedern, wird die Totale gezeigt, die Daniel<br />

aus der Vogelperspektive in die Kirche hineintreten und ihn den Chor von<br />

unten anschauen lässt. Arcand verbindet den Chor mit Daniel auch optisch<br />

in einer einzigen Einstellung, womit angedeutet wird, dass Daniel der<br />

Christus im Film sein wird. Diese Stelle könnte auch als biblische Stelle nach<br />

der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer gelesen werden, als sich Gott zu<br />

seinem Sohn bekannt hatte (Mk 1,11). Daniel wird dann wieder in der<br />

Vogelperspektive von Pater Leclerc begrüsst, dann wechselt die vertikale<br />

Ebene von oben nach unten in die horizontale, und der Auftrag, die Passion<br />

Jesu zu spielen, wird Daniel in der Einstellung halbnah übergeben. Zu dieser<br />

Zeit kann es dem Zuschauer noch nicht klar sein, wann und wie und ob<br />

überhaupt Daniel die Aufgabe des „Erlösers” erfüllt. Arcand entwickelt und<br />

konkretisiert diese Metapher dann in der nächsten vertikalen Perspektive, die<br />

umso stärker wirkt, weil sie nach der kurzen Sequenz in der Bibliothek (Sq.5)<br />

platziert ist, wo Daniel von einer Frau angesprochen wird: „Suchen sie<br />

Jesus? ... Er ist es, der sie finden wird.” Nach diesen Worten kommt der<br />

Schnitt zur nächsten Einstellung (Sq.6): in der Totale von unten wird die<br />

Statue des gefesselten Christus vor der Kirche Leclercs gezeigt. Die<br />

Kamera-Bewegung (Schwenk und Zoom) sugerriet das Gefühl, dass dieser<br />

Christus die ganze Last der hinter ihm stehenden monumentalen Kirche auf<br />

seinem Rücken trägt. In diese Einstellung kommt Daniel hinein und schaut<br />

111 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.20.<br />

Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City 1997,<br />

S. 113-129.<br />

163


sich die Statue stehend von einer gewissen Distanz an. Diese Einstellung<br />

vereint die beiden Figuren für einen kurzen Moment (sie gleicht der<br />

entsprechenden Einstellung vom Vorspann – Sq.2) und mit der danach<br />

folgenden subjektiven Kamera – Totale an Daniel von oben –, die für den<br />

Blick des gefesselten Christus (der Statue) da steht, werden die Worte der<br />

Frau aus der Bibliothek wahr: Jesus ist derjenige, der Daniel gefunden hatte.<br />

Die Kamera-Bewegung geht von der vertikalen Ebene des Blickes der Statue<br />

in die Horizontale näher zu Daniel über und Daniel selber kommt auch ein<br />

paar Schritte näher zu der Statue. In die statische Beziehung zwischen<br />

beiden Figuren vom Anfang des Films kommt Bewegung hinein. Diese<br />

Dynamik widerspiegelt sich dann im Handeln von Daniel-Jesus.<br />

Die nächste Vogelperspektive, welche die „Gottessohnschaft” Daniels<br />

suggerriert, ist die der Festnahme Daniels während des Spiels im Garten<br />

(Sq.20). Daniel-Jesus hängt meditierend am Kreuz, was Baugh besonders<br />

betont 112 , wenn die Vertreter der Justiz zu ihm kommen, um Daniel<br />

festzunehmen. Während sie ihm die Anklage und seine Rechte vorlesen,<br />

bringt Arcand wieder die Vogelperspektive und macht somit klar, dass hier<br />

nicht Daniel sondern Daniel-Jesus, ja Daniel-Christus angeklagt wird. Das<br />

Mosaik wird erst am Ende des Films vollständig, wenn der Abspann zum<br />

Film an den Vorspann anknüpft und ihn endgültig ergänzt (Sq.40). Nach der<br />

symbolischen Auferstehung Daniels wechselt Arcand die Perspektiven und<br />

suggeriert eine umgekehrte Bewegung vom Anfang, von unten nach oben.<br />

Es wird zuerst die Totale gezeigt, wo die Frauen vom Anfang des Films die<br />

letzte Strophe von Stabat mater 113<br />

in der U-Bahn vor dem Werbeplakat mit<br />

dem Kopf von Johannes dem Täufer singen. Hier übernehmen sie wieder die<br />

112 Vgl. Ebda..<br />

164


Aufgabe der „Verkünderinnen” vom Anfang (Beilage Nr. 10), da sie an dem<br />

Ort, wo Daniel-Christus zusammenbrach, von der Teilnahme an der<br />

Auferstehung Christi singen. Diese zwei Frauen werden dann aus der<br />

Vogelperspektive gezeigt, die den Blick des auferstandenen Daniel-Christus<br />

suggeriert 114 . Mit einer langsamen horizontalen Fahrt der Kamera geht das<br />

Bild vom realen Diesseits in ein suggeriertes Jenseits über, wo sie die<br />

Richtung von der Horizontalen zur Vertikalen wechselt. Daniel verschwindet<br />

nicht in einem „rätselhaften Universum”, wie die Hoffnung im Passionsspiel<br />

und im Prolog des Films bezeichnet wird, sondern nimmt eine ganz konkrete<br />

Richtung an – die Richtung nach oben (Sq.40). Diese langsame Fahrt nach<br />

oben assoziiert die Rückfahrt Daniels: <strong>Im</strong> Vorspann wird er mit dem Auftrag<br />

des Erlösers gesandt, im Abspann kehrt er nach der Erfüllung seines<br />

Auftrags zurück. Für einen gläubigen Zuschauer schliesst sich hier ein<br />

Erkennensweg, den er im Laufe des Films durchschritten hat: das<br />

Unsichtbare wird hier sichtbar.<br />

3.9. Position<br />

Die zahlreichen Fragezeichen, die Arcand in Jésus de Montréal<br />

entwirft, weisen auf die Frage nach dem Sinn des Lebens hin, die sich am<br />

Ende des Films der Zuschauer selber stellen muss. <strong>Im</strong>plizit wird der Glaube<br />

eines Menschen an Gott hinterfragt, wobei die Antwort wieder dem<br />

Einzelnen überlassen wird. Welcher Position aus dem ersten Kapitel könnte<br />

denn der Film aufgrund dieser Schlussfolgerung zugeteilt werden? Arcand<br />

thematisiert meiner Meinung nach beide Dimensionen Jesu Christi, wobei<br />

Daniel als ein „Vermittler” zwischen diesen beiden funktioniert. Innerhalb des<br />

113 Vgl. Ebda.. S. 128f.<br />

165


Passionsspiels spricht Arcand selber die These aus, dass die<br />

Forschungsergebnisse zur historischen Person Jesus von Nazaret zu dürftig<br />

sind und konzentriert sich deswegen nur auf den moralischen Anspruch 115<br />

Jesu von Nazaret, den Arcand somit nicht nur zugibt, sondern auch<br />

stark betont. Schon damit ist implizit aber sehr viel von Christus gesagt<br />

worden 116 . Daniel als Inbild Jesu hält sich konsequent an diese<br />

Moralprinzipien: sowohl als Schauspieler im Passionsspiel als auch Daniel<br />

im Film fordert er das Publikum und die Mitmenschen zur Nachfolge auf.<br />

Wenn dieses wieder in Zusammenhang mit dem Prolog gebracht wird, kann<br />

es ein Zeichen für den impliziten Christus des Glaubens sein. Ausserdem<br />

zeigt Arcand auch einen Daniel, der sich in den entscheidenden Momenten<br />

während des Passionsspiels mit Christus völlig identifiziert. Wenn das<br />

Passionsspiel als ein ebenfalls entscheidender Teil des persönlichen Lebens<br />

Daniels rezipiiert wird, dann könnte er auch Inbild des Christus sein. Der<br />

entscheidende Moment für den Christus des Glaubens ist aber die<br />

Auferstehung, die Arcand symbolisch darstellt. Doch die letzten Bilder des<br />

Films im Abspann weisen ganz deutlich in Richtung oben und zielen zu<br />

einem Fenster hin, das mit den Worten von Baugh, ein Osterfenster 117<br />

ist.<br />

Diese symbolische Auferstehung Daniels, die zugleich auch als Erhebung<br />

Christi gelesen werden kann, steht für seine zweite Dimension. Arcand<br />

macht somit einen Bogen von Gott (Berufung im Prolog durch Daniel) über<br />

sein menschliches Leben, dann wieder zu Gott in der Auferstehung. Dieser<br />

Bogen – ein Erkennensweg – stellt einen kontinuierlichen Prozess vom<br />

114 Vgl. Ebda..<br />

115 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.42.<br />

116 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City<br />

1997, S. 113-129.<br />

166


Jesus der Geschichte im Passionsspiel zum Christus des Glaubens im Film<br />

dar. Diese Leseweise von Jesus zu Christus steht der <strong>dritten</strong> Position, die als<br />

Kontinuität bezeichnet wird, am meisten nahe.<br />

3.10. Die Mittel<br />

Während die zwei Vorgänger von Jésus de Montréal, Pasolinis Il<br />

vangelo secondo Matteo und ScorsesesThe Last Temptation of Christ, einen<br />

neuen Blick auf Jesus Christus entwerfen, zeigt dieser den Menschen Daniel<br />

Coulombe, der ganz wie Jesus erscheint 118 . Denys Arcand bringt also eine<br />

Transfiguration Jesu Christi in die Gegenwart, die aber zugleich eher eine<br />

Ausnahme unter diesen ist. Denn Jésus de Montréal ist zugleich ein<br />

expliziter Jesusfilm, der auch versucht, einen neuen Blick auf Jesus Christus<br />

zu werfen. Das Prinzip einer zweispurigen Inszenierung scheint wieder<br />

einmal Anwendung gefunden zu haben: in der Inszenierung des<br />

Passionsspiels und in der persönlichen Geschichte Daniels (Passion in der<br />

Passion).<br />

Anders als Pasolini und Scorsese, die sich die Mühe gemacht haben,<br />

beide Dimensionen Jesu Christi zu zeigen, weigert sich Arcand auf der<br />

Ebene des expliziten Passionsspiels Jesus als Christus zum Ausdruck zu<br />

bringen. Gerade hier, wo alle expliziten direkten und indirekten Jesusfilme<br />

mit einer gewissen Historisierung arbeiten, führt Arcand eine konsequente<br />

Entmythologisierung durch (das eigentliche Hauptmittel von<br />

117 Vgl. Ebd. S.129.<br />

118 <strong>Im</strong> Sinne der Definition einer Transfiguration, wie sie im ersten Teil des zweiten Kapitels<br />

aufgeführt ist.<br />

167


Tranfiguration) 119 . Es ist einerseits die dokumentarische Bearbeitung der<br />

Passion in der Kameraführung, in der kommentierten Begleitung, im<br />

schauspielerischen Einsatz des Hauptdarstellers, was viele Ähnlichkeiten zu<br />

Pasolinis Inszenierung aufweist. Andererseits ist es die bombastische<br />

Ausstattung in den Kostümen, die Maske der Schauspieler (nicht aber die<br />

Maske Jesu). Mit seiner entmythologisierten Passion schafft Arcand eine<br />

starke Irritation und Verfremdung der historischen Dimension Jesu Christi,<br />

die somit die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf Daniel richtet. Das ganze<br />

Passionsspiel erscheint so wie eine „Parodie” zu allen theatralischen<br />

Aufführungen der Passionsspiele und der Jesusfilme.<br />

Die Ebene der persönlichen Geschichte Daniels stellt die eigentliche<br />

Transfiguration Jesu in die Gegenwart dar. Diese konstruiert Arcand aus<br />

einigen neutestamentlichen Motiven (Beilage Nr. 10), die er bis in Details<br />

herausarbeitet. Sie sind dank der zahlreichen Zitate aus der Bibel erkennbar,<br />

dank der Anspielungen in den Namen der Figuren, in ihren Funktionen, die<br />

sie im Film übernehmen oder in der Ort-Symbolik. Arcand bleibt aber nicht<br />

nur auf der Ebene der <strong>Im</strong>itation Jesu 120 , wie sie Zwick bezeichnet hatte,<br />

denn er lässt auch die „unsichtbare Dimension” der Christus-Figur in der<br />

Geschichte Daniels spüren, womit wieder das Prinzip einer zweispurigen<br />

Inszenierung zum Vorschein kommt. Während es in Pasolinis Film vor allem<br />

die Musik und Kameraführung waren, die das aussagten, was im Bild<br />

einfach nicht gezeigt werden kann, sind es bei Arcand vor allem die<br />

Metaphern, die er in seiner Geschichte entwickelt und die dann die Handlung<br />

119 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologiesierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />

Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />

1990, S.17-47.<br />

120 Vgl. Ebda.<br />

168


zum Hauptmittel für die Thematisierung seiner Christus-Figur machen. Die<br />

Handlung wirkt am Ende des Films wie eine kleine „Offenbarung”, so als ob<br />

sie „verfilmt” wäre.<br />

Der Film funktioniert wie eine Parabel, die Jesus selber erzählt hatte<br />

und die auch in den Evangelien zu finden ist. Arcand will mit seinem Film<br />

ganz sicher nicht behaupten, dass Daniel im Film der Christus sei. Viel mehr<br />

möchte er den Zuschauer einladen, wie Christus, den er im Film zeigt, zu<br />

leben.<br />

169

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