49 III. KONKRETES: EINBLICK IN DREI BEISPIELE Im dritten ...
49 III. KONKRETES: EINBLICK IN DREI BEISPIELE Im dritten ...
49 III. KONKRETES: EINBLICK IN DREI BEISPIELE Im dritten ...
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<strong>III</strong>. <strong>KONKRETES</strong>:<br />
<strong>E<strong>IN</strong>BLICK</strong> <strong>IN</strong> <strong>DREI</strong> <strong>BEISPIELE</strong><br />
<strong>Im</strong> <strong>dritten</strong> Kapitel meiner Arbeit widme ich mich den Untersuchungen<br />
der Darstellungsweisen von Jesus Christus in einzelnen Filmen: Il vangelo<br />
secondo Matteo (1964), The Last Temptation of Christ (1988), Jésus de<br />
Montréal (1989). Demnach habe ich dieses Kapitel in drei alleinstehende<br />
Teile strukturiert. Je einem Teil entspricht ein Versuch der Wiedergabe des<br />
Bildes Jesu Christi, wie ich es in jedem Film wahrgenommen habe. Die<br />
Anordnung der drei Beispiele in diesem Kapitel entspricht der Reihenfolge<br />
ihrer Entstehung.<br />
Da die Unterschiede der analysierten Filme gross sind, kann das<br />
Vorgehen bei den einzelnen Analysen der Person Jesu Christi nicht ganz<br />
identisch sein. <strong>Im</strong> allgemeinen lassen sich folgende Schritte festlegen: Nach<br />
einer kurzen Charakteristik und den wichtigsten Angaben zum Film fasse<br />
ich die Handlung des Films kurz zusammen und lege die Kritik und<br />
Reaktion des Publikums zu jedem Film dar. Danach frage ich nach dem<br />
Ausgangspunkt, dem Plot bei den einzelnen Filmen und zugleich nach der<br />
eigentlichen Intention des Regisseurs. Wie und mit welchen Mitteln diese<br />
Intention verwirklicht wurde, sind Inhalte weiterer Abschnitte jedes Teiles, die<br />
mir dann die eventuellen Stärken und/oder Schwächen jedes Films<br />
enthüllen und die negative als auch positive Rezeption der betreffenden<br />
Filme begründen helfen. Da das „Märchenhafte” eines jeden solchen Films<br />
die Wunder Jesu ausmachen, widme ich diesen je einen ganzen Abschnitt.<br />
Bei den Analysen nutze ich im grossen Ausmass die Recherchen-<br />
Kenntnisse aus dem ersten Kapitel und die Sequenzbeschriebe, die ich zu<br />
jedem Film zusammengestellt und im Anhang aufgelistet habe.<br />
<strong>49</strong>
ERSTER TEIL:<br />
Jesus Christus in Pasolinis Il vangelo secondo Matteo<br />
1.1. Charakteristik und Angaben zum Film<br />
Pier Paolo Pasolini hatte Il vangelo secondo Matteo 1964 in Süditalien<br />
gedreht, in einer Zeit, die von der Suche nach einem „christlichnichtchristlichen”<br />
Dialog 1<br />
geprägt war. Er hat deshalb auch seinen Film<br />
Papst Johannes XX<strong>III</strong>., dem Förderer dieses Dialogs, gewidmet.<br />
Il vangelo secondo Matteo hat eine Länge von 140 Min. (deutsche<br />
Fassung 136 Min.) 2 und ist ganz gegen den damaligen Trend schwarz-weiss<br />
und ausschliesslich mit Laiendarstellern realisiert worden.<br />
Pasolinis Jesusfilm ist der Tradition der direkten Jesusfilme<br />
zuzuordnen. Mit der Darstellung Jesu Christi nach einem einzigen<br />
Evangelium brachte er für längere Zeit ein Ende der synoptischen<br />
Darstellungsweisen 3 . Die Uraufführung fand am 4. September 1964<br />
anlässlich des Filmfestivals von Venedig statt 4 .<br />
Das deutschsprachige Publikum lernte Pasolinis Il vangelo secondo<br />
Matteo unter dem Titel Das Erste Evangelium – Matthäus 1965 kennen 5 .<br />
Seitdem wird der Film sporadisch am Fernsehen gezeigt, in Deutschland<br />
1 Vgl. HORSTMANN, Johannes: Christusbilder im Spielfilm. Notizen zu einigen Aspekten<br />
filmischen Erzählens von Jesus. In: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />
Bistums Essen 5-6, 1991, S. 15.<br />
2 Angaben nach: PR<strong>IN</strong>ZLER, Hans Helmut: Filmografie. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. 201.<br />
3 Nach 1964 sind zwar einige synoptische Jesus-Verfilmungen entstanden, die aber nicht das<br />
Niveau von Pasolinis Film erreicht haben.<br />
4 Vgl. PR<strong>IN</strong>ZLER, Hans Helmut: Filmografie. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram<br />
(Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. 201.<br />
5 Ebda.<br />
50
gehört er „(...) zum österlichen Standard-Programm zunächst der öffentlich<br />
rechtlichen, dann zunehmend der privaten Anstalten” 6 .<br />
Die mehrmaligen Wiederholungen am Bildschirm halfen dabei, Il<br />
vangelo secondo Matteo im Gedächtnis des Publikums am Leben zu<br />
erhalten. Für die „Unsterblichkeit” dieses Films sorgt aber am besten Pasolini<br />
selber und nicht nur die Kino- und TV-Veranstalter, denn der Film findet auch<br />
heute noch breite Anerkennung 7 .<br />
1.2. Die Handlung<br />
Eine junge Frau namens Maria erwartet ein Kind. Es ist das Kind, das<br />
sein Volk von seinen Sünden erlösen wird (vgl. Mt 1, 21) und dem sie<br />
zusammen mit ihrem Verlobten Josef den Namen Jesus geben wird, damit<br />
sich erfüllt, was die Propheten gesagt haben: „(...) man wird ihm den Namen<br />
<strong>Im</strong>manuel geben, das heisst übersetzt: Gott mit uns.” (vgl. Mt 1, 23) Der<br />
junge Mann Jesus stammt aus einfachen Verhältnissen und ist sich seiner<br />
einzigartigen Aufgabe und seiner göttlichen Sendung bewusst. Bei der Taufe<br />
durch Johannes den Täufer wird Jesus als der Sohn Gottes bezeugt und<br />
nach der Festnahme von Johannes dem Täufer beginnt er seine Sendung<br />
allen Menschen zu verkünden. Unter den „Kleinsten dieser Welt” wählt er<br />
sich seine Anhänger aus, zieht mit ihnen durch das ganze Land, lehrt und<br />
verbreitet die Botschaft vom Reich Gottes. Er handelt und spricht<br />
kompromisslos, tritt lautstark und engagiert auf. Seine Gedanken sind nicht<br />
leicht zu verstehen und treffen deshalb nicht auf allzu grosse Sympathien<br />
6 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: Baumgartner, Konrad; Rück, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 72.<br />
51
und Zuneigung der Massen. Doch der Anziehungskraft Jesu kann sich kaum<br />
jemand entziehen. Es ist gerade diese seine Kraft und Kompromisslosigkeit,<br />
die bei den Mächtigen dieser Welt sowie den Schriftgelehrten und<br />
Pharisäern schnell auf Widerstand stösst und Jesus ans Kreuz führt. Sein<br />
Tod markiert aber kein Ende: er bleibt seiner erlöserischen Aufgabe treu und<br />
verspricht seinem Volk und seinen Anhängern, mit ihnen bis zum Ende der<br />
Welt zu bleiben (vgl. Mt 28, 20).<br />
1.3. Kritik und Reaktion des Publikums<br />
Die Reaktionen auf Pasolinis Film sind sehr unterschiedlich gewesen.<br />
Die zahlreichen Zeitungsartikel und gesammelten Fachkritiken zeugen<br />
sowohl von Lob als auch von Ablehnung:<br />
„Kein Film Pasolinis – ausgenommen vielleicht sein letzter, ‘Saló’,<br />
dessen Diskussionen jedoch durch Aufführungsverbote abrupt<br />
abgeschnitten wurden – hat derart viele kontroverse Meinungen<br />
provoziert wie ‘Il vangelo secondo Matteo’.” 8<br />
Die Ursachen dafür werden dabei immer wieder in den Zusammenhang<br />
gebracht, dass ihn ein Marxist geschaffen hatte 9 . Die Vorwürfe der Marxisten<br />
zielten darauf, dass der Film nicht marxistisch und atheistisch genug sei; die<br />
7 Vgl. BIEGER, Eckhard: Revolte und Religion. Gedanken zu Pasolinis Jesus-Gestalten im<br />
Abstand von 30 Jahren. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und<br />
Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 32-35.<br />
8 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Kommentierte Filmografie. Il vangelo secondo Matteo. In:<br />
JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12.<br />
München, Wien 1977, S. 122.<br />
Dazu noch: Vgl. Ausgewählte Kritiken und Materialien zu: Das 1. Evangelium – Matthäus. In:<br />
film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Fillme.<br />
November 1992, S. 62-65.<br />
9 Das könnte auch einer der Gründe gewesen sein, warum Il vangelo secondo Matteo so<br />
rasch auch in den Kinos der damaligen osteuropäischen Ländern gezeigt werden durfte:<br />
1965 in Budapest und drei Jahre später 1968 in Prag und in den slowakischen Kinos.<br />
Vgl. Kol. von Autoren: Encyklopédia filmu. Bratislava 1993, S. 984.<br />
Vgl. Kol. von Autoren: Kronika filmu. Praha 1995, S. 351.<br />
52
Kritik der Fundamentalisten zielte dahin, der Film wolle eine fragliche<br />
Analogie zwischen Christus und Lenin herstellen 10 .<br />
Seitens der zeitgenössischen Filmkritik ist der Film mit grosser<br />
Anerkennung aufgenommen worden: Unmittelbar nach seiner Uraufführung<br />
am 4. September 1964 am Filmfestival von Venedig ist Il vangelo secondo<br />
Matteo mit dem Sonderpreis der Internationalen Jury ausgezeichnet worden;<br />
das OCIC (Office Catholique International du Cinèma) verlieh ihm den<br />
Grossen Preis und ausserdem wurde er „(...) 1965 als erster Jesusfilm in die<br />
Jahresbestenliste der katholischen Film- und Fernsehliga aufgenommen.” 11<br />
Pasolini soll in den Augen der damaligen Fachkritik einen Ansatz<br />
gründen, der zur Deutung des Jesusereignisses in der Konfrontation von<br />
biblischer Überlieferung mit dem Marxismus beiträgt 12 . Und dies dank der<br />
persönlichen Annäherung Pasolinis an die Gestalt Jesu Christi mit einem<br />
eigenen, fast nicht wiederholbaren Stil. Der Film ist in die (Jesusfilm-)<br />
Geschichte als ein Versuch eingegangen, der Jesus Christus dem heutigen<br />
Publikum verständlicher machen möchte 13 .<br />
Trotz dieses grossen Wirbels um den Film und den Regisseur<br />
(„Allerorten sprach man vom ‘Pasolini-Ereignis’” ) 14 konnte der Film zur Zeit<br />
der ersten Aufführungen nicht viele Zuschauer für sich gewinnen. <strong>Im</strong><br />
10 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Kommentierte Filmografie. Il vangelo secondo Matteo. In:<br />
JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12.<br />
München, Wien 1977, S. 122-131.<br />
Vgl. SB: Ein neuer Leben-Jesu-Film. In: Orientierung 29, 1965, S. 178-179.<br />
11 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: Baumgartner, Konrad; Rück, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 100.<br />
12 Dabei sei hier Marxismus im spezifischen italienischen Stil und Verständnis gemeint, der<br />
nicht ganz im Gegensatz zum Christentum steht, sondern dessen Züge beinhaltet.<br />
Vgl. Ebda. S. 90.<br />
13 Vgl. Ebda. S. 101.<br />
14 Vgl. Ebda. S. 65.<br />
53
Kinogeschäft zählte er nicht zu den Kassenschlagern à la Rays King of Kings<br />
und Stevens` The Greatest Story Ever Told:<br />
„Das grosse Publikum blieb ihm versagt; die Reaktion vieler<br />
Kinogänger auf seinen von der Kritik als ‘sozialkritisch’<br />
angekündigten Jesus, der in kargen Bildern agierte, war also<br />
sozusagen die ‘Nicht-Reaktion’, das Fernbleiben.” 15<br />
Diese Nicht-Reaktion des Publikums und eine schwache Werbung für<br />
den Film seitens der Organisatoren und Kinoveranstalter seien sogar dafür<br />
verantwortlich gewesen, dass sich der Film für den Verleih nicht ausgezahlt<br />
habe und bald von den Spielplänen verschwinden müsste 16 .<br />
Erst später habe Il vangelo secondo Matteo das Publikum für sich<br />
gewinnen können, als er auch via Fernsehen bekannt geworden sei 17 . Die<br />
Gründe sind der Tatsache zugeschrieben worden, dass Pasolini damals ein<br />
ungewöhnliches, dem breiten Publikum eher nicht vertrautes Bild von Jesus<br />
dem Christus, der als ein Revolutionär angekünigt wird, gebracht hat.<br />
Die spontanen Eindrücke des heutigen Publikums zeugen davon,<br />
dass der Film in vielen Menschen eine neuerwachte Neugier erweckt, sich<br />
mit dem Matthäus-Evangelium eingehender zu beschäftigen 18 . Mir ging es<br />
ähnlich. Beim Visionieren vom Pasolinis Film hatte ich das Gefühl gehabt,<br />
plötzlich ein lebendiges Evangelium gesehen zu haben und das Bedürfnis,<br />
nach Matthäus zu greifen und es Wort für Wort und Zeile für Zeile mit dem<br />
Film zu vergleichen. Das habe ich auch getan und dazu einen Vergleich des<br />
15 Vgl. Ebda. S. 80.<br />
16 Vgl. Ebda. S. 72.<br />
17 Vgl. Ebda.<br />
18 Vgl. HUPPMANN, Roland: Hauptrolle Jesus. In: Das Genre der Jesusfilme. Arbeitshilfe für<br />
Filmseminare 1. Institut für Kommunikation und Medien der Hochschule für Philosophie –<br />
München (Hg.). München Oktober 1986, S.3.<br />
54
Films mit dem Matthäus-Evangelium zusammengestellt (im Anhang Beilage<br />
Nr. 4), der mich auf folgendes aufmerksam gemacht hat:<br />
1. Pasolini hat mit seinem direkten Jesusfilm die Arbeit eines Evangelisten<br />
geleistet. (Abschnitt 1.4. dieses Kapitels);<br />
2. In seiner Verabeitung hat Pasolini beide Dimensionen Jesu respektiert<br />
und gleichwertig zum Ausdruck bringen wollen. (Abschnitt 1.5., 1.6. dieses<br />
Kapitels);<br />
3. Die Mittel, die im Film Pasolinis als Stärken zu bewerten sind, können sich<br />
zugleich als seine Schwächen auswirken. (Abschnitt 1.7. 1.8. dieses<br />
Kapitels).<br />
1.4. Matthäus als „Drehbuchautor”?<br />
Aus der Beilage Nr. 4, dem Vergleich des Films und des<br />
Evangeliums, 19<br />
ist zu entnehmen, dass Pier Paolo Pasolini seine<br />
Drehbuchvorlage, das Matthäus-Evangelium mit solcher Präzision verfolgt<br />
hat, dass man auf den ersten Blick einerseits sagen möchte, Matthäus<br />
selber habe das Drehbuch geschrieben. Andererseits muss man aber<br />
gestehen, dass Pasolini selber die Aufgabe des Evangelisten übernommen<br />
und das Evangelium neu zusammengestellt hat. Beide Eindrücke haben<br />
etwas an sich.<br />
Den Eindruck der Präzision und den Respekt gegenüber der<br />
literarischen Vorlage zeigt Pasolini mit der möglichst grossen Treue zum<br />
19 Zwick bietet einen Vergleich vom Pasolinis Film mit dem Matthäus-Evangelium mit<br />
detailliert markierten Verschiebungen und Veränderungen an. Für meine Bedürfnisse schien<br />
er mir aber viel zu komplex zu sein: Ich möchte mit meiner Arbeit keine theologische Analyse<br />
dessen bieten, wie das Matthäus-Evangelium im Film von Pasolini verarbeitet worden ist,<br />
sondern was für ein Bild von Jesus Pasolini mit seinem Film gebracht hat.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
55
Originaltext des Matthäus-Evageliums, indem er für seinen Film ganze<br />
Passagen des Matthäus-Evangeliums teilweise sogar wort-wörtlich<br />
übernimmt und keine eingenen Texte – keine erfundenen Dialoge oder<br />
Monologe zufügt. Er lässt seine Figuren das erzählen, was im Evangelium<br />
steht und fügt nur wenige Texte aus dem Alten Testament hinzu (die Jesaja-<br />
Ergänzungen) 20 . Somit wird die Reinheit des Textes gegenüber der<br />
biblischen Vorlage gesichert.<br />
Ebenfals „erfindet” Pasolini keine neuen Geschehnisse, die das<br />
biblische Geschehen eventuell ergänzen könnten. Er beschränkt sich nur auf<br />
die Ereignisse, die auch in der Bibel vorhanden sind. Das Maximum, das er<br />
sich erlaubt, besteht darin, dass er bestimmten biblischen Ereignissen mehr<br />
Platz zuteilt, als in der Vorlage vorhanden ist. So ist z. B. die Verkündigung,<br />
die Huldigung der Sterndeuter, der Kindermord, der Tod von Herodes, der<br />
Tanz von Salome oder das Geschehen um den Tod von Johannes dem<br />
Täufer inszeniert. Allerdings bleibt er auch hier dem Original treu. Diese<br />
Stellen im Film verlaufen fast ohne Worte, womit sie wie Stummfilm-<br />
Sequenzen wirken. Die ergänzenden Worte des Erzählers (Stimme des<br />
Propheten Jesaja) und die spärlichen Dialoge werden somit zu recht mit den<br />
Zwischentiteln eines Stummfilmes verglichen.<br />
Was die Personen betrifft, ist Pasolini gegenüber der literarischen<br />
Vorlage auch treu. Sie werden mit den vorgeschriebenen Charakteren und<br />
ihren Aufgaben übernommen (Johannes der Täufer ist der Wegvorbereiter<br />
Jesu, Judas ist der Verräter, Maria ist die schweigend leidende Mutter).<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 165-<br />
169.<br />
20 Zwick führt diesbezüglich eine genauere Analyse des Textes durch und stellt fest, dass die<br />
hinzugefügten Texte im Film keine Erfindungen Pasolinis sind, sondern wiederum Zitate<br />
andrer Bibelstellen.<br />
56
Seine Treue gegenüber der literarischen Vorlage des Matthäus-<br />
Evangeliums betrifft aber nicht die Anzahl der übernommenen Stellen, ihre<br />
Auswahl und ihre neue Anordnung. Pasolini hat natürlich nicht alles<br />
verfilmen können. Die Auslassungen und Umstellungen beginnen im Film<br />
schon ziemlich früh – gleich zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu nach<br />
der Berufung der ersten Jünger – und verlaufen bis zum Leiden und zur<br />
Auferstehung Jesu. Der Anfang und das Ende des Films bleibt identisch mit<br />
Matthäus. Die meisten Auslassungen betreffen gerade die Stellen des<br />
Evangeliums, die ich im ersten Kapitel als die schwierigsten zum Verfilmen<br />
bezeichnet habe: die Reden Jesu – sie werden nur teilweise übernommen;<br />
die Gleichnisse – sie fallen fast alle weg; die (Wunder-)Taten Jesu – sie<br />
fallen ebenfalls fast alle aus. Die übernommenen Teile ordnet dann Pasolini<br />
neu an (Beilage Nr. 4).<br />
In Bezug zu Jesus als Revolutionär, ist vor allem die Auswahl der<br />
übernommenen und ausgelassenen Stellen des Evangeliums, die Pasolini<br />
für den Film getroffen hat, von Bedeutung. Aus exegetischer Sicht hat Zwick<br />
diese Problematik untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass Pasolini<br />
die Rolle Jesu als Autoritätskritiker und Sozialreformer besonders betont 21 .<br />
Aus dem Umgang Pasolinis mit dem Evangelium kann man<br />
schliessen, dass er mit grösster Vorsicht und Respekt mit den Matthäus-<br />
Texten umgegangen ist, so als ob er das „Heiligtum” dieses Textes nicht<br />
zerstören wollte. Somit spürt man in seinem Film auch einen gewissen Grad<br />
an „Heiligkeit”.<br />
Pasolini übernimmt ebenfalls die Grund-Intention des Evangelisten: er<br />
möchte keine Biographie von Jesus herstellen und ist an den fehlenden<br />
Vg. Ebda. S. 173-177.<br />
57
Informationen des Evangeliums nich interessiert. Er hält sich ausschliesslich<br />
nur an den vorliegenden Text, was ihn auch dazu zwingt, die Struktur des<br />
Films vom Evangelium zu übernehmen. Somit lösst er auch das Problem der<br />
Zeit- und Ort-Sprünge, der fehlenden Zusammenhänge im Evangelium, die<br />
er einfach nicht wahrnimmt und seine Sequenzen, ähnlich wie die Kapitel<br />
des Evangeliums, ordnet. Somit ist vom Anfang an zu spüren, dass Pasolinis<br />
Verfilmung kein „Jesus-Abenteuerfilm” ist, sondern eine Art Kunststück,<br />
Kunst-Bilderzyklus mit gespielten Szenen zu Matthäus-Texten. Was aber<br />
Pasolini noch mehr als bei Matthäus unterstreichen möchte, ist die<br />
eigentliche Intention von Matthäus:<br />
„Bei Matthäus geht es nicht mehr (wie bei Markus) um die Frage<br />
des Christwerdens, um Glaube oder Unglaube, ihm geht es um<br />
die Frage der Bewährung im Christsein, um Glaube oder<br />
Kleinglaube.” 22<br />
Pasolini wendet sich unter anderen ebenfalls an eine gläubige<br />
Gemeinschaft (der Film ist schliesslich Papst Johannes XX<strong>III</strong>. gewidmet) und<br />
innerhalb dieser bekämpft er in einer teilweise aktualisierten Form Heuchelei,<br />
Pharisäertum, inkonsequente Glaubensausübung und soziale<br />
Ungerechtigkeit. Es geht ihm um den kleinen Menschen, um die Liebe zu<br />
ihm und um Gerechtigkeit, die sein Jesus vehement verteidigt. Diesem Ziel<br />
ordnet er alle seine Mittel unter; so dass man am Schluss sagen möchte,<br />
Pasolini hätte das Evangelium zwar nicht neu geschrieben, er hat es aber<br />
neu geordnet und dabei geradezu ein „Evangelium nach Pasolini”<br />
zusammengestellt.<br />
21 Vg. Ebda. S. 181.<br />
22 Vgl. BECK, Eleonore; MILLER, Gabriele: Das Evangelium nach Matthäus.Anmerkungen.<br />
In: Die Heilige Schrift. Familienbibel. Luzern 1966.<br />
58
1.5. Zwischen Jesus und Christus<br />
Einige Autoren stellen fest, dass Pasolini den Stammbaum aus dem<br />
Matthäus-Evangelium nicht thematisiert hat. Doch der Film beginnt gleich im<br />
Vorspann mit einer musikalischen Verdichtung. Es erklingen zwei<br />
Musikarten, die nicht nur den Hauptmusikeinsatz im Film repräsentieren,<br />
sondern zugleich den eigentlichen Stammbaum Jesu symbolischmusikalisch<br />
darstellen: die kreolische Messe und die Matthäus-Passion von<br />
J. S. Bach 23 . Sie beide stehen da für das Leben und das Leiden Jesu<br />
Christi und für seine zwei Dimensionen: für die menschliche und die<br />
göttliche. Somit erfüllen sie die eigentliche Funktion des<br />
„Stammbaumes” im Film. Wenn der Stammbaum Jesu im Evangelium<br />
andeutet, dass im Menschen Jesus der für Christus nötige Ursprung<br />
verborgen ist und dass die Geschichte Jesu Christi im Evangelium die<br />
Geschichte Christi, des Sohnes Gottes ist, dann füllen die zwei Musikarten<br />
genau diese Funktion im Film aus. Pasolini wählt diese musikalische<br />
Verdichtung, um seine Absicht auszudrücken und dieses Prinzip von<br />
„Zweispurigkeit” zieht er wie einen roten Faden durch den ganzen Film.<br />
1.5.1. Zwei Charakteristiken Jesu Christi<br />
Jesus von Nazaret wird in Il vangelo secondo Matteo von Enrique<br />
Irazoqui, einem jungen spanischen Studenten verkörpert. Rein vom<br />
Aussehen her trägt er zwar einige Züge des bekannten „Nazarener-Typus”,<br />
entspricht aber nicht dem süsslichen Nazarener, wie er von früheren Filmen<br />
23 Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />
Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />
Film 12. München, Wien 1977, S. 38-40.<br />
59
her dem Publikum vertraut ist: Enrique Irazoqui hat ein ovales Gesicht, stark<br />
ausgeprägte Augenbrauen, eine langgezogene Nase, dunkle Haare. Er ist<br />
aber kein blauäugiger „Weichling”, hat dunkle Augen und einen überwiegend<br />
strengen, durchdringenden Blick. Er hat kein langes gelocktes, sondern<br />
kurzes glattes Haar, trägt keinen auffallenden, längeren Bart, sondern nur<br />
eine Art „Dreitagebart”.<br />
Die körperliche Konstitution von Pasolinis Jesus entspricht ebenfalls<br />
nicht dem starken, kräftigen Mann der meisten Jesusfilme (wie z.B. Rays<br />
The King of Kings, Stevens`The Greatest Story Ever Told, Zeffirellis Gesú di<br />
Nazareth aber auch Scorseses The Last Temptation of Christ). Enrique<br />
Irazoqui ist nicht zu gross und wirkt eher verletzlich. Pasolini selber solle<br />
Irazoquis Jesus mit den Portraits des leidenden Christus von Rouault und El<br />
Greco verglichen haben 24 . Mit diesem Typ von Irazoqui lösst er sich zwar<br />
nicht vom einem gewissen Pathos, vermeidet aber gleichzeitig eine<br />
Identifikation Jesu mit dem stereotypen Nazarener einerseits und eine völlige<br />
Fremd-Wirkung auf den Zuschauer andererseits.<br />
Mit der Austrahlung, die Irazoqui seiner Figur verleiht, gibt er seinem<br />
Jesus einige Züge einer durchaus einzigartigen Person. Auch hier sind<br />
wieder zwei Verhaltensweisen Jesus-Irazoqui identifizierbar: die strenge und<br />
die „weiche”. Jesus ist eher zurückhaltend, zugleich aber auch selbstbewusst<br />
im Auftreten. Er provoziert nicht, sucht keine Konflikte, geht ihnen aber auch<br />
nicht aus dem Weg. Er hat keine Angst vor der Konfrontation beim<br />
Meinungsaustausch und trotzdem kann er weinend kurz vor seinem Tod im<br />
Garten Getsemani niederknien. Diese seine Haltung entspricht auch ganz<br />
24 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 375.<br />
60
der Physiognomie von Jesus-Irazoqui und seinen zwei Charakteristiken: er<br />
ist ernsthaft so beim seinem öffentlichen Auftreten, zeigt aber auch<br />
einfühlsam Tränen, als er erfährt, dass Johannes der Täufer getötet wurde<br />
Sq.25; er lächelt bei der Begegnug mit ihm Sq. 10, oder mit Kindern z.B. Sq.<br />
27. Jesus wirkt sicher und selbstbewusst in seinen Worten und Taten, hat<br />
fast immer eine sehr ernste Miene, ist eher traurig als sprudelnd vor<br />
Lebensfreude, weswegen er auch als Jesus der Pantokrator bezeichnet<br />
wird 25 . Zugleich aber ist er durchaus menschlich: die einfachen, kranken<br />
und armen Menschen finden bei ihm Zuflucht, folgen ihm und hören ihm zu.<br />
Ob sie ihn auch gut verstehen, ist allerdings nicht ganz klar; es findet kaum<br />
ein Dialog zwischen dem Volk und Jesus statt. Mit dieser zweierlei<br />
Charakteristik schafft Pasolini eine klare Trennung Jesu von den anderen<br />
Personen im Film.<br />
Aus den Charakteristiken von Jesus Christus könnte man schliessen,<br />
dass Pasolini durch das Äussere an seinem Jesus und das Innere an ihm<br />
die Dimension Christi an Jesus betonen wollte. Es ist gerade das Nahe, das<br />
Bekannte an seinem Christus und zugleich das weit Entfernte, das<br />
Unerreichbare an ihm, was in der Vorstellungswelt des Publikums von Jesus<br />
Christus präsent ist: Jesus zeigt sich zugleich als strenger und herrschender<br />
Christus, aber auch als leidender Bruder. Diese zwei Bilder von Jesus dem<br />
Christus sind zwar auch dem Publikum bekannt, aber gerade in dieser<br />
Kombination eher ungewöhnlich. Pasolini selber sprach von einer<br />
25 Vgl. Ebda. S. 387.<br />
Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Fillm 12. München,<br />
Wien 1977, S. 128.<br />
61
„schrecklichen Zweideutigkeit”, 26 die er seinem Jesus verliehen hat und mit<br />
der er für eine gewisse Verwirrung beim Publikum sorgte (die schon<br />
erwähnte „Nicht-Reaktion” des Publikums). Sein Jesus agiert und leidet nicht<br />
für sich selbst, er steht da für die Menschen, für das Publikum, dem somit<br />
nichts anderes bleibt, als sich auf diesen Christus einzulassen oder ihn<br />
abzulehnen.<br />
1.5.2. Zwei Aufgaben Jesu Christi<br />
Auf der Handlungsebene lässt Pasolini wieder im Sinne der<br />
„Zweispurigkeit” Jesus als Propheten und als Erlöser erkennen – als den<br />
Nachfolger von Johannes dem Täufer und als den von Gott gesandten Sohn.<br />
1. Jesus und Johannes der Täufer – Jesus als Prophet<br />
Die Geschichte von Johannes dem Täufer wird in einigen kurzen<br />
Sequenzen zu einer Parallelhandlung entwickelt, die das Schicksal Jesu<br />
immer einige Züge voraus andeutet und ihm somit tatsächlich bis zum<br />
Täufers Tod „den Weg bereitet”.<br />
Johannes der Täufer wird als ein Prophet dargestellt, der das<br />
Ankommen des Messias verkündet, deswegen in Konflikt mit den Pharisäern<br />
gerät und dafür sein eigenes Leben hingibt. Pasolini verändert somit das<br />
Motiv der Enthauptung von Johannes dem Täufer: Obwohl die Schuld daran<br />
entsprechend dem Evangelium weiterhin Herodias trägt, wird zum Grund<br />
seiner Festnahme nicht der Vorwurf des unmoralischen Zusammenlebens<br />
Herodes mit Herodias (Mt. 14,3-5), sondern die eigentliche Wirkung von<br />
26 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Fillm 12. München,<br />
Wien 1977, S. 123.<br />
62
Johannes dem Täufer, die man ebenfalls als revolutionär bezeichnen kann.<br />
Auch er bekämpft die Heuchelei, verkündet das Heil den Armen, Kranken<br />
und „Kleinen” dieser Welt (Sq.10). Sogar einen Judas findet Pasolini zu ihm<br />
– die Herodias, indem Pasolini durch sie den Verrat am Täufer symbolisch<br />
inszeniert. Das geschieht durch einen Kuss von Herodias an Salome(Sq.24).<br />
Das Opfer Johannes des Täufers wird wiederum durch ein symbolisches<br />
Tanz-Spiel (Sq.24) von der festlich gekleideten Salome inszeniert, wo durch<br />
einen Zweig dargestellte Unschuld des Johannes des Täufers zu den<br />
Füssen des mächtigen Herodes gelegt wird. Die ganze Sequenz ist wie ein<br />
zärtliches Spiel inszeniert, belegt durch leichte spielerische Töne der Flöte,<br />
die aber ab und zu unterbrochen werden, als ein Zeichen der Unsicherheit<br />
oder eine Vorahnung des Verbrechens an einem Unschuldigen. Die Szene<br />
der Enthauptung wird mit der Musik begleitet, die zum ersten Mal beim<br />
Kindermord in Betlehem (Mt. 2, 16-18; Sq.7) erklingt, womit Pasolini wieder<br />
auch eine musikalische Parallele zum Lebensweg Jesu Christi schafft.<br />
<strong>Im</strong> Bild wird Jesus als „Nachfolger” von Johannes dem Täufer zum<br />
ersten Mal bei der Taufe im Jordan definiert (Sq.10): nach der Verkündigung<br />
der Ankunft des Messias überblendet das Bild Jesus in einer<br />
Grossaufnahme das Bild von Johannes dem Täufer. Dieser Wechsel der<br />
Einstellungen, der auf eine Übergabe der Aufgaben hinweist, wird auch<br />
musikalisch betont. Während Johannes die Menschen im Jordan tauft<br />
(Sq.10), ertönt die gleiche Musik, die die Huldigung der Sterndeuter (Sq.4)<br />
begleitet: „Sometimes I feel like a Motherless Child...” Nach dem<br />
„Erscheinen” Jesu am Jordan geht dann die Musik in ausgesprochene<br />
Trauermusik über, was den Unterschied zwischen Jesus und Johannes auch<br />
musikalisch zum Ausdruck bringt. Johannes der Täufer wird im Laufe des<br />
63
Films noch ein paar Mal kurz eingeblendet (Sq.12, 20, 24), nicht mehr aber<br />
als engagierter Verkünder, sondern als Mann, der das Kommen des Reiches<br />
Gottes erwartet.<br />
2. Jesus als Erlöser<br />
Drei wichtige Momente lassen Jesus als den von Gott gesandten<br />
Erlöser erkennen: Die Ankündigung der Geburt Christi (Sq.1), das Motiv der<br />
Ankündigung der Geburt Christi zum zweiten Mal (Sq.22) und die<br />
Auferstehung (Sq.41).<br />
Das allererste Bild des Films ist die Grossaufnahme von Maria, einer<br />
jungen, eher traurigen Frau, die schweigend und gehorchsam den Willen<br />
Gottes erfüllt: sie erwartet „das Kind aus dem Heiligen Geiste” – Jesus wird<br />
geboren werden (Sq.1). Damit diese Wahrheit bestätigt und wahrgenommen<br />
werden kann, „schickt Gott seinen Engel” auf die Erde, der dem verwirrten<br />
Josef, dem zukünftigen Mann Marias alles erklärt: „(...) Sie wird einen Sohn<br />
gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von<br />
seinen Sünden erlösen.”(Mt. 1,21, Sq.1). Dies lässt den Film als eine<br />
Geschichte vom Erlöser Jesus lesen. Nach dieser Sequenz (Nr.1) ordnet<br />
Pasolini das ganze öffentliche Wirken Jesu: Wahl der Zwölf, Von der Grösse<br />
der Ernte, Aufforderung zum furchtlosen Bekenntnis, Seligpreisungen, die<br />
Bergpredigt, Beginn der Entscheidung, aber auch die zwei übernommenen<br />
Heilungen und der Gang auf dem Wasser (die Reihenfolge ist in der Beilage<br />
Nr. 4 und 5 markiert).<br />
Zu einem Bruch, der als eine neue „Ankündigung der Geburt Christi”<br />
gelesen werden kann, kommt es nach der Sequenz Nr. 21 – die etwa die<br />
Verteidigungsrede Jesu, die Verweigerung eines Zeichens und die Rede von<br />
den wahren Verwandten Jesu beinhaltet. Hier (Sq.22) setzt Pasolini das<br />
64
Motiv der Ankündigung der Geburt Christi vom Anfang des Films zum<br />
zweiten Mal ein und lässt den Erlöser selber kommen. Von der<br />
Nahaufnahme der alten Maria werden die Jünger in Halbnah überblendet.<br />
Sie gehen am Haus Marias vorbei, Maria steht vor dem Haus, schaut ihnen<br />
traurig zu, Jesus in Grossaufnahme mit Tränen in den Augen und einem<br />
traurigen „Röntgenblick” zu ihr hin geht seinen Weg, den Weg des Erlösers.<br />
Auch das Motiv des Ankommens Josefs in die Stadt, wo ihm der Engel zum<br />
ersten Mal begegnet ist, wiederholt sich hier. Diesmal wird kein Bote zu<br />
Menschen geschickt; der Sohn Gottes selber kommt in die Stadt (Sq.23).<br />
Von diesem Moment an übernimmt Jesus deutlich seine erlöserische<br />
Aufgabe. Nach dieser Sequenz werden die Sequenzen geordnet (Beilage Nr.<br />
5) wie die Enthauptung von Johannes dem Täufer, das ganze<br />
Passionsgeschehen (alle Ankündigungen von Leiden und Auferstehung, das<br />
Messiasbekenntnis des Petrus, Einzug in Jerusalem und die entscheidenden<br />
Konflikte Jesu mit Pharisäern, das letzte Abendmal, Tod Jesu bis zu seiner<br />
Auferstehung). Rein inhaltlich sind in dieser zweite Hälfte des Films die Teile<br />
plaziert, die Jesus als Christus erkennen lassen. Diese seine erlöserische<br />
Aufgabe erfüllt sich endgültig mit der Auferstehung Christi (Sq.41). Hier<br />
erinnert das Bild wieder an den Anfang des Films: das allerletzte Bild ist<br />
Jesus in der Grossaufnahme und ähnelt der Grossaufnahme der jungen<br />
Maria. Dieses Bild kann als die Aussage interpretiert werden, dass am<br />
Anfang des Films Jesus, am Ende Christus geboren wurde. Die lertzen<br />
Worte Jesu sind: „Ich bleibe mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.” Die<br />
Zusage Gottes vom Anfang des Films erfüllt sich und – um an das erste<br />
Kapitel anzuknöpfen – der Erkennensweg von Jesus zu Christus im Film<br />
wird vollendet.<br />
65
1.5.3. Zum Ansatz Pasolinis<br />
In der Intention von Pasolini ist die Beziehung Jesu zum Volk und zu<br />
den Pharisäern von grösserer Bedeutung, denn gerade dadurch kann Jesus<br />
als ein Revolutionär wahrgenommen und der Ansatz Pasolinis definiert<br />
werden. Diese Beziehung Jesu zum Volk ist hier ganz spezifisch, wiederum<br />
„zweispurig”, und ich würde sie als „kämpferisch-zärtlich” bezeichnen.<br />
Pasolini selber hat diese Eindrücke bestätigt, als er sich über das Matthäus-<br />
Evangelium folgendermassen geäussert hat:<br />
„The Christ (of Matthew) who moves through Palestine is really a<br />
revolutionary whirlwind: anyone who comes up to two people and<br />
says‚ Throw away your nets, follow me, and I will make you fishers<br />
of men,’ is totally revolutionary.” 27<br />
Dazu trägt noch sein besonderer Musik-Einsatz und die Bild-<br />
Komposition bei, für die sich Pasolini entschieden hatte. Die Tatsache, dass<br />
der Film schwarz-weiss und nicht in Farbe gedreht wurde, macht auf eine<br />
Eigenschaft Jesu aufmerksam, die man auch als revolutionär bezeichnen<br />
kann – seine Kompromislosigkeit. Diese zeigt sich vor allem im Kampf gegen<br />
das Pharisäertum, wo Jesus als Führer und als Mitte seines Volkes und<br />
seiner Angehörigen zugleich gezeigt wird.<br />
1. Jesus und das Volk<br />
Der Konflikt mit den Pharisäern, lässt Pasolini schon bei der ersten<br />
persönlichen Auseinandersetzung Jesu mit ihnen spüren, als diese<br />
vorhatten, Jesus zu töten (Sq.17). Diesem Komplott geht aber das Wirken<br />
27 Zit. nach:<br />
66
Jesu voraus, das nach der Festnahme von Johannes dem Täufer einsetzt<br />
(Sq.12). Da (Sq.13) wird Jesus gezeigt, wie er energisch durch das Land<br />
zieht und die entgegenkommenden Landarbeiter anspricht: „Endet eueren<br />
Sinn, denn das Himmelreich ist nahe!” (Mt. 4,17) Gerade dieser Moment ist<br />
als Anfang seiner öffentlich-revolutionären Wirkung gegen das Pharisäertum<br />
zu bezeichnen. Indem sich Jesus hier gerade an die Landarbeiter wendet<br />
und dazu noch ein Partisanenlied 28 ertönt, lässt Pasolini seine revolutionären<br />
Züge und Absichten erkennen. Diese erklärt er nach der Berufung der<br />
Jünger auch verbal. Er gibt seinen Anhängern die ersten Anweisungen und<br />
fügt bei: „Denkt nicht, ich bin gekommen, um Frieden zu bringen, sondern<br />
das Schwert” (Mt. 10, 34-36; Sq.14). Dieses biblische Wort von der Spaltung<br />
wird von manchen als Motto des ganzen Films angesehen 29 . Jesus bekämpft<br />
die Heuchelei, die er fast ausschliesslich bei den Reichen und Geistlichkeit<br />
findet. Andere Machthaber der Welt scheinen ihn im Grunde gar nicht zu<br />
interessieren. (Herodes und die Römer sind zwar im Film anwesend, spielen<br />
aber eher eine untergeordnete Rolle; sie sind nur die Ausführenden der<br />
Befehle der Pharisäer und Schriftgelehrten – Sq.35-38 Festnahme und<br />
Verhör Jesu.)<br />
Pasolini zeigt mit dem auffälligen Einbezug der Landarbeiter ins<br />
Geschehen eine besondere Stellung Jesu zum Volk auch im Bild. Er habe<br />
das Volk zum 13. Jünger Jesu gemacht, immer wenn er seine Anwesenheit<br />
durch die „Volks-Perspektive”, oft mit bewegter Kamera, habe spüren<br />
BAUGH,Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Kansas City 1997, S. 95.<br />
28 Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />
Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />
Film 12. München, Wien 1977, S. 38-39.<br />
29 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 177.<br />
67
lassen 30 . Dieses deutet er gleich nach der Wahl seiner Jünger an, als er das<br />
Volk und den Zuschauer in das Film-Geschehen mithineinzieht und es<br />
wieder durch ein Partisanenlied unterlegt (Sq.14). Jesus zeigt sich hier zwar<br />
als einer von ihnen, der aber zugleich ein besondere Stellung unter ihnen<br />
hat. Er ist mit den Jüngern zwar immer auf die Gleiche Raum-Ebene 31<br />
gestellt, wird aber kaum von diesen umgeben gezeigt. Jesus nimmt die erste<br />
Position an, wenn er unterwegs mit den Jüngern ist oder er steht ihnen von<br />
Angesicht zu Angesicht, wenn er sie direkt anspricht. Jesus wird somit in<br />
erster Linie nicht zum Zentrum der Jünger-Truppe und des Volkes gemacht,<br />
sondern zu ihrem Führer. Dieses Besondere an Jesus wird noch bei der<br />
Sequenz 21 unterstrichen, wo Jesus das Volk zu Brüdern und Schwestern<br />
erklärt. Am Anfang seiner Rede (Mt 12, 46-50; Sq.21) wird Jesus zum ersten<br />
Mal von unten nach oben aufgenommen und spricht dabei einen<br />
revolutionären Gedanken aus. Für Pasolinis sind das die eigentlichen<br />
„Worte der Spaltung”: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!” (Mt. 12,30).<br />
Die darauf folgenden Reden und entscheidenden Auftritte Jesu nehmen<br />
dabei stark an Intensität zu. Sie werden immer schneller ausgesprochen und<br />
sind immer deutlicher als gegen die Heuchelei und das Pharisäertum<br />
ausgerichtet, erkennbar. Da wird Jesus zum tatsächlichen Kämpfer, den<br />
man aber nicht „antasten” kann. Er hat etwas Unerreichbares an sich. Erst<br />
beim Einzug in Jerusalem (Sq. 27) drängen sich Massen um ihn und als er in<br />
den Tempel hineingeht, bilden Kinder und Kranke eine Art Kreis um Jesus.<br />
In diesen Momenten wird Jesus zum Zentrum seines Volkes und das Volk<br />
bekennt sich als seine Gefolgschaft zu ihm.<br />
30 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. 130.<br />
31 Vgl. Ebda.<br />
68
Das Volk bei Pasolini wird nicht als eine „Herde braver Schäfchen”<br />
dargestellt. Es sind kaum grosse Menschenmassen zu sehen, die von der<br />
Persönlichkeit und den Taten Jesu ausserordentlich fasziniert wären 32 . Das<br />
Volk erweckt eher den Eindruck, dass es sich einfach auf Jesu einlässt, ihm<br />
zuhört, auch wenn gewisse Angstgefühle, Unsicherheit und Zweifel an Jesus<br />
aus den Reihen des einfachen Volkes spürbar werden. Oft zeigen sie gar<br />
keine Reaktion auf die Worte Jesu (Sq. 20, wo die Menschen zwar zuhören,<br />
aber nicht reagieren) 33 Dieses könnte einerseits daran liegen, dass Pasolini<br />
eigene Text-Zugaben strikt ablehnt und sich ausschliesslich am Evangelium<br />
orientiert. Das Volk aber fast reaktionslos darzustellen, im positiven wie im<br />
negativen Sinne, kann nur die Interpretation von Pasolini selber und nicht<br />
von Matthäus sein. (Sq.36 – das Verhör Jesu, wo nur ein paar Stimmen aus<br />
dem Volk gegen Jesus zu hören sind. Das Volk trägt einerseits Mitschuld am<br />
Urteil über Jesus, andererseits aber auch nicht, was wieder eine zweispurige<br />
Haltung des selben Volkes aufzeigt.)<br />
2. Jesus als Revolutionär<br />
Es ist nicht zu übersehen, dass Il vangelo secondo Matteo eine<br />
politische Verfärbung hat, die dem Evangelium-Geschehen eine gewisse<br />
Aktualisierung verleiht. Ausser der Handlung, die für Pasolini ohnehin<br />
revolutionär ist und ausser der klaren Raum-Aufteilung – Jesus und seine<br />
Jünger bewegen sich fast ausschliesslich auf dem Land, wo alle Heilungen<br />
geschehen; der Lebensraum von Pharisäern und Schriftgelehrten ist die<br />
32 <strong>Im</strong> allgemeinen vermeidet Pasolini überwältigende Massenszenen. Es sind nur etwa die<br />
Szene der Rede Jesu an das Volk nach seiner Auseinandersetzung mit Schriftgelehrten,<br />
oder Anfang der Kreuzigungszene.<br />
33 Dieses könnte meiner Meinung nach auch als ein autobiographischer Zug von Pasolini<br />
angesehen werden, denn seine Gedanken sind auch oft missverstanden worden.<br />
69
Stadt und ihre symbolischen Festungen, die sie sich aus den Gesetzen und<br />
Vorschriften erbaut haben und innerhalb deren Jesus immer in Konflikt gerät,<br />
da er sich in ihre Festungen nicht einschliessen lässt – ist es vor allem die<br />
schon erwähnte Musik, die in dieser Richtung eine aktive Rolle spielt. Sie<br />
sagt das, was im Bild nicht gezeigt werden kann. Auf diese Tatsache kann<br />
an mehrere Stellen im Film hingewiesen werden. Die bedeutendste von<br />
ihnen ist die Szene der Kreuzigung, wo wieder das Partisanenlied vom<br />
Anfang der öffentlichen Wirkung Jesu unterlegt wird und die deshalb als<br />
Szene gelesen wird, „(…)wo das Volk das Opfer und Christus gemeint ist.” 34<br />
Kleinere <strong>Im</strong>pulse, die mich an „sozialistische Zeiten” erinnert haben,<br />
gibt es im Film mehrere. Sei es der schon erwähnte Beginn der öffentlichen<br />
Wirkung Jesu mit den fröhlich gelaunten Landarbeitern (Sq.13) – Bilder, die<br />
ich aus den sozialistischen Propagandafilmen der kommunistischen Zeiten<br />
der 50-ger Jahre kenne. Auch die Ansprache, die öffentliche Rede Jesu zum<br />
Volk nach seiner Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten (Sq.30), die<br />
an eine Art von „Streik-Vorbereitung” erinnert und zu der noch eine Musik<br />
erklingt, die ich wiederum von den Feiern zu Ehren der gefallenen<br />
sowjetischen Partisanen aus den kommunistischen Zeiten vor 11 Jahren<br />
kenne. Obwohl ich das Kommunistische in meiner Wahrnehmung als etwas<br />
Negatives empfinde, stehen diese zwei Komponenten plötzlich nicht mehr im<br />
Widerspruch, sondern nur in einem Spannungsfeld, das vom Regisseur<br />
thematisiert wird. Ich glaube, dass der Ansatz Pasolinis gerade darin<br />
besteht, auf die Gemeinsamkeiten der beiden Standpunkte aufmerksam zu<br />
34 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />
Wien 1977,S. 129.<br />
70
machen, ohne die Grenzen zwischen ihnen zu verwischen 35 . Jesus ist ja<br />
nicht als ein typischer politischer Partisanenführer dargestellt. Er selber ist<br />
zwar einer aus dem Volk, tritt als sein Verteidiger auf, ist Lehrer und Führer.<br />
Er ist gewaltlos, seine einzige Waffe ist das Wort und das Mitleid mit den<br />
Menschen. Ohne Aufforderung geht ihm das Volk nach; es gibt keine Stelle<br />
ausser der Berufung der Jünger, wo er die Menschen aufgefordert hätte, ihm<br />
zuzuhören oder ihm zu folgen. Die Beziehung des Volkes zu Jesus, seine<br />
Reaktionslosigkeit kann man gewissermassen als einen autobiographischen<br />
Zug von Pasolini bezeichnen. Schliesslich besetzt er auch die Rolle der<br />
Mutter Jesu mit seiner eigenen Mutter.<br />
1.6. Wunder<br />
Ausser der Darstellung der Person Jesu, der Handlung, wo sich<br />
Jesus als Erlöser zu erkennen gibt, der Symbolik der katholischen Kirche in<br />
Verbindung mit dem besonderen Musikeinsatz, zu denen ich noch im Teil<br />
1.7. über die Mittel komme, sind es gerade die Wunderdarstellungen, die oft<br />
benutzt werden, um das Göttliche an Jesus auszudrücken. <strong>Im</strong> Film Pasolinis<br />
wirken sie aber nicht als „Beweise für die Gottessohnschaft Christi”.<br />
Pasolini integriert nur einige Wunderdarstellungen des Matthäus-<br />
Evangeliums in seinen Film (Beilage Nr. 4): die Wirkung des ersten<br />
Auftretens (Mt. 4,23-25; Sq.15), die Heilung eines Aussätzigen (Mt. 8,1-4;<br />
Sq.15), die Heilung eines Mannes am Sabbat (Mt. 12,9-14; Sq.17), die<br />
Speisung der Fünftausend (Mt. 14,15-18; Sq.18), der Gang auf dem Wasser<br />
35 Was den Ansatz Pasolinis betrifft, wäre es vielleicht interessant, den Film mit der<br />
Befreihungstheologie in Zusammenhang zu bringen, und der Frage nachzugehen, was für<br />
einen Beitrag denn Pasolini zur Entstehung dieser geleistet haben könnte.<br />
71
(Mt. 14,22-32; Sq.19), die Verfluchung eines Feigenbaums (Mt. 21,19-22;<br />
Sq.28) und die Auferstehung (Mt. 28,1-8; Sq.41). Ausserdem thematisiert er<br />
die Ankündigungen durch den Engel (Mt. 1,18-25; 2,1-12; 2,13-15; 2,19-23;<br />
28,1-8), das Bekenntnis Gottes zu seinem Sohn bei der Taufe Jesu im<br />
Jordan (Mt. 3,16-17) und die Geschehnisse um den Tod Jesu (Mt.<br />
27,45-56). Sie alle<br />
werden im Film auf eine direkte Art dargestellt, (d. h. es werden keine Dritt-<br />
Beteiligten in den Film integriert, die von den Wundern berichtet hätten),<br />
Pasolini verleiht ihnen mit seiner Verarbeitungsweise der einfachen Schnitt-<br />
Gegenschnitt-Technik eine gewisse Naivität, er inszeniert sie aber nicht als<br />
ein Wirken übernatürlicher Kräfte. Er verzichtet auf die Darstellung der<br />
Wunder als authentische reale Geschehnisse, es gibt kein Bemühen um<br />
Theatralität bei ihm. Pasolini basiert auf der Zeichenhaftigkeit der Wunder<br />
und schafft dabei eine eigene Auslegung der biblischen<br />
Wunderbeschreibungen. Es ist gerade diese Zeichenhaftigkeit der<br />
Wunderdarstellungen Pasolinis, die es dem Zuschauer erlaubt, auch hinter<br />
die Bilder zu schauen.<br />
1.6.1. Wunder-Taten Jesu<br />
Darunter sind vor allem die Heilungen gemeint. Ihr Verlauf ist ganz<br />
einfach: In Begleitung einer nicht definierbaren Musik werden Kranke<br />
gezeigt. Mit Hilfe von Schnitt und Gegenschnitt auf Jesus und dann auf die<br />
geheilten Personen geschehen sie ohne grosse Spektakularität. Erst die<br />
auffallenden Grossaufnahmen von Gesichtern der Geheilten ohne<br />
Musikeinsatz oder die Detailaufnahme ihrer Augen, untermalt von einer<br />
72
fröhlichen Musik der kreolischen Messe 36 , die die Wunder geradezu<br />
dokumentieren, erlauben dem Zuschauer einen Blick ins Innere des<br />
geheilten Menschen. Wenn die Augen als Fenster der Seele des Menschen<br />
gelten, dann sagen diese im Detail gezeigten strahlenden Augen aus, dass<br />
die Heilung vom Inneren des Menschen kommen muss. Sie scheinen den<br />
Zuschauer beinahe einzuladen, sich mit dem Aussätzigen zusammen von<br />
Christus innerlich reinigen zu lassen.<br />
Bei der Heilung eines Mannes am Sabbat wird das Prinzip Schnitt-<br />
Gegenschnitt beibehalten. Der Geheilte wird aber von hinten gezeigt, wie er<br />
seine Krücken fallen lässt und mit eigener Kraft auf seinen geheilten Beinen<br />
steht. <strong>Im</strong> Zusammenhang mit diesem Wunder habe ich mich auch gefragt,<br />
warum Pasolini die Krankheit des Mannes gegenüber dem Evangelium<br />
geändert hat. Bei Matthäus ist von einem Mann die Rede, dessen Hand<br />
verdorrt war (Mt. 12,9-14). Pasolini lässt aber einen Mann heilen, der an<br />
Krücken geht. Dies könnte vielleicht auch mit den „geistigen Krücken” der<br />
Pharisäer zusammenhängen, die Jesus in dieser Szene angreifen. In dem<br />
Fall wäre der Aufruf Jesu: „Lasse deine Krücken fallen!” auch an die<br />
Pharisäer adressiert. Derjenige, der Jesus zuhört, wird geheilt, diejenigen,<br />
die ihm nicht zuhören, sind über ihn empört. Da bietet Pasolini gleich zwei<br />
mögliche Blicke nach innen: einen gesunden und fröhlichen durch die Augen<br />
des Geheilten und einen empörten und kranken durch den Blick der<br />
Pharisäer.<br />
Die Technik des Schnitts-Gegenschnitts wird bei allen übrigen<br />
Wunderdarstellungen gebraucht und dabei wird ihnen eine gewisse<br />
36 Die gleiche Musik ist bereits im Vorspann oder beim Einzug in Jerusalem zu hören.<br />
73
Alltäglichkeit verliehen. Die Wunder verlaufen als ganz normale und auf<br />
keinen Fall als überwältigende Geschehnisse 37 . Der Gang auf dem Wasser<br />
hat mir anfangs aber etliche Mühe bereitet. Hier wird Jesus tatsächlich auf<br />
dem Wasser schreitend gezeigt und ähnlich inszeniert, wie der bekannte aus<br />
dem Wasser aufgetauchte und sich nähernde Jesus bei Méliès 38 . Pasolini<br />
geht es aber nicht um den Verlauf dieses Ereignisses, sondern um dessen<br />
Sinn: mit Hilfe der Zoom-Technik, welche das Ereignis als subjektives<br />
Erlebnis der Jünger darstellt (Überraschung, Nicht-Verstehen und<br />
Angstgefühle der Jünger), betont Pasolini die Notwendigkeit des<br />
persönlichen Glaubensvollzugs. Diese Zoom-Technik trägt entscheidend<br />
dazu bei, dass Pasolini auch bei diesem Wunder nicht der Spektakularität<br />
verfällt.<br />
Bei den Wundern bemüht sich Pasolini nicht um eine „realistische”<br />
Wiedergabe. Er wählt einen Weg der Einfachheit und ”Alltäglichkeit” und<br />
bewahrt somit das Geheimnis dieser Geschehnisse. Er versucht sie nicht zu<br />
enthüllen oder gar zu banalisieren und trotz einer gewissen „Naivität” in ihrer<br />
Darstellung, zeigt Pasolini vor ihnen Respekt 39 .<br />
1.6.2. Übrige Wunder-Darstellungen<br />
Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />
Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />
Film 12. München, Wien 1977, S. 38-40.<br />
37 Zwick schreibt noch zu der Alltäglichkeit der WunderPasolinis, dass es bei diesen keine<br />
besonders überraschenden Momente gibt. Alle Beteiligten nehmen sie ganz normal wahr.<br />
Nur beim Gang auf dem Wasser gibt es eher Anzeichen von Angstgefühlen der Jünger.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 335-<br />
339.<br />
38 Vgl. Jésus-Christ, star de cinéma. SRG, TSR1, 2.4.1999. Realisateur Martin Goldsmith.<br />
39 Zwick schreibt zur Problematik der Wunder Pasolinis, dass sie „(...) wie ins Bild gehobene<br />
fromme Legenden” wirken.<br />
74
Auch für sie gelten die gleichen Prinzipien wie für die Wunder-Taten<br />
Jesu: Schnitt-Gegenschnitt, kein Bemühen um eine „realistische”<br />
Wiedergabe, Vorrang einer symbolischen Darstellungsweisse. Er lässt Platz<br />
für das Nicht-Darstellbare, das Verborgene und macht so das Unsichtbare<br />
sichtbar. So wird das Bild des vom intensiven Licht beleuchteten Jesus bei<br />
der Taufe im Jordan mit sprudelndem Fluss im Hintergrund plötzlich zur<br />
Metapher für „Lebendiges Wasser”, das Bild der Brotvermehrung wird zur<br />
Metapher über das „Brot des Lebens”, das nur Jesus geben kann.<br />
Einen wirklich naiven, volkstümlichen Charakter verleiht Pasolini den<br />
biblischen „Gestalten” des Engels und des Teufels, indem er sie „real”<br />
auftreten lässt (genaue Stellen sind im Sequenzbeschrieb markiert). Doch<br />
auch diese sind keine magisch wirkenden, sondern Gestalten, die einfach da<br />
sind. Ihre „unrealistiche Herkunft” betont Pasolini wieder nicht mit dem<br />
Bemühen um eine geheimnisvolle und überwältigende Atmosphäre, sondern<br />
ganz im Gegenteil mit einem Weg-Nehmen des realistischen Hintergrunds<br />
im Ton: bei dem Engel wird die „reale Ambiance” durch Stille und Wind<br />
ersetzt; das Erscheinen des Teufels begleiten unbestimmte Klänge wie bei<br />
der Wirkung des ersten Auftretens vor dem Geschehen des eigentlichen<br />
Wunders. Beim Verschwinden von diesen kehren Bild und Ton in die<br />
filmische Realität zurück. Obwohl die Darstellung von Engel und Teufel sehr<br />
naiv ist, lässt Pasolini dem Zuschauer doch genügend Platz, um diese<br />
Gestalten und ihre Bedeutung in der ganzen Geschichte zeichenhaft<br />
wahrnehmen zu können. Sie verkörpern symbolisch das, was nicht gezeigt<br />
werden kann.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 318.<br />
75
1.6.3. Tod und Auferstehung Jesu<br />
Bei der Kreuzigung (Sq.39) und Auferstehung (Sq.41) Jesu wählt<br />
Pasolini sowohl eine direkte als auch eine indireke Daratellung. Die<br />
Schmerzen Jesu bei der Kreuzigung lässt er den Zuschauer nicht durch<br />
Jesus miterleben, sondern durch die Schmerzen eines der beiden<br />
Verbrecher, der ans Kreuz geschlagen wird und durch das Leiden der<br />
anwesenden Frauen, die während der eigentlichen Kreuzigung Jesu<br />
unmittelbar nach dem Schlag eines Nagels ins Holz des Kreuzes im Bild<br />
gezeigt werden. Das Leiden Jesu wird somit im Bild durch das Leiden der<br />
Frauen ersetzt. Dank dieser indirekten Darstellungsweise in musikalischer<br />
Umrahmung von Mozarts Maurerischer Trauermusik 40 vermeidet es Pasolini<br />
dem Zuschauer eine unglaubwürdige Darstellung der Schmerzen Jesu bei<br />
der Kreuzigung vorzuspielen. Nicht ganz in diesem Sinn ist aber der Tod<br />
Jesu dargestellt: Jesus am Kreuz mit starkem Gegenlicht von oben<br />
beleuchtet wird noch das letzte Mal dem Evangelium entsprechend im Bild<br />
laut aufschreien. Dieser letzte Schrei Jesu am Kreuz, den ich nicht als<br />
glaubwürdig empfunden habe, löst in dieser Sequenz (39) das Wunder der<br />
Verdunkelung und des Erdbebens nach dem Tod Jesu aus. Durch dieses<br />
Wunder soll sowohl im Film als auch im Evangelium die Bedeutung des<br />
Geschehens akzentuiert werden. Nur vielleicht hätten sie eine stärkere<br />
Wirkung haben können, wenn die indirekte Erzählweise vom Anfang der<br />
Kreuzigungszene weitergezogen worden wäre und Pasolini auf den Schrei<br />
als Auslöser dieses Geschehens verzichtet hätte. Obwohl er das Wunder<br />
40 Vgl. JUNGHE<strong>IN</strong>RICH, Hans-Klaus: Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen<br />
Pasolinis. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Reihe<br />
Film 12. München, Wien 1977,S. 39.<br />
76
des Erdbebens allerdings nur mit einfachen Mitteln und durch Verzicht auf<br />
jegliche Effekte thematisiert (laut Zwick geht es innerhalb der Stilisierung um<br />
eine holzschnittartige Rekonstruktion 41 ), hatte ich doch Mühe, dieses<br />
Begleitwunder in der Bedeutung wahrzunehmen, für die es im Evangelium<br />
steht. Um so stärker und glaubwürdiger fand ich hingegen das plötzliche<br />
Durchrechen des Bildes ins Schwarze kurz vor dem Tod Jesu am Kreuz, wo<br />
der Erzähler die Worte des Propheten Jesaja zitiert (Mt 13,14-15):<br />
„Ihr werdet es hören mit euren Ohren. Ihr werdet es sehen mit<br />
euren Augen, aber nicht verstehen. Denn das Herz dieses Volkes<br />
hat sich verhärtet. Sie haben ihre Ohren verstopft und haben ihre<br />
Augen geschlossen, um nicht zu sehen mit den Augen, um nicht<br />
zu hören mit den Ohren.”<br />
Das Wunder der Auferstehung wird wie folgt gezeigt: die Musik der<br />
kreolischen Messe ersetzt das Partisanenlied, das die Frauen und das Volk<br />
bisher zum Grab begleitet hat. Gleichzeitig wird der Grabstein in einer<br />
Zeitluppe fallend gezeigt und wieder mit der Schnitt-Gegenschnitt Technik<br />
dem Zuschauer beinahe dokumentarisch ein kurzer Blick auf das Grabtuch<br />
in Grossaufnahme im leeren Grab erlaubt. Dieser Moment sagt mehr aus,<br />
als überhaupt gezeigt werden kann. Um das Wunder zu „erklären”, lässt<br />
Pasolini dem Evangelium ensprechend den Engel erscheinen. Dieser<br />
verkündet allen, die Jesus bisher treu gefolgt sind (wieder das einfache Volk<br />
vom Anfang des Films) was geschehen ist. Pasolini versucht wieder nicht,<br />
das Geschehen nachzuahmen, sondern er konstatiert durch die Sprache der<br />
Bilder.<br />
Er lässt anschliessend das Volk in Begleitung von Klängen der<br />
41 Vg. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
77
kreolischen Messe (wie im Vorspann des Films) sich auch mit dem<br />
Auferstandenen kurz treffen. Diese Stelle wird mit dem Anfang, der<br />
Verkündigung, verbunden und das Kommen Christi vom Engel zum zweiten<br />
Mal verkündet. Christus wird so „zum zweiten Mal geboren” und der<br />
Erkennensweg von Jesus zum Christus wird auch für die Zuschauer deutlich<br />
vollzogen.<br />
1.6.4. Zusammenfassung zur Darstellung der Wunder<br />
Pasolini ist sich der Tatsache bewusst, dass sich die Wunder im Film<br />
gar nicht zeigen lassen. <strong>Im</strong> Zentrum seines Interesses steht deswegen nicht<br />
das eigentliche Geschehen und der Verlauf des Wunders, sondern seine<br />
Bedeutung. Um diese akzentuieren zu können und sie zugleich darzustellen,<br />
nutzt Pasolini die christliche Tradition, die in der Vorstellungswelt der<br />
Menschen bis heute noch präsent ist. Dabei macht er aber aus Jesus keinen<br />
Zauberer und aus Gott keinen unsichtbaren Geist. Pasolini wählt den Weg<br />
der Einfachheit, Zeichenhaftigkeit, er entscheidet sich für keine theatralen,<br />
bombastischen und triumphalistischen Bilder, er konstatiert einfach mittels<br />
seiner Bilder. Mit Hilfe der einfachen Schnitttechnik lässt er seine<br />
Beobachter in den Wundern die Bedeutung entdecken, für die sie im<br />
Evangelium stehen: sie bieten dem Zuschauer eine Möglichkeit, sich<br />
berühren zu lassen und einen kritischen Blick nach innen zu werfen 42 . Wenn<br />
von Wunderdarstellungen Pasolinis nur das im Bild Gezeigte<br />
wahrgenommen wird, wenn sich der Zuschaer nicht bemüht hinter die Bilder<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 310.<br />
42 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 302-<br />
316.<br />
78
zu gelangen und zwischen den Zeilen zu lesen, dann können die Bilder für<br />
ihn tatsächlich peinlich wirken und wie ein plattes Abbild der christlichen<br />
Tradition aussehen.<br />
1.7. Die Mittel<br />
Pasolini bringt in den zwei unterschiedlichen zuvor beschriebenen<br />
Charakterzügen seines Jesus – Jesus als Führer und Erlöser – und<br />
besonders<br />
in seinem diskreten und zurückhaltenden Auftreten die innere Kraft Christi<br />
zum Vorschein, die er als Ausdruck der göttlichen Natur Jesu Christi<br />
versteht. Innerhalb dieser Inszenierung vom Leben und Leiden Christi<br />
arbeitet er mit Regeln, die sich in drei Prinzipien zusammenfassen lassen:<br />
das Prinzip einer zweispurigen Inszenierung, das Prinzip einer einfachen<br />
Inszenierung, das Prinzip einer aktualisierten Inszenierung. Die Anwendung<br />
der filmischen Mittel in Kombination mit diesen Prinzipien hilft Pasolini nicht<br />
nur über den Menschen Jesus von Nazaret etwas auszusagen, sondern<br />
auch von Christus, von Gott, wie er ihn wahrnimmt, etwas spüren zu lassen.<br />
1.7.1. Prinzip einer doppelspurigen Inszenierung<br />
Zu diesem Prinzip habe ich mich schon in vorausgehenden<br />
Abschnitten geäussert, indem ich die Zweispurigkeit an der Person Jesu<br />
angesprochen habe. Es lässt sich daraus schliessen, dass die zweispurige<br />
Haltung im Film Pasolinis ein Hauptmittel ist, um auf die Dimesion Christi<br />
hinzuweisen. Sie führt im Ganzen aber auch zu einer einzigartigen Balance<br />
zwischen beiden Dimensionen Jesu Christi:<br />
79
1. Keine eindeutige Historizität – Pasolini lässt zwar seinen Jesus die<br />
Evangelientexte wörtlich zitieren; trotzdem bemüht er sich nicht um eine<br />
historische Stimmigkeit. Er forscht nicht nach, er ist nicht an den historichen<br />
Hintergründen interessiert, im Gegenteil, er abstrahiert von diesen und zeigt<br />
einfach, was im Evangelium steht. Deswegen ist der Film in der Tradition der<br />
direkten historisierenden Jesusfilme eine Ausnahme, weil er nicht eindeutig<br />
als historisierend bezeichnet werden kann 43 . In diesem Sinne stellt Pasolini<br />
auch seinen Jesus der Geschichte dar, der einersetis als eine der<br />
exaktesten Jesusdarstellungen bezeichnet werden kann, weil er sich strikt an<br />
die tatsächlich gegebene Vorlage hält. Da er sie aber weder historisch<br />
überprüft noch ergänzt und sich dabei an die Tradition hält, kann er<br />
andererseits auch nicht als Annäherung an den Jesus der Geschichte<br />
angesehen werden. Dieser Haltung enspricht auch der ästhetische Stil<br />
Pasolinis, der auch nicht eindeutig als Neo-Realismus oder gar als<br />
Dokumentarismus bezeichnet werden kann 44 . Die Laiendarsteller, eine<br />
gewisse Authentizität des Ortes, die Schwarzweiss-Dramaturgie, die Arbeit<br />
mit Zoom und die bewegte Kamera sind Merkmale dieses Stils, der im<br />
Wesentlichen sehr subjektiv bleibt. Das Hauptmittel Pasolinis ist die von ihm<br />
entwickelte Methode der Indirekten freien Rede 45 , was auch schliesslich der<br />
Wechsel der Erzählperspektiven andeutet (einmal via Augen eines<br />
Angehörigen, einmal via Augen des Volkes ...). Das alles macht authentische<br />
Aussagen, ohne allerdings zu behaupten, es sei so gewesen. So kann<br />
43<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 47.<br />
44 Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.):Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />
Wien 1977, S. 122-131.<br />
45 Vgl. JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.):Pier Paolo Pasolini. Selbstzeugnisse.<br />
Reihe Film 12. München, Wien 1977, S. <strong>49</strong>-84.<br />
80
Pasolinis Jesus sicher nicht als Jesus der Geschichte im theologischen<br />
Sinne verstanden werden. Sein Jesus der Geschichte ist das heute noch<br />
gültige Bild Jesu der Evangelien und das Bild, welches die Menschen von<br />
Jesus bis heute während der christlichen Tradition entwickelt haben. Er<br />
selber hat erklärt: „(...) My film is the life of Christ plus two thousand years of<br />
history told about the life of Christ.” 46<br />
Eine ähnliche zweispurige Haltung kann auch im Verständnis<br />
Pasolinis von Christus des Glaubens festgestellt werden, die ebenfalls<br />
damals nicht ganz der Verkündigung entsprach (ob dieses auch heute noch<br />
so ist, könnte vielleicht im Bezug auf die Befreiungstheologie nachgeprüft<br />
werden). Dieses eigene Bild vom Christus des Glaubens brachte Pasolini in<br />
seinem Ansatz zum Ausdruck. Trotz allen Abweichungen ist Pasolinis<br />
Haltung der Position am nähesten, die Jesus der Geschichte mit dem<br />
Christus des Glaubens gleichstellt. Sein Jesus von Nazaret tritt während der<br />
ganzen Geschichte immer wieder als Christus auf, ohne etwas an Intensität<br />
zu verlieren. Dazu nutzt Pasolini möglichst viele Mittel aus, die er in einer<br />
einfachen Form anwendet.<br />
1.7.2. Prinzip einer einfachen Inszenierung<br />
Robert Bresson soll sich einmal in dem Sinn geäussert haben, dass<br />
ihn die Malerei gelehrt habe, keine schönen, sondern nur notwendige Bilder<br />
zu malen. Ich denke, dass diese seine Worte im Il vangelo secondo Matteo<br />
wieder ihre Bestätigung gefunden haben. Pasolini hält sich tatsächlich nur an<br />
46 In diesem Sinne hat sich auch Enrique Irazoqui, der Darsteller Jesu im Film Pasolinis<br />
geäussert.<br />
Vgl. Jésus-Christ, star de cinema. SRG, TSR1, 2.4.1999. Realisateur Martin Goodsmith.<br />
Hier zitiert nach:<br />
81
die notwendigsten Bilder, Gesten und Worte und arbeitet dabei mit<br />
folgenden Mitteln:<br />
1. Einfachheit im Erzählstil – innerhalb der direkten Darstellungsweise, für<br />
die sich Pasolini enscheidet, bleibt er gegenüber der literarischen Vorlage<br />
ausserordentlich treu, was ihn dazu bringt, einen sauberen, exakten und<br />
einfachen Erzählstil zu wählen. Es ist einerseits die schon angesprochene<br />
Treue zum Text der literarischen Vorlage, wo er keine „überflüssigen” Texte<br />
integriert und andererseits ein gewisses Ausmass an Abstraktion von den<br />
historischen Hintergründen, die es ihm erlauben, sich nur an dem zu halten,<br />
was Jesus und die Figuren direkt betrifft. Pasolini denkt sich keine neuen<br />
Handlungen aus, spekuliert nicht über die eventuellen Gründe dieses oder<br />
jenes Handelns seiner Figuren, analysiert nicht die psychologischen<br />
Vorgänge der Betroffenen. Er stellt einfach fest im Text, in der Musik und im<br />
Bild.<br />
2. Schwarz-weisse Dramaturgie – diese unterstützt das Prinzip der<br />
Einfachheit des Erzählens. Pasolini möchte dem Zuschauer nichts<br />
vormachen, er möchte keinen falschen Eindruck erwecken, als ob es ein<br />
historischer Film über Jesus sei oder sich zu einer Aussage verleiten lassen,<br />
sein Jesus sei der einzig wahre Jesus Christus. Er ist sich bewusst, dass das<br />
Geschehen um Jesus, welches fast zweitausend Jahre zurückliegt, gar nicht<br />
rekonstruierbar ist.<br />
In der schwarz-weissen Verarbeitung kommen auch Pasolinis<br />
Gegenlichtaufnahmen von Jesus gut zur Geltung, die auf die Autorität Jesu<br />
Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City 1997,<br />
82
und zugleich auf seine zweite Dimension hinweisen (vgl. die Verfluchung<br />
eines Feigenbaumes, wo Jesus als Sohn Gottes zu Judas spricht; die Szene<br />
Jesu am Kreuz, wo Jesus im Gegenlicht aufgenommen wird und wo somit<br />
seine ganze „Grösse” betont wird; die ganze Sequenz der Bergpredigt<br />
ausser den Seligpreisungen, wo sich Jesus im Gegenlicht als eine „göttliche<br />
Autorität” an den Zuschauer wendet oder als Prediger-Revolutionär im<br />
Gegenlicht bei seiner Rede nach der Auseinandersetzung mit den<br />
Pharisäern im Tempel gezeigt). Mit dieser Anwendung von schwarz-weisser<br />
Dramaturgie und mit seiner fast schon typischen Lichtführung macht Pasolini<br />
aus seinem Film viel mehr ein Kunstwerk denn einen Versuch um eine<br />
Rekonstruktion der Jesus-Geschichte.<br />
3. Laiendarsteller – sie verfügen über einfache aber dafür starke<br />
Aussagekraft und versuchen nicht, etwas vorzuspielen, was nicht da ist. Sie<br />
sind wie sie eben sind und ihr stärkstes Ausdrucksmittel sind dabei oft die<br />
Augen. Auffallend ist die teilweise fast stumme Augenkommunikation: die<br />
ganze Sequenz der Verkündigung der Geburt Jesu (Sq.2), Huldigung der<br />
Sterndeuter (Sq.3,4), der Tod von Herodes (Sq.8), der Kindermord in<br />
Betlehem (Sq.7), oder der Augenkontakt zwischen Herodias und Salome<br />
(Sq.24), Kreuzigung Jesu (Sq.39) und sein Begräbnis (Sq.40). Die Darsteller<br />
sind auch sehr „sparsam”, wenn es um die Gestikulation geht. Wenn sie<br />
schon gestikulieren, wirken ihre Gesten dann um so stärker und kommen<br />
dem Zuschauer von der Liturgie der katholischen Kirche her bekannt vor. Mit<br />
solchen Gesten ist z. B. die Huldigung der Sterndeuter (Sq.4) in Szene<br />
gesetzt: sie nehmen das Kind in die Arme, heben es hoch, genau wie beim<br />
S. 95.<br />
83
Dankgebet in der katholischen Liturgie. Dies geschieht in Verbindung mit<br />
dem Spiritual-Lied „Sometimes I feel...” und kann als Bild vom kleinen Jesus<br />
als Lamm Gottes interpretiert werden. Ein weiteres Beispiel dafür ist das<br />
Beten Jesu in der Wüste oder in Betanien, wo er wie ein Priester in der<br />
Liturgie die Hände in der Gebetsstellung ausbreitet. Diese „Sprache der<br />
Augen” der Laiendarsteller und die sparsam eingesetzte Gestik der Figuren<br />
verleiht dem Film eine starke Authentizität. Gleiches gilt auch für den<br />
Darsteller Irazoqui, der in der Mimik und Gestik ebenfalls sehr sparsam und<br />
zurückhaltend auftritt, was ihn von anderen Jesusdarstellern deutlich<br />
unterscheidet. „Wortlastig” ist er eigentlich nur in der Sequenz der<br />
Bergpredigt (Sq.16).<br />
4. Tradition der christlichen Kunst – sie dient Pasolini einerseits als<br />
Inspirationsquelle, was sich besonders bei den Wundern zeigt, bei der Wahl<br />
des Jesus-Darstellers, bei der Besetzung der allegorischen Figuren des<br />
Teufels und des Engels, aber auch bei der Wahl der Umgebung. Pasolini<br />
selber hat sich in dem Sinn geäussert, dass er seinen Film mit den Augen<br />
eines Gläubigen zu erzählen versucht hätte und sich dabei mit der<br />
christlichen Tradition beholfen habe, da er selber nicht gläubig sei 47 . Das<br />
bedeutet aber nicht, dass er seinen Film als ein Abbild der Tradition<br />
inszeniert hätte. Pasolini betont die Zeichenhaftigkeit in jedem Zug seiner<br />
Inszenierung, arbeitet aber auch bewusst mit Irritationen 48 , die vermeiden,<br />
47 Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 369.<br />
48 Vgl.SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />
Wien 1977, S. 122-131.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur internationalen<br />
Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. In: BAUMGARTNER, Konrad; RÜCK, Werner<br />
84
dass der Film ins Klischeehafte abrutscht (Wahl der Darsteller – die Wahl<br />
von Jesus und Maria, die nicht einfach „süssliche” Schönheiten verkörpern<br />
und das Agieren und Reagieren seiner Figuren).<br />
5. Verzicht auf Effekte und Klischees – Pasolini vermeidet effektvolle<br />
Darstellungen in seinem Film, was am markantesten bei den<br />
Wunderdarstellungen (wo er ausser dem Gang auf dem Wasser keine Tricks<br />
benutzt) zum Ausdruck kommt. Er inszeniert auch keine effektvollen<br />
Massenszenen, die dem Abbildrealismus nahe stehen könnten, integriert<br />
keine triumphalistische Hintergrundmusik, sondern er entscheidet sich da für<br />
Musik, die einen eher irritieren könnte (wenn man z.B. an das Partisanenlied<br />
denkt). Auch Bild-Klischees sind zwar einige im Film vorhanden (z.B. das<br />
Bild des Heiligen Josef mit dem Kind auf den Armen – Sq.9). Doch prinzipiell<br />
gibt Pasolini solche Klischees zu und dann wirken sie eher zeichenhaft oder<br />
er verbindet eine gewisse Irritation mit ihnen (es fehlt z. B. die Pietà unter<br />
dem Kreuz, dafür wird das Thema der Pietà gleich am Anfang bei der<br />
Huldigung der Sterndeuter angedeutet Sq.4), oder wieder vezichtet er ganz<br />
auf Klischees (so fehlt die Thematisierung des Sterns von Betlehem z. B.) Es<br />
sind gerade diese bewusst gewählten Irritationen, das Vermeiden von<br />
Klischees, die den Zuschauer auffordern, Christus ernst zu nehmen.<br />
6. Musikeinsatz – es gibt im Film keine Original-Musik, welche den<br />
Monumentalfilmen eigen war. Pasolini benutzt Ausschnitte schon bekannter<br />
musikalischer Werke, die mit dem Bild zusammen eine sehr starke<br />
Aussagekraft besitzen. Die Musik sagt das aus, was Pasolini nicht anders<br />
(Hrsg.): Studien zurTheologie und Praxis der Seelsorge. Band 25. Würzburg 1997, S. 389-<br />
85
zum Ausdruck bringen wollte oder konnte. Die Einfachheit im Musikeinsatz<br />
widerspiegelt sich in zwei Grund-Musikarten: politische Musik, vertreten<br />
durch das Partisanenlied und sakrale Musik, vertreten durch Negro-Spiritual<br />
und Musik von Bach, Mozart, aber auch der kreolischen Messe.<br />
7. Die Kameraführung – sie hält einen „dokumentarischen Abstand” vom<br />
Geschehen und zeigt einfach, was die Kamera sieht. Sie interpretiert nicht,<br />
sie suggeriert kein Gefühl, es sei tatsächlich so gewesen und der Zuschauer<br />
müsse es glauben, sondern sie stellt ihre Bilder zu einer eigenen<br />
Interpretation des Zuschauers zur Verfügung.<br />
1.7.3. Prinzip einer aktualisierten Inszenierung<br />
Pasolini dreht zwar seinen Jesusfilm an einem Ort, wo die<br />
minimalsten oder besser keine Spuren der heutigen Zivilisation zu entdecken<br />
sind, kleidet seine Darsteller in historische Kostüme, lässt die Bibel wörtlich<br />
zitieren und doch gibt es genug Faktoren im Il vangelo secondo Matteo,<br />
dank denen die Aktualität der Botschaft Jesu im Film beibehalten werden<br />
kann:<br />
1. Zeit- und Ortorientierung im Film – Pasolini hält es nicht für nötig, den<br />
Zuschauer darüber zu orientieren, wo und zu welcher Zeit er sich im Film<br />
gerade befindet. Mehr noch, er unterdrückt bewusst diese zwei<br />
Komponenten im Film. Das einzige, was der Zuschauer noch deutlich<br />
auseinander halten kann, ist die Unterscheidung zwischen dem Land, dem<br />
Wirkungsgebiet von Jesus und der Stadt, der Festungen der Pharisäer. Ob<br />
392.<br />
86
es das Land von Galiläa, Jerusalem oder Kafarnaum ist, ist zweitrangig.<br />
Damit wird die Universalität der Botschaft betont – es spielt keine Rolle wo<br />
man ist, die Prinzipien Jesu sind überall gültig. Ähnliches lässt sich über die<br />
Zeit im Film sagen: Pasolini legt keine genaueren Zeitabläufe fest, was<br />
wiederum die Zeitlosigkeit der Botschaft des Evangeliums betont.<br />
2. Der Ansatz Pasolinis – er bringt eine Neuauslegung der Botschaft und<br />
der Persönlichkeit Jesu mit sich und erinnert an das bekannte „Christus wird<br />
immer wieder gekreuzigt”. Hier ist der Gegenwartsbezug garantiert.<br />
3. Die Musik – sie stellt keinen Versuch um eine authentische Musik aus<br />
Jesus-Zeiten dar, sondern hat einen starken Gegenwartsbezug. Sie ist keine<br />
Hintergrundsmusik, sondern übernimmt mit ihrer starken Aussagekraft eine<br />
wesentliche dramaturgische Funktion im Film. Es ist dabei besonders die<br />
Musik von Prokofieff oder das Partisanenlied zu erwähnen, wo die Bilder im<br />
Zusammenhang mit dem Ansatz Pasolinis plötzlich ganz eindeutig zu<br />
interpretieren sind und wo sich Gegenwart und Vergangenheit verbinden.<br />
4. Einbezug des Zuschauers ins Geschehen – die Authentizität des<br />
Geschehens wird betont, wenn zu den erwähnten Mitteln oder Faktoren noch<br />
die Kameraführung dazukommt. Dies geschieht besonders dank der<br />
bewegten Kamera oder durch die Beobachtung eines Geschehens immer<br />
mit den Augen einer Figur im Film, womit das Gefühl der momentanen<br />
Anwesenheit des Zuschauers am Geschehen stark unterstützt wird.<br />
87
1.8. Das Phänomen Publikum<br />
Um an den Anfang dieses Teiles anzuknüpfen, versuche ich eine<br />
Antwort darauf zu finden, warum der Film Pasolinis eine „Nicht-Reaktion” des<br />
breiten Publikum hervorgerufen hat, obwohl er<br />
beide Dimensionen<br />
Jesu Christi gleichwertig zum Ausdruck gebracht hat. Eines der<br />
Hauptmerkmale von Pasolinis Jesus ist es, dass er sich in den „Festungen<br />
der Pharisäer” nicht einsperren lässt. Diese Charaktereigenschaft Jesu, die<br />
zugleich sein Handlungsprinzip ist, überträgt Pasolini auf den ganzen Film<br />
und macht sie zu seinem ästhetischen Prinzip. Dies könnte man in<br />
Kombination von anderen bereits erwähnten Prinzipien als eine Stärke<br />
bewerten. Vom breitem Publikum wird es aber als Schwäche angesehen.<br />
Pasolini sorgt dafür, dass sein Film „dogmatisch” stimmt – Jesus bleibt<br />
der Christus, der Sohn Gottes. Aber sein Jesus hat etwas, was Menschen an<br />
ihm bisher nicht wahrgenommen haben – die Kombination des<br />
Revolutionären, Kämpferischen und des Göttlichen. Die Tradition wird<br />
einerseits beibehalten, andererseits wird sie auch neu überdacht. Sie wird<br />
nicht so dargestellt, wie sie das Publikum von früher her kennt. Die<br />
Reaktionslosigkeit des Volkes im Film auf Jesus, seine Taten, seine Reden<br />
überträgt sich plötzlich auf das Publikum, das weder den Film noch die<br />
Hauptfigur Jesus nicht einordnen kann. Es ist genau so, wie mit den<br />
verschiedensten Bildern von Jesus, die sich die Leser der Evangelien von<br />
ihm machen: es ist ein ganzes Spektrum von Wahrnehmungen möglich, was<br />
darauf hinweist, dass Jesus all die polarisierenden und scheinbar nicht zu<br />
vereinbarenden Züge tatsächlich besitzt. Es gibt aber auch Rezipienten, die<br />
sich einfach auf ihn einlassen können. Diese Eigenschaft Jesu, sich weder<br />
einordnen noch geistig einsperren zu lassen, macht das Geheimnisvolle an<br />
88
ihm aus. Und gerade diese Eigenschaft Jesu bei Pasolini und zugleich die<br />
Merkmale seines Films sowie die „Nicht-Reaktion” des Publikums, könnten<br />
doch auch Anzeichen dafür sein, dass der marxistische Pasolini trotz allem<br />
ein „authentisches” Bild Jesus Christus geschaffen hatte, Nicht im Aussehen<br />
oder nicht im Sichtbaren, sondern gerade in dem Sich-Nicht-Einsperren-<br />
Lassen und in der inneren Kraft, die Pasolini seiner Figur dadurch verleiht.<br />
ZWEITER TEIL:<br />
Jesus Christus in Scorseses The Last Temptation of Christ<br />
2.1. Charakteristik und Angaben zum Film<br />
The Last Temptation of Christ hat eine lange Vorgeschichte hinter<br />
sich. Zweimal vor der Entstehung des Films 1988 musste der Beginn der<br />
Dreharbeiten verschoben werden. Entscheidend trugen dazu Protestwellen<br />
gegen die Verfilmung des von der Kirche verbotenen gleichnamigen Romans<br />
des griechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis bei. Sie führten<br />
schliesslich dazu, dass die Filmgesellschaften und Sponsoren die<br />
Finanzierung des Films abgesagt haben <strong>49</strong> . Diese zwei Drehversuche<br />
<strong>49</strong> Vgl. ARNOLD, Frank:Biographie. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE, Wolfram (Hrsg.):<br />
Martin Scorsese. Reihe Film 37. München, Wien 1986, S. 183.<br />
89
Scorseses fallen in die Zeit zwischen 1980 und 1984 50 . Erst 1988 zeigte sich,<br />
dass die „Versuchung” Scorseses, seinen Jesusfilm trotz allem zu<br />
verwirklichen, stärker war, als die Proteste selber, denn 1988 konnte der<br />
Film seine Premiere feiern. The Last Temptation of Christ, ein direkter<br />
historisierender Jesusfilm, ist somit in die Filmgeschichte als einer der<br />
grössten Skandale eingegangen.<br />
Uraufgeführt wurdedie 164 Min. 51 lange The Last Temptation of Christ<br />
im europäischen Raum 1988 anlässlich des Internationalen Filmfestivals von<br />
Venedig und bald danach konnten die ersten Premieren in den Kinos<br />
Europas beginnen. Trotz gewaltiger Probleme mit den Aufführungen ist der<br />
Film unter dem Titel Die letzte Versuchung Christi dem deutschsprachigen<br />
Publikum vorgestellt worden und findet bis heute noch seinen Platz bei<br />
verschiedenen Fernsehsendern, das letzte Mal beim Sender ARTE am 8.<br />
Mai 2000.<br />
2.2. Die Handlung<br />
Der Zimmermann Jesus, der in Nazaret für die Römer Kreuze<br />
herstellt, gerät in eine grosse Identitätskrise, als er in sich eine „göttliche<br />
Bestimmung” entdeckt. Von Selbstzweifeln geplagt, begibt er sich in die<br />
Wüste, um zu meditieren und das Gespräch mit Gott zu suchen und so zu<br />
sich selber zu finden. Judas, der ursprünglich von Zeloten beauftragt wurde,<br />
Jesus, den Kollaborateur mit den Römern, zu töten, wird zu seinem besten<br />
Freund. Er entscheidet sich, Jesus auf seinem schmerzhaften Weg zur<br />
50 Ebda.<br />
51 Daten nach: Jesus im Film– eine Auswahlfilmographie. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der<br />
Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992. S. 83.<br />
90
Selbstfindung beizustehen und ihn zu begleiten. Er gibt Jesus den Rat, zu<br />
Johannes dem Täufer zu gehen. Jesus lässt sich daraufhin von Johannes<br />
dem Täufer taufen und findet die Bestätigung, dass er der Messias ist. Er<br />
beginnt öffentlich zu wirken, sammelt die Jünger um sich, vollbringt Wunder<br />
und kehrt schliesslich nach Jerusalem zurück, wo er gekreuzigt wird. Von<br />
Judas, dem stärksten seiner Jünger, erwartet er dabei das grösste Opfer,<br />
den Verrat an ihm, dem Sohn Gottes.<br />
Während Jesus am Kreuz hängt, fällt er in Ohnmacht und hat eine<br />
Vision: ein Schutzengel kommt zu ihm, befreit ihn vom Kreuz und erklärt ihm,<br />
dass sein Opfer völlig überflüssig ist, da er gar kein Christus sei. Der Engel<br />
führt ihn dann zu Maria Magdalena, damit Jesus sie heiratet. Als<br />
hochschwangere Frau wird sie von Gott gerufen und stirbt. Der Schutzengel<br />
hift Jesus dann zum zweiten Mal; er führt ihn zu Maria und Marta, mit denen<br />
Jesus schliesslich ein ganz normales Leben führt. Er gründet mit beiden<br />
Frauen eine Familie, zeugt Kinder und erreicht ein hohes Alter. Kurz vor<br />
seinem Tod suchen ihn einige seiner früheren Jünger auf. Es ist wieder<br />
Judas, der stärkste von ihnen, der Jesus aus dem Schlaf seiner letzten<br />
Versuchung aufweckt und ihm zeigt, dass er nicht seinem Schutzengel,<br />
sondern Satan gefolgt war. Jesus bittet daraufhin Gott um Vergebung,<br />
bekräftigt seinen Willen, Messias zu sein, und erwacht aus dem „teuflischen”<br />
Traum. So widersteht er seiner letzten Versuchung und stirbt. Die Welt hat<br />
doch einen Erlöser.<br />
2.3. Kritik und Reaktion des Publikums<br />
91
Nach der komplizierten „Geburt” von Scorseses The Last Temptation<br />
of Christ erwartete den Film ein „Schicksal”, das nicht weniger schmerzhaft<br />
war. Es gab viele Protestströme verschiedener Art: Unterschriften wurden<br />
gesammelt, Rosenkränze gebetet, sogar ein Kino wurde angezündet, damit<br />
diese Gotteslästerung – so die Protesterklärungen – nicht weiter verbreitet<br />
werden kann. So skandalisiert fühlte sich ein (grosser) Teil des Publikums,<br />
als der Film in die Kinos kam, ja sogar schon bevor er überhaupt aufgeführt<br />
wurde. Die Vorwürfe derjenigen, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt<br />
fühlten, betrafen vor allem die Darstellung Jesu Christi als eines Menschen,<br />
mit seinen Versuchungen, Zweifeln und allzu menschlichen Schwächen. Die<br />
deutsche Filmbewertungsstelle Wiesbaden, die zur Zeit des Kinostartes von<br />
The Last Temptation of Christ in Deutschland, zu einer „Sammelstelle”<br />
solcher Protestbriefe geworden ist, hatte die Gründe dafür folgendermassen<br />
ausgewertet:<br />
„Der zentrale Punkt der Auseinandersetzung dabei war, dass<br />
Christus (im Roman und Film) als ein Mensch dargestellt wird, der<br />
sich zu seiner Sexualität bekennt, den Geschlechtsverkehr, die<br />
Zeugung von Kindern und das Leben in einer Familie bejaht.”” 52<br />
Die vielfälltigen Proteste, hätten wenigstens vorübergehend erreicht,<br />
dass der Film nur noch selten gezeigt worden war 53 . Es gab aber auch genug<br />
neugierige Zuschauer, die sich gerade wegen dieser Proteste den Film<br />
anschauen wollten. So sei „(...) diese Protestwelle in den Genuss einer<br />
52 Vgl. HUPPMAN, Roland: „Die letzte Versuchung ...” – immer noch ein Thema?! „Film im<br />
öffentlichen Wider-Streit” an der Münchner Film-Hochschule. In: Das Genre der Jesusfilme.<br />
Arbeitshilfe für Seminare. IKM-Materialien 1. München, S.10.<br />
53 Vgl. WIEGMANN, Frauke; CONRAD, Michael: Die alte Angst vor neuen Bildern. In: Film<br />
und Fakten 7/88, S.9.<br />
92
Propaganda gekommen, wie sie der Produzent so selber nie hätte bezahlen<br />
können.” 54<br />
Seitens fachlicher Filmkritik sind teilweise auch kontroverse<br />
Meinungen zum Film aufgetreten. Einerseits ist dem Film die ästhetische<br />
Fragwürdigkeit, die kitschigen Klischees vorgeworfen und nicht selten ein<br />
Verständnis für diejenigen, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt<br />
fühlten, zum Ausdruck gebracht worden 55 . Zu dieser Gruppe ist auch die<br />
OCIC-Stellungnahme zu zählen, die keine Empörung sondern tiefe<br />
Enttäuschung über den Film zur Zeit seines Kinostartes im europäischen<br />
Raum bekanntgegeben hatte 56 . Andererseits ist auch eine positive<br />
Bewertung zu Scorseses Film zu finden: die deutsche Film-Bewertungsstelle<br />
Wiesbaden sprach dem Film 1989 das höchste Prädikat zu – „Besonders<br />
wertvoll” – und fand keine Verletzung religiöser Gefühle vor 57 .<br />
The Last Temptation of Christ ist im Fühling 1999 unter dem Titel<br />
Posledné pokusenie Krista auch in einem überwiegend katholischen Land<br />
wie der Slowakei gezeigt worden. Dies geschah im Rahmen eines<br />
thematischen Projekts, „Projekt 100”, organisiert von Assoziationen der<br />
slowakischen und tschechischen Filmverbände 58 . Diese sich um ein Jahrzent<br />
verspätete Premiere hatte auch etwas Positives an sich: Das Publikum<br />
konnte sich den Film ansehen, ohne von Protesten und Vorurteilen<br />
vorbelastet zu sein. Und wie die Kritiken und Publikum-Echos nach der<br />
54 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />
18 (1988), S. 8-12.<br />
55 Nach Kritikauszügen mehrerer Autoren unter dem Titel: Die letzte Versuchung Christi. In:<br />
film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme.<br />
November 1992, S. 68-70.<br />
Weiter: Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S.48-71.<br />
56 Vgl. Zoom 18 (1988), S.12.<br />
57 Vgl. HUPPMAN, Roland: „Die letzte Versuchung ...” – immer noch ein Thema?! „Film im<br />
öffentlichen Wider-Streit” an der Münchner Film-Hochschule. In: Das Genre der Jesusfilme.<br />
Arbeitshilfe für Filmseminare. IKM-Materialien 1. München, S. 9f.<br />
93
Aufführung von Scorseses Film gezeigt haben, ist er auf keinen Fall als<br />
Skandal rezipiiert worden 59 ; Begeisterung hat er aber auch nicht<br />
hervorgerufen. Trotzdem aber gehört The Last Temptation of Christ zu den<br />
umstrittensten Jesusfilmen der Filmgeschichte.<br />
2.4. Intention<br />
Zum Anfang des Films führt Scorsese ein Zitat von Nikos Kazantzakis<br />
aus dem Vorwort zur englischen Ausgabe seines Romans auf, womit<br />
zugleich die Thematik des Films zum Ausdruck gebracht wird:<br />
„Das doppelte Wesen Christi – die Sehnsucht des Menschen so<br />
menschlich, so übermenschlich, zu Gott zu gelangen... bleiben mir<br />
stets ein tiefes unergründliches Geheimnis. Mein grösster<br />
seelischer Konflikt und Quell all meiner Freuden und Qualen seit<br />
meiner Jugend war der erbarmungslose Kampf zwischen dem<br />
Geist und dem Fleisch. Denn meine Seele ist das Schlachtfeld,<br />
auf dem diese beiden Armeen von jeher ihren Kampf ausgetragen<br />
haben.”<br />
Der Film handelt ebenso wie der Roman im Sinne des Vorwortes von<br />
der Identitätssuche Jesu von Nazaret, die bei ihm zu einem tiefen seelischen<br />
Konflikt führt. Martin Scorsese geht es nicht darum, eine Biographie Jesu<br />
Christi zu verfilmen, sondern sich mit diesem grundlegenden Geheimnis des<br />
christlichen Glaubens auseinanderzusetzen. Der Film beruht somit nicht auf<br />
der Heiligen Schrift, wie es Scorsese im Vorspann präzisiert, sondern auf der<br />
58 Vgl. MISÍKOVÁ, Katarína: Posledné pokusenie Krista ako pribeh cloveka. In: SME<br />
31.3.1999, S.9.<br />
59 Ebda.<br />
94
persönlichen Reflexion der beiden Autoren – des Autors der literarischen<br />
Vorlage und des Regisseurs selber – über die beiden Wesen Christi.<br />
Scorsese stellt ins Zentrum seines Films Jesus von Nazaret, den Menschen<br />
und Messias, und konzentriert sich dabei auf das Wesentliche, das mit dem<br />
inneren Weg Jesu zum Erlöser im Zusammenhang steht 60 :<br />
1. Die Beziehung Jesu zu Gott – seinem Vater, die Jesus in eine<br />
Identitätskrise störzt und womit Scorsese implizit die Frage nach dem<br />
Ursprung der menschlichen Existenz stellt.<br />
2. Der Sinn der Selbstopferung Jesu, womit wieder der Sinn der<br />
menschlichen Existenz überhaupt angesprochen wird.<br />
Dieses führt Scorsese durch, indem er als den roter Faden seiner filmischen<br />
Erzählung die psychischen Gänge Jesu (im Roman) nimmt, womit er<br />
zugleich die Erzählperspektive des Films bestimmt und einen Jesus<br />
erscheinen lässt, der mit dem Jesus Christus der Evangelien fast nichts<br />
Gemeinsames mehr zu haben scheint. Er öffnet somit eine neue Sichtweise<br />
auf Jesus Christus, die zwar zur Diskussion über beide Wesen des Sohnes<br />
Gottes beitragen kann, die aber allgemein als problematisch angesehen<br />
wird.<br />
Erzählung die psychischen Gänge Jesu (im Roman) nimmt, womit er<br />
zugleich die Erzählperspektive des Films bestimmt und einen Jesus<br />
erscheinen lässt, der mit dem Jesus Christus der Evangelien fast nichts<br />
Gemeinsames mehr zu haben scheint. Er öffnet somit eine neue Sichtweise<br />
auf Jesus Christus, die zwar zur Diskussion über beide Wesen des Sohnes<br />
60 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />
18 (1988), S. 8-12.<br />
95
Gottes beitragen kann, die aber allgemein als problematisch angesehen<br />
wird.<br />
2.5. Der Gottessohn nach Scorsese<br />
Während sich Pasolini in seiner Verfilmung an die christliche Tradition<br />
hält, wählt Martin Scorsese einen Zugang zu Jesus Christus, der gegen jede<br />
traditionelle Sichtweise geht. Er besetzt zwar die Hauptperson Jesus von<br />
Nazaret mit Willem Dafoe, der seinem Aussehen nach mit den Jesusbildern<br />
vom Anfang dieses Jahrhunderts verglichen werden kann 61 . Scorseses Jesus<br />
trägt ebenfalls eher blondes, leicht gelocktes Haar, er hat helle bis blaue<br />
Augen, einen kurzen Bart und ein ziemlich schmales Gesicht. Von der<br />
physischen Konstitution her stellt er einen ziemlich grossen, starken, gut<br />
gebauten Mann dar, d.h. er hat die Züge eines der gängigen Jesusbilder der<br />
meisten monumentalen Jesusfilme. Auf keinen Fall entspricht er aber dem<br />
sanftmütigen, süssen „Nazarener”, denn sein Denken, Empfinden und<br />
Handeln ist alles andere als sanft.<br />
Das Auftreten Jesu in The Last Temptation of Christ ist schon dadurch<br />
vorgegeben, dass Scorsese keinen „fertigen” Christus ins Zentrum seines<br />
Films stellt, sondern sich auf den „Reife-Prozess” des Messias konzentriert.<br />
Sein Jesus ist voller Widersprüche im Verhalten und Denken und voller<br />
Ängste in seinem Inneren, was bei einem kräftigen Mann, wie es Jesus in<br />
Dafoes Verkörperung ist, eher überraschend wirkt. Die traditionelle<br />
Sichtweise, mit der Scorsese zu brechen versucht, betrifft nicht so sehr den<br />
Lebensweg Jesu selber, denn die wichtigsten Anhaltspunkte aus dessen<br />
61 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S. 62.<br />
Vgl. EICHENBERGER, Ambros: Martin Scorsese, ein (Un)fall für die christliche Filmkritik? In:<br />
Zoom 18, 1988, S.15.<br />
96
Leben stimmen durchaus mit den biblischen überein (obwohl der Film nicht<br />
auf den Evangelien basiert): Jesus von Nazaret in The Last Temptation of<br />
Christ ist der Sohn eines Zimmermanns, er trifft sich mit Johannes dem<br />
Täufer, vor seinem öffentlichen Wirken begibt er sich in die Wüste, er beruft<br />
seine Jünger und wird von ihnen Rabbi genannt, er vollbringt Wunder, heilt<br />
und weckt Tote auf, er wird verraten, verhaftet und gekreuzigt. Sogar eine<br />
Andeutung der Auferstehung ist im Film zu spüren. Was aber Scorsese mit<br />
seinem Film zu ändern versucht, sind die Vorstellungen über Jesus Christus<br />
als eines idealen Menschen, wie ihn der Katechismus darstellt. Er geht<br />
davon aus, dass sich Jesus ständig in einer Art von Entscheidungskrise<br />
befand, denn er musste als Mensch immer zwischen Gut und Böse wählen<br />
und als Gott musste er sich für das Gute entscheiden können, was dem<br />
filmischen Jesus wieder als einem Menschen nicht leicht gefallen ist, ja auch<br />
nicht immer gelungen ist 62 .<br />
Als Hauptmotiv für die Geschichte Christi im Film nimmt Martin<br />
Scorsese (entsprechend der Vorlage) die allegorischen Versuchungen Jesu,<br />
die er personifiziert und in reale Versuchungen des filmischen Jesus<br />
verwandelt. Scorseses Jesus ist somit ständigen inneren Kämpfen<br />
ausgeliefert, die sich sowohl auf der vertikalen als auch auf der horizontalen<br />
Ebene abspielen:<br />
1. Ebene zwischen Jesus und Gott – wo es um seine inneren Zwänge wegen<br />
seiner göttlichen Berufung geht (Abschnitte 2.5.1., 2.5.2.);<br />
62 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />
18,1988, S. 8-12.<br />
Scorsese solle sich über Jesus einmal geäussert haben: „ Wegen der zwei Seelen in ihm,<br />
der menschlichen und der göttlichen, ist jeder Augenblick seines Lebens Konflikt und Sieg.”<br />
Hier zitiert nach:<br />
Vgl. WIEGMANN, Frauke; CONRAD,Michael: Die alte Angst vor neuen Bildern. In: Film und<br />
Fakten. 7, 1988, S. 8.<br />
97
2. Ebene zwischen Jesus und seinen Mitmenschen – wo es um seine<br />
menschlichen Versuchungen geht (Abschnitt 2.5.3.).<br />
Zwischen diesen beiden Ebenen steht die Erlösung der Menschheit<br />
durch Jesus, die wieder auf beiden Ebenen entsprechend den<br />
Versuchungen ein anderes Verständnis voraussetzt. Das Problematische an<br />
Scorseses Jesus-Darstellung aber besteht darin, dass er seinen Jesus gar<br />
nicht als einen freien Menschen darstellt, der sich tatsächlich zwischen Gut<br />
und Böse frei entscheiden könnte. Alles was sein Jesus tut, tut er nicht, weil<br />
er davon überzeugt wäre, sondern weil er gezwungen ist, so und nicht<br />
anders zu handeln. Dieses findet seine Widerspiegelung genauso in der<br />
Beziehung zwischen Jesus und Gott als auch in der Beziehung zwischen<br />
Jesus und den anderen.<br />
2.5.1. Die Beziehung zwischen Jesus und Gott<br />
Alle Krisen, die Jesus von Nazaret in Scorseses Film durchmacht,<br />
wurzeln darin, dass er zwei Naturen in sich trägt. Während die göttliche und<br />
die menschliche Natur Christi bei Pasolinis Jesus eine harmonische Einheit<br />
bilden und zu einer natürlichen, ja sogar „übernatürlichen” Autorität Christi<br />
führen 63 , treffen sich diese bei Scorseses Jesus kaum in einem Moment<br />
zusammen, so dass sie ebenfalls eine Einheit bilden könnten. Denn<br />
Scorseses Jesus muss während seines „Reife-Prozesses” von Mensch zu<br />
Gott zwei Grundprobleme lösen: das Problem seiner eigenen Identität und<br />
das Problem der Erfüllung seines göttlichen Auftrags.<br />
63 Trotz der Sprunghaftigkeit Jesu, trotz seiner „Zweideutigkeit”, von der Pasolini selber<br />
gesprochen habe. Dazu:<br />
Vgl. SCHÜTTE, Wolfram: Il vangelo secondo Matteo. In: JANSEN, Peter W.; SCHÜTTE,<br />
Wolfram (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Kommentierte Filmografie. Reihe Film 12. München,<br />
Wien 1977, S. 123.<br />
98
1. Das Problem der Identität<br />
Jesus von Nazaret wird als eine gespaltene Persönlichkeit dargestellt,<br />
die immer wieder zwischen seiner göttlichen und menschlichen Natur hin<br />
und her gerissen wird, was ihm während des ganzen Films nicht erlaubt, sich<br />
zu einer starken Pesönlichkeit zu entfalten 64 . Er ist in The Last Temptation of<br />
Christ eine psychisch geplagte Person, die ihre göttliche Berufung als<br />
Versuchung des Satans empfindet, mit ihr kämpft und ihr deswegen<br />
entgehen möchte, indem er lieber Kreuze zimmert, damit ihn Gott hasst<br />
(Sq.7). Er fühlt sich von Gott verfolgt, wie ein Tier in die Enge getrieben und<br />
weiss nicht, wer er eigentlich ist. Zu einem scheinbaren Bruch bei der<br />
Identitätssuche Jesu kommt es während der Versuchungen in der Wüste: da<br />
wird ihm geoffenbart, dass er seiner Aufgabe als „zweiter Adam” nicht<br />
entgehen kann (Sq. 16 – die Szene, als Jesus in der Wüste vom Apfelbaum<br />
einen Apfel pflückt und in ihn hineinbeisst) und die Aufgabe des Messias auf<br />
sich nehmen muss. Die Identitätskrise Jesu löst Scorsese aber erst, wenn<br />
Jesus am Kreuz seiner letzten Versuchung, kein Messias sein zu wollen,<br />
widersteht.<br />
2. Das Problem der Erfüllung des göttlichen Auftrags<br />
Die gespaltene Persönlichkeit Jesu widerspiegelt Scorsese auch<br />
darin, dass er Jesus während des ganzen Films nie seine Unsicherheit<br />
ablegen lässt, denn er sich darüber nicht im Klaren, ob er auf dem richtigen<br />
Weg zu Gott ist. Er hat aber auch „gute Momente”, wenn er die Nähe Gottes<br />
und die Verbundenheit mit ihm spürt: als er Maria Magdalena vor der<br />
64 Baugh bezeichnet die gespaltene Persönlichkeit Jesu sogar als paranoide Schizophrenie.<br />
99
Steinigung rettet (Sq.11) und den Glauben an die Liebe verkündet (Sq.11).<br />
Da spürt Jesus, dass es Gott gewesen sein muss, der ihm die passenden<br />
Worte in den Mund gelegt hatte, obwohl er auch dabei ungeschickt<br />
aufgetreten ist. Andererseits weiss Jesus nicht, wie er die Menschheit<br />
eigentlich retten soll: mit der Liebe oder mit der Axt. Er behauptet zwar: „Ich<br />
bin das Herz, so liebe ich” und verkündet auch die Liebe (Sq.12, Sq.21,<br />
Gleichnis vom Sämann – Sq.11), selber kann er sich aber auch wütend und<br />
aggressiv geben. In diesem Zusammenhang könnten mehrere Szenen<br />
angeführt werden, von denen vielleicht am stärksten die Szene ist, als Jesus<br />
aus der Wüste zurückkehrt und anstatt innere Kraft und Überzeugung<br />
auszustrahlen, voller Wut plötzlich eine Axt in der Hand hält und sagt: „Ich<br />
glaubte an die Liebe, jetzt aber glaube ich daran!” (Sq.18). Damit kann die<br />
Axt nicht bloss als symbolisches Mittel zur Bekämpfung der Sünde, sondern<br />
als Zeichen des irdischen Kampfes verstanden werden. So geschieht es<br />
auch bei seinen öffentlichen Auftritten (Sq.11,21,24,), als Jesus den Glauben<br />
an Gott als den Glauben an das Gute so „enthusiastisch” verkündet, dass er<br />
eher Erschrecken denn Einverständnis bei den anderen hervorruft 65 . Diese<br />
Unsicherheit und innere Unausgeglichenheit Jesu zieht sich durch den<br />
ganzen Film. Sie hört auch dann nicht auf, wenn es zum zweiten Bruch auf<br />
dem Weg Jesu zu Gott kommt. Als Gott Jesus endlich durch den Propheten<br />
Jesaja in einem Traum offenbart, was er von ihm erwartet: die Erlösung der<br />
Menschheit durch seinen Tod (Sq.26). Jesus gehorcht, er will dem Wunsch<br />
Gottes entgegenkommen und sich kreuzigen lassen, ohne den Sinn seines<br />
Todes näher zu kennen und erklären zu können. Am Ende des Films wird<br />
Jesus schliesslich zu einem „Masochisten” deformiert (wie ihn Baugh auch<br />
Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S.71.<br />
100
wegen seines Opferbewusstseins ohnehin bezeichnet 66 ), als Jesus am Kreuz<br />
vom Blut überströmt und mit einem verkrampften Lächeln aus voller Kraft<br />
seine letzten Worte vom Kreuz schreit: „Es ist vollbracht!” (Sq.42).<br />
Der „Reife-Prozess” Jesu von Mensch zu Gott in The Last Temptation<br />
of Christ, während dessen Jesus seine innere Ruhe und den Sinn seiner<br />
Existenz sucht, zeichnet Scorsese wie einen Kreuzweg Jesu im Bild auf,<br />
indem er den Anfang des Films mit seinem Ende verbindet: Jesus trägt das<br />
Kreuz für den Zeloten (Sq.3), der die „Erlösung” im Aufstand gegen die<br />
Römer sieht. Er nimmt somit die Last seines Kreuzes auf sich, das während<br />
des Films immer mehr zu seinem eigenen Kreuz wird, bis er dann selber<br />
seinen eigenen Kreuzweg gehen muss (Sq.34). Der Bogen vom Anfang des<br />
Films wird dann weitergezogen, bis Jesus bei seinem Ende mit gleich<br />
brutalen Bildern ans Kreuz geschlagen wird und stirbt. Scorsese stilisiert<br />
zwar den Kreuzweg Jesu (Sq.34) als einen Weg, den Jesus für die<br />
Menschheit und wegen der Menschheit gehen muss. In verlangsamten<br />
Bildern mit vielen Grossaufnahmen aus verschiedenen Perspektiven<br />
suggeriert er die Aussage: die Menschen wissen nicht, was sie tun. In<br />
Wirklichkeit jedoch wird Jesus sich selber zur grössten Last, die er tragen<br />
muss. Er geht seinen Kreuzweg von einem krankhaften Verfolgungswahn<br />
am Anfang durch krankhafte Unsicherheit und endet mit einer krankhaften<br />
Hingabe. Trotz dieses nicht gerade kurzen Abschnitts im Leben Jesu,<br />
während dessen er sich immer wieder von seiner Identität überzeugen muss<br />
und sich dabei als ein leidender Mensch zeigt, bleibt Jesus eigentlich immer<br />
konstant 67 : er widerspricht sich bis zum letzten Moment, in seiner Botschaft<br />
65 Vgl. Ebda. S. 55.<br />
66 Vgl. Ebda. S. 51-71.<br />
67 Vgl. Ebda.<br />
101
schafft er es nicht, überzeugend zu sein und wirkt eher abschreckend als zur<br />
Nachfolge animierend. Scorsese lässt aber seinen Jesus nicht als Sohn<br />
Gottes erkennen, der selber das „Inbild” des Guten ist, denn die Beziehung<br />
zwischen Jesus und Gott entspricht nicht der zwischen Sohn und Vater.<br />
Vielmehr ähnelt sie einer Beziehung Opfer und Täter, womit auch das Bild<br />
Gottes bei Scorsese problematisch wird.<br />
2.5.2. Das Gottesbild Scorseses<br />
Wie schon im vorigen Abschnitt angedeutet, sind es zwei Punkte an<br />
Scorseses Gottesdarstellung, die sich als problematisch erweisen. Zuerst ist<br />
es die Tatsache, dass Martin Scorsese seinen Jesus unter einer<br />
aggressiven, nicht sichtbaren Gestalt leiden lässt und zweitens ist es die<br />
Tatsache, dass der Tod Jesu in Scorseses Film als etwas Sinnloses<br />
dargestellt wird.<br />
Nach Scorseses Darstellung hat Gott mehrere Gesichter. Einmal zeigt<br />
Scorsese einen Raubvogel, der sich mit seinen Krallen in den Schädel Jesu<br />
hineingräbt, um ihn festzuhalten und zu zwingen, das zu tun, was er von ihm<br />
verlangt (Sq.2). Dieser Eindruck wird in der allerersten Einstellung mit dem<br />
inneren Monolog Jesu und zugleich auch im Bild entsprechend vermittelt: mit<br />
einer schnellen Kamerafahrt zum auf dem Boden liegenden Jesus, unterlegt<br />
mit einem Vogelgeräusch wird dieser Anflug suggeriert. Wiedereinmal ist es<br />
ein überall dagewesener unsichtbarer Geist, der Jesus im Schlaf quält (Sq.4)<br />
und überallhin verfolgt (Sq.4), um ihn wieder als Raubvogel auf den Boden<br />
werfen zu können. Ein anderes Mal wieder bezeichnet Jesus selber seinen<br />
Gott als Luzifer, der ihn vorwärts treiben möchte, als personifizierte Angst,<br />
die Jesus ständig seinetwegen empfindet (Sq.7). Diese Bilder entsprechen<br />
102
der subjektiven Wahrnehmung Jesu im Film, sie ändern sich aber auch dann<br />
nicht, wenn sich Jesus seiner göttlichen Berufung bewusst wird. (Gott lässt<br />
ihn nicht auf die weniger schmerzhafte Art sterben, er verlangt seinen Tod<br />
am Kreuz – Sq. 27.) Scorseses Gott ist also kein Gott, zu dem Jesus<br />
Vertrauen haben könnte oder zu welchem er gar voller Hoffnung beten<br />
könnte 68 . Denn es ist wieder Gott, welcher von Jesus sein Opfer am Kreuz<br />
fordert und nicht Menschen, die Jesus weder verstanden noch angenommen<br />
haben. Die Kreuzigung Jesu ist also viel zu wenig als Ergebnis seines<br />
Konfliktes mit Pharisäern gezeigt 69 . Deswegen habe ich leider auch die<br />
danach folgenden Bilder von der Geisselung und Kreuzigung Jesu, die sonst<br />
als Bilder „berührender Kraft” 70 bezeichnet werden können 71 , nicht als den<br />
Blick eines leidenden Gottes und schon gar nicht eines gütigen Vaters<br />
rezipiiert. <strong>Im</strong> Gegenteil, Scorseses sonst sich einmischender Gott schaut in<br />
diesen Bildern machtlos, vielleicht sogar despotisch zu, wie sein „Sohn” von<br />
den Römern erbarmungslos gegeisselt wird, als Scorsese diese Szene aus<br />
der Vogelperspektive zeigt. Obwohl diese Bilder auch in anderen Filmen<br />
sehr ähnlich stilisiert werden (Arcands Bilder in Jésus de Montréal erinnern<br />
an Scorseses Szene von der Geisselung), sagen sie nicht aus, dass der<br />
Sohn Gottes gequält wird, sondern dass Gott selber Jesus foltern lässt.<br />
Ebenso wenig väterlich wirkt Scorseses Gott dank ähnlichen Gottes-<br />
Darstellungen, als Jesus in Getsemani zu ihm spricht und ihn um Hilfe bittet.<br />
In dieser Einstellung, die ich in der Beziehung Gott – Jesus als sehr<br />
68 Vgl. Ebda<br />
69 Das Problem liegt nicht darin, dass Scorsese den Konflikt Jesu mit den Pharisäern zu<br />
wenig oder etwa nicht logisch geschildert hätte. Es ist vielleicht noch deutlicher als im Film<br />
Pasolinis. Ich finde, das Problematische liegt in der Schilderung Gottes im Film.<br />
70 Vgl. JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom<br />
18 (1988), S. 8-12.<br />
71 Arcand bringt in diesem Zusammenhang ähnliche Bilder auch was die vom Regisseur<br />
ausgewählte Perspektive betrifft.<br />
103
glaubwürdig empfunden habe (noch glaubwürdiger als bei Pasolini), kann<br />
leider das Schweigen Gottes, das als ein Windhauch (ähnlich wie bei<br />
Pasolini) dargestellt wird, nur als das Schweigen einer grausamen Gestalt<br />
und nicht als die Machtlosigkeit eines Vaters wirken, gegenüber der<br />
wahnsinnigen Menschheit, die den Messias, den Sohn Gottes, ja Gott selber<br />
tötet. <strong>Im</strong> Unterschied zu Pasolinis Gottesbild, welches Gott als einen<br />
mitleidenden Vater und Jesus als einen mitleidenden Bruder und als die<br />
personifizierte Hoffnung darstellt, wirkt Scorseses Gottes- und Jesusbild<br />
gespenstisch und vielleicht sogar sinnlos. Scorsese macht somit Gott selber<br />
und die Unsicherheiten Jesu zum eigentlichen Kreuz, das Jesus während<br />
seines irdischen Lebens tragen und er-tragen muss.<br />
2.5.3. Zwischen Axt und Liebe<br />
Auf der Beziehungsebene zwischen Jesus und seinen Mitmenschen<br />
spielen zwei Personen eine besondere Rolle, die Scorsese als Gegenspieler<br />
zu Jesus aufstellt: Judas und Maria Magdalena. Sie beide füllen im Film<br />
mehrere Funktionen aus und sind zum Gegenstand der Kritik geworden:<br />
1. Als innerlich zerrissene Person sehnt sich Jesus selber nach Erlösung<br />
von seinen Zwängen und sucht Zuflucht nicht nur bei Gott, sondern bei<br />
einer starken Persönlichkeit, wie es Judas in der Darstellung Scorseses ist.<br />
Judas, ein Zelote, der anfangs seinen Messias töten wollte, wird zum<br />
einzigen Jünger, mit dem Jesus über seine Zwänge und Pläne sprechen<br />
kann, und bei dem Jesus sogar Sicherheit zu finden glaubt. Jesus selber<br />
bezeichnet ihn als den „Stärksten” und überträgt auf ihn sogar einen Teil<br />
seiner erlöserischen Aufgabe, als er zu ihm sagt: „Wir zwei müssen die Welt<br />
104
etten.” (Sq.9), „Ich bin das Opfer, ohne deine Mithilfe kann es keine<br />
Erlösung geben.” (Sq.28). Obwohl die Vorstellungen Jesu über die Aufgabe<br />
eines Messias sich von denjenigen von Judas ganz und gar unterscheiden,<br />
ist Judas für Jesus nicht nur der stärkste seiner Jünger, sondern sogar der<br />
stärkere als er selber: Jesus gibt zu, dass ihm Gott die leichtere Aufgabe<br />
zugeteilt hatte – den Tod am Kreuz (Sq. 28). Scorseses Film vertauscht<br />
somit die biblischen Rollen von Jesus und Judas: Jesus wird zu demjenigen,<br />
der seine erlöserische Aufgabe verraten möchte und Judas zu dem, der<br />
Jesus in seiner Aufgabe ermutigt und der als einziger unter den Jüngern<br />
Jesu fest an seinen Messias glaubt. Judas übernimmt somit im Film die<br />
Position des biblischen Petrus als Fels und von Johannes als<br />
„Lieblingsjünger” Jesu (obwohl die beiden Figuren im Film präsent sind).<br />
Die filmische Maria Magdalena ist ebenfalls als eine Person<br />
dargestellt, die Jesus Zuflucht bieten kann und die ihn von seinen<br />
Schuldgefühlen „erlösen” kann. Denn gerade wegen Jesus ist Maria<br />
Magdalena zur Prostituierten geworden; Jesus bittet sie deswegen um<br />
Vergebung (Sq.5). Ausserdem ist Maria Magdalena in The Last Temptation<br />
of Christ die Frau, die Jesus Liebe (und zusammen mit noch zwei weiteren<br />
biblischen Gestalten Maria und Martha) ein ganz normales familiäres Leben,<br />
verbunden mit menschlicher Nähe und Wärme, bieten kann, wie es<br />
Scorsese in der „letzten Versuchung” Jesu am Kreuz deutlich zeigt (Sq.35-<br />
41).<br />
2. Doch sowohl Judas als auch Maria Magdalena können Jesus auf seinem<br />
Weg nicht weiter behilflich sein, denn sie haben ein anderes<br />
Messiasverständnis als Jesus. Sie legen zwar ein Stück ihres irdischen<br />
105
Lebensweges gemeinsam mit ihm zurück, doch sie denken ganz anders als<br />
Jesus. Ihre Wege laufen zwar parallel nebeneinander, in keinem einzigen<br />
Moment sind sie aber „deckungsgleich”. Während Judas die Erlösung im<br />
Aufstand gegen die Römer sieht, versucht Maria Magdalena, Jesus klar zu<br />
machen, dass seine Aufgabe auf der Erde in einem glücklichen<br />
gemeinsamen Leben mit ihr besteht, womit sie zugleich ihre eigene Erlösung<br />
in der Form von sinnlicher, von Jesus erwiderter Liebe erwartet. Somit stellt<br />
Scorsese in Judas und Maria Magdalena die personifizierten<br />
Versuchungen Jesu dar, die Jesus ständig auf seinem Weg zum Messias<br />
„begleiten”.<br />
Martin Scorsese lässt Judas und Maria Magdalena auch in den<br />
allegorischen Versuchungen Jesu auftreten (Sq.16): Judas im Körper eines<br />
Löwen, der die irdische Macht symbolisiert und Maria Magdalena als eine<br />
Schlange, die Jesus wieder zur Erbsünde verführen möchte und ihm einen<br />
einfacheren Weg zu Leben weisen möchte.<br />
3. Zusammen mit Jesus repräsentieren Judas und Maria Magdalena den<br />
Umbruch vom alttestamentlichen zum neutestamentlichen Denken.<br />
Während Jesus die Erlösung der Menscheit in der Befreiung der Seele sieht,<br />
sieht Judas und Maria Magdalena das Fundament nicht in der Seele,<br />
sondern im Körper. Dementsprechend will Jesus die Seele mit der Liebe<br />
befreien, wobei Judas und Maria Magdalena eigene Mittel zur Befreiung des<br />
Körpers sehen: Judas die Axt und Magdalena die Sinnlichkeit und<br />
Geborgenheit. Dieses neutestamentliche Denken Jesu kommt im Film zwar<br />
klar aber leider nicht genügend stark zum Ausdruck, weil Jesus von Nazaret<br />
nicht als eine starke und überzeugende Persönlichkeit auftritt.<br />
106
In diesem Zusammenhang ist noch die Person des Johannes des<br />
Täufers zu erwähnen. Scorsese stellt ihn nicht als Beginn des Umbruches<br />
zum neuen Denken und schon gar nicht als einen Wegvorbereiter Jesu dar:<br />
Johannes der Täufer ist ein Wahnsinniger, der die Menschen eher zu einem<br />
exstatischen Ausleben ihrer Religiosität führt, denn zur Bekehrung auffordert<br />
(Sq.14). Johannes der Täufer selber erkennt den Messias nicht, als er von<br />
Jesus angesprochen wird (Sq.14), er verkündet keine „innere Reinigung” der<br />
Seele, sondern führt ein Ritual der „Körper-Reinigung” der am Jordan<br />
versammelten Menge durch. Auch das Gebot der Liebe bedeutet ihm nicht<br />
allzuviel, denn er ermutigt den Messias nicht zur Verkündigung der Liebe,<br />
sondern zur Verkündigung des Zornes Gottes. Jesus soll nach einer Axt<br />
greifen und so die Sünde in der Welt bekämpfen.<br />
Auch auf der Beziehungsebene Jesu zu seinen Mitmenschen kann<br />
man feststellen, dass Scorsese das Gegenteil von Pasolinis Jesus zum<br />
Ausdruck bringt. Während Pasolini seinen Jesus als einen Menschen zeigt,<br />
der mit den Einfachsten und Ärmsten fühlen und leiden kann und als<br />
„Vermittler” zwischen Gott und den Menschen das Heil verkündet, zeigt<br />
Scorsese einen Jesus, der sich selber nach Erlösung sehnt. Während<br />
Pasolinis Jesus die personifizierte Hoffnung repräsentiert, stellt Scorseses<br />
Jesus eine Person dar, die selber keine Sicherheit und Hoffnung vermitteln<br />
kann. Das betrifft auch das neue Gebot der Liebe, das Jesus zwar<br />
verbalisiert, selber aber nicht danach handeln kann. Dort, wo Pasolini das<br />
Geheimnis an Jesus zu bewahren versucht (er spekuliert nicht über das<br />
Identitäts-Bewusstsein Jesu, er stellt ihn einfach als einen Leidenden dar),<br />
versucht Scorsese, diesem Geheimnis einen logischen Grund zu geben und<br />
107
es zu enthüllen. Die Zweispurigkeit und Zerrissenheit seiner Jesus-Figur wird<br />
dabei bis an die Grenze des Erträglichen getrieben.<br />
2.6. Versuchungen und Wunderdarstellungen<br />
Obwohl der Film von Scorsese nicht auf der Heiligen Schrift basiert,<br />
beinhaltet er auch einige Wunderdarstellungen und Versuchungen, was<br />
auch ein Beweis dafür sein kann, dass sie einfach zu Jesus gehören. In The<br />
Last Temptation of Christ wurde ihnen aber eine besondere Rolle zugeteilt:<br />
sie finden im realen Leben Jesus ihren Niederschlag. Dabei möchte<br />
Scorsese, ähnlich wie Pasolini, mit seiner Darstellung der Versuchungen<br />
keine Gottessohnschaft Jesu beweisen. <strong>Im</strong> Gegenteil, er möchte seine<br />
Aussagen symbolisch darstellen. Leider montiert er aber eine zu „starke<br />
Symbolik” in seine<br />
Bilder hinein, bis diese „überladen” werden und kaum eine Aussage über<br />
Gott und seinen Sohn erlauben. Ausserdem hat Scorsese in der Wahl einer<br />
geeigneten Symbolik nicht gerade eine glückliche Hand. Anders verhält es<br />
sich bei der Darstellung von Wundern. Dort, wo Pasolini Augen in<br />
Detailaufnahmen und Musik sprechen lässt, versucht Scorsese den<br />
Zuschauer einerseits mit Effekten und andererseits mit naturalistischen<br />
Bildern 72 zu „verzaubern”. <strong>Im</strong> Gegensatz zu Pasolini macht Scorsese<br />
somit aus seinem Jesus einen „Zauberer”.<br />
2.6.1. Die Versuchungen Jesu<br />
72 Vgl. HUPPMAN, Roland: “Die letzte Versuchung ...” – immer noch ein Thema?! “Film im<br />
öffentlichen Wider-Streit” ab der Münchner Film-Hochschule. In: Das Genre der Jesusfilme.<br />
Arbeitshilfe für Filmseminare. Institut für Kommunikation und Medien der Hochschule für<br />
Philosophie. München 1986, S. 9-11.<br />
108
Während es bei Pasolini die Wunder waren, welche die grössere<br />
Rolle im Leben Jesu spielten, sind es in The Last Temptation of Christ die<br />
Versuchungen Jesu, denen die wichtigere Rolle zugeordnet wird. Martin<br />
Scorsese zeichnet die Versuchungen anders als andere Jesusfilme. Er lässt<br />
sie nicht nur allegorisch sondern auch real geschehen: anhand von<br />
Beziehungen Jesu zu Maria Magdalena und Judas, die ich schon im Abshnitt<br />
2.5.3 beleuchtet habe.<br />
Die Versuchungen Jesu entsprechen seinen Visionen und Träumen,<br />
von denen er von Zeit zu Zeit heimgesucht wird, sei es im Kloster (Sq.8), in<br />
der Wüste (Sq.16) oder am Kreuz (Sq.35-41). Auch aus diesen Gründen<br />
wurde Scorseses Film so heftig kritisiert: einerseits wegen der<br />
gestalterischen Mittel, mit denen Scorsese die Visionen darstellt und<br />
andererseits wegen des Inhalts der „letzten Versuchung” Jesu – dem Traum<br />
am Kreuz (Sq.35-41).<br />
In den allegorischen Versuchungen greift Scorsese nach einer<br />
Ästhetik, die leider eher an moderne Märchen-Spielfilme erinnert und somit<br />
eine ernsthafte Auseinandersetzung des Autors mit der Problematik<br />
überdeckt: Jesus wird von einer Schlange überfallen, die sich durch den<br />
Boden gräbt, um Jesus mit der menschlichen Stimme von Maria Magdalena<br />
zu verführen (Sq.8). Am Widerstand Jesu scheitert sie aber, verschwindet<br />
aus dem Bild und damit auch die ganze Vision. Unter ähnlichen<br />
„märchenhaften” Visionen lässt Scorsese seinen Jesu auch in der Wüste<br />
leiden, wo er sich „harten Proben”, einem „Märchen-Prinzen” vergleichbar,<br />
stellen und den Satan bekämpfen muss (Sq.16). Jesus zeichnet einen<br />
„magischen” Kreis in den Sand um sich herum, der ihn vor Satans Angriffen<br />
109
schützen soll 73 . Als erste lässt Scorsese wieder die Schlange mit der Stimme<br />
von Maria Magdalena kommen. Als zweite Versuchung möchte ein Löwe mit<br />
der Stimme von Judas Jesus überzeugen, dass er als personifizierte Macht<br />
sein Herz sei. Danach bricht plötzlich die Flamme auf, aus welcher der Satan<br />
selber mit einem Hall–Effekt in der Stimme spricht. Als diese wieder<br />
verschwindet, wächst an der gleichen Stelle ein Apfelbaum mit zahlreichen<br />
Früchten, denen Jesus schliesslich nicht widerstehen kann: aus dem Apfel,<br />
in den er hineinbeisst, fliesst plötzlich Blut – dem blutigen Opfer des neuen<br />
Adam kann Jesus nicht entgehen. Ein ähnliches Bild begleitet die Reaktion<br />
Jesu beim Tod des Täufers, wo sich Jesus sein blutendes Herz aus seinem<br />
Körper reisst (Sq.18). Solche Bilder der allegorischen Versuchungen Jesu in<br />
der Wüste können aber nicht ernst genommen werden, da sie zu<br />
märchenhaft und sogar peinlich für einen Jesusfilm wirken und leider eine<br />
ernsthafte Aussage verunmöglichen. Es ist nicht die Stille, die Einfachheit<br />
des Schnitts-Gegenschnitts und der Verzicht auf Effekte der Versuchung-<br />
Szenen bei Pasolini, sondern das pure Gegenteil. Scorsese greift nach<br />
Effekten in Bild und Ton, um die Realität der Visionen zu betonen.<br />
2.6.2. Die letzte Versuchung<br />
Ganz anders ist die letzte Vision Jesu am Kreuz inszeniert. Obwohl<br />
auch da plötzlich ein Engel unter dem Kreuz Jesu erscheint und am Ende<br />
wieder wie der Satan in den Versuchungen Jesu in der Wüste als Flamme<br />
verschwindet, ist sie vom breiten Publikum nicht aus ästhetischen Gründen,<br />
sondern aus inhaltlichen kritisiert worden und nur auf die Sexualität Jesu<br />
begrenzt worden. Ich muss auch zugeben, dass ich mich im ersten Moment<br />
73 Obwohl der Kreis mit Christus in der Mitte in der christlichen Symbolik die Aussage des<br />
Christus als Mitte des Universums vermittelt, ist diese leider mit den danach folgenden<br />
Versuchungsdarstellungen relativiert, da sie einfach nicht ernst genommen werden können.<br />
110
ebenfalls gegen einige Szenen „gewehrt” habe (Liebesakt zwischen Jesus<br />
und Maria – Sq.36; der Engel ermutigt Jesus auch mit Martha zu schlafen –<br />
Sq.38.) Doch die ganze Traumsequenz habe ich nicht als problematisch<br />
rezipiiert. Scorsese trennt sie ganz klar als einen Traum von der Realität;<br />
Jesus widersteht ihr und schliesslich ist sie keine Darstellung des<br />
Sexuallebens Jesu (die „störenden” Szenen zeigen sich als zweitrangig im<br />
Kontext der ganzen Traumsequenz). In der „letzten Versuchung” werden alle<br />
Sehnsüchte und Versuchungen Jesu noch einmal verdichtet nacherzählt:<br />
1. Jesus braucht nicht zu sterben, um die andere Welt Gottes<br />
kennenzulernen, wie er schon in Gestemani zu Gott betete. Es reicht, wenn<br />
er die Erde anders betrachtet und schon kann er im Paradies leben (Sq.35).<br />
2. Den Himmel, den er in Kana als Hochzeit zwischen Gott und der Seele<br />
bezeichnet, kann er schon auf Erden erleben, indem er Magdalena zur Frau<br />
nimmt (Sq.35).<br />
3. Selbst wenn Jesus nicht gestorben wäre, würden die Menschen sich einen<br />
eigenen Erlöser ausdenken, einen, der ihnen passt (Sq.39). Paulus gibt<br />
Jesus somit die Antwort auf seine Frage, die er selber vor seiner Festnahme<br />
Gott gestellt hatte: „Muss ich sterben? Gibt es keinen anderen Weg?”<br />
(Sq.31)<br />
Was aber auch wichtig an dieser Traumsequenz zu sein scheint, ist<br />
die Tatsache, dass Scorsese gerade in dieser Sequenz, „(...) in der sich die<br />
Dualität des ganz Mensch und ganz Gott Seins zu einer Parabel über<br />
111
Fleisch- und Geistwerdung verdichtet (...)” 74 eigentlich das Thema des<br />
Filmes zu einem metaphorischen Höhepunkt bringt.<br />
2.6.3. Zusammenfassung der Versuchungen<br />
Trotz der misslungenen Darstellung der allegorischen Versuchungen<br />
in The Last Temptation of Christ bringt Scorsese etwas Neues im<br />
Verständnis der Versuchungen Jesu:<br />
1. Damit, dass die Versuchungen ihre filmische Abbildung in einer<br />
zweifachen Art finden (als reale Geschehnisse, mit denen Jesus zu kämpfen<br />
hat und als Visionen in seinem Unterbewusstsein, in denen diese<br />
Geschehnisse thematisiert werden), bricht Scorsese mit der Vorstellung,<br />
Jesus wäre nur allegorisch versucht worden. In diesem Film erlebt Jesus<br />
seine ganz konkreten, realen und alltäglichen Versuchungen.<br />
2. Nach Scorseses Darstellung geschehen die Versuchungen nicht nur in der<br />
Wüste, in der Isolation, sondern überall mitten unter Menschen, wobei sie<br />
aus dem Inneren eines Menschen kommen. Dieses wird im Film auch<br />
explizit betont, vom Mönch des Klosters, als Jesus von der Schlange<br />
überfallen wird (Sq.8).<br />
3. Den Versuchungen muss Jesus ständig widerstehen können, sie lassen<br />
sich nicht einmal in der Wüste für immer abwenden. Damit schafft Scorsese<br />
die märchenhafte Vorstellung ab, Jesus käme nie wieder in Versuchung.<br />
74 JAEGGI, Urs: The Last Temptation of Christ. (Die letzte Versuchung Christi). In: Zoom 18,<br />
1988, S. 11.<br />
112
Leider aber kreiert Scorsese mit der Darstellung der allegorischen<br />
Versuchungen in der Wüsste eine neue, märchenhafte Darstellung.<br />
2.6.4. Wunder<br />
Scorsese wählt in The Last Temptation of Christ einen anderen<br />
Zugang zu den Wunderdarstellungen als Pasolini. Dieser war nicht am<br />
Geschehen oder an der Durchführung eines Wunders interessiert, er zeigte<br />
einfach die „Ausgangsituation” vor und die Situation nach dem Wunder.<br />
Ebenso wenig interessierte ihn die Wirkung des Wunders bei Jesus selber;<br />
er zeigt die Wirkung des Wunders bei den Betroffenen. In The Last<br />
Temptation of Christ macht Scorsese das Gegenteil. Er zeigt ganz sorgfälltig<br />
den Verlauf des Wunders in Bild und Ton und die Wirkung von diesem fast<br />
ausschliesslich bei Jesus selber. Er erklärt auch, was er unter einem Wunder<br />
versteht, um das Gespür für das Geschehen im Leben Jesu beim Publikum<br />
zu wecken. Für Scorsese ist es schon ein Wunder, wenn er die Liebe unter<br />
den Menschen verkündet und dabei die richtigen Worte findet (Sq.11): Es sei<br />
Gott, der gesprochen habe, nicht Jesus. Neben solchen „Wundern”<br />
thematisiert Scorsese entsprechend der literarischen Vorlage von<br />
Kazantzakis auch einige Wunder-Taten Jesu: die Heilungen (Sq.19), die<br />
Auferweckung von Lazarus (Sq.23), das Wunder in Kana (Sq.20), die<br />
Wandlung von Brot und Wein beim letzten Abendmahl (Sq.30). Ausserdem<br />
zeigt er einige Wunder, die sowohl in der Bibel als auch in der literarischen<br />
Vorlage vorhanden sind – das Begleitwunder bei der Taufe Jesu (Sq.14) und<br />
die Auferstehung Jesu (Sq.42-43). Schliesslich thematisiert Scorsese wieder<br />
einige Visionen Jesu, die man zu den Wundern zählen kann: das schon<br />
erwähnte „Wunder” beim Erzählen des Gleichnisses vom Sämann (Sq.11),<br />
das als eine subjektive überlegung Jesu dargestellt ist; das plötzliche<br />
113
Erscheinen eines Apfelbaumes (Sq.13) – ähnlich märchenhaft, wie bei den<br />
Versuchungen Jesu; die Stigmatisierung Jesu (Sq.27) die plötzlich an seinen<br />
Händen erscheint, als Jesus ein Zeichen zum Ausbruch der Revolution<br />
gegen die Römer geben soll. Bei all diesen „Wundern” betont Scorsese<br />
besonders ihre Wirkung an Jesus. Bei dem einen ist es sein Stolz und seine<br />
Unsicherheit (Sq.11), beim anderen ist es die überraschung Jesu (Sq.13)<br />
oder einfach ein „Schwächenanfall” (Sq.27).<br />
Die Heilungen (Sq.19) werden in Scorseses Film in Anlehnung an<br />
Jesus Christ Superstar von Norman Jewison dargestellt. Jesus, der in<br />
Begleitung seiner Jünger durchs Land zieht, von Kranken geradezu<br />
„überfallen” und fast gezwungen wird, sie zu heilen. Auch Scorsese zeigt die<br />
zahlreichen „Unreinen”, wie sie aus den Boden-Löchern herauskriechen, um<br />
zu Jesus zu gelangen (bei Jewison waren es Felsenhöhlen). Ebenso braucht<br />
Jesus viel Kraft und Überwindung, um eine Heilung überhaupt zu bewirken.<br />
Er stösst die Geheilten einen nach dem anderen kräftig von sich ab, als ob<br />
sie ihm im Wege stünden. Scorsese bemüht sich dabei um eine<br />
„realistische” Darstellung. Die Hauptaussage, die zugleich die Voraussetzung<br />
für eine Heilung ist („dein Glaube hat dich gerettet”), wird gerade durch diese<br />
realistische Darstellung verdrängt und kommt somit nicht ganz klar zum<br />
Vorschein. Jesus wird so zu einem „Wunder-Heiler” und Magier. Um die<br />
Tatsache eines Wunders zu betonen, greift Scorsese auch nach einer<br />
indirekten Erzählweise, indem er Judas als Zeugen einer Heilung auftreten<br />
lässt: „Sehet, er war blind und Jesus heilte ihn!” (Sq.19). Diese indirekte<br />
Erzählweise relativiert aber nicht das Bemühen um eine realistische<br />
Darstellung; im Gegenteil, sie betont es noch zusätzlich.<br />
114
Geradezu naturalistisch möchte Scorsese auch den Verlauf der<br />
Auferweckung von Lazarus darstellen (Sq.23). Er zeigt Menschen vor dem<br />
Grab stehend, die sich sogar die Nasen vor dem Geruch des Toten zuhalten;<br />
an Lazarus sind bereit Spuren der Zersetzung seines Körpers zu erkennen.<br />
Dann lässt er Jesus eine Bewegung durchführen, die an asiatische<br />
Kampfkünste erinnert. Danach wird Jesus wie in einem Actionfilm geschockt,<br />
als der auferweckte Lazarus seine weisse Hand zu ihm ausstreckt, wonach<br />
ihn Jesus mit viel Mühe aus dem Grab herauszieht. Die Symbolik der<br />
weissen, nach oben zum Licht hin ausgestreckten Hand im dunklen Grab,<br />
vor dem Jesus steht, welcher sie aus der Tiefe des Todes zurück ins Leben<br />
zieht, wird mit diesen Bildern wieder relativiert.<br />
Mit naturalistischen Bildern lässt Scorsese den Wein zum Blut Christi<br />
wandeln (Sq.30), als er ihn in Detailaufnahme Blut durch die Finger von<br />
Petrus auf das Brot tropfen lässt. Diese Wandlung wirkt zu prosaisch, ohne<br />
jegliche Symbolik. Baugh bezeichnet diese Bilder sogar als Bilder an der<br />
Grenze zum Kanibalismus (nach Schraders Drehbuchvorlagen sollten die<br />
Jünger sogar tatsächlich auch Fleisch anstatt Brot teilen) 75 .<br />
Fast als Gegengewicht zu solchen abschreckenden „Wundern”, zeigt<br />
Scorsese einen Jesus, wie er mit viel Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit<br />
das Wasser zu Wein bei der Hochzeit in Kana wandelt (Sq.20).<br />
Während es sich bei den Versuchungen und Wundertaten Jesu um<br />
eine Symbolik mit vielen Details aber letztendlich ohne Aussagekraft handelt,<br />
geht es bei den Begleitwundern um einen Versuch um Stilisierung. Bei der<br />
Taufe Jesu (Sq.14) geschieht das Wunder, indem Scorsese die Ambiance<br />
unterbricht und Jesus durch Johannes den Täufer im Jordan, aus der<br />
75 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging The Divine. Kansas City 1997. S.48-71.<br />
115
Vogelperspektive betrachtet, taufen lässt. Nach dem Wunder kehrt der Ton<br />
zurück. Scorsese schafft es leider auch mit diesen einfachen Mitteln nicht,<br />
die an Pasolini erinnern, eine Metapher zu zeigen, denn Jesus befindet sich<br />
in dieser Szene nicht unter Gläubigen, die sich innerlich auf das Kommen<br />
des Sohnes Gottes vorbereiten sollten. Jesus wird in dieser Szene zu einem<br />
der „Sektenangehörigen” von Johannes gemacht, die auf falschen Wegen zu<br />
Gott gelangen wollen.<br />
Scorsese lässt auch das Gewitter als Begleitwunder zur Kreuzigung<br />
(Sq.34) ausbrechen, konzentriert sich aber nicht auf das Wunders selber. Er<br />
wendet die Aufmerksamkeit des Zuschauers von diesem ab, indem er kurz<br />
darauf in die Subjektive wechselt und Jesus in seinen Traum hineintauchen<br />
lässt. Nach dem Aufwachen aus der letzten Versuchungs-Szene Jesu zeigt<br />
Scorsese den Tod und die Auferstehung Jesu zugleich (Sq.42-43). Nach<br />
dem Aufschrei Jesu: „Es ist vollbracht!”, bricht das Bild ab, etwa so wie die<br />
Unterbrechung eines Filmbandes. Das Wechseln von verschiedenen Farben<br />
soll die Auferstehung betonen und Jesus als Christus offenbaren.<br />
Gleichzeitig werden im Ton Gesänge des letzten Bildes weitergezogen, zu<br />
denen die regelmässigen Klänge einer Osterglocke gemischt werden. Diese<br />
sollen wiederum die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Auferstehung<br />
Jesu richten. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Bilder im Kontext des<br />
ganzen Films diese Aussagekraft tatsächlich auch besitzen. Baugh lehnt<br />
diese Annahme ab, weil die Gesänge des irdischen Lebens Jesu und seines<br />
Todes nach den letzten Glockenklängen im Abspann noch einmal stark<br />
akzentuirt werden 76 . Scorsese lässt die Gesänge und Glocken anfangs<br />
ineinander hineinfliessen, ganz im Sinne des letzten Satzes in Kazantzakis<br />
76 Vgl. Ebda.<br />
116
Buch: „Alles ist ein Ende und alles ist ein Beginn.” Der Schluss des Films<br />
nach dem Abspann entspricht aber nicht dieser Aussage. Mehr noch aber<br />
hat mich am Film von Scorsese gestört, dass ich Jesus in keinem Moment<br />
des Filmes als Christus identifizieren konnte, der als Sohn Gottes erkennbar<br />
wird, obwohl der Titel des Filmes die Dimension Christi klar zum Ausdruck zu<br />
bringen scheint. Jesus steht nur als ein Mensch da, der fast vergeblich zu<br />
Gott gelangen will. Da Gott auch nicht als Vater in Erscheinung tritt, wirkt die<br />
symbolische Auferstehung Jesu und der Gesang am Schluss fast zynisch.<br />
2.7. Die Mittel<br />
Martin Scorsese lässt sich bei der Darstellung Jesu Christi in The Last<br />
Temptation of Christ von Kazantzakis’ Hell-Dunkel-Malerei inspirieren.<br />
Andererseits beeinflusst ihn Pasolinis Jesus in Il vangelo secondo Matteo mit<br />
seiner zweispurigen Haltung 77 . Scorsese scheint das Motto von Pasolini zu<br />
„übernehmen” und es noch deutlicher, noch stärker herausgearbeitet zu<br />
haben: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das<br />
Schwert.” (Mt.10,34) Bei Scorsese ist es nicht das Schwert, sondern die Axt.<br />
Dies ist an der entgegengesetzt verlaufenden Darstellung der zwei Naturen<br />
Jesu Christi transparent geworden, die aber wieder ganz anders als bei<br />
Pasolini zum Ausdruck gebracht werden. Scorsese stellt die Dualität Jesu<br />
Christi in der gespaltenen Persönlichkeit Jesu dar und macht diese zugleich<br />
zum wichtigsten Ausdrucksmittel des „Gottseins” bei seinem Jesus. Wenn<br />
aber Gott als etwas Positives wahrgenommen wird (Gott – Gut – Liebe –<br />
77 Als sich Scorsese den Jesusfilm von Pasolini angesehen hatte, sei er begeistert und<br />
schockiert zugleich gewesen, denn gerade so – zweispurig – habe er sich selber seinen<br />
Jesus vorstellen können.<br />
Dazu:<br />
117
Vater – Gnade – Vergebung – Ewigkeit – Licht – Leben – Reinheit usw.)<br />
kann ein Gespalten-Sein kaum ein geeignetes Ausdrucksmittel für das Gott-<br />
Sein werden. Scorsese wählte innerhalb seiner zweispurigen Inszenierung<br />
immer den extremen Weg (Wut – Angst; Axt – Liebe; Überzeugung –<br />
Unsicherheit...). Dabei treibt er das „Spiel” mit jeder dieser Variablen immer<br />
bis an die Grenze des Erträglichen oder sogar noch weiter. So verunmöglicht<br />
er, dass sich diese Variablen zu konstruktiven Irritationen entwickeln<br />
können,wie es bei Pasolinis Jesusfilm der Fall war. Das Problematische an<br />
The Last Temptation of Christ liegt deshalb nicht in der Handlung des Filmes<br />
(im Groben stimmt sie durchaus und ausserdem kann Jesus ruhig seine<br />
Visionen, Versuchungen und Träume haben). Vielmehr liegt das<br />
Problematische in der Intensität, die bei jeder Variablen ins Extreme<br />
gezogen wird und sich zu einer „Schock-Inszenierung” entwickelt, sowohl im<br />
Inhalt (Jesus findet nie seine innere Ausgewogenheit) als auch im Bild<br />
(Wunderdarstellungen, Versuchungen und die drastische Symbolik). Ganz<br />
sicher geht Scorsese somit gegen jede süse, sanfte Darstellungsweise Jesu<br />
in den Grossfilmen vor, wofür nicht allein die Erzählperspektive seines Films<br />
spricht. Auch die Betonung der Drastik der symbolischen Details gehört dazu<br />
(Blut des Zeloten im Gesicht Jesu, Blut der Osterlämmer, Blut der Wunden<br />
Jesu, Blut des Herzens Jesu, Blut und Geld, Blut und Dornenkrone, Blut auf<br />
dem Brot). Zwar ist Scorsese dabei auch nicht ganz konsequent (sein Jesus-<br />
Typ könnte sicher zu Grossproduktionen besser passen als Pasolinis Jesus-<br />
Irazoqui; er vermeidet zwar Massenszenen, aber schon am Anfang lässt er<br />
die Zeloten und die Römer wie in allen Grossfilmen gegeneinander kämpfen;<br />
er besetzt die Haupt-Figuren mit Stars und bemüht sich um ein Maximum an<br />
Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City 1997,<br />
118
ealistischer Darstellung, die noch mit den in Details durchgearbeiteten<br />
historischen Kostümen und Masken – Tätowierungen von Maria Magdalena<br />
– betont wird) ist es ihm doch gelungen, in keinem Moment des Films<br />
pathetisch und „fromm” zu sein. Ausserdem greift Scorsese nach Trick-<br />
Wundern (so sind die Versuchungen und Wunder inszeniert), von denen<br />
vielleicht am peinlichsten die Szene wirkt, als Jesus dem Soldaten sein<br />
abgeschnittenes Ohr (Sq.31) wieder „zuklebt”. Solche gestalterischen Mittel<br />
bedecken leider die Aussagekraft jeder Stilisierung.<br />
Scorseses Mittel sind nicht gerade einfach, wie bei Pasolini, denn sein<br />
Film ist prächtig in Farben, grosszügig in Besetzung und effekt-konzentriert<br />
in der Duchführung. Sein Film kann als ein historisierender Jesus-Film<br />
bezeichnet werden. Das bestätigt teilweise auch der Musikeinsatz von Peter<br />
Gabriel, der in der Durchführung einerseits einen Versuch um authentische<br />
Musik darstellt (obwohl er auch für den nicht korrekten Einsatz kritisiert<br />
wurde – die Musik und der Tanz wirkte zum Teil eher arabisch denn<br />
hebräisch) 78 . Andererseits versucht er, sich mittels neuster Musik-<br />
Techniken 79 gegen den Traditionalismus und Triumphalismus<br />
durchzusetzen. Auf keinen Fall übernimmt die Musik aber eine aktive<br />
dramaturgische Funktion im Film, wie bei Pasolini. Die Musik von Peter<br />
Gabriel übernimmt eher die Rolle einer Hintergrundmusik.<br />
Während sich Pasolini für die Zweispurigkeit in Kombination mit einer<br />
zurückhaltenden und immer aktuellen Inszenierung entschieden hat, was<br />
allgemein als seine Stärke angesehen wird, hat Scorsese die letzten zwei<br />
Prinzipien gestrichen und sie durch äussere Mittel zur Erzielung von einem<br />
S. 54.<br />
78 Vgl. Ebda.<br />
119
Maximum an Realität ersetzt, was leider nicht funktioniert hat und eher als<br />
Schwäche dieses Films angesehen werden kann.<br />
2.8. Das Phänomen Publikum<br />
Der Film macht von Anfang an den Zuschauer darauf aufmerksam,<br />
seinen Jesus nicht mit dem Jesus der Evangelien zu vergleichen. Das ist<br />
eine Art Aufforderung des Regisseurs, die aber aus folgenden Gründen nur<br />
schwer erfüllbar ist:<br />
1. wegen der Vorprägung des Publikums eines Jesusfilms (Teil 2.8.1.);<br />
2. wegen der Tatsache eines direkten historisierenden Jesusfilms (Teil<br />
2.8.3.);<br />
3. wegen der Gewichtsverschiebung im Titel (Teil 2.8.4.).<br />
2.8.1. Das Problem der Vorprägung<br />
Bei einem Jesusfilm muss der Regisseur immer damit rechnen, dass<br />
die meisten Zuschauer bereits ein Vorwissen (oder zumindest eine Ahnung)<br />
von der Person Jesu Christi haben und davon nicht einfach so abstrahieren<br />
können. Dieses bringt sie im Laufe des Films immer in „Versuchung”, den<br />
filmischen Jesus mit dem eigenen Bild von ihm zu vergleichen, um so mehr,<br />
als es im Fall von The Last Temptation of Christ um einen direkten<br />
historisierenden Jesusfilm geht. Wenn also das Jesusbild des Zuschauers<br />
nicht mindestens ein bisschen dem filmischen ähnelt, kann der Film nur<br />
schwer verstanden werden, da der Zuschauer seinen Jesus nicht einordnen<br />
kann und sich in der Handlung verliert. Wenn Scorseses Jesusbild von The<br />
Last Temptation of Christ den Evangelien gegenübergestellt wird, ergibt sich,<br />
79 Vgl. Ebda. S. 59f.<br />
120
dass der Film, obwohl er auf der Handlungsebene in groben Zügen stimmt,<br />
eine zweifache Diskontinuität mit sich bringt:<br />
1. Jesus ist in The Last Temptation of Christ aufgrund seiner gespaltenen<br />
Persönlichkeit und der Widersprüche, die er in sich trägt, nicht das Inbild<br />
dessen, was er verkündet.<br />
2. Scorseses Jesus entspricht weder dem Jesus der Geschichte noch dem<br />
Christus des Glaubens. Scorsese ist an der historischen Stimmigkeit nicht<br />
nur nicht interessiert, da seine Intention einfach eine andere ist, er ignoriert<br />
sie in ganz wichtigen Punkten:<br />
– Die Kreuzigung Jesu als Opfer, das er aufgrund seines Traumes selber<br />
provoziert und gesucht hatte.<br />
– Die Jünger bilden keine „kompakte” Gruppe mit der Aufgabe, die Lehre<br />
Jesu zu übernehmen und weiter zu verbreiten, womit sie geradezu<br />
überflüssig werden. Judas ist der einzige, der eine wichtigere Rolle spielt.<br />
Wenn der Zuschauer nicht ständig daran denkt, dass der Film eine<br />
Roman- und nicht eine Evangeliumsverfilmung ist und ihn mit seinen<br />
Bibelkenntnissen vergleicht, kann er den Jesus dieses Filmes nicht mehr<br />
einordnen und somit auch nur bedingt verstehen.<br />
Ähnliches lässt sich vom Christus des Glaubens sagen, den die<br />
Menschen aus der Verkündigung kennen und von dem im Film keine Spur<br />
zu finden ist. Schon das Wichtigste an Jesus, dass sich in ihm Gott selber<br />
offenbart hat, wird im Film kaum je transparent gemacht. Der<br />
Offenbarungskreis, von dem ich im ersten Kapitel geschrieben habe, ist im<br />
Film nicht vorhanden. Scorsese bildet zwar einen Bogen zwischen dem<br />
121
Anfang des Films und seinem Ende: das Leben Jesu ist ein Kreuzweg.<br />
Doch es fehlt ihm die Dimension Christi, die während des ganzen Filmes<br />
kaum entwickelt wurde:<br />
– Gott ist im Film fast wie ein Tyrann dargestellt, an keiner Stelle wird er<br />
zum Vater, zu dem Jesus „Abba” 80 sagen könnte und der sich in Jesus<br />
offenbaren sollte;<br />
– Jesus spürt kaum die im Evangelium bezeugte Verbundenheit mit Gott<br />
(“Ich und der Vater sind eins!” – Joh 10,30) und es fehlt ihm die Weisheit<br />
„seines Vaters”;<br />
– Jesus handelt mehr aus Angst denn aus Liebe zu den Menschen, er wirkt<br />
fast lieblos und ist teilweise aggressiv;<br />
– Der Glaube spielt bei ihm eine eher untergeordnete Rolle;<br />
– Die Ethik des Neuen Testaments, das Gebot der Nächsten- und<br />
Feindesliebe, wird kaum zum Ausdruck gebracht.<br />
Das Problematische an Scorseses Film liegt also nicht daran, dass er<br />
Jesus als einen Menschen darstellen wollte, mit seinen Versuchungen,<br />
Ängsten und Unsicherheiten, sondern, dass den Versuchungen so viel Platz<br />
eingeräumt wird, dass Scorsese andere wichtige Momente und Aussagen<br />
der Evangelien nicht mehr thematisieren kann oder will. Deswegen kann das<br />
Publikum den Film nur bedingt verstehen. Scorsese findet ausserdem in<br />
keinem Moment seines Films adäquate Bilder, um auf Jesus (auch) als den<br />
Sohn Gottes aufmerksam zu machen.<br />
80 Vgl. GASPER, Hans: Die Letzte Versuchung Christi. Eine leicht gekürzte Filmkritik<br />
übenommen von film-dienst 22, 1988. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur<br />
Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 68f.<br />
122
Scorsese stellt Jesus aber auch nicht als einen ganz normalen<br />
Menschen dar, denn sein Jesus hat keinen freien Willen und wirkt<br />
deswegen krankhaft. Es drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage<br />
auf, inwieweit dieses die Handschrift Scorseses und inwieweit die von<br />
Kazantztakis ist.<br />
2.8.2. Von Kazantzakis zu Scorsese<br />
Scorseses Werk kann als eine treue Verfilmung der Romanvorlage<br />
bezeichnet werden: Nikos Kazantzakis interessiert sich nicht für eine<br />
Wiederherstellung oder Nacherzählung der Biographie Jesu von Nazaret in<br />
seinem Roman und ebensowenig interessiert ihn die historische Stimmigkeit<br />
dessen, was er schreibt. Er nimmt einige Evangelien-Geschehnisse heraus,<br />
ergänzt diese mit eigenen Überlegungen und füllt somit die Lücken der<br />
Evangelien aus. Das Ergebnis seiner Überlegungen zur Person Jesus von<br />
Nazaret ist ein historisierender, mehr aber psychologisierender Roman über<br />
Jesus Christus, mit dem er ein Bild von Jesus entwarf, das die Menschen<br />
ganz sicher nicht aus der Katechese kennen. Sein Jesusbild, oder besser:<br />
Christusbild, ist nicht der von Anfang an dagewesene Mensch und Gott in<br />
einem, sondern es ist das Bild eines Menschen, der sich wegen seiner<br />
göttlichen Berufung in der Krise befindet. Dennoch gibt es einige<br />
Unterschiede zwischen dem Buch von Kazantzakis und dem Film von<br />
Scorsese:<br />
1. Kazantzakis’ Jesus macht einen geradlinigen Bewusstseinsprozess zum<br />
Christus-Sein durch. Er wird sich im Unterschied zum Jesus bei Scorsese,<br />
der ständig hin und her laviert, seiner göttlichen Sendung immer mehr<br />
123
ewusst. Trotz seinen inneren Ängsten, empfindet er seinen (göttlichen)<br />
Auftrag als etwas Positives; „Jesus lächelte” steht an manchen Stellen im<br />
Roman, wenn von Jesus als dem Messias die Rede ist. Kazantzakis Jesus<br />
wird als ein Mensch gezeigt, der, obwohl innerlich unausgeglichen, doch viel<br />
fröhlicher wirkt. Er hat einen „optimistischeren” Glauben, was zugleich<br />
andeutet, dass der Glaube Jesu im Roman doch eine wichtigere Rolle spielt.<br />
Scorseses Jesus zeigt viel weniger Vertrauen zu Gott.<br />
2. Das Bild Gottes bei Kazantzakis gegenüber dem bei Scorsese ist auch<br />
nicht so negativ; Jesus zeigt eher Vertrauen gegenüber ihm: „Gott ist nicht<br />
nur gerecht, er ist auch gut; er ist nicht nur gut, er ist auch Vater.” 81 Jesus im<br />
Roman verkündet Liebe, Glaube an Gott und dies auch erfolgreich, was bei<br />
Scorseses Jesus nicht der Fall ist.<br />
3. Jesus im Roman wird auch als „Prophet in eigenem Land” dargestellt,<br />
nicht nur deswegen, weil er für die Römer Kreuze zimmert. Er fühlt sich auch<br />
sonst von den Menschen unverstanden.<br />
4. Während die Liebe im Film von Jesus verbalisiert aber kaum gezeigt wird,<br />
kommt sie im Roman viel stärker zur Geltung. Kazantzakis’ Jesus hat oft<br />
Mitleid mit Menschen, während Scorseses Jesus fast ausschliesslich an sich<br />
selbst leidet und voller Aggressivität ist (weswegen er als eine typische Figur<br />
seiner Filme bezeichnet wird und auch wenig ernst genommen wird).<br />
81 Vgl. KAZANTZAKIS, Nikos: Die letzte Versuchung. Berlin 1998, S. 200.<br />
124
5. Während Jesus im Film ohne Botschaft bleibt, die er seiner Jünger-<br />
Gruppe weitergeben könnte, hat Jesus im Buch eine ganz klare Aufgabe,<br />
seine Lehre und den Glauben an Gott an die Jünger weiterzugeben.<br />
6. Den Jüngern Jesu räumt Kazantzakis viel mehr Platz und Bedeutung<br />
ein. Obwohl seine Jüngergruppe nicht der biblischen entspricht, hat sie eine<br />
klare Aufgabe von Jesus bekommen – seine Lehre weiterzugeben. Der<br />
Evangelist Matthäus beispielsweise, eine wichtige Person im Buch, die alles<br />
Geschehen um Jesus aufschreibt, fällt im Film völlig aus. Ähnlich die<br />
Gestalten von Thomas oder Petrus, die nur als Kulisse zusammen mit der<br />
Jüngertruppe im Film dienen. Die Zusammengehörigkeit der Jünger wird<br />
nicht positiv gezeigt und wenn, dann zeigt Scorsese eine unsichere und an<br />
Jesus zweifelnde Gruppe. Ausserdem, kommt im Film kaum zum Ausdruck,<br />
dass nicht nur viele Jünger, sondern auch viele Menschen an Jesus als dem<br />
Messias glauben. Nur Judas, die wichtigste Person in der Beziehung zu<br />
Jesus, wird mit seiner Aufgabe und seinem Charakter vom Buch ziemlich<br />
treu übernommen. Einen Unterschied zwischen dem Judas bei Kazanzakis<br />
und Scorsese gibt es trotzdem: während Scorsese die Jüngergruppe fast<br />
nur auf Judas reduziert, fühlt sich Kazanzakis’ Judas wegen seines<br />
Denkens und Handelns eher als Aussenseiter. Obwohl die Darstellung<br />
anderer Hauptfiguren neben Jesus, wie sie bei Kazantzakis beschrieben<br />
werden, heute oft als „stereotyp” bezeichnet werden können, ist in dieser<br />
Hinsicht Scorsese Kazantzakis ebenso treu wie Pasolini Matthäus: auch in<br />
Scorseses Film ist Judas der notwendige Verräter, ohne den es keine<br />
Erlösung gäbe und Maria Magdalena eine Prostituierte, die wegen Jesus ein<br />
unmoralisches Leben führen muss.<br />
125
7. Gott hat Jesus die Kreuzigung nur offenbart, er hat sie nicht erzwungen.<br />
<strong>Im</strong> Buch wird sie auch klarer als das Ergebnis der Konflikte mit den<br />
Pharisäern gezeigt.<br />
<strong>Im</strong> allgemeinen kann man feststellen, dass Scorsese seine Gottes-<br />
und Jesusdarstellung gegenüber der von Kazantzakis immer ein wenig<br />
extremer und übertriebener zeichnet.<br />
2.8.3. Das Problem der Historisierung<br />
Da Scorsese kein Interesse an einer (eindeutigen) Aktualisierung des<br />
Jesus-Geschehens zeigt, ergeben sich für den Zuschauer noch zusätzliche<br />
Probleme. Die beschriebene Historisierung in Scorseses Film ist so stark,<br />
dass sie den Zuschauer noch zusätzlich motiviert, einen Bezug zur Bibel zu<br />
suchen, als es bei einer Aktualisierung der Fall wäre. Dies erweist sich als<br />
ein störender Faktor in der Rezeption dieses Films. Die vielen<br />
Missverständnisse und Proteste bestätigen diese Annahme.<br />
Die Historisierung trägt auch dazu bei, dass die „völlig gegen Tradition<br />
und Geschichte” (nicht nur Historizität) gerichteten Bilder in The Last<br />
Temptation of Christ auch um so schokierender wirken können: Jesus wird<br />
von Judas geschlagen, Jesus schläft mit Maria Magdalena und hat eigene<br />
Kinder, Jesus bezeichnet Gott als Luzifer, Jesus zimmert Kreuze usw. Wenn<br />
die Gründe für die Proteste näher betrachtet werden, stellt man fest, dass<br />
es unter anderem auch diese Bilder sind, die mit den Bildern, die das<br />
Publikum von Jesus im biblisch vorgeprägten Bewusstsein hat, mit<br />
Scorseses Darstellungen schnell in Konflikt geraten können. Deshalb kann<br />
126
ich mir gut vorstellen, dass die Intention Scorseses, die an und für sich<br />
nichts Negatives in sich trägt, in der historisierenden Ausführung zu einem<br />
störenden Faktor bei der Rezeption geworden ist.<br />
2.8.4. Der Titel des Films<br />
Nich weniger verwirrend in diesem Zusammenhang ist der Titel des<br />
Films. Während das Buch Die letzte Versuchung heisst, heisst der Film Die<br />
letzte Versuchung Christi. Scorsese hat somit eine Gewichtsverschiebung<br />
von der Versuchung eines Menschen allgemein zur Versuchung Christi<br />
gemacht, was ganz sicher auch zu den Protesten und Missverständnissen<br />
beigetragen hatte. Dabei könnte der Film viel mehr einerseits von Christus<br />
als einem Menschen aussagen und andererseits von einem Menschen ganz<br />
allgemein.<br />
Scorsese sagt zwar ganz klar mit den Worten von Kazantzakis im<br />
Vorspann, dass das Geheimnis des doppelten Wesens Christi für immer ein<br />
Geheimnis bleiben wird (Sq.1) und betont zugleich die subjektive Sicht nicht<br />
nur an Christus als am Geheimnis des doppelten Wesens, sondern auch an<br />
einem Menschen. In erster Linie provoziert er zwar Fragen: Wie war es<br />
eigentlich mit dem Gottessohn seiner Identität? Jesus hatte sehr<br />
wahrscheinlich ein anderes Gott-Bewusstsein als Kind und ein anderes als<br />
ein Erwachsener Mensch. Diese Fragen werden zwar im Film implizit<br />
gestellt. Ihre Wahrnehmung wird aber auch erschwert, da schon im Titel des<br />
Films auf Christus aufmerksam gemacht wird, womit dem Publikum<br />
automatisch die traditionellen, bekannten Bilder von Christus in Erinnerung<br />
gerufen werden.<br />
127
Doch Scorseses Film könnte auch als eine „Studie des Menschen”<br />
überhaupt verstanden werden, inerhalb derer er implizit die Grundfragen<br />
nach dem Ursprung und dem Sinn der menschlichen Existenz stellt und<br />
diese als eine bewusste Provokation des Publikums formuliert. Somit kann<br />
die „Schock-Inszenierung” Scorseses mit der Betonung der „Grausamkeit”<br />
der christlichen Symbolik 82 und die „Grausamkeit” Gottes als Kritik der<br />
Religiosität verstanden werden. Es geht um die Kritik dessen, was Menschen<br />
aus Gott und aus Jesus gemacht haben und zugleich um die Aufforderung<br />
zur Frage, wie mein persönliches Bild von Gott und Jesus aussieht: Ist es ein<br />
Gott, der bestraft, der nur Gerechtigkeit und keine Gnade will?... Wie wäre<br />
es, wenn Gott tatsächlich so wäre? Oder ganz konkret mit den Worten Jesu,<br />
als er seine Jünger fragte: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?” Auch in diesen<br />
Fragen kann sich der Titel des Films aus denselben Gründen eher als ein<br />
Faktor erweisen, der sie schwieriger wahrnehmbar macht.<br />
DRITTER TEIL:<br />
Jesus Christus in Arcands Jésus de Montréal<br />
3.1. Charakteristik und Angaben zum Film<br />
Nur ein Jahr nach der Uraufführung des „Skandalfilms” The Last<br />
Temptation of Christ, der schon im Vorfeld hohe Welle der Empörung<br />
geworfen hatte, wurde 1989 wieder ein neuer Jesus in der Kino-Welt<br />
geboren. Dieser aber stammt aus Kanada: Jésus de Montréal des<br />
82 Vgl. GRE<strong>IN</strong>ER, Ulrich: Die Letzte Versuchung Christi. Eine gekürzte Filmkritik,<br />
übenommen von Die Zeit. 11.11.1988. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur<br />
Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 69f.<br />
128
Regisseurs Denys Arcand. Es ist ein Film, der eine Transfiguration Jesu<br />
Christi in die Gegenwart zeigt und der in die Geschichte der Jesusfilme als<br />
einer der bedeutendsten seiner Tradition eingegangen ist.<br />
Jésus de Montréal, dessen Geschichte in der kanadischen Metropole<br />
und im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern in der Gegenwart spielt,<br />
hat eine Länge von 119 Min. 83<br />
und ist überwiegend in Anlehnung an das<br />
Markus-Evangelium inszeniert worden.<br />
Die Parabel von Denys Arcand, ein gesellschaftskritisches Melodram,<br />
wie es offiziell angekündigt wird, ist im Mai 1989 anlässlich des<br />
Internationalen Filmfestivals in Cannes uraufgeführt worden und gleich zu<br />
Beginn des Jahres 1990 ist der Film auch im deutschsprachigen Raum einer<br />
breiten Öffentlichkeit unter dem Titel Jesus von Montreal vorgestellt<br />
worden 84 . Am Fernsehen ist der Film mehrere Male gezeigt worden, wobei<br />
die letzte Fernsehaufführung im deutschsprachigen Raum beim Sender<br />
Schweiz 4 am 28. März 1997 registriert worden ist.<br />
3.2. Die Handlung<br />
Der arbeitslose junge Schauspieler Daniel Coulombe kehrt nach<br />
Montreal zurück und nimmt das Angebot vom Pater Leclerc an, die schon<br />
längst veralteten Passionspiele ein bischen „aufzufrischen” und sie neu zu<br />
inszenieren. Daniel beginnt über die Person Jesu Christi zu recherchieren<br />
und integriert die neuesten Kenntnisse der Theologie und Archäologie in<br />
seine Version der Passionsspiele, wobei er selber die Hauptrolle von Jesus<br />
83 Angaben nach:<br />
Vgl. Jesus im Film – Eine Auswahlfilmographie. In: film-dienst EXTRA, Jesus in der<br />
Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 84.<br />
84 Vgl. JACOBI, Reinhold: (Fehl-)Versuch am lebenden Objekt. Reflexion über ein heikles<br />
Thema: Filmkritik. In: film-dienst 11,1990, S. 10-13.<br />
129
übernimmt. Er schart ein paar Kollegen um sich und stellt eine kleine<br />
Schauspiel-Truppe zusammen, die das neuverfasste Passionsspiel im<br />
Garten des Wallfahrtsortes am Hügel von Mont Royal, wo Pater Leclerc der<br />
zuständige Pfarrer ist, zum ersten Mal spielt. Da die „Auffrischung” des<br />
traditionellen Passionsspieles so gründlich ist, dass sie mit der offiziellen<br />
kirchlichen Lehre nichts mehr gemeinsam hat, will Pater Leclerc dafür nicht<br />
mehr die Verantwortung übernehmen und verlangt trotz des<br />
überwältigendem Publikumserfolgs, das Spiel vom Programm abzusetzen<br />
und die alte Version des Spieles wieder aufzuführen. Die ersten<br />
Spannungen zwischen dem Regisseur und Hauptdarsteller Daniel Coulombe<br />
und der kirchlichen Obrigkeit nehmen ihren Lauf. Schon bald nehmen sie an<br />
Intensität so sehr zu, dass das Spiel von der Kirche einfach verboten wird.<br />
Die inzwischen gut aufeinander eingespielte Truppe von insgesammt fünf<br />
Schauspielern, die aus verschiedenen Medien-Berufen stammen und dank<br />
diesem Passionspiel einen neuen Sinn in ihrem Leben gefunden haben,<br />
lehnt das Verbot selbstverständlich ab. Sie wagen es, das dokumentarisch<br />
inszenierte Passionsspiel ohne Erlaubnis wieder aufzuführen – zum letzten<br />
Mal. Während der Kreuzigungsszene macht sich Unruhe unter dem<br />
gerührten Publikum breit. Die Ordnungskräfte mischen sich ein und wollen<br />
das Spiel definitiv beenden. Die empörten Zuschauer verteidigen aber ihr<br />
Recht auf Fortsetzung des Spieles so vehement, dass es zu einem<br />
Handgemenge zwischen ihnen und einigen Zuschauern kommt. Dabei wird<br />
das Kreuz umgestossen und drückt mit seinem ganzen Gewicht den auf<br />
diesem hängenden Jesus-Darsteller Daniel zu Boden. Er erleidet dabei<br />
schwere Kopfverletzungen und wird sofort ins Krankenhaus gebracht, wo er<br />
wieder sein Bewusstsein findet, bevor er behandelt werden soll. Es scheint<br />
130
ihm plötzlich besser zu gehen und er begibt sich in Begleitung der beiden<br />
Schauspielerinnen Constanze und Mireille auf den Weg nach Hause. In<br />
einer U-Bahn-Station wird er aber plötzlich von einer apokalyptischen Vision<br />
ergriffen. Sein Zustand verschlechtert sich schlagartig wieder, er bricht<br />
zusammen und stirbt kurz danach in einem jüdischen Krankenhaus. Seine<br />
jungen noch lebenstüchtigen Organe werden ihm nach seinem Tod<br />
entnommen, transplantiert und verhelfen Kranken zu neuem Leben. Die<br />
Schauspiel-Kollegen Daniels gründen nach seinem Tod ein offizielles<br />
Theater, das seinen Namen trägt. Daniels Leben geht trotz seinem Tod<br />
weiter.<br />
3.3. Kritik und Reaktion des Publikums<br />
Insgesamt kann man feststellen, dass der Film keine grossen<br />
Diskussionen verursacht hat. Allerdings ist er auch unterschiedlich rezipiert<br />
worden. Er ist weder ein Skandal-Film geworden, noch hat er keine „Nicht-<br />
Reaktion” wie Pasolinis Jesusfilm hervorgerufen. Er wurde aber auch nicht<br />
zu einem Kassen-Schlager, woraus man aber noch nicht schliessen darf, es<br />
handle sich um einen mittelmässigen Jesusfilm.<br />
Der erste öffentliche Auftritt von Jésus de Montréal in Cannes 1989 ist<br />
gleich zweifach ausgezeichnet worden: mit dem Preis der Internationalen<br />
Jury für den originellsten Film und mit dem Preis der ökumenischen Jury 85 .<br />
Die katholische Filmkritik hat ihm ihre Sympatien auch mit dem Kinotip der<br />
Katholischen Filmkritik 1990 zum Ausdruck gebracht 86 . Ausserdem hat sich<br />
85 Angaben nach:<br />
Vgl. GASPER, Hans: Passionsspiel mit Menschensohn. Jesus von Montreal von Denys<br />
Arcand (1989). In: HASENBERG, Peter; LULEY, Wolfgang; MARTIG, Charles (Hrsg.):<br />
Spuren des Religiösen im Film. Meilensteine aus 100 Jahre Kinogeschichte. Mainz, Köln<br />
1995, S. 115.<br />
86 Vgl. Ebda.<br />
131
der Film zahlreicher anderer Anerkennungen erfreuen können, denn es ist<br />
von Jésus de Montréal oft in Superlativen geschrieben worden:<br />
„Gleichwohl ist ‘Jesus von Montreal’ eine anspruchsvolle<br />
Auseinandersetzung mit Jesus von hohem künstlerischem Format<br />
und vielleicht der unterhaltsamste aller bisherigen Jesus-Filme.” 87<br />
„Eine ästhetisch überzeugende und intellektuell geschliffene<br />
Auseinandersetzung mit der Botschaft Jesu.” 88<br />
„’Jesus von Montreal’ – ein Jesusfilm, den man gesehen haben<br />
‘muss’!” 89<br />
Auch die offiziellen kirchlichen Reaktionen seien begeisternd gewesen,<br />
was eigentlich wegen den zahlreichen Provokationen im Film sehr<br />
überraschend ist. Sogar die fundamentalistischen Kreise hätten den Film mit<br />
grosser Anerkennung angenommen, so dass der Regisseur selber sich<br />
fragen musste, ob er wohl etwas falsch gemacht habe 90 . Doch trotz den<br />
besten Kritiken der christlichen Kreise ist Arcands Jésus de Montréal auch<br />
als ein Film bezeichnet worden, dem es an der spiriuellen Tiefe fehlt 91 .<br />
Eine völlig andere Rezeption von Arcands Film konnte zur Zeit des<br />
eigentlichen Kinostarts von Jésus de Montréal in Deutschland seitens der<br />
„profanen” Filmkritik festgestellt werden, wie es Jacobi aufgrund seiner<br />
Recherche konstatieren konnte 92 . Der Film sei überhaupt nicht verstanden<br />
worden, es habe sogar auch abschätzige Kommentare gegeben. Diese<br />
unkompetente Kritik bei den bedeutendsten Presse-Titeln Deutschlands sei<br />
87 Vgl. Ebda.<br />
88<br />
Vgl. Jesus im Film – Eine Auswahlfilmographie. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der<br />
Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 84.<br />
89 Vgl. LANGENHORST, Georg: Jesus ging nach Hollywood. Düsseldorf 1998, S.208.<br />
90 Vgl. Jésus-Christ, star de cinéma.SRG, TSR1, 2.4.1999. Realisateur Martin Goodsmith.<br />
91 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S. 42.<br />
92 Vgl. JACOBI, Reinhold: (Fehl-)Versuch am lebenden Objekt. Reflexion über ein heikles<br />
Thema: Filmkritik. In: film-dienst 11, 1990, S. 10-13.<br />
132
teilweise dafür verantwortlich gewesen, dass der Film in den ersten zwei<br />
Monaten Laufzeit eine zu kleine Zuschauerzahl in die Kinos geholt hatte.<br />
„Gähnende Leere” solle sich verbreitet haben, obwohl der Film „(…) in den<br />
ersten Wochen in einer Reihe bester Programmkinos (Deuschlands)<br />
gelandet sei” 93 . Die Ursache für diese Unkompetenz sind im fehlenden Code<br />
zu suchen, der für die Rezeption einer Transfiguration notwendig ist und<br />
über den die „Fachleute” einfach nicht verfügt haben.<br />
3.4. Intention<br />
Denys Arcand konfrontiert in Jésus de Montréal die biblische<br />
Überlieferung mit den Widersprüchen der heutigen Gesellschaft. Als Plot für<br />
seinen Film nimmt er die Evangelien und darunter besonders das Markus-<br />
Evangelium 94 . Dabei interessiert er sich nicht für eine Evangeliumsverfilmung<br />
wie Pasolini, sondern stellt sich die Frage, was aus der Botschaft Jesu<br />
Christi bis heute noch übrig geblieben ist. Dieses führt Arcand in der Form<br />
der Transfiguration Jesu Christi durch, indem er:<br />
1. zahlreiche Parallelen von heute zu den Evangelien-Geschehnissen findet,<br />
und zwar in der zivilen Gesellschaft und in den Kirchenstrukturen – daher die<br />
scharfe Gesellschaftskritik und die Kirchenkritik im Film;<br />
2. die Geschichte Jesu vor zweitausend Jahren aus einer neuen Sicht<br />
aufzuhellen versucht – daher das dokumentarische Passionsspiel.<br />
Dabei stellt er nicht in erster Linie Jesus, den Sohn Gottes, ins<br />
Zentrum des filmischen Geschehens, sondern Jesus, den Propheten. Es ist<br />
93 Vgl. JACOBI, Reinhold: (Fehl-)Versuch am lebenden Objekt. Reflexion über ein heikles<br />
Thema: Filmkritik. In: film-dienst 11 (1990), S. 10-13.<br />
94 Vgl. BIEGER, Eckhard: „Jesus von Montreal” – Ansätze zur Interpretation und Analyse. In:<br />
film-dienst Extra, Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme.<br />
November 1992, S. 71.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.18.<br />
133
aber im Film auch die Christus-Figur identifizierbar, wie ich sie im zweiten<br />
Kapitel erleuchtet habe. Dementsprechend entscheidet sich Arcand<br />
innerhalb der Tradition von Transfiguration für zwei scheinbar autonome<br />
Handlungen, die er entwickeln lässt und in denen Jesus die Hauptrolle spielt:<br />
1. das Passionsspiel, wo Daniel Coulombe die Rolle Jesu übernimmt, und<br />
das dem Zuschauer einen Schlüssel zum Lesen der persönliche Geschichte<br />
von Daniel bietet;<br />
2. die persönliche Geschichte von Daniel Coulombe, welche die Dynamik<br />
des Christus-Ereignisses innerhalb des Films annimmt.<br />
In diesen beiden Handlungen thematisiert Arcand einen Jesus, der<br />
historisch nachweisbar ist und einen Christus, der Gegenstand des<br />
Glaubens ist.<br />
3.5. Das Passionsspiel<br />
<strong>Im</strong> filmischen Lebensabschnitt Daniels ist die Geschichte des Jesus<br />
von Nazaret eingebaut (Sq.13, 20, 28). Sie hat das Antlitz eines<br />
dokumentarischen Passionsspieles, das die historische Dimension Jesu von<br />
Nazaret dem Publikum näher bringen soll und ihm eine Art<br />
Gesellschaftspiegel vorhält. Das Passionsspiel entspricht einer indirekten<br />
Erzählweise im doppelten Sinn:<br />
1. Innerhalb des Passionsspiels wird über Jesus von Nazaret indirekt<br />
erzählt: der Teilnehmer an diesem Passionsspiel und auch der Zuschauer<br />
selber wird hier von Moderatoren begleitet, die gleichzeitig auch andere<br />
Rollen im Spiel übernehmen. Sie liefern einige Forschungsergebnisse zur<br />
Person Jesu und sorgen dafür, dass der Zuschauer auch richtig eingestimmt<br />
134
ist für die inszenierten Auschnitte aus dem Leben Jesu und orientieren den<br />
Zuschauer über das sich gerade Abgespielte. Die einzelnen Szenen werden<br />
mit erklärenden Kommentaren zur Historizität miteinander verbunden.<br />
2. <strong>Im</strong> Kontext des ganzen Films wird Jesus von Nazaret auch durch das<br />
Passionsspiel als solches auf eine indirekte Art dargestellt (es ist das Spiel,<br />
das von ihm erzählt, nicht der Film).<br />
In sein Passionsspiel integriert Arcand folgende Szenen: das Verhör<br />
vor Pilatus, den Kreuzweg, die Kreuzigung und Auferstehung, Ursprung und<br />
Stammbaum Jesu, sowie seine Taten und Reden, die miteinander<br />
verflochten werden. Dazu gehören Wunder (Gang auf dem Wasser, Heilung<br />
eines Blinden, Auferweckung eines Toten, Speisung der Viertausend) und<br />
Reden (Bergpredigt, Rede Jesu gegen die Pharisäer). Dabei lässt sich<br />
Jesus als „Menschensohn” erkennen. Nicht zu übersehen ist dabei das Bild<br />
von ihm, welches dieses Spiel durch die Inszenierung und besonders durch<br />
den Kommentar vermittelt.<br />
3.5.1. Jesus des Theaters<br />
Die einzelnen Szenen des Passionsspiels sind ganz im Sinne der<br />
christlichen Tradition inszeniert und ebenso die Verhaltensweise von Jesus-<br />
Daniel, die auch nicht so sehr von der Tradition abweicht. Er ist sanft, wenn<br />
er Wunder tut, steht Menschen sehr nahe, wenn er sie speist, predigt sehr<br />
emotional, wenn es um die Pharisäer geht. Als Typ trägt Jesus-Daniel auch<br />
einige Züge von Pasolinis Jesus-Irazoqui: er hat ebenfalls ein eher schmales<br />
Gesicht, stark ausgeprägte Augenbrauen und trägt ein weisses Gewand.<br />
135
Von der körperlichen Konstitution her ist auch Arcands Jesus nicht sehr<br />
gross, wirkt eher verletzlich und geht mit schauspielerischen Mitteln sehr<br />
sparsam um. <strong>Im</strong> Unterschied zu Pasolinis Jesus, der für das „Heiligtum” des<br />
Matthäus-Evangeliums steht, hat aber Arcands Gesamtbild von Jesus, das<br />
durch den Kommentar vermittelt wird, gar nichts mehr gemeinsam mit der<br />
christlichen Tradition (Sq.13). Es stimmt überhaupt nicht mit dem Bild<br />
überein, das die Zuschauer von der Katechese oder der kichlichen Lehre her<br />
kennen 95 . Arcand greift jedes Dogma und jede naive, süssliche<br />
Vorstellungsweise von Jesus Christus an und legt dabei vor allem Wert auf<br />
die moralische Haltung dieses besonderen Menschen. Mit den<br />
Kommentaren hilft sich Arcand aus, um die mangelnden Informationen aus<br />
den Evangelien zu thematisieren, er gibt diese Lücken einfach zu und<br />
braucht dabei dem Zusachauer nichts vorzuspielen. So löst er das Problem<br />
der heutigen Vorstellungen der Menschen von Jesus. Er schildert kurz die<br />
Entwicklung der Darstellungsweisen Jesu Christi sowie die damaligen<br />
Gebräuche im Zusammehang mit der Geisselung oder Kreuzigung. Arcand<br />
entgeht somit der Gefahr, ein „echtes” Bild und eine Biographie von Jesus<br />
von Nazaret liefern zu müssen. Die Gottessohnschaft interessiert ihn in<br />
diesem Spiel nicht, ja mehr noch, er leugnet sie.<br />
95 Jesus wird zu keinem Sohn Gottes – er sei Sohn eines römischen Soldaten; Maria wird zu<br />
keiner unbefleckten von Gott auserwählten Mutter seines Sohnes – sie sei eine ledige<br />
Mutter, die sich mit dem Soldaten Ben Pantera eingelassen hat; Jesus war ein Magier, wie<br />
damals viele andere – er habe die Magie in Ägypten gelernt; auferstanden ist Jesus erst<br />
nach fünf, zehn Jahren oder sogar mehr... Diesbezüglich hat Reinhold Zwick eine Kritik an<br />
Arcands historischen Recherchierarbeiten ausgeübt. Er wirft ihm eine gewisse<br />
Oberflächlichkeit vor, da Arcand ein gelernter Historiker sei und an einen solchen könne man<br />
schon grössere Ansprüche an Präzision haben. Zu den von Arcand gestellten Thesen zur<br />
historischen Person Jesus von Nazaret hat Zwick gleich Antithesen geliefert, die Arcands<br />
Thesen zwar nicht widerrufen, die aber mindestens grosse Zweifel an diesen erwecken.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.17-47.<br />
136
3.5.2. Der dokumentarische Stil<br />
Das Theater wird nicht als ein Ganzes gezeigt, sondern<br />
fragmentarisch aufgeführt (Sequenzbeschrieb zum Film, Beilage Nr. 9;<br />
Sq.13, 20, 28). Die einzelnen Szenen innerhalb von Spielsequenzen<br />
wechseln immer wieder ihren Platz und spielen sich an einem anderen Ort<br />
ab: das Verhör vor der Kirche, die Geisselung und Kreuzigung abseits der<br />
Kirche, die Wunder wieder auf einem anderen Ort, die Grabszene und<br />
Auferstehung unterhalb der Kirche usw. (Sq.13). Die Moderatoren führen<br />
das Publikum von einem Ort zum anderen und lassen dabei das Gefühl<br />
aufkommen, das Publikum sei das Volk, das Jesus begleitet. Es ist ständig<br />
unterwegs (was an die Inszenierung vom Pasolinis Jesusfilm erinnert) und<br />
an bestimmten Stellen wird auch der Zuschauer zum Teilnehmer dieses<br />
Spiels gemacht (wieder ein Element aus Pasolinis Inszenierung); so etwa bei<br />
der „Station der Wunder”, wo der Zuschauer nicht mehr das Publikum des<br />
Theaters spürt, sondern direkt in das Spiel hieneingenommen wird. Dieses<br />
Gefühl einer direkten Teilnahme des Zuschauers am Passionsspiel wird aber<br />
immer wieder unterbrochen: einmal sind es die sich beeilenden<br />
Schauspieler, die während der Verschiebung des Publikums ihre Kostüme<br />
wechseln müssen, einmal ist es die Frau, die Jesus um Vergebung bittet, ein<br />
anderes Mal ist es der Ordnungshüter, der dem Publikum den Weg zur<br />
nächsten Station weist, oder auch die unmittelbaren Reaktionen des<br />
Publikums während des Spiels. Das auf diese Weise inszenierte<br />
Passionsspiel erfüllt im Film somit gleich mehrere Aufgaben.<br />
3.5.3. Die Funktionen des Passionsspiels<br />
Ausser der Tatsache, dass das Spiel als eine Gegenreaktion des<br />
137
Regisseurs auf alle bisher inszenierten Passionsspiele und Jesusfilme<br />
betrachtet werden kann, geht die Rolle des Passionsspiels in diesem Film<br />
weit über ein gewöhnliches Theaterspiel hinaus:<br />
1. Das Passionsspiel wird zum Schlüssel für die Deutung der persönlicher<br />
Geschichte von Daniel Coulombe. Es erinnert an Griffits Intolerance, wo die<br />
Episoden aus den Evangelien als Anweisung zur Auslegung von anderen<br />
Film-Episoden dienten. Das Passionsspiel von Arcand legt wichtige<br />
Anhaltspunkte zum Verständnis der Geschichte von Daniel dar und liefert<br />
dazu auch den Hintergrund für die entscheidende Rolle bei der Identifikation<br />
der Christus Figur im Film.<br />
2. Das Passionspiel als Mittel gegen Tradition – Dank der<br />
dokumentarischen Inszenierung des Passionsspiels wirken auch die Stellen<br />
der Evangelien, welche ich im ersten Kapitel als die schwierigsten für die<br />
Verfilmung bezeichnet habe, akzeptabel: die Kreuzigung, die Wunder und<br />
die Reden Jesu. Vor allem ist dies eine gute Lösung, diese Stellen des<br />
Evangeliums auf der Ebene des Passionsspiels darzustellen, da der<br />
Zuschauer nicht getäuscht werden kann, dass das sich gerade Abgespielte<br />
dem Geschehen vor 2000 Jahren wirklich entspricht. Diese Annahme wird<br />
mit der dokumentarischen Inszenierung noch einmal abgeschwächt.<br />
Arcand inszeniert die Kreuzigung und Wunder im Passionsspiel<br />
(Sq.13) traditionell und mit Präzision: er lässt Jesus tatsächlich geisseln, er<br />
lässt ihn das Kreuz tragen, ihn ans Kreuz fesseln, sogar ein Nagel wird in<br />
einer Detailaufnahme ins Kreuz geschlagen. Jesus geht auf dem Wasser,<br />
heilt einen Blinden, weckt einen Toten auf – alles verläuft genau so, wie es in<br />
138
der Vorstellung der Gläubigen lebendig ist. Aber diese Tradition, diese<br />
Abbildung und vorgemachte Authentizität wird immer wieder unterbrochen:<br />
das geschieht mittels des schon erwähnten Kommentars, der entweder als<br />
Einzeleinheit (Ursprung Jesu, Auferstehung), Begleitkommentar (Geisselung,<br />
Kreuzigung) oder als Einführungskommentar (Wunder) eingesetzt wird.<br />
Der Kommentar schildert die biblischen an und für sich schrecklichen<br />
Geschehnisse als ein ganz normales und gewöhnliches Vorgehen von<br />
damals. Dies wird etwa in dem Sinne kommentiert, Jesus sei ja nicht der<br />
einzige Gekreuzigte gewesen, für andere Menschen sei die Kreuzigung ein<br />
Ereignis gewesen, etwa wie heute, wenn Neugierige an blutigen<br />
Autounfallstellen zuschauen. Mit ähnlichen Worten, die das Bild begleiten,<br />
hält Arcand das Theater-Publikum und die Zuschauer immer mit beiden<br />
Beinen auf dem Boden der Realität. Mit dieser Erzählweise beugt er dabei<br />
vielen peinlichen Momenten im Film vor, die in zahlreichen direkten<br />
Jesusfilmen immer wieder vorkommen, nämlich das Bemühen um<br />
Authentizität in einer möglichst realistischen Inszenierung. So ist die<br />
Geisselung, der Kreuzweg und die Kreuzigung gezeigt, wo für Gefühle und<br />
Anteilnahme nicht der Jesus-Darsteller sorgen muss, sondern die<br />
ErzählerInnen.<br />
Auch bei den Wundern gibt Arcand einfach zu, dass sie jetzt gerade<br />
gespielt werden und der Zuschauer macht bei diesem Spiel gerne mit. Er<br />
wird sogar positiv überrascht sein, da sie rein optisch plötzlich nicht störend<br />
wirken, sondern akzeptabel. Auf jeden Fall macht aber hier wieder der<br />
Einführungskommentar der beiden Frauen viel aus. Er stellt die Wunder<br />
einfach als blosse Zaubereien Jesu dar und Jesus als einen Propheten, der<br />
139
dank seiner Magie an Popularität gewinnt 96 . Aber Arcand bleibt mit seinen<br />
Jesus-Wundern nicht auf der Ebene der Zauberei stehen, denn die<br />
Inszenierung seiner Wunder entspricht nicht der Magie; die Wunder werden<br />
wieder als ein „ganz normales Vorgehen” Jesu völlig traditionell aufgeführt.<br />
Ein weiteres Mittel, das die angenommene Theaterrealität unterbricht,<br />
ist etwa das Einbeziehen vom Publikum ins Theatergeschehen (am<br />
besten bemerkbar in der Sq.13) – die Frau, die Jesus vor Gefahren zu<br />
warnen versucht, die Medienfrau mit dem Schauspiel-Kollegen von Daniel,<br />
den sie schliesslich doch für ihre Parfümwerbung kriegt, wo der Zusachauer<br />
aus der Theaterrealität wieder in die Filmrealität zurückversetzt wird und<br />
somit darauf aufmerksam gemacht wird, das er sich in einer<br />
Theateraufführung befindet.<br />
Mit diesen Mitteln durchgeführt wirken die Szenen aus dem Leben<br />
Jesu einerseits sehr authentisch und überzeugend, andererseits sind sie<br />
einigermassen verfremdet, was sicher auch ihr Ziel war und was wieder eine<br />
wichtige Rolle bei der Deutung der Geschichte Daniels spielt.<br />
3. Das Passionsspiel als Mittel zur Aktualisierung – Das Passionsspiel<br />
stellt dem Theaterpublikum und dem Zuschauer in seiner aktualisierten Form<br />
eine Art Gesellschaftsspiegel vor und fordert zugleich zur Reflexion über<br />
eigene Haltungen zu Jesus und seiner Botschaft auf. Es weckt Gefühle und<br />
sorgt dank der aktualisierten Form für Distanz. Es gibt Anstoss zum<br />
Nachdenken, bleibt aber für eigene Gedanken des Zuschauers offen. Es<br />
96 Deswegen wird Arcand auch kritisiert, weil er die Wunder eigentlich „gegen die biblische<br />
Überlieferung inszeniert.”<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.17-47.<br />
140
drängt dem Zuschauer nicht eine einzige gültige Meinung auf und wirkt somit<br />
im Kontext des ganzen Films als ein Raum, wo die Gegenhaltungen<br />
miteinander konfrontiert werden können und wo es auch Platz zur<br />
Eigenkonfrontation mit diesen gibt 97 . Arcand nutzt es als Mittel zu einer<br />
expliziten Kritik und gibt somit seinem Passionsspiel die ursprüngliche<br />
Funktion dieser Tradition zurück (vgl. das erste Kapitel). Besonders wirksam<br />
sind diesbezüglich Worte Jesu gegen die Pharisäer, die der Jesus-Darsteller<br />
Daniel Pater Leclerc sowie seinen Kollegen adressiert (Sq.20).<br />
4. Passionsspiel als Ankündigungsmittel – Das Passionsspiel wird ja<br />
innerhalb der Daniel-Handlung aufgeführt und sicher nicht zufällig<br />
fragmentarisch. Aus dem Sequenzbeschrieb (Beilage Nr. 9) ist zu<br />
entnehmen, dass die Szenen des Passionsspiels in drei grösseren Einheiten<br />
gezeigt werden, die zeitlich immer kürzer werden:<br />
In den ersten Abschnitt (Sq.13) ordnet Arcand:<br />
Verhör vor Pilatus – Kommentar zum Ursprung von Jesus – Kommentar zu<br />
den Wundern – Predigt mit einigen eingebauten Wundern – Kommentar zur<br />
Geisselung, zum Kreuzweg und zur Kreuzigung – Kommentar zum Tod<br />
Christi – die Auferstehung – die Bildung der ersten Christgemeinde und<br />
Verkündigug der Botschaft Jesu (nur Liebe, nicht die Gottessohnschaft) –<br />
Das Warten auf das zweite Kommen Christi.<br />
Der zweite Abschnitt (Sq.20) umfasst:<br />
Rede Jesu gegen das Pharisäertum – Kreuzigung, Jesus am Kreuz<br />
hängend.<br />
97 Vgl. HUBER, Otto: Stärker als der Tod... oder: Kann man Erlösung spielen? –<br />
Passionsspiel und Jesus-Film. In: film-dienst EXTRA. Jesus in der Hauptrolle. Zur<br />
Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. November 1992, S. 24-27.<br />
141
Der dritte Abschnitt (Sq.28) zeigt nur das Warten Jesu auf den Tod.<br />
Diese Abschnitte können im Kontext des ganzen Films zweifach<br />
gelesen werden: als öffentliche Wirkung Daniels überhaupt und da die<br />
Abschnitte immer auch die Kreuzigungsszene beinhalten, können sie auch<br />
eine Art von Ankündigung des Leidens Christi übernehmen, die den<br />
Zuschauer immer auf das Kommende im Film vorbereiten. Auf diese<br />
dreifache Weise können sich die beiden Handlungs-Ebenen miteinander<br />
ergänzen und aufeinander Bezug nehmen, was eine wichtige Rolle für die<br />
Transfiguration Jesu spielt.<br />
3.5.4. Zusammenfassung des Passionsspiels<br />
Arcand stellt dem Zushauer den Propheten Jesus von Nazaret als<br />
einen besonderen Menschen unter vielen anderen dar. Er arbeitet mit<br />
Entmythologisierung 98 , findet zu den Fragen des Glaubens in Evangelien<br />
einfach immer eine Antwort und konzentriert sich ausschliesslich auf das<br />
Gebot der Nächstenliebe. Das Publikum fühlt sich berührt, nicht aber von der<br />
„Göttlichkeit”, sondern von der Menschlichkeit dieser Person, die in einem<br />
Passionsspiel tatsächlich kaum zuvor so dargestellt wurde. In der Figur von<br />
Daniel findet Arcand den Prototyp 99<br />
eines solchen Menschen, der sich<br />
konsequent von der Liebe zu anderen Menschen leiten lässt, nach ihr<br />
handelt und sie in der heutigen Zeit verkündet (wie es Zwick aufgeführt hat).<br />
3.6. Die persönliche Geschichte Daniels<br />
Auf der zweiten Handlungsebene wird der Lebensabschnitt von Daniel<br />
Coulombe entwickelt. Er beginnt mit dem Auftrag Daniels, Jesus zu spielen<br />
98 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S. 42.<br />
142
und endet mit Daniels Tod bzw. mit seiner symbolischen Auferstehung.<br />
Seine persönliche Geschichte bildet zahlreiche Parallelen zum<br />
Lebensabschnitt Jesu von Nazaret im Passionsspiel (Beilage Nr. 10) und<br />
lässt dadurch Jesus in der Gegenwart neu erscheinen. Die Hauptelemente<br />
dieser Transfiguration können in folgenden Punkten zusammengefasst<br />
werden:<br />
1. Bildung einer einzigen Handlungsebene;<br />
2. Parallelen der Hauptfigur des Films Daniel zur Hauptfigur des Spieles<br />
Jesus;<br />
3. Verschlüsselungen in den Namen der Hauptfiguren;<br />
4.Parallelen zu Evangelien-Geschehnissen: in zahlreichen Lebens-<br />
Situationen Daniels, in den historischen Hintergründen, Anspielungen in den<br />
Zitaten aus der Bibel, in der Symbolik der ausgewählten Orte.<br />
3.6.1. Handlungsebene Daniel-Jesus: Passion in der Passion<br />
Der Zuschauer kann ziemlich schnell bemerken, dass für die<br />
Geschichte Daniels als Plot die Evangelien genommen und herausgearbeitet<br />
worden sind. Die Theologen können jedoch genauer feststellen, dass es<br />
überwiegend das Markus-Evangelium ist, das die meisten Anhaltspunkte für<br />
die Inszenierung von Daniels kurzem Lebens-Abschnitt liefert und nach dem<br />
auch die Struktur des Films übernommen worden ist 100 . Die Gliederung des<br />
Films verläuft durch die Einstellungen von abendlichem Montreal im Film,<br />
was zugleich die ersten Parallelen zum Markus-Evangelium aufweist 101 . Zum<br />
99 Vgl. Ebd. S.33.<br />
100 Vgl. BIEGER, Eckhard: „Jesus von Montreal” – Ansätze zur Interpretation und Analyse. In:<br />
film-dienst Extra. Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme.<br />
November 1992, S. 71.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2<br />
1990, S.18.<br />
101 Vgl. Ebda. S. 20.<br />
143
ersten Mal kommt sie vor nach dem Zusammenkommen von Schauspielern<br />
in Constanzes Wohnung (Sq.10), was der Berufung der Jünger Jesu und<br />
dem Anfang seines öffentlichen Auftretens entspricht (Beilage Nr. 10). Zum<br />
zweiten Mal wird sie nach dem ersten Theater-Auftritt eingeblendet (Sq.16),<br />
wonach die Konflikte, die Verhaftung und die Kreuzigung folgen (Beilage Nr.<br />
10, 9) Zwick findet darin eine Annäherung an die drei letzten Tage der<br />
Karwoche 102 . Diese drei letzten Tage umfassen jedoch auch die drei letzten<br />
Lebensjahre Jesu, den sie somit in der Gegenwart wirken lassen.<br />
Daniels Geschichte beginnt und endet entsprechend dem Markus-<br />
Evangelium: mit dem Prolog, wo Daniel-Jesus vorgestellt wird (Sq.1) und mit<br />
der Erhöhung Jesu als Unterlage für die Endtitel des Films (Sq.40). Der<br />
Ablauf seiner Geschichte findet fast in jedem Schritt eine Analogie zu den<br />
Evangelien-Abläufen, wo sich Arcand allerdings nicht nur auf das eine<br />
Evangelium nach Markus beschränkt. Aus dem Sequenzbeschrieb (Beilage<br />
Nr. 9) und Parallelen zu den Evangelien (Beilagen Nr. 10 ) ist allerdings<br />
auch zu entnehmen, dass die Handlung des Passionsspieles und die<br />
Handlung der Geschichte Daniels so ineinander fliessen, dass sie eigentlich<br />
eine einzige Handlung entwickeln. Sehr vereinfacht können diese<br />
scheinbar autonomen Handlungen nebeneinander gestellt werden:<br />
Die Handlungsebene Daniels<br />
Ankommen Daniels in der Stadt<br />
Anfang des öffentlichen Wirkens<br />
die Wirkung des ersten Auftretens<br />
„Tempelreinigung”<br />
Anklage Daniels, Daniel als psychisch<br />
krank befunden<br />
Das Passionsspiel<br />
der erste öffentliche Auftritt<br />
Wunder Jesu und Bergpredigt<br />
Rede gegen die Pharisäer<br />
102 Vgl. Ebda.<br />
144
Verrat an Daniel<br />
das letzte Abendmal<br />
Tod Daniels<br />
Transplantation als Auferstehung<br />
Gründung der Urgemeinde und Himmelfahrt<br />
Kreuzigung<br />
Jede dieser fragmentarischen Theateraufführungen wird in die<br />
Handlungsebene Daniels hineingelegt, so dass sie im Film mehr bedeutet<br />
oder für mehr da steht, als eine alleinstehende Aufführung je bedeuten<br />
könnte. Von der ersten Probe (Sq.12) wird der Zuschauer direkt ins Spiel<br />
hineingenommen (Sq.13), während des Spiels überschneiden sich diese<br />
Ebenen immer wieder, was den Zuschauer immer auf der Ebene der<br />
persönlichen Geschichte Daniels hält. Die zweite Aufführung (Sq.20) knüpft<br />
an Daniels „Tempelreinigung” (Sq.19) und geht somit von der Gesellschaftszur<br />
Kirchenkritik über, Daniel-Jesus wird am Kreuz angeklagt und<br />
festgenommen. Schliesslich beginnt die dritte Aufführung (Sq.28) mit den<br />
Worten: „Und dann wartete er auf den Tod”, was eine definitive<br />
Überschneidung beider Ebenen bedeutet, denn zum Tode gequält wird<br />
Daniel ebenfalls während des Passionsspiels. Das alles sind die wichtigsten<br />
Momente im Leben Jesu, die das Schicksal Daniels wesentlich beeinflussen,<br />
ja sie werden sogar zum eigentlichen Schicksal Daniels. Arcand nutzt<br />
ausserdem die Ebene des Passionsspiels und ordnet in ihr auch all die<br />
Evangelien-Geschehnisse, die er auf der Ebene der persönlichen<br />
Geschichte Jesu nicht zeigen zu können glaubt: Wunder Jesu, Bergpredigt<br />
und die Rede gegen Pharisäer, die sonst eine entweder unrealistische oder<br />
zu moralisierende Wirkung im Film hätten.<br />
Arcand transponiert auch die Umstände zur Zeit Jesu in die heutige<br />
Zeit. Er wählt sich für seine Jesus-Geschichte die kanadische Metropole<br />
145
Montreal aus. Hier nimmt er besonders das Umfeld der Medienschaffenden<br />
unter die Lupe und verschont mit seiner Kritik auch die Kirche nicht. So<br />
versucht er zugleich, zwei Welten einander gegenüberzustellen: die profane,<br />
vertreten durch die Medienleute, und die sakrale, vertreten durch Pater<br />
Leclerc. Es wäre dabei zu erwarten, dass beide gegensätzlich sind. Der<br />
Zuschauer stellt aber bald fest, dass sie in Wirklichkeit nicht gegeneinander,<br />
sondern nebeneinander stehen und sich auf dem gleichen Niveau befinden.<br />
Beide Welten lassen sich schnell von erhabenen Ideen begeistern, die aber<br />
in ihrer realen Verwirklichung im Alltag kaum Platz finden. So ist es auch mit<br />
der „Idee Gottes”, die sehr schnell gegen materielle Werte eingetauscht wird,<br />
sowohl in der profanen als auch in der sakralen Gesellschaft. Diese beiden<br />
Welten finden ihre Analogien im Jerusalem zur Zeit Jesu: in der Zeit der<br />
heidnischen Götter Roms und des Pharisäertums und der Heuchelei des<br />
damaligen Priestertums. Diesen stellt Arcand Daniel-Jesus gegenüber, der<br />
mit seinen moralischen Prinzipien und Einstellungen nach Montreal-<br />
Jerusalem kommt, um seinen Auftrag zu erfüllen: „Christus” zu sein,<br />
Menschen in Liebe miteinander zu verbinden, ihre heidnischen Götter des<br />
Geldes und Erfolgs gegen den Gott der Nächstenliebe einzutauschen. Es<br />
sind gerade diese Prinzipien Jesu, an denen die Gesellschaft gemessen wird<br />
und im Lichte derer sie traurig erscheint.<br />
Arcands Gesellschafts- und Kirchenkritik kann zwar klischeehaft<br />
wirken, ist aber dennoch sehr zutreffend 103 . Das „profane” Publikum kann am<br />
Ende der Theatervorstellungen in Applaus ausbrechen (Sq.14), am nächsten<br />
Tag aber wieder in die alten Gewohnheiten und Prinzipien zurückfallen (die<br />
103 Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesu”-Filme.<br />
Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />
146
Berichte der Reporter zum Passionspiel Sq.17), es kann begeistert von<br />
Daniel-Jesus weitererzählen, ihm aber nicht nachfolgen, weil es ihn nicht<br />
verstanden hat. Es gibt auch solche, die sich einschmeicheln wollen, nur um<br />
ihre Ziele um jeden Preis zu erreichen (die Werbefrau, die sich an solchen<br />
Veranstaltungen ihre „Opfer” für Werbespotaufnahmen aussucht Sq.1,14).<br />
Nich einmal Pater Leclerc, der die kirchlichen Werte repräsentiert, ist bereit,<br />
sein Leben zu ändern und wegen der „Daniel-Jesu-Moral” etwas zu riskieren<br />
(Sq.15,25). Er belügt sich mit der Zahl der Kirchenbesucher (Sq.25), wählt<br />
lieber den bequemeren Weg seiner Doppelmoral und so wird er lieber zum<br />
Judas als zum Nachfolger Jesu. Die Frage nach dem Sinn der menschlichen<br />
Existenz wird dadurch gestellt und im Laufe des Films immer wieder<br />
aufgerollt; das erste Mal kommt sie mit dem Prolog zum Film (Sq.1) vor, der<br />
eine wichtige Rolle bei der „Suche nach der Christus-Figur” im Film spielt<br />
und mit der apokalyptischen Vision Daniels (Sq.30) in der U-Bahn endet.<br />
3.6.2. Das Bild Daniel-Jesus<br />
Arcand weist auf mehrere Analogien zwischen den Figuren Daniel und<br />
Jesus hin. Beim Vergleich von diesen stellt man aber bald fest, das sie<br />
identisch sind – Daniel Coulombe ist das Inbild Jesu von Nazaret, den er<br />
spielt.<br />
Die auffalendste Analogie zwischen diesen ist die äussere. Daniel<br />
benutzt, anders als seine Schauspiel-Kollegen, keine Maske, wenn er Jesus<br />
spielt. Die einzige Maske ist die Schminke seines gegeisselten Körpers. Er<br />
musste sich als Jesus im Passionsspiel ebenfalls nicht besonders<br />
verkleiden. <strong>Im</strong> Unterschied zu seinen Jüngern-Schauspielern, die immer<br />
Korrespondenz 2,1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />
147
wieder ihre Kostüme wechseln, hat Daniel nur seinen hellen Anzug für ein<br />
weisses Gewand getauscht.<br />
Auch Verhaltensweise und Ausstrahlung ist bei beiden Figuren<br />
gleich. Daniel wird zwar im Passionsspiel Jesus genannt, muss ihn aber gar<br />
nicht spielen. Als Daniel verhält er sich genauso wie Jesus im Passionsspiel.<br />
Er tritt diskret und zurückhaltend im Umgang mit seinen Schauspiel-Kollegen<br />
auf. Er kann sich mit ihren Gefühlen und existentiellen Sorgen solidarisieren,<br />
gibt ihnen aber auch selber eine Alternative zu ihrem Denken und Handeln in<br />
der heutigen komplizierten Welt des Geldes, der Arroganz, der Unehrlichkeit.<br />
Dieses Thema wird mit der Bergpredigt auch im Passionsspiel explizit<br />
aufgegriffen, als Jesus das Publikum mit den Worten angesprochen hatte:<br />
„Sorgt euch nicht…” (Sq.20). Wieder explizit thematisiert das Passionspiel<br />
die Heuchelei in der zivilen Gesellschaft und in der Institution Kirche, wo<br />
Jesus sehr engagiert reagiert. Die genau gleiche Reaktion hat Daniel bei der<br />
Auseinandersetzung mit den Medienleuten, als er Mireille zum Wettbewerb<br />
begleitet hatte (Sq.19) und mehrmals mit Pater Leclerc, der Daniels<br />
Verhaltensweise zwar versteht, vielleicht auch bewundert, nicht aber fähig<br />
ist, ihr zu folgen (Sq.7, 25). Von der Verhaltensweise Daniels her, hat auch<br />
er viel Gemeinsames mit Pasolinis Typ Jesus-Irazoqui. Wo sie sich aber<br />
völlig unterscheiden, ist ihre persönliche Ausstrahlung. Arcands Daniel-Jesus<br />
ist in keinem Moment pathetisch; er ist seinen Jüngern-Schauspielern eher<br />
ein Freund, ein Bruder, einer von ihnen, als der über alles herrschende Herr.<br />
Was ihn aber von den Jüngern unterscheidet, ist die (über)natürliche<br />
Autorität, die er besitzt.<br />
Bistums Essen 5/6, 1991, S. 32.<br />
148
Die „Vorgeschichte” Daniels ist dem Zuschauer ebenso wenig<br />
bekannt wie die von Jesus. Arcand versucht nicht zu erklären, woher Daniel<br />
kommt, was er bisher gemacht hat oder wer seine Eltern sind. <strong>Im</strong> ganzen<br />
Film erwähnt Daniel nur einmal seinen Vater: kurz vor seinem<br />
Zusammenbruch in der U-Bahn, wenn er sagt: „Mein Vater hat mich<br />
verlassen.” (Sq.30) Ausserdem erfährt der Zuschauer, dass Daniel viel<br />
gereist ist (Sq.22, 35). Jesus von Nazaret hat ja auch an mehreren Orten<br />
gewirkt.<br />
Den Namen Daniel Coulombe hat Arcand auch nicht zufällig für<br />
seinen Jesus-Darsteller ausgewählt. Daniel ist ein alttestamentlicher Name<br />
des Propheten, der in die Löwengrube geworfen wird, ohne dass ihm die<br />
Löwen etwas tun. Sein Glaube hat ihn gerettet. Der Löwe steht in der<br />
christlichen Symbolik ausserdem auch im Wappensymbol des Evangelisten<br />
Markus, dessen Evangelium Arcand als Grundlage für die Daniel-Jesus-<br />
Geschichte dient. Der Name „Daniel” steht symbolisch für den Menschen<br />
Jesus in der Figur von Daniel. „Coulombe” bedeutet auf französich „die<br />
Taube”, die wiederum das Symbol des Heiligen Geistes in der christlichen<br />
Tradition ist. Man könnte den Namen Daniel Coulombe als „Mensch-<br />
Prophet” und „Geist” entschlüsseln, worin gleich die beiden Dimensionen<br />
Jesu Christi vertreten wären. (Mit der Dimension Christi in der Figur Daniels<br />
beschäftige ich mich im Abschnitt 3.7. dieses Teiles.) Nicht zu übersehen ist<br />
die Kreuzigung: Daniel wird während des Passionsspiels tatsächlich<br />
umgebracht (Sq.28), als er (als Jesus) am Kreuz tödlich verletzt wird.<br />
1<strong>49</strong>
3.6.3. Judas, Johannes der Täufer und Daniel<br />
Auf der Ebene der persönlichen Geschichte Daniels lässt Arcand<br />
Charaktere entwickeln, die einige Equivalente zu biblischen Figuren,<br />
Freunden oder Feinden Jesu aufweisen. Seien es die Frauen Mireille und<br />
Constanze, die sowohl als biblische Maria und Martha oder auch Maria<br />
Magdalena gelesen werden können. Constanze ist ledige Mutter, die ein<br />
Verhältnis mit Pater Leclerc hat (Sq.7), das sie etwa wie folgt definiert: „Er<br />
hat viel Spass daran und mir macht es nichts aus”, Mireille wieder verkauft<br />
ihren Körper für billige Werbung (Sq.8). Daniel wohnt mit diesen beiden<br />
Frauen zusammen (Sq.18), was an Scorseses „letzte Versuchung” erinnert.<br />
Nur ist seine Beziehung zu ihnen platonisch, völlig asexuel. Die Frauen sind<br />
es also, die ständig Daniel begleiten, oder besser gesagt: die von Daniel<br />
begleitet werden.<br />
Eine mehrdeutige Interpretation in der Beziehung zu Daniel-Jesus<br />
erlauben auch die Figuren von Pater Leclerc und der Schauspielkollege<br />
Daniels vom Anfang des Films. In diesen beiden Figuren findet Arcand einen<br />
„Judas”. Pater Leclerc, der auch als ein Equivalent zum reichen Mann des<br />
Matthäus-Evangeliums (Mt 10,17-22) gelesen werden kann (Sq.25), als ihn<br />
Daniel und Constanze auffordern, ihnen zu folgen, der aber auch zum<br />
Verräter Jesu wird. Bei der Auseinandersetzug zwischen Daniel und dem<br />
Pater unmittelbar nach der ersten Aufführung (Sq.15) fasst Pater Leclerc den<br />
Entschluss, Daniel den kirchlichen Obrigkeiten zu übergeben. Daniel sagt<br />
dazu: „Tun sie, was sie tun müssen!” (Joh 13,27) Indirekt aufgrund dieses<br />
„Verrates” kommt Daniel ums Leben.<br />
Einen anderen Judas entwickelt Arcand in der Figur des eigentlichen<br />
Johannes des Täufers. Am Anfang des Films bereitet der Kollege von Daniel<br />
150
ihm den Weg, indem er zur Umkehr auffordet und Daniel unter vielen<br />
Anwesenden als seinen Freund und Kollegen erkennt (Sq.1): „Da kommt ein<br />
grosser Schauspieler.” Auf die Frage: „Wen spielst du jetzt?” antwortet<br />
Daniel: „Jesus. Du hast mich inspiriert.” Die neuzeitliche Salome, die<br />
Werbemanagerin, welche sich den Kollegen von Daniel für ihre Geschäfte<br />
ausgesucht hat (Sq.1), kriegt schliesslich seinen Kopf (Sq.13,30). Der<br />
Kollege von Daniel „verkauft” seine Prinzipien und lässt seinen Kopf für eine<br />
billige Werbung abbilden, die in der Sequenz Nr. 30 – während der<br />
apokalyptischen Vision Daniels kurz vor sienem Tod nicht zu übersehen ist.<br />
3.7. Wunder und Versuchungen<br />
Von den Wundern Jesu thematisiert Arcand nur einige auf der Ebene<br />
des Passionsspiels (Sq.13): Gang auf dem Wasser, Heilung eines Blinden,<br />
Auferweckung eines Toten, Auferstehung.<br />
1. Taten Jesu – Reinhold Zwick übt Kritik an Arcands Wunderdarstellungen<br />
und bezeichnet sie als „‘klassische’ Schauwunder”<br />
104 , ohne jegliche<br />
Zeichenhaftigkeit und ohne ihren ursprünglichen Sinn in den Evangelien zu<br />
betonen. Er kritisiert sie auch im Zusammenhang mit dem schon erwähnten<br />
Einführungskommentar, der die Wunder Jesu als „Zaubereien” bezeichnet<br />
(Sq.13). Doch Arcand unterscheidet ganz deutlich die Wunder Jesu von den<br />
Wundern der „Magier vom Nahen Osten”. Zusammen mit dem<br />
Einführungskommentar werden kurz Szenen solcher Zaubereien<br />
eingeblendet, nach denen dann die Wunder Jesu gezeigt werden. Diese<br />
104 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.31.<br />
151
sehen aber mit ihrer zurückhaltenden Art im Unterschied zu Magien völlig<br />
anders aus. Ausserdem werden die Wunder mit der Bergpredigt in<br />
Zusammenhang gebracht und im Bild für den Zuschauer freigestellt, womit<br />
er zu einem direkten Teilnehmer gemacht wird. Auf diese Art wird die Ebene<br />
des Passionsspiels andeutungsweise unterbrochen und in dieser Sequenz<br />
wird es nicht mehr Jesus, sondern Daniel sein, der die „Wunder” vollbringt.<br />
Die „Schauwunder” gewinnen plötzlich an Aussagekraft und trotz dem<br />
Einführungskommentar betonen sie den Sinn der Bergpredigt. Wenn Jesus<br />
zu Petrus sagt: „Dein Glaube ist schwach” und danach der Blinde zu Jesus:<br />
„Ich kann dich sehen” worauf Jesus beginnt, mit seinen Worten den Glauben<br />
der Anwesenden zu stärken: „Ihr sollt euch nicht sorgen”, sind das plötzlich<br />
keine Schauwunder mehr. Wenn sie aber nur auf der Ebene des<br />
Passionsspieles rezipiiert werden, bleiben sie ohne Aussagkraft.<br />
Weitere Wunderdarstellungen werden auf der Ebene der persönlichen<br />
Geschichte Daniels gezeigt:<br />
2. Das Gewitter nach dem Tod Daniels (Sq.32), vor dem sich der Schuldige<br />
versteckt, während die Unschuldigen ihm auf der Strasse ausgeliefert sind.<br />
Pater Leclerc schliesst das Fenster und schaut durch die Fensterscheibe<br />
hinaus zum Ort des Unglücks. Baugh interpretiert diese Einstellung als ein<br />
definitives „Nein” des Paters zu Daniel-Jesus und seiner Botschaft, mit der er<br />
sich nicht anfreunden konnte 105 .<br />
3. Die Auferstehung thematisiert Arcand sowohl auf der Ebene des<br />
Passionsspieles als auch auf der Ebene der persönlichen Geschichte<br />
152
Daniels. Da die eine kaum von der anderen zu trennen ist, führe ich diese in<br />
diesem Abschitt 3.7.3. auf.<br />
<strong>Im</strong> Passionsspiel (Sq.13) wird die traditionelle Auferstehung mittels<br />
eines Lichts dargestellt, welches sich durch das Tor im Hintergrund<br />
hineindrängt. Die Schauspielerin Mireille erzählt von diesem Licht als von<br />
einem tatsächlich dagewesenen, gegenwärtigen Jesus, den sie selber<br />
gesehen hatte. Jesus verkörpert das Heil, welches er mit der Auferstehung<br />
bringt, und schenkt den Menschen „(...) die Hoffnung, die das Leben<br />
erträglich macht”, so steht es im Spiel. „Ohne sie wären wir in einem<br />
rätselhaften Universum verloren.” Die Schauspieler fordern dann auch das<br />
Publikum auf, sich den Weg des Heiles und der Liebe zu wählen, welches in<br />
jedem einzelnen individuell zu suchen ist. Und der vorletzte Satz des Spiels<br />
ist: „Jesus lebt, wir sind ihm begegnet.” Der Glaube ist hier auf eine<br />
individualistische Art dargestellt, den jeder Einzelne persölich in sich selbst<br />
finden muss. Was aber hier mit Worten ausgedrückt wird, wird in der<br />
Geschichte Daniels in Taten umgewandelt.<br />
Auf der Ebene der persönlichen Geschichte Daniels verwirklicht sich<br />
die Auferstehung durch die Transplantation der Organe Daniels in die<br />
Kranken, wodurch diese ein neues Leben gewinnen (Sq.33,34,36). Dass es<br />
gerade Augen und Herz sind, hat sicher eine symbolische Bedeutung: aus<br />
dem Dunkel zum Leben voller Licht; aus dem Leben, mit einem „kranken”<br />
Herzen zum Leben voller Liebe. Diese Symbolik des heilbringenden Lichts<br />
und des heilbringenden Herzens (als Gebot der Liebe) ist auch schon im<br />
Passionsspiel thematisiert worden. Arcand wandelt somit die Hoffnung in<br />
Heil um: die ersten Worte der Personen, denen die Organe gespendet<br />
105 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City<br />
153
worden sind, lauten: „Gott, es ist wie ein Wunder!” und „Das Licht!...Danke!”<br />
Die Heils-Botschaft Daniels wird somit erfüllt: die Kranken sind ihm<br />
tatsächlich „begegnet”.<br />
Zwick und Baugh vertreten die Meinung, dass die Auferstehung auch<br />
in der Gründung der Theatergruppe mit dem Namen Daniels (Sq.37)<br />
ausgedrückt wird, womit die Idee Daniels, ja Daniel selber weiterlebe 106 .<br />
Diese Assoziation ist mir leider nicht gekommen, weil der Gründer der<br />
Theatergruppe der Anwalt und Manager Cardinal ist. Vom Namen „Cardinal”,<br />
her stimmt die Assoziation zwar schon, nur übernimmt dieser im Film die<br />
Funktion des biblischen Versuchers (Beilage Nr.10). Drei Mal ergreifft er die<br />
Initiative: zum ersten Mal (Sq.21) will der Anwalt Cardinal Daniel vor dem<br />
Gericht verteidigen und versucht, ihm einzureden, dass er ohne seine Hilfe<br />
verurteilt wird. Diese Versuchung, einen einfacheren Weg zu wählen,<br />
entspricht der bilblischen Versuchung Jesu im Matthäus-Evangelium: „Wenn<br />
du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird.” (Mt. 4,3)<br />
Zum zweiten Mal (Sq.24) macht der Manager Cardinal Daniel einen<br />
lukrativen Vorschlag, mit dem er berühmt und „schwerreich” werden könnte,<br />
er müsse sich nur an seine Anweisungen halten und seinen Namen<br />
verkaufen. Diese Versuchung entspricht wieder der im Matthäus-<br />
Evangelium: „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst<br />
und mich anbetest.” (Mt. 4,9). Der Anwalt Cardinal kommt aber noch einmal<br />
vor und zwar am Ende des Films (Sq.37). Hier versucht er nicht Daniel-<br />
Jesus, sondern seine Anhänger, die Schauspieler, zu überreden, eine<br />
1997, S. 125.<br />
106 Vgl. Ebda. S. 127f.<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.36 .<br />
154
offizielle Theatergruppe zu gründen, die Daniels Namen tragen würde und<br />
mit der sie dann berühmt werden könnten. Diese Stelle assoziiert meiner<br />
Meinung nach nicht die Auferstehung, sondern einfach die dritte<br />
Versuchung: „Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heisst<br />
in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen,<br />
damit dein Fuss nicht an einen Stein stösst.” (Mt. 4,6). Alle Schauspieler sind<br />
mit der Idee des Anwaltes Cardinal einverstanden, ausser Mireille, die die<br />
„letzte Versuchung” durchschaut hatte und die als einzige den „Weg Daniels”<br />
gegangen ist. Mit dieser eher „diabolischen” Sicht der Gründung des<br />
Theaters (und der Institution Kirche) kann das Werk und die Idee Daniels-<br />
Jesu einfach nicht weiterleben. Es bedeutet eher die Zerstörung der<br />
Hoffnung als ihr Weitertragen. Indem Mirreille einen eigenen idividuellen<br />
Weg gewählt hat, wird der Glaube als keine kollektive, sondern individuelle<br />
Sache verstanden, was Arcand schon im Passionsspiel zum Ausdruck<br />
gebracht hatte: „Sucht das Heil nur in euch selbst.” Diese Hoffnung wird am<br />
Ende des Film auch durch die zwei Sängerinnen in der U-Bahn<br />
weitergeleitet, die nicht mehr in der Kirche auftreten, wie am Anfang des<br />
Films 107 .<br />
3.8. Christus des Films?<br />
Nach der Identifikation Daniels als Jesus drängt sich die Frage auf, ob<br />
auch eine Christus-Figur in Arcands Film zu erkennen ist. Nicht jede Figur,<br />
die mit den Worten Jesu spricht oder die zahlreiche Parallelen zu Jesus von<br />
107 Vgl. Ebda. S.39.<br />
Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesu”-Filme.<br />
Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />
Korrespondenz 2, 1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />
Bistums Essen 5/6, 1991, S. 33.<br />
155
Nazaret aufweist, kann als eine Christus-Figur bezeichnet werden. (siehe die<br />
Definition der Christus-Figur im Film im zweiten Kapitel) Bei einer<br />
„Transfiguration Christi” ist es wichtig, ob und wie die Dimension des<br />
Messias, des Sohnes Gottes,<br />
Gott selber, in der Geschichte Daniels<br />
transparent werden, wie ich sie im ersten Kapitel beschrieben habe.<br />
Nach den Beschreibungen von Figuren Jesus des Theaters und<br />
Daniel-Jesus fällt auf, dass es im Film mehrere Stellen gibt, welche die<br />
Dimensionen des Messias in Jésus de Montréal spüren lassen (Beilage<br />
Nr.<br />
10). Für die Interpretation einer solchen Christus-Figur im Film Arcands ist<br />
der Prolog (Sq.1) von grösserer Bedeutung. Er eröffnet eine neue Dimension<br />
hinter den Bildern, gibt Antworten auf die im Film gestellten Fragen, was als<br />
implizite Aufforderung zum Glauben gelesen werden kann und schliesst<br />
auch den Kreis des Erkennens von Daniel-Jesus zu Daniel-Christus in der<br />
Auferstehung.<br />
3.8.1. Der Prolog<br />
Am Anfang des Films schaut sich der Zuschauer das Ende eines<br />
Theaterspiels an (Es handelt sich um eine Szene aus der Aufführung von<br />
Dostojewskijs Die Brüder Karamasow 108 ), das inhaltlich Fragen nach dem<br />
Sinn der menschlichen Existenz aufwirft (Sq.1). Der Zuschauer wird hier mit<br />
der Warnung vor der Zerstörung der „Idee Gottes im Menschen” (ein Zitat<br />
ebenfalls aus dem Vorspann) konfrontiert:<br />
108 Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesus”-Filme.<br />
Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />
Korrespondenz 2,1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />
Bistums Essen 5/6, 1991, S. 31.<br />
156
”Wehe den Selbstmördern! Wehe denen, die sich selbst<br />
zerstören! Es gibt niemanden auf Erden, der unglücklicher ist als<br />
ich. Sie verdammen sich selbst, weil sie Gott und das Leben<br />
verdammen. Sie sind unersättlich über Jahrhunderte hinweg und<br />
wollen kein Verzeihen. Sie verdammen Gott, der sie ruft und<br />
wollen, dass er und seine Schöpfung im Nichts verschwinden. Sie<br />
dürsten nach dem Tod und dem Nichts.”<br />
Diese Worte und der ganze Auftritt, der inhaltlich dem Auftritt von<br />
Johannes dem Täufer entspricht (Beilage Nr. 10), werden gleich thematisch<br />
weiter entwickelt und zwar am Beispiel von Publikums-Reaktionen auf das<br />
Spielende, wie es Hagmann weiter präzisiert 109 . Der Prolog wird somit zu<br />
einer thematischen Verdichtung, die im Laufe des Films weiter entwickelt<br />
wird und somit den Zuschauer immer wieder auf verschiedene Weise an den<br />
Einführungs-Monolog erinnert: sei es in der Medienbranche, wo die<br />
Menschen manipuliert und ausgenutzt werden, sei es in der kirchlichen<br />
Umgebung, die sich als starr und somit für die Menschen nicht offen genug<br />
zeigt, sei es unter den „Verkündern des wahren Glaubens an Christus”, die<br />
mit ihren Überinterpretationen völlig falsch liegen (Sq.14). Mit all diesen<br />
Millieus wird Daniel konfrontiert und sie schieben ihn ein Stück weiter in<br />
seiner Identifikation mit dem Christus, mit seiner Rolle des „Erlösers”. Diese<br />
Rolle Daniels, die er im Film immer stärker offenbart (Beilage Nr. 10),<br />
erreicht ihren Höhepunkt am Ende des Films, wo die Gedanken vom Prolog<br />
in einer anderen Form wieder aufgenommen werden: in der Form der<br />
apokalyptischen Vision Daniels kurz vor seinem Zusammenbruch in der U-<br />
Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.21.<br />
109 Vgl. HAGMANN, Karl-Eugen: „Jesus von Montreal” im Kontext der „Jesus”-Filme.<br />
Überlegungen zu ästhetischen und theologischen Kriterien – Einführung zum Film. In: Film-<br />
157
Bahn (Sq.30). Da warnt er, Daniel-Christus, vor falschen Vorbildern und<br />
fordert zum echten Glauben auf. Einer dieser falschen Vorbilder ist bereits<br />
am Werbe-Plakat in der U-Bahn aufgehängt – der Kopf von Johannes dem<br />
Täufer, der zum Judas geworden ist und den die Werbe-Salome für ihre<br />
Kampagne doch bekommen hatte 110 .<br />
3.8.2. Daniel – eine Christus-Figur<br />
Daniel Coulombe ist im Film nicht explizit als ein religiöser Mensch<br />
dargestellt; religiös in dem Sinne, dass er sich auf irgendeine Art und Weise<br />
zu Gott bekennen würde. Er betet im Film kein einziges Mal, zeigt bewusst<br />
keine Beziehung zu Gott, sagt oder deutet nie an: „Mein Vater und ich sind<br />
eins”. Diese „Merkmale” eines „Christus-Seins” hat Daniel Coulombe nicht.<br />
Dafür verschlüsselt Arcand in seinem Namen „Daniel Coulombe” die<br />
beiden Dimensionen Jesu Christi, die des Menschen und diejenigen Gottes,<br />
wie ich sie schon im Abschnitt 3.6.2. beleuchtet habe. Ausserdem überlässt<br />
Arcand seiner Hauptfigur gleich drei wichtige Funktionen im Film, die<br />
verschlüsselt sogar alle drei Dimensionen des „Christus-Seins” beinhalten.<br />
Daniel ist der Autor seines Passionsspiels, der Regisseur des Passionsspiels<br />
und er übernimmt gleich auch die Hauptrolle Jesu, was an die Deutung des<br />
Vaters, des Heiligen Geistes und des Sohnes Gottes in Daniel erinnert.<br />
Genauso verborgen wie die Dimension Christi in Daniel Coulombe<br />
bleibt auch die Vorgeschichte von Daniel, was seiner Figur etwas<br />
Geheimnisvolles bewahrt. Das deutet an, dass die Dimension Christi an<br />
Daniel Coulombe hinter den Bildern und in Anspielungen gesucht werden<br />
Korrespondenz 2,1990. Hier zitiert nach: Hinweise. Nachrichten, Berichte, Anregungen des<br />
Bistums Essen 5/6, 1991, S. 31.<br />
110 Vgl. Ebda.<br />
158
muss. In diesem Zusammenhang und im Zusammenhang mit der Definition<br />
der Christus-Figur im Film ist es wichtig, die Stellen im Film zu finden, welche<br />
die Geschichte Daniels als einen Entwicklungsprozess zur Christus-Figur<br />
erkennen lassen.<br />
Eine dieser Linien auf der Suche nach Christus in Jésus de Montréal<br />
ist die Frage, ob sich Daniel im Film von Anfang an dessen bewusst ist, dass<br />
er die erlöserische Aufgabe Christi übernimmt. Daniel weiss es am Anfang<br />
sicher nicht und macht diesbezüglich eine Entwicklung im Film durch, womit<br />
diese Idee an Sorseses Jesusfilm erinnert (die Identitätsuche seines Jesus).<br />
Während aber Scorsese Jesus als ein bewusstes Opfer für die Erlösung der<br />
Menschen darstellt, lehnt Arcand dieses Bild von Christus ab, indem er<br />
Daniel gleich zu Beginn seines Auftrags die alte pathetishce Version des<br />
Passionsspiels und deren bewusstes Opfer Christi „für die Erlösung von<br />
unseren Sünden” ablehnen lässt (Sq.2.). Daniel identifiziert sich im Laufe<br />
des Films immer stärker mit seiner Rolle als Christus (was ihn aber im<br />
Unterschied zu Scorsese in keine Identitätskrise stürzt). Der erste Moment<br />
dieses Bewusst-Werdens kommt, als Daniel in der Bibliothek darauf<br />
aufmerksam gemacht wird, dass Christus selber ihn berufen wird (Sq.5).<br />
Diese Worte der mysteriösen Frau in der Bibliothek scheinen ihm in den Sinn<br />
zu kommen, als er seine „Berufung” mit der Christusstatue vor der Kirche<br />
erlebt (Sq.6). Daniel entscheidet sich hier, diese Statue endgültig in sein<br />
Spiel zu integrieren.<br />
Etwas markanter wird ihm dieses bewusst, als ihn eine einfache Frau<br />
aus dem Publikum während der ersten Aufführung als Jesus erkennt<br />
(Sq.13). Während es ihm hier noch unangenehm zu sein scheint, steht er zu<br />
seiner Arbeit, seinem Werk und seinem Christus, als er in eine ähnliche<br />
159
Lebenssituation kommt, die auch Jesus erlebt hatte. Da handelt er genauso<br />
wie er. Er kann wütend sein (Tempelreinigung – Sq.19), er verteidigt seine<br />
Rolle, sein Werk, seine Lehre vor der Psychologin: „Das Thema ist sehr<br />
gut... Jesus zu spielen, ist für einen Schauspieler alles andere als dürftig.”<br />
(Sq.22)<br />
Bei der Identifikation mit seiner Rolle „hilft” ihm die Tatsache, dass<br />
das Passionsspiel für sein Leben sehr bedeutungsvoll sein wird. Zuerst ist es<br />
die Tatsache, das es sein Spiel, seine Lehre, sein Werk ist, das seine<br />
persönliche Geschichte in Bewegung bringt. Zweitens ist es die Tatsache,<br />
dass das, was ihm als Jesus-Daniel im Spiel passiert, sich in Wirklichkeit in<br />
sein reales Leben überträgt. Das Passionsspiel bildet für ihn somit einen<br />
Hintergrund, in Widerspiegelung dessen Daniel als Christus erscheinen<br />
kann, wobei Arcand immer wieder mit den Überschneidungen der beiden<br />
Ebenen entweder den Jesus des Theaters betonen lässt oder den Daniel-<br />
Jesus, ja Daniel-Christus. Als Jesus des Theaters tritt Daniel eigentlich nur in<br />
der ersten Aufführung auf (Sq.13), da der zweite und dritte Auftritt schon zu<br />
sehr mit Daniels persönlichem Leben verbunden ist (Sq.20). Am besten zu<br />
sehen ist es bei der Festnahme Daniels im Garten (Sq.20), wo er nach der<br />
Anklage am Kreuz plötzlich zur lebendigen gefesselten „Statue Christi” wird,<br />
der er am Anfang des Films vor der Kirche „sein Einverständnis” gegeben<br />
hatte. Entscheidend für das Schicksal Daniels als Christus ist aber sein Tod<br />
am Kreuz (Sq.28), den Daniel tatsächlich während des Passionsspiels<br />
erleidet und seine völlige Identifikation mit dem Christus in der U-Bahn<br />
(Sq.30), wo er mit den Worten Christi spricht.<br />
160
Signifikant für Daniels Leben wird auch die Auferstehung Jesu, wie er<br />
sie im Spiel inszeniert hatte. Diese „Aufgabe” ist für ihn als Christus am<br />
wichtigsten.<br />
<strong>Im</strong> Zusammenhang mit der einen einzigen Handlungsebene des Films<br />
und dem Erscheinen Daniels als Christus-Figur ist noch die Ortsymbolik des<br />
Spieles und des Films von Bedeutung. Die Begegnung Daniels mit dem<br />
filmischen Johannes dem Täufer geschieht nach einer Theaterauführung<br />
(Sq.1), die öffentliche Wirkung Daniels verläuft vor der Kirche (Sq.13,20),<br />
verhaftet wird Daniel auch im Garten der Kirche (Sq.20), gekreuzigt wird er<br />
ebenfalls im Garten der Kirche (Sq.28), die am Hügel Mont Royal steht. Die<br />
Grabszenen des Spiels entwickeln sich unterhalb der Kirche (Sq.13), wo<br />
auch die letzten Worte über die Hoffnug auf Erlösung als impliziter Glaube<br />
ausgesprochen werden. Die gleiche Symbolik ist in der U-Bahn zu finden<br />
(Sq.30,31) wo Daniel endgültig einschläft und wo die Hoffnung durch die<br />
singenden Frauen weiterverkündet wird (Sq.40).<br />
Ausserdem ist Daniel der Autor des Theaterspiels, wo er wieder nicht<br />
explizit zur Suche nach dem Heil in Gott auffordert, sondern „nur in euch<br />
selbst” (Sq.13), indem sich Menschen einander in Liebe verbinden sollen.<br />
Dieses Gebot der Liebe, legt er ins Passionsspiel hinein und in seiner<br />
persönlichen Geschichte wandelt er es wieder in Tat um. Daniel ist damit im<br />
Film als eine Person dargestellt, die durch sein Leben und Sterben dem<br />
menschlichen Da-Sein und dem Tod einen neuen Sinn gibt.<br />
3.8.3. Daniel – eine Heil-bringende Person<br />
Arcand lässt Daniel Coulombe als eine Christus-Figur erscheinen,<br />
indem er ihm „erlöserische” Aufgaben zuschreibt. Daniel bietet seinen<br />
161
Jüngern ein neues Leben, eine „Erlösung” von ihrem bisherigen Lebensstil<br />
an. Sie widmen sich von nun an voll und ganz nur ihrem gemeinsamen Werk<br />
– dem Passionsspiel. Da sie darin zugleich den Sinn ihres Lebens<br />
entdecken, ist Daniel derjenige, der ihnen den Beginn eines neuen,<br />
sinnvollen Lebens eröffnet hatte, womit der Sinn des Lebens neu definiert<br />
wird.<br />
Das Passionspiel wird aber im Film zum Spiel um Leben und Tod.<br />
Daniel definiert durch sein Leben – ein Leben in der Nächstenliebe – den<br />
Sinn des Lebens allgemein und durch seine Auferstehung wird auch der Tod<br />
neu definiert – Daniels Tod bringt den anderen das Heil.<br />
3.8.4. Die Gegenwart Gottes im Film<br />
Der Prolog zum Film (Sq.1) spricht inhaltlich das Thema des<br />
Glaubens, resp. des Nicht-Glaubens an und öffnet somit eine Perspektive,<br />
aus der die Geschichte Daniels gelesen werden kann. Diese Perspektive, die<br />
die „Dimension Gottes” im Film spüren lässt, beginnt Arcand gleich nach<br />
dem Prolog zu entwickeln, klar lesbar wird sie aber erst am Ende des Films.<br />
Schon in der zweiten Sequenz des Films, die mit dem Vorspann<br />
beginnt, entwickelt Arcand eine Metapher, die etwa einem „Bekenntnis<br />
Gottes” zu seinem Sohn nach der Taufe durch Johannes den Täufer<br />
entsprechen könnte. (Die Assoziation des „Bekenntnisses Gottes” hatte<br />
Baugh gleich nach den Worten Daniels: „Du hast mich inspiriert” –<br />
Inspiration als Heiliger Geist.) Nach dem Prolog, wo sich Daniel als ein<br />
„grosser Schauspieler” durch den filmischen Johannes den Täufer, der in<br />
seinem Theaterauftritt indirekt zur Umkehr auffordert, erkennen lässt, wird<br />
der Zuschauer in die Kirche gebracht (Sq.2), wo der Chor das Lied Stabat<br />
162
mater 111<br />
singt. Inhaltlich wird der Zuschauer auf Christus aufmerksam<br />
gemacht, den Arcand in der nächsten Einstellung auch kommen lässt. Nach<br />
der Halbtotalen von den Chor-Mitgliedern, wird die Totale gezeigt, die Daniel<br />
aus der Vogelperspektive in die Kirche hineintreten und ihn den Chor von<br />
unten anschauen lässt. Arcand verbindet den Chor mit Daniel auch optisch<br />
in einer einzigen Einstellung, womit angedeutet wird, dass Daniel der<br />
Christus im Film sein wird. Diese Stelle könnte auch als biblische Stelle nach<br />
der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer gelesen werden, als sich Gott zu<br />
seinem Sohn bekannt hatte (Mk 1,11). Daniel wird dann wieder in der<br />
Vogelperspektive von Pater Leclerc begrüsst, dann wechselt die vertikale<br />
Ebene von oben nach unten in die horizontale, und der Auftrag, die Passion<br />
Jesu zu spielen, wird Daniel in der Einstellung halbnah übergeben. Zu dieser<br />
Zeit kann es dem Zuschauer noch nicht klar sein, wann und wie und ob<br />
überhaupt Daniel die Aufgabe des „Erlösers” erfüllt. Arcand entwickelt und<br />
konkretisiert diese Metapher dann in der nächsten vertikalen Perspektive, die<br />
umso stärker wirkt, weil sie nach der kurzen Sequenz in der Bibliothek (Sq.5)<br />
platziert ist, wo Daniel von einer Frau angesprochen wird: „Suchen sie<br />
Jesus? ... Er ist es, der sie finden wird.” Nach diesen Worten kommt der<br />
Schnitt zur nächsten Einstellung (Sq.6): in der Totale von unten wird die<br />
Statue des gefesselten Christus vor der Kirche Leclercs gezeigt. Die<br />
Kamera-Bewegung (Schwenk und Zoom) sugerriet das Gefühl, dass dieser<br />
Christus die ganze Last der hinter ihm stehenden monumentalen Kirche auf<br />
seinem Rücken trägt. In diese Einstellung kommt Daniel hinein und schaut<br />
111 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.20.<br />
Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City 1997,<br />
S. 113-129.<br />
163
sich die Statue stehend von einer gewissen Distanz an. Diese Einstellung<br />
vereint die beiden Figuren für einen kurzen Moment (sie gleicht der<br />
entsprechenden Einstellung vom Vorspann – Sq.2) und mit der danach<br />
folgenden subjektiven Kamera – Totale an Daniel von oben –, die für den<br />
Blick des gefesselten Christus (der Statue) da steht, werden die Worte der<br />
Frau aus der Bibliothek wahr: Jesus ist derjenige, der Daniel gefunden hatte.<br />
Die Kamera-Bewegung geht von der vertikalen Ebene des Blickes der Statue<br />
in die Horizontale näher zu Daniel über und Daniel selber kommt auch ein<br />
paar Schritte näher zu der Statue. In die statische Beziehung zwischen<br />
beiden Figuren vom Anfang des Films kommt Bewegung hinein. Diese<br />
Dynamik widerspiegelt sich dann im Handeln von Daniel-Jesus.<br />
Die nächste Vogelperspektive, welche die „Gottessohnschaft” Daniels<br />
suggerriert, ist die der Festnahme Daniels während des Spiels im Garten<br />
(Sq.20). Daniel-Jesus hängt meditierend am Kreuz, was Baugh besonders<br />
betont 112 , wenn die Vertreter der Justiz zu ihm kommen, um Daniel<br />
festzunehmen. Während sie ihm die Anklage und seine Rechte vorlesen,<br />
bringt Arcand wieder die Vogelperspektive und macht somit klar, dass hier<br />
nicht Daniel sondern Daniel-Jesus, ja Daniel-Christus angeklagt wird. Das<br />
Mosaik wird erst am Ende des Films vollständig, wenn der Abspann zum<br />
Film an den Vorspann anknüpft und ihn endgültig ergänzt (Sq.40). Nach der<br />
symbolischen Auferstehung Daniels wechselt Arcand die Perspektiven und<br />
suggeriert eine umgekehrte Bewegung vom Anfang, von unten nach oben.<br />
Es wird zuerst die Totale gezeigt, wo die Frauen vom Anfang des Films die<br />
letzte Strophe von Stabat mater 113<br />
in der U-Bahn vor dem Werbeplakat mit<br />
dem Kopf von Johannes dem Täufer singen. Hier übernehmen sie wieder die<br />
112 Vgl. Ebda..<br />
164
Aufgabe der „Verkünderinnen” vom Anfang (Beilage Nr. 10), da sie an dem<br />
Ort, wo Daniel-Christus zusammenbrach, von der Teilnahme an der<br />
Auferstehung Christi singen. Diese zwei Frauen werden dann aus der<br />
Vogelperspektive gezeigt, die den Blick des auferstandenen Daniel-Christus<br />
suggeriert 114 . Mit einer langsamen horizontalen Fahrt der Kamera geht das<br />
Bild vom realen Diesseits in ein suggeriertes Jenseits über, wo sie die<br />
Richtung von der Horizontalen zur Vertikalen wechselt. Daniel verschwindet<br />
nicht in einem „rätselhaften Universum”, wie die Hoffnung im Passionsspiel<br />
und im Prolog des Films bezeichnet wird, sondern nimmt eine ganz konkrete<br />
Richtung an – die Richtung nach oben (Sq.40). Diese langsame Fahrt nach<br />
oben assoziiert die Rückfahrt Daniels: <strong>Im</strong> Vorspann wird er mit dem Auftrag<br />
des Erlösers gesandt, im Abspann kehrt er nach der Erfüllung seines<br />
Auftrags zurück. Für einen gläubigen Zuschauer schliesst sich hier ein<br />
Erkennensweg, den er im Laufe des Films durchschritten hat: das<br />
Unsichtbare wird hier sichtbar.<br />
3.9. Position<br />
Die zahlreichen Fragezeichen, die Arcand in Jésus de Montréal<br />
entwirft, weisen auf die Frage nach dem Sinn des Lebens hin, die sich am<br />
Ende des Films der Zuschauer selber stellen muss. <strong>Im</strong>plizit wird der Glaube<br />
eines Menschen an Gott hinterfragt, wobei die Antwort wieder dem<br />
Einzelnen überlassen wird. Welcher Position aus dem ersten Kapitel könnte<br />
denn der Film aufgrund dieser Schlussfolgerung zugeteilt werden? Arcand<br />
thematisiert meiner Meinung nach beide Dimensionen Jesu Christi, wobei<br />
Daniel als ein „Vermittler” zwischen diesen beiden funktioniert. Innerhalb des<br />
113 Vgl. Ebda.. S. 128f.<br />
165
Passionsspiels spricht Arcand selber die These aus, dass die<br />
Forschungsergebnisse zur historischen Person Jesus von Nazaret zu dürftig<br />
sind und konzentriert sich deswegen nur auf den moralischen Anspruch 115<br />
Jesu von Nazaret, den Arcand somit nicht nur zugibt, sondern auch<br />
stark betont. Schon damit ist implizit aber sehr viel von Christus gesagt<br />
worden 116 . Daniel als Inbild Jesu hält sich konsequent an diese<br />
Moralprinzipien: sowohl als Schauspieler im Passionsspiel als auch Daniel<br />
im Film fordert er das Publikum und die Mitmenschen zur Nachfolge auf.<br />
Wenn dieses wieder in Zusammenhang mit dem Prolog gebracht wird, kann<br />
es ein Zeichen für den impliziten Christus des Glaubens sein. Ausserdem<br />
zeigt Arcand auch einen Daniel, der sich in den entscheidenden Momenten<br />
während des Passionsspiels mit Christus völlig identifiziert. Wenn das<br />
Passionsspiel als ein ebenfalls entscheidender Teil des persönlichen Lebens<br />
Daniels rezipiiert wird, dann könnte er auch Inbild des Christus sein. Der<br />
entscheidende Moment für den Christus des Glaubens ist aber die<br />
Auferstehung, die Arcand symbolisch darstellt. Doch die letzten Bilder des<br />
Films im Abspann weisen ganz deutlich in Richtung oben und zielen zu<br />
einem Fenster hin, das mit den Worten von Baugh, ein Osterfenster 117<br />
ist.<br />
Diese symbolische Auferstehung Daniels, die zugleich auch als Erhebung<br />
Christi gelesen werden kann, steht für seine zweite Dimension. Arcand<br />
macht somit einen Bogen von Gott (Berufung im Prolog durch Daniel) über<br />
sein menschliches Leben, dann wieder zu Gott in der Auferstehung. Dieser<br />
Bogen – ein Erkennensweg – stellt einen kontinuierlichen Prozess vom<br />
114 Vgl. Ebda..<br />
115 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologisierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.42.<br />
116 Vgl. BAUGH, Lloyd: <strong>Im</strong>aging the Divine. Jesus and Christ-Figures in Film. Kansas City<br />
1997, S. 113-129.<br />
166
Jesus der Geschichte im Passionsspiel zum Christus des Glaubens im Film<br />
dar. Diese Leseweise von Jesus zu Christus steht der <strong>dritten</strong> Position, die als<br />
Kontinuität bezeichnet wird, am meisten nahe.<br />
3.10. Die Mittel<br />
Während die zwei Vorgänger von Jésus de Montréal, Pasolinis Il<br />
vangelo secondo Matteo und ScorsesesThe Last Temptation of Christ, einen<br />
neuen Blick auf Jesus Christus entwerfen, zeigt dieser den Menschen Daniel<br />
Coulombe, der ganz wie Jesus erscheint 118 . Denys Arcand bringt also eine<br />
Transfiguration Jesu Christi in die Gegenwart, die aber zugleich eher eine<br />
Ausnahme unter diesen ist. Denn Jésus de Montréal ist zugleich ein<br />
expliziter Jesusfilm, der auch versucht, einen neuen Blick auf Jesus Christus<br />
zu werfen. Das Prinzip einer zweispurigen Inszenierung scheint wieder<br />
einmal Anwendung gefunden zu haben: in der Inszenierung des<br />
Passionsspiels und in der persönlichen Geschichte Daniels (Passion in der<br />
Passion).<br />
Anders als Pasolini und Scorsese, die sich die Mühe gemacht haben,<br />
beide Dimensionen Jesu Christi zu zeigen, weigert sich Arcand auf der<br />
Ebene des expliziten Passionsspiels Jesus als Christus zum Ausdruck zu<br />
bringen. Gerade hier, wo alle expliziten direkten und indirekten Jesusfilme<br />
mit einer gewissen Historisierung arbeiten, führt Arcand eine konsequente<br />
Entmythologisierung durch (das eigentliche Hauptmittel von<br />
117 Vgl. Ebd. S.129.<br />
118 <strong>Im</strong> Sinne der Definition einer Transfiguration, wie sie im ersten Teil des zweiten Kapitels<br />
aufgeführt ist.<br />
167
Tranfiguration) 119 . Es ist einerseits die dokumentarische Bearbeitung der<br />
Passion in der Kameraführung, in der kommentierten Begleitung, im<br />
schauspielerischen Einsatz des Hauptdarstellers, was viele Ähnlichkeiten zu<br />
Pasolinis Inszenierung aufweist. Andererseits ist es die bombastische<br />
Ausstattung in den Kostümen, die Maske der Schauspieler (nicht aber die<br />
Maske Jesu). Mit seiner entmythologisierten Passion schafft Arcand eine<br />
starke Irritation und Verfremdung der historischen Dimension Jesu Christi,<br />
die somit die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf Daniel richtet. Das ganze<br />
Passionsspiel erscheint so wie eine „Parodie” zu allen theatralischen<br />
Aufführungen der Passionsspiele und der Jesusfilme.<br />
Die Ebene der persönlichen Geschichte Daniels stellt die eigentliche<br />
Transfiguration Jesu in die Gegenwart dar. Diese konstruiert Arcand aus<br />
einigen neutestamentlichen Motiven (Beilage Nr. 10), die er bis in Details<br />
herausarbeitet. Sie sind dank der zahlreichen Zitate aus der Bibel erkennbar,<br />
dank der Anspielungen in den Namen der Figuren, in ihren Funktionen, die<br />
sie im Film übernehmen oder in der Ort-Symbolik. Arcand bleibt aber nicht<br />
nur auf der Ebene der <strong>Im</strong>itation Jesu 120 , wie sie Zwick bezeichnet hatte,<br />
denn er lässt auch die „unsichtbare Dimension” der Christus-Figur in der<br />
Geschichte Daniels spüren, womit wieder das Prinzip einer zweispurigen<br />
Inszenierung zum Vorschein kommt. Während es in Pasolinis Film vor allem<br />
die Musik und Kameraführung waren, die das aussagten, was im Bild<br />
einfach nicht gezeigt werden kann, sind es bei Arcand vor allem die<br />
Metaphern, die er in seiner Geschichte entwickelt und die dann die Handlung<br />
119 Vgl. ZWICK, Reinhold: Entmythologiesierung versus <strong>Im</strong>itatio Jesu. Thematisierungen des<br />
Evangeliums in Denys Arcands Film „Jesus von Montreal”. In: Communicatio Socialis 2,<br />
1990, S.17-47.<br />
120 Vgl. Ebda.<br />
168
zum Hauptmittel für die Thematisierung seiner Christus-Figur machen. Die<br />
Handlung wirkt am Ende des Films wie eine kleine „Offenbarung”, so als ob<br />
sie „verfilmt” wäre.<br />
Der Film funktioniert wie eine Parabel, die Jesus selber erzählt hatte<br />
und die auch in den Evangelien zu finden ist. Arcand will mit seinem Film<br />
ganz sicher nicht behaupten, dass Daniel im Film der Christus sei. Viel mehr<br />
möchte er den Zuschauer einladen, wie Christus, den er im Film zeigt, zu<br />
leben.<br />
169