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<strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften<br />

- Sommerkurs für die Deutsche SchülerAka<strong>de</strong>mie (2006-1.4) -<br />

von Dozent Jens Ph. Wilhelm, Hochschule <strong>de</strong>s Sächsischen Polizei (FH)<br />

Teil I: Grundlagen <strong>de</strong>s Bürgerlichen <strong>Recht</strong>s ......................................3<br />

1. Grundbegriffe (dargestellt am Beispiel <strong>de</strong>s Kaufs) .....................................3<br />

I. Überblick .................................................................. 3<br />

II. <strong>Recht</strong>sfähigkeit - Handlungsfähigkeit - Geschäftsfähigkeit ............................ 4<br />

III. <strong>Recht</strong>ssubjekte .............................................................. 5<br />

IV. <strong>Recht</strong>sobjekte ............................................................... 5<br />

2. <strong>Recht</strong>sgeschäftslehre - Von <strong>de</strong>r Willenserklärung zum Vertrag ......................5<br />

I. Der Begriff <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sgeschäfts ................................................. 6<br />

II. Die Willenserklärung (WE) .................................................... 6<br />

III. Das Wirksamwer<strong>de</strong>n von Verträgen .............................................. 7<br />

IV. Das Zustan<strong>de</strong>kommen von Verträgen ......................................... 8<br />

V. Die Auslegung von Verträgen .................................................. 8<br />

3. Geschäftsfähigkeit (insbeson<strong>de</strong>re Min<strong>de</strong>rjährigenrecht) ............................8<br />

I. Arten <strong>de</strong>r Geschäftsfähigkeit ................................................... 8<br />

II. Folgen <strong>de</strong>r Geschäftsunfähigkeit bzw. <strong>de</strong>r beschränkten Geschäftsfähigkeit .............. 9<br />

III. Familienrechtliche Regelungen ................................................. 10<br />

4. Stellvertretung ............................................................10<br />

I. Arten und Begriffe ........................................................... 10<br />

II. Voraussetzungen ............................................................. 11<br />

III. Wirkungen ................................................................. 11<br />

5. Fallbeispiel: "Das Lexikon" .................................................12<br />

Teil II: Grundlagen <strong>de</strong>s Strafrechts .............................................15<br />

Hinweis: zum Gesetzlichkeitsprinzip (<strong>de</strong>r "Garantiefunktion" <strong>de</strong>s Strafrechts) siehe das Skript "Einführung in das<br />

juristische Denken und Arbeiten", dort S. 31 ff, 79 ff<br />

6. Straftheorien .............................................................15<br />

dazu: Materialien ............................................................... 16<br />

7. Materieller Verbrechensbegriff <strong>de</strong>s Strafrechts ..................................18<br />

I. Der Tatbestand .............................................................. 18<br />

II. Die <strong>Recht</strong>swidrigkeit ......................................................... 19<br />

III. Die Schuld ................................................................. 20<br />

IV. Weitere Prüfungsstationen .................................................. 20<br />

V. Der Aufbau <strong>de</strong>s vollen<strong>de</strong>ten vorsätzlichen Begehungs<strong>de</strong>liktes (Erfolgs<strong>de</strong>likt - Grundschema) 21<br />

8. Einzelne Straftatbestän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Beson<strong>de</strong>ren Teil <strong>de</strong>s Strafgesetzbuches ............22<br />

I. Mord und Totschlag, §§ 211, 212 StGB ........................................... 22<br />

II. Körperverletzung und Gefährliche Körperverletzung, §§ 223, 224 StGB ................. 26<br />

III. Diebstahl, § 242 StGB ........................................................ 27<br />

9. Grundsätze <strong>de</strong>s Internationalen Strafanwendungsrechts ............................30<br />

I. Begriff <strong>de</strong>s Internationalen Strafrechts............................................ 30<br />

II. Anknüpfungspunkte <strong>de</strong>s Internationalen Strafrechts ................................. 31<br />

10. Fallbeispiel: "Der Spanner" (BGH, NJW 1979, 2053) .................................32<br />

Teil III: Grundlagen <strong>de</strong>s Staatsrechts ............................................36<br />

11. Einteilung <strong>de</strong>r Grundrechte ..................................................36<br />

I. Dogmatische Einteilung ....................................................... 36<br />

II. Systematische Einteilung <strong>de</strong>r Grundrechte ......................................... 36<br />

III. Exkurs: Überblick über <strong>de</strong>n gegenwärtigen internationalen menschenrechtlichen Standard . . . 37<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


12. Funktionen <strong>de</strong>r Grundrechte .................................................38<br />

I. Grundrechte als subjektive öffentliche <strong>Recht</strong>e ...................................... 38<br />

II. Wirkungsweisen ("Funktionen") <strong>de</strong>r Grundrechte ................................... 38<br />

13. Grundrechtsberechtigte und Grundrechtsverpflichtete .............................40<br />

I. Grundrechtsträger ............................................................ 40<br />

II. Grundrechtsadressaten ........................................................ 41<br />

III. Drittwirkung <strong>de</strong>r Grundrechte? ................................................. 41<br />

14. Verfassungsrechtliche <strong>Recht</strong>fertigung von Grundrechtseingriffen (Schrankenziehung) ...42<br />

I. Eingriffsbegriff .............................................................. 42<br />

II. Gesetzesvorbehalt und sog. Grundrechtsschranken .................................. 42<br />

III. Exkurs: Die Einwilligung <strong>de</strong>s Betroffenen (Grundrechtsverzicht) ....................... 43<br />

15. Einzelne Grundrechtsgewährleistungen ........................................44<br />

I. Menschenwür<strong>de</strong>, Art. 1 GG .................................................... 44<br />

II. Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG ................................... 45<br />

III. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Artt. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG .................... 45<br />

IV. <strong>Recht</strong> auf körperliche Unversehrtheit und Leben, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG .............. 47<br />

V. Meinungsfreiheit i.e.S., Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG ................................. 48<br />

VI. Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG .......................................... 50<br />

16. Fallbeispiel: "Der Sprayer von Zürich" (Fall Harald Naegeli; vgl. BVerfG, NJW 1984, 1293) ......53<br />

Anhang: Aufbauschemata ......................................................55<br />

Allgemeine Hinweise ............................................................... 55<br />

1. Aufbauschemata zum materiellen Strafrecht (Allgemeiner Teil) ......................56<br />

- A.1.1.1. Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche Begehungs<strong>de</strong>likt (= Grundschema) .................... 56<br />

- A.1.1.2. Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt (§ 13 StGB) ................ 57<br />

- A.1.1.2.a Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche echte Unterlassungs<strong>de</strong>likt ............................ 58<br />

- A.1.2.1. Das versuchte Begehungs<strong>de</strong>likt .............................................. 59<br />

- A.1.2.2. Das versuchte unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt ..................................... 60<br />

- A.2.1. Das fahrlässige Begehungs<strong>de</strong>likt ............................................. 61<br />

- A.2.2. Das fahrlässige unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt .................................... 62<br />

- A.3. Das erfolgsqualifizierte Delikt ............................................... 63<br />

- B. Täterschaftliche Beteiligung (§ 25 Abs. 1 [2. Fall], Abs. 2 StGB) .................... 64<br />

- C. Teilnahme (§§ 26, 27 StGB) unter Einbeziehung <strong>de</strong>r §§ 28, 29 StGB ................ 65<br />

- D. Versuchte Anstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB) ...................................... 66<br />

- E. Der Erlaubnistatbestandsirrtum .............................................. 67<br />

2. Aufbauschema zum Staatsrecht: Grundrechtsprüfung ...............................68<br />

- A. Prüfungsaufbau bei Eingriffen in Freiheitsrechte (insbeson<strong>de</strong>re Schrankenziehung) .......... 68<br />

- B. Prüfung einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht .................................... 69<br />

3. Aufbauschema zum Verfassungsprozeßrecht: Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> .................70<br />

2<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Teil I: Grundlagen <strong>de</strong>s Bürgerlichen <strong>Recht</strong>s<br />

1. Grundbegriffe (dargestellt am Beispiel <strong>de</strong>s Kaufs)<br />

Gesetzestext: "§ 433 BGB. Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag. (1) [Tatbestand] Durch <strong>de</strong>n Kaufvertrag<br />

[<strong>Recht</strong>sfolge] wird <strong>de</strong>r Verkäufer einer Sache verpflichtet, <strong>de</strong>m Käufer die Sache zu übergeben und das<br />

Eigentum an <strong>de</strong>r Sache zu verschaffen. Der Verkäufer hat <strong>de</strong>m Käufer die Sache frei von Sach- und <strong>Recht</strong>smängeln<br />

zu verschaffen.<br />

(2) Der Käufer ist verpflichtet, <strong>de</strong>m Verkäufer <strong>de</strong>n vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache<br />

abzunehmen."<br />

I. Überblick<br />

• Was ist ein Kauf(vertrag)?<br />

6 ein schuldrechtliches, entgeltliches Austauschverhältnis einer Sache (o<strong>de</strong>r eines sonstigen Gegenstan<strong>de</strong>s)<br />

gegen Geld, § 433 BGB<br />

• Was ist ein Vertrag?<br />

6 ein Vertrag ist ein - i.d.R. zweiseitiges - schuldrechtliches <strong>Recht</strong>sgeschäft, durch das eine o<strong>de</strong>r<br />

mehrere - u.U. auch gegenseitige - For<strong>de</strong>rungen (= schuldrechtliche Ansprüche) begrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n,<br />

so daß <strong>de</strong>r Gläubiger berechtigt ist, von <strong>de</strong>m Schuldner eine Leistung zu verlangen (§§ 241, 311<br />

nF. 305 aF BGB); ein Anspruch ist das <strong>Recht</strong>, von einem an<strong>de</strong>ren ein Tun o<strong>de</strong>r Unterlassen<br />

verlangen zu können (§ 194 Abs. 1 BGB)<br />

• Wie wird ein Kaufvertrag geschlossen?<br />

6 nach <strong>de</strong>r allgemeinen <strong>Recht</strong>sgeschäftslehre erfolgt <strong>de</strong>r Vertragsschluß durch zwei korrespondieren<strong>de</strong><br />

Willenserklärungen (vgl. §§ 116 ff, 130 ff BGB), nämlich Angebot (Antrag) und Annahme<br />

(vgl. §§ 145, 147 BGB)<br />

• Wer kann <strong>de</strong>rart han<strong>de</strong>ln?<br />

6 zur <strong>Recht</strong>sfähigkeit (§ 1 BGB) und Handlungsfähigkeit (Geschäftsfähigkeit [§§ 104 ff BGB]<br />

sowie Deliktsfähigkeit [§§ 827 f BGB]) und zur zivilrechtlichen Einteilung <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>ssubjekte<br />

(natürliche und juristische Personen bzw. Personenvereinigungen) und <strong>Recht</strong>sobjekte/<strong>Recht</strong>sgegenstän<strong>de</strong><br />

(Sachen [§ 90 BGB] und <strong>Recht</strong>e) s.u.<br />

• Führt <strong>de</strong>r Kaufvertragsschluß noch nicht zur Eigentumsverschaffung (da <strong>de</strong>r Verkäufer <strong>de</strong>m Käufer<br />

erst noch das Eigentum an <strong>de</strong>r Sache verschaffen muß)?<br />

6 im <strong>de</strong>utschen <strong>Recht</strong> gilt das sog. Trennungsprinzip mit <strong>de</strong>r Unterscheidung von Verpflichtungsund<br />

Verfügungsgeschäft (siehe z.B. <strong>de</strong>n Kauf unter Eigentumsvorbehalt, § 449 nF . 455 aF BGB)<br />

• Wenn solch eine Trennung vorliegt, sind bei<strong>de</strong> <strong>Recht</strong>sgeschäfte voneinan<strong>de</strong>r rechtlich (un)abhängig?<br />

6 im <strong>de</strong>utschen <strong>Recht</strong> wird das Trennungsprinzip durch das Abstraktionsprinzip ergänzt, d.h. Verpflichtungs-<br />

und Verfügungsgeschäft sind in ihrer <strong>Recht</strong>swirksamkeit grds. voneinan<strong>de</strong>r unabhängig<br />

(um z.B. bei einem unwirksamen Verpflichtungsgeschäft, aber wirksamen Verfügungsgeschäft einen<br />

gerechten Ausgleich zu gewährleisten, sieht das Bereicherungsrecht [§§ 812 ff BGB] Rückabwicklungsansprüche<br />

vor)<br />

• Wie erfolgt die Eigentumsverschaffung?<br />

6 die Übereignung erfolgt bei beweglichen Sachen nach §§ 929 ff BGB (i.d.R. durch Einigung und<br />

Übergabe) und bei unbeweglichen Sachen nach §§ 873 ff BGB (durch Einigung [bei Übertragung<br />

von Grundstückseigentum = Auflassung, § 925 BGB] und Eintragung in das Grundbuch)<br />

• Wo ist das alles (im Gesetz) geregelt?<br />

6 Aufbau <strong>de</strong>s BGB: Allgemeiner Teil (AT) §§ 1-240; Schuldrecht §§ 241-432 (= Allgemeiner Teil)<br />

u. 433-853 (= Beson<strong>de</strong>rer Teil, BT), Sachenrecht §§ 854-1296, Familienrecht § 1297-1921, Erbrecht<br />

§§ 1922-2385 BGB<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 3


Paragraphenkette beim Kauf: SchuldR BT: §§ 433 (Kaufvertrag), SchuldR AT: [311 nF . 305 aF (rechtsgeschäftliches,<br />

vertragliches Schuldverhältnis), 241 (Schuldverhältnis),] Allgem. Teil: 145 ff (Vertrag), hier: 145 (Antrag), 147 (Annahme),<br />

116 ff (130 ff) Willenserklärung, [104 ff (<strong>Recht</strong>sgeschäft)]; Sache 6 § 90; SachenR: Übereignung [beweglicher<br />

Sachen] 6 § 929 BGB<br />

In <strong>de</strong>r Privatrechtsordnung wird unterschie<strong>de</strong>n zwischen <strong>Recht</strong>ssubjekten, die Inhaber (Träger) privatrechtlicher<br />

<strong>Recht</strong>e und Pflichten sein können (<strong>Recht</strong>sfähigkeit) sowie grundsätzlich rechtserhebliche<br />

Handlungen vornehmen können (Handlungsfähigkeit, die wie<strong>de</strong>rum in die Geschäfts- und Deliktsbzw.<br />

Verschul<strong>de</strong>nsfähigkeit unterglie<strong>de</strong>rt wird), und <strong>Recht</strong>sobjekten, als <strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>n solcher<br />

<strong>Recht</strong>sbeziehungen bzw. -handlungen (<strong>Recht</strong>sobjekte sind alle nach <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung menschlicher<br />

Herrschaftsmacht unterworfenen Objekte):<br />

II. <strong>Recht</strong>sfähigkeit - Handlungsfähigkeit - Geschäftsfähigkeit<br />

a) <strong>Recht</strong>sfähigkeit ist die Fähigkeit, Inhaber von (privatrechtlichen) <strong>Recht</strong>en und Pflichten zu sein, s.<br />

§ 1 BGB (prozeßrechtliche Entsprechung: Parteifähigkeit, § 50 ZPO); sie kommt allen natürlichen<br />

wie juristischen Personen zu.<br />

b) Handlungsfähigkeit ist die Fähigkeit, durch eigenes verantwortliches Han<strong>de</strong>ln <strong>Recht</strong>swirkungen<br />

hervorzurufen, insbeson<strong>de</strong>re <strong>Recht</strong>e zu erwerben und Pflichten zu begrün<strong>de</strong>n; inwieweit sie neben<br />

<strong>de</strong>n natürlichen Personen auch juristischen Personen als solchen zukommt, ist str.<br />

Die Handlungsfähigkeit ist Oberbegriff für die Geschäftsfähigkeit, Delikstfähigkeit und Verschul<strong>de</strong>nsfähigkeit:<br />

aa) Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit, durch die Abgabe o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Empfang von Willenserklärungen<br />

<strong>Recht</strong>sfolgen für sich o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re herbeizuführen (prozeßrechtliche Entsprechung: Prozeßfähigkeit,<br />

§§ 51 ff ZPO); sie kommt nur natürlichen Personen zu, d.h. juristische Personen<br />

müssen sich für ihr rechtsgeschäftliches Han<strong>de</strong>ln natürlicher Personen bedienen, sie können<br />

nur durch ihre (Vertretungs-) Organe han<strong>de</strong>ln. Son<strong>de</strong>rfälle sind die<br />

- Ehefähigkeit (Fähigkeit zur Eingehung <strong>de</strong>r Ehe; §§ 1303-1304 BGB: mit Volljährigkeit (s.<br />

§ 2 BGB: 18 Jahre), unter bestimmten Voraussetzungen schon ab 16 Jahren; ausgenommen:<br />

Geschäftsunfähige) und die<br />

- Testierfähigkeit (Fähigkeit, seine Erbfolge durch ein Testament/eine letztwillige Verfügung<br />

selbst zu regeln; § 2229 Abs. 1 BGB: ab 16 Jahren, ausgenommen Geistesschwache).<br />

bb)Deliktsfähigkeit ist die Fähigkeit einer Person, für unerlaubte (= <strong>de</strong>liktische) Handlungen<br />

verantwortlich zu sein. Nicht <strong>de</strong>liktsfähig sind<br />

- Kin<strong>de</strong>r unter 7 Jahren, § 828 Abs. 1 BGB<br />

- an<strong>de</strong>re Min<strong>de</strong>rjährige (von 7 bis 17 Jahren) und Taubstumme, die "bei Begehung <strong>de</strong>r schädigen<strong>de</strong>n<br />

Handlung nicht die zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Verantwortlichkeit erfor<strong>de</strong>rliche Einsicht"<br />

haben, § 828 Abs. 2 BGB,<br />

- Bewußtlose, Fälle <strong>de</strong>r (auch vorübergehen<strong>de</strong>n) Störung <strong>de</strong>r Geistestätigkeit, i.e. s. § 827<br />

BGB<br />

Damit sind 7- bis 17-Jährige bedingt <strong>de</strong>liktsfähig, d.h. es ist im Einzelfall festzustellen, ob sie<br />

nach ihrer geistigen Entwicklung in <strong>de</strong>r Lage waren, das Unrecht <strong>de</strong>r Tat und die allgemeine<br />

Verpflichtung zur Ersatzleistung zu erkennen (§ 828 Abs. 2 S. 1 BGB).<br />

cc) Verschul<strong>de</strong>nsfähigkeit ist das rechtliche Einstehenmüssen (Verantwortlichkeit) für schuldhafte<br />

(s. § 276 Abs. 1 S. 1 u. Abs. 2 BGB) Pflichtverletzungen, insoweit wird nach § 276 Abs. 1 S.<br />

2 BGB an die Regelungen <strong>de</strong>r Deliktsfähigkeit nach §§ 827, 828 BGB angeknüpft, weshalb die<br />

Deliktsfähigkeit tw. auch mit <strong>de</strong>r Verschul<strong>de</strong>nsfähigkeit gleichgesetzt und als Fähigkeit, für<br />

eigenes schuldhaftes Han<strong>de</strong>ln verantwortlich zu sein, <strong>de</strong>finiert wird.<br />

4<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


III. <strong>Recht</strong>ssubjekte<br />

a) Natürliche Personen, das sind alle Menschen von <strong>de</strong>r Geburt an, § 1 BGB (<strong>de</strong>m nasciturus kommt<br />

nach h.M. eine durch die spätere Lebendgeburt bedingte Teilrechtsfähigkeit zu; <strong>de</strong>m Verstorbenen<br />

sind postmortale Wirkungen <strong>de</strong>s allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt)<br />

b) Juristische Personen ("sind entwe<strong>de</strong>r Personenvereinigungen, die einen vom Wechsel <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r<br />

unabhängigen Bestand haben, o<strong>de</strong>r zur Verfolgung eines bestimmten Zwecks geschaffene, mit<br />

einem diesem Zweck gewidmeten Vermögen ausgestattete Organisationen, die ebenso wie jene auf<br />

eine gewisse Dauer angelegt und durch die Einsetzung von Organen dazu befähigt sind, im<br />

<strong>Recht</strong>sverkehr als selbständige Einheiten aufzutreten, insbeson<strong>de</strong>re selbst <strong>Recht</strong>e zu erwerben und<br />

Verpflichtungen einzugehen"; Larenz)<br />

- juristische Personen <strong>de</strong>s Privatrechts, (eingetragene) Vereine (§ 21 BGB), Kapitalgesellschaften<br />

(als "Son<strong>de</strong>rformen" <strong>de</strong>s Vereins): Aktiengesellschaften (AG, § 1 AktG), Gesellschaften mit<br />

beschränkter Haftung (GmbH, § 1 GmbHG), eingetragene Genossenschaften (eG, § 1 GenG) und<br />

Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG; VAG); Stiftungen (hier: <strong>de</strong>s bürgerlichen<br />

<strong>Recht</strong>s, § 80 BGB),<br />

- juristische Personen <strong>de</strong>s öffentlichen <strong>Recht</strong>s, u.a. die öffentlichen Körperschaften (z.B. Bund,<br />

Län<strong>de</strong>r, Kreise, Gemein<strong>de</strong>; Universitäten), Stiftungen und Anstalten (z.B. Bun<strong>de</strong>sbank) <strong>de</strong>s<br />

öffentlichen <strong>Recht</strong>s<br />

c) Personengesellschaften (grds. selbst nicht rechts- und parteifähig; sog. Gesamthandsgemeinschaften):<br />

Gesellschaft bürgerlichen <strong>Recht</strong>s (sog. BGB-Gesellschaft; §§ 705 ff BGB; nach BGHZ 146,<br />

341 als Außengesellschaft rechts- und parteifähig), <strong>de</strong>r nicht-rechtsfähige Verein (§ 54 BGB; nach<br />

<strong>de</strong>r Rspr. nun auch - begrenzt - rechts-, zumin<strong>de</strong>st aber parteifähig?); eheliche Gütergemeinschaft<br />

(§§ 1415 ff BGB - nicht rechtsfähig), fortgesetzte Gütergemeinschaft (§§ 1483 ff BGB - nicht<br />

rechtsfähig) Erbengemeinschaft (§§ 2032 ff BGB - nicht rechtsfähig)<br />

Personenhan<strong>de</strong>lsgesellschaften: Offene Han<strong>de</strong>lsgesellschaft (OHG, § 105 HGB; nach § 124 HGB<br />

teilrechtsfähig), Kommanditgesellschaft (KG, § 161 HGB, teilrechtsfähig), stille Gesellschaft<br />

(§ 230 HGB); Partnerschaftsgesellschaft (PartGG; nach § 7 Abs. 2 PartGG teilrechtsfähig) und die<br />

Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWiV)<br />

IV. <strong>Recht</strong>sobjekte<br />

a) Tiere ? (sollen nach § 90a S. 1 BGB keine Sachen sein, doch fin<strong>de</strong>n auf sie grundsätzlich die für<br />

Sachen gelten<strong>de</strong>n Vorschriften entsprechend Anwendung, § 90a S. 3 BGB; Fall sog. symbolischer<br />

Gesetzgebung)<br />

b) Gegenstän<strong>de</strong><br />

aa) Sachen = körperliche Gegenstän<strong>de</strong>, § 90 BGB (str. ist, inwieweit <strong>de</strong>r Leichnam und abgetrennte<br />

Körperbestandteile als Sachen anzusehen sind); man unterschei<strong>de</strong>t bewegliche und<br />

unbewegliche Sachen (= Grundstücke)<br />

bb) <strong>Recht</strong>e (an Vermögenswerten)<br />

- Materialgüterrechte, z.B. dingliche <strong>Recht</strong>e, For<strong>de</strong>rungen, Mitgliedschaftsrechte an Personenund<br />

Kapitalgesellschaften<br />

- Immaterialgüterrechte, z.B. Urheberrechte an Werken <strong>de</strong>r Literatur und Kunst (UrhG),<br />

Patentrechte, Markenschutzrechte (aber nicht Persönlichkeitsrechte, wie das allgemeine<br />

Persönlichkeitsrecht und das Namensrecht, auch nicht Familienrechte)<br />

2. <strong>Recht</strong>sgeschäftslehre - Von <strong>de</strong>r Willenserklärung zum Vertrag<br />

In § 433 BGB wird an <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Vertrags angeknüpft, <strong>de</strong>r Kaufvertrag als allgemeiner schuldrechtlicher<br />

Vertrag (= mehrseitiges <strong>Recht</strong>sgeschäft, vgl. §§ 145 ff, 311 Abs. 1 nF . 305 aF BGB) vorausgesetzt<br />

(damit geht es um eine Frage <strong>de</strong>s Allgemeinen Teils und <strong>de</strong>s Allgemeinen Schuldrechts <strong>de</strong>s<br />

Bürgerlichen Gesetzbuchs, BGB). Sein beson<strong>de</strong>rer Vertragsinhalt wird durch die in § 433 BGB (als<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 5


Teil <strong>de</strong>s Beson<strong>de</strong>ren Schuldrechts) normierten <strong>Recht</strong>spflichten (= <strong>Recht</strong>sfolgen) <strong>de</strong>s Verkäufers und<br />

<strong>de</strong>s Käufers <strong>de</strong>finiert, nämlich als Austausch- (= gegenseitiges <strong>Recht</strong>s-) geschäft <strong>de</strong>r Verschaffung<br />

einer Sache (§ 90 BGB = körperlicher Gegenstand) gegen Entgelt. Der Kaufvertrag begrün<strong>de</strong>t schuldrechtliche<br />

Ansprüche i.S.d. § 241 BGB (= For<strong>de</strong>rungen; zur Definition <strong>de</strong>s allgemeinen Begriffs <strong>de</strong>s<br />

Anspruchs s. § 194 Abs. 1 BGB) und ist somit ein Schuldverhältnis.<br />

Die durch <strong>de</strong>n Verkäufer zu erfüllen<strong>de</strong>n kaufvertraglichen Pflichten (§ 433 Abs. 1 S. 1 BGB) bestehen<br />

in <strong>de</strong>r Einräumung <strong>de</strong>s Besitzes (§ 854 BGB = tatsächliche Gewalt) an <strong>de</strong>r Sache und <strong>de</strong>r Übereignung<br />

<strong>de</strong>rselben (z.B. nach § 929 BGB durch Einigung und Übergabe), die <strong>de</strong>s Käufers (§ 433 Abs. 2 BGB)<br />

in <strong>de</strong>r Abnahme <strong>de</strong>r Sache (= Besitzannahme) und Kaufpreiszahlung, d.h. Übereignung <strong>de</strong>s vereinbarten<br />

Entgelts (wie<strong>de</strong>rum nach § 929 BGB).<br />

Als schuldbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Vertrag ist <strong>de</strong>r Kaufvertrag ein sog. Verpflichtungsgeschäft und somit kausal<br />

- <strong>de</strong>shalb Kausalgeschäft - für die zu seiner Erfüllung vorgenommenen Übereignungen (auch als Erfüllungsgeschäft<br />

bezeichnet), die wie<strong>de</strong>rum vertraglicher Art sind. Die Übereignungen zählen zu <strong>de</strong>n<br />

sog. Verfügungsgeschäften, da durch sie auf <strong>de</strong>n Bestand eines <strong>Recht</strong>s, d.h. <strong>Recht</strong>sverhältnisses,<br />

durch Übertragung, Inhaltsän<strong>de</strong>rung, Belastung o<strong>de</strong>r Aufhebung unmittelbar eingewirkt wird.<br />

Im <strong>de</strong>utschen Privatrecht sind Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäfte nicht nur äußerlich voneinan<strong>de</strong>r<br />

getrennt (sog. Trennungsprinzip), vielmehr nach <strong>de</strong>m sog. Abstraktionsprinzip auch inhaltlich<br />

und äußerlich voneinan<strong>de</strong>r unabhängig (abstrakt), d.h. die Verfügungsgeschäfte bedürfen keiner kausalen<br />

Zweckbestimmung und sind auch in ihrem Bestand (= <strong>Recht</strong>swirksamkeit) unabhängig von <strong>de</strong>r<br />

<strong>Recht</strong>swirksamkeit <strong>de</strong>s Kausalgeschäfts.<br />

I. Der Begriff <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sgeschäfts<br />

Das <strong>Recht</strong>sgeschäft ist eine auf die "Hervorbringung einer rechtlichen Wirkung gerichteten Privatwillenserklärung"<br />

(unabhängig davon, ob <strong>de</strong>r bezweckte Erfolg von <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung anerkannt wird;<br />

verneinen<strong>de</strong>nfalls ist das <strong>Recht</strong>sgeschäft unwirksam); vgl. auch Jauernig, BGB, Vor § 104 Rn 1: "eine<br />

private Willensäußerung, die auf die Herbeiführung eines [bestimmten] <strong>Recht</strong>serfolgs gerichtet ist,<br />

und die <strong>de</strong>n Erfolg, weil gewollt und von <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung anerkannt, auch herbeiführt".<br />

Hinweis: <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sgeschäfts wird zwar meist - auch im Gesetz - gleichbe<strong>de</strong>utend mit jenem <strong>de</strong>r Willenserklärung<br />

verwen<strong>de</strong>t, genaugenommen sind aber - wie die Gesetzessystematik zeigt - bei<strong>de</strong> Begriffe zu unterschei<strong>de</strong>n;<br />

je<strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sgeschäft enthält zwar min<strong>de</strong>stens eine Willenserklärung; als tatbestandliche Umschreibung kann ein<br />

<strong>Recht</strong>sgeschäft aber auch mehrere Willenserklärungen o<strong>de</strong>r sogar daneben Vollzugsakte umfassen (so bei <strong>de</strong>m<br />

<strong>Recht</strong>sgeschäft <strong>de</strong>r Übereignung neben <strong>de</strong>r Einigung die Übergabe)<br />

Zur Herbeiführung einer <strong>Recht</strong>sfolge sind neben <strong>de</strong>n tatbestandlichen Voraussetzungen <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sgeschäfts<br />

weitere Wirksamkeitsvoraussetzungen (Geschäftsfähigkeit, Genehmigung, Vertretungsmacht<br />

etc.) erfor<strong>de</strong>rlich.<br />

II. Die Willenserklärung (WE)<br />

a) Objektiver Tatbestand einer Willenserklärung: sinnlich wahrnehmbare Erklärungshandlung; ausdrückliche<br />

Erklärung o<strong>de</strong>r konklu<strong>de</strong>ntes [schlüssiges] Verhalten<br />

b) Subjektiver Tatbestand einer Willenserklärung:<br />

aa) Handlungswille (hinsichtlich <strong>de</strong>r Vornahme einer Erklärungshandlung; dient <strong>de</strong>r Abgrenzung<br />

<strong>de</strong>r Handlung von <strong>de</strong>r Nichthandlung anhand eines menschlichen Steuerungswillens)<br />

bb)Erklärungsbewußtsein o<strong>de</strong>r -wille (Bewußtsein rechtsgeschäftlich erheblichen Verhaltens, d.h.<br />

daß das Verhalten als auf Verwirklichung einer <strong>Recht</strong>sfolge irgendwelchen Inhalts zielend<br />

aufgefaßt wer<strong>de</strong>n kann); Erfor<strong>de</strong>rnis str. im Hinblick auf die Fälle sog. <strong>Recht</strong>sscheinhaftung<br />

cc) <strong>Recht</strong>sfolgenwille, auch Geschäfts- o<strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sbindungswille (Absicht, einen bestimmten<br />

rechtsgeschäftlichen Erfolg herbeizuführen; Erfor<strong>de</strong>rnis str. im Hinblick auf <strong>Recht</strong>smängel<br />

bzw. <strong>Recht</strong>sscheinhaftung)<br />

6<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Nach a.A. ist neben <strong>de</strong>m objektiven Tatbestand nur <strong>de</strong>r Handlungswille unabdingbare subjektive Tatbestandsvoraussetzung<br />

einer WE, Mängel hinsichtlich <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Elemente führen nur zur Nichtigkeit o<strong>de</strong>r Anfechtbarkeit <strong>de</strong>r tatbestandlich<br />

gegebenen Erklärung (tw. wird das Erklärungsbewußtsein mit <strong>de</strong>m <strong>Recht</strong>sfolgenwillen gleichgesetzt und statt<br />

diesem ein Geschäftswille hinsichtlich <strong>de</strong>r konkreten <strong>Recht</strong>sfolge vorausgesetzt, wobei <strong>de</strong>r Geschäftswille als mit <strong>de</strong>m<br />

Erklärungsbewußtsein notwendig verbun<strong>de</strong>n erkannt wird).<br />

III. Das Wirksamwer<strong>de</strong>n von Willenserklärungen<br />

setzt die Abgabe und <strong>de</strong>n Zugang <strong>de</strong>r WE voraus, wobei zu<strong>de</strong>m noch zu unterschei<strong>de</strong>n ist zwischen<br />

empfangsbedürftigen (Regelfall) und nichtempfangsbedürftigen WEen (Ausnahme; z.B. Testament,<br />

Fälle <strong>de</strong>s § 151 BGB):<br />

a) Abgabe <strong>de</strong>r WE<br />

setzt Vollendung <strong>de</strong>r Erklärungshandlung voraus, bei empfangsbedürftigen WEen bedarf es zu<strong>de</strong>m<br />

einer Entäußerung in Richtung auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, d.h. die WE muß mit Willen <strong>de</strong>s Erklären<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rart<br />

in Richtung auf <strong>de</strong>n Empfänger auf <strong>de</strong>n Weg gebracht wer<strong>de</strong>n, daß mit einem Zugang zu rechnen ist<br />

- unter Anwesen<strong>de</strong>n (mündlich, telefonisch) ist dies mit Äußerung bzw. bei schriftlichen WEen mit<br />

Übergabe <strong>de</strong>s Schriftstücks <strong>de</strong>r Fall,<br />

- unter Abwesen<strong>de</strong>n mit Erklärung an Übermittlungsboten und Weisung zur Übermittlung, bei<br />

Schriftstücken mit Absendung (sei es persönlich o<strong>de</strong>r durch eine beauftragte Hilfsperson; Problem<br />

sog. abhan<strong>de</strong>ngekommener WEen)<br />

b) Zugang <strong>de</strong>r WE (erfor<strong>de</strong>rt die Möglichkeit <strong>de</strong>r Kenntnisnahme <strong>de</strong>r WE durch <strong>de</strong>n Adressaten; <strong>de</strong>r<br />

Zugang markiert einen Risikoübergang, nämlich <strong>de</strong>s Risikos <strong>de</strong>r Kenntnisnahme von <strong>de</strong>r Erklärung)<br />

aa) Willenserklärungen unter Abwesen<strong>de</strong>n (§ 130 BGB): wenn sie so in <strong>de</strong>n Herrschaftsbereich<br />

<strong>de</strong>s Adressaten gelangt ist, daß er von ihrem Inhalt Kenntnis nehmen kann, und zwar zu <strong>de</strong>m<br />

Zeitpunkt, in <strong>de</strong>m nach <strong>de</strong>m gewöhnlichen Verlauf mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist<br />

bb)Willenserklärungen unter Anwesen<strong>de</strong>n (nicht im BGB geregelt), hierzu zählen auch die Fälle<br />

<strong>de</strong>r Abgabe gegenüber einem Stellvertreter o<strong>de</strong>r Empfangsboten; i.d.R. fallen Abgabe und Zugang<br />

zusammen, doch können bei <strong>de</strong>m Vernehmen Probleme auftreten (nach <strong>de</strong>r sog. eingeschränkten<br />

Vernehmungstheorie bedarf es <strong>de</strong>r akustisch richtigen Wahrnehmung, nicht aber<br />

inhaltlich richtigen Verstehens); bei Schriftstücken reicht <strong>de</strong>ren Übergabe aus<br />

cc) zum Zugang bei Geschäftsunfähigen bzw. beschränkt Geschäftsfähigen siehe § 131 BGB: grds.<br />

Wirksamkeit <strong>de</strong>r WE erst mit Zugang an <strong>de</strong>n gesetzlichen Vertreter (Ausnahmen bei beschränkt<br />

Geschäftsfähigen, wenn WE diesem lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt bzw.<br />

eine Einwilligung zum fragl. <strong>Recht</strong>sgeschäft erteilt war); bei Gesamtvertretung genügt regelmäßig<br />

<strong>de</strong>r Zugang an einen <strong>de</strong>r Vertreter (für die Eltern s. § 1629 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BGB).<br />

IV. Das Zustan<strong>de</strong>kommen eines Vertrages (vertraglichen Schuldverhältnisses)<br />

Der Vertrag ist ein zweiseitiges <strong>Recht</strong>sgeschäft, das durch übereinstimmen<strong>de</strong> gegenseitige WEen zustan<strong>de</strong>kommt.<br />

a) Entstehung durch Angebot (= Antrag, Offerte) und Annahme, bei<strong>de</strong>s sind einseitige empfangsbedürftige<br />

WEen; ein Vertragsschluß durch "sozialtypisches Verhalten" (sog. faktischer Vertrag)<br />

wird von <strong>de</strong>r ganz h.M. abgelehnt.<br />

b) Abgrenzung <strong>de</strong>s Vertrags zur Gefälligkeit (/rein gesellschaftlichen Beziehungen)<br />

c) Vertragsangebot<br />

- inhaltliche Bestimmtheit (Vollständigkeit), beachte aber die Ergänzungsregeln in §§ 316; 612<br />

Abs. 2; 632 Abs.1, 2 BGB<br />

- Bindungswirkung, § 145 BGB (soweit nicht ausgeschlossen; für die Dauer <strong>de</strong>r Annahmefrist, dazu<br />

unten); Erlöschen, § 146 (mit Ablehnung gegenüber <strong>de</strong>m Antragen<strong>de</strong>n bzw. bei nicht rechtzeitiger<br />

Annahme)<br />

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- Abgrenzung zur bloßen (unverbindlichen) invitatio ad offerendum (= Auffor<strong>de</strong>rung an eine an<strong>de</strong>re<br />

Person, ihrerseits ein Angebot abzugeben), Bsp. Schaufensterauslage; str. Selbstbedienungsla<strong>de</strong>n,<br />

Warenautomat<br />

d) Vertragsannahme<br />

- rechtzeitige Annahme, innerhalb <strong>de</strong>r (allgemeinen) Annahmefrist, § 147 (sofort bzw. - bei Abwesen<strong>de</strong>n<br />

- solange Antragen<strong>de</strong>r unter regelmäßigen Umstän<strong>de</strong>n eine Antwort erwarten darf, d.h. in<br />

angemessener Zeit nach Abgabe) und beson<strong>de</strong>re Annahmefrist, § 148 BGB<br />

- verspätete Annahme = Ablehnung, §§ 150 Abs. 1 (s.a. auch § 149); Annahme unter Abän<strong>de</strong>rung<br />

= Ablehnung + eigenes Angebot, § 150 Abs. 2 BGB<br />

- vereinfachte Annahme, § 151 BGB (ohne Annahmeerklärung gegenüber Antragen<strong>de</strong>n, d.h. Verzicht<br />

auf Zugang, aber zumin<strong>de</strong>st schlüssiges Verhalten erfor<strong>de</strong>rlich, soweit nach <strong>de</strong>r Verkehrssitte<br />

eine Erklärung gegenüber <strong>de</strong>m Antragen<strong>de</strong>n nicht zu erwarten ist o<strong>de</strong>r Antragen<strong>de</strong> hierauf verzichtet<br />

hat)<br />

V. Die Auslegung von <strong>Recht</strong>sgeschäften,<br />

d.h. die Suche <strong>de</strong>r (rechtlich) maßgeblichen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>sselben; dazu §§ 133, 157 BGB<br />

- Auslegung empfangsbedürftiger WEen aus <strong>de</strong>m Empfängerhorizont, nichtempfangsbedürftiger<br />

WEen anhand <strong>de</strong>r (rechtsgeschäftlich relevanten) Umstän<strong>de</strong> bei Abgabe<br />

- falsa <strong>de</strong>monstratio non nocet (= unschädliche Falschbezeichnung)<br />

- Berücksichtigung <strong>de</strong>r Verkehrssitte<br />

- Auslegung nach Treu und Glauben<br />

- bei formbedürftigen Erklärungen gilt die sog. An<strong>de</strong>utungstheorie<br />

3. Geschäftsfähigkeit (insbeson<strong>de</strong>re Min<strong>de</strong>rjährigenrecht)<br />

I. Arten <strong>de</strong>r Geschäftsfähigkeit<br />

Da das rechtsgeschäftliche Han<strong>de</strong>ln (als rechtliches Mittel zum Verfolgen eigener, meist wirtschaftlicher<br />

Ziele unter Inanspruchnahme rechtlich gewährter Handlungsfreiräume) an entsprechen<strong>de</strong><br />

Willenserklärungen anknüpft, ist es geboten, hierfür eine Geschäftsfähigkeit i.S.d. <strong>de</strong>r Fähigkeit zur<br />

eigenverantwortlichen, vernünftigen Willensbildung und somit ein Min<strong>de</strong>stmaß an Urteilsvermögen<br />

vorauszusetzen (Zweck <strong>de</strong>s Vermögensschutzes). Dabei knüpft <strong>de</strong>r Gesetzgeber in §§ 104 ff BGB bei<br />

<strong>de</strong>r Regelung <strong>de</strong>r Geschäftsfähigkeit (also <strong>de</strong>r Fähigkeit, durch die Abgabe o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Empfang von<br />

Willenserklärungen <strong>Recht</strong>sfolgen für sich o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re herbeizuführen, s.o.) weniger an die wirtschaftliche<br />

Vernünftigkeit, <strong>de</strong>nn die allgemeine Fähigkeit <strong>de</strong>r Willensbestimmung an und orientiert<br />

sich bei seiner Abstufung von <strong>de</strong>r Geschäftsunfähigkeit über die beschränkte Geschäftsfähigkeit hin<br />

zur (vollen) Geschäftsfähigkeit u.a. an Altersklassen:<br />

a) Geschäftsunfähigkeit: geschäftsunfähig sind<br />

- Kin<strong>de</strong>r unter 7 Jahren, § 104 Nr. 1 BGB<br />

- Personen mit dauern<strong>de</strong>r Störung <strong>de</strong>r Geistestätigkeit ("wer sich in einem, die freie Willensbestimmung<br />

ausschließen<strong>de</strong>n Zustan<strong>de</strong> krankhafter Störung <strong>de</strong>r Geistestätigkeit befin<strong>de</strong>t, sofern<br />

nicht dieser Zustand seiner Natur nach ein vorübergehen<strong>de</strong>r ist"; § 104 Nr. 2 BGB); beachte, daß<br />

nach § 104 Nr. 2 BGB <strong>de</strong>r an sich Geschäftsunfähige während lichter Augenblicke (lucida<br />

intervalla) wirksame Willenserklärungen abgeben kann<br />

b) gegenständliche (tw. auch: partielle) Geschäftsunfähigkeit: nach h.M. anerkannt für Fälle einer auf<br />

einen bestimmten gegenständlich abgegrenzten Kreis von Angelegenheiten beschränkten Geschäftsunfähigkeit<br />

infolge geistiger Störung i.S.d. § 104 Nr. 2 BGB (z.B. krankhaft Eifersüchtige,<br />

Querulantenwahn)<br />

c) (unbeschränkte) Geschäftsfähigkeit (zum Begriff s.o.): Volljährige (§ 2 und arg. §§ 104, 106<br />

BGB), soweit nicht § 104 Nr. 2 BGB eingreift<br />

8<br />

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d) Teilgeschäftsfähigkeit (tw. auch: partielle Geschäftsfähigkeit) in <strong>de</strong>n Fällen <strong>de</strong>r §§ 112 (sog. Han<strong>de</strong>lsmündigkeit)<br />

und 113 BGB (früher: sog. Arbeitsmündigkeit) auf bestimmte Bereiche <strong>de</strong>s Erwerbslebens<br />

beschränkte volle Geschäftsfähigkeit Min<strong>de</strong>rjähriger<br />

e) beschränkte Geschäftsfähigkeit: Min<strong>de</strong>rjährige von 7 bis 17 Jahren; weitgehend <strong>de</strong>n beschränkt<br />

Geschäftsfähigen gleich stehen Betreute bei Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts (§ 1903<br />

Abs. 1 BGB; aber da hier die §§ 108-113, 131 Abs. 2, 206 BGB nur "entsprechend gelten", liegt<br />

kein Fall beschränkter Geschäftsfähigkeit vor; insbeson<strong>de</strong>re ist § 1903 Abs. 3 BGB zu beachten)<br />

f) relative Geschäftsfähigkeit: wenngleich es grundsätzlich keine auf schwierige Geschäfte beschränkte<br />

Geschäftsunfähigkeit und insofern relative Geschäftsfähigkeit gibt, so können an<strong>de</strong>rerseits<br />

unter Betreuung mit Erlaubnisvorbehalt stehen<strong>de</strong> Betreute, soweit nichts Gegenteiliges<br />

angeordnet ist, nach § 1903 Abs. 3 S. 2 BGB geringfügige Angelegenheiten <strong>de</strong>s täglichen Lebens<br />

(Alltagsgeschäfte) ohne Einwilligung <strong>de</strong>s Betreuers selbständig (wirksam) vornehmen.<br />

II. Folgen <strong>de</strong>r Geschäftsunfähigkeit bzw. beschränkten Geschäftsfähigkeit<br />

Während Geschäftsunfähige selbst keine <strong>Recht</strong>shandlungen vornehmen können (s.u. a)), können beschränkt<br />

Geschäftsfähige zwar rechtsgeschäftlich han<strong>de</strong>ln, ihre Handlungen bedürfen zu ihrem Wirksamwer<strong>de</strong>n<br />

aber regelmäßig <strong>de</strong>r<br />

- vorherigen Zustimmung (= Einwilligung, § 183 S. 1 BGB; beachte, daß die Einwilligung bis zur<br />

Vornahme <strong>de</strong>s zustimmungsbedürftigen <strong>Recht</strong>sgeschäfts bei<strong>de</strong>n Teilen gegenüber grds. frei wi<strong>de</strong>rrufbar<br />

ist)<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

- nachträglichen Zustimmung (= Genehmigung, § 184 Abs. 1 BGB), wobei die Genehmigung grds.<br />

auf <strong>de</strong>n Zeitpunkt <strong>de</strong>r Vornahme <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sgeschäfts zurück wirkt (sog. ex-tunc-Wirkung)<br />

ihres (gesetzlichen) Vertreters. Die Erteilung o<strong>de</strong>r Verweigerung <strong>de</strong>r Zustimmung kann grds. je<strong>de</strong>m<br />

Teil gegenüber (formlos) erklärt wer<strong>de</strong>n, § 182 Abs. 1, 2 BGB (bei Auseinan<strong>de</strong>rfallen <strong>de</strong>r Erklärungspartner<br />

von Einwilligungserklärung [Geschäftspartner] und Wi<strong>de</strong>rruf <strong>de</strong>rselben [Min<strong>de</strong>rjähriger], sind<br />

§§ 170 bis 173 BGB analog anzuwen<strong>de</strong>n).<br />

Den Geschäftsunfähigen betreffen<strong>de</strong> empfangsbedürftige WEen wer<strong>de</strong>n übrigens erst mit Zugang bei<br />

<strong>de</strong>ssen gesetzlichen Vertreter wirksam (§ 131 Abs. 1 BGB, für die Eltern siehe § 1629 Abs. 1 S. 2 Hs.<br />

2 BGB: Zugang bei einem Elternteil genügt).<br />

a) Han<strong>de</strong>ln Geschäftsunfähiger<br />

S Nach § 105 Abs. 1 BGB sind WEen eines Geschäftsunfähigen nichtig (ob diese einheitliche, auch<br />

rechtlich vorteilhafte Geschäfte betreffen<strong>de</strong> Nichtigkeitsanordnung wegen Verstoßes gegen das<br />

Übermaßverbot verfassungswidrig ist, ist str.); ebenso ist ein <strong>Recht</strong>sgeschäft bei "vorübergehen<strong>de</strong>r<br />

Geschäftsunfähigkeit" i.S.v. § 105 Abs. 2 BGB nichtig.<br />

+ Der Geschäftsunfähige kann nur über seinen gesetzlichen Vertreter (Eltern, Vormund, Pfleger;<br />

§§ 1629 Abs. 1, 1793, 1915 Abs. 1 BGB) han<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>r für bestimmte, im Gesetz ausdrücklich genannte<br />

Geschäfte eine Genehmigung <strong>de</strong>s Vormundschaftsgerichts einholen muß.<br />

b) Han<strong>de</strong>ln beschränkt geschäftsfähiger Min<strong>de</strong>rjähriger mit Zustimmung <strong>de</strong>s gesetzlichen Vertreters:<br />

+ Bei (konkreter o<strong>de</strong>r genereller) Einwilligung ist - auch ein einseitiges - <strong>Recht</strong>sgeschäft (grds.) von<br />

Anfang an wirksam (<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Teil kann sich Sicherheit über das Vorliegen einer Einwilligung<br />

verschaffen, s. § 111 S. 2 BGB, § 108 Abs. 2 analog - s.o.), §§ 107, 183 BGB.<br />

+ Bei Genehmigung wird das <strong>Recht</strong>sgeschäft rückwirkend wirksam, §§ 108 Abs. 1, 184 BGB, aber<br />

soweit durch <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Teil eine Erklärungsfrist gesetzt wur<strong>de</strong>, nur bei Genehmigung binnen<br />

<strong>de</strong>r Erklärungsfrist (§ 108 Abs. 2 BGB).<br />

d) Han<strong>de</strong>ln beschränkt geschäftsfähiger Min<strong>de</strong>rjähriger ohne Zustimmung <strong>de</strong>s gesetzl. Vertreters:<br />

+ Begrün<strong>de</strong>t das <strong>Recht</strong>sgeschäft lediglich einen rechtlichen Vorteil (besser: keinen rechtlichen Nachteil),<br />

so bedarf es gar keiner Zustimmung und das <strong>Recht</strong>sgeschäft ist von Anfang an wirksam,<br />

§ 107 BGB.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 9


S<br />

S Bei einseitigen <strong>Recht</strong>sgeschäften sind diese (grds.) von Anfang an unwirksam, § 111 S. 1 BGB<br />

(<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Teil kann sich nach § 111 S. 2 BGB Sicherheit über das Fehlen/Vorliegen einer<br />

Einwilligung verschaffen; analog § 180 S. 2 Alt. 2 BGB kann er aber auch die Genehmigungsfähigkeit<br />

herbeiführen).<br />

+ Hat <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rjährige <strong>de</strong>n Vertrag mit ihm mit Willen <strong>de</strong>s gesetzlichen Vertreters hierzu (o<strong>de</strong>r zu<br />

freier Verfügung) überlassenen Mitteln bewirkt, so "gilt" <strong>de</strong>r Vertrag rückwirkend als wirksam,<br />

§ 110 BGB.<br />

S Bei Auffor<strong>de</strong>rung zur Erklärung über die Genehmigung durch <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Teil (§ 108 Abs. 2<br />

BGB) wird <strong>de</strong>r Vertrag bei (nunmehr) ausstehen<strong>de</strong>r Zustimmung (d.h. Verweigerung <strong>de</strong>r Genehmigung<br />

o<strong>de</strong>r Untätigkeit) rückwirkend unwirksam;<br />

bei fehlen<strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung bleibt <strong>de</strong>r Vertrag schwebend unwirksam, d.h. es entstehen aus ihm<br />

keine Ansprüche.<br />

+ Bei nachträglich erlangter Geschäftsfähigkeit kann <strong>de</strong>r nun Volljährige Verträge selbst genehmigen<br />

o<strong>de</strong>r die Genehmigung verweigern (§ 108 Abs. 3 BGB).<br />

III. Familienrechtliche Regelungen<br />

Kraft ihrer elterlichen Sorge (§ 1626 BGB, sie umfaßt die Personen- und Vermögenssorge) fungieren<br />

(grds.) die Eltern als gesetzliche Vertreter ihrer min<strong>de</strong>rjährigen Kin<strong>de</strong>r, und zwar bei<strong>de</strong> Elternteile gemeinsam<br />

(sog. Gesamtvertretung), § 1629 Abs. 1 BGB. Soweit die Vertretungsmacht nach § 1629 Abs.<br />

2 i.V.m. § 1795 BGB ausgeschlossen ist, ist durch das Vormundschaftsgericht ein Ergänzungspfleger<br />

zu bestellen (§ 1909 BGB). In bestimmten, in § 1643 BGB genannten Fällen bedürfen die <strong>Recht</strong>sgeschäfte<br />

neben <strong>de</strong>r Zustimmung <strong>de</strong>r Eltern noch <strong>de</strong>r vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung (erst mit<br />

<strong>de</strong>ren Mitteilung an <strong>de</strong>n Vertragspartner wird das <strong>Recht</strong>sgeschäft wirksam, § 1829 Abs. 1 BGB).<br />

Zur Vormundschaft siehe §§ 1773, 1793 (Schranken: 1795 ff, 1821 ff), zur Betreuung siehe §§ 1896, 1901 (Schranken:<br />

§§ 1907 ff) BGB.<br />

4. Stellvertretung<br />

I. <strong>Recht</strong>sgeschäftliches Han<strong>de</strong>ln für einen an<strong>de</strong>ren kann erfolgen als<br />

- unmittelbare Stellvertretung (s. §§ 164 ff BGB sowie die gesetzlich typisierten Vollmachten im<br />

Han<strong>de</strong>lsrecht wie Prokura und Handlungsvollmacht, §§ 48 ff HGB), in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> erkennbar<br />

für einen an<strong>de</strong>ren auftritt und das <strong>Recht</strong>sgeschäft abschließt, o<strong>de</strong>r als<br />

- mittelbare "Stellvertretung", in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> im eigenen Namen auftritt und das <strong>Recht</strong>sgeschäft<br />

(als Kommissionär) abschließt, <strong>de</strong>ssen wirtschaftliche Folgen aber einen an<strong>de</strong>ren (<strong>de</strong>n Kommittenten)<br />

treffen sollen (sog. Kommissionsgeschäft, s. §§ 383 ff HGB) - dies ist aber kein Fall <strong>de</strong>r<br />

Stellvertretung im <strong>Recht</strong>ssinne.<br />

Demnach ist (Stell-)Vertretung rechtsgeschäftliches Han<strong>de</strong>ln (Abgabe und Empfang von Willenserklärungen)<br />

im Namen einer an<strong>de</strong>ren und mit Wirkung für diese an<strong>de</strong>re Person (= Vertretener). Als<br />

rechtsgeschäftlich Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r muß <strong>de</strong>r Vertreter (also <strong>de</strong>r Vertreten<strong>de</strong>) zumin<strong>de</strong>st beschränkt<br />

geschäftsfähig sein (§ 165 BGB; unbeschränkte Geschäftsfähigkeit ist insoweit nicht erfor<strong>de</strong>rlich, da<br />

die rechtlichen Folgen allein <strong>de</strong>n Vertretenen nicht aber <strong>de</strong>n Vertreter treffen).<br />

Das rechtsgeschäftliche Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>s Stellvertreters ist abzugrenzen gegen das rein tatsächliche Han<strong>de</strong>ln<br />

(= bloße Übermitteln) von Willenserklärungen durch einen Boten. Dieser überbringt nur eine<br />

bereits fertige, d.h. abschließend - mündlich o<strong>de</strong>r schriftlich - formulierte Willenserklärung eines<br />

an<strong>de</strong>ren an <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren (Erklärungsbote) o<strong>de</strong>r nimmt diese entgegen (Empfangsbote), weshalb die<br />

Botenstellung auch keine Geschäftsfähigkeit <strong>de</strong>s Boten voraussetzt.<br />

Man unterschei<strong>de</strong>t zwei Arten <strong>de</strong>r Stellvertretung, die gewillkürte Stellvertretung und die gesetzliche<br />

Stellvertretung. Während die gewillkürte Stellvertretung durch die rechtsgeschäftliche Erteilung <strong>de</strong>r<br />

Vertretungsmacht, die sog. Vollmacht o<strong>de</strong>r Bevollmächtigung (§ 167 BGB) erfolgt, beruht bei <strong>de</strong>r<br />

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© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


gesetzlichen Stellvertretung die Vertretungsmacht unmittelbar auf <strong>de</strong>m Gesetz o<strong>de</strong>r einer Satzung<br />

einer juristischen Person.<br />

Anwendungsfälle <strong>de</strong>r gesetzlichen Stellvertretung sind z.B. die elterliche Vertretung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r nach § 1629 Abs. 1<br />

BGB als Teil <strong>de</strong>r elterlichen Sorge, <strong>de</strong>r gerichtlich bestellte Vertreter bei Vormundschaft, Betreuung o<strong>de</strong>r Pflegschaft,<br />

§§ 1793, 1896, 1909 BGB; die Vertretung einer Personengesellschaft durch <strong>de</strong>ren vertretungsberechtigte Gesellschafter,<br />

z.B. § 125 HGB; die organschaftliche Stellvertretung bei juristischen Personen (die eben nur durch ihre Organe han<strong>de</strong>ln<br />

können, so daß etwa <strong>de</strong>r Vorstand eines eingetragenen Vereins diesen vertritt, s. § 26 BGB).<br />

II. Die bei<strong>de</strong>n Voraussetzungen für eine wirksame Vertretung - damit die Wirkungen <strong>de</strong>s durch <strong>de</strong>n<br />

(Stell-)Vertreter getätigten <strong>Recht</strong>sgeschäfts auch <strong>de</strong>n Vertretenen treffen - sind nach § 164 BGB:<br />

a) rechtsgeschäftliches Han<strong>de</strong>ln in frem<strong>de</strong>m Namen<br />

- also muß es um rechtsgeschäftliches Han<strong>de</strong>ln gehen, <strong>de</strong>r Bevollmächtigte (= Stellvertreter) muß<br />

eine eigene Willenserklärung abgeben und er muß diese Willenserklärung im Namen <strong>de</strong>s Vertretenen<br />

abgeben -<br />

und<br />

b) Vertretungsmacht<br />

- also muß <strong>de</strong>r Vertretene kraft <strong>Recht</strong>sgeschäfts (= Bevollmächtigung) o<strong>de</strong>r Gesetzes Vertretungsmacht<br />

für das <strong>Recht</strong>sgeschäft haben, das er für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren tätigt; die Vertretungsmacht kann<br />

durch das Gesetz, etwa §§ 180, 181 o<strong>de</strong>r etwa §§ 1629 Abs. 2; 1795 BGB "beschränkt", hiernach<br />

eine Vertretung ausgeschlossen sein.<br />

Das Stellvertretungsrecht wird von <strong>de</strong>m sog. Offenkundigkeitsprinzip beherrscht, d.h. <strong>de</strong>r Umstand,<br />

daß <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> für einen an<strong>de</strong>ren Willenserklärungen abgibt (o<strong>de</strong>r entgegennimmt) muß nach<br />

außen klar erkennbar sein, damit <strong>de</strong>r Geschäftspartner von vornherein wissen kann, wer sein Vertragspartner<br />

ist. Nur wenn <strong>de</strong>m Geschäftsgegner die I<strong>de</strong>ntität seines Vertragspartners gleichgültig ist, kann<br />

unter gewissen Voraussetzungen auf die Offenkundigkeit verzichtet wer<strong>de</strong>n. Deshalb wird nach § 164<br />

Abs. 2 BGB bei fehlen<strong>de</strong>r Erkennbarkeit <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns für einen an<strong>de</strong>ren von einem Han<strong>de</strong>ln im eigenen<br />

Namen ausgegangen (Auslegungsregel), auch wenn <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> sich selbst nicht verpflichten<br />

wollte. Allein bei offenem Han<strong>de</strong>ln für einen an<strong>de</strong>ren, jedoch unter Nichtpreisgabe <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s<br />

Vertretenen, o<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>m Tätigen von Bareinkäufen <strong>de</strong>s täglichen Lebens für einen an<strong>de</strong>ren (also mit<br />

Vertretungsmacht, aber ohne Offenlegung <strong>de</strong>r Stellvertretung), bei <strong>de</strong>nen es <strong>de</strong>m Geschäftsgegner<br />

aber gleichgültig ist, wer sein Vertragspartner ist (sog. Geschäft für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n es angeht), wird eine<br />

Durchbrechung <strong>de</strong>s Offenkundigkeitsprinzips anerkannt, so daß <strong>de</strong>rart gleichwohl unmittelbare<br />

<strong>Recht</strong>sbeziehungen zwischen <strong>de</strong>m Vertretenen und <strong>de</strong>m Geschäftspartner zustan<strong>de</strong>kommen.<br />

Grundsätzlich kein Fall <strong>de</strong>r Stellvertretung ist das Han<strong>de</strong>ln (nicht in, son<strong>de</strong>rn) unter frem<strong>de</strong>m Namen, also das Benutzen<br />

eines frem<strong>de</strong>n Namen bei <strong>de</strong>m Abschluß eines <strong>Recht</strong>sgeschäfts.<br />

III. Die Wirkungen aus <strong>de</strong>m im Wege <strong>de</strong>r Stellvertretung getätigten <strong>Recht</strong>sgeschäft treffen - bei<br />

wirksamer Stellvertretung - allein <strong>de</strong>n Vertretenen. An<strong>de</strong>rs kann dies bei Überschreiten <strong>de</strong>r Vertretungsmacht<br />

o<strong>de</strong>r gar gänzlich fehlen<strong>de</strong>r Vertretungsmacht sein. Grundsätzlich ist ein ohne (wirksame)<br />

Vertretungsmacht geschlossenes <strong>Recht</strong>sgeschäft schwebend unwirksam (§ 177 BGB). d.h. die<br />

<strong>Recht</strong>sfolgen treten noch nicht ein. Das <strong>Recht</strong>sgeschäft kann aber etwa durch die nachträgliche<br />

Zustimmung <strong>de</strong>s Vertretenen (= Genehmigung, siehe dazu § 182 BGB) rückwirkend (§ 184 Abs. 1<br />

BGB) wirksam wer<strong>de</strong>n (bei <strong>de</strong>ren Verweigerung wird es rückwirkend unwirksam). Der Geschäftsgegner<br />

kann diesen für ihn nachteiligen Schwebezustand nach § 177 Abs. 2 BGB been<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m er<br />

<strong>de</strong>n Vertretenen zu einer Erklärung auffor<strong>de</strong>rt. Der Vertreter ohne Vertretungsmacht haftet - bei<br />

erfolgter Verweigerung <strong>de</strong>r Genehmigung durch <strong>de</strong>n Vertretenen - nach § 179 BGB <strong>de</strong>m Geschäftsgegner<br />

auf Scha<strong>de</strong>nsersatz o<strong>de</strong>r Erfüllung, allerdings nur, soweit dieser in seinem berechtigten<br />

Vertrauen auf das Geschäft geschädigt ist.<br />

Beson<strong>de</strong>re Formen einer <strong>Recht</strong>sscheinshaftung bei fehlen<strong>de</strong>r Vertretungsmacht ergeben sich aus <strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>sfiguren <strong>de</strong>r<br />

Duldungsvollmacht (<strong>de</strong>r Vertretene weiß um die Vertretungstätigkeiten <strong>de</strong>s Vertreters, dul<strong>de</strong>t diese aber; ggf. liegt dann<br />

ein Fall konklu<strong>de</strong>nter Bevollmächtigung vor) und <strong>de</strong>r Anscheinsvollmacht (<strong>de</strong>r Vertretene kennt die Vertretungstätigkeit<br />

<strong>de</strong>s Vertreters nicht, hätte diese aber bei gehöriger Sorgfalt erkennen müssen).<br />

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5. Fallbeispiel: "Das Lexikon"<br />

(abgewan<strong>de</strong>lt nach: W. Brehm, Fälle und Lösungen zum Allgemeinen Teil <strong>de</strong>s BGB, Stuttgart, 2. Aufl. 2002, Fall 4, S. 40-49)<br />

Sachverhalt: Der 16jährige V ist Eigentümer eines Lexikons. Weil er es selten benutzt, schließt er am<br />

1.6. mit K einen schriftlichen Kaufvertrag über das Buch ab. Als Kaufpreis vereinbaren V und K 150<br />

Euro. V übergibt das Lexikon gegen Barzahlung an K.<br />

Als V am Abend seinen von <strong>de</strong>m Geschäft erzählt, sind diese damit gar nicht ein<strong>verstan<strong>de</strong>n</strong>, <strong>de</strong>nn V<br />

sollte das Lexikon selbst beim Lernen nutzen, um so seine schlechten Schulnoten zu verbessern.<br />

Aufgaben: I. Welche Ansprüche hat V gegen K?<br />

II. Hat K einen Anspruch auf Rückzahlung <strong>de</strong>s Kaufpreises?<br />

Vorüberlegungen<br />

1. Ansprüche <strong>de</strong>s V gegen K<br />

Um die einschlägigen Anspruchsgrundlagen fin<strong>de</strong>n zu können, macht es Sinn, sich zunächst das Problem <strong>de</strong>s Falles vor<br />

Augen zu führen: Ein Min<strong>de</strong>rjähriger hat etwas verkauft und die Frage ist, ob er die Kaufsache zurückfor<strong>de</strong>rn kann. Wenn<br />

eine Sache auf Grund eines wirksamen Kaufvertrages übergeben und übereignet wird, kann <strong>de</strong>r Verkäufer die Kaufsache<br />

sicher nicht zurückverlangen, <strong>de</strong>nn es gehört zu <strong>de</strong>n wesentlichen Pflichten eines Verkäufers, <strong>de</strong>m Käufer Besitz 1) und<br />

Eigentum an <strong>de</strong>r Sache zu verschaffen (vgl. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB). Eine Rückgabepflicht kommt nur dann in Betracht,<br />

wenn ein Rücktritt vom Kaufvertrag erklärt wur<strong>de</strong> (§ 346 BGB) o<strong>de</strong>r wenn <strong>de</strong>r Kaufvertrag unwirksam ist. Für einen<br />

Rücktritt sind hier keine Grün<strong>de</strong> ersichtlich. Es kommen daher nur Ansprüche in Betracht, die bei Unwirksamkeit <strong>de</strong>s<br />

Vertrages bestehen, und hier Folge <strong>de</strong>r beschränkten Geschäftsfähigkeit Min<strong>de</strong>rjähriger sein können.<br />

Schon bei <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>r Anspruchsgrundlage muß man die schuldrechtliche Ebene von <strong>de</strong>r dinglichen Ebene<br />

streng trennen (Trennungs- und Abstraktionsprinzip). Denkbar ist eine rein schuldrechtliche Abwicklung. Der Anspruch<br />

auf Rückgewähr einer Leistung, die auf Grund eines nichtigen Vertrages erbracht wur<strong>de</strong>, ergibt sich aus § 812 Abs. 1 S.<br />

1 Alt. 1 BGB. Es kommt aber auch ein sachenrechtlicher Herausgabeanspruch in Betracht, wenn nicht nur <strong>de</strong>r Kaufvertrag<br />

(schuldrechtliche Ebene), son<strong>de</strong>rn auch die Übereignung (dingliche Ebene) unwirksam war. Dann wäre V Eigentümer<br />

<strong>de</strong>s Buches geblieben und könnte vom Besitzer (K) die Herausgabe <strong>de</strong>s Buches nach § 985 BGB verlangen. Die bei<strong>de</strong>n<br />

Ansprüche schließen sich gegenseitig nicht aus; sie können nebeneinan<strong>de</strong>r bestehen. Man spricht von einer Anspruchskonkurrenz.<br />

Zu beachten ist allerdings, daß <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Bereicherungsanspruchs nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB davon<br />

abhängt, ob wirksam übereignet wur<strong>de</strong>. Wenn die Übereignung wirksam war, K also das Eigentum erlangt hat, kann V<br />

Rückübereignung verlangen. War die Übereignung dagegen unwirksam, und hat K <strong>de</strong>mnach lediglich Besitz an <strong>de</strong>r Sache<br />

erlangt, so schei<strong>de</strong>t eine Rückübereignung aus - K muß nur <strong>de</strong>n Besitz herausgeben.<br />

2. Anspruch <strong>de</strong>s K auf Rückzahlung <strong>de</strong>s Kaufpreises<br />

Wie<strong>de</strong>r geht es zunächst um das Auffin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r richtigen Anspruchsgrundlage. Das oben Gesagte gilt auch hier insoweit,<br />

als - <strong>de</strong>m Abstraktionsprinzip Rechnung tragend - eine Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sgeschäfte auf<br />

<strong>de</strong>r schuldrechtlichen und <strong>de</strong>r dinglichen Ebene zu treffen ist. Demzufolge kommt auch hier eine geson<strong>de</strong>rte Prüfung <strong>de</strong>r<br />

Ansprüche aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB und § 985 BGB in Betracht, allerdings nun unter umgekehrten Vorzeichen.<br />

Lösung<br />

I. Ansprüche <strong>de</strong>s V gegen K<br />

I.1. Herausgabeanspruch nach § 985 BGB<br />

V hat gegen K einen Anspruch auf Herausgabe <strong>de</strong>s Lexikons nach § 985 BGB, wenn er (noch)<br />

Eigentümer und K (unberechtigter) Besitzer <strong>de</strong>s Buches ist.<br />

a) Ursprünglich war V Eigentümer <strong>de</strong>s Buches.<br />

b) Er könnte sein Eigentum jedoch durch Übereignung <strong>de</strong>s Buches an K verloren haben. Voraussetzung<br />

für die Übereignung einer beweglichen Sache sind nach § 929 S. 1 BGB die Einigung (als<br />

1<br />

12<br />

Umgangssprachlich wird nicht zwischen Besitz und Eigentum unterschie<strong>de</strong>n. Die <strong>Recht</strong>ssprache meint mit Besitz nur<br />

die tatsächliche Gewalt über eine Sache (vgl. § 854 Abs. 1 BGB). Eigentum hingegen bezeichnet das <strong>Recht</strong>, mit einer<br />

Sache nach Belieben verfahren zu können (vgl. § 903 S. 1 BGB). Ver<strong>de</strong>utlicht sei das Auseinan<strong>de</strong>rfallen von Besitz<br />

und Eigentum an folgen<strong>de</strong>n Beispielen: Ein Dieb ist Besitzer <strong>de</strong>r Sache, aber natürlich nicht <strong>de</strong>ren Eigentümer. Ebenso<br />

hat ein Mieter Besitz am Mietobjekt, ist jedoch nicht <strong>de</strong>ssen Eigentümer.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


dingliches <strong>Recht</strong>sgeschäft bestehend aus zwei korrespondieren<strong>de</strong>n Willenserklärungen) und die<br />

Übergabe (als Realakt zur Besitzverschaffung).<br />

aa) V hat <strong>de</strong>m K das Buch übergeben, d.h. an diesem unmittelbaren Besitz verschafft. 2)<br />

bb) Daneben sind sich V und K auch über <strong>de</strong>n Eigentumsübergang einig gewesen.<br />

cc) Die Einigung könnte aber unwirksam sein, weil <strong>de</strong>r V als 16jähriger min<strong>de</strong>rjährig (§ 2 BGB) und<br />

somit nur beschränkt geschäftsfähig ist (§ 106 BGB). Die Willenserklärung eines beschränkt Geschäftsfähigen<br />

bedarf nach § 107 BGB zu ihrer Wirksamkeit <strong>de</strong>r Einwilligung (vgl. § 183 S. 1 BGB)<br />

<strong>de</strong>r gesetzlichen Vertreter, wenn <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rjährige durch ihn nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil<br />

erlangt.<br />

Fraglich ist, ob das Verfügungsgeschäft, nämlich die Übereignung <strong>de</strong>s Buches, für V lediglich<br />

rechtlich vorteilhaft war. Bei <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>s rechtlichen Vorteils ist auf die (unmittelbaren)<br />

rechtlichen Folgen und nicht auf die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit <strong>de</strong>s konkreten Geschäfts<br />

abzustellen. Einen lediglich rechtlichen Vorteil erlangt ein Min<strong>de</strong>rjähriger durch solche <strong>Recht</strong>sgeschäfte,<br />

die seine <strong>Recht</strong>sstellung nur verbessern 3) . Vorliegend verliert V durch die Einigung mit K<br />

sein Eigentumsrecht am Lexikon. Hierin liegt ein rechtlicher Nachteil.<br />

Da auch keine Einwilligung <strong>de</strong>r Eltern als gesetzlicher Vertreter (§§ 1626, 1629 BGB) vorlag und<br />

die Einigung ein (dinglicher) Vertrag ist, hängt nach § 108 Abs. 1 BGB die Wirksamkeit <strong>de</strong>r Einigung<br />

von <strong>de</strong>r Genehmigung (vgl. § 184 Abs. 1 BGB) <strong>de</strong>r Eltern ab.<br />

Die Genehmigung konnte nach § 182 Abs. 1 BGB sowohl <strong>de</strong>m K als auch <strong>de</strong>m V gegenüber erklärt<br />

wer<strong>de</strong>n. Hier haben jedoch die Eltern gegenüber ihrem Sohn ausdrücklich <strong>de</strong>n Verkauf gerügt und ihre<br />

Zustimmung verweigert. 4) Damit wur<strong>de</strong> die Verfügung (Übereignung) nach § 108 Abs. 2 BGB<br />

(nachträglich rückwirkend) unwirksam.<br />

V ist somit Eigentümer <strong>de</strong>s Buches geblieben. 5)<br />

c) K ist Besitzer <strong>de</strong>s Buches, da er die tatsächliche Sachherrschaft inne hat.<br />

d) K dürfte nicht zum Besitz <strong>de</strong>s Buches berechtigt sein (vgl. § 986 BGB). Ein <strong>Recht</strong> zum Besitz<br />

könnte sich hier allenfalls aus <strong>de</strong>m zwischen V und K abgeschlossenen Kaufvertrag ergeben, wenn<br />

dieser wirksam und somit V verpflichtet ist, <strong>de</strong>m K Besitz am Buch zu verschaffen (vgl. § 433 Abs.<br />

1 S. 1 BGB).<br />

Fraglich ist also, ob zwischen V und K ein wirksamer Kaufvertrag zustan<strong>de</strong> gekommen ist. Ein<br />

Kaufvertrag kommt durch zwei korrespondieren<strong>de</strong> Willenserklärungen, Angebot und Annahme (vgl.<br />

§§ 145 BGB), zustan<strong>de</strong>. V und K haben sich darüber geeinigt, daß V <strong>de</strong>m K sein Lexikon zum Preis<br />

von 150 Euro verkauft. Zur Wirksamkeit dieser Willenserklärung <strong>de</strong>s V gilt das zur Übereignung<br />

Gesagte entsprechend: Auch hier han<strong>de</strong>lte es sich bei <strong>de</strong>m Kauf um ein rechtlich nachteiliges <strong>Recht</strong>sgeschäft<br />

eines beschränkt Geschäftsfähigen, weil V eine Verpflichtung zur Übereignung <strong>de</strong>s Buches<br />

einging. Seine Wirksamkeit hängt somit von <strong>de</strong>r Genehmigung durch die Eltern <strong>de</strong>s V ab, die diese<br />

aber - wie oben unter b)cc) gezeigt - letztlich nicht erteilt haben, so daß (auch) <strong>de</strong>r Kaufvertrag zwischen<br />

V und K unwirksam ist.<br />

K hat daher kein <strong>Recht</strong> zum Besitz <strong>de</strong>s Buches.<br />

Ergebnis: V hat (als Eigentümer) gegen (<strong>de</strong>n unberechtigten Besitzer) K einen Anspruch auf Herausgabe<br />

<strong>de</strong>s Lexikons nach § 985 BGB.<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Die Min<strong>de</strong>rjährigkeit <strong>de</strong>s V ist hierfür unerheblich, weil es sich um einen sog. Realakt han<strong>de</strong>lt. Die Vorschriften <strong>de</strong>r<br />

§§ 106 ff. BGB zum Min<strong>de</strong>rjährigenschutz fin<strong>de</strong>n dagegen nur auf <strong>Recht</strong>sgeschäfte und rechtsgeschäftsähnliche Handlungen<br />

Anwendung.<br />

o<strong>de</strong>r für ihn zumin<strong>de</strong>st keinen rechtlichen Nachteil be<strong>de</strong>uten (neutrale Geschäfte)<br />

Bis dahin war dieses Verfügungsgeschäft nach § 108 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam. (Das gleiche gilt übrigens<br />

hier für das zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>, für V rechtlich nachteilige Verpflichtungsgeschäft <strong>de</strong>s [Ver-]Kaufs, das allerdings nicht<br />

nur ein eigenständiges, getrenntes Geschäft neben <strong>de</strong>m Verfügungsgeschäft darstellt [Trennungsprinzip], son<strong>de</strong>rn in<br />

seinem <strong>Recht</strong>sbestand auch von diesem unabhängig ist [Abstraktionsprinzip], mag <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>sgeschäften anhaften<strong>de</strong><br />

<strong>Recht</strong>sfehler <strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n Geschäftsfähigkeit auch <strong>de</strong>rselbe sein.)<br />

Da die entsprechen<strong>de</strong>n Erklärungen alle rückwirken<strong>de</strong> Wirkungen zeigten, ist V in <strong>de</strong>r Tat Eigentümer "geblieben"!<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 13


I.2. Anspruch nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB<br />

V hat gegen K einen Anspruch auf Herausgabe <strong>de</strong>s Buches nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB, wenn<br />

dieser <strong>de</strong>n Besitz an <strong>de</strong>m Buch durch rechtsgrundlose Leistung <strong>de</strong>s V erlangt hat.<br />

a) Eine Leistung ist die gewollte, zweckgerichtete Vermehrung frem<strong>de</strong>n Vermögens. Dabei ist <strong>de</strong>r<br />

Begriff <strong>de</strong>s Vermögens weit zu fassen; auch <strong>de</strong>r Besitz fällt unter das Vermögen. Die Übertragung <strong>de</strong>s<br />

Besitzes durch V war zweckgerichtet, weil er seine Verpflichtung aus <strong>de</strong>m Kaufvertrag erfüllen<br />

wollte. K hat also <strong>de</strong>n Besitz durch Leistung erlangt.<br />

b) Hierfür fehlte wegen <strong>de</strong>r Unwirksamkeit <strong>de</strong>s Kaufvertrages (s.o. I.1.d) <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sgrund.<br />

Ergebnis: Damit ist K nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB verpflichtet, an V das (ohne rechtlichen<br />

Grund durch <strong>de</strong>ssen Leistung) Erlangte, nämlich <strong>de</strong>n Besitz am Lexikon, wie<strong>de</strong>r herauszugeben. 6) Die<br />

Herausgabe <strong>de</strong>s Besitzes erfolgt durch Übergabe <strong>de</strong>s Buches, so daß V die tatsächliche Herrschaftsgewalt<br />

an <strong>de</strong>m Buch erlangt.<br />

II. Anspruch <strong>de</strong>s K auf Rückzahlung <strong>de</strong>s Kaufpreises<br />

II.1. Anspruch nach § 985 BGB<br />

K hat gegen V einen Anspruch auf Herausgabe <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s nach § 985 BGB, wenn er (noch) Eigentümer<br />

und V (unberechtigter) Besitzer <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ist.<br />

a) Ursprünglich war K Eigentümer <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s.<br />

b) Er könnte sein Eigentum jedoch durch Übereignung (§ 929 S. 1 BGB) <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s an V verloren<br />

haben. Voraussetzung für die Übereignung einer beweglichen Sache sind nach § 929 S. 1 BGB Einigung<br />

und Übergabe.<br />

aa) K hat <strong>de</strong>m V das Geld übergeben, d.h. an diesem unmittelbaren Besitz (vgl. § 854 BGB) verschafft.<br />

bb) Daneben sind sich V und K auch über <strong>de</strong>n Eigentumsübergang einig gewesen.<br />

cc) Die Einigung könnte aber unwirksam sein, weil <strong>de</strong>r V als 16jähriger nur beschränkt geschäftsfähig<br />

ist (§ 106 BGB). Die Willenserklärung eines beschränkt Geschäftsfähigen bedarf zu ihrer Wirksamkeit<br />

<strong>de</strong>r Zustimmung <strong>de</strong>r gesetzlichen Vertreter, wenn <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rjährige durch sie nicht lediglich einen<br />

rechtlichen Vorteil erlangt (§§ 107, 108 BGB) 7) . Durch die Übereignung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s erlangt V das<br />

Eigentum(srecht) hieran. Folglich ist die Einigung für V lediglich rechtlich vorteilhaft. Die Einigungserklärung<br />

<strong>de</strong>s V ist somit auch ohne die Einwilligung seiner Eltern nach § 107 BGB wirksam. V ist<br />

Eigentümer <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s gewor<strong>de</strong>n.<br />

Ergebnis: Ein Anspruch <strong>de</strong>s K nach § 985 BGB auf Herausgabe <strong>de</strong>s (Kauf-)Gel<strong>de</strong>s schei<strong>de</strong>t aus.<br />

II.2. Anspruch nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB<br />

K hat gegen V nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB einen Anspruch auf Herausgabe <strong>de</strong>s Eigentums und<br />

<strong>de</strong>s Besitzes am Geld, wenn dieser Eigentum und Besitz hieran durch rechtsgrundlose Leistung <strong>de</strong>s K<br />

erlangt hat.<br />

a) In Vorstellung <strong>de</strong>r Erfüllung <strong>de</strong>s Kaufvertrages leistete K an V 150 Euro. V hat hierdurch nicht nur<br />

<strong>de</strong>n Besitz, son<strong>de</strong>rn - wie soeben gezeigt - auch das Eigentum an <strong>de</strong>m Geld erlangt.<br />

b) Hierfür fehlte wegen <strong>de</strong>r Unwirksamkeit <strong>de</strong>s Kaufvertrages (s.o. I.1.d) <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sgrund.<br />

Ergebnis: Damit ist V nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB verpflichtet, an K das ohne rechtlichen<br />

Grund durch Leistung <strong>de</strong>s V Erlangte - nämlich das Eigentum und <strong>de</strong>n Besitz an <strong>de</strong>m Kaufgeld - an<br />

diesen herauszugeben. Die Herausgabe erfolgt hinsichtlich <strong>de</strong>s Eigentums durch Rückübereignung<br />

nach § 929 S. 1 BGB, die Herausgabe <strong>de</strong>s Besitzes erfolgt durch Übergabe <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s an K.<br />

6<br />

7<br />

14<br />

Die ansonsten bei <strong>de</strong>r Rückabwicklung von gegenseitigen Verträgen zu beachten<strong>de</strong> sog. Saldotheorie (die bei gleichartigen<br />

Leistungen dazu berechtigte, Leistung Zug um Zug zu verlangen) fin<strong>de</strong>t bei Min<strong>de</strong>rjährigen keine Anwendung.<br />

Siehe dazu oben I.1.b)cc).<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Teil II: Grundlagen <strong>de</strong>s Strafrechts<br />

6. Die Straftheorien<br />

Grundlage staatlicher Reaktion auf sozial abweichen<strong>de</strong>s, kriminelles Verhalten ist das sog. Schuldprinzip<br />

(nulla poena sine culpa). Es besagt, daß Strafe Schuld im <strong>Recht</strong>ssinne voraussetzt und die<br />

konkret verhängte Strafe das Maß <strong>de</strong>r - in <strong>de</strong>r Tat zum Ausdruck gekommenen - Schuld nicht übersteigen<br />

darf. Allerdings wür<strong>de</strong> ein allein an <strong>de</strong>r Schuld ausgerichtetes strafrechtliches Sanktionensystem<br />

<strong>de</strong>r Funktion <strong>de</strong>s Strafrechts zur repressiven Ahndung eingetretener <strong>Recht</strong>sverletzungen wie<br />

auch präventiven Vorbeugung künftig eintreten<strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sverletzungen nicht gerecht wer<strong>de</strong>n. Deshalb<br />

ist das <strong>Recht</strong>sfolgensystem <strong>de</strong>s StGB ein zweispuriges, dualistisches System von schuldangemessenen<br />

Strafen (Freiheitsstrafe, Geldstrafe, Fahrverbot [als sog. Nebenstrafe]; §§ 38 ff StGB) und gefährlichkeitsorientierten<br />

Maßregeln (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, Unterbringung<br />

in einer Entziehungsanstalt, Unterbringung in <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung, Führungsaufsicht, Entziehung<br />

<strong>de</strong>r Fahrerlaubnis, Berufsverbot; §§ 61 ff StGB). Während die Strafe, mit <strong>de</strong>r die Schuld <strong>de</strong>s<br />

Täters ausgeglichen wer<strong>de</strong>n soll, durch das Schuldprinzip begrenzt ist und nur in beschränktem Umfang<br />

<strong>de</strong>r Verfolgung präventiver Zwecke dienen kann, wird über die Maßregeln <strong>de</strong>r Besserung und<br />

Sicherung <strong>de</strong>m Interesse <strong>de</strong>r Gesellschaft an <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>r Allgemeinheit vor <strong>de</strong>m gefährlichen Täter<br />

Rechnung getragen. Dabei ist die (zumin<strong>de</strong>st rechtswidrige) Anlaßtat bloßer Anknüpfungspunkt<br />

für die zu verhängen<strong>de</strong> Maßregel, <strong>de</strong>ren Grenzen durch das Übermaßverbot bzw. Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

(§ 62 StGB) gezogen wer<strong>de</strong>n. Neben <strong>de</strong>m unbedingten Strafen sowie Bessern und Sichern<br />

sieht die mo<strong>de</strong>rne Kriminalpolitik noch die bedingte Verurteilung vor, so etwa durch das vorläufige<br />

Absehen von <strong>de</strong>r Erhebung <strong>de</strong>r öffentlichen Klage, (§ 153a StPO), die Aussetzung <strong>de</strong>r Verhängung<br />

<strong>de</strong>r Jugendstrafe im Jugendrecht (§§ 27 ff JGG), die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59 ff StGB),<br />

die Strafaussetzung (auch als Strafrestaussetzung) zur Bewährung (§§ 56-58 StGB) und die Aussetzung<br />

von Maßregeln <strong>de</strong>r Besserung und Sicherung zur Bewährung (§§ 67b, 67c Abs. 1 StGB).<br />

In letzter Zeit wird vielfach überlegt, <strong>de</strong>n Strafen und <strong>de</strong>n Maßregeln <strong>de</strong>r Besserung und Sicherung als<br />

"dritte Spur" <strong>de</strong>s Strafrechts die Wie<strong>de</strong>rgutmachung als neuartige Sanktion zur Seite zu stellen und<br />

im strafrechtlichen Sanktionensystem (weiter) auszubauen (vgl. <strong>de</strong>n durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz<br />

1994 eingeführten Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46a StGB, sowie die Berücksichtigung<br />

<strong>de</strong>r Scha<strong>de</strong>nswie<strong>de</strong>rgutmachung bei <strong>de</strong>r Strafzumessung).<br />

Für die Begründung <strong>de</strong>r Strafe wer<strong>de</strong>n unterschiedliche Straf(zweck)theorien vertreten. Dabei unterschei<strong>de</strong>t<br />

man zwischen absoluten Straftheorien, die - an sich zweckfrei - allein <strong>de</strong>r Vergeltung<br />

dienen, und <strong>de</strong>n relativen Straftheorien, die mit <strong>de</strong>r Strafe einen weiteren Zweck verfolgen, nämlich<br />

<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r (Verbrechens-) Vorbeugung, wofür die Generalprävention sowie die Spezialprävention<br />

stehen. Heute vorherrschend ist die sog. Vereinigungstheorie, die die verschie<strong>de</strong>nen Begründungsansätze<br />

trotz <strong>de</strong>ren Gegensätze (sog. Antinomie <strong>de</strong>r Strafzwecke) miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>t:<br />

Straf(zweck)theorien<br />

+))))))))))))))))))))))2))))))))))))))))))))))),<br />

absolute Straftheorien<br />

relative Straftheorien<br />

* +))))))))))))))))))2)))))))))))))))))),<br />

Vergeltung Spezialprävention Generalprävention<br />

.))))))))))))))))))3))))))))))))))))))-<br />

Vereinigungstheorie<br />

a) Nach <strong>de</strong>m Vergeltungsgedanken soll <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Straftat liegen<strong>de</strong> Verstoß gegen die staatliche Norm<br />

und die Verletzung o<strong>de</strong>r Gefährdung geschützter <strong>Recht</strong>e mit <strong>de</strong>r Strafe ausgeglichen wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Strafe ist hiernach Übelszufügung als ausgleichen<strong>de</strong> Gerechtigkeit (Schuldausgleich; sog. Maßprinzip),<br />

durch sie soll die Schuld <strong>de</strong>s Täters abgegolten und die Tat gesühnt, d.h. Anstoß zur Sühne<br />

gegeben wer<strong>de</strong>n. (Am augenfälligsten ist <strong>de</strong>r Vergeltungsgedanke bei <strong>de</strong>r sog. Talionsstrafe.)<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 15


) Soll die vorbeugen<strong>de</strong> Funktion <strong>de</strong>r Strafe in <strong>de</strong>r Motivation <strong>de</strong>r Allgemeinheit zu rechtstreuem Verhalten<br />

liegen, so spricht man von Generalprävention. Dabei unterschei<strong>de</strong>t man zwischen<br />

- negativer Generalprävention (Abschreckung <strong>de</strong>r Allgemeinheit als Gruppe potentiell zukünftiger<br />

Delinquenten)<br />

und<br />

- positiver Generalprävention (Strafe als Bestätigung <strong>de</strong>s Vertrauens in das Funktionieren <strong>de</strong>r<br />

<strong>Recht</strong>sordnung im Hinblick auf die Normgeltung, die Ablehnung nicht normkonformer Verhaltensmuster<br />

und das Aufzeigen <strong>de</strong>r Sanktion <strong>de</strong>r Normverletzung zwecks Einübens in die Normanerkennung).<br />

c) Grundgedanke <strong>de</strong>r Spezial- o<strong>de</strong>r Individualprävention ist die (erzieherische) Einwirkung auf <strong>de</strong>n<br />

einzelnen Täter durch die Strafe, um so <strong>de</strong>r Begehung weiterer Delikte durch ihn vorzubeugen (Resozialisierung).<br />

Materialien:<br />

Vertreter absoluter Straftheorien waren u.a. Immanuel Kant (1724 - 1804) und Georg Friedrich Wilhelm<br />

Hegel (1770 - 1831), die <strong>de</strong>n Strafgrund allein in <strong>de</strong>r Vergeltung <strong>de</strong>s Verbrechens sahen (daneben<br />

wur<strong>de</strong> sie auch lange von <strong>de</strong>n christlichen Kirchen vertreten, in<strong>de</strong>m sie die Verwirklichung <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit als Gottes Gebot und die Verhängung <strong>de</strong>r Strafe als stellvertreten<strong>de</strong> Vollziehung <strong>de</strong>s<br />

göttlichen Richteramts aufgefaßt haben):<br />

1. Nach Kant, "Die Metaphysik <strong>de</strong>r Sitten" (1797), ist das Strafgesetz ein "kategorischer Imperativ",<br />

ein von allen Zweckerwägungen freies Gebot <strong>de</strong>r Gerechtigkeit. "Richterliche Strafe ... kann niemals<br />

bloß als Mittel, ein an<strong>de</strong>res Gute zu beför<strong>de</strong>rn, für <strong>de</strong>n Verbrecher selbst, o<strong>de</strong>r für die bürgerliche<br />

Gesellschaft, son<strong>de</strong>rn muß je<strong>de</strong>rzeit nur darum wi<strong>de</strong>r ihn verhängt wer<strong>de</strong>n, weil er verbrochen hat."<br />

Kant ver<strong>de</strong>utlicht dies an seinem berühmten Inselbeispiel: "Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft<br />

mit aller Glie<strong>de</strong>r Einstimmung auflösete (z.B. das eine Insel bewohnen<strong>de</strong> Volk beschlösse,<br />

auseinan<strong>de</strong>r zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte <strong>de</strong>r letzte im Gefängnis befindliche<br />

Mör<strong>de</strong>r vorher hingerichtet wer<strong>de</strong>n, damit je<strong>de</strong>rmann das wi<strong>de</strong>rfahre, was seine Taten wert sind, und<br />

die Blutschuld nicht auf <strong>de</strong>m Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als<br />

Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung <strong>de</strong>r Gerechtigkeit betrachtet wer<strong>de</strong>n kann."<br />

2. Ausgehend von seiner Lehre vom "dialektischen Prinzip" begrün<strong>de</strong>t Hegel, "Grundlinien <strong>de</strong>r<br />

Philosophie <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>s" (1821), Strafe wie folgt: Die <strong>Recht</strong>sordnung stellt <strong>de</strong>n "allgemeinen Willen"<br />

dar, gegen welchen sich <strong>de</strong>r - in <strong>de</strong>m Verbrechen zum Ausdruck kommen<strong>de</strong> - "beson<strong>de</strong>re Wille" <strong>de</strong>s<br />

Verbrechers auflehnt (Verbrechen als Negation <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>s), seinerseits aber durch die Strafe (als<br />

Negation dieser Negation) in <strong>de</strong>r sittlichen Überlegenheit <strong>de</strong>r Gemeinschaft aufgehoben wird. "Strafe<br />

ist die Aufhebung <strong>de</strong>s Verbrechens, das sonst gelten wür<strong>de</strong>." "Die Verletzung, die <strong>de</strong>m Verbrecher<br />

wi<strong>de</strong>rfährt, ist nicht nur an sich gerecht, - als gerecht ist sie zugleich sein an sich seien<strong>de</strong>r Wille, ein<br />

Dasein seiner Freiheit, sein <strong>Recht</strong>; ... daß die Strafe darin als sein eigenes <strong>Recht</strong> enthaltend angesehen<br />

wird, darin wird <strong>de</strong>r Verbrecher als Vernünftiges geehrt. Diese Ehre wird ihm nicht zuteil, wenn aus<br />

seiner Tat selbst nicht <strong>de</strong>r Begriff und <strong>de</strong>r Maßstab seiner Strafe genommen wird; ebensowenig auch,<br />

wenn er nur als ein schädliches Tier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei, o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />

Zwecken <strong>de</strong>r Abschreckung und Besserung."<br />

Als Vertreter relativer Straftheorien sind Hugo Grotius (Huigh <strong>de</strong> Groot, 1583 - 1645), Cesare Beccaria,<br />

Marchese <strong>de</strong> Bonesana (1738 - 1794), Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775 - 1833) sowie<br />

Franz von Liszt (1851 - 1919) anzuführen.<br />

3. Grotius griff in seinem Werk "De jure belli ac pacis" (Über das <strong>Recht</strong> <strong>de</strong>s Krieges und <strong>de</strong>s<br />

Frie<strong>de</strong>ns, 1625; hier: lib. II, cap. XX, § 4, 1) zur Formulierung <strong>de</strong>s Grundgedankens aller relativen<br />

Straftheorien auf ein Zitat von Seneca d.J. (- 4 v. Chr. - 65 n. Chr.) zurück, das auf einer von Platon<br />

(427 - 347 v. Chr.) <strong>de</strong>m Sophisten Protagoras (- 485 - 415 v. Chr.) zugeschriebenen klassischen Sentenz<br />

»nemo pru<strong>de</strong>ns punit, quia peccatum est, sed ne peccetur« (= kein kluger Kopf straft, weil gesün-<br />

16<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


digt wor<strong>de</strong>n ist, son<strong>de</strong>rn damit nicht gesündigt wer<strong>de</strong>; De ira, liber I, XIX-7) beruht 8) . Den Vergeltungs<br />

gedanken umschrieb Grotius ebenda (§ 1, 1) mit "malum passionis propter malum actionis".<br />

4. Beccaria, "Die <strong>de</strong>litte e <strong>de</strong>lle pene" (Von <strong>de</strong>n Verbrechen und Strafen, 1764), vereinte die Strafzwecke<br />

von General- und Spezialprävention und begrenzte die Strafgewalt durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip:<br />

"Der Zweck <strong>de</strong>r Strafe kann somit kein an<strong>de</strong>rer als <strong>de</strong>r sein, <strong>de</strong>n Schuldigen daran<br />

zu hin<strong>de</strong>rn, seinen Mitbürgern abermals Scha<strong>de</strong>n zuzufügen, und die an<strong>de</strong>ren davon abzuhalten, das<br />

gleiche zu tun. Diejenigen Strafen also und diejenigen Mittel ihres Vollzugs verdienen <strong>de</strong>n Vorzug,<br />

die unter Wahrung <strong>de</strong>s rechten Verhältnisses zum jeweiligen Verbrechen <strong>de</strong>n wirksamsten und<br />

nachhaltigsten Eindruck in <strong>de</strong>n Seelen <strong>de</strong>r Menschen zurücklassen, für <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Schuldigen<br />

hingegen so wenig qualvoll wie möglich sind."<br />

5. Auf <strong>de</strong>r Grundlage seiner Lehre vom "psychologischen Zwang" gelangt Feuerbach, "Lehrbuch <strong>de</strong>s<br />

gemeinen in Deutschland gültigen <strong>Recht</strong>s", zu einer "Generalprävention durch psychologischen<br />

Zwang", welche die Strafdrohung bewirkt. Der Vollzug <strong>de</strong>r Strafe durch <strong>de</strong>n Staat soll nurmehr die<br />

Ernstlichkeit <strong>de</strong>r Strafdrohung für je<strong>de</strong>rmann sichtbar machen. "Sollen daher solche <strong>Recht</strong>sverletzungen<br />

im Staate verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n; so ist dieses nichts an<strong>de</strong>rs, als durch Anwendung eines psychologischen<br />

Zwanges möglich, welcher <strong>de</strong>r Vollendung einer Läsion vorhergeht, und <strong>de</strong>n Willen Aller<br />

nöthigt sich zu keiner <strong>Recht</strong>sverletzung zu bestimmen." (1. Aufl. 1801, § 15) 9)<br />

6. In seinem sog. Marburger Programm von 1882, "Der Zweckgedanke im Strafrecht" (ZStW Bd. 3<br />

[1883], 1) stellt v. Liszt auf die Spezialprävention als Strafzweck ab: "Die richtige, d.h. die gerechte<br />

Strafe ist die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung <strong>de</strong>s durch <strong>de</strong>n Zweckgedanken<br />

erfor<strong>de</strong>rten Strafmaßes... Das völlige Gebun<strong>de</strong>nsein <strong>de</strong>r Strafgewalt durch <strong>de</strong>n Zweckgedanken<br />

ist das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r strafen<strong>de</strong>n Gerechtigkeit." Aufgabe <strong>de</strong>s Strafrechts ist es danach, <strong>de</strong>n nicht<br />

besserungsbedürftigen Gelegenheitstäter durch einen "Denkzettel" aufzurütteln, um ihn vor weiteren<br />

Straftaten abzuschrecken, <strong>de</strong>n besserungsfähigen Zustandsverbrecher durch Erziehung im Strafvollzug<br />

zu resozialisieren, <strong>de</strong>n unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher durch "Strafknechtschaft" auf<br />

unbestimmte Zeit unschädlich zu machen. "Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung: Das sind<br />

<strong>de</strong>mnach die unmittelbaren Wirkungen <strong>de</strong>r Strafe, die in ihr liegen<strong>de</strong>n Triebkräfte, durch die sie <strong>de</strong>n<br />

Schutz <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sgüter bewirkt."<br />

7. Für die herrschen<strong>de</strong> Vereinigungstheorie (s.a. § 46 StGB) seien zwei Entscheidungen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgerichtshofs<br />

angeführt:<br />

"Dem 1. Strafrechtsreformgesetz liegt <strong>de</strong>r Gedanke zugrun<strong>de</strong>, daß die Strafe nicht die Aufgabe hat,<br />

Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben, son<strong>de</strong>rn nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich<br />

als notwendiges Mittel zur Erfüllung <strong>de</strong>r präventiven Schutzaufgabe <strong>de</strong>s Strafrechts erweist. Einen<br />

wesentlichen Akzent hat <strong>de</strong>r Gesetzgeber durch die Aufnahme <strong>de</strong>r spezialpräventiven Klausel als Ziel<br />

<strong>de</strong>s Strafzumessungsvorgangs in § 13 Abs. 1 Satz 2 StGB [jetzt: § 46 Abs. 1 Satz 2] gesetzt." (BGHSt<br />

24, 40 [42])<br />

"Das Erste Strafrechtsreformgesetz hält an <strong>de</strong>m System <strong>de</strong>r Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel<br />

fest. Der Schuldgrundsatz, nunmehr ausdrücklich im Gesetz verankert (§ 13 Abs. 1 Satz 1 StGB [jetzt:<br />

§ 46 Abs. 1 Satz 1]), gebietet, klar zwischen <strong>de</strong>n Aufgaben <strong>de</strong>r Strafe und <strong>de</strong>r Maßregel zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Grundlage für die Zumessung <strong>de</strong>r Strafe ist die Schuld <strong>de</strong>s Täters. Von ihrer Bestimmung<br />

als gerechter Schuldausgleich darf sich die Strafe we<strong>de</strong>r nach oben noch nach unten inhaltlich lösen."<br />

(BGHSt 24, 132 [133 f])<br />

8<br />

9<br />

"Wer auf vernünftige Weise zu strafen ge<strong>de</strong>nkt, <strong>de</strong>r züchtigt nicht wegen <strong>de</strong>s schon begangenen Unrechts ...., son<strong>de</strong>rn<br />

um <strong>de</strong>s zukünftigen willen, damit hinfort we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Täter selbst wie<strong>de</strong>r das Unrecht begehe, noch auch die an<strong>de</strong>ren,<br />

welche sehen, wie er bestraft wird" (Plato, Protagoras).<br />

"Sollen daher <strong>Recht</strong>sverletzungen überhaupt verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, so muss neben <strong>de</strong>m physischen Zwange noch ein<br />

an<strong>de</strong>rer bestehen, welcher <strong>de</strong>r Vollendung <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sverletzung vorhergeht, und, vom Staate ausgehend, inje<strong>de</strong>m einzelnen<br />

Falle in Wirklichkeit tritt, ohne dass dazu die Erkenntniss <strong>de</strong>r jetzt bevorstehen<strong>de</strong>n Verletzung vorausgesetzt<br />

wird. Ein solcher Zwang kann nur ein psychologischer sein." (14. Aufl. 1847, hrsg. v. Mittermaier)<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 17


7. Materieller Verbrechensbegriff <strong>de</strong>s Strafrechts (sog. Straftatsystem)<br />

Im Mittelpunkt <strong>de</strong>r Kriminalwissenschaften steht das Verbrechen o<strong>de</strong>r die Straftat: ein menschliches<br />

Verhalten, das die <strong>Recht</strong>sordnung mit Strafe bedroht (sog. materieller Verbrechensbegriff). In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

(materielle) Verbrechensbegriff abstrakt die Wesensmerkmale <strong>de</strong>s Verbrechens umschreibt, umfaßt er<br />

zugleich <strong>de</strong>ssen dogmatische Grundstruktur und gibt <strong>de</strong>n sog. "Aufbau" einer Straftat vor, also die Abfolge<br />

<strong>de</strong>r einzelnen Prüfungsschritte, die bei <strong>de</strong>r gutachtlichen Beurteilung, ob ein menschliches Verhalten<br />

strafbar ist, einzuhalten sind. Nach vorherrschen<strong>de</strong>r Ansicht ist <strong>de</strong>r Verbrechensbegriff ein dreistufiger:<br />

Er unterglie<strong>de</strong>rt sich in <strong>de</strong>n Tatbestand, die <strong>Recht</strong>swidrigkeit - zusammen machen sie das Unrecht<br />

<strong>de</strong>r Tat aus (= Nichtübereinstimmung mit <strong>de</strong>n Sollensnormen <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung) - und die<br />

Schuld (= persönliche Vorwerfbarkeit <strong>de</strong>s begangenen Unrechts). Der Verbrechensaufbau stellt sich<br />

nach h.M. somit wie folgt dar:<br />

Tatbestand<br />

———————— Unrecht<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

————————————————<br />

Schuld<br />

Vorwerfbarkeit<br />

I. Der Tatbestand<br />

Das tatbestandliche Unrecht wird durch die äußeren (= objektiven) und inneren (= subjektiven) Tatbestandsmerkmale<br />

umschrieben. Sie dienen <strong>de</strong>r Kennzeichnung <strong>de</strong>s strafwürdigen Erfolgs- bzw.<br />

Handlungsunwerts, das <strong>de</strong>r Täter durch die Verletzung o<strong>de</strong>r Gefährdung <strong>de</strong>s Handlungsobjekts bzw.<br />

durch die Art und Weise seines Angriffs auf das Handlungsobjekt verwirklicht hat.<br />

a) Als objektive Tatbestandsmerkmale o<strong>de</strong>r Tatbildmerkmale bezeichnet man diejenigen Umstän<strong>de</strong>,<br />

die das äußere Erscheinungsbild <strong>de</strong>r Tat bestimmen; sie können tat- o<strong>de</strong>r täterbezogen sein. Neben <strong>de</strong>liktstypischen<br />

Merkmalen sind dies solche zur Umschreibung <strong>de</strong>s Tat-/Handlungssubjekts, <strong>de</strong>s Tatobjekts,<br />

<strong>de</strong>r Tathandlung einschließlich beson<strong>de</strong>rer Begehungsweisen, <strong>de</strong>s Tatmittels und sonstiger Tatmodalitäten<br />

sowie bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten <strong>de</strong>r Eintritt eines bestimmten Taterfolgs 10) nebst <strong>de</strong>r Kausalität<br />

11) zwischen Tathandlung und Erfolg und <strong>de</strong>r objektiven Zurechenbarkeit 12) <strong>de</strong>s verursachten Erfolgs.<br />

b) Subjektive Tatbestandsmerkmale als Unrechtsmerkmale fin<strong>de</strong>n sich unter an<strong>de</strong>rem bei <strong>de</strong>n Absichts-<br />

und <strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nz<strong>de</strong>likten. Nach heute vorherrschen<strong>de</strong>r Ansicht gehört bei <strong>de</strong>n Vorsatz<strong>de</strong>likten<br />

auch <strong>de</strong>r (Tatbestands-)Vorsatz zum subjektiven Unrechtstatbestand (abweichend die sog. kausale<br />

Handlungslehre, die in <strong>de</strong>m Vorsatz ein Schuldmerkmal sieht).<br />

Vorsatz ist <strong>de</strong>r Wille zur Verwirklichung eines gesetzlichen Straftatbestands (Wollensseite) in<br />

Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstän<strong>de</strong> (Wissensseite), ausreichend ist dabei das sachgedankliche<br />

Mitbewußtsein von <strong>de</strong>r Tatbildverwirklichung. Er muß sich, wenn auch nur in laienhafter<br />

Parallelwertung, auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale erstrecken. Vorsatzformen sind:<br />

Absicht (dolus directus 1. Gra<strong>de</strong>s; "darauf ankommen"), direkter Vorsatz/Wissentlichkeit (dolus<br />

directus 2. Gra<strong>de</strong>s; sicheres Wissen) und bedingter Vorsatz (dolus eventualis; "in Kauf nehmen und<br />

sich abfin<strong>de</strong>n mit").<br />

10<br />

11<br />

12<br />

18<br />

Der Erfolg kann bestehen in einem Verletzungserfolg (z.B. §§ 212, 223, 242, 303 StGB), einem konkreten Gefährdungserfolg<br />

(z.B. §§ 221, 315-315d StGB) o<strong>de</strong>r einem abstrakten Gefährdungserfolg (z.B. §§ 306a Abs. 1, 316 StGB).<br />

Zur Beurteilung <strong>de</strong>s Kausalzusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg wird überwiegend auf die condicio-sinequa-non-Formel<br />

("Ursächlich ist je<strong>de</strong> Bedingung, die nicht hinweggedacht wer<strong>de</strong>n kann, ohne daß <strong>de</strong>r Erfolg in seiner<br />

konkreten Gestalt entfiele.") <strong>de</strong>r Äquivalenztheorie bzw. Bedingungstheorie abgestellt.<br />

Als Zurechnungskorrektiv <strong>de</strong>r weiten condicio-sine-qua-non-Formel dient die sog. Lehre von <strong>de</strong>r objektiven Zurechnung<br />

("Hat sich in <strong>de</strong>m konkreten, voraussehbaren und vermeidbaren Erfolg die von <strong>de</strong>m Täter geschaffene, rechtlich<br />

mißbilligte Gefahr realisiert?").<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


II. Die <strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

Die <strong>Recht</strong>swidrigkeit einer Tat ist grundsätzlich durch die Verwirklichung <strong>de</strong>s Unrechtstatbestands<br />

indiziert. Den generellen, <strong>de</strong>m Schutz eines bestimmten <strong>Recht</strong>sguts dienen<strong>de</strong>n Gebots- und Verbotsnormen<br />

stehen jedoch mit <strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong>n Erlaubnissätze gegenüber, die im Einzelfall<br />

das durch die Erfüllung <strong>de</strong>s gesetzlichen Tatbestands verwirklichte Handlungs- und Erfolgsunrecht<br />

aufheben, das rechtsgutsverletzen<strong>de</strong> Verhalten gestatten o<strong>de</strong>r gar gebieten. Als Gegenstück zu <strong>de</strong>m<br />

Unrechtstatbestand bezeichnet man die <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong> auch als Erlaubnistatbestän<strong>de</strong> (die<br />

Lehre von <strong>de</strong>n negativen Tatbestandsmerkmalen rechnet <strong>de</strong>shalb die <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong> als<br />

negative Tatbestandsmerkmale <strong>de</strong>m [Gesamtunrechts-] Tatbestand zu). Nach vorherrschen<strong>de</strong>r Ansicht<br />

enthalten die <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong> neben ihren objektiven Voraussetzungen zur Umschreibung <strong>de</strong>r<br />

<strong>Recht</strong>fertigungslage und <strong>Recht</strong>fertigungshandlung auch ein subjektives <strong>Recht</strong>fertigungselement, <strong>de</strong>n<br />

sog. <strong>Recht</strong>fertigungswillen: Um <strong>de</strong>n Handlungs- und Erfolgsunwert <strong>de</strong>r Tat auszugleichen, muß <strong>de</strong>r<br />

Täter in Kenntnis <strong>de</strong>r rechtfertigen<strong>de</strong>n Situation und aufgrund <strong>de</strong>r ihm durch die <strong>Recht</strong>sordnung<br />

verliehenen Befugnisse han<strong>de</strong>ln (str., insbeson<strong>de</strong>re ob dies für alle <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong> gilt).<br />

Einige Deliktstatbestän<strong>de</strong> erfor<strong>de</strong>rn ausdrücklich ein "rechtswidriges" Han<strong>de</strong>ln. Hierbei kann<br />

es sich um einen (überflüssigen) Hinweis auf das allgemeine Verbrechensmerkmal <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

han<strong>de</strong>ln, aber auch um ein echtes Tatbestandsmerkmal. Wird <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r<br />

"<strong>Recht</strong>swidrigkeit" als Attribut eines einzelnen Tatbestandsmerkmals verwen<strong>de</strong>t, dann ist er<br />

echtes Tatbestandsmerkmal, so z.B. die <strong>Recht</strong>swidrigkeit <strong>de</strong>r Zueignung beim Diebstahl (§ 242<br />

StGB). Bezieht sich <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r "<strong>Recht</strong>swidrigkeit" hingegen auf die Bewertung <strong>de</strong>r Gesamttat,<br />

wie z.B. bei <strong>de</strong>r Sachbeschädigung (§ 303 StGB), so han<strong>de</strong>lt es sich um einen bloßen<br />

Hinweis auf das allgemeine Verbrechensmerkmal <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>swidrigkeit (quasi zur Erinnerung,<br />

das Eingreifen von <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong>n zu prüfen).<br />

<strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong> können entsprechend <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>r Einheit und Wi<strong>de</strong>rspruchsfreiheit <strong>de</strong>r<br />

<strong>Recht</strong>sordnung <strong>de</strong>r gesamten <strong>Recht</strong>sordnung entnommen wer<strong>de</strong>n, wobei neben <strong>de</strong>n gesetzlichen auch<br />

gewohnheitsrechtliche <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong> in Betracht kommen:<br />

- Notwehr, §§ 32 StGB, 227 BGB, 15 OWiG<br />

- erlaubte Selbsthilfe, §§ 229, 562b, 859, 1029 BGB<br />

- (zivilrechtlicher) <strong>de</strong>fensiver, § 228 BGB, o<strong>de</strong>r aggressiver Notstand, § 904 BGB<br />

- allgemeiner rechtfertigen<strong>de</strong>r Notstand, §§ 34 StGB, 16 OWiG<br />

- rechtfertigen<strong>de</strong> Pflichtenkollision (str.)<br />

- rechtfertigen<strong>de</strong> Einwilligung (arg. § 228 StGB) und mutmaßliche Einwilligung<br />

[-erlaubtes Risiko, nach h.M. kein <strong>Recht</strong>fertigungsgrund, son<strong>de</strong>rn Frage <strong>de</strong>r Erfolgszurechnung]<br />

- Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen, § 193 StGB<br />

- Indikationenregelungen beim Schwangerschaftsabbruch, § 218a StGB<br />

- (elterliches) Züchtigungsrecht (Anerkennung zunehmend fraglich, vgl. § 1631 BGB)<br />

- Je<strong>de</strong>rmann-Festnahmerechte (Flagranzfestnahme), § 127 Abs. 1 StPO<br />

- Amtsbefugnisse und Dienstrechte, z.B. §§ 81 ff StPO, 87 StVollzG, 758, 808, 909 ZPO<br />

- Han<strong>de</strong>ln auf [rechtmäßige] Weisung (Anordnung o<strong>de</strong>r Befehl)<br />

- behördliche Erlaubnis<br />

- Wi<strong>de</strong>rstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG<br />

Die <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong> beruhen teils auf <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s überwiegen<strong>de</strong>n (Eingriffs-) Interesses<br />

gegenüber <strong>de</strong>m (Erhaltungs-) Interesse am Schutz <strong>de</strong>s verletzten <strong>Recht</strong>sguts (so bei <strong>de</strong>r Notwehr und<br />

<strong>de</strong>m Notstand) und teils auf <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s mangeln<strong>de</strong>n Interesses am Strafrechtsschutz (so bei <strong>de</strong>r<br />

[mutmaßlichen] Einwilligung). Hinzu treten an<strong>de</strong>re Gesichtspunkte wie die <strong>Recht</strong>sbewährung, die<br />

Erfor<strong>de</strong>rlichkeit, die Verhältnismäßigkeit, die Freiheitsgarantie und die "Zuordnung <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sgüter<br />

zur Autonomie <strong>de</strong>s einzelnen".<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 19


III. Schuld<br />

Nach <strong>de</strong>m gelten<strong>de</strong>n Schuld- o<strong>de</strong>r Verantwortungsprinzip (nulla poena sine culpa) setzt Strafe die<br />

Schuld <strong>de</strong>s Täters voraus (an<strong>de</strong>rs die an <strong>de</strong>r Sozialgefährlichkeit <strong>de</strong>s Täters ausgerichteten Maßregeln<br />

<strong>de</strong>r Besserung und Sicherung). Der Schuldvorwurf knüpft daran an, daß sich in <strong>de</strong>r Tat eine fehlerhafte<br />

Einstellung <strong>de</strong>s Täters zu <strong>de</strong>n Verhaltensanfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung ausdrückt (Gesinnungsunwert).<br />

Nämlich, daß <strong>de</strong>r Täter sich in <strong>de</strong>r Tatsituation nicht an <strong>de</strong>n sozialethisch verpflichten<strong>de</strong>n<br />

Normen und Wertvorstellungen <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung ausrichtete, obwohl er hierzu bei Anspannung seiner<br />

Verstan<strong>de</strong>skräfte in <strong>de</strong>r Lage gewesen wäre (Vorwerfbarkeit <strong>de</strong>r Willensbildung und -betätigung).<br />

Der hierbei erhobene strafrechtliche Schuldvorwurf ist ein normativer und kein sittlich-moralischer.<br />

Voraussetzung strafrechtlicher Schuld sind die Schuldfähigkeit, ggf. spezielle gesetzliche Schuldmerkmale<br />

(ihre Anerkennung ist umstritten, teilweise wer<strong>de</strong>n in ihnen subjektive Tatbestandsmerkmale gesehen)<br />

sowie - als Merkmale persönlicher Vorwerfbarkeit - die Schuldform (sog. Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsschuld),<br />

das Unrechtsbewußtsein und (negativ) das Fehlen von Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n.<br />

Begrifflich unterschei<strong>de</strong>t man zwischen Schuldmin<strong>de</strong>rungsgrün<strong>de</strong>n, Schuldausschließungsgrün<strong>de</strong>n<br />

(bei ihrem Vorliegen fehlt es an einer Schuldvoraussetzung bzw. an einem schuldbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Merkmal)<br />

und <strong>de</strong>n Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n (sie bewirken nur eine wesentliche Herabsetzung <strong>de</strong>s Unrechts-<br />

und Schuldgehalts <strong>de</strong>r Tat, so daß die <strong>Recht</strong>sordnung angesichts <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Motivationslage<br />

auf die Erhebung eines Schuldvorwurfs und somit auf Strafe verzichtet):<br />

Schuldausschließungs- o<strong>de</strong>r -min<strong>de</strong>rungsgrün<strong>de</strong><br />

- Schuldunfähigkeit, §§ 19, 20 StGB<br />

- bedingte Schuldfähigkeit Jugendlicher nach § 3 JGG<br />

- vermin<strong>de</strong>rte Schuldfähigkeit, § 21 StGB<br />

- direkter Verbotsirrtum, § 17 StGB<br />

- indirekter Verbotsirrtum/Erlaubnisirrtum, § 17 StGB<br />

Entschuldigungsgrün<strong>de</strong><br />

- entschuldigen<strong>de</strong>r Notstand, § 35 StGB (mit Nötigungs-/Befehlsnotstand)<br />

- übergesetzlicher Entschuldigungsgrund (Pflichtenkollision)<br />

- intensiver Notwehrexzeß, § 33 StGB<br />

- Han<strong>de</strong>ln auf unverbindliche, rechtswidrige Weisung (Anordnung/Befehl), §§ 56 Abs. 2 Satz 3 BBG,<br />

38 Abs. 2 Satz 2 BRRG, 5 Abs. 1 WStG<br />

IV. Weitere Prüfungsstationen<br />

Neben die vorgenannten Aufbaustufen <strong>de</strong>s Verbrechens treten weitere Prüfungsstationen, die in nachfolgen<strong>de</strong>m<br />

Aufbauschema unberücksichtigt bleiben. Es sind dies die (regelmäßig bloße gedankliche)<br />

Vorprüfung<br />

! <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>s anzuwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Strafrechts nach <strong>de</strong>n Regeln <strong>de</strong>s Internationalen Strafrechts<br />

(Grundlage ist das Tatortprinzip; §§ 3-7, 9 StGB) bzw. <strong>de</strong>s interlokalen Strafrechts (Grundlage ist<br />

auch hier das Tatortprinzip; beachte Art. 315 EGStGB),<br />

! die (negative) Prüfung <strong>de</strong>s Vorliegens einer "Handlung" im strafrechtlichen Sinne (= willensbeherrschbares<br />

menschliches Verhalten; vgl. dazu die kausale Handlungslehre, die finale Handlungslehre<br />

und die soziale Handlungslehre)<br />

Keine Handlung liegt vor bei: Reflexbewegungen (abzugrenzen gegen: automatisierte Handlungen;<br />

Affekt-, Kurzschluß- o<strong>de</strong>r Impulsreaktionen; Fehl- o<strong>de</strong>r Spontanreaktionen [str. für rein instinktive<br />

Schreckreaktionen im Straßenverkehr]), Bewegungen von Bewußtlosen und Schlafen<strong>de</strong>n sowie bei<br />

einem Verhalten unter vis absoluta (= willensausschließen<strong>de</strong> absolute Gewalt)<br />

! die Abgrenzung von positivem Tun und Unterlassen (erfolgt nach h.M. danach, wo bei normativer<br />

Betrachtung und bei Berücksichtigung <strong>de</strong>s sozialen Handlungssinns <strong>de</strong>r Schwerpunkt <strong>de</strong>r Vorwerfbarkeit<br />

eines strafrechtlich relevanten Verhaltens liegt), entsprechend erfolgt <strong>de</strong>r Deliktsaufbau<br />

nach <strong>de</strong>n Regeln <strong>de</strong>s Begehungs- o<strong>de</strong>r Unterlassungs<strong>de</strong>likts.<br />

20<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Auf die Tatbestandsprüfung folgt bei einigen Delikten noch ein<br />

! sog. Tatbestandsannex mit <strong>de</strong>n objektiven Bedingungen <strong>de</strong>r Strafbarkeit (sie gehören zwar zu <strong>de</strong>n<br />

materiellen Voraussetzungen <strong>de</strong>r Strafbarkeit, aber nicht zu <strong>de</strong>m Unrechtstatbestand und damit<br />

muß sich auch <strong>de</strong>r Tatbestandsvorsatz auf sie nicht erstrecken),<br />

und an die Schuldprüfung schließen sich gegebenenfalls an die Prüfung<br />

! <strong>de</strong>s Eingreifens persönlicher Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong> (z.B. <strong>de</strong>r Rücktritt<br />

vom Versuch, § 24 StGB),<br />

! <strong>de</strong>r Verwirklichung von sog. Regelbeispielen (bei <strong>de</strong>nen es sich zwar um Strafzumessungsgrün<strong>de</strong><br />

han<strong>de</strong>lt, die aber in objektiver wie subjektiver Hinsicht ebenso wie Tatbestandsmerkmale festzustellen<br />

sind)<br />

und<br />

! <strong>de</strong>s Vorliegens von Strafverfolgungsvoraussetzungen (= positive Prozeßvoraussetzungen; z.B. <strong>de</strong>r<br />

Strafantrag, § 77 StGB) bzw. <strong>de</strong>s Fehlens von Strafverfolgungs-/Prozeßhin<strong>de</strong>rnissen (= negative<br />

Prozeßvoraussetzungen).<br />

V. Der Aufbau <strong>de</strong>s vollen<strong>de</strong>ten vorsätzlichen Begehungs<strong>de</strong>likts (Erfolgs<strong>de</strong>likt - Grundschema)<br />

Ausführliche Aufbauschemata zum Strafrecht fin<strong>de</strong>n sich im Anhang dieses Skripts.<br />

I. Tatbestand: Erfüllt das Verhalten <strong>de</strong>s Täters die äußeren (objektiven) und inneren (subjektiven)<br />

Voraussetzungen (= Tatbestandsmerkmale), die das Strafgesetz zur Umschreibung <strong>de</strong>s strafwürdigen<br />

Erfolgs- bzw. Handlungsunwerts aufstellt?<br />

1. Objektiver Tatbestand (= Tatbild)<br />

a) Eintreten <strong>de</strong>s tatbestandlichen Erfolgs<br />

b) aufgrund einer tatbestandsmäßigen Handlung,<br />

c) wobei zwischen <strong>de</strong>r Handlung und <strong>de</strong>m (<strong>de</strong>m Täter objektiv zurechenbaren) Erfolg eine<br />

Kausalitätsbeziehung bestehen muß.<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

a) Tatbestandsvorsatz (vgl. § 16 StGB) hinsichtlich <strong>de</strong>r Verwirklichung <strong>de</strong>s objektiven Tatbestands<br />

b) ggf. beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale<br />

II. <strong>Recht</strong>swidrigkeit: Greift mit einem <strong>Recht</strong>fertigungsgrund (z.B. Notwehr, § 32 StGB) ausnahmsweise<br />

ein Erlaubnissatz ein, so daß <strong>de</strong>r an sich durch die Tatbestandsverwirklichung indizierte<br />

Unrechtsvorwurf entfällt?<br />

1. <strong>Recht</strong>fertigungslage (<strong>de</strong>n tatbestandlichen Voraussetzungen <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>fertigung, z. B. gegenwärtiger<br />

rechtswidriger Angriff bei § 32 StGB)<br />

2. <strong>Recht</strong>fertigungshandlung (z.B. die erfor<strong>de</strong>rliche und gebotene Verteidigung bei § 32 StGB)<br />

3. <strong>Recht</strong>fertigungswille (als subjektives <strong>Recht</strong>fertigungselement, z.B. <strong>de</strong>r Verteidigungswille<br />

bei § 32 StGB)<br />

III. Schuld: Ist die Tat Ausdruck einer fehlerhaften Einstellung <strong>de</strong>s Täters zu <strong>de</strong>n Verhaltensanfor<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung (Gesinnungsunwert)?<br />

a) Schuldfähigkeit (fehlt z.B. bei strafunmündigen Kin<strong>de</strong>rn, § 19 StGB)<br />

b) Unrechtsbewußtsein (sog. Verbotsirrtum, § 17 StGB; d.h. verkennt <strong>de</strong>r Täter das Verbotensein<br />

<strong>de</strong>r Tat?)<br />

c) Entschuldigungsgrün<strong>de</strong> (z.B. entschuldigen<strong>de</strong>r Notstand, § 35 StGB: Ist die tatbestandsmäßige<br />

und rechtswidrige Tat ausnahmsweise wegen Vorliegens einer beson<strong>de</strong>ren Notstandssituation,<br />

die einen Schuldvorwurf gegenüber <strong>de</strong>m Täter nicht "rechtfertigt", entschuldigt?)<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 21


8. Einzelne Straftatbestän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Beson<strong>de</strong>ren Teil <strong>de</strong>s Strafgesetzbuches<br />

I. Mord und Totschlag, §§ 211, 212 StGB<br />

Deliktsaufbau (ausgehend von <strong>de</strong>m Tatbestandsverständnis <strong>de</strong>r h.L.):<br />

I. Tatbestandsmäßigkeit<br />

1. Objektiver Tatbestand (Tatbild)<br />

a) Töten eines an<strong>de</strong>ren Menschen<br />

b) ggf. Vorliegen von (unrechtsbezogenen) objektiven Mordmerkmalen (so nach h.M. die tatbezogenen<br />

Merkmale <strong>de</strong>r 2. Gruppe)<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

a) Tatbestandsvorsatz insoweit (bedingter Vorsatz genügt)<br />

b) ggf. Vorliegen von (unrechtsbezogenen) subjektiven Mordmerkmalen (so nach Rspr. und h.L.<br />

die täterbezogenen Merkmale <strong>de</strong>r 1. u. 3. Gruppe)<br />

II. <strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

III. Schuld<br />

- ggf. Vorliegen von Mordmerkmalen, soweit diese als sog. vertypte Schuldmerkmale <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong><br />

wer<strong>de</strong>n (so nach einem Teil <strong>de</strong>r Lit. die täterbezogenen Merkmale <strong>de</strong>r 1. u. 3. Gruppe)<br />

IV. Strafzumessungstatsachen<br />

- ggf. beim Totschlag: Eingreifen <strong>de</strong>s § 213 (h.M., a.A. Privilegierung) bzw. <strong>de</strong>s § 212 Abs. 2:<br />

Vorliegen eines (unbenannten o<strong>de</strong>r benannten) min<strong>de</strong>r bzw. beson<strong>de</strong>rs schweren Falles<br />

- ggf. beim [heimtückischen] Mord: bei Vorliegen ganz außergewöhnlicher Tatumstän<strong>de</strong> Strafmil<strong>de</strong>rung<br />

nach <strong>de</strong>r sog. <strong>Recht</strong>sfolgenlösung (Rspr.)<br />

Beim Mord wird es aus prüfungstaktischen Grün<strong>de</strong>n als vertretbar angesehen, zunächst das Grund<strong>de</strong>likt <strong>de</strong>s Totschlags<br />

vollständig durchzuprüfen und hieran eine geson<strong>de</strong>rte Prüfung <strong>de</strong>r Mordmerkmale (in obj. und subj. Hinsicht) - ohne<br />

<strong>de</strong>ren ausdrückliche Zuordnung zum Tatbestand o<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>r Schuld - anzuschließen.<br />

Geschütztes <strong>Recht</strong>sgut: (menschliches) Leben<br />

Begriffsbestimmungen:<br />

Das Leben als Mensch beginnt für das Strafrecht mit <strong>de</strong>m Anfang <strong>de</strong>r Geburt (arg. § 217 StGB aF;<br />

an<strong>de</strong>rs im Zivilrecht, § 1 BGB), d.h. <strong>de</strong>m Einsetzen <strong>de</strong>r die Fruchtausstoßung einleiten<strong>de</strong>n sog. Eröffnungswehen<br />

(BGHSt 31, 348; bzw. bei operativer Entbindung <strong>de</strong>r Öffnung <strong>de</strong>s Uterus), und en<strong>de</strong>t mit<br />

<strong>de</strong>m irreversiblen Erlöschen <strong>de</strong>r gesamten Hirntätigkeit (sog. Hirntod - dieser mo<strong>de</strong>rne To<strong>de</strong>sbegriff<br />

ist zunehmend str., <strong>de</strong>r klassische To<strong>de</strong>sbegriff <strong>de</strong>finiert <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>szeitpunkt als <strong>de</strong>n endgültigen Stillstand<br />

von Kreislauf und Atmung, verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Aufhören <strong>de</strong>r Tätigkeit <strong>de</strong>s Zentralnervensystems<br />

und gefolgt von <strong>de</strong>m Absterben aller Zellen und Gewebe <strong>de</strong>s Organismus). - Vorgeburtliche<br />

Einwirkungen auf einen Embryo (die sich vorgeburtlich nachteilig auf diesen auswirken) unterfallen<br />

nach h.M. nicht <strong>de</strong>n Tötungs- (o<strong>de</strong>r Körperverletzungs-)<strong>de</strong>likten, auch wenn <strong>de</strong>r Tod (o<strong>de</strong>r die Verletzung)<br />

nach <strong>de</strong>r Geburt eintritt. - Der strafrechtliche Lebensschutz ist ein umfassen<strong>de</strong>r (arg. § 216<br />

StGB) und erfaßt auch <strong>de</strong>n lebensunfähigen Frühgeborenen, <strong>de</strong>n vorgeburtlich schwer geschädigten<br />

Neugeborenen sowie <strong>de</strong>n todgeweihten Schwerkranken. Eine Zulässigkeit <strong>de</strong>r (Früh-) Euthanasie sog.<br />

lebensunwerten Lebens ist nicht anzuerkennen (h.M.); Sterbehilfe (i.S.v. Hilfe zum Sterben) ist nur in<br />

begrenztem Umfang als (aktive) indirekte Sterbehilfe (BGHSt 42, 301 [305]) o<strong>de</strong>r passive Sterbehilfe<br />

(BGHSt 32, 367; 37, 376; 40, 257) straflos.<br />

Töten ist das (täterschaftliche) Verursachen <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s eines an<strong>de</strong>ren; nicht tatbestandsmäßig (h.M.)<br />

ist somit die freiverantwortete Selbsttötung (und damit - aus Akzessorietätsgrün<strong>de</strong>n - die Teilnahme<br />

hieran straflos [h.M.], ebenso die fahrlässige Mitverursachung [arg. a fortiori, BGHSt 24, 342]); umstr.<br />

ist allerdings die Abgrenzung täterschaftlicher Fremdtötung (z.B. Unterlassungstäterschaft) zur Teilnahme<br />

an <strong>de</strong>r Selbsttötung, ferner die Problematik eigenverantwortlicher Selbstgefährdung (dazu<br />

BGHSt 32, 262).<br />

22<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Mordmerkmale <strong>de</strong>r ersten Gruppe, sog. Motivmerkmale:<br />

Mordlust liegt vor, wenn <strong>de</strong>r Tötungsvorgang als solcher <strong>de</strong>n alleinigen Tötungsantrieb bil<strong>de</strong>t, es an<br />

einem über das Interesse an <strong>de</strong>r Tötung hinausgehen<strong>de</strong>n Tatzweck fehlt (nach <strong>de</strong>r Rspr. "unnatürliche<br />

Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Vernichtung eines Menschenlebens"), so z.B. beim Töten aus Freu<strong>de</strong> hieran, aus Neugier,<br />

einen Menschen sterben zu sehen, aus reinem Mutwillen o<strong>de</strong>r aus Zeitvertreib.<br />

Zur Befriedigung <strong>de</strong>s Geschlechtstriebs tötet, wer die Tötung als Mittel zur geschlechtlichen Befriedigung<br />

benutzt, so wenn <strong>de</strong>r Täter in <strong>de</strong>r Tötungshandlung selbst sexuelle Befriedigung sucht (sog.<br />

Lustmord), sich an <strong>de</strong>r Leiche vergehen will o<strong>de</strong>r bei einer Vergewaltigung <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Opfers billigend<br />

in Kauf nimmt.<br />

Habgier setzt eine ungewöhnliche, sittlich anstößige Steigerung <strong>de</strong>s Erwerbssinns voraus (nach <strong>de</strong>r<br />

Rspr. "rücksichtsloses Streben nach Gewinn um je<strong>de</strong>n Preis, bestimmt durch hemmungslose, triebhafte<br />

Eigensucht"). Hierbei müssen die erstrebten Vorteile nicht beson<strong>de</strong>rs groß sein, es genügt auch,<br />

wenn <strong>de</strong>r Täter Aufwendungen ersparen will. Bei Vorliegen mehrerer Motive muß Habgier das dominieren<strong>de</strong><br />

Motiv sein.<br />

"Niedrig" ist ein (sonstiger) Beweggrund, wenn zwischen <strong>de</strong>m Anlaß und <strong>de</strong>n Folgen <strong>de</strong>r Tat ein unerträgliches<br />

Mißverhältnis besteht (nach <strong>de</strong>r Rspr. ein "nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster<br />

Stufe stehen<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>shalb beson<strong>de</strong>rs verwerflicher, ja verächtlicher" Beweggrund), z.B. hemmungslose,<br />

triebhafte Eifersucht, Rassenhaß, Enttäuschung über verweigerten Geschlechtsverkehr, übertriebener<br />

Vergeltungsdrang. Erfor<strong>de</strong>rlich ist jeweils eine Gesamtwürdigung <strong>de</strong>r Tatmotivation.<br />

Mordmerkmale <strong>de</strong>r zweiten Gruppe, sog. Ausführungsmerkmale:<br />

Heimtückisch tötet, wer "in feindlicher Willensrichtung die (objektiv gegebene) Arg- und Wehrlosigkeit<br />

seines Opfers bewußt ausnutzt" (Rspr.). Arglos ist, wer (bei vorhan<strong>de</strong>ner Fähigkeit zum Argwohn,<br />

fehlt beim Säugling) sich von Seiten <strong>de</strong>s Täters keines tätlichen Angriffs versieht (von <strong>de</strong>r<br />

Rspr. für <strong>de</strong>n Schlafen<strong>de</strong>n, nicht aber für <strong>de</strong>n Bewußtlosen bejaht). Wehrlos ist, wer bei Beginn <strong>de</strong>s<br />

Angriffs infolge Arglosigkeit in seiner natürlichen Abwehrbereitschaft und -fähigkeit zumin<strong>de</strong>st stark<br />

eingeschränkt ist. Die Arg- und Wehrlosigkeit muß grundsätzlich bei Beginn <strong>de</strong>r (ersten) mit Tötungsvorsatz<br />

geführten Angriffshandlung bestehen; eine vorher bestehen<strong>de</strong> Arglosigkeit kann jedoch<br />

ausreichen, wenn <strong>de</strong>r Täter durch planvolle, bei Tatbeginn fortwirken<strong>de</strong> Vorkehrungen die Abwehrmöglichkeit<br />

<strong>de</strong>s Opfers beeinträchtigt (Locken in eine Falle o<strong>de</strong>r einen Hinterhalt). - Die Lit. for<strong>de</strong>rt<br />

überwiegend einschränkend einen "beson<strong>de</strong>rs verwerflichen Vertrauensbruch" (Mißbrauch eines<br />

bestehen<strong>de</strong>n Vertrauensverhältnisses o<strong>de</strong>r begrün<strong>de</strong>ten Vertrauens) bzw. nimmt eine sog. "negative<br />

Typenkorrektur" (komplexe Gesamtwürdigung von Täterpersönlichkeit, Tatumstän<strong>de</strong>n und -motiven)<br />

vor (m.M.), tw. wird auch auf ein beson<strong>de</strong>rs tückisch-verschlagenes Vorgehen abgestellt.<br />

Grausam tötet, wer <strong>de</strong>m Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung beson<strong>de</strong>rs starke Schmerzen<br />

o<strong>de</strong>r Qualen körperlicher o<strong>de</strong>r seelischer Art zufügt, die über das für die Tötung erfor<strong>de</strong>rliche Maß<br />

hinausgehen.<br />

Gemeingefährliche Mittel sind solche, <strong>de</strong>ren Wirkungen auf Leib o<strong>de</strong>r Leben (einer Mehrzahl)<br />

an<strong>de</strong>rer Menschen <strong>de</strong>r Täter nach <strong>de</strong>n konkreten Umstän<strong>de</strong>n ihres Einsatzes nicht in <strong>de</strong>r Hand hat.<br />

Mordmerkmale <strong>de</strong>r dritten Gruppe, sog. Absichtsmerkmale:<br />

Ver<strong>de</strong>ckungsabsicht ist <strong>de</strong>r zielgerichtete Wille, eine nach <strong>de</strong>r (ggf. auch irrigen) Vorstellung <strong>de</strong>s Täters<br />

<strong>de</strong>n Strafvollstreckungsorganen noch unbekannte (tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte)<br />

Straftat (nicht nur eine Ordnungswidrigkeit), auch die eines an<strong>de</strong>ren, o<strong>de</strong>r die eigene Täterschaft<br />

vor <strong>de</strong>n Strafverfolgungsorganen zu verbergen, und zwar i.S.v. "Ent<strong>de</strong>ckungsvereitelung" und<br />

nicht bloßer "Verfolgungsvereitelung". Neben <strong>de</strong>r Abwehr <strong>de</strong>r Strafverfolgung (Schutz staatlicher<br />

Strafverfolgungsinteressen) kann Ver<strong>de</strong>ckungszweck auch die Abwehr außerstrafrechtlicher Konsequenzen<br />

sein (BGHSt 41, 8; str.). Es reicht aus, daß die <strong>de</strong>r Ver<strong>de</strong>ckung dienen<strong>de</strong> Tötungshandlung<br />

<strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren verursacht, nicht erfor<strong>de</strong>rlich ist, daß gera<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>ssen Tod eine Ent<strong>de</strong>ckung<br />

verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n soll, die ver<strong>de</strong>cken<strong>de</strong> Tötungshandlung kann sich also auch gegen jeman<strong>de</strong>n<br />

richten, von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Täter keine Ent<strong>de</strong>ckung befürchtet (BGHSt 41, 358; h.M.). - Ver<strong>de</strong>ckungsabsicht<br />

und bedingter Tötungsvorsatz sind grundsätzlich miteinan<strong>de</strong>r vereinbar (h.M.).<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 23


Ermöglichungsabsicht ist <strong>de</strong>r zielgerichtete Willen, die Tötung eines Menschen zur Begehung einer<br />

(sei es auch nur nach <strong>de</strong>r Tätervorstellung vorliegen<strong>de</strong>n) Straftat einzusetzen, bedingter Tötungsvorsatz<br />

reicht aus.<br />

Beachte auch die Entscheidung <strong>de</strong>s BVerfG (E 45, 187 [261 ff]) zur lebenslangen Freiheitsstrafe, wonach zur Wahrung<br />

<strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit eine restriktive Anwendung <strong>de</strong>s Mordtatbestands (insb. bei <strong>de</strong>r Heimtücke und <strong>de</strong>r Ver<strong>de</strong>ckungsabsicht)<br />

geboten ist. Die Rspr. versucht <strong>de</strong>m weniger auf <strong>de</strong>r Tatbestandsebene, <strong>de</strong>nn durch die sog. <strong>Recht</strong>sfolgenlösung<br />

Rechnung zu tragen, nämlich durch die Anerkennung einer übergesetzlichen Strafmil<strong>de</strong>rung bei ganz außergewöhnlichen<br />

Tatumstän<strong>de</strong>n (so für die Heimtücke BGHSt [GS] 30, 105 [119]; abl. BGHSt 42, 301 für die Habgier).<br />

Das Tatbestandsverhältnis unter <strong>de</strong>n Tötungs<strong>de</strong>likten ist zwischen Rspr. und Lehre umstritten, was sich auf die Strafbarkeit<br />

<strong>de</strong>r Beteiligten auswirkt: Nach h.L. bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Totschlag <strong>de</strong>n Grundtatbestand aller (qualifizierten, § 211 StGB,<br />

o<strong>de</strong>r privilegierten, § 216 StGB) Tötungs<strong>de</strong>likte, während nach <strong>de</strong>r Rspr. Mord und Totschlag (ebenso § 216 StGB) selbständige<br />

Tatbestän<strong>de</strong> darstellen (hiernach Mordmerkmale als strafbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> beson<strong>de</strong>re persönliche Merkmale i.S.d.<br />

§ 28 Abs. 1 StGB), wobei aber <strong>de</strong>r Unrechtsgehalt <strong>de</strong>s Totschlags in jenem <strong>de</strong>s Mor<strong>de</strong>s enthalten sei, so daß zwischen <strong>de</strong>m<br />

Mör<strong>de</strong>r und Totschläger Mittäterschaft bestehen könne (BGHSt 36, 231; in BGHSt 41, 8 [9] spricht <strong>de</strong>r BGH allerdings<br />

hins. <strong>de</strong>r Ver<strong>de</strong>ckungsmodalität von einem "Qualifikationsgrund"). Die Strafbarkeit <strong>de</strong>r Beteiligten hängt zu<strong>de</strong>m davon<br />

ab, ob die Mordmerkmale als beson<strong>de</strong>re persönliche Merkmale i.S.d. § 28 StGB bzw. als § 29 StGB unterfallen<strong>de</strong> Schuldmerkmale<br />

behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, wobei zu beachten ist, daß auch diejenigen, die die Mordmerkmale <strong>de</strong>r 1. u. 3. Gruppe als<br />

vertypte Schuldmerkmale ansehen, überwiegend auf diese § 28 Abs. 2 StGB anwen<strong>de</strong>n.<br />

Übersicht über die Strafbarkeit <strong>de</strong>s Teilnahmers beim Mord<br />

h.L.: § 211 = § 212 + qualif. (= strafschärfen<strong>de</strong>) Merkmale (sog. Mordmerkmale, MM)<br />

+)/ tatbezogene 1) MM (§ 211 II 2. Gruppe)<br />

/). täterbezogene MM (§ 211 II 1.+3. Gruppe) (= beson<strong>de</strong>re persönliche Merkmale i.S.d. § 28)<br />

BGH: § 211 = strafbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> MM (§§ 211, 212 sind eigenständige Delikte) 2)<br />

h.L.<br />

BGH<br />

1. Haupttäter: § 212 + tatbez. MM = § 211 3) wie h.L.<br />

Teilnehmer: § 212 + Kenntnis d. tatbez. MM = §§ 211, 26 4) wie h.L.<br />

Teilnehmer: § 212 + Unkenntnis d. tatbez. MM = §§ 212, 26 (§ 16) wie h.L. 5)<br />

2. Haupttäter: § 212 + täterbez. MM = § 211 wie h.L.<br />

Teilnehmer: § 212 + Kenntnis d. täterbez. MM = §§ 212, 26 6) (§ 28 II)<br />

6) 7)<br />

§§ 211, 26; 49, 28 I<br />

Teilnehmer: § 212 + Unkenntnis d. täterbez. MM 8) = §§ 212, 26 (§§ 16, 28 II) §§ 212, 26 (§ 16) 5)<br />

3. Haupttäter: § 212 = § 212 wie h.L.<br />

Teilnehmer: § 212 + eigenes tatbez. MM 9) = §§ 212, 26 (nicht § 28, wie h.L.<br />

Akzess.)<br />

Teilnehmer: § 212 + eigenes täterbez. MM = §§ 211, 26, 28 II §§ 212, 26 (Akzess.) 10)<br />

4. Haupttäter: § 212 + tatbez. MM = § 211 wie h.L.<br />

Teilnehmer: § 212 + Kenntnis d. tatbez. MM + = §§ 211, 26 (nicht § 28) wie h.L.<br />

eig. tatbez. MM<br />

Teilnehmer: § 212 + Unkenntnis d. tatbez. MM + = §§ 212, 26 (§ 16; nicht wie h.L. 5)<br />

eig. tatbez. MM § 28)<br />

Teilnehmer: § 212 + Kenntnis d. tatbez. MM + = §§ 211, 26 + § 28 II §§ 211, 26 (Akzess.)<br />

eig. täterbez. MM<br />

Teilnehmer: § 212 + Unkenntnis d. tatbez. MM. + = §§ 211, 26, 28 II (§ 16, §§ 212, 26 (§ 16) 5)<br />

eig. täterbez. MM aber § 28 II)<br />

5. Haupttäter: § 212 + täterbez. MM = § 211 wie h.L.<br />

Teilnehmer: § 212 + Kenntnis d. täterbez. MM + = §§ 212, 26 6) 11) (§ 28 II;<br />

6) 7)<br />

§§ 211, 26; 49, 28 I<br />

eig. tatbez. MM Akzess.)<br />

Teilnehmer: § 212 + Unkenntnis d. täterbez. MM + = §§ 212, 26 11) (§§ 16, §§ 212, 26 (§ 16) 5)<br />

eig. tatbez. MM 28 II; Akzess.)<br />

Teilnehmer: § 212 + Kenntnis d. täterbez. MM + = §§ 211, 26, 28 II §§ 211, 26; 49, 28 I<br />

eig. täterbez. MM (gekreuzte MM) 12)<br />

Teilnehmer: § 212 + Unkenntnis d. täterbez. MM + = §§ 211, 26, 29 II §§ 212, 26 (§ 16) 5)<br />

eig. täterbez. MM (trotz § 16)<br />

6. Haupttäter: § 212 = § 212 wie h.L.<br />

Teilnehmer: § 212 + irrige Annahme e. tatbez. MM = §§ 212, 26; 211, 30 I; 52 wie h.L. 5)<br />

beim Haupttäter<br />

Teilnehmer: § 212 + irrige Annahme e. täterbez. = §§ 212, 26 6) (wg § 28 II §§ 212, 26 (Akzess.); §§ 211,<br />

MM beim Haupttäter nicht §§ 211, 30 I)<br />

5) 6)<br />

49, 30 I; 49, 28 I; 52<br />

24<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Erläuterungen:<br />

1)<br />

Die tatbezogenen MM sind keine beson<strong>de</strong>ren persönlichen Merkmale i.S.d. § 28 (/§ 14 Abs. 1). D.h. § 28<br />

fin<strong>de</strong>t auf sie keine Anwendung, und es kommt allein auf <strong>de</strong>ren Kenntnis bei <strong>de</strong>m Teilnehmer (= Vorsatz<br />

hinsichtlich <strong>de</strong>r Haupttat; § 16 Abs. 1) an.<br />

2)<br />

Hiernach kann für <strong>de</strong>n Teilnehmer keine Akzessorietätslockerung nach <strong>de</strong>n §§ 29, 28 Abs. 2 eingreifen.<br />

3)<br />

Korrekterweise wären für die h.L. Grundtatbestand und Qualifizierung zusammen zu zitieren, also §§ 212<br />

Abs. 1, 211.<br />

4)<br />

Als Beispiel wird hier die Anstiftung angeführt. Bei <strong>de</strong>r Beihilfe ergäbe sich für <strong>de</strong>n BGH bei Anwendung<br />

<strong>de</strong>s § 28 Abs. 1 eine doppelte Strafmil<strong>de</strong>rung nach § 49, nämlich aus § 27 Abs. 2 S. 2 und aus § 28 Abs. 1.<br />

5)<br />

Der BGH müßte hier bei konsequenter Anwendung <strong>de</strong>s Prinzips <strong>de</strong>r Selbständigkeit <strong>de</strong>r §§ 211, 212 wegen<br />

Fehlens eines Mor<strong>de</strong>s als Haupttat nur zu einer Strafbarkeit aus §§ 212, 49, 30 Abs. 1 gelangen (bzw. bei<br />

irriger Annahme eines MM beim Haupttäter zu §§ 211, 49, 30 Abs. 1). Nun anerkennt <strong>de</strong>r BGH aber, daß<br />

"die vorsätzliche Tötung auch ein Merkmal <strong>de</strong>s § 211 StGB ist", <strong>de</strong>r § 212 in <strong>de</strong>m § 211 "steckt" (BGHSt<br />

1, 368; 36, 231) und gelangt so zu einer Bestrafung aus §§ 212, 26. Dies läßt sich damit begrün<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r<br />

Teilnehmer ohne Vorliegen <strong>de</strong>s MM beim Haupttäter aus §§ 212, 26 zu bestrafen wäre und er durch das<br />

Vorliegen <strong>de</strong>s ihm unbekannten (bzw. irrig angenommenen) MM nicht besser stehen soll.<br />

6)<br />

Wegen §§ 78 Abs. 2, 4 verjährt die Mordteilnahme (auch Beihilfe) nicht. Hieraus ergibt sich folgen<strong>de</strong> Diskrepanz<br />

zwischen <strong>de</strong>r h.L. und <strong>de</strong>m BGH: Weist <strong>de</strong>r Haupttäter, nicht aber <strong>de</strong>r Teilnehmer, ein täterbezogenes<br />

MM auf, so führt die h.L. über die Strafbarkeit <strong>de</strong>s Teilnehmers aus §§ 212, 26 zur Verjährbarkeit,<br />

während <strong>de</strong>r BGH über §§ 211, 26; 49, 28 Abs. 1 (trotz <strong>de</strong>s geringeren Strafrahmens) zur Unverjährbarkeit<br />

<strong>de</strong>r Mordteilnahme gelangt.<br />

7)<br />

Der Strafrahmen beträgt hierfür 3 bis 15 Jahre, während jener für eine einfache Anstiftung zum Totschlag<br />

(§§ 212, 26) 5 bis 15 Jahre beträgt, u.U. sogar lebenslange Freiheitsstrafe. Zur Vermeidung dieser Diskrepanz<br />

müßte <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>ststrafrahmen aus §§ 212, 26 hierher übertragen wer<strong>de</strong>n. Im Fall <strong>de</strong>r Beihilfe (s.<br />

4) ist die Diskrepanz noch größer.<br />

8)<br />

Fehlt infolge <strong>de</strong>s Tatbestandsirrtums (§ 16 Abs. 1) <strong>de</strong>r Teilnehmervorsatz hinsichtlich <strong>de</strong>r Haupttat <strong>de</strong>s<br />

§ 211 StGB, so kann nach <strong>de</strong>r h.L. die mangeln<strong>de</strong> Kenntnis gleichwohl unbeachtlich sein und Mordteilnahme<br />

vorliegen, wenn <strong>de</strong>r Teilnehmer eigene täterbezogene MM verwirklicht und es zur Tatbestandsverschiebung<br />

nach § 28 Abs. 2 kommt (s. 4, 5). Insofern ist bei täterbezogenen MM nach h.L. nur die Prüfung<br />

<strong>de</strong>r Frage ergebnisrelevant, ob <strong>de</strong>r Teilnehmer ein MM aufweist.<br />

Nach <strong>de</strong>m BGH ist neben <strong>de</strong>r Frage, (1) welche MM <strong>de</strong>r Haupttäter verwirklicht, immer zu prüfen, ob (2)<br />

<strong>de</strong>r Teilnehmer hiervon Kenntnis hatte und - wenn kein Tatbestandsirrtum eingreift - für die Fälle gekreuzter<br />

MM, ob (3) <strong>de</strong>r Teilnehmer eigene (gleichartige) MM verwirklicht.<br />

9)<br />

Das Vorliegen eines eigenen tatbezogenen MM beim Teilnehmer ist unbeachtlich, da dieses nicht § 28<br />

unterfällt. Es bleibt bei <strong>de</strong>n allgemeinen Akzessorietätsregeln.<br />

10)<br />

Nach <strong>de</strong>m BGH ist die Strafbarkeit <strong>de</strong>s (eigene täterbezogene MM aufweisen<strong>de</strong>n) Teilnehmers wegen<br />

Mordteilnahme davon abhängig, ob auch <strong>de</strong>r Täter ein täterbezogenes MM verwirklicht und <strong>de</strong>r Teilnehmer<br />

hierum weiß (s. 4, 5 und 12).<br />

11)<br />

Das täterbezogene MM <strong>de</strong>s Haupttäters ist <strong>de</strong>m Teilnehmer nach § 28 Abs. 2 nicht zuzurechnen, das eigene<br />

tatbezogene MM unterfällt nicht § 28 (s.a. 8, 9).<br />

12)<br />

Teilt <strong>de</strong>r Teilnehmer ein strafbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s täterbezogenes MM <strong>de</strong>s Haupttäters, so bleibt es nach § 28 Abs.<br />

1 bei <strong>de</strong>r ungemil<strong>de</strong>rten akzessorischen Strafbarkeit <strong>de</strong>s Teilnehmers, an<strong>de</strong>renfalls ist die Strafe <strong>de</strong>s<br />

Teilnehmers nach § 49 zu mil<strong>de</strong>rn. Der BGH müßte <strong>de</strong>mnach bei sog. gekreuzten täterbezogenen MM,<br />

wobei <strong>de</strong>r Teilnehmer ein eigenes täterbezogenes MM aufweist, von seinem Ansatz her die Strafe <strong>de</strong>s<br />

Teilnehmers (gleichwohl) entsprechend mil<strong>de</strong>rn. Der BGH vermei<strong>de</strong>t dieses unbillige Ergebnis, in<strong>de</strong>m er<br />

bei gekreuzten gleichen o<strong>de</strong>r gleichartigen MM <strong>de</strong>m Teilnehmer aufgrund seines eigenen MM eine Strafmil<strong>de</strong>rung<br />

gemäß § 28 Abs. 1 verwehrt. (Nach <strong>de</strong>m BGH sind alle täterbezogenen MM gleichartig, nämlich<br />

auf das MM <strong>de</strong>s niedrigen Beweggrun<strong>de</strong>s zurückzuführen.) Damit durchbricht <strong>de</strong>r BGH die Akzessorietät<br />

und wen<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Sache nach § 28 Abs. 2 an. Auch wertungsmäßig erscheint dieses Ergebnis im Vergleich zu<br />

gekreuzten täter- und tatbezogenen MM problematisch.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 25


II. Körperverletzung und Gefährliche Körperverletzung, §§ 223, 224 StGB<br />

Deliktsaufbau (einfache bzw. gefährliche Körperverletzung):<br />

I. Tatbestandsmäßigkeit<br />

1. Objektiver Tatbestand (Tatbild)<br />

a) körperliche Mißhandlung o<strong>de</strong>r Gesundheitsschädigung<br />

b) ggf. qualifizieren<strong>de</strong> Tatumstän<strong>de</strong> i.S.d. § 224 Abs. 1 StGB<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

Tatbestandsvorsatz insoweit (bedingter Vorsatz genügt)<br />

II. <strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

- ggf. Einwilligung <strong>de</strong>s Verletzten nach § 228 StGB<br />

III. Schuld<br />

IV. bei <strong>de</strong>r einfachen Körperverletzung: Strafantrag nach § 230 StGB als Strafverfolgungsvoraussetzung<br />

Geschütztes <strong>Recht</strong>sgut: körperliche Unversehrtheit (begrenzt auch das Selbstbestimmungsrecht <strong>de</strong>s<br />

Patienten, str.)<br />

Begriffsbestimmungen:<br />

Körperliche Mißhandlung ist (nach <strong>de</strong>r Rspr. je<strong>de</strong> "substanzverletzen<strong>de</strong> Einwirkung auf <strong>de</strong>n Körper<br />

sowie ...") je<strong>de</strong> üble, unangemessene (sozialwidrige) Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefin<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird. Nicht erfaßt sind<br />

bloße Beeinträchtigungen <strong>de</strong>s seelischen Wohlbefin<strong>de</strong>ns, die sich nicht körperlich auswirken (str.).<br />

Gesundheitsschädigung (früher: Gesundheitsbeschädigung) ist das Hervorrufen o<strong>de</strong>r Steigern einer<br />

körperlichen o<strong>de</strong>r seelischen (abl. m.M.) Krankheit, d.h. eines gegenüber <strong>de</strong>m Normalzustand <strong>de</strong>r körperlichen<br />

Funktionen zumin<strong>de</strong>st vorübergehend nachteilig abweichen<strong>de</strong>n (pathologischen) Zustan<strong>de</strong>s<br />

nicht nur unerheblicher Art, und zwar unabhängig von einer Schmerzempfindung. (O<strong>de</strong>r mit Arzt/Weber,<br />

StrafR BT, 6/24: "Wer einen an<strong>de</strong>ren krank, kränker o<strong>de</strong>r nicht gesund macht, schädigt <strong>de</strong>ssen<br />

Gesundheit".) - Umstritten ist, ob auch <strong>de</strong>r medizinisch indizierte und lege artis durchgeführte (insb.<br />

eigenmächtige) ärztliche Heileingriff eine tatbestandliche Körperverletzung - nämlich körperliche<br />

Mißhandlung - darstellt (so die Rspr. u. tw. Lit., a.A. h.L., insb. sog. Heilten<strong>de</strong>nzargumentation; vgl.<br />

zum ärztlichen Heileingriff bzw. zur eigenmächtigen Heilbehandlung auch §§ 161-162 E 1962 und<br />

§§ 229-230 Ref.-Entwurf zum 6. StrRG).<br />

Qualifikationsmerkmale (§ 224 StGB):<br />

Gift o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer gesundheitsschädlicher Stoff ist je<strong>de</strong> chemisch bzw. chemisch-physikalisch (organische,<br />

anorganische Stoff = Gift), mechanisch o<strong>de</strong>r thermisch wirken<strong>de</strong> Substanz (auch Bakterien<br />

und Viren), die einen gefährlichen (str.) Gesundheitsscha<strong>de</strong>n herbeiführt (str.). Während für die<br />

Vergiftung nach § 229 StGB aF tatbestandlich eine Eignung zur Gesundheitszerstörung vorausgesetzt,<br />

aber auch ausreichend war, muß <strong>de</strong>r Stoff nun wohl schädigend wirken (Stoff als gefährliches Verletzungsmittel;<br />

nach a.A. reicht die konkrete Eignung zur Gesundheitsschädigung aus, soweit diese einer<br />

schweren Körperverletzung i.S.d. § 226 StGB nF entspricht); wohl unstr. muß das Ausmaß <strong>de</strong>r Schädigung<br />

(über § 223 StGB hinausgehend) erheblich gefähr<strong>de</strong>nd sein (insoweit mag - entsprechend<br />

modifiziert - an die frühere Eignungsformel angeknüpft wer<strong>de</strong>n).<br />

Beigebracht ist ein Stoff (Gift), wenn <strong>de</strong>r Täter <strong>de</strong>ssen Verbindung mit <strong>de</strong>m Körper <strong>de</strong>s Opfers <strong>de</strong>rart<br />

hergestellt hat, daß <strong>de</strong>r Stoff seine gesundheitsschädliche Wirkung im Inneren <strong>de</strong>s Körpers o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st<br />

an <strong>de</strong>r Körperoberfläche (für § 229 StGB aF str.) entfaltet.<br />

Ein gefährliches Werkzeug (seit <strong>de</strong>m 6. StrRG unstr. Oberbegriff auch für die Waffe, zuvor für<br />

§ 223a StGB aF Rspr. a.A.) ist ein beweglicher (str.) - d.h. durch menschliche Einwirkung gegen <strong>de</strong>n<br />

Körper eines Menschen bewegbarer - Gegenstand, <strong>de</strong>r nach seiner objektiven Beschaffenheit und <strong>de</strong>r<br />

Art seiner Verwendung als Angriffs- o<strong>de</strong>r Verteidigungsmittel (str. - je<strong>de</strong>nfalls nicht erfaßt wer<strong>de</strong>n be-<br />

26<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


stimmungsgemäß verwen<strong>de</strong>te ärztliche Instrumente) im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen<br />

herbeizuführen (konkretes Gefährdungs<strong>de</strong>likt); ein Körperteil ist kein solcher "Gegenstand".<br />

Ein hinterlistiger Überfall besteht in einem überraschen<strong>de</strong>n, vom Opfer nicht erwarteten Angriff, bei<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Täter seine Angriffsabsicht planmäßig-berechnend ver<strong>de</strong>ckt, um dadurch <strong>de</strong>m Angegriffenen<br />

die Abwehr unmöglich zu machen o<strong>de</strong>r zu erschweren. Das bloße Ausnutzen eines Überraschungsvorteils<br />

reicht nicht aus.<br />

Mit einem an<strong>de</strong>ren Beteiligten (so seit <strong>de</strong>m 6. StrRG; zum Begriff <strong>de</strong>s Beteiligten siehe die Legal<strong>de</strong>finition<br />

in § 28 Abs. 2 StGB) gemeinschaftlich wird die Körperverletzung begangen, wenn bei ihr<br />

min<strong>de</strong>stens zwei Personen durch einverständliches aktives Han<strong>de</strong>ln (h.M.) <strong>de</strong>rart zusammenwirken,<br />

daß sie <strong>de</strong>m Verletzten am Tatort unmittelbar gegenüberstehen; eine mittäterschaftliche Begehung ist<br />

dafür nicht erfor<strong>de</strong>rlich (nach h.M. ist <strong>de</strong>r frühere Streit bei § 223a StGB aF durch <strong>de</strong>n Gesetzgeber<br />

i.S.d. mittäterschaftsneutralen Gefährlichkeitstheorie entschie<strong>de</strong>n, str.).<br />

Eine Behandlung ist lebensgefähr<strong>de</strong>nd, wenn sie nach <strong>de</strong>n konkreten Umstän<strong>de</strong>n objektiv geeignet<br />

ist, das Leben <strong>de</strong>s Opfers in Gefahr zu bringen (Eignungs<strong>de</strong>likt, so im Anschluß an die bisher h.M.<br />

auch <strong>de</strong>r Gesetzgeber [BT-Drs. 13/8587, S. 83]; nach a.A. ist eine konkrete Lebensgefahr erfor<strong>de</strong>rlich,<br />

dann konkretes Gefährdungs<strong>de</strong>likt); die eingetretene Verletzung braucht nicht lebensgefähr<strong>de</strong>nd zu<br />

sein.<br />

III. Diebstahl, § 242 StGB<br />

Deliktsaufbau:<br />

I. Tatbestandsmäßigkeit<br />

1. Objektiver Tatbestand (Tatbild)<br />

Wegnahme einer frem<strong>de</strong>n beweglichen Sache<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

a) Tatbestandsvorsatz insoweit (bedingter Vorsatz genügt)<br />

b) Absicht, sich o<strong>de</strong>r einem Dritten die Sache rechtswidrig zuzueignen (sog. Zueignungsabsicht)<br />

II. <strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

III. Schuld<br />

IV.ggf. Vorliegen eines Regelbeispiels nach § 243 Abs. 1 S. 2 StGB (soweit nicht durch Abs. 2 ausgeschlossen)<br />

a) objektives Vorliegen <strong>de</strong>s Regelbeispiels<br />

b) Vorsatz insoweit<br />

V. ggf. Strafantrag nach §§ 247, 248a StGB als Strafverfolgungsvoraussetzung<br />

Geschützte <strong>Recht</strong>sgüter: Eigentum und Gewahrsam<br />

Begriffsbestimmungen:<br />

Sache ist je<strong>de</strong>r körperliche Gegenstand (vgl. § 90 BGB - aber eigenständiger strafrechtlicher Sachbegriff,<br />

str.), <strong>de</strong>r Objekt einer selbständigen unmittelbaren Herrschaft <strong>de</strong>s Menschen sein kann (also<br />

nicht eine Kraft o<strong>de</strong>r Energie), und zwar unabhängig von seinem wirtschaftlichen Wert und<br />

Aggregatzustand. Dazu gehören auch (trotz § 90a BGB) das Tier (i. Erg. unstr.), <strong>de</strong>r menschliche<br />

Leichnam sowie vom menschlichen Körper abgetrennte natürliche o<strong>de</strong>r künstliche Körperteile, nicht<br />

aber <strong>de</strong>r Embryo.<br />

Fremd ist je<strong>de</strong> Sache, die (auch) im Eigentum (Allein-, Mit- o<strong>de</strong>r Gesamthandseigentum) eines an<strong>de</strong>ren<br />

steht, wobei die zivilrechtlichen Eigentumsverhältnisse maßgebend sind. Nicht fremd sind<br />

herrenlose (z.B. Wild) o<strong>de</strong>r eigentumsunfähige (nicht verkehrsfähige) Sachen.<br />

Wegnahme ist Bruch frem<strong>de</strong>n (Allein- o<strong>de</strong>r Mit-) Gewahrsams und Begründung neuen (regelmäßig,<br />

aber nicht notwendig tätereigenen) Gewahrsams.<br />

Gewahrsam ist ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis (Verfügungsgewalt) einer natürlichen Person<br />

über eine Sache (objektiv-faktisches Gewahrsamselement), das von einem (natürlichen) Herrschafts-<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 27


willen getragen wird (subjektiv-voluntatives Gewahrsamselement) und <strong>de</strong>ssen Vorliegen - Entstehung,<br />

Umfang (Reichweite) und Verlust - sich nach <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Verkehrsauffassung geprägten sozialen Zuordnung<br />

richtet (normativ-soziales Gewahrsamselement). Hiernach bestehen etwa generelle Gewahrsamsbereiche<br />

o<strong>de</strong>r Sachherrschaftssphären an <strong>de</strong>n am Körper, in <strong>de</strong>r Kleidung, in <strong>de</strong>r Wohnung o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Geschäftsräumen befindlichen Sachen, u.U. ist <strong>de</strong>r Gewahrsam ein gelockerter (z.B. <strong>de</strong>s Bauern<br />

an <strong>de</strong>m Pflug auf <strong>de</strong>m Feld). Neben <strong>de</strong>m Alleingewahrsam erkennt die h.M. auch gleichrangigen Mitgewahrsam<br />

und mehrstufigen Gewahrsam bei Abhängigkeitsverhältnissen an (hier kann <strong>de</strong>r Untergeordnete<br />

<strong>de</strong>n Gewahrsam <strong>de</strong>s Übergeordneten brechen, nicht aber umgekehrt). Beachte, daß <strong>de</strong>r Gewahrsam<br />

nicht mit <strong>de</strong>m zivilrechtlichen Besitz (§ 854 BGB) gleichbe<strong>de</strong>utend ist, und er auch die<br />

unberechtigte Sachherrschaft (etwa an Diebesgut) umfaßt.<br />

Dem Gewahrsamsbegriff kommt zentrale Be<strong>de</strong>utung zu. So entschei<strong>de</strong>t er über die Abgrenzung von<br />

Versuch und Vollendung (erst mit Gewahrsamsneubegründung), die Unterscheidung von Diebstahl<br />

(Gewahrsamsbruch) und Unterschlagung (durch <strong>de</strong>n Gewahrsamsinhaber) wie auch von Raub<br />

(Gewaltanwendung zur Gewahrsamserlangung) und räuberischem Diebstahl (Gewaltanwendung zur<br />

Gewahrsamssicherung/-erhaltung) als auch zur Abgrenzung von Diebstahl bzw. <strong>de</strong>n Wegnahme<strong>de</strong>likten<br />

und Betrug (hier: Sachbetrug, Erschleichen einer Gewahrsamsübertragung [= Vermögensverfügung]<br />

an einer Sache).<br />

Frem<strong>de</strong>r (auch gleich- und übergeordneter) Gewahrsam wird gebrochen, wenn die Sachherrschaft <strong>de</strong>s<br />

bisherigen Gewahrsamsinhabers (<strong>de</strong>r nicht <strong>de</strong>r Eigentümer sein muß) gegen o<strong>de</strong>r ohne <strong>de</strong>ssen Willen<br />

(Einverständnis) beseitigt wird.<br />

Neuer Gewahrsam ist begrün<strong>de</strong>t, sobald <strong>de</strong>r Täter (o<strong>de</strong>r ein Dritter) die Sachherrschaft <strong>de</strong>rart erlangt<br />

hat, daß er sie ohne wesentliche Hin<strong>de</strong>rnisse ausüben und <strong>de</strong>r bisherige Inhaber auf die Sache nicht<br />

mehr einwirken kann, ohne zuvor die Verfügungsgewalt <strong>de</strong>s Täters (bzw. Dritten) zu beseitigen. Ungefähr<strong>de</strong>te<br />

Sachherrschaft - gesicherter Gewahrsam, Bergung <strong>de</strong>r Beute - ist hierfür nicht erfor<strong>de</strong>rlich.<br />

Bei Sachen geringen Umfangs und leichter Beweglichkeit erlangt eigenen Gewahrsam - auch in<br />

einem frem<strong>de</strong>n räumlichen Herrschaftsbereich (Warenhaus, Wohnung, sog. genereller Gewahrsamsbereich)<br />

- regelmäßig <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r die Sache in seine Kleidung o<strong>de</strong>r ein leicht transportables<br />

Behältnis steckt o<strong>de</strong>r sie unauffällig wie seine eigene Sache fortträgt (sog. Gewahrsamsenklave).<br />

Zufällige o<strong>de</strong>r planmäßige Beobachtung, auch sofortige Festnahme, hin<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Gewahrsamswechsel<br />

grundsätzlich nicht (h.M., Diebstahl ist keine heimliche Tat). Bei sperrigen o<strong>de</strong>r sonst<br />

schwer beweglichen Gegenstän<strong>de</strong>n, ebenso bei einer Vielzahl von Sachen, die eines auffälligen<br />

Abtransports bedürfen, wird Gewahrsam dagegen in <strong>de</strong>r Regel erst dadurch gebrochen und begrün<strong>de</strong>t,<br />

daß <strong>de</strong>r Täter die Objekte aus <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n räumlichen Herrschaftsbereich herausschafft.<br />

Die sog. Zueignungsabsicht (= Absicht, sich selbst o<strong>de</strong>r einem Dritten eine Sache rechtswidrig zuzueignen)<br />

umfaßt (seit <strong>de</strong>m 6. StrRG) neben <strong>de</strong>r Sich-Zueignung (Selbstzueignung) auch die Drittzueignung<br />

(Fremdzueignung), bei<strong>de</strong>n sind folgen<strong>de</strong> Elemente eigen (beachte, zu einer Zueignung muß<br />

es nicht kommen, ausreichend ist <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong> Wille):<br />

Absicht rechtswidriger Zueignung<br />

+))))))))))))))))))))))))2))))))))))))))))))))))))),<br />

Zueignungsabsicht<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit <strong>de</strong>r Zueignung<br />

+)))))))))))))))))2)))))))))))))))))),<br />

Vorsatz <strong>de</strong>r auf Dauer gerichteten Ent- Absicht <strong>de</strong>r min<strong>de</strong>stens vorübergehen- Täter weiß, daß ihm bzw. <strong>de</strong>m Dritten<br />

eignung (= Verdrängung <strong>de</strong>s Berech- <strong>de</strong>n Aneignung (= Einverleibung in objektiv kein fälliger, einre<strong>de</strong>freier<br />

tigten) das Vermögen <strong>de</strong>s Täters o<strong>de</strong>r Dritten) Anspruch auf die Sache zusteht<br />

zusteht<br />

Funktion: Abgrenzung zur (nur nach Funktion: Abgrenzung zur Sachbeschä-<br />

§§ 248b, 290 StGB strafbaren) Ge- digung (§ 303 StGB) und (straflosen)<br />

brauchsanmaßung<br />

Sachentziehung<br />

(Sich o<strong>de</strong>r einem Dritten) Zueignen be<strong>de</strong>utet (nach <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Vereinigungstheorie) die Anmaßung<br />

einer eigentümerähnlichen Verfügungsgewalt über die Sache (se ut dominum gerere) in <strong>de</strong>r<br />

Weise, daß <strong>de</strong>r Täter entwe<strong>de</strong>r die Sache als stoffliche Substanz (Substanztheorie) o<strong>de</strong>r ihren Sach-<br />

28<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


wert (Sachwerttheorie, str.) <strong>de</strong>m Eigentümer auf Dauer ganz o<strong>de</strong>r teilweise entzieht (Enteignungskomponente)<br />

und zugleich <strong>de</strong>m eigenen bzw. - zumin<strong>de</strong>st vorübergehend - zum Zweck <strong>de</strong>r Nutzung<br />

im eigenen Interesse einverleibt bzw. dies einem bestimmten Dritten ermöglicht (Aneignungskomponente).<br />

Als entziehbarer Sachwert kommt nach h.M. grundsätzlich nur ein in <strong>de</strong>r Sache selbst unmittelbar<br />

verkörperter, nach Art und Funktion <strong>de</strong>r Sache mit ihr spezifisch verbun<strong>de</strong>ner Wert (lucrum<br />

ex re; z.B. Sparbuch-Fälle) in Betracht, nicht aber ihr sonstiger Wert (lucrum ex negotio cum re, z.B.<br />

Veräußerungswert, Verwendungswert, str.).<br />

Die Enteignungskomponente ist maßgeblich für die Abgrenzung zwischen Diebstahl und <strong>de</strong>r (abgesehen<br />

von §§ 248a, 290 StGB straflosen) Gebrauchsanmaßung (furtum usus). Kontrollfrage: Leugnet<br />

<strong>de</strong>r Täter das frem<strong>de</strong> Eigentum (6 Enteignung) o<strong>de</strong>r respektiert er es und will die Sache nach<br />

vorübergehen<strong>de</strong>m Gebrauch (ohne erhebliche Substanzbeeinträchtigung o<strong>de</strong>r wesentliche Wertmin<strong>de</strong>rung)<br />

<strong>de</strong>m Berechtigten unverän<strong>de</strong>rt zurückgeben (6 Gebrauchsanmaßung)?<br />

Die Aneignungskomponente entschei<strong>de</strong>t darüber, ob Diebstahl o<strong>de</strong>r nur (straflose) Sachentziehung<br />

bzw. (als Sachbeschädigung strafbare) Sachzerstörung gegeben ist. Kontrollfrage: Will sich <strong>de</strong>r<br />

Täter wirtschaftlich an die Stelle <strong>de</strong>s Berechtigten setzen (6 Aneignung) o<strong>de</strong>r nur schädigen<strong>de</strong><br />

Eigenmacht üben, nämlich die Sache zerstören, beschädigen, vernichten (6 Sachbeschädigung) bzw.<br />

- ohne Nutzung für eigene Zwecke - die Sache nur preisgeben (u.U. Sachbeschädigung), wegwerfen<br />

o<strong>de</strong>r beiseiteschaffen (6 Sachentziehung)?<br />

Beachte, daß in <strong>de</strong>r Zerstörung einer Sache ausnahmsweise <strong>de</strong>ren Zueignung liegen kann, nämlich<br />

wenn <strong>de</strong>r Täter durch die Zerstörung <strong>de</strong>n wirtschaftlichen Wert <strong>de</strong>r Sache erlangt, z.B. Verzehr<br />

frem<strong>de</strong>r Speise.<br />

Bei <strong>de</strong>r Zueignungsabsicht wird zwischen bei<strong>de</strong>n Zueignungskomponenten differenziert: Nur hinsichtlich<br />

<strong>de</strong>r Aneignungskomponente wird Absicht als zielgerichtetes Wollen gefor<strong>de</strong>rt, während für<br />

die Enteignungskomponente je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>s Vorsatzes, auch bedingter Vorsatz, genügt (h.M.).<br />

Der Täter muß die Sache sich selbst o<strong>de</strong>r einem Dritten aneignen wollen. Die Dritt- o<strong>de</strong>r Fremdzueignung<br />

unterschei<strong>de</strong>t sich dabei von <strong>de</strong>r Selbstzueignung allein in <strong>de</strong>r Aneignungskomponente,<br />

in<strong>de</strong>m - bei unverän<strong>de</strong>rter Enteignung - <strong>de</strong>r Täter die Sache nicht sich selbst zueignet, son<strong>de</strong>rn einem<br />

an<strong>de</strong>ren die Aneignung ermöglicht. Nach (bisher) h.M. liegt bei einer eigenmächtig-enteignen<strong>de</strong>n<br />

Verfügung über die Sache zugunsten eines an<strong>de</strong>ren (= Dritten) keine Selbstzueignung, son<strong>de</strong>rn Drittzueignung<br />

vor, wenn <strong>de</strong>r Täter nicht gegen Entgelt, als Schenker/Spen<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r sonst im eigenen<br />

Namen verfügt o<strong>de</strong>r aber ihm die Zuwendung an <strong>de</strong>n Dritten einen zumin<strong>de</strong>st mittelbaren wirtschaftlichen<br />

(str.), nicht unbedingt geldwerten Vorteil bringt (letztere Fälle sind infolge <strong>de</strong>r Neufassung<br />

nunmehr zumin<strong>de</strong>st als Drittzueignung erfaßt; zur alten Fassung siehe BGHSt 40, 8 [18, 20]; [GS] 41,<br />

187 [194 ff] - Stasi-Postplün<strong>de</strong>rungen).<br />

<strong>Recht</strong>swidrig ist die erstrebte Zueignung, wenn sie <strong>de</strong>r materiellen Eigentumsordnung wi<strong>de</strong>rspricht<br />

(h.M.). Daran fehlt es bei (vorheriger) Einwilligung <strong>de</strong>s Eigentümers und beim Aneignungsrecht,<br />

ferner bei einem fälligen und einre<strong>de</strong>freien Anspruch auf Übereignung <strong>de</strong>r weggenommenen Sache.<br />

Das Merkmal <strong>de</strong>r "<strong>Recht</strong>swidrigkeit" ist nach h.M. ein (normatives) objektives Tatbestandsmerkmal<br />

(auf das sich <strong>de</strong>r Tatbestandsvorsatz beziehen muß!), das allerdings üblicherweise erst im Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>r Zueignungsabsicht geprüft wird.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 29


9. Grundsätze <strong>de</strong>s Internationalen Strafanwendungsrechts<br />

I. Während nach althergebrachter <strong>Recht</strong>sterminologie mit <strong>de</strong>m "Internationalen Strafrecht" stets das<br />

(nationale) Strafanwendungsrecht gemeint war, so kann heute <strong>de</strong>r Terminus "Internationales Strafrecht"<br />

eine Vielzahl von Be<strong>de</strong>utungen haben. Denn mittlerweile ist neben das Strafanwendungsrecht<br />

und das <strong>Recht</strong>shilferecht als <strong>de</strong>n klassischen strafrechtlichen <strong>Recht</strong>sgebieten mit internationalem Einschlag<br />

ein echtes Völkerstrafrecht als International Criminal Law getreten, das eine unmittelbare<br />

Strafbarkeit <strong>de</strong>s einzelnen nach Völkerrecht begrün<strong>de</strong>t und insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>m sog. Rom-Statut 13)<br />

kodifiziert ist, das die Grundlage <strong>de</strong>r Jurisdiktion <strong>de</strong>s Internationalen Strafgerichtshofs darstellt. Es<br />

wird auf europäischer Ebene durch ein supranationales Europäisches Strafrecht <strong>de</strong>r Europäischen<br />

Gemeinschaften ergänzt.<br />

Das Internationale Straf(anwendungs)recht regelt die Frage, ob ein Sachverhalt, <strong>de</strong>r im Hinblick auf<br />

die Nationalität <strong>de</strong>s Täters, <strong>de</strong>s Tatobjekts o<strong>de</strong>r einen ausländischen Tatort einen internationalen<br />

Bezug aufweist, gleichwohl <strong>de</strong>r eigenen nationalen Strafgewalt unterliegt (jurisdiction to enforce) und<br />

ob die innerstaatlichen Strafrechtsnormen auf ihn Anwendung fin<strong>de</strong>n (jurisdiction to prescribe). Die<br />

Ausgestaltung <strong>de</strong>r Strafrechtsanwendung fällt in die Kompetenz-Kompetenz <strong>de</strong>r Staaten, ist also Teil<br />

<strong>de</strong>s innerstaatlichen <strong>Recht</strong>s und kein internationales <strong>Recht</strong> (Völkerrecht), wenn auch das Völkerrecht<br />

die Kriterien zulässiger staatlicher Anknüpfungspunkte vorgibt (s.u. II.) und zunehmend völkerrechtliche<br />

Verträge bestimmte Delikte <strong>de</strong>finieren, die durch die Vertragspartner mit Strafe zu bedrohen<br />

(und zu verfolgen) sind.<br />

Im Gegensatz zum <strong>de</strong>utschen "Internationalen Privatrecht" ist das <strong>de</strong>utsche "Internationale Strafrecht"<br />

kein echtes Kollisionsrecht, das bei bestehen<strong>de</strong>n Bezügen zu mehreren <strong>Recht</strong>sordnungen für die nationale<br />

Gerichtsbarkeit die Anwendung nationalen Strafrechts im Verhältnis zu an<strong>de</strong>ren Strafrechtsordnungen<br />

regelt, son<strong>de</strong>rn bloßes <strong>Recht</strong>sanwendungsrecht. Denn nach §§ 3 ff StGB gilt <strong>de</strong>r Grundsatz,<br />

daß <strong>de</strong>utsche Gerichte immer nur <strong>de</strong>utsches Strafrecht anwen<strong>de</strong>n. Strafberechtigung und Strafrecht<br />

können also nicht auseinan<strong>de</strong>rfallen, da einseitig die Anwendbarkeit <strong>de</strong>utschen Strafrechts festgelegt<br />

wird (abweichend etwa Art. 5 schweiz. StGB).<br />

Von <strong>de</strong>m Internationalen Straf(anwendungs)recht zu unterschei<strong>de</strong>n ist das sog. interlokale Strafrecht, das die Frage regelt,<br />

welches <strong>Recht</strong> zur Anwendung kommt, wenn innerhalb eines Staates für mehrere inländische Teilgebiete unterschiedliche<br />

partikuläre Strafrechtsordnungen (Bun<strong>de</strong>s- o<strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>srecht; vgl. hierzu Artt. 125; 74 Nr. 1 GG und Artt. 2-4 EGStGB)<br />

existieren (etwa unterschiedliche Lan<strong>de</strong>sstrafrechte, z.B. über <strong>de</strong>n unerlaubten Umgang mit gefährlichen Hun<strong>de</strong>n), die für<br />

die Beurteilung einer Tat in Betracht kommen, also am Tatort ein an<strong>de</strong>res Strafrecht gilt als am Wohnort <strong>de</strong>s Täters o<strong>de</strong>r<br />

am Sitz <strong>de</strong>s erkennen<strong>de</strong>n Gerichts. Das interlokale Strafrecht ist <strong>de</strong>mnach echtes Kollisionsrecht. Dem interlokalen Strafrecht<br />

kommt in Deutschland vor allem Be<strong>de</strong>utung im Hinblick auf das ehemalige, teilweise nach <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rvereinigung<br />

in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn fortgelten<strong>de</strong> DDR-Strafrecht zu, heute allerdings nur mehr für die Aburteilung von vor <strong>de</strong>m<br />

3.10.1990 begangener Alttaten.<br />

II. Nach <strong>de</strong>m Völkerrecht ist eine "sinnvolle Anknüpfung" (genuine link) staatlicher Strafgewalt gegeben,<br />

wenn eine "ausreichen<strong>de</strong> Binnenbeziehung" vorliegt. Als solche sind anerkannt die Territorialhoheit,<br />

die Personalhoheit, <strong>de</strong>r Schutz wichtiger Staatsinteressen und das Weltrechts- o<strong>de</strong>r Universalitätsprinzip.<br />

Ferner ist - subsidiär - eine stellvertreten<strong>de</strong> Strafrechtspflege zulässig.<br />

a) Nach <strong>de</strong>m Territorialitätsprinzip unterfallen <strong>de</strong>r staatlichen Strafgewalt alle Handlungen, die auf<br />

<strong>de</strong>m eigenen Staatsgebiet begangen wer<strong>de</strong>n, auch dann wenn <strong>de</strong>r Täter o<strong>de</strong>r das Opfer Auslän<strong>de</strong>r ist.<br />

Hinsichtlich <strong>de</strong>s Begehungsortes gilt heute das Ubiquitätsprinzip, d.h. eine Tat ist an je<strong>de</strong>m Ort begangen,<br />

an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Täter gehan<strong>de</strong>lt hat bzw. im Falle <strong>de</strong>s Unterlassens hätte han<strong>de</strong>ln müssen (Handlungstheorie)<br />

o<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten ist bzw. nach <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>s<br />

Täters hätte eintreten sollen (Erfolgstheorie). Letzteres ist insbeson<strong>de</strong>re für Distanz<strong>de</strong>likte von<br />

Be<strong>de</strong>utung, etwa <strong>de</strong>n Schuß über die Grenze.<br />

13<br />

30<br />

Statut <strong>de</strong>s Internationalen Strafgerichtshofs v. 17.7.1998, BGBl. 2000 II, S. 1394 ff. Es wur<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Gesetzgeber mit <strong>de</strong>m Völkerstrafgesetzbuch (VStGB; BGBl. 2002 I, S. 2254) in nationales <strong>Recht</strong> umgesetzt.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


) Nach <strong>de</strong>m Flaggenprinzip erstreckt sich die staatliche Strafgewalt auch auf alle Handlungen an<br />

Bord eines unter <strong>de</strong>m nationalen Hoheitszeichen (Flagge) fahren<strong>de</strong>n bzw. bei ihm registrierten (Seeo<strong>de</strong>r<br />

Binnen-) Schiffes o<strong>de</strong>r Luftfahrzeuges, auch wenn die Tat von einem Auslän<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r in o<strong>de</strong>r<br />

über frem<strong>de</strong>m Hoheitsgebiet bzw. auf o<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>r Hohen See begangen wor<strong>de</strong>n ist.<br />

c) Nach <strong>de</strong>m aktiven Personalitätsprinzip unterfallen <strong>de</strong>r eigenen Strafgewalt auch Auslandstaten<br />

eigener Staatsangehöriger und solcher Personen, die z.B. als Beamte, als Angehörige <strong>de</strong>r inländischen<br />

Streitkräfte o<strong>de</strong>r aus sonstigen Grün<strong>de</strong>n zu <strong>de</strong>m verfolgen<strong>de</strong>n Staat in engeren persönlichen Beziehungen<br />

stehen (teilweise mit <strong>de</strong>r Einschränkung, daß die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Tatort<br />

keiner Strafgewalt unterliegt). Eine Abwandlung ist das sog. Domizilprinzip, das für die Begründung<br />

<strong>de</strong>r staatlichen Strafgewalt <strong>de</strong>n inländischen Wohnsitz <strong>de</strong>s Auslän<strong>de</strong>rs genügen läßt.<br />

d) Nach <strong>de</strong>m passiven Personalitätsprinzip (o<strong>de</strong>r Individualschutzprinzip; leges ossibus inhaerent) -<br />

einem Fall <strong>de</strong>s Schutzprinzips i.w.S. - unterfallen <strong>de</strong>r staatlichen Strafgewalt im Ausland begangene,<br />

gegen eigene Staatsangehörige, Amtsträger o<strong>de</strong>r Schutzbefohlene gerichtete Handlungen, wenn die<br />

Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist o<strong>de</strong>r keiner Strafgewalt unterliegt (sog. Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ntischen<br />

Norm). Teilweise wird hier aber auch eine ausreichen<strong>de</strong> Binnenbeziehung verneint und diese<br />

Fallgruppe abgelehnt.<br />

e) Nach <strong>de</strong>m Schutzprinzip darf <strong>de</strong>r Staat Auslandstaten von Auslän<strong>de</strong>rn dann <strong>de</strong>r eigenen Strafgewalt<br />

unterwerfen, wenn durch die Tat inländische <strong>Recht</strong>sgüter gefähr<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r verletzt wer<strong>de</strong>n, seien es solche<br />

<strong>de</strong>s Staates selbst (etwa Hoch- und Lan<strong>de</strong>sverrat, Straftaten gegen die Lan<strong>de</strong>sverteidigung o<strong>de</strong>r<br />

gegen die öffentliche Ordnung), sog. Staatsschutzprinzip o<strong>de</strong>r Realprinzip, o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re inländische<br />

<strong>Recht</strong>sgüter, sog. passives Personalitätsprinzip (s.o. d)).<br />

f) Das Universalitätsprinzip o<strong>de</strong>r Weltrechtsprinzip betrifft Delikte gegen <strong>Recht</strong>sgüter, an <strong>de</strong>ren<br />

Unversehrtheit alle Staaten interessiert sind und die als <strong>de</strong>lictum iuris gentium (international crime)<br />

gelten bzw. Delikte, die durch multilaterale Verträge statuiert wer<strong>de</strong>n. Die staatliche Strafgewalt besteht<br />

hier unabhängig von <strong>de</strong>r Nationalität <strong>de</strong>s Täters o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Tatort (Beispiele: Falschmünzerei,<br />

Sklaven-, Waffen-, Kin<strong>de</strong>r-, Frauenhan<strong>de</strong>l, Han<strong>de</strong>l mit Betäubungsmitteln o<strong>de</strong>r unzüchtigen Schriften,<br />

Beschädigung unterseeischer Kabel, Völkermord, verbrecherische Akte gegen Diplomaten und an<strong>de</strong>re<br />

Vertreter frem<strong>de</strong>r Staaten, Piraterie, Akte <strong>de</strong>s Terrorismus, Flugzeugentführungen, Geiselnahme,<br />

Folter, Apartheid). Teilweise besteht bei diesen Delikten aufgrund multilateraler Verträge die völkerrechtliche<br />

Verpflichtung zur Verfolgung und Bestrafung <strong>de</strong>s Täters o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Täter zwecks Strafverfolgung<br />

auszuliefern (aut <strong>de</strong><strong>de</strong>re aut iudicare).<br />

g) Nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r stellvertreten<strong>de</strong>n Strafrechtspflege verfolgen Staaten Straftaten ohne Rücksicht<br />

auf die Staatsangehörigkeit <strong>de</strong>s Täters und <strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>r Begehung dann, wenn die Tat nach <strong>de</strong>m<br />

am Tatort gelten<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong> strafbar ist und eine Auslieferung <strong>de</strong>s im Inland ergriffenen Täters aus<br />

tatsächlichen o<strong>de</strong>r rechtlichen Grün<strong>de</strong>n nicht in Betracht kommt (und somit die an sich zuständige<br />

auswärtige Strafgewalt nicht tätig wer<strong>de</strong>n kann). Während die bisherigen Prinzipien selbständige<br />

Anknüpfungspunkte für die eigene Strafgewalt darstellen, ergänzt das Prinzip <strong>de</strong>r stellvertreten<strong>de</strong>n<br />

Strafrechtspflege subsidiär die Strafgewalt an<strong>de</strong>rer Staaten.<br />

h) Teilweise liegt heute internationalen Abkommen das Kompetenzverteilungsprinzip zugrun<strong>de</strong>, um<br />

eine Überschneidung <strong>de</strong>r Geltungsbereiche <strong>de</strong>r nationalen Strafrechtsordnungen und so auch Doppelbestrafungen<br />

zu vermei<strong>de</strong>n. Meist wird hierbei jenem Staat die Strafberechtigung zugewiesen, in <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>r Täter seinen Wohnsitz hat (vgl. Domizilprinzip) o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m die Verurteilung am zweckmäßigsten<br />

erscheint.<br />

Die Grundlage <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Internationalen Strafrechts bil<strong>de</strong>t seit 1975 wie<strong>de</strong>r das Territorialitätsprinzip,<br />

nach<strong>de</strong>m man 1940 zum aktiven Personalitätsprinzip als Grundsatz übergegangen war (einen<br />

begrenzten Verweis auf anzuwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s ausländisches Strafrecht enthielt das Reichsstrafgesetzbuch<br />

von 1871 in § 4 Abs. 3 StGB). Allerdings fin<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>n §§ 3 ff StGB auch an<strong>de</strong>re Anknüpfungspunkte<br />

<strong>de</strong>utscher Strafgewalt.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 31


10. Fallbeispiel: "Der Spanner" (BGH, NJW 1979, 2053)<br />

Sachverhalt: Im Jahre 1975 bemerkten H und seine Ehefrau (E) dreimal, daß ihnen auf unerklärliche<br />

Weise aus <strong>de</strong>r Wohnung Geld abhan<strong>de</strong>n kam. Im April 1976 erwachte die E nachts im Schlafzimmer<br />

dadurch, daß jemand sie an <strong>de</strong>r Schulter berührte. Sie sah im Halbdunkel einen Mann, <strong>de</strong>r sich alsbald<br />

leise entfernte. H, von <strong>de</strong>r E verständigt, sah im Wohnzimmer <strong>de</strong>n später Verletzten (S) stehen, <strong>de</strong>n er<br />

damals nicht kannte. Der Eindringling flüchtete sofort; H setzte ihm nach, konnte ihn jedoch nicht<br />

erreichen. Er ließ nach diesen Vorfällen am Gartentor eine Alarmanlage anbringen und erwarb eine<br />

Schreckschußpistole.<br />

Etwa sechs Wochen später ertönte abends das Signal <strong>de</strong>r Alarmanlage. H ergriff die Schreckschußpistole<br />

und lief in <strong>de</strong>n Garten. Dicht neben sich bemerkte er <strong>de</strong>nselben Mann, <strong>de</strong>n er früher im<br />

Wohnzimmer gesehen hatte. Er gab einen Schuß aus <strong>de</strong>r Schreckschußpistole ab, S flüchtete wie<strong>de</strong>rum.<br />

H verfolgte ihn, verlor ihn jedoch aus <strong>de</strong>n Augen. Er zeigte die Vorkommnisse <strong>de</strong>r Polizei an, die<br />

zum Erwerb eines Waffenscheins und einer Schußwaffe riet. Die Eheleute befürchteten, daß <strong>de</strong>r<br />

Eindringling es auf die E o<strong>de</strong>r auf die Kin<strong>de</strong>r abgesehen habe. Ihre Angst steigerte sich <strong>de</strong>rart, daß sie<br />

abends fast nie mehr gemeinsam ausgingen, auf Theaterbesuche und die Teilnahme an Veranstaltungen<br />

verzichteten und keine Einladungen mehr annahmen. Zeitweise traten bei ihnen Schlafstörungen<br />

auf. Die E, die eine Arztpraxis betreibt, befürchtete, wenn sie zu nächtlichen Hausbesuchen gerufen<br />

wur<strong>de</strong>, jemand lauere ihr auf. H ließ hierauf eine <strong>de</strong>r E gehören<strong>de</strong> Pistole instandsetzen und nahm sie<br />

mit <strong>de</strong>ren Einverständnis in Besitz, obwohl er die dazu erfor<strong>de</strong>rliche behördliche Erlaubnis nicht hatte.<br />

Am 29.4.1977 ertönte gegen 2.30 Uhr wie<strong>de</strong>r die Alarmanlage. H und E verhielten sich ganz ruhig<br />

und erbaten telefonisch polizeiliche Hilfe. Bevor diese eintraf flüchtete <strong>de</strong>r Eindringling. Am 9.9.1977<br />

erwachte H gegen 1.50 Uhr durch ein Geräusch und sah am Fußen<strong>de</strong> seines Bettes einen Mann stehen.<br />

Mit einem Schrei sprang er aus <strong>de</strong>m Bett, ergriff die Pistole und lud sie durch. Der Mann wandte sich<br />

zur Flucht, <strong>de</strong>r H lief hinterher. Wie<strong>de</strong>r war <strong>de</strong>r Eindringling schneller als er. H rief mehrfach "Halt<br />

o<strong>de</strong>r ich schieße" und schoß schließlich, da S nicht stehenblieb, zweimal in Richtung auf die Beine <strong>de</strong>s<br />

Flüchten<strong>de</strong>n. Er wollte <strong>de</strong>n Eindringling dingfest machen und so <strong>de</strong>r für die Familie <strong>de</strong>s H unerträglichen<br />

Situation ein En<strong>de</strong> bereiten. H traf <strong>de</strong>n S in die linke Gesäßhälfte und in die linke Flanke.<br />

Aufgabe: Strafbarkeit <strong>de</strong>s H (ohne Vergehen nach <strong>de</strong>m Waffengesetz; anzuwen<strong>de</strong>n ist das StGB in <strong>de</strong>r<br />

aktuellen Fassung)?<br />

Lösung<br />

(abgewan<strong>de</strong>lt nach B. von Heintschel-Heinegg, Prüfungstraining Strafrecht, Neuwied 1992, Bd. 2, Fall 4, S. 36 ff)<br />

1. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB<br />

Durch die bei<strong>de</strong>n Schüsse in die linke Gesäßhälfte und in die linke Flanke <strong>de</strong>s S könnte sich H wegen<br />

einer Gefährlichen Körperverletzung strafbar gemacht haben.<br />

a) H hat durch die bei<strong>de</strong>n Schüsse vorsätzlich <strong>de</strong>n S mit einer Waffe verletzt, so daß <strong>de</strong>r qualifizierte<br />

Tatbestand <strong>de</strong>r Gefährlichen Körperverletzung (körperliche Mißhandlung, Gesundheitsbeschädigung)<br />

mittels einer Waffe erfüllt ist.<br />

b) Fraglich ist, ob ein <strong>Recht</strong>fertigungsgrund eingreift.<br />

aa) Da H <strong>de</strong>n S dingfest machen wollte, könnte sein Han<strong>de</strong>ln durch das Festnahmerecht nach § 127<br />

Abs. 1 StPO gerechtfertigt sein.<br />

S wur<strong>de</strong> von H auf frischer Tat, einem Hausfrie<strong>de</strong>nsbruch, verfolgt. Auch konnte H die I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s<br />

S nicht sofort feststellen. Die Befugnis zur vorläufigen Festnahme schließt notwendigerweise das<br />

<strong>Recht</strong> zur Vornahme von Handlungen ein, die sich tatbestandsmäßig als Freiheitsberaubung und<br />

Nötigung darstellen, sowie ein nach Lage <strong>de</strong>s Falls erfor<strong>de</strong>rliches festes Zupacken zur Verhin<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>s Entweichens. Wenn insofern die erfor<strong>de</strong>rliche Anwendung von Zwang die Ausübung körperlicher<br />

Gewalt, auch mit <strong>de</strong>r Gefahr o<strong>de</strong>r Folge körperlicher Verletzung einschließt, so doch aber nicht<br />

weitergehen<strong>de</strong>, gravieren<strong>de</strong> Körperbeeinträchtigungen o<strong>de</strong>r eine ernsthafte Beschädigung <strong>de</strong>r Gesundheit.<br />

Diese schei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m <strong>Recht</strong>fertigungsgrund aus; es ist <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu<br />

32<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


eachten (h.M.). Damit stellt sich hier das Problem <strong>de</strong>s Schußwaffengebrauchs zur Festnahme, zumal<br />

das Festnahmerecht keine Befugnis zu Körperverletzungen gibt, um die Festnahme zu ermöglichen.<br />

Nach h.M. ist zwar das Drohen mit einer Schußwaffe zulässig, (grundsätzlich) aber nicht <strong>de</strong>ren<br />

Einsatz, so daß die Schußverletzung nicht gerechtfertigt ist. Soweit in <strong>de</strong>r Praxis Schüsse auf <strong>de</strong>n<br />

fliehen<strong>de</strong>n Täter bei beson<strong>de</strong>rs schwerer <strong>Recht</strong>sgutsverletzung für gerechtfertigt gehalten wer<strong>de</strong>n,<br />

spricht hiergegen nicht nur <strong>de</strong>r Gesetzeswortlaut, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Gedanke, daß das Gesetz das Maß<br />

<strong>de</strong>legierter Gewaltausübung überschaubar halten will. Zu<strong>de</strong>m wür<strong>de</strong>n die bei Privatleuten zu beachten<strong>de</strong>n<br />

Notwehr- und Notstandsvoraussetzungen bei Dauergefahr unterlaufen.<br />

bb) Als <strong>Recht</strong>fertigungsgrund könnte jedoch Notwehr, § 32 StGB, eingreifen.<br />

Voraussetzung hierfür ist zunächst eine Notwehrlage, nämlich ein gegenwärtiger, rechtswidriger<br />

Angriff gegen ein notwehrfähiges <strong>Recht</strong>sgut.<br />

Fraglich ist, ob H bei Abgabe <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Schüsse einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff <strong>de</strong>s<br />

S ausgesetzt war.<br />

Angriff ist je<strong>de</strong> durch menschliches Verhalten drohen<strong>de</strong> Verletzung rechtlich geschützter Interessen.<br />

Durch sein Eindringen in das Schlafzimmer <strong>de</strong>r Eheleute H verletzte S sowohl <strong>de</strong>ren Hausrecht als<br />

auch <strong>de</strong>ren Privat- und Intimsphäre. Die fehlen<strong>de</strong>n Geldbeträge weisen auf einen Angriff auf das<br />

Eigentum <strong>de</strong>r Eheleute hin, die Schlafstörungen auf einen solchen auf <strong>de</strong>ren Gesundheit.<br />

Zweifelhaft ist allerdings, ob diese Angriffe, als H auf <strong>de</strong>n fliehen<strong>de</strong>n S schoß, noch gegenwärtig<br />

waren. Gegenwärtig ist ein Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, gera<strong>de</strong> stattfin<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r andauert<br />

(also das <strong>Recht</strong>sgut zwar bereits verletzt hat, diese Verletzung aber noch intensiviert wird).<br />

We<strong>de</strong>r sind <strong>de</strong>m Sachverhalt Anhaltspunkte für einen erneuten Gelddiebstahl (<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Verfolgung<br />

<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>m Geld Fliehen<strong>de</strong>n materiell noch nicht been<strong>de</strong>t und damit gegenwärtig wäre) noch<br />

dafür zu entnehmen, daß die zeitweise eingetretenen Schlafstörungen zu einem krankhaften Zustand<br />

führten, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>m letzten Angriff noch fortbestand. Auch die Gegenwärtigkeit <strong>de</strong>s Angriffs auf das<br />

Hausrecht wäre unproblematisch zu verneinen, wenn H <strong>de</strong>n S außerhalb seines Anwesens mit <strong>de</strong>n<br />

Schüssen verletzt hätte. Der Sachverhalt ist insoweit nicht ein<strong>de</strong>utig. Aber selbst wenn H <strong>de</strong>n fliehen<strong>de</strong>n<br />

S noch innerhalb von Haus und Garten <strong>de</strong>r Eheleute H getroffen hat, war <strong>de</strong>r Angriff, als S die<br />

Flucht ergriff, abgeschlossen. Daß aufgrund <strong>de</strong>r früheren Vorkommnisse zu befürchten stand, S wer<strong>de</strong><br />

zu einem späteren Zeitpunkt wie<strong>de</strong>r auftauchen, kann keine Notwehrlage begrün<strong>de</strong>n, weil <strong>de</strong>r Angriff<br />

unmittelbar bevorstehen und ein Hinauszögern die Verteidigungsmöglichkeiten <strong>de</strong>s Angegriffenen<br />

erheblich verschlechtern muß. Daß S unmittelbar wie<strong>de</strong>r zum Angriff ansetzen wür<strong>de</strong>, war objektiv<br />

nicht zu erwarten.<br />

cc) Dieses Ergebnis ist allerdings im Hinblick darauf zu über<strong>de</strong>nken, als zwar kein gegenwärtiger<br />

Angriff vorliegt, jedoch ein künftig drohen<strong>de</strong>r Angriff <strong>de</strong>s S nur durch ein gegenwärtiges Verhalten<br />

abgewandt wer<strong>de</strong>n kann, weshalb eine analoge Anwendung <strong>de</strong>s § 32 StGB in Betracht kommen<br />

könnte. (Solch eine Analogie in bonam partem zugunsten <strong>de</strong>s Täters wird durch das Analogieverbot<br />

<strong>de</strong>s § 1 StGB nicht ausgeschlossen.) In <strong>de</strong>r Literatur wird dies unter <strong>de</strong>m Stichwort "notwehrähnliche<br />

Lage" (Präventivnotwehr) diskutiert und teilweise eine <strong>Recht</strong>fertigung analog § 32 StGB bei einem<br />

drohen<strong>de</strong>n späteren Angriffs bzw. weiterer zukünftiger Angriffe, sobald sich diese ankündigen und<br />

eine Verschlechterung <strong>de</strong>r Verteidigungschancen durch Abwarten zu besorgen ist, bejaht (insbeson<strong>de</strong>re<br />

in Fällen heimlicher Tonbandaufnahmen zur Abwehr einer späteren Nötigung o<strong>de</strong>r Erpressung).<br />

In<strong>de</strong>s ist mit <strong>de</strong>r h.M. ein <strong>Recht</strong>fertigungsgrund <strong>de</strong>r notwehrähnlichen Lage abzulehnen. Eine Analogie<br />

zur Notwehrvorschrift versagt schon <strong>de</strong>shalb, weil die Gegenwärtigkeit <strong>de</strong>s Angriffs eine ganz<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Voraussetzung ist, die <strong>de</strong>r Notwehr ihr spezifisches soziales Gepräge beim "Kampf um<br />

das <strong>Recht</strong>" (Selbstschutz, <strong>Recht</strong>sbewährung) gibt. Die Verteidigungslücke in <strong>de</strong>n Fällen, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />

Angriff noch nicht begonnen hat, wenn bereits die letzte Chance zu seiner Abwehr verstreicht, darf<br />

nicht durch Aus<strong>de</strong>hnung eines so weitreichen<strong>de</strong>n und gravieren<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>fertigungsgrunds wie <strong>de</strong>r<br />

Notwehr erfolgen, die keine Verhältnismäßigkeit zwischen geschütztem und verletztem Interesse<br />

verlangt (mangeln<strong>de</strong> Analogiefähigkeit). Selbst wenn man im Rahmen <strong>de</strong>r Analogie als einschränken<strong>de</strong>m<br />

Kriterium die Proportionalität zwischen Präventivverteidigung und zukünftigem Angriff for<strong>de</strong>rt,<br />

<strong>de</strong>hnt dies immer noch <strong>de</strong>n Anwendungsbereich <strong>de</strong>s § 32 StGB unangemessen weit aus. In Fällen <strong>de</strong>r<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 33


notwehrähnlichen Lage han<strong>de</strong>lt es sich vielmehr un ein Notstandsproblem (insofern fehlt es sogar an<br />

einer Regelungslücke).<br />

dd) Zu prüfen ist daher, ob H nicht wegen rechtfertigen<strong>de</strong>n Notstands nach § 34 StGB gerechtfertigt<br />

sein könnte.<br />

Zunächst müßte eine Notstandslage bestan<strong>de</strong>n haben, nämlich eine gegenwärtige Gefahr für<br />

(irgen<strong>de</strong>in) ein <strong>Recht</strong>sgut.<br />

Gefahr ist ein Zustand, in <strong>de</strong>m objektiv ex ante zu prognostizieren ist, daß eine Gutsverletzung nach<br />

<strong>de</strong>m zu erwarten<strong>de</strong>n Verlauf nicht unwahrscheinlich ist. Angesichts <strong>de</strong>r Hartnäckigkeit <strong>de</strong>s S sprach<br />

eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieser erneut in das Haus <strong>de</strong>r Eheleute H eindringen<br />

wer<strong>de</strong>. Damit waren Hausrecht und Intimsphäre <strong>de</strong>r Familie H, aber auch <strong>de</strong>ren Handlungsfreiheit und<br />

Gesundheit bedroht, nach<strong>de</strong>m die Eheleute H aus Angst vor einer Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>s Eindringlings<br />

abends fast nie mehr gemeinsam ausgingen, auf Theaterbesuche und sonstige Veranstaltungen verzichteten<br />

und bei ihnen Schlafstörungen auftraten. Daß S, was H nicht wußte, keinen Angriff auf Leib<br />

o<strong>de</strong>r Leben plante, steht <strong>de</strong>m nicht entgegen; <strong>de</strong>nn wie erwähnt ist die Gefahrlage objektiv ex ante zu<br />

bestimmen und zu<strong>de</strong>m war je<strong>de</strong>nfalls mit einem erneuten Eindringen ins Haus zu rechnen, auch wenn<br />

S als Spanner <strong>de</strong>n Familienmitglie<strong>de</strong>rn nichts antun wollte.<br />

Schon aus <strong>de</strong>n im Rahmen <strong>de</strong>r Notwehrprüfung genannten Grün<strong>de</strong>n ist zweifelhaft, ob die "Gegenwärtigkeit"<br />

dieser Gefahr bejaht wer<strong>de</strong>n kann. Anhaltspunkte dafür, daß S noch in <strong>de</strong>rselben Nacht<br />

wie<strong>de</strong>rum in das Haus eindringen wür<strong>de</strong>, lagen nicht vor, son<strong>de</strong>rn erst für die nähere Zukunft stand zu<br />

befürchten, daß S wie<strong>de</strong>r aufkreuzt. Das Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r "Gegenwärtigkeit <strong>de</strong>r Gefahr" in § 34 StGB<br />

ist aber nicht so eng zu verstehen wie in § 32 StGB. Die Schneidigkeit <strong>de</strong>s Notwehrrechts, die zu einer<br />

engen Interpretation zwingt, ist so beim rechtfertigen<strong>de</strong>n Notstand, <strong>de</strong>r durch das Prinzip <strong>de</strong>s überwiegen<strong>de</strong>n<br />

Interesses begrenzt ist, nicht gegeben, weshalb in § 34 StGB <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Gegenwärtigkeit<br />

weiter auszulegen ist.<br />

Gegenwärtig ist hiernach eine Gefahr, wenn nach objektiver Betrachtung ex ante <strong>de</strong>r Eintritt <strong>de</strong>s<br />

Scha<strong>de</strong>ns alsbald o<strong>de</strong>r bei Dauergefahr zu einem späteren Zeitpunkt so wahrscheinlich ist, daß die<br />

notwendigen Maßnahmen zum Schutz <strong>de</strong>s bedrohten <strong>Recht</strong>sguts vernünftigerweise sofort einzuleiten<br />

sind. S hatte durch wie<strong>de</strong>rholtes nächtliches Erscheinen in <strong>de</strong>r Wohnung und im Garten <strong>de</strong>r Familie<br />

H, insbeson<strong>de</strong>re durch seine auffallen<strong>de</strong> Hartnäckigkeit und Unverfrorenheit, eine fortdauern<strong>de</strong><br />

Gefährdung für das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Hausrecht, die Freiheit <strong>de</strong>r Willensbetätigung<br />

und <strong>de</strong>r Gesundheit <strong>de</strong>r Eheleute H geschaffen, ohne daß die Polizei bislang helfen konnte, und es<br />

stand zu erwarten, daß S die Belästigungen alsbald fortsetzen wird, wenn es nicht gelang, seiner<br />

habhaft zu wer<strong>de</strong>n. Von einer gegenwärtigen Gefahr ist daher auszugehen. Niemand braucht solange<br />

zu warten, bis die erwartete und zu erwarten<strong>de</strong> Gutsverletzung bereits wie<strong>de</strong>r stattfin<strong>de</strong>t, um dann zu<br />

erfolglosen Abwehrmitteln zu greifen.<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>r Notstandshandlung, die durch die Unanwendbarkeit <strong>de</strong>r Gefahr auf an<strong>de</strong>re Weise<br />

und das wesentliche Überwiegen <strong>de</strong>s geschützten Interesses sowie die Angemessenheit <strong>de</strong>s Mittels<br />

gekennzeichnet wird, ist bereits fraglich, ob die Gefahr nicht an<strong>de</strong>rs abwendbar war als durch die<br />

begangene Tat. Die Erfor<strong>de</strong>rlichkeit <strong>de</strong>s ersten Schusses ist zu bejahen, nach<strong>de</strong>m alle an<strong>de</strong>ren<br />

Maßnahmen ohne Erfolg geblieben waren, insbeson<strong>de</strong>re auch das Einschalten <strong>de</strong>r Polizei und die<br />

Abgabe eines Schreckschusses an einem früheren Tag. Zweifel bestehen aber hinsichtlich <strong>de</strong>s zweiten<br />

Schusses, nach<strong>de</strong>m H bereits mit <strong>de</strong>m ersten Schuß <strong>de</strong>n S getroffen hatte. Für die Erfor<strong>de</strong>rlichkeit im<br />

Rahmen <strong>de</strong>r Notwehr ist anerkannt, daß im Rahmen <strong>de</strong>r Erfor<strong>de</strong>rlichkeit <strong>de</strong>r Verteidiger z.B. mehrfach<br />

auf <strong>de</strong>n Angreifer einstechen kann. Jedoch geht es hier um die Verhin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r erneuten Flucht. Geht<br />

man zugunsten <strong>de</strong>s H davon aus, daß die Gefahr nur durch die bei<strong>de</strong>n Schüsse abgewandt wer<strong>de</strong>n<br />

konnte, dann ist das erste Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r Notstandshandlung - die Unabwendbarkeit <strong>de</strong>r Gefahr auf<br />

an<strong>de</strong>re Weise - zu bejahen.<br />

Problematisch ist, ob bei Abwägung <strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Interessen, namentlich <strong>de</strong>r betroffenen<br />

<strong>Recht</strong>sgüter und <strong>de</strong>s Gra<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r ihnen drohen<strong>de</strong>n Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte<br />

wesentlich überwiegt. Als <strong>Recht</strong>sgüter stan<strong>de</strong>n sich das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das<br />

Hausrecht, die Freiheit <strong>de</strong>r Willensbetätigung sowie die Gesundheit <strong>de</strong>r Eheleute H einerseits und die<br />

körperliche Unversehrtheit <strong>de</strong>s S an<strong>de</strong>rerseits gegenüber. Stellt man allein auf das Ausmaß <strong>de</strong>r S<br />

34<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


zugefügten Verletzungen und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Eheleuten H drohen<strong>de</strong>n Beeinträchtigungen ab, dann kann angesichts<br />

<strong>de</strong>s hohen Rangs <strong>de</strong>r menschlichen Körperintegrität und Gesundheit nicht davon gesprochen<br />

wer<strong>de</strong>n, daß das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Darüber hinaus<br />

könnten sich schon vom Grundsätzlichen her Be<strong>de</strong>nken ergeben, weil es beim beeinträchtigten<br />

Interesse um die körperliche Unversehrtheit geht und wegen <strong>de</strong>s Autonomieprinzips im Regelfall nur<br />

geringfügige körperliche Eingriffe durch rechtfertigen<strong>de</strong>n Notstand ge<strong>de</strong>ckt sind. Die strenge Voraussetzung<br />

<strong>de</strong>s wesentlichen Überwiegens <strong>de</strong>s geschützten Interesses paßt jedoch nur für <strong>de</strong>n Regelfall,<br />

daß <strong>de</strong>r Notstandstäter zwecks Rettung in Güter einer Person eingreift, die für <strong>de</strong>n Konflikt nicht<br />

zuständig ist, d.h. <strong>de</strong>n aggressiven Notstand, auf <strong>de</strong>n § 34 StGB zugeschnitten ist. Rührt jedoch, wie<br />

im vorliegen<strong>de</strong>n Fall, die Gefahr von <strong>de</strong>mjenigen her, in <strong>de</strong>ssen Güter eingegriffen wird, han<strong>de</strong>lt es<br />

sich also um einen <strong>de</strong>fensiven Notstand, dann ist in die Abwägung <strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Interessen<br />

einzubeziehen, daß es sich um die Verteidigung gegen das <strong>Recht</strong>sgut han<strong>de</strong>lt, von <strong>de</strong>m die gegenwärtige<br />

Gefahr ausgeht; das Autonomieprinzip kann hier keine Be<strong>de</strong>utung erlangen. Die h.M. im strafrechtlichen<br />

Schrifttum bejaht wegen <strong>de</strong>s prinzipiellen Unterschieds von aggressivem und <strong>de</strong>fensivem<br />

Notstand eine analoge Heranziehung <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sgedankens von § 228 BGB, wonach <strong>de</strong>r Verteidigungscharakter<br />

bei <strong>de</strong>r Interessenabwägung dahingehend in Ansatz zu bringen ist, daß es nach dieser<br />

positivrechtlichen Regelung <strong>de</strong>s Defensivnotstands genügt, wenn <strong>de</strong>r durch die Verteidigungshandlung<br />

angerichtete Scha<strong>de</strong>n nicht außer Verhältnis zu <strong>de</strong>r abgewen<strong>de</strong>ten Gefahr steht. Für Fälle,<br />

in <strong>de</strong>nen die Gefahr von einem menschlichen Verhalten droht, das noch keinen gegenwärtigen Angriff<br />

i.S. <strong>de</strong>s § 32 StGB darstellt, können Eingriffe in die Körperintegrität <strong>de</strong>s Verursachers allerdings nur<br />

in maßvollen Grenzen zulässig sein. In die Interessenabwägung ist also einzubeziehen, daß die<br />

Notstandshandlung eine Verteidigungsmaßnahme gegen <strong>de</strong>njenigen war, von <strong>de</strong>m die nicht an<strong>de</strong>rs<br />

abwendbare Gefahr ausging. Hinzukommt, daß durch die Hartnäckigkeit, mit <strong>de</strong>r S immer wie<strong>de</strong>r in<br />

Haus und Garten <strong>de</strong>r Eheleute eingedrungen ist, das gesamte Familienleben terrorisiert wur<strong>de</strong>. Die<br />

durch die bei<strong>de</strong>n Schüsse begangene Gefährliche Körperverletzung hat sich daher wegen Art und<br />

Intensität <strong>de</strong>r von H ausgehen<strong>de</strong>n Gefahr noch in maßvollen Grenzen gehalten. Nach alle<strong>de</strong>m ergibt<br />

eine Abwägung <strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Interessen ein wesentliches Überwiegen auf Seiten <strong>de</strong>s H.<br />

Die Schüsse auf S sind auch ein angemessenes Mittel zur Abwendung <strong>de</strong>r weiterhin drohen<strong>de</strong>n<br />

Gefahren, § 34 S. 2 StGB.<br />

Schließlich han<strong>de</strong>lte H, um die von S ausgehen<strong>de</strong> Gefahr abzuwen<strong>de</strong>n.<br />

Ergebnis: Die Gefährliche Körperverletzung ist somit aufgrund rechtfertigen<strong>de</strong>n Notstands nach § 34<br />

StGB gerechtfertigt.<br />

Die <strong>Recht</strong>fertigungsfrage offen zu lassen und allein auf <strong>de</strong>n entschuldigen<strong>de</strong>n Notstand, § 35<br />

StGB, abzustellen, wie dies <strong>de</strong>r BGH hier tat, ist aus zweierlei Grün<strong>de</strong>n verfehlt: Zum einen setzt<br />

§ 35 StGB eine rechtswidrige Tat voraus, zum an<strong>de</strong>ren sind die Notstandsgüter bei <strong>de</strong>m entschuldigen<strong>de</strong>n<br />

Notstand gegenüber <strong>de</strong>m rechtfertigen<strong>de</strong>n Notstand wesentlich eingeschränkt,<br />

nämlich auf Leben, Leib und Freiheit, woran es hier insoweit fehlte, als unter Freiheit nicht die<br />

allgemeine Handlungsfreiheit, son<strong>de</strong>rn die Fortbewegungsfreiheit zu verstehen ist (vgl. Anm. von<br />

Hirsch, JR 1980, 114).<br />

2. Eine Strafbarkeit <strong>de</strong>s H wegen versuchter Freiheitsberaubung, §§ 22, 239 Abs. 1 u. 2 StGB, und<br />

versuchter Nötigung, §§ 22, 240 Abs. 1 u. 3 StGB, scheitert hier, trotz <strong>de</strong>ren tatbestandlichem<br />

Eingreifen, ebenfalls an <strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>swidrigkeit von H's Han<strong>de</strong>ln. Auch insofern greift <strong>de</strong>r<br />

rechtfertigen<strong>de</strong> (Defensiv-) Notstand, § 34 StGB, ein.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 35


Teil III: Grundlagen <strong>de</strong>s Staatsrechts<br />

11. Einteilung <strong>de</strong>r Grundrechte<br />

I. Dogmatische Einteilung<br />

a) Grundrechte i.e.S. (Artt. 1-19, einschl. zugehöriger Regelungen wie etwa Artt. 17a, 18, 19 Abs. 1-<br />

3 GG)<br />

- Differenzierung nach <strong>de</strong>n Grundrechtsträgern (Menschen- u. Freiheitsrechte, Deutschenrechte;<br />

s.u. 13.I)<br />

b) sog. grundrechtsgleiche <strong>Recht</strong>e (vgl. die Aufzählung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a: Artt. 20 Abs. 4, 33,<br />

38, 101, 103, 104 GG)<br />

c) nicht: <strong>Recht</strong>sstaats- und Sozialstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, aber sie sind mit Grundlage vieler<br />

verfahrensrechtlicher <strong>Recht</strong>spositionen bzw. staatlicher Leistungen<br />

d) nicht: Staatszielbestimmungen Art. 20a GG (siehe auch Präambel, Artt. 1 Abs. 1 u. 2, 3 Abs. 2 u.<br />

3; 14 Abs. 3 S. 1; 23 Abs. 1 S. 1, 24 Abs. 2, 109 Abs. 2 GG [Vereintes Europa, Frie<strong>de</strong>nssicherung,<br />

Wahrung <strong>de</strong>r Menschenrechte, Internationale Zusammenarbeit ...]), aber Teil <strong>de</strong>r verfassungsrechtlichen<br />

Werteordnung<br />

II. Systematische Einteilung <strong>de</strong>r Grundrechte (nach Jörn Ipsen, Staatsrecht II)<br />

- Der Schutz <strong>de</strong>s Individuums und seiner Privatsphäre<br />

1. Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG)<br />

2. <strong>Recht</strong> auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)<br />

3. Freiheit <strong>de</strong>r Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; s.a. Art. 104 GG)<br />

4. Unverletzlichkeit <strong>de</strong>r Wohnung (Art. 13 GG)<br />

5. Unverletzlichkeit <strong>de</strong>s Brief-, Post- und Fernmel<strong>de</strong>geheimnisses (Art. 10 GG)<br />

6. Allgemeines Persönlichkeitsrecht einschl. <strong>de</strong>m <strong>Recht</strong> auf informationelle Selbstbestimmung<br />

(Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)<br />

- Der Schutz von Ehe und Familie, Kin<strong>de</strong>rerziehung und Schulwesen<br />

7. Schutz <strong>de</strong>r Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG)<br />

8. Schutz <strong>de</strong>r Familie (Art. 6 Abs. 2-5 GG)<br />

9. Schulwesen (Art. 7 GG)<br />

- Der Schutz kommunikativen Han<strong>de</strong>lns<br />

10. Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG)<br />

11. Freiheit <strong>de</strong>s Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG)<br />

12. <strong>Recht</strong> auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG)<br />

13. Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG)<br />

14. Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG)<br />

15. Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)<br />

16. Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)<br />

17. Filmfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)<br />

18. Freiheit <strong>de</strong>r Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG)<br />

19. Freiheit <strong>de</strong>r Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG)<br />

20. Petitionsrecht (Art. 17 GG)<br />

21. Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)<br />

22. Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 u. 2 GG)<br />

- Der Schutz <strong>de</strong>r Erwerbstätigkeit und <strong>de</strong>s Erworbenen<br />

23. Freizügigkeit (Art. 11 GG)<br />

24. Berufsfreiheit (Art. 12 GG) einschl. <strong>de</strong>m Verbot <strong>de</strong>s Arbeitszwangs (Art. 12 Abs. 2 GG) und <strong>de</strong>r<br />

Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 3 GG)<br />

25. Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG)<br />

26. Gewährleistung <strong>de</strong>s Eigentums (Art. 14 GG)<br />

36<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


- Allgemeine Handlungsfreiheit und Gleichheitsrechte<br />

27. Freie Entfaltung <strong>de</strong>r Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG)<br />

28. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und spezielle Gleichheitssätze (Artt. 3 Abs. 2 u.<br />

3; 6 Abs. 5; 33 Abs. 2 GG)<br />

- Justizgrundrechte<br />

29. <strong>Recht</strong>sweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG)<br />

30. Garantie <strong>de</strong>s gesetzlichen Richters (Art. 101 GG)<br />

31. <strong>Recht</strong>liches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)<br />

32. Gesetzlichkeitsprinzip "nulla poena sine lege" (Art. 103 Abs. 2 GG)<br />

33. Verbot <strong>de</strong>r Doppelbestrafung "ne bis in i<strong>de</strong>m" (Art. 103 Abs. 3 GG)<br />

- Grundrechte mit internationalem Bezug<br />

34. Verbot <strong>de</strong>s Entzugs <strong>de</strong>r Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 GG)<br />

35. Verbot <strong>de</strong>r Auslieferung (Art. 16 Abs. 2 GG)<br />

36. Asylrecht (Art. 16a GG)<br />

III. Exkurs: Überblick über <strong>de</strong>n gegenwärtigen internationalen menschenrechtlichen Standard<br />

(nach F. Ermacora, Menschenrechte in <strong>de</strong>r sich wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Welt. Afrika, Wien 1983, S. 46-48)<br />

- Menschenrechte <strong>de</strong>r sog. ersten Generation (politische und zivile <strong>Recht</strong>e) -<br />

1. Die Stellung <strong>de</strong>s Individuums gegenüber <strong>de</strong>r Gemeinschaft (= <strong>de</strong>m Staat) in allgemein-politischer<br />

Sicht (klassische Individualrechte)<br />

1.1. Das <strong>Recht</strong> auf politische Partizipation (status activus):<br />

a) Das <strong>Recht</strong> auf Wahlen, Bedingungen <strong>de</strong>r Wahl, das individuelle Wahlrecht;<br />

b) die Meinungs- und Pressefreiheit, die Freiheit <strong>de</strong>r Information;<br />

c) die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit;<br />

d) <strong>de</strong>r freie und gleiche Zugang zu <strong>de</strong>n öffentlichen Ämtern;<br />

e) das Petitionsrecht.<br />

1.2. Die bürgerlichen <strong>Recht</strong>e ('civil rights') - die Freiheit <strong>de</strong>s Individuums vom Staat (status passivus/<br />

negativus):<br />

a) Die Gleichheit vor <strong>de</strong>m Gesetz, vor <strong>de</strong>m Gericht, vor <strong>de</strong>n Verwaltungsbehör<strong>de</strong>n;<br />

b) das allgemeine Diskriminierungsverbot, das Privilegierungsverbot, <strong>de</strong>r Diskriminierungsschutz,<br />

im beson<strong>de</strong>ren das Verbot <strong>de</strong>r Rassendiskriminierung, einschließlich <strong>de</strong>s Verbots rassistischer<br />

Propaganda, dazu ist auch die beson<strong>de</strong>re Stellung <strong>de</strong>r Frau und <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu rechnen;<br />

c) das <strong>Recht</strong> auf Leben samt <strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sstrafe;<br />

d) die allgemeine Anerkennung <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sfähigkeit <strong>de</strong>r menschlichen Person (Min<strong>de</strong>stalter, Willkürverbot);<br />

e) das <strong>Recht</strong> auf die Privatsphäre, das Hausrecht, <strong>de</strong>r Schutz <strong>de</strong>s Briefgeheimnisses;<br />

f) das <strong>Recht</strong> auf Integrität <strong>de</strong>r menschlichen Person (Problem <strong>de</strong>r medizinischen Versuche);<br />

g) die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;<br />

h) die Nie<strong>de</strong>rlassungsfreiheit im Inland, die Freiheit auszuwan<strong>de</strong>rn, das Problem <strong>de</strong>s politischen<br />

Asyls;<br />

i) das <strong>Recht</strong> auf die Freiheit <strong>de</strong>r Person von willkürlicher Verhaftung;<br />

j) die Min<strong>de</strong>stgarantien eines "fair trial", das Folterverbot und das Verbot, Geständnisse zu erzwingen;<br />

k) das <strong>Recht</strong> auf Staatsangehörigkeit.<br />

2. Die Stellung kleinerer Gemeinschaften gegenüber <strong>de</strong>m Staat (kollektive Gruppenrechte)<br />

a) Das <strong>Recht</strong> auf Selbstbestimmung, auf Min<strong>de</strong>rheitenschutz;<br />

b) <strong>de</strong>r Diskriminierungsschutz kollektiver Einheiten, einschließlich <strong>de</strong>s sogenannten Vertreibungsverbotes;<br />

c) das <strong>Recht</strong> <strong>de</strong>r Vereine und <strong>de</strong>r politischen Parteien;<br />

d) <strong>de</strong>r Schutz vor <strong>de</strong>m Völkermord.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 37


- Menschenrechte <strong>de</strong>r sog. zweiten Generation (ökonomische, kulturelle und soziale <strong>Recht</strong>e) -<br />

3. Ökonomische, kulturelle und soziale <strong>Recht</strong>e <strong>de</strong>s Individuums<br />

3.1. Das <strong>Recht</strong> auf eine adäquate Lebensführung:<br />

a) Sicherung <strong>de</strong>r elementarsten Lebensbedürfnisse (Abwehr von Hunger, Garantie <strong>de</strong>r Wohnung);<br />

b) Gleichheit in sozialer Wür<strong>de</strong>, Schutz vor wirtschaftlicher Diskriminierung;<br />

c) das <strong>Recht</strong> auf Eigentum, <strong>de</strong>ssen soziale Funktion;<br />

d) das <strong>Recht</strong> auf Arbeit, Sicherung <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Arbeitsbedingungen:<br />

aa) das Verbot <strong>de</strong>r Sklaverei, Knechtschaft und Zwangsarbeit;<br />

bb)<br />

cc)<br />

die Regelung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- und Frauenarbeit;<br />

gleiche Entlohnung für gleiche Arbeit, Entlohnung entsprechend einer anständigen Lebenshaltung;<br />

e) das <strong>Recht</strong>, Gewerkschaften zu bil<strong>de</strong>n;<br />

f) das <strong>Recht</strong> auf Gesundheit (ärztliche Betreuung);<br />

g) das <strong>Recht</strong> auf soziale Sicherheit (Renten, Fürsorge, Freizeit ...);<br />

h) das <strong>Recht</strong> auf Freiheit.<br />

3.2. Das <strong>Recht</strong> auf Erziehung und Ausbildung:<br />

a) Das allgemeine <strong>Recht</strong> auf Entwicklung <strong>de</strong>r menschlichen Persönlichkeit;<br />

b) das <strong>Recht</strong> auf Bildung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r (unentgeltliche Grundschulbildung);<br />

c) die Erwachsenenfortbildung, Berufsfortbildung;<br />

d) garantierte Erziehungsrechte <strong>de</strong>r Eltern.<br />

3.3. Das allgemeine <strong>Recht</strong>, am kulturellen Leben teilzunehmen, Schutz <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Wissenschaft<br />

und ihrer Lehre<br />

3.4. Der Schutz <strong>de</strong>r Familie als sozialer Einheit, Probleme <strong>de</strong>r Heirat (Gleichberechtigung von Mann<br />

und Frau, freie Willenseinigung <strong>de</strong>r Partner)<br />

- Menschenrechte <strong>de</strong>r sog. dritten Generation (spezifisch kollektive <strong>Recht</strong>e) -<br />

4. Kollektive, soziale und ökonomische <strong>Recht</strong>e <strong>de</strong>r Gemeinschaft:<br />

4.1. Schutz <strong>de</strong>r Volksgesundheit (Umweltschutz)<br />

4.2. Gewerkschaftsrechte - Streikrecht<br />

4.3. Verfügung über die eigenen wirtschaftlichen Ressourcen<br />

- Menschenrechtsschutz -<br />

5. Menschenrechte und Notstandsverfassungen sowie die richterliche Sicherung <strong>de</strong>r Menschenrechte<br />

12. Funktionen <strong>de</strong>r Grundrechte<br />

I. Die Grundrechte begrün<strong>de</strong>n sog. subjektiv-öffentliche <strong>Recht</strong>e, das heißt<br />

- sie räumen <strong>de</strong>n Grundrechtsträgern (als <strong>Recht</strong>ssubjekten, <strong>de</strong>shalb: subjektives <strong>Recht</strong>)<br />

- gegenüber <strong>de</strong>n Grundrechtsadressaten (Normadressat ist hier in <strong>de</strong>r Regel die staatliche Gewalt)<br />

- entsprechend <strong>de</strong>n jeweiligen Grundrechtsinhalten bestimmte Ansprüche ein<br />

(und weisen insofern einen dreigliedrigen Normgehalt auf, in<strong>de</strong>m sie die Frage beantworten, "wer"<br />

"von wem" "was" verlangen kann).<br />

Als subjektive <strong>Recht</strong>e bezeichnet man allgemein die <strong>de</strong>m einzelnen gegenüber einem an<strong>de</strong>ren<br />

zustehen<strong>de</strong>n rechtlichen Ansprüche (nämlich von diesem ein Tun o<strong>de</strong>r Unterlassen for<strong>de</strong>rn zu<br />

können, vgl. § 194 Abs. 1 BGB), hingegen meint <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s objektiven <strong>Recht</strong>s die Gesamtheit<br />

<strong>de</strong>r gelten<strong>de</strong>n und damit die Normadressaten bin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>snormen (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG).<br />

II. Entsprechend <strong>de</strong>r unterschiedlichen Berechtigungen, die die Grundrechte <strong>de</strong>m einzelnen vermitteln<br />

können, wer<strong>de</strong>n im Anschluß an die Statuslehre von Georg Jellinek (System <strong>de</strong>r subjektiven öffentlichen<br />

<strong>Recht</strong>e, 2. Aufl. 1905) meist drei Zustän<strong>de</strong> (lat. status) o<strong>de</strong>r Funktionen <strong>de</strong>r Grundrechte als<br />

Freiheitsrechte unterschie<strong>de</strong>n, nämlich<br />

38<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


-<strong>de</strong>r status negativus, <strong>de</strong>r die Abwehrfunktion <strong>de</strong>r Grundrechte als "Freiheit <strong>de</strong>s einzelnen vom<br />

Staat" und damit die Hauptrichtung <strong>de</strong>r meisten Grundrechte umschreibt; ihm sind die klassischen<br />

Freiheits- und Abwehrgrundrechte zur Abwehr staatlicher Eingriffe zuzurechnen,<br />

-<strong>de</strong>r status positivus, <strong>de</strong>r die Leistungs- und Schutzfunktion <strong>de</strong>r Grundrechte bezeichnet und somit<br />

die "Freiheit <strong>de</strong>s einzelnen durch <strong>de</strong>n Staat"; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r einzelne kann zur Schaffung und Erhaltung<br />

seiner freien Existenz auch auf staatliche Vorkehrungen i.w.S. angewiesen sein (insofern auch:<br />

soziale Grundrechte); hierzu sind etwa Anspruchs-, Schutzgewähr-, Teilhabe-, Leistungs- und Verfahrensrechte<br />

zu zählen (z.B. Art. 6 Abs. 4 GG), insbeson<strong>de</strong>re auch <strong>de</strong>r Anspruch auf <strong>Recht</strong>sschutz<br />

(Art. 19 Abs. 4 GG, siehe auch Artt. 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG), teilweise wird unterschie<strong>de</strong>n<br />

zwischen<br />

- <strong>de</strong>rivativen Teilhabeansprüchen auf gleiche Teilhabe an bestehen<strong>de</strong>n Leistungssystemen (unstr.)<br />

und<br />

- originären Teilhaberechten auf Gewährung von Leistungen durch Schaffung neuer Leistungssysteme,<br />

(Um <strong>de</strong>n freiheitlichen Charakter <strong>de</strong>r Verfassung zu wahren, aber auch um <strong>de</strong>m Parlament grundsätzlich<br />

die Freiheit <strong>de</strong>r Entscheidung über die Verteilung knapper Ressourcen zu belassen, lassen<br />

sich aus <strong>de</strong>n Grundrechten grundsätzlich keine subjektiven Leistungsrechte ableiten; soweit die<br />

Län<strong>de</strong>rverfassungen weitergehen<strong>de</strong> soziale Grundrechte beinhalten, kommt diesen <strong>de</strong>r Charakter<br />

von bloßen Staatszielbestimmungen zu.)<br />

-<strong>de</strong>r status activus als Inbegriff <strong>de</strong>r staatsbürgerlichen (<strong>de</strong>mokratischen) Mitwirkungsfunktion <strong>de</strong>r<br />

Grundrechte im Sinne <strong>de</strong>r "Freiheit <strong>de</strong>s einzelnen auf (politisch gestalten<strong>de</strong>) Betätigung im und für<br />

<strong>de</strong>n Staat".<br />

Neben die Freiheitsrechte treten nach mo<strong>de</strong>rnem Grundrechtsverständnis<br />

- die - im Ursprung ebenfalls klassischen - ("relativ wirken<strong>de</strong>n") Gleichheitsgrundrechte (s. Artt. 3<br />

Abs. 1, 2, 3 S. 1, 3 S. 2; 6 Abs. 5; 33 Abs. 1, 2, 3 GG), so daß <strong>de</strong>n Grundrechten auch eine Gleichbehandlungsfunktion<br />

zukommt.<br />

Hinzu kommen noch<br />

- die sog. Einrichtungsgarantien <strong>de</strong>r Grundrechte mit <strong>de</strong>n sog. Institutsgarantien privatrechtlicher<br />

<strong>Recht</strong>sinstitute (z.B. Ehe und Familie [Art. 6 Abs. 1 GG], Eigentum und Erbrecht [Art. 14 Abs. 1<br />

GG]) und <strong>de</strong>n sog. institutionellen Garantien öffentlich-rechtlicher Einrichtungen (z.B. Berufsbeamtentum,<br />

Art. 33 Abs. 5 GG; vgl. auch die Garantie <strong>de</strong>r kommunalen Selbstverwaltung in Art.<br />

28 Abs. 2 S. 1 GG),<br />

- sowie die Anerkennung <strong>de</strong>r Grundrechte als zugleich objektiv-rechtliche Wertentscheidungen, die<br />

für alle Bereiche <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sordnung gelten und u.a. Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und<br />

<strong>Recht</strong>sprechung geben sowie selbst in die <strong>Recht</strong>sbeziehungen zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Bürgern - also<br />

in das Privatrecht - hinein ausstrahlen (sog. mittelbare Drittwirkung <strong>de</strong>r Grundrechte, s.u. 13.II).<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>r Unterscheidung <strong>de</strong>r subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen (s.o.) Wirkungen<br />

<strong>de</strong>r Grundrechte läßt sich etwa mit Klaus Stern (Staatsrecht III/1, §§ 66 ff bzw. Staatsrecht III/2,<br />

§ 96) folgen<strong>de</strong> Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Grundrechte und ihrer Funktionen (Wirkungsweisen) vornehmen:<br />

1. Subjektiv-rechtliche Wirkungen<br />

a) Abwehrrechte<br />

b) Leistungsrechte (Teilhabe-, Schutzrechte)<br />

c) Mitwirkungsrechte<br />

d) Bewirkungsrechte<br />

2. Objektiv-rechtliche Wirkungen<br />

a) Einrichtungsgarantien<br />

b) Ausstrahlungswirkungen<br />

c) Schutzpflichten<br />

d) Organisations- und Verfahrensgehalte<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 39


13. Grundrechtsberechtigte und Grundrechtsverpflichtete<br />

I. Grundrechtsträgerschaft o<strong>de</strong>r Grundrechtsberechtigung meint die Fähigkeit, <strong>Recht</strong>sträger o<strong>de</strong>r Zuordnungsobjekt<br />

von Grundrechten zu sein. Grundrechtsträger ist zunächst je<strong>de</strong> geborene natürliche<br />

Person, darüber hinaus können einzelne Grundrechtspositionen auch noch nicht geborenen Personen<br />

(Embryonen) o<strong>de</strong>r Toten zukommen, so insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Schutz vorgeburtlichen Lebens und <strong>de</strong>r<br />

Schutz <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> (bzw. <strong>de</strong>s Allgemeinen Persönlichkeitsrechts) wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Lebens sowie<br />

Verstorbener.<br />

Von <strong>de</strong>r Grundrechtsträgerschaft ist zu unterschei<strong>de</strong>n die sog. Grundrechtsmündigkeit, d.h. die<br />

Fähigkeit eines Grundrechtsträgers, die grundrechtlich geschützten <strong>Recht</strong>sgüter, Freiheiten und<br />

<strong>Recht</strong>e selbst verfahrensrechtlich wahrnehmen zu können; hierfür ist auf die Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit<br />

<strong>de</strong>s einzelnen abzustellen (für die Religionsfreiheit siehe etwa § 5 RelKErzG<br />

[= Gesetz über die religiöse Kin<strong>de</strong>rerziehung]).<br />

Man unterschei<strong>de</strong>t je nach Inhaberschaft die<br />

- Menschen- o<strong>de</strong>r Je<strong>de</strong>rmannrechte, die allen Menschen im Geltungsbereich <strong>de</strong>s Grundgesetzes<br />

zukommen,<br />

und die<br />

- Bürger- o<strong>de</strong>r sog. Deutschenrechte, die ausdrücklich die Grundrechtsträgerschaft auf Deutsche<br />

i.S.d. Art. 116 GG beschränken (so z.B. die Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit und<br />

Berufsfreiheit in Artt. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 11 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG).<br />

Nach <strong>de</strong>m allgemeinen Diskriminierungsverbot <strong>de</strong>s Art. 12 EGV (vgl. auch Art. 3 Abs. 2 EGV) bzw. <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren<br />

Diskriminierungsverboten <strong>de</strong>r EG-Grundfreiheiten dürfen Angehörige <strong>de</strong>r Mitgliedstaaten <strong>de</strong>r Europäischen<br />

Union (sog. EU-Bürger) im Rahmen <strong>de</strong>r Anwendbarkeit <strong>de</strong>s Vertrags nicht aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Staatsangehörigkeit<br />

diskriminiert wer<strong>de</strong>n, so daß insoweit die Deutschenrechte kraft <strong>de</strong>s (Anwendungs-)Vorrangs <strong>de</strong>s europäischen<br />

Gemeinschaftsrechts für sie zu öffnen sind bzw. ihnen aus Art. 2 Abs. 1 GG (als ansonsten für Auslän<strong>de</strong>r<br />

greifen<strong>de</strong>m Auffanggrundrecht) ein <strong>de</strong>n Deutschenrechten gleichwertiger Schutz zu gewähren ist.<br />

Inwieweit daneben Personenmehrheiten die Grundrechtsträgerschaft zukommt, regelt Art. 19 Abs.<br />

3 GG, nämlich "soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind" (siehe dazu im einzelnen die<br />

Übersicht bei v. Münch, Staatsrecht II, Rn 120). Dabei ist zu unterschei<strong>de</strong>n zwischen<br />

- <strong>de</strong>n inländischen juristischen Personen <strong>de</strong>s Privatrechts einschließlich <strong>de</strong>n teilrechtsfähigen Personenmehrheiten,<br />

<strong>de</strong>nn zu <strong>de</strong>n juristischen Personen i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG sind neben <strong>de</strong>n juristischen Personen<br />

im eigentlichen Sinne (rechtsfähiger Verein [eV], Kapitalgesellschaften [AG, GmbH, eG, VVaG],<br />

rechtsfähige Stiftung <strong>de</strong>s bürgerlichen <strong>Recht</strong>s) auch die Personenhan<strong>de</strong>lsgesellschaften (OHG,<br />

KG, stille Gesellschaft, Partnerschaftsgesellschaft, EWiV) und sonstige teilrechtsfähigen Personengesellschaften<br />

(nicht-rechtsfähiger Verein, Gesellschaft bürgerlichen <strong>Recht</strong>s) zu zählen;<br />

- und <strong>de</strong>n inländischen juristischen Personen <strong>de</strong>s öffentlichen <strong>Recht</strong>s (nämlich Körperschaften,<br />

rechtsfähige Anstalten und Stiftungen <strong>de</strong>s öffentlichen <strong>Recht</strong>s), für die nach h.M. grundsätzlich die<br />

Grundrechtsträgerschaft zu verneinen, da sie auf Grund von Kompetenzen und nicht in Ausübung<br />

von Freiheiten tätig wer<strong>de</strong>n ("Schutz gegen, nicht für <strong>de</strong>n Staat"; BVerfGE 61, 82 [100 ff] - Sasbach).<br />

Dies gilt grundsätzlich auch, soweit sich <strong>de</strong>r Staat privatrechtlicher Handlungsformen bedient<br />

und unabhängig davon, ob dabei öffentliche Aufgaben wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, es um fiskalisches<br />

o<strong>de</strong>r erwerbswirtschaftliches Han<strong>de</strong>ln geht (sog. Durchgriffstheorie); bei gemischtwirtschaftlichen<br />

Unternehmen wird darauf abgestellt, ob <strong>de</strong>r beteiligte Hoheitsträger entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluß auf <strong>de</strong>n<br />

Geschäftsbetrieb nehmen kann (str.).<br />

Ausnahmen gelten<br />

- soweit bei als öffentlich-rechtliche Körperschaften organisierten Berufsverbän<strong>de</strong>n nicht die öffentlich<br />

geregelte Aufgabe, son<strong>de</strong>rn die gewerbliche Interessenwahrnehmung <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r im Vor<strong>de</strong>rgrund<br />

steht;<br />

- ferner für die Rundfunkanstalten im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG, für Einrichtungen <strong>de</strong>r<br />

Kunst sowie für die Universitäten und Fakultäten im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG und für die<br />

40<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


öffentlich-rechtlich organisierten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Hinblick auf<br />

Art. 4 GG<br />

und<br />

- allgemein für die Wahrnehmung <strong>de</strong>r Justizgrundrechte <strong>de</strong>r Artt. 101 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG<br />

(regelmäßig aber nicht für Art. 19 Abs. 4 GG).<br />

Keine Grundrechtsträger sind ausländische juristische Personen und Personenvereinigungen, sofern<br />

diese nicht kraft (europäischen) Gemeinschaftsrechts im Rahmen <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>sselben durch die<br />

Mitgliedstaaten wie inländische Vereinigungen zu behan<strong>de</strong>ln sind (s.o.). Doch stehen auch ausländischen<br />

Personenmehrheiten die juristischen Verfahrensgrundrechte <strong>de</strong>r Artt. 19 Abs. 4, 101 Abs. 1,<br />

103 Abs. 1 GG zu.<br />

Ausländisch ist eine Vereinigung, wenn sie ihren Sitz, d.h. <strong>de</strong>n tatsächlichen Mittelpunkt <strong>de</strong>r Tätigkeit,<br />

nicht im Bun<strong>de</strong>sgebiet hat bzw. wenn sie von Auslän<strong>de</strong>rn beherrscht wird.<br />

Fraglich ist, ob <strong>de</strong>r einzelne Berechtigte auf seine Grundrechte als subjektive (Freiheits-)<strong>Recht</strong>e verzichten<br />

kann: Während er von <strong>de</strong>ren Ausübung absehen (vgl. Art. 16 Abs. 1 GG) o<strong>de</strong>r begrenzt auch<br />

in einzelne Grundrechtsbeeinträchtigungen einwilligen kann (s.u. 14.III), so ist doch ein Grundrechtsverzicht<br />

nach h.M. nicht generell und auch nicht bei allen Grundrechten möglich (er schei<strong>de</strong>t<br />

etwa bei Art. 1 Abs. 1 GG sowie hinsichtlich <strong>de</strong>r objektiven Grundrechtswirkungen aus), im übrigen<br />

kommt es auf die Intensität <strong>de</strong>s Eingriffs und <strong>de</strong>n Zeitraum <strong>de</strong>s Verzichts an.<br />

II. Grundrechtsverpflichtete o<strong>de</strong>r Grundrechtsadressaten sind die Träger <strong>de</strong>utscher öffentlicher Gewalt,<br />

also die Legislative, die Exekutive (auch Beliehene, die als Private öffentliche Aufgaben wahrnehmen)<br />

und die Judikative (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG); nicht grundrechtsverpflichtet sind zwischenstaatliche,<br />

supranationale und internationale Organisationen.<br />

Die Grundrechtsbindung erstreckt sich auch auf sog. beson<strong>de</strong>re Gewaltverhältnisse (Son<strong>de</strong>rstatusverhältnisse),<br />

wie sie etwa bei Beamten, Schülern o<strong>de</strong>r Strafgefangenen (s. BVerfGE 33, 1 - Strafgefangene;<br />

39, 334 [366 f] - Radikale) bestehen.<br />

III. Wie oben bereits gezeigt, gelten die Grundrechte gegenüber <strong>de</strong>m Staat (s. Art. 1 Abs. 3 GG), nicht<br />

gegenüber Privaten (außer wenn diese als Beliehene selbst punktuell öffentliche Gewalt ausüben).<br />

Eine sog. unmittelbare Drittwirkung <strong>de</strong>r Grundrechte besteht nach h.M. grundsätzlich nicht (a.A.<br />

BAGE 1, 185 [193 f]); Ausnahmen enthalten jedoch Artt. 9 Abs. 3 S. 2, 20 Abs. 4, 38 Abs. 1 S. 1<br />

i.V.m. 48 Abs. 1 u. 2 GG. Da allerdings <strong>de</strong>r Gesetzgeber und auch die <strong>Recht</strong>sprechung an die Grundrechte<br />

gebun<strong>de</strong>n sind, kommen die Grundrechte in <strong>de</strong>n Privatrechtsverhältnissen über die zwingen<strong>de</strong>n<br />

Normen <strong>de</strong>s Privatrechts, ferner bei <strong>de</strong>r (richterlichen) <strong>Recht</strong>sanwendung, insbeson<strong>de</strong>re über die<br />

Generalklauseln und Blankettbegriffe insofern zum Tragen, als eine grundrechtskonforme und -<br />

orientierte Auslegung entsprechend <strong>de</strong>n objektiven Wertungen <strong>de</strong>r Gesamtrechtsordnung erfolgen<br />

muß; man spricht <strong>de</strong>shalb von einer mittelbaren Drittwirkung <strong>de</strong>r Grundrechte kraft <strong>de</strong>r Ausstrahlung<br />

<strong>de</strong>r Grundrechte auf das bürgerliche <strong>Recht</strong> (s. BVerfGE 7, 198 [205] - Lüth; 89, 214 [229 f, 232, 234] -<br />

Bürgschaft).<br />

Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang darauf, daß die bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichtliche Kontrolldichte<br />

fachgerichtlicher Entscheidungen begrenzt ist: das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht stellt<br />

keine Supertatsachen- o<strong>de</strong>r -revisionsinstanz dar. Es beschränkt sich bei <strong>de</strong>r Überprüfung fachgerichtlicher<br />

Entscheidungen auf die Prüfung, ob sie "auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung<br />

von Be<strong>de</strong>utung und Reichweite eines Grundrechts beruhen o<strong>de</strong>r willkürlich sind" und<br />

somit durch die Fachgerichte "spezifisches Verfassungsrecht" verletzt wur<strong>de</strong> (BVerfGE 18, 85 [92<br />

f, 95] - spezifisches Verfassungsrecht). Dies ist <strong>de</strong>r Fall, wenn (1) <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>r Grundrechte<br />

ganz o<strong>de</strong>r doch grundsätzlich verkannt wird, (2) die <strong>Recht</strong>sanwendung grob und offensichtlich<br />

willkürlich ist o<strong>de</strong>r (3) die Grenzen <strong>de</strong>r richterlichen <strong>Recht</strong>sfortbildung überschritten wer<strong>de</strong>n; die<br />

Kontrolldichte nimmt dabei mit <strong>de</strong>r Intensität <strong>de</strong>s fraglichen Grundrechtseingriffs zu, ebenso wenn<br />

die Verfassung selbst <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Maßstab für die fachgerichtliche Entscheidung abgibt.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 41


14. Grundrechtseingriffe und <strong>de</strong>ren <strong>Recht</strong>fertigung (Schrankenziehung)<br />

Soweit durch staatliches Han<strong>de</strong>ln (z.B. eine Ermittlungsmaßnahme) <strong>de</strong>r Schutzbereich eines Grundrechts<br />

betroffen, in diesen "eingegriffen" wird, bedarf dies wegen <strong>de</strong>s verfassungsrechtlichen Vorbehalts<br />

<strong>de</strong>s Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) beson<strong>de</strong>rer <strong>Recht</strong>fertigung. Es ist somit zu prüfen, ob <strong>de</strong>r<br />

Eingriff in <strong>de</strong>n grundrechtlichen Schutzbereich durch beson<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r allgemeine Grundrechtsschranken<br />

bzw. durch kollidieren<strong>de</strong>s Verfassungsrecht gerechtfertigt ist. Als konkrete<br />

<strong>Recht</strong>fertigungsgrundlagen für strafprozessuale bzw. polizeirechtliche Grundrechtseingriffe dienen<br />

dabei die auf sog. Gesetzesvorbehalten grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n strafprozessualen und polizeirechtlichen Einzelermächtigungen<br />

o<strong>de</strong>r die Generalklauseln <strong>de</strong>r Strafverfahrens- (§§ 161 Abs. 1, 163 Abs. 1 StPO;<br />

beachte hierbei aber <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>r fragmentarischen Zwangsbefugnisse im Strafverfahren) bzw.<br />

Polizeigesetze (z.B. §§ 1, 3 bw. PolG/sächs. PolG). Hierbei ist, auch im Wege <strong>de</strong>r Schranken-Schranken-Prüfung,<br />

die <strong>Recht</strong>mäßigkeit <strong>de</strong>r strafprozessualen bzw. polizeirechtlichen Schrankenziehung im<br />

Einzelfall festzustellen. Auf diese Weise soll jeweils ein verhältnismäßiger Ausgleich zwischen<br />

einerseits <strong>de</strong>n individuellen Menschenrechten und Grundfreiheiten sowie an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>r staatlichen<br />

Aufgabe einer effektiven Gefahrenabwehr bzw. Strafverfolgung, auch zur Gewährleistung <strong>de</strong>r<br />

<strong>Recht</strong>sordnung und <strong>de</strong>r Sicherheit <strong>de</strong>r Bevölkerung, geschaffen wer<strong>de</strong>n. Einer beson<strong>de</strong>ren Eingriffsrechtfertigung<br />

bedarf es allerdings dann nicht, wenn <strong>de</strong>r einzelne (wirksam) auf <strong>de</strong>n grundrechtlichen<br />

Schutz verzichtet hat, etwa in<strong>de</strong>m er in die Durchführung einer polizeilichen Eingriffsmaßnahme<br />

eingewilligt hat.<br />

I. Eingriffsbegriff<br />

Ein Grundrechtseingriff ist je<strong>de</strong> durch die <strong>de</strong>utsche Staatsgewalt in zurechenbarer Weise verursachte<br />

nachteilige Beeinträchtigung <strong>de</strong>s durch <strong>de</strong>n Schutzbereich erfaßten Schutzgegenstan<strong>de</strong>s. Dabei läßt<br />

sich <strong>de</strong>r "klassische" Grundrechtseingriff als einseitige, verbindliche Verhaltensanordnung gegenüber<br />

einem Adressaten <strong>de</strong>finieren, durch die final (= zielgerichtet) und unmittelbar ein grundrechtlich geschütztes<br />

<strong>Recht</strong>sgut überwiegend nachteilig in erheblicher Weise beeinträchtigt wird. Mit <strong>de</strong>r Ausprägung<br />

<strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen sozialen <strong>Recht</strong>sstaats hat sich <strong>de</strong>r vom liberalen Grundrechtsverständnis beeinflußte<br />

klassische Eingriffsbegriff als zu eng erwiesen, da er <strong>de</strong>m Staat zuzurechnen<strong>de</strong> faktische<br />

Grundrechtseingriffe sowie sonstige mittelbare Grundrechtseingriffe o<strong>de</strong>r Drittbeeinträchtigungen<br />

nicht erfaßt. Er muß somit erweitert wer<strong>de</strong>n zum "mo<strong>de</strong>rnen" Eingriffsbegriff, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s staatliche<br />

Han<strong>de</strong>ln umfaßt, das <strong>de</strong>m einzelnen ein Verhalten, das in <strong>de</strong>n Schutzbereich eines Grundrechts fällt,<br />

ganz o<strong>de</strong>r teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final o<strong>de</strong>r unbeabsichtigt, unmittelbar<br />

o<strong>de</strong>r mittelbar, rechtlich o<strong>de</strong>r tatsächlich (faktisch, informal), mit o<strong>de</strong>r ohne Befehl und Zwang<br />

erfolgt. Dabei muß diese Wirkung von einem zurechenbaren Verhalten <strong>de</strong>r öffentlichen Gewalt ausgehen.<br />

Keine Eingriffe stellen bloße Unbequemlichkeiten o<strong>de</strong>r Lästigkeiten dar.<br />

II. Gesetzesvorbehalt und sog. Grundrechtsschranken<br />

Während <strong>de</strong>r sog. "Vorbehalt <strong>de</strong>s Gesetzes" nach Art. 20 Abs. 3 GG als rechtsstaatliche und <strong>de</strong>mokratische<br />

Legitimationsanfor<strong>de</strong>rung staatlichen Han<strong>de</strong>lns festlegt, daß in "grundlegen<strong>de</strong> Bereiche" (so<br />

insbeson<strong>de</strong>re in "Freiheit und Eigentum") nur aufgrund eines förmlichen und hinreichend bestimmten<br />

Gesetzes eingegriffen wer<strong>de</strong>n darf,<br />

han<strong>de</strong>lt es sich bei <strong>de</strong>m sog. "Gesetzesvorbehalt" um eine beson<strong>de</strong>re Ausprägung dieses Vorbehalts<br />

<strong>de</strong>s Gesetzes, und zwar um jenen zur <strong>Recht</strong>fertigung von Grundrechtseingriffen durch die Ziehung<br />

von sog. Grundrechtsschranken. Diese sehen regelmäßig eine Einschränkung "durch o<strong>de</strong>r auf Grund<br />

eines Gesetzes" (bzw. - was dasselbe meint - nur "auf Grund eines Gesetzes") vor, d.h. unmittelbar<br />

durch ein förmliches Gesetz o<strong>de</strong>r auf Grund eines solchen (als Ermächtigungsgesetz i.S.d. Art. 80 GG)<br />

durch untergesetzliche Normen o<strong>de</strong>r Verwaltungsakte. Man unterschei<strong>de</strong>t<br />

- die sog. einfachen Gesetzevorbehalte (z.B. Artt. 2 Abs. 2 S. 3; 8 Abs. 2 GG) und<br />

42<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


- die sog. qualifizierten Gesetzesvorbehalte, die eine Beschränkung <strong>de</strong>s Grundrechts nur bei bestimmten<br />

Situationen, zu bestimmten Zwecken o<strong>de</strong>r durch bestimmte Mittel zulassen (z.B. Artt. 6 Abs. 3;<br />

11 Abs. 2 GG).<br />

(Sie sind abzugrenzen zu <strong>de</strong>n sog. Regelungsvorbehalten zur Inhaltsbestimmung bzw. näheren<br />

Ausgestaltung eines Grundrechts, z.B. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG.);<br />

daneben treten die Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt.<br />

Auch bei <strong>de</strong>n schrankenlos gewährleisteten Grundrechten (z.B. Art. 5 Abs. 3 GG) kommt nach<br />

h.M. eine Grundrechtsbeschränkung in Betracht, allerdings sind "nur kollidieren<strong>de</strong> Grundrechte<br />

Dritter und an<strong>de</strong>re mit Verfassungsrang ausgestattete <strong>Recht</strong>swerte ... mit Rücksicht auf die Einheit <strong>de</strong>r<br />

Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstan<strong>de</strong>, auch uneinschränkbare<br />

Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Dabei auftreten<strong>de</strong> Konflikte lassen<br />

sich nur lösen, in<strong>de</strong>m ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Frage das höhere Gewicht hat ... Die schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt wer<strong>de</strong>n, wie<br />

das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muß in je<strong>de</strong>m Fall<br />

respektiert wer<strong>de</strong>n." (BVerfGE 28, 243 [261] - Kriegsdienstverweigerung). Bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mnach<br />

vorzunehmen<strong>de</strong>n fallbezogenen Güter- und Interessenabwägung, die auch als Herstellung praktischer<br />

Konkordanz bezeichnet wird, ist ein verhältnismäßiger Ausgleich <strong>de</strong>r gegenläufigen, gleichermaßen<br />

verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit <strong>de</strong>m Ziel ihrer Optimierung zu suchen. Durch das<br />

Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht wer<strong>de</strong>n als "an<strong>de</strong>re mit Verfassungsrang ausgestattete <strong>Recht</strong>swerte" auch<br />

die grundgesetzlichen Kompetenzbestimmungen (Artt. 73-75 GG) herangezogen (was nicht unbe<strong>de</strong>nklich<br />

ist).<br />

Bei je<strong>de</strong>r Schrankenziehung sind die sog. Schranken-Schranken zu beachten: Dazu zählen zunächst<br />

die Bestimmungen <strong>de</strong>s Art. 19 Abs. 1 GG, ferner <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, d.h. die Geeignetheit,<br />

Erfor<strong>de</strong>rlichkeit und Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i.e.S.) <strong>de</strong>r Schrankenziehung,<br />

sowie die sog. Wesensgehaltsgarantie <strong>de</strong>s Art. 19 Abs. 2 GG.<br />

III. Exkurs: Die Einwilligung <strong>de</strong>s Betroffenen (Grundrechtsverzicht)<br />

Das Gesetz stellt teilweise bei <strong>de</strong>n Eingriffsmaßnahmen darauf ab, daß diese "ohne Einwilligung" <strong>de</strong>s<br />

Beschuldigten erfolgen (etwa § 81a StPO), woraus sich ergibt, daß <strong>de</strong>ssen freiverantwortliche<br />

Einwilligung (nicht bloß die Hinnahme <strong>de</strong>s Eingriffs) eine Rückbeziehung <strong>de</strong>r Eingriffsmaßnahme auf<br />

die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zur verfassungsrechtlichen <strong>Recht</strong>fertigung erübrigt. Allgemein<br />

wird daher eine gesetzliche Eingriffsermächtigung bei Vorliegen einer wirksamen Einwilligung<br />

<strong>de</strong>s Betroffenen in die Maßnahme für entbehrlich gehalten, so daß so auch weitergehen<strong>de</strong>,<br />

an<strong>de</strong>renfalls mangels einer hinreichen<strong>de</strong>n Ermächtigungsgrundlage unzulässige Eingriffe ermöglicht<br />

wer<strong>de</strong>n. Die Einwilligung hat somit die Be<strong>de</strong>utung eines Grundrechtsverzichts im Einzelfall (Verzicht<br />

auf Abwehr-/Unterlassungsanspruch) im Sinne <strong>de</strong>s Grundsatzes "volenti non fit iniuria" - allerdings<br />

nur, soweit <strong>de</strong>r Einwilligen<strong>de</strong> über das "Ob" (und ggf. auch "Wie") <strong>de</strong>r Maßnahme selbst entschei<strong>de</strong>t<br />

(was in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>m Legalitätsprinzip verpflichteten Strafverfahrensrecht selten <strong>de</strong>r Fall sein wird, so<br />

aber z.B. bei freiwilligen Speicheltests im Rahmen von sog. Massenuntersuchungen).<br />

Die Wirksamkeit <strong>de</strong>r Einwilligung richtet sich nach <strong>de</strong>n selben Voraussetzungen wie bei <strong>de</strong>r materiellrechtlichen<br />

<strong>Recht</strong>fertigung (bzw. nach a.A. <strong>de</strong>m Tatbestandsausschluß) einer strafbaren (tatbestandsmäßigen)<br />

Handlung (vgl. § 228 StGB nF), insbeson<strong>de</strong>re darf <strong>de</strong>r Eingriff (unter Mitberücksichtigung<br />

seines Zwecks), etwa wegen beson<strong>de</strong>rer Gefährlichkeit o<strong>de</strong>r Verstoßes gegen verfahrensrechtliche<br />

Grundsätze bzw. die Menschenwür<strong>de</strong>, nicht "sittenwidrig", d.h. als solches unzulässig und damit<br />

<strong>de</strong>r individuellen Disposition entzogen sein:<br />

- Der Betroffene muß über die nötige Verstan<strong>de</strong>sreife (nicht unbedingt Geschäftsfähigkeit) verfügen<br />

("Einsichts- und Urteilsfähigkeit")<br />

- vor <strong>de</strong>r Maßnahme,<br />

- ausdrücklich und ein<strong>de</strong>utig<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 43


- aus freiem Entschluß (hieran fehlt es auch bei erfolgter Androhung an<strong>de</strong>renfalls zwangsweiser Anordnung<br />

und Durchführung) einwilligen,<br />

- was unter Umstän<strong>de</strong>n eine Belehrung über die Be<strong>de</strong>utung, Gefährlichkeit und Nachwirkungen <strong>de</strong>s<br />

Eingriffs erfor<strong>de</strong>rt, daneben aber z.B. auch eine erweiterte strafprozessuale Belehrung über die Beschuldigtenrechte<br />

und die fehlen<strong>de</strong> Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung (Grundsatz <strong>de</strong>r Selbstbelastungsfreiheit,<br />

nemo tenetur se ipsum accusare/pro<strong>de</strong>re) erfor<strong>de</strong>rt.<br />

- Ferner muß <strong>de</strong>r einzelne auch dispositionsbefugt sein.<br />

Die Einwilligung ist je<strong>de</strong>rzeit frei wi<strong>de</strong>rruflich (allerdings bleibt im Strafverfahren grundsätzlich verwertbar,<br />

was bis dahin ermittelt ist).<br />

Einwilligungsmängel liegen somit insbeson<strong>de</strong>re vor bei Einwilligungsunfähigkeit, fehlen<strong>de</strong>r Dispositionsbefugnis<br />

und fehlen<strong>de</strong>r Willensfreiheit (etwa bei Verstoß gegen § 136a StPO); eine nachträgliche<br />

Genehmigung macht eine rechtswidrige Maßnahme zwar nicht rechtmäßig (sie kann aber z.B. die Verwertung<br />

<strong>de</strong>r erlangten Beweismittel ermöglichen, vgl. die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung bei strafverfahrensrechtlichen<br />

Belehrungsmängeln).<br />

15. Einzelne Grundrechtsgewährleistungen<br />

I. Menschenwür<strong>de</strong>, Art. 1 Abs. 1 GG<br />

Mit <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> (als oberstem Wert <strong>de</strong>s Grundgesetzes und tragen<strong>de</strong>m Konstitutionsprinzip)<br />

ist <strong>de</strong>r soziale Wert und Achtungsanspruch <strong>de</strong>s Menschen verbun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r es verbietet, ihn zum bloßen<br />

Objekt <strong>de</strong>s Staates zu machen o<strong>de</strong>r ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell<br />

in Frage stellt. Je<strong>de</strong>m Menschen ist sie eigen ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen<br />

und seinen sozialen Status. Verletzbar ist <strong>de</strong>r Wert und Achtungsanspruch, <strong>de</strong>r sich aus ihr<br />

ergibt.<br />

Aufgabe: Achtung und Schutz <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> gehören als Reaktion auf die nationalsozialistischen<br />

Verbrechen zu <strong>de</strong>n tragen<strong>de</strong>n Konstitutionsprinzipien <strong>de</strong>r Verfassung (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG),<br />

die "freie menschliche Persönlichkeit und ihre Wür<strong>de</strong> stellen <strong>de</strong>n höchsten <strong>Recht</strong>swert innerhalb <strong>de</strong>r<br />

verfassungsgemäßen Ordnung dar" (BVerfGE 45, 187 [227] - Lebenslange Freiheitsstrafe). Sie kommt<br />

je<strong>de</strong>m zu, "ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status"<br />

(BVerfGE 87, 209 [228] - § 131 StGB), unerheblich ist auch, "ob <strong>de</strong>r Träger sich dieser Wür<strong>de</strong> bewußt<br />

ist und sie selbst zu wahren weiß" (BVerfGE 39, 1 [41] - Schwangerschaftsabbruch I). Somit kann<br />

man seine Menschenwür<strong>de</strong> auch nicht verlieren o<strong>de</strong>r verwirken. Die Verpflichtung aller staatlichen<br />

Gewalt zur Achtung und zum Schutz <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> ist nicht nur objektives <strong>Recht</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />

vermittelt nach h.M. auch ein subjektives <strong>Recht</strong> <strong>de</strong>s einzelnen.<br />

Grundrechtsinhalt: Was genau <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Begriffs <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> ist, läßt sich abstrakt kaum<br />

<strong>de</strong>finieren, weshalb versucht wor<strong>de</strong>n ist, die Menschenwür<strong>de</strong> vom Verletzungsvorgang her zu umschreiben,<br />

nämlich in Anschluß an Dürig mit <strong>de</strong>r sog. Objektformel. Danach ist die Menschenwür<strong>de</strong><br />

"getroffen, wenn <strong>de</strong>r konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe<br />

herabgewürdigt wird" (Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 [Erstbearbeitung] Rn 28). "Mit <strong>de</strong>r<br />

Menschenwür<strong>de</strong> als oberstem Wert <strong>de</strong>s Grundgesetzes und tragen<strong>de</strong>m Konstitutionsprinzip ist <strong>de</strong>r<br />

soziale Wert und Achtungsanspruch <strong>de</strong>s Menschen verbun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r es verbietet, ihn zum bloßen Objekt<br />

<strong>de</strong>s Staates zu machen o<strong>de</strong>r ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in<br />

Frage stellt (BVerfGE 6, 32 [36, 41]; 30, 1 [26]). Je<strong>de</strong>m Menschen ist sie eigen ohne Rücksicht auf<br />

seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Verletzbar ist <strong>de</strong>r Wert und Achtungsanspruch,<br />

<strong>de</strong>r sich aus ihr ergibt (vgl. BVerfGE 87, 209 [228]). Was die Achtung <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong><br />

im einzelnen erfor<strong>de</strong>rt, kann von <strong>de</strong>n jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht<br />

völlig gelöst wer<strong>de</strong>n (vgl. BVerfGE 45, 187 [229]). Eine Verletzung <strong>de</strong>s Achtungsanspruchs kann<br />

nicht nur in <strong>de</strong>r Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung o<strong>de</strong>r Ächtung von Personen (vgl. BVerfGE<br />

1, 97 [104]), son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Kommerzialisierung menschlichen Daseins liegen." (BVerfGE 96,<br />

375 [399] - Kind als Scha<strong>de</strong>n)<br />

44<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Grundrechtsschranken: Die Garantie <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> unterliegt nach h.M. keinen Beschränkungsmöglichkeiten,<br />

auch nicht durch an<strong>de</strong>re Verfassungsgüter, da ihr <strong>de</strong>r höchste Rang im Grundgesetz zukommt.<br />

So stellt je<strong>de</strong>r Eingriff in <strong>de</strong>n Schutzbereich zugleich eine Verletzung <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> dar.<br />

Grundrechtsträger sind alle natürlichen Personen; Menschenwür<strong>de</strong> kommt (als subjektives <strong>Recht</strong>)<br />

auch <strong>de</strong>m ungeborenen Leben zu, darüber hinaus <strong>de</strong>m Verstorbenen<br />

II. Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG<br />

Das <strong>Recht</strong> auf freie Entfaltung <strong>de</strong>r Persönlichkeit bzw. die allgemeine Handlungsfreiheit schützt - als<br />

Auffanggrundrecht - je<strong>de</strong> Form menschlichen Han<strong>de</strong>lns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht <strong>de</strong>r<br />

Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt und garantiert somit die Freiheit <strong>de</strong>s einzelnen,<br />

zu tun und zu lassen, was er will.<br />

Aufgabe: Das <strong>Recht</strong> auf freie Entfaltung <strong>de</strong>r Persönlichkeit schützt je<strong>de</strong> Form menschlichen Han<strong>de</strong>lns<br />

(Tun und Unterlassen) "ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht <strong>de</strong>r Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung<br />

zukommt" (BVerfGE 80, 137 [152 f] - Reiten im Wal<strong>de</strong>), soweit es nicht von <strong>de</strong>m<br />

Schutzbereich eines an<strong>de</strong>ren Freiheitsrechts erfaßt wird; es ist somit (nur) ein subsidiäres (Auffang-)<br />

Grundrecht.<br />

Grundrechtsinhalt ist die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassen<strong>de</strong>n Sinne, d.h. "die Freiheit <strong>de</strong>s<br />

einzelnen, [grundsätzlich] zu tun und zu lassen, was er will"; es umfaßt etwa die Vertragsfreiheit, die<br />

Fortbewegungsfreiheit (soweit nicht von Art. 2 Abs. 2 S. 2 o<strong>de</strong>r Art. 11 GG erfaßt), die Ausreisefreiheit,<br />

ferner die Selbstgefährdung und auch die Selbsttötung (str.)<br />

Grundrechtskonkurrenzen: bloßes Auffanggrundrecht (s.o.)<br />

Die Grundrechtsschranken wer<strong>de</strong>n durch die sog. Schrankentrias <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>e an<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r verfassungsgemäßen<br />

Ordnung und <strong>de</strong>s Sittengesetzes gezogen (das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG<br />

fin<strong>de</strong>t keine Anwendung):<br />

- Die verfassungsgemäße Ordnung meint hier (beachte <strong>de</strong>n insoweit uneinheitlichen Sprachgebrauch<br />

<strong>de</strong>s Grundgesetzes) als verfassungsgemäße <strong>Recht</strong>sordnung "alle formell und materiell verfassungsgemäßen<br />

Gesetze" (BVerfGE 6, 32 [37] - Elfes, st. Rspr.).<br />

- Die <strong>Recht</strong>e an<strong>de</strong>rer sind Bestandteil <strong>de</strong>r verfassungsgemäßen Ordnung.<br />

- Das Sittengesetz umfaßt "alle anerkannten Wertvorstellungen unserer <strong>Recht</strong>sgemeinschaft" (als Anwendungsfall<br />

wur<strong>de</strong> bisher nur die Homosexualität angesehen - fragl., BVerfGE 6, 389 [434]).<br />

Bei <strong>de</strong>r Schrankenziehung ist insbeson<strong>de</strong>re auf die Verhältnismäßigkeit <strong>de</strong>s Eingriffs als Schranken-<br />

Schranke zu achten, also auf die Geeignetheit, Erfor<strong>de</strong>rlichkeit und Angemessenheit <strong>de</strong>s Eingriffs.<br />

Merke, ein rechtswidriger Eingriff liegt nicht nur vor, wenn es an einer formell und materiell<br />

verfassungsmäßigen gesetzlichen Eingriffsgrundlage fehlt, son<strong>de</strong>rn auch, wenn zwar ein verfassungsgemäßes<br />

Gesetz besteht, dieses aber fehlerhaft (nämlich gesetz- o<strong>de</strong>r verfassungswidrig<br />

[etwa wegen Verkennens <strong>de</strong>r objektiven Wertordnung <strong>de</strong>r Grundrechte]) angewandt wird;<br />

somit bietet Art. 2 Abs. 1 GG umfassen<strong>de</strong>n Schutz vor rechtswidrigen staatlichen Eingriffen.<br />

Grundrechtsträger: je<strong>de</strong>rmann, insbeson<strong>de</strong>re kommt über Art. 2 Abs. 1 GG Auslän<strong>de</strong>rn auch dort ein<br />

Grundrechtsschutz zu, wo <strong>de</strong>r Schutzbereich spezieller Freiheitsrechte auf Deutsche beschränkt ist;<br />

auch (inländische) juristische Personen <strong>de</strong>s Privatrechts sind geschützt<br />

III. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Artt. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG<br />

Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht soll die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer<br />

Grundbedingungen gewährleisten, in<strong>de</strong>m es je<strong>de</strong>m einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung<br />

sichert, in <strong>de</strong>m er seine Individualität entwickeln und wahren kann.<br />

Aufgabe <strong>de</strong>s durch die <strong>Recht</strong>sprechung aus Art. 2 Abs. 1 (i.V.m. Art. 1 Abs. 1) GG herausgebil<strong>de</strong>ten<br />

und zu einem eigenen Grundrecht verfestigten Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Abwehrrecht) ist<br />

es - im Sinne <strong>de</strong>s obersten Konstitutionsprinzips <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen - "die engere persönliche<br />

Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten", die sich durch die tradi-<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 45


tionellen konkreten Freiheitsrechte nicht vollständig erfassen lassen, insbeson<strong>de</strong>re gegenüber neuen<br />

Gefährdungen <strong>de</strong>r Persönlichkeitsentfaltung (BVerfGE 54, 148 [153] - Eppler; 101, 361 [380] - Caroline<br />

von Monaco).<br />

Es schließt somit die Lücke zwischen <strong>de</strong>r Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und <strong>de</strong>m<br />

Schutz <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> (Art. 1 Abs. 1 GG), in<strong>de</strong>m es neben <strong>de</strong>m ersteren (als <strong>Recht</strong> auf aktive<br />

Betätigung) <strong>de</strong>m einzelnen ein <strong>Recht</strong> gewährleistet, "in Ruhe gelassen zu wer<strong>de</strong>n", ohne daß ein Eingriff<br />

zugleich eine Verletzung <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> ("als höchstem <strong>Recht</strong>swert innerhalb <strong>de</strong>r verfassungsgemäßen<br />

Ordnung") be<strong>de</strong>uten muß.<br />

Grundrechtsinhalt: Es sichert "je<strong>de</strong>m einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung,<br />

in <strong>de</strong>m er seine Individualität entwickeln und wahren kann" (BVerfGE 79, 256 [268]).<br />

Hiernach sind insbeson<strong>de</strong>re die <strong>Recht</strong>e <strong>de</strong>r Selbstbestimmung (d.h. auf persönliche Lebensgestaltung),<br />

<strong>de</strong>r Selbstbewahrung (z.B. Schutz <strong>de</strong>r eigenen medizinischen Daten) und Selbstdarstellung (z.B.<br />

Schutz vor verfälschen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r entstellen<strong>de</strong>n Darstellungen <strong>de</strong>r eigenen Person in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit)<br />

geschützt. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wur<strong>de</strong> vor allem anhand von Fallgruppen entwickelt<br />

(und <strong>de</strong>ckt sich nicht unbedingt mit <strong>de</strong>m zivilrechtlichen Schutz <strong>de</strong>s allgemeinen Persönlichkeitsrechts);<br />

als Beispiele seien genannt:<br />

- <strong>de</strong>r Schutz eines persönlichen Bereichs ("engere persönliche Lebenssphäre"), dabei umfaßt <strong>de</strong>r<br />

Schutz <strong>de</strong>r Privatsphäre alle Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsgehalts typischerweise<br />

als privat eingestuft wer<strong>de</strong>n (etwa familiärer Umgang zwischen Eltern und Kin<strong>de</strong>rn bzw. Eheleuten,<br />

Sexualsphäre), aber auch einen räumlichen Bereich, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r einzelne zu sich kommen, entspannen<br />

o<strong>de</strong>r auch gehenlassen kann (und dies nicht nur im häuslichen Bereich, son<strong>de</strong>rn auch an<br />

Örtlichkeiten, die von <strong>de</strong>r breiten Öffentlichkeit <strong>de</strong>utlich abgeschie<strong>de</strong>n sind)<br />

- das <strong>Recht</strong> am eigenen Wort und eigenen Bild,<br />

- das <strong>Recht</strong> <strong>de</strong>r persönlichen Ehre,<br />

- das Verbot staatlichen Zwangs zur Selbstbezichtigung (nemo-tenetur-Grundsatz, Selbstbelastungsfreiheit),<br />

- das Verbot unwi<strong>de</strong>rruflichen Abschnei<strong>de</strong>ns von Zukunftschancen (u.a. auch <strong>Recht</strong> auf Resozialisierung)<br />

- und das <strong>Recht</strong> auf informationelle Selbstbestimmung, Artt. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG.<br />

Das <strong>Recht</strong> auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet <strong>de</strong>m einzelnen, grundsätzlich selbst<br />

über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen (also insbeson<strong>de</strong>re zu entschei<strong>de</strong>n,<br />

wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart wer<strong>de</strong>n).<br />

Aufgabe: Es soll "unter <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Bedingungen <strong>de</strong>r Datenverarbeitung <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>s einzelnen<br />

gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen<br />

Daten" bewirken (BVerfGE 65, 1 [43] - Volkszählung), begrün<strong>de</strong>t also verfassungsrechtlich <strong>de</strong>n<br />

Datenschutz.<br />

Grundrechtsinhalt: Es "gewährleistet die Befugnis <strong>de</strong>s einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe<br />

und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen" (BVerfGE 65, 1 [43] - Volkszählung), d.h.<br />

"zu entschei<strong>de</strong>n, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart<br />

wer<strong>de</strong>n" (BVerfGE 65, 1 [45] - Volkszählung). Angesichts <strong>de</strong>r infolge <strong>de</strong>r Datenverarbeitung möglichen<br />

Verknüpfung einzelner Daten zu einem Persönlichkeitsbild gibt es heute eigentlich kein<br />

belangloses Datum mehr (BVerfGE 65, 1 [45] - Volkszählung).<br />

Grundrechtschranken ergeben sich nach h.M. aus Art. 2 Abs. 1 GG (Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn<br />

45), d.h. <strong>de</strong>ssen Schrankentrias (<strong>Recht</strong>e an<strong>de</strong>rer, verfassungsgemäße Ordnung, Sittengesetz; siehe<br />

dazu unten) ist anwendbar (damit greift das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 GG nicht), wobei insbeson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>ren Schranken-Schranken durch <strong>de</strong>n Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot)<br />

wie auch die Rückbeziehung auf die Menschenwür<strong>de</strong> zu beachten sind (nach a.A. ist auf die engere<br />

Verwandtschaft <strong>de</strong>s Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zur - nach h.M. uneinschränkbaren - Menschenwür<strong>de</strong><br />

abzustellen, was allerdings nicht be<strong>de</strong>uten kann, daß das Allgemeine Persönlichkeitsrecht,<br />

zumal als weitreichen<strong>de</strong>s Grundrecht, schrankenlos gilt, vielmehr muß es zumin<strong>de</strong>st durch an<strong>de</strong>re<br />

Verfassungsgüter beschränkbar sein; v. Münch, StaatsR II, Rn 321).<br />

46<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Bei <strong>de</strong>r Schrankenziehung erfolgt meist eine (mehr bildhafte, <strong>de</strong>nn rechtlich aussagekräftige) Differenzierung<br />

<strong>de</strong>s Allgemeinen Persönlichkeitsrechts entsprechend <strong>de</strong>r sog. Sphärentheorie (dazu v.<br />

Münch, StaatsR II, Rn 322; Richter/Schuppert/Bumke, Casebook VerfassungsR, S. 83; s.a. BVerfGE<br />

34, 238 - Tonband; 80, 367 - Tagebuch):<br />

- Auf einen Kernbereich als "unantastbarem Bereich privater Lebensgestaltung, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Einwirkung<br />

staatlicher Gewalt entzogen ist" (vgl. zu diesem - bezogen auf die Wohnung - BVerfG, NJW 2004,<br />

999 [1002, 1003 f] - Großer Lauschangriff),<br />

- folgt die Intimsphäre (die zu Unrecht teilweise mit <strong>de</strong>m Kernbereich gleichgesetzt wird; wie hier v.<br />

Münch, StaatsR II, Rn 322), in die nur ausnahmsweise eingegriffen wer<strong>de</strong>n darf.<br />

- Um diese Sphäre herum liegt die sog. Privatsphäre persönlicher, privater Lebensgestaltung, in <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r einzelne das <strong>Recht</strong> hat, in Ruhe gelassen zu wer<strong>de</strong>n. Für sie gelten die Schranken <strong>de</strong>s Art. 2 Abs.<br />

1 GG (streitig ist, ob hier eine Einschränkung nur durch ein formelles Gesetz erfolgen kann; dazu<br />

Kunig in v. Münch/Kunig, GGK I, Art. 2 Rn 42 auch i.V.m. 23), wobei allerdings <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

strikt zu wahren ist.<br />

- Für die äußerste Sphäre <strong>de</strong>s Auftretens <strong>de</strong>s einzelnen in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit (d.h. seine Beziehungen<br />

zur Umwelt, sein öffentliches, wirtschaftliches und berufliches Wirken), die sog. Sozial- o<strong>de</strong>r<br />

Individualsphäre, sind Beschränkungen unter weniger strengen Anfor<strong>de</strong>rungen möglich (wenn insofern<br />

überhaupt noch eine beson<strong>de</strong>rs zu schützen<strong>de</strong> private Persönlichkeitssphäre anzuerkennen ist).<br />

Auch nach <strong>de</strong>m BVerfG (insb. seit BVerfGE 65, 1 [45] - Volkszählung; zur Ausgestaltung <strong>de</strong>r Sphärentheorie<br />

in <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sprechung <strong>de</strong>s BVerfG s. etwa Störmer, Jura 1991, 17 [19]) ist allerdings weniger<br />

die Zuordnung zu einer <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Sphären maßgebend, <strong>de</strong>nn die Abgrenzung <strong>de</strong>s unantastbaren<br />

Kernbereichs von <strong>de</strong>r beschränkbaren Privatsphäre und <strong>de</strong>ren Binnendifferenzierung<br />

entsprechend <strong>de</strong>s Sozialbezugs; es ist eine auf <strong>de</strong>n Einzelfall bezogene Wertung und Abwägung<br />

vorzunehmen.<br />

Grundrechtsträger: je<strong>de</strong>rmann, beschränkt auch juristische Personen <strong>de</strong>s Privatrechts (str.)<br />

IV. <strong>Recht</strong> auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG<br />

Das <strong>Recht</strong> auf Leben schützt das körperliche Dasein, also die biologisch-physische Existenz.<br />

Das <strong>Recht</strong> auf körperliche Unversehrtheit schützt die menschliche Gesundheit vor Beeinträchtigungen<br />

im biologisch-physischen Sinn wie im psychischen Bereich, aber auch allgemein die körperliche Integrität.<br />

Aufgabe: Das <strong>Recht</strong> auf Leben wie das <strong>Recht</strong> auf körperliche Unversehrtheit wur<strong>de</strong>n als Reaktion auf<br />

die nationalsozialistischen Verbrechen geschaffen, wobei das <strong>Recht</strong> auf Leben einen Höchstwert<br />

innerhalb <strong>de</strong>r Verfassung darstellt (BVerfGE 39, 1 [42] - Schwangerschaftsabbruch I; 46, 160 [164] -<br />

Schleyer; 49, 24 [53] - Kontaktsperre). Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthält neben einem Abwehrrecht auch<br />

eine objektive Wertentscheidung, die die staatlichen Organe zum Schutz und zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r geschützten<br />

<strong>Recht</strong>sgüter verpflichtet, gera<strong>de</strong> auch vor rechtswidrigen Eingriffen seitens an<strong>de</strong>rer (umfassen<strong>de</strong><br />

staatliche Schutzpflicht, vgl. BVerfG a.a.O.).<br />

Grundrechtsinhalt: Schutzgut ist die körperliche Integrität. Dabei schützt das <strong>Recht</strong> auf Leben das körperliche<br />

Dasein (die biologisch-physische Existenz) und das <strong>Recht</strong> auf körperliche Unversehrtheit vor<br />

Einwirkungen auf die menschliche Gesundheit im biologisch-physischen Sinn, daneben aber auch vor<br />

solchen im psychischen Bereich, soweit diese Einwirkungen körperlichen Eingriffen gleichstehen<br />

(etwa <strong>de</strong>r Zufügung von Schmerzen entsprechen; BVerfGE 56, 54 [75] - Fluglärm).<br />

Grundrechtsschranken: Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthält einen allgemeinen Schrankenvorbehalt und ermöglicht<br />

Eingriffe "auf Grund eines [nach h.M.: förmlichen; v. Münch, StaatsR II, Rn 342] Gesetzes",<br />

aber auch: durch ein Gesetz<br />

Grundrechtsträger ist je<strong>de</strong> natürliche Person (auch das wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Leben im Mutterleib ist Träger <strong>de</strong>s<br />

Grundrechts auf Leben, h.M.).<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 47


V. Meinungsfreiheit i.e.S., Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG<br />

Die Meinungsfreiheit (i.e.S.) gewährleistet je<strong>de</strong>rmann, frei (d.h. ohne Begründungszwang, staatliche<br />

Lenkung, Behin<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r sonstige Beeinträchtigung) zu sagen bzw. in sonstiger Weise auszudrücken,<br />

was er <strong>de</strong>nkt o<strong>de</strong>r fühlt. Der Begriff <strong>de</strong>r "Meinung" ist dabei grundsätzlich weit zu verstehen<br />

und umfaßt neben Werturteilen auch Tatsachenbehauptungen, (je<strong>de</strong>nfalls) soweit sie Voraussetzung<br />

für die Bildung von Meinungen sind; nicht geschützt sind bewußt o<strong>de</strong>r unzweifelhaft unwahre Tatsachenbehauptungen.<br />

Neben <strong>de</strong>r positiven ist auch die negative Meinungsfreiheit (nämlich sich nicht zu<br />

äußern) geschützt. Wenn auch die Freiheit <strong>de</strong>r Meinungsbildung mit geschützt ist, so unterfällt das<br />

Sammeln von Informationen hierzu doch eher <strong>de</strong>r Informations- und nicht <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit.<br />

Die Meinungsfreiheit i.w.S. (tw. auch: Kommunikations- und Medienfreiheiten), Art. 5 Abs.<br />

1 GG, umfaßt insgesamt fünf Grundrechte, nämlich<br />

-die Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG, als das <strong>Recht</strong>, seine Meinung in Wort, Schrift<br />

und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (dazu sogleich),<br />

-die Informationsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG, als das <strong>Recht</strong>, sich aus allgemein zugänglichen<br />

Quellen ungehin<strong>de</strong>rt zu unterrichten,<br />

-die Pressefreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 2 (Var. 1) GG,<br />

-die Freiheit <strong>de</strong>r Rundfunkberichterstattung (Hörfunk und Fernsehfunk; sog. Rundfunkfreiheit),<br />

Art. 5 Abs. 1 S. 2 (Var. 2) GG, und<br />

-die Freiheit <strong>de</strong>r Filmberichterstattung (sog. Filmfreiheit), Art. 5 Abs. 1 S. 2 (Var. 3) GG.<br />

Aufgabe: Das Grundrecht <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit (i.e.S.) wird von <strong>de</strong>m BVerfG zu <strong>de</strong>n vornehmsten<br />

Menschenrechten überhaupt gezählt und als für eine freiheitlich-<strong>de</strong>mokratische Staatsordnung konstituierend<br />

angesehen (BVerfGE 7, 198 [208] - Lüth). Daher ist <strong>de</strong>r "Begriff <strong>de</strong>r 'Meinung' ... grundsätzlich<br />

weit zu verstehen: Sofern eine Äußerung durch die Elemente <strong>de</strong>r Stellungnahme, <strong>de</strong>s Dafürhaltens<br />

und Meinens geprägt ist, fällt sie in <strong>de</strong>n Schutzbereich <strong>de</strong>s Grundrechts" (BVerfGE 61, 1 [9] - Wahlkampf<br />

/ CSU: NPD Europas). Umstritten ist allerdings, inwieweit die Meinungsfreiheit neben <strong>de</strong>r<br />

Abgabe von Werturteilen (unstr.) auch Tatsachenbehauptungen umfaßt: während das BVerfG Tatsachenbehauptungen<br />

nur dann in <strong>de</strong>n Schutzbereich einbezieht, wenn sie Voraussetzung für die Bildung<br />

von Meinungen sind und bewußt und unzweifelhaft unwahre Tatsachenbehauptungen ausnimmt (E 61,<br />

1 [8 f]; 85, 1 [15] - Kritische Bayer-Aktionäre; 90, 241 [249] - Auschwitzlüge; 99, 185 [197] - Scientology;<br />

zust. Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn 5; Manssen, StaatsR II, Rn 338 ff), wird tw. in <strong>de</strong>r<br />

Literatur solch eine Differenzierung abgelehnt (J. Ipsen, StaatsR II, Rn 387 ff, insb. 390; v. Münch,<br />

StaatsR II, Rn 361 ff; Pieroth/Schlink, GrundR, Rn 552 ff, insb. 555).<br />

Grundrechtsinhalt: Die Meinungsfreiheit gewährleistet je<strong>de</strong>rmann, frei und ohne Begründungszwang<br />

zu sagen bzw. in sonstiger Weise auszudrücken, was er <strong>de</strong>nkt o<strong>de</strong>r fühlt. Dies gilt grundsätzlich unabhängig<br />

davon, ob die Äußerung begrün<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r grundlos, emotional o<strong>de</strong>r rational ist, als "richtig" o<strong>de</strong>r<br />

"falsch", "wertvoll" o<strong>de</strong>r "wertlos", "harmlos" o<strong>de</strong>r "gefährlich" eingeschätzt wird und erfaßt auch polemische<br />

und übersteigerte sowie sogar beleidigen<strong>de</strong> Äußerungen. Der weit zu verstehen<strong>de</strong> Begriff <strong>de</strong>r<br />

"Meinung" umfaßt neben Werturteilen ("Meinung" i.e.S., nämlich als Stellungnahme, Dafürhalten)<br />

auch Tatsachenbehauptungen (= <strong>de</strong>m Beweis zugängliche Äußerungen über vergangene o<strong>de</strong>r gegenwärtige<br />

äußere o<strong>de</strong>r innere Umstän<strong>de</strong>; sie sind somit wahr o<strong>de</strong>r falsch) 14) , je<strong>de</strong>nfalls soweit sie Voraussetzung<br />

für die Bildung von Meinungen sind. Nicht geschützt sind nach h.M. aber bewußt o<strong>de</strong>r unzweifelhaft<br />

unwahre Tatsachenbehauptungen (so z.B. die sog. Auschwitz- o<strong>de</strong>r Gaskammerlüge,<br />

gegen die - wie in <strong>de</strong>r Lit. zutreffend eingewandt wird - aber auch im Wege <strong>de</strong>r Schrankenziehung<br />

vorgegangen wer<strong>de</strong>n kann, s. etwa v. Münch, StaatsR II, Rn 408). Bei <strong>de</strong>r Abgrenzung von Werturteilen<br />

und Tatsachenbehauptungen kommt es auf <strong>de</strong>n objektiven Sinngehalt an, in Überschneidungsfällen<br />

ist von einer Meinung auszugehen; erfaßt wer<strong>de</strong>n auch Fragen (BVerfGE 85, 23 [31]).<br />

14<br />

48<br />

Die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen fin<strong>de</strong>t sich auch bei <strong>de</strong>n Beleidigungs<strong>de</strong>likten<br />

(§§ 185 ff StGB), ferner bei <strong>de</strong>m Betrugstatbestand (§ 263 StGB).<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


Neben <strong>de</strong>r positiven Meinungsfreiheit (also <strong>de</strong>r Freiheit, eine Meinung zu äußern) ist auch die sog. negative<br />

Meinungsfreiheit (eine Meinung nicht zu äußern) geschützt; keine Meinungsäußerung i.S.d.<br />

Art. 5 Abs. 1 GG sind aber Angaben statistischer Art o<strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>re amtliche Befragungen, so daß<br />

Informationseingriffe im Wege <strong>de</strong>r Datenerhebung nicht unter die negative Meinungsfreiheit fallen<br />

(BVerfGE 65, 1 [40 f] - Volkszählung). Die Verpflichtung, eine staatliche Information als eine solche<br />

zu verbreiten, berührt nicht die Meinungsfreiheit (BVerfGE 95, 173 [182] - Warnhinweise für<br />

Tabakerzeugnisse).<br />

Wenn Art. 5 Abs. 1 GG als geschützte Medien lediglich Wort, Schrift und Bild nennt, so nur beispielhaft;<br />

geschützt sind alle Formen <strong>de</strong>r Meinungsäußerung und -verbreitung.<br />

Geschützt ist mit <strong>de</strong>r Meinungskundgabe auch die Wahl <strong>de</strong>s Ortes und ihrer Zeit (nicht aber das "Aufzwingen"<br />

einer Meinung). Neben <strong>de</strong>m Äußern und Verbreiten als Kundgabeform (bei<strong>de</strong> lassen sich<br />

nicht streng voneinan<strong>de</strong>r trennen) ist auch das "Ankommen" <strong>de</strong>r Meinungsäußerung beim Adressaten<br />

geschützt, also daß diese empfangen wer<strong>de</strong>n kann.<br />

[BVerfGE 61, 7] »Dieses Grundrecht gewährleistet, ohne ausdrücklich zwischen "Werturteil" und "Tatsachenbehauptung"<br />

zu unterschei<strong>de</strong>n, je<strong>de</strong>rmann das <strong>Recht</strong>, seine Meinung frei zu äußern: Je<strong>de</strong>r soll frei sagen können, was er <strong>de</strong>nkt, auch<br />

wenn er keine nachprüfbaren Grün<strong>de</strong> für sein Urteil angibt o<strong>de</strong>r angeben kann (BVerfGE 42, 163 [170 f.]); zugleich ist es<br />

<strong>de</strong>r Sinn von Meinungsäußerungen, geistige Wirkung auf die Umwelt ausgehen zu lassen, meinungsbil<strong>de</strong>nd und<br />

überzeugend zu wirken. Deshalb sind Werturteile, die immer eine geistige Wirkung erzielen, nämlich an<strong>de</strong>re überzeugen<br />

wollen, vom Grundrecht <strong>de</strong>s Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt. Der Schutz <strong>de</strong>s Grundrechts bezieht sich in erster Linie<br />

auf die eigene Stellungnahme <strong>de</strong>s Re<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n (BVerfGE 7, 198 [210]). Unerheblich ist, ob seine Äußerung "wertvoll" o<strong>de</strong>r<br />

"wertlos", "richtig" o<strong>de</strong>r "falsch", emotional o<strong>de</strong>r rational begrün<strong>de</strong>t ist (BVerfGE 33, 1 [14 f.]). Han<strong>de</strong>lt es sich im<br />

Einzelfall um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berühren<strong>de</strong>n Frage, dann<br />

spricht die Vermutung für die Zulässigkeit <strong>de</strong>r freien Re<strong>de</strong> (BVerfGE 7, 198 [212]). Auch scharfe und übersteigerte<br />

Äußerungen fallen, namentlich im öffentlichen Meinungskampf, grundsätzlich in <strong>de</strong>n Schutzbereich <strong>de</strong>s Art. 5 Abs. 1 Satz<br />

1 GG<br />

[BVerfGE 61, 8] (vgl. BVerfGE 54, 129 [139]); die Frage kann nur sein, ob und inwieweit die Vorschriften <strong>de</strong>r allgemeinen<br />

Gesetze und das <strong>Recht</strong> <strong>de</strong>r persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG) hier Grenzen ziehen können.<br />

Für Tatsachenbehauptungen gilt dies nicht in gleicher Weise. Unrichtige Information ist unter <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit<br />

kein schützenswertes Gut (BVerfGE 54, 208 [219]). Die bewußte Behauptung unwahrer Tatsachen ist durch<br />

Art. 5 Abs. 1 GG nicht mehr geschützt; gleiches gilt für unrichtige Zitate (BVerfG, a.a.O.). Im übrigen bedarf es <strong>de</strong>r Differenzierung,<br />

wobei es namentlich darum geht, die Anfor<strong>de</strong>rungen an die Wahrheitspflicht nicht so zu bemessen, daß darunter<br />

die Funktion <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit lei<strong>de</strong>n kann (BVerfGE, a.a.O. [219 f.]). Der Satz, die Vermutung spreche für die<br />

Zulässigkeit <strong>de</strong>r freien Re<strong>de</strong>, gilt infolge<strong>de</strong>ssen für Tatsachenbehauptungen nur eingeschränkt; soweit unrichtige Tatsachenbehauptungen<br />

nicht schon von vornherein außerhalb <strong>de</strong>s Schutzbereichs <strong>de</strong>s Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verbleiben, sind<br />

sie Einschränkungen auf Grund von allgemeinen Gesetzen leichter zugänglich als das Äußern einer Meinung.<br />

Konstitutiv für die Bestimmung <strong>de</strong>ssen, was als Äußerung einer "Meinung" vom Schutz <strong>de</strong>s Grundrechts umfaßt wird,<br />

ist mithin das Element <strong>de</strong>r Stellungnahme, <strong>de</strong>s Dafürhaltens, <strong>de</strong>s Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung;<br />

auf <strong>de</strong>n Wert, die Richtigkeit, die Vernünftigkeit <strong>de</strong>r Äußerung kommt es nicht an. Die Mitteilung einer Tatsache ist im<br />

strengen Sinne keine Äußerung einer "Meinung", weil ihr jenes Element fehlt. Durch das Grundrecht <strong>de</strong>r Meinungsäußerungsfreiheit<br />

geschützt ist sie, weil und soweit sie Voraussetzung <strong>de</strong>r Bildung von Meinungen ist, welche Art. 5 Abs.<br />

1 GG in seiner Gesamtheit gewährleistet. Was dagegen nicht zur verfassungsmäßig vorausgesetzten Meinungsbildung beitragen<br />

kann, ist nicht geschützt, insbeson<strong>de</strong>re die erwiesen o<strong>de</strong>r bewußt unwahre Tatsachenbehauptung. Im Gegensatz zur<br />

eigentlichen Äußerung einer Meinung kann es also für <strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen Schutz<br />

[BVerfGE 61, 9] einer Tatsachenmitteilung auf die Richtigkeit <strong>de</strong>r Mitteilung ankommen.<br />

Von hier aus ist <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r "Meinung" in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich weit zu verstehen: Sofern eine<br />

Äußerung durch die Elemente <strong>de</strong>r Stellungnahme, <strong>de</strong>s Dafürhaltens o<strong>de</strong>r Meinens geprägt ist, fällt sie in <strong>de</strong>n Schutzbereich<br />

<strong>de</strong>s Grundrechts. Das muß auch dann gelten, wenn sich diese Elemente, wie häufig, mit Elementen einer<br />

Tatsachenmitteilung o<strong>de</strong>r -behauptung verbin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r vermischen, je<strong>de</strong>nfalls dann, wenn bei<strong>de</strong> sich nicht trennen lassen<br />

und <strong>de</strong>r tatsächliche Gehalt gegenüber <strong>de</strong>r Wertung in <strong>de</strong>n Hintergrund tritt. Wür<strong>de</strong> in einem solchen Fall das tatsächliche<br />

Element als ausschlaggebend angesehen, so könnte <strong>de</strong>r grundrechtliche Schutz <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit wesentlich verkürzt<br />

wer<strong>de</strong>n.« (BVerfGE 61, 1 - Wahlkampf - "CSU: NPD Europas")<br />

Grundrechtsschranken: Art. 5 Abs. 2 GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, nämlich insbeson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>s "allgemeinen Gesetzes", daneben <strong>de</strong>r "gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze <strong>de</strong>r<br />

Jugend" und <strong>de</strong>m "<strong>Recht</strong> <strong>de</strong>r persönlichen Ehre" (das Zitiergebot <strong>de</strong>s Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG greift<br />

insoweit nicht). Bei <strong>de</strong>r Schrankenziehung ist Art. 5 Abs. 1 S. 3 (Zensurverbot) als eine Schranken-<br />

Schranke zu berücksichtigen.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 49


Allgemeine Gesetze sind solche, die "sich we<strong>de</strong>r gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte<br />

Meinungen richten, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte<br />

Meinung, zu schützen<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>sguts dienen" (st. Rspr. seit BVerfGE 7, 198 [209] - Lüth; 97,<br />

125 [146] - Caroline von Monaco I), also <strong>de</strong>m Schutze eines Gemeinschaftswertes, <strong>de</strong>r gegenüber <strong>de</strong>r<br />

Betätigung <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit Vorrang hat (zur Wechselwirkungslehre s.u.). (Der Begriff <strong>de</strong>s allgemeinen<br />

Gesetzes ist somit enger als <strong>de</strong>r eines abstrakt-generell formulierten Gesetzes; die Schranken<br />

müssen im übrigen nicht durch förmliche Gesetze selbst gezogen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn auch auf eine<br />

formell-gesetzliche Ermächtigung gestützte an<strong>de</strong>re <strong>Recht</strong>svorschriften in Betracht; Jarass/Pieroth,<br />

GG, Art. 5 Rn 55).<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>r Schrankenziehung ist die sog. Wechselwirkungslehre zu beachten: So können allgemeine<br />

Gesetze nicht beliebig die Meinungsfreiheit i.w.S. einschränken, sie sind ihrerseits "aus <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung" dieser Grundrechte "im freiheitlichen <strong>de</strong>mokratischen <strong>Recht</strong>sstaat auszulegen<br />

und so in ihrer diese Grundrechte beschränken<strong>de</strong>n Wirkung selbst wie<strong>de</strong>r einzuschränken" (st.<br />

Rspr. seit BVerfGE 7, 198 [208 f] - Lüth; 71, 206 [214] - STERN / Gerichtsberichterstattung). Im Rahmen<br />

<strong>de</strong>r Abwägung ist zu berücksichtigen, ob es sich bei <strong>de</strong>r Meinungsäußerung um einen "Beitrag<br />

zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berühren<strong>de</strong>n Frage" han<strong>de</strong>lt.<br />

Dann spricht dies für <strong>de</strong>n Vorrang <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit i.w.S. "An<strong>de</strong>res kann gelten, wenn ein solcher<br />

Öffentlichkeitsbezug fehlt und lediglich <strong>de</strong>r Sensation wegen berichtet wird o<strong>de</strong>r Angelegenheiten aus<br />

<strong>de</strong>r Privatsphäre eines Betroffenen ans Licht gezogen wer<strong>de</strong>n (vgl. BVerfGE 34, 269 [283] - Soraya);<br />

dies wird von <strong>de</strong>r ratio <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Freiheiten <strong>de</strong>s Art. 5 Abs. 1 GG nicht umfaßt."<br />

(BVerfGE 71, 206 [220] - STERN / Gerichtsberichterstattung)<br />

Grundrechtsträger <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit i.e.S. sind alle natürlichen Personen (grundsätzlich auch Min<strong>de</strong>rjährige)<br />

sowie juristische Personen <strong>de</strong>s Privatrechts<br />

VI. Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG<br />

Die Kunstfreiheit schützt neben <strong>de</strong>r eigentlichen künstlerischen Tätigkeit (sog. Werkbereich) auch die<br />

Vermittlung <strong>de</strong>s Kunstwerks an Dritte (sog. Wirkbereich). Geschützt sind alle Formen <strong>de</strong>r Kunstausübung;<br />

<strong>de</strong>r verfassungsrechtliche Kunstbegriff ist ein weiter und umfaßt je<strong>de</strong> freie schöpferische Gestaltung,<br />

durch die Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse <strong>de</strong>s Künstlers mit <strong>de</strong>m Medium einer bestimmten<br />

Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht wer<strong>de</strong>n.<br />

Aufgabe: Sinn und Aufgabe <strong>de</strong>r Kunstfreiheit "ist es vor allem, die auf <strong>de</strong>r Eigengesetzlichkeit <strong>de</strong>r<br />

Kunst beruhen<strong>de</strong>n, von ästhetischen Rücksichten bestimmten Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen<br />

von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten" (BVerfGE 30, 173 [190] - Mephisto).<br />

Neben diesem Abwehranspruch beinhaltet Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG die staatliche Verpflichtung<br />

zur Pflege und För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Kunst (BVerfGE 81, 108 [116]); die Kunstfreiheit ist lex specialis zu<br />

Art. 5 Abs. 1 GG.<br />

Grundrechtsinhalt: Die Freiheit <strong>de</strong>s künstlerischen Schaffensprozesses wird umfassend geschützt und<br />

erfaßt neben <strong>de</strong>m sog. Werkbereich <strong>de</strong>r Kunstausübung (also Erstellen <strong>de</strong>s Kunstwerks, einschließlich<br />

<strong>de</strong>r vorbereiten<strong>de</strong>n Handlungen hierzu, z.B. Üben) auch <strong>de</strong>n sog. Wirkbereich, nämlich die Vermittlung<br />

<strong>de</strong>r Kunst an Dritte (einschließlich <strong>de</strong>r Werbung dafür), aber nicht mehr die wirtschaftliche Verwertung<br />

<strong>de</strong>r Kunstwerke.<br />

Da ein feststehen<strong>de</strong>r außerrechtlicher Kunstbegriff als Anknüpfungspunkt fehlt, stellt sich die Aufgabe,<br />

einen verfassungsrechtlichen Kunstbegriff zu <strong>de</strong>finieren, d.h. diesen aus <strong>de</strong>r Verfassung selbst<br />

zu entwickeln, um so <strong>de</strong>m Grundrecht (insbeson<strong>de</strong>re als individuellem Freiheitsrecht) und seinen<br />

Schranken justitiable Konturen zu geben. Dabei ergibt sich angesichts <strong>de</strong>r Unzulässigkeit inhaltlicher<br />

Festlegung (Zensur) und <strong>de</strong>r Notwendigkeit <strong>de</strong>r Offenheit für die Avantgar<strong>de</strong> das Problem begrifflicher,<br />

insbeson<strong>de</strong>re inhaltlicher Definition ohne gleichzeitige Festlegung auf eine bestimmte Kunstrichtung<br />

o<strong>de</strong>r -auffassung. Im Hinblick auf das Verbot einer Inhaltskontrolle und das Erfor<strong>de</strong>rnis, alle<br />

Kunst - neben <strong>de</strong>r höheren die niedrige (bzw. naive), neben <strong>de</strong>r guten auch die schlechte Kunst - an<br />

<strong>de</strong>m grundrechtlichen Schutz künstlerischer Freiheit teilhaben zu lassen, erweist sich alsbald eine<br />

50<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


generelle Definition <strong>de</strong>r Kunst als unmöglich. Hieraus ein verfassungsrechtliches Verbot <strong>de</strong>r Definition<br />

<strong>de</strong>r Kunst abzuleiten, wäre jedoch falsch. Es erwiese sich im Hinblick auf die erfor<strong>de</strong>rliche<br />

Schrankenziehung - da letztlich für die Kunst nachteilig - als zweifelhaft und vermochte auch aus<br />

dogmatischen Grün<strong>de</strong>n nicht zu überzeugen. Wenn hiernach im Einzelfall eine inhaltliche Grenzziehung<br />

zu versuchen ist, dann auf <strong>de</strong>r Grundlage eines weiten Kunstbegriffs, <strong>de</strong>r etwa auch Aktionskunst,<br />

politische Kunst, Satire und ggf. sogar Pornographie umfaßt. Dabei wird - ausgehend von <strong>de</strong>r<br />

<strong>Recht</strong>sprechung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichts - überwiegend auf folgen<strong>de</strong> Definitionsansätze zurückgegriffen<br />

(dazu Pieroth/Schlink, Grundrechte, 20. Aufl. 2004, Rn 610-613):<br />

- Kunst i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GG ist die "freie schöpferische Gestaltung, in <strong>de</strong>r Eindrücke, Erfahrungen,<br />

Erlebnisse <strong>de</strong>s Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren<br />

Anschauung gebracht wer<strong>de</strong>n" (BVerfGE 30, 173 [189] - Mephisto; 67, 213 [226] - Anachronistischer<br />

Zug), hiernach ist Kunst das Ergebnis eines künstlerischen Schaffensprozesses (sog. materialer,<br />

wertbezogener Ansatz),<br />

- das Kunstwerk muß auf <strong>de</strong>r Grundlage einer formalen, typologischen Betrachtung die Gattungsanfor<strong>de</strong>rungen<br />

eines bestimmten Werktyps erfüllen (sog. formaler, typologischer Ansatz) o<strong>de</strong>r<br />

- sich im Wege fortgesetzter Interpretation immer neuen Deutungen erschließen (sog. kunst-/zeichentheoretischer<br />

Ansatz), das Kunstwerk wäre somit eine künstlerische Komposition verschie<strong>de</strong>ner<br />

Zeichen, die über ihre alltägliche Aussagefunktion hinaus unerschöpfliche, vielstufige Informationen<br />

vermitteln (BVerfGE 67, 213 [227 f] - Anachronistischer Zug).<br />

Sonstige mögliche Bestimmungskriterien sind die subjektive Kunsteinschätzung durch <strong>de</strong>n Urheber<br />

(sog. subjektiver Kunstbegriff) o<strong>de</strong>r die Betrachtung als Kunstwerk durch einen in Kunstfragen kompetenten<br />

Dritten (ausreichend ist dann die "Vertretbarkeit" als Kunst; sog. Drittanerkennung).<br />

Schrankenziehung: Die Kunstfreiheit ist nach Art. 5 Abs. 3 GG ein vorbehaltlos gewährleistetes, sog.<br />

absolutes Grundrecht. Da sich aber Konflikte zwischen <strong>de</strong>r Kunstfreiheit und an<strong>de</strong>ren, ihr wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n<br />

Verfassungsgütern ergeben können, die, je<strong>de</strong>nfalls in sozialverträglicher Weise, nicht stets zugunsten<br />

<strong>de</strong>r Kunst entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können, müssen diese Konflikte im Einzelfall gelöst wer<strong>de</strong>n,<br />

und zwar "nach Maßgabe <strong>de</strong>r grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r Einheit<br />

dieses grundlegen<strong>de</strong>n Wertsystems durch Verfassungsauslegung" (BVerfGE 30, 173 [193] - Mephisto).<br />

Dabei ist wie folgt vorzugehen: Zunächst ist, insbeson<strong>de</strong>re bei Viel<strong>de</strong>utigkeit <strong>de</strong>s Kunstwerks,<br />

eine Interpretation <strong>de</strong>s Kunstwerks verfassungsrechtlich geboten (Gesamtschau <strong>de</strong>s Werks unter<br />

Berücksichtigung <strong>de</strong>s künstlerischen Gesamtkonzepts), erst dann sind die Schranken zu bestimmen.<br />

Hierbei wer<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> Ansätze zur Schrankenbestimmung diskutiert (zum Ganzen: I. v. Münch,<br />

StaatsR II, 5. Aufl. 2002, Rn 226-232, 269-273, 421 f; J. Ipsen, StaatsR II, 6. Aufl. 2003, Rn 482 ff):<br />

- Zunächst ist an etwaige grundrechtsimmanente Schranken zu <strong>de</strong>nken, nämlich ob und inwieweit<br />

durch Interpretation <strong>de</strong>r Merkmale <strong>de</strong>s Grundrechts in Verbindung mit ihrer Konkretisierung im<br />

Gesamtzusammenhang <strong>de</strong>r Verfassung schon bei <strong>de</strong>r Begriffsbestimmung/-begrenzung das Wirkungsmaß<br />

<strong>de</strong>s Grundrechts als limitiert angesehen wer<strong>de</strong>n muß. (So umfaßt die Kunstfreiheit nicht<br />

die Freiheit, die <strong>Recht</strong>e an<strong>de</strong>rer zu beeinträchtigen, etwa durch Inanspruchnahme o<strong>de</strong>r Beeinträchtigung<br />

frem<strong>de</strong>n Eigentums; vgl. BVerfG, NJW 1984, 1293 [1294] - Sprayer von Zürich.)<br />

- Eine teilweise vorgeschlagene Anwendung <strong>de</strong>r Schranken <strong>de</strong>s Art. 5 Abs. 2 GG ("Vorschriften <strong>de</strong>r<br />

allgemeinen Gesetze, <strong>de</strong>n gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze <strong>de</strong>r Jugend und in <strong>de</strong>m <strong>Recht</strong><br />

<strong>de</strong>r persönlichen Ehre") wird allgemein als <strong>de</strong>r Gesetzessystematik wi<strong>de</strong>rsprechend (Abs. 3 als lex<br />

specialis zu Abs. 1) abgelehnt (BVerfGE 30, 173 [191 f.]). (An<strong>de</strong>rs ist dies jedoch, wenn insoweit<br />

zwischen <strong>de</strong>m Werk- und Wirkbereich unterschie<strong>de</strong>n und letzterer Art. 5 Abs. 1 GG zugewiesen<br />

wird.)<br />

- Ebenfalls überwiegend abgelehnt (BVerfGE 30, 173 [192]) wird eine unmittelbare Anwendung <strong>de</strong>r<br />

Schrankentrias <strong>de</strong>s Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG ("... <strong>Recht</strong>e an<strong>de</strong>rer ... verfassungsmäßige Ordnung o<strong>de</strong>r<br />

das Sittengesetz"), da Art. 2 Abs. 1 GG nur ein Auffanggrundrecht, aber kein übergeordnetes -<br />

beschränken<strong>de</strong>s - "Hauptfreiheitsrecht" ist (Freiheitsrechte als leges speciales zur allgemeinen Handlungsfreiheit).<br />

Zu<strong>de</strong>m wür<strong>de</strong> die Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>n formal uneinschränkbaren Grundrechten<br />

und solchen mit Gesetzesvorbehalt aufgehoben, und angesichts <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>r "verfassungsmäßigen<br />

Ordnung" in Art. 2 Abs. 1 GG als Summe aller materiell und formell verfas-<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 51


sungsgemäßen Gesetze wären alle Freiheitsrechte dann sogar durch ein einfaches Gesetz beschränkbar.<br />

Dasselbe gilt grundsätzlich für eine analoge Anwendung <strong>de</strong>r Schrankentrias <strong>de</strong>s Art. 2 Abs. 1<br />

Halbs. 2 GG, zumal eine so angestrebte differenzieren<strong>de</strong> Auslegung <strong>de</strong>r Schrankentrias die I<strong>de</strong>ntität<br />

<strong>de</strong>r Schrankentrias in Frage stellen wür<strong>de</strong>. - Allerdings sind die (durch die Verfassung geschützten<br />

<strong>Recht</strong>sgüter und) <strong>Recht</strong>e an<strong>de</strong>rer und das Sittengesetz als Ausdruck einer ethisch immanenten<br />

Begrenzung (zumin<strong>de</strong>st soweit sie Ausdruck <strong>de</strong>r objektiven Wertordnung <strong>de</strong>s Grundgesetzes ist)<br />

auch im Rahmen <strong>de</strong>r Güterabwägung Leitprinzipien.<br />

- Der in <strong>de</strong>r älteren <strong>Recht</strong>sprechung <strong>de</strong>s BVerwG's vertretene sog. Gemeinschaftsvorbehalt (sofern ein<br />

an<strong>de</strong>res Grundrecht o<strong>de</strong>r die Güter, die für <strong>de</strong>n Bestand <strong>de</strong>r staatlichen Gemeinschaft notwendig<br />

sind, gefähr<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n) wird heute allgemein als inhaltlich zu unbestimmt abgelehnt.<br />

- Vorherrschend ist die sog. Güterabwägungslehre (sog. verfassungsimmanente Grundrechtsschranken)<br />

<strong>de</strong>s BVerfG's (E 30, 173 [193] - Mephisto; 35, 202 [225] - Lebach I), wonach die Schrankenziehung<br />

stets für <strong>de</strong>n konkreten Fall (nicht abstrakt) nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s schonendsten Ausgleichs<br />

vorzunehmen ist. (Dieser Ansatz führt im Ergebnis zu <strong>de</strong>n gleichen Ergebnissen wie die von Konrad<br />

Hesse gefor<strong>de</strong>rte Herstellung praktischer/harmonischer Konkordanz durch verhältnismäßige Zuordnung<br />

von Grundrechten und grundrechtsbegrenzen<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>sgütern, um bei<strong>de</strong> zu optimaler Wirkung<br />

gelangen zu lassen. Hesse vermei<strong>de</strong>t nur <strong>de</strong>n Ansatz <strong>de</strong>s "Abwägens", <strong>de</strong>r als Ergebnis an sich<br />

ein "Überwiegen" statt eines "Ausgleichs" vorgibt.)<br />

- Sofern vereinzelt eine Grenzziehung unmittelbar durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip vorgeschlagen<br />

wird, be<strong>de</strong>utete dies einen ausdrücklichen Verzicht auf das Erfor<strong>de</strong>rnis, daß die kollidieren<strong>de</strong>n<br />

<strong>Recht</strong>sgüter Verfassungsrang genießen müssen und ist daher anzulehnen. Allerdings muß je<strong>de</strong><br />

Schrankenziehung <strong>de</strong>m Verhältnismäßigkeitsprinzip (Ableitung aus <strong>de</strong>m <strong>Recht</strong>sstaatsprinzip, Artt.<br />

20 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG, a.A. Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 Abs. 2 GG, m.M. Übermaßverbot,<br />

Art. 3 Abs. 1 GG) entsprechen, sie also erfor<strong>de</strong>rlich, geeignet und angemessen (= verhältnismäßig<br />

i.e.S.) sein.<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>r h.M. ist somit bei Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG eine Grundrechtsbeschränkung durch Güterabwägung/Herstellung<br />

praktischer Konkordanz vorzunehmen (s.o. 14.II). Diese gestaltet sich schon<br />

<strong>de</strong>shalb mitunter schwierig, da <strong>de</strong>m Grundgesetz eine eigene Normenhierarchie fehlt (Ausnahme:<br />

Menschenwür<strong>de</strong>, Art. 1 Abs. 1 GG; auch das Leben stellt nur einen Höchstwert - etwa neben <strong>de</strong>r Freiheit<br />

- dar, BVerfGE 39, 1 [43] - Fristenlösung; 46, 160 [164] - Schleyer). Selbstre<strong>de</strong>nd muß bei solcher<br />

Schrankenziehung die sog. Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) beachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

Grundrechtsträger ist zunächst <strong>de</strong>r "Künstler" (also eine natürliche Person), daneben aber je<strong>de</strong>r Mittler<br />

<strong>de</strong>r Kunst, <strong>de</strong>ssen Tätigkeit Voraussetzung dafür ist, daß sich Kunst entfalten kann, insbeson<strong>de</strong>re ihr<br />

Publikum fin<strong>de</strong>t (so z.B. <strong>de</strong>r Verleger, Schallplattenhersteller, Filmproduzent). Insoweit ist die Kunstfreiheit<br />

auch auf juristische Personen (<strong>de</strong>s Privatrechts) anwendbar, wenn diese zur Entstehung o<strong>de</strong>r<br />

Verbreitung von Kunstwerken beitragen (BVerfGE 81, 278 [292]); ferner sind Träger <strong>de</strong>r Kunstfreiheit<br />

die (staatlichen) Kunst- und Musikhochschulen sowie die in staatlichen Kunsteinrichtungen künstlerisch<br />

tätigen Personen. Kein Grundrechtsträger ist <strong>de</strong>r bloße Kunstkonsument.<br />

52<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


16. Fallbeispiel: "Der Sprayer von Zürich" (Fall Harald Naegeli; vgl. BVerfG, NJW 1984, 1293)<br />

Sachverhalt: Der als "Sprayer von Zürich" bekannte<br />

Graffitikünstler Harald Naegeli (N) besprühte in <strong>de</strong>n<br />

Jahren 1977 bis 1979 in über 1.000 Fällen Fassa<strong>de</strong>n<br />

öffentlicher wie privater Bauten mit Figuren und Aktionszeichen.<br />

So bemalte er u.a. 180 Gebäu<strong>de</strong> in Zürich<br />

mit schwarzer Farbe aus Sprayflaschen, weswegen<br />

er wegen Sachbeschädigung (zuletzt zu insgesamt<br />

neun Monaten Gefängnis ohne Bewährung) verurteilt<br />

wur<strong>de</strong>. Er war aber auch in Frankfurt am Main und<br />

Köln tätig (s. Abbildungen), wo er ebenfalls - aus seiner<br />

Sicht - "seelenlose Betonbauten" (nämlich sog.<br />

Verkehrsflächen an öffentlichen Treppenaufgängen<br />

und Brückenpfeilern) mit seiner Kunst "bereicherte", keineswegs aber "beschädigte".<br />

Aufgabe: Verletzt die Bestrafung N's (wegen Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 2 StGB n.F.) <strong>de</strong>ssen<br />

Kunstfreiheit?<br />

Lösung<br />

Eine Bestrafung N's wegen <strong>de</strong>s Graffiti-Sprayens könnte einen rechtswidrigen Eingriff in die künstlerische<br />

Betätigungsfreiheit <strong>de</strong>s N darstellen und somit sein Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG<br />

verletzen. Denn Strafandrohung wie Strafausspruch wegen unbefugter erheblicher Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />

Erscheinungsbil<strong>de</strong>s einer frem<strong>de</strong>n Sache kommen einem Betätigungsverbot als Graffitikünstler gleich.<br />

N's Tun war offenbar nicht durch eine vorab erklärte Einwilligung <strong>de</strong>r Eigentümer gerechtfertigt und<br />

insofern unbefugt. Das durch das vorsätzliche Besprayen bewirkte erhebliche Verän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r äußeren<br />

Erscheinung <strong>de</strong>r fraglichen Verkehrsbauten stellte insofern zwar eine tatbestandliche Sachbeschädigung<br />

dar, könnte jedoch zugleich <strong>de</strong>r verfassungsrechtlichen Gewährleistung <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Kunst<br />

unterfallen und diese somit seiner Bestrafung entgegenstehen. Denn die Grundrechte sind als objektive<br />

Wertordnung auch bei <strong>de</strong>r Auslegung und Anwendung <strong>de</strong>s (einfachen) <strong>Recht</strong>s zu berücksichtigen<br />

und können so unter Umstän<strong>de</strong>n unmittelbar unrechtsausschließend wirken, wie dies im Hinblick auf<br />

die Meinungsfreiheit etwa durch die "rechtfertigen<strong>de</strong>" Anerkennung <strong>de</strong>r Wahrnehmung berechtigter<br />

Interessen (§ 193 StGB) bei <strong>de</strong>n Äußerungs-, insbeson<strong>de</strong>re Ehr<strong>de</strong>likten geschieht.<br />

a) Dann müßte es sich bei <strong>de</strong>n Graffiti um Kunst i.S.d. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG han<strong>de</strong>ln. Hierfür ist zu<br />

klären, was eigentlich Kunst ist. Ausgehend von einem materialen Kunstbegriff ließe sie sich umschreiben<br />

als schöpferischer Gestaltungsakt, durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Künstler seine Eindrücke, Erfahrungen,<br />

Erlebnisse mittels <strong>de</strong>s Mediums einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung<br />

bringt 15) . Auch wäre, rein formal, an die Möglichkeit <strong>de</strong>r Zuordnung zu einem bestimmten Werktyp als<br />

Kriterium zu <strong>de</strong>nken. Doch erscheint dies im Hinblick auf die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Offenheit <strong>de</strong>r Kunst<br />

nicht unproblematisch, <strong>de</strong>nn die Kunst muß sich weiter entwickeln, neue Ausdrucksformen fin<strong>de</strong>n<br />

können. Richtigerweise wird man die Unmöglichkeit, Kunst generell zu <strong>de</strong>finieren, anerkennen müssen,<br />

was allerdings kein Definitionsverbot bedingt. 16) Vielmehr ist von einem offenen und entsprechend<br />

weiten Kunstbegriff auszugehen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r vielfältigen Interpretationsfähigkeit, -bedürftigkeit und<br />

-möglichkeit künstlerischer Betätigung Rechnung trägt. 17)<br />

Hiernach unterfallen Graffiti als Spraybil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m weiten Kunstbegriff <strong>de</strong>s Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG,<br />

zumal wenn ihnen, wie bei N, ein bestimmtes "künstlerisches Programm" zugrun<strong>de</strong> liegt.<br />

15<br />

16<br />

17<br />

BVerfGE 30, 173 (188 f) - Mephisto.<br />

BVerfGE 67, 213 (225 ff) - Anachronistischer Zug; krit. J. Ipsen, StaatsR II, 6. Aufl. 2003, Rn 473.<br />

Pieroth/Schlink, Grundrechte, 20. Aufl. 2004, Rn 611 ff.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 53


Der Schutz <strong>de</strong>r Kunstfreiheit umfaßt nach herrschen<strong>de</strong>r Meinung sowohl <strong>de</strong>n Werkbereich (Schutz<br />

<strong>de</strong>s Kunstwerks einschließlich <strong>de</strong>r Kunstausübung) wie auch <strong>de</strong>n Wirkbereich (Schutz <strong>de</strong>r Vermittlung<br />

<strong>de</strong>r Kunst an Dritte einschließlich <strong>de</strong>r Werbung für die Kunst). 18) Da die Sprayhandlung die<br />

Inanspruchnahme frem<strong>de</strong>n Eigentums während <strong>de</strong>s Entstehungsprozesses voraussetzt, ist <strong>de</strong>r Werkbereich<br />

betroffen, daneben aber auch <strong>de</strong>r Wirkbereich, da die Graffitikunst gera<strong>de</strong> auf die Außenwirkung<br />

abzielt.<br />

Dahingestellt bleiben soll hier die sich sodann stellen<strong>de</strong> (hier wohl zu verneinen<strong>de</strong>) Frage, ob die<br />

Kunstfreiheit <strong>de</strong>m Künstler nur Abwehrrechte gegen <strong>de</strong>n Staat o<strong>de</strong>r gar Teilhabeansprüche auf die<br />

Schaffung <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen Voraussetzungen für seine künstlerische Entfaltung, etwa durch das<br />

Bereitstellen von Sprayflächen 19) , gibt (dann allerdings als staatsgerichteter Anspruch). Denn <strong>de</strong>m<br />

Ansatz nach geht es vorliegend um die Abwehr eines staatlichen Eingriffs, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nfalls dann<br />

gerechtfertigt ist, wenn das durch § 303 StGB geschützte Eigentumsrecht <strong>de</strong>r Kunstfreiheit vorgeht. 20)<br />

b) Liegt insoweit bei Bestrafung <strong>de</strong>s N ein Eingriff in <strong>de</strong>n Schutzbereich <strong>de</strong>r Kunstfreiheit vor,<br />

c) so stellt sich sogleich die Frage nach <strong>de</strong>n Schranken <strong>de</strong>r Kunstfreiheit. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG selbst<br />

enthält, an<strong>de</strong>rs als etwa die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), keinen Schrankenvorbehalt. Auch<br />

die <strong>de</strong>r Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 2 GG gezogenen Schranken sind auf die Kunstfreiheit ebensowenig<br />

übertragbar wie die Schranken <strong>de</strong>r allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG 21) . Als<br />

schrankenlos gewährleistetes Grundrecht kann die Kunstfreiheit somit nur durch kollidieren<strong>de</strong><br />

Grundrechte Dritter o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Verfassungsgüter beschränkt wer<strong>de</strong>n. 22)<br />

Als ein solches Grundrecht kommt hier das Eigentumsrecht <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>eigentümers in Betracht<br />

(Art. 14 Abs. 1 GG), <strong>de</strong>r gem. Art. 19 Abs. 3 GG auch eine juristische Person (hier sogar <strong>de</strong>s öffentlichen<br />

<strong>Recht</strong>s) sein kann. Eine gesetzliche Inhaltsbestimmung <strong>de</strong>s Eigentums dahingehend, daß<br />

Hauseigentümer etc. ihre Fassa<strong>de</strong>n zur Erstellung von Graffitikunst zur Verfügung stellen sollten,<br />

existiert offensichtlich nicht.<br />

Da die einzelnen Grundrechte in keiner Normenhierarchie zueinan<strong>de</strong>r stehen, somit es an einer<br />

Überordnung <strong>de</strong>r Kunstfreiheit gegenüber <strong>de</strong>r Eigentumsgarantie fehlt, bedarf es nach herrschen<strong>de</strong>r<br />

Ansicht letztlich <strong>de</strong>r Abwägung zwischen <strong>de</strong>n betroffenen Grundrechten bzw. Verfassungsgütern. Dabei<br />

ist im Zuge <strong>de</strong>r Herstellung praktischer Konkordanz eine Zuordnung <strong>de</strong>r Grundrechte <strong>de</strong>rart<br />

vorzunehmen, daß bei<strong>de</strong> zu möglichst optimaler Wirkung gelangen, doch kann auch ein Grundrecht<br />

hinter <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren zurückzutreten haben. Eine solcherart abwägen<strong>de</strong> Grenzziehung erfolgt nicht nur<br />

bei <strong>de</strong>r klassischen Grundrechtskollision, son<strong>de</strong>rn auch bei <strong>de</strong>r Bestimmung sog. grundrechtsimmanenter<br />

Schranken, so daß hier offen bleiben kann, auf welcher "Stufe" <strong>de</strong>r Schrankenziehung diese<br />

Abwägung vorliegend grundrechtsdogmatisch erfolgen wür<strong>de</strong>.<br />

Im vorliegen<strong>de</strong>n "Kollisionsfall" tritt die Kunstfreiheit hinter <strong>de</strong>m <strong>Recht</strong> am Eigentum zurück, da<br />

durchaus hinreichend an<strong>de</strong>re Möglichkeiten zur Verwirklichung von Graffitikunst, nämlich ohne<br />

eigenmächtige Inanspruchnahme frem<strong>de</strong>n Eigentums, zur Verfügung stehen. 23)<br />

d) Damit stellt <strong>de</strong>r - auch strafrechtliche - Schutz <strong>de</strong>s Eigentums eine zulässige Beschränkung <strong>de</strong>r<br />

Kunstfreiheit dar. N wur<strong>de</strong> nicht in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG verletzt.<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

54<br />

Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 5 Rn 86.<br />

Klar verneinend Jarass in: Jarass/Pieroth aaO, Art. 5 Rn 88a.<br />

! Solch ein Dahinstehenlassen ist streng dogmatisch gesehen zwar in einem Gutachten sehr fragwürdig, jedoch ein<br />

(Über-)Springen (eines Problems) auch nicht gänzlich unzulässig. Zumin<strong>de</strong>st dann nicht, wenn das Problem offengelegt<br />

(dabei möglichst auch <strong>de</strong>ssen wahrscheinliche Lösung ange<strong>de</strong>utet) wird und <strong>de</strong>r angesprungene Prüfungspunkt<br />

ein<strong>de</strong>utig (und tunlichst auch einfacher) negativ, also anspruchs- o<strong>de</strong>r strafbarkeitsausschließend zu entschei<strong>de</strong>n ist. In<br />

einem Urteil gilt solch ein Springen sogar als kunstvoll - und so ist auch das BVerwG in einem ähnlichen straßenrechtlichen<br />

Fall verfahren (BayVBl. 1981, 508).<br />

BVerfGE 30, 173 (191 ff) - Mephisto.<br />

BVerfGE 30, 173 (193) - Mephisto; 35, 202 (225) - Lebach I.<br />

BVerfG, NJW 1984, 1293 = EuGRZ 1984, 271 - Sprayer von Zürich.<br />

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Anhang: Aufbauschemata<br />

1. Materielles Strafrecht:<br />

A.1.1.1. Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche Begehungs<strong>de</strong>likt (= Grundschema)<br />

A.1.1.2. Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt (§ 13 StGB)<br />

A.1.1.2.a Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche echte Unterlassungs<strong>de</strong>likt<br />

A.1.2.1. Das versuchte Begehungs<strong>de</strong>likt<br />

A.1.2.2. Das versuchte unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt<br />

A.2.1. Das fahrlässige Begehungs<strong>de</strong>likt<br />

A.2.2. Das fahrlässige unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt<br />

A.3. Das erfolgsqualifizierte Delikt<br />

B. Täterschaftliche Beteiligung (§ 25 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2 StGB)<br />

C. Teilnahme (§§ 26, 27 StGB) unter Einbeziehung <strong>de</strong>r §§ 28, 29 StGB<br />

D. Versuchte Anstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB)<br />

E. Der Erlaubnistatbestandsirrtum<br />

2. Staatsrecht: Grundrechtsprüfung<br />

A. Prüfungsaufbau bei Eingriffen in Freiheitsrechte (insbeson<strong>de</strong>re Schrankenziehung)<br />

B. Prüfung einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht<br />

3. Verfassungsprozeßrecht: Verfassungsbeschwer<strong>de</strong><br />

Allgemeine Hinweise<br />

Die nachfolgen<strong>de</strong>n Aufbauschemata sollen bloße Handreichungen für die Delikts-, Grundrechtsbzw.<br />

Maßnahmeprüfung sein, nicht mehr und nicht weniger. Der "kunstgerechte" Aufbau ist nicht<br />

(formaler) Selbstzweck, son<strong>de</strong>rn Ausdruck einer dogmatisch durchdachten, in sich geordneten und<br />

(dadurch) nachvollziehbaren Prüfung. Die Schemata sollen hierzu einen Weg vorschlagen und dabei<br />

- gleichsam als Kurzfassung <strong>de</strong>s jeweiligen Deliktstyps etc. - die zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n dogmatischen<br />

Fragen anreißen. Sie zeigen also beispielhaft, wie die in Strafrechtsfällen etc. auftreten<strong>de</strong>n Probleme<br />

systematisch vertretbar und in einem sinnvollen Zusammenhang erörtert wer<strong>de</strong>n können.<br />

Da <strong>de</strong>r jeweilige Aufbau nur zu einem geringen Teil dogmatisch bzw. logisch zwingend vorgegeben<br />

ist, sind Abweichungen hiervon möglich und unter Umstän<strong>de</strong>n sogar geboten, sei es aus Sachgrün<strong>de</strong>n<br />

zur Anpassung an <strong>de</strong>n zu prüfen<strong>de</strong>n Tatbestand o<strong>de</strong>r sei es aus Zweckmäßigkeitserwägungen. Zu<strong>de</strong>m<br />

ist die Prüfungsabfolge auch durch <strong>de</strong>n eigenen dogmatischen Standpunkt <strong>de</strong>s Verfassers bedingt, z.B.<br />

gera<strong>de</strong> hinsichtlich <strong>de</strong>r vertretenen Verbrechenslehre (vgl. hierzu Johannes Wessels/Werner Beulke,<br />

Strafrecht AT, 34. Aufl. 2004, Rn. 811-817; auf einige Abweichungen in Aufbau- und/o<strong>de</strong>r Sachfragen<br />

wird im folgen<strong>de</strong>n in Klammern hingewiesen). Hieraus folgt, daß abweichen<strong>de</strong> Aufbauschemata<br />

grundsätzlich ebenso "richtig" o<strong>de</strong>r "brauchbar" sind wie die nachfolgen<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Regel wird man<br />

sich an <strong>de</strong>m von <strong>de</strong>m Übungsleiter verwen<strong>de</strong>ten Aufbau orientieren, doch kann ein (in sich richtiger,<br />

dogmatisch vertretbarer) alternativer Aufbau niemals "falsch" sein (vgl. Wessels/Beulke, a.a. O., Rn.<br />

873). In diesem Zusammenhang ist nochmals darauf hinzuweisen, daß (1) <strong>de</strong>r gewählte Aufbau nie zu<br />

begrün<strong>de</strong>n ist (<strong>de</strong>r Aufbau spricht für sich selbst), und (2) innerhalb einer Arbeit bei gleichartigen<br />

Sachfragen nicht verschie<strong>de</strong>n aufgebaut wer<strong>de</strong>n darf (die Arbeit muß auch insofern in sich stimmig<br />

sein).<br />

Bei <strong>de</strong>r praktischen Anwendung <strong>de</strong>r Schemata ist darauf zu achten, daß in einer Fallbearbeitung die<br />

Ausführungen sich auf jene Punkte beschränken, auf die es im konkreten Fall ankommt, also daß nicht<br />

alle gedanklichen Überlegungen auch tatsächlich nie<strong>de</strong>rgeschrieben wer<strong>de</strong>n müssen. Dies gilt im<br />

Strafrecht etwa für die allgemeinen Vorfragen, die Frage <strong>de</strong>r objektiven Zurechnung und die Prüfung<br />

von <strong>Recht</strong>swidrigkeit und Schuld (insoweit ist die Prüfung ohnehin nur eine "negative"), ferner für die<br />

persönlichen Strafausschließungs- und -aufhebungsgrün<strong>de</strong> bzw. Strafverfolgungsvoraussetzungen und<br />

-hin<strong>de</strong>rnisse. Hierauf ist nur einzugehen, wenn <strong>de</strong>r Sachverhalt hierzu Anlaß gibt.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 55


1. Materielles Strafrecht: A.1.1.1. Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche Begehungs<strong>de</strong>likt<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen <strong>de</strong>s anzuwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n <strong>Recht</strong>s (interlokales und internationales Strafrecht), <strong>de</strong>r (fehlen<strong>de</strong>n)<br />

Handlungsqualität und <strong>de</strong>r Abgrenzung von positivem Tun und Unterlassen<br />

I. Tatbestand<br />

1. Objektiver Tatbestand (= Tatbild)<br />

a) etwaige beson<strong>de</strong>re objektive Merkmale <strong>de</strong>s (Handlungs-/) Tatsubjekts<br />

b) Merkmale <strong>de</strong>r Tathandlung (einschließlich beson<strong>de</strong>rer Tatmodalitäten)<br />

c) Merkmale <strong>de</strong>s (Handlungs-/) Tatobjekts<br />

d) bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten:<br />

aa) Eintritt <strong>de</strong>s Taterfolgs<br />

bb) Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg i.S.d. Äquivalenz- bzw. Bedingungstheorie: Kann<br />

die Tathandlung hinweggedacht wer<strong>de</strong>n, ohne daß <strong>de</strong>r tatbildmäßige Erfolg in seiner konkreten<br />

Gestalt entfiele (sog. conditio-sine-qua-non-Formel)?<br />

cc) objektive Zurechenbarkeit <strong>de</strong>s Taterfolgs (str.): Hat sich in <strong>de</strong>m konkreten, voraussehbaren und vermeidbaren<br />

Erfolg die von <strong>de</strong>m Täter geschaffene, rechtlich mißbilligte Gefahr realisiert?<br />

2. Subjektiver (Unrechts-) Tatbestand<br />

a) Tatbestandsvorsatz (§ 15 StGB) in bezug auf alle Tatbildmerkmale (einschließlich Erfolg und Kausalität<br />

bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten) bzw. Vorliegen eines (Tatbild-/) Tatbestandsirrtums, § 16 StGB [nach a.A. ist<br />

<strong>de</strong>r Vorsatz eine Schuldform und dort zu prüfen]<br />

b) etwaige beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale (z.B. Absichten, Gesinnungen, Ten<strong>de</strong>nzen)<br />

- Tatbestandsannex: objektive Bedingungen <strong>de</strong>r Strafbarkeit [o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Schuld prüfen]<br />

II. <strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

1. Fehlen bzw. Vorliegen von <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong>n<br />

a) objektive <strong>Recht</strong>fertigungselemente: <strong>Recht</strong>fertigungslage und -handlung (ggf. zu<strong>de</strong>m Berücksichtigung<br />

rechtswidrigkeitsausschließen<strong>de</strong>r Zurechnungserwägungen, z.B. hypothetische Einwilligung; i.e. str.)<br />

b) subjektives <strong>Recht</strong>fertigungselement (str.) [bei <strong>de</strong>ssen Fehlen kommt nur eine Strafbarkeit wegen<br />

versuchter statt vollen<strong>de</strong>ter Straftat in Betracht, str.]<br />

2. ggf. positive Feststellung <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>swidrigkeit (so bei §§ 240, 253 StGB)<br />

III. Schuld<br />

1. Schuldfähigkeit einschließlich <strong>de</strong>s evtl. Vorliegens einer actio libera in causa (soweit an dieser <strong>Recht</strong>sfigur<br />

mit BGH JR 1997, 391 auch nach BGHSt 42, 235 festgehalten wird) [die aufbaumäßige Behandlung <strong>de</strong>r<br />

a.l.i.c. hängt von <strong>de</strong>ren dogmatischer Begründung ab, ggf. ist zu einer neuen Prüfung anzusetzen]<br />

2. etwaige spezielle (vertypte) Schuldmerkmale (sog. Schuldtatbestand; soweit anerkannt)<br />

- persönliche Vorwerfbarkeit:<br />

3. Vorsatz-Schuldvorwurf (entspr. <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r "Doppelnatur" <strong>de</strong>s Vorsatzes, str.) bzw. Vorliegen eines<br />

sog. Erlaubnistatbestandsirrtums [nach a.A. ist <strong>de</strong>r Erlaubnistatbestandsirrtum bereits in <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

zu erörtern, dies gilt insbeson<strong>de</strong>re bei Annahme eines Vorsatzunrechts- statt bloßen Vorsatzschuldausschlusses]<br />

4. (aktuelles o<strong>de</strong>r potentielles) Unrechtsbewußtsein bzw. Vorliegen eines Verbots- o<strong>de</strong>r Erlaubnisirrtums,<br />

§ 17 StGB<br />

5. Fehlen bzw. Vorliegen von Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n<br />

IV. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

V. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong><br />

- ggf. Regelbeispiele (z.B. § 243 StGB) [nach a.A. ist das (objektive) Vorliegen <strong>de</strong>s Regelbeispiels im Anschluß<br />

an <strong>de</strong>n objektiven Tatbestand zu prüfen und die Vorsatzprüfung dann auch hierauf zu erstrecken]<br />

1. (objektives) Vorliegen <strong>de</strong>s Regelbeispiels (Strafzumessungstatsache)<br />

2. Vorsatz insoweit bzw. Vorliegen eines Tatbestandsirrtums analog §§ 15, 16 StGB<br />

VI. Strafverfolgungsvoraussetzungen (z.B. Strafantrag)<br />

VII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse (z.B. Verjährung)<br />

56<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


1. Materielles Strafrecht: A.1.1.2. Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt (§ 13 StGB)<br />

Merke: Nur bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten, nicht aber bei <strong>de</strong>n (schlichten) Tätigkeits<strong>de</strong>likten, kommt ein unechtes<br />

Unterlassungs<strong>de</strong>likt nach § 13 StGB in Betracht.<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen (wie A.1.1.1.)<br />

I. Tatbestand<br />

1. Objektiver Tatbestand (= Tatbild)<br />

a) Eintritt <strong>de</strong>s Taterfolgs<br />

b) beson<strong>de</strong>re Merkmale <strong>de</strong>s Tatobjekts<br />

c) Nichtvornahme <strong>de</strong>r zur Erfolgsabwendung objektiv erfor<strong>de</strong>rlichen und rechtlich gebotenen Handlung<br />

d) trotz tatsächlicher (physisch-realer) Handlungsmöglichkeit <strong>de</strong>s Täters (sog. Erfolgsabwendungsmöglichkeit)<br />

[nach m.M. ist hier nur die objektive Erfolgsabwendungsmöglichkeit und im Rahmen <strong>de</strong>r<br />

Schuld die subjektive Erfolgsabwendungsmöglichkeit zu prüfen]<br />

e) hypothetische Kausalität <strong>de</strong>s Unterlassens für <strong>de</strong>n Taterfolg: Kann die rechtlich gebotene Handlung<br />

hinzugedacht wer<strong>de</strong>n, ohne daß <strong>de</strong>r tatbestandliche Erfolg in seiner konkreten (nach Rspr. abstrakten)<br />

Gestalt mit an Sicherheit grenzen<strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeit (h.M., abweichend Risikoerhöhungslehre) entfiele?<br />

f) etwaige beson<strong>de</strong>re objektive Merkmale <strong>de</strong>s Tatsubjekts<br />

g) Garantenstellung <strong>de</strong>s Unterlassen<strong>de</strong>n (aufgrund einer Schutz- o<strong>de</strong>r Obhutspflicht für bestimmte <strong>Recht</strong>sgüter<br />

[Beschützergarant] o<strong>de</strong>r Sicherungspflicht für bestimmte Gefahrenquellen [Überwachergarant],<br />

sei es aus <strong>Recht</strong>svorschriften, Lebens- o<strong>de</strong>r Gefahrengemeinschaften, freiwilliger Pflichtenübernahme,<br />

<strong>de</strong>r Stellung als Amtsträger o<strong>de</strong>r Organ juristischer Personen, Verkehrssicherungs- o<strong>de</strong>r Gefahrabwendungspflichten<br />

o<strong>de</strong>r aus gefahrbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>m, pflichtwidrigem [str.] Vorverhalten, sog. Ingerenz)<br />

h) objektive Zurechenbarkeit <strong>de</strong>s Taterfolgs (unstreitig)<br />

i) Gleichwertigkeit <strong>de</strong>s Unterlassens im Vergleich zum positiven Tun (sog. Entsprechensklausel; nur bei<br />

<strong>de</strong>n verhaltensgebun<strong>de</strong>nen Delikten, str.)<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

a) Tatbestandsvorsatz (auch hinsichtlich <strong>de</strong>r die Garantenstellung begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>) bzw. Vorliegen<br />

eines Tatbestandsirrtums, § 16 StGB<br />

b) etwaige beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale<br />

- Tatbestandsannex: objektive Bedingungen <strong>de</strong>r Strafbarkeit<br />

II.<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit (wie A.1.1.1.)<br />

III. Schuld<br />

1. Schuldfähigkeit einschließlich <strong>de</strong>s evtl. Vorliegens einer omissio libera in causa (str.)<br />

2. etwaige spezielle Schuldmerkmale (wie A.1.1.1.)<br />

- persönliche Vorwerfbarkeit:<br />

3. Vorsatz-Schuldvorwurf (wie A.1.1.1.)<br />

4. Unrechtsbewußtsein bzw. Vorliegen eines Gebotsirrtums hinsichtlich <strong>de</strong>r Garantenpflicht o<strong>de</strong>r eines<br />

Erlaubnisirrtums, § 17 StGB<br />

5. Fehlen bzw. Vorliegen von Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n<br />

6. (Un-) Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens [nach a.A. objektives Tatbestandsmerkmal]<br />

IV. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

V. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong><br />

- ggf. Regelbeispiele<br />

VI. Strafverfolgungsvoraussetzungen<br />

VII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 57


1. Materielles Strafrecht: A.1.1.2.a Das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche echte Unterlassungs<strong>de</strong>likt<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen (wie A.1.1.1.)<br />

I. Tatbestand<br />

1. Objektiver Tatbestand (= Tatbild)<br />

a) Vorliegen <strong>de</strong>r die Handlungspflicht begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Tatbildmerkmale<br />

b) Nichtvornahme <strong>de</strong>r gebotenen Handlung (ausreichend ist eine Handlung mit Gebotserfüllungsten<strong>de</strong>nz)<br />

c) trotz tatsächlicher (individueller) Handlungsmöglichkeit <strong>de</strong>s Täters<br />

d) (Un-) Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens [nach a.A. Schuldmerkmal]<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

a) Tatbestandsvorsatz bzw. Vorliegen eines Tatbestandsirrtums, § 16 StGB<br />

b) etwaige beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale<br />

- Tatbestandsannex (wie A.1.1.1.)<br />

II.<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit (wie A.1.1.1.)<br />

III. Schuld<br />

1. Schuldfähigkeit einschließlich <strong>de</strong>s evtl. Vorliegens einer omissio libera in causa (str.)<br />

2. etwaige spezielle Schuldmerkmale (wie A.1.1.1.)<br />

- persönliche Vorwerfbarkeit:<br />

3. Vorsatz-Schuldvorwurf (wie A.1.1.1.)<br />

4. Unrechtsbewußtsein bzw. Vorliegen eines Verbots- o<strong>de</strong>r Erlaubnisirrtums, § 17 StGB<br />

5. Fehlen bzw. Vorliegen von Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n<br />

IV. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

V. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong><br />

VI. Strafverfolgungsvoraussetzungen<br />

VII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse<br />

58<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


1. Materielles Strafrecht: A.1.2.1. Das versuchte Begehungs<strong>de</strong>likt<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen (wie A.1.1.1.)<br />

0. (Beson<strong>de</strong>re) Vorfragen <strong>de</strong>r Versuchsstrafbarkeit [vgl. dazu Wessels/Beulke, AT, Rn. 874]<br />

1. Feststellen fehlen<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r nicht zurechenbarer Vollendung <strong>de</strong>s objektiven Tatbestands [falls problematisch,<br />

zunächst das vollen<strong>de</strong>te vorsätzliche Begehungs<strong>de</strong>likt anprüfen]<br />

[nach hier vertretener Ansicht ist analog <strong>de</strong>n Versuchsregeln auch zu bestrafen, wenn es (nur) am subjektiven<br />

<strong>Recht</strong>fertigungselement fehlt, s.o. A.1.1.1 - str.]<br />

2. Strafbarkeit <strong>de</strong>s Versuchs <strong>de</strong>s fraglichen Delikts gemäß § 23 Abs. 1 StGB<br />

I. Tatbestand<br />

1. Subjektiver Tatbestand<br />

a) (unbedingter) Tatentschluß (= Tatbestandsvorsatz) in bezug auf alle Tatbildmerkmale (hier ggf. auch<br />

Feststellen <strong>de</strong>s Vorliegens eines [straflosen] Wahn<strong>de</strong>likts)<br />

b) etwaige beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale<br />

2. Objektiver Tatbestand (= Tatbild)<br />

a) Betätigung <strong>de</strong>s Tatentschlusses durch unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung <strong>de</strong>s objektiven Tatbestands,<br />

§ 22 StGB (ggf. Abgrenzung zur Vorbereitungshandlung)<br />

(fehlen<strong>de</strong> Tatvollendung mangels Fortschreitens mit <strong>de</strong>r Ausführungshandlung, wegen Untauglichkeit<br />

<strong>de</strong>s Tatmittels, <strong>de</strong>s Tatobjekts o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Tatsubjekts [dann ggf. Erörterung <strong>de</strong>r Strafbarkeit <strong>de</strong>s untauglichen<br />

Versuchs in Abgrenzung zum - nach h.M. straflosen - abergläubischen Versuch und grob unverständigen<br />

Versuch i.S.v. § 23 Abs. 3 StGB - in <strong>de</strong>r Regel Absehen von Strafe] o<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten<br />

mangels Zurechenbarkeit <strong>de</strong>s eingetretenen Taterfolgs)<br />

b) etwaige beson<strong>de</strong>re objektive Merkmale <strong>de</strong>s Tatsubjekts (bei Untauglichkeit <strong>de</strong>s Tatsubjekts ggf. Abgrenzung<br />

zum [straflosen] Wahn<strong>de</strong>likt)<br />

- Tatbestandsannex (wie A.1.1.1.)<br />

II. <strong>Recht</strong>swidrigkeit (wie A.1.1.1.)<br />

III. Schuld (wie A.1.1.1.)<br />

IV. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

V. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong>,<br />

hier insbeson<strong>de</strong>re Rücktritt vom Versuch, nachfolgend beim Alleintäter:<br />

1. Nichtvorliegen (bzw. Vorliegen) eines sog. fehlgeschlagenen Versuchs (bei erkanntem Fehlschlagen <strong>de</strong>s<br />

Versuchs ist nach h.M. ein Rücktritt ausgeschlossen)<br />

2. Feststellung, ob ein unbeen<strong>de</strong>ter o<strong>de</strong>r been<strong>de</strong>ter Versuch vorliegt<br />

3. Prüfung <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Rücktrittsvoraussetzungen<br />

a) unbeen<strong>de</strong>ter Versuch, § 24 Abs. 1 Satz 1 (1. Fall) StGB: freiwillige Aufgabe <strong>de</strong>r weiteren Ausführung<br />

<strong>de</strong>r Tat<br />

b) been<strong>de</strong>ter Versuch nach § 24 Abs. 1 Satz 1 (2. Fall) StGB: freiwillige Verhin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Vollendung<br />

durch Zutun <strong>de</strong>s Täters (tätige Reue)<br />

c) been<strong>de</strong>ter Versuch nach § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB: freiwilliges und ernsthaftes Bemühen um die Verhin<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r ohne Zutun <strong>de</strong>s Täters fehlen<strong>de</strong>n Vollendung (so bei untauglichem Versuch o<strong>de</strong>r Eingreifen<br />

Dritter; analog anwendbar bei fehlen<strong>de</strong>r Zurechenbarkeit <strong>de</strong>s Taterfolgs)<br />

[bei Beteiligung mehrerer, § 24 Abs. 2 StGB: freiwilliges Verhin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Vollendung (Satz 1) o<strong>de</strong>r freiwilliges<br />

und ernsthaftes Bemühen um die ohne sein Zutun fehlen<strong>de</strong> (Satz 2 1. Fall = aussichtsloser Versuch)<br />

bzw. unabhängig von seinem Tatbeitrag eingetretene Vollendung (Satz 2 2. Fall)]<br />

- ggf. [auch versuchte (str.; Aufbau entspr. oben I.)] Regelbeispiele<br />

VI. Strafverfolgungsvoraussetzungen<br />

VII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 59


1. Materielles Strafrecht: A.1.2.2. Das versuchte unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen (wie A.1.1.1.)<br />

0. Vorfragen <strong>de</strong>r Versuchsstrafbarkeit (wie A.1.2.1)<br />

1. Feststellen fehlen<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Nichtzurechenbarkeit <strong>de</strong>r Vollendung <strong>de</strong>s objektiven Tatbestands<br />

2. Strafbarkeit <strong>de</strong>s Versuchs <strong>de</strong>s fraglichen Delikts gemäß § 23 Abs. 1 StGB<br />

I. Tatbestand<br />

1. Subjektiver Tatbestand<br />

a) (unbedingter) Tatentschluß (= Tatbestandsvorsatz) in bezug auf<br />

- <strong>de</strong>n Eintritt <strong>de</strong>s Taterfolgs,<br />

- die Merkmale <strong>de</strong>s Tatobjekts,<br />

- etwaige beson<strong>de</strong>re objektive Merkmale <strong>de</strong>s Tatsubjekts,<br />

- die die Garantenstellung <strong>de</strong>s Unterlassen<strong>de</strong>n begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>,<br />

- die Erfolgsabwendungsmöglichkeit <strong>de</strong>s Täters,<br />

- die hypothetische Kausalität<br />

b) etwaige beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale<br />

c) Gleichwertigkeit <strong>de</strong>s Unterlassens im Vergleich zum positiven Tun, sog. Entsprechensklausel<br />

2. Objektiver Tatbestand (= Tatbild)<br />

a) Betätigung <strong>de</strong>s Tatentschlusses durch unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung <strong>de</strong>s objektiven Tatbestands,<br />

§ 22 StGB (ggf. Abgrenzung von Vorbereitungshandlung, hierzu wer<strong>de</strong>n insbeson<strong>de</strong>re die folgen<strong>de</strong>n<br />

drei Ansichten vertreten: (1) Verstreichenlassen <strong>de</strong>r ersten Rettungsmöglichkeit; (2) Versäumen<br />

<strong>de</strong>r letzten Rettungsmöglichkeit; (3) unmittelbare Gefährdung <strong>de</strong>s geschützten <strong>Recht</strong>sguts)<br />

b) etwaige beson<strong>de</strong>re objektive Merkmale <strong>de</strong>s Tatsubjekts<br />

- Tatbestandsannex (wie A.1.1.1.)<br />

II.<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit (wie A.1.1.1.)<br />

III. Schuld (wie A.1.1.2.)<br />

1. Schuldfähigkeit einschließlich <strong>de</strong>s evtl. Vorliegens einer omissio libera in causa (str.)<br />

2. etwaige spezielle Schuldmerkmale (wie A.1.1.1.)<br />

- persönliche Vorwerfbarkeit:<br />

3. Vorsatz-Schuldvorwurf (wie A.1.1.1.)<br />

4. Unrechtsbewußtsein bzw. Vorliegen eines Gebotsirrtums hinsichtlich <strong>de</strong>r Garantenpflicht o<strong>de</strong>r eines<br />

Erlaubnisirrtums, § 17 StGB<br />

5. Fehlen bzw. Vorliegen von Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n<br />

6. (Un-) Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens [nach a.A. objektives Tatbestandsmerkmal]<br />

IV. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

V. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong>, hier insbeson<strong>de</strong>re Rücktritt vom Versuch (wie A.1.1.2.)<br />

- ggf. Regelbeispiele<br />

VI. Strafverfolgungsvoraussetzungen<br />

VII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse<br />

60<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


1. Materielles Strafrecht: A.2.1. Das fahrlässige Begehungs<strong>de</strong>likt<br />

Merke: Bei <strong>de</strong>n Fahrlässigkeits<strong>de</strong>likten gibt es we<strong>de</strong>r "Versuch" noch "Teilnahme".<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen (wie A.1.1.1.)<br />

I. Tatbestand<br />

1. Tatbildverwirklichung<br />

a) etwaige beson<strong>de</strong>re objektive Merkmale <strong>de</strong>s Tatsubjekts<br />

b) Merkmale <strong>de</strong>r Tathandlung<br />

c) Merkmale <strong>de</strong>s Tatobjekts<br />

d) bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten:<br />

aa) Eintritt <strong>de</strong>s Taterfolgs<br />

bb) Kausalität zwischen Handlung und Taterfolg<br />

2. Objektiver Sorgfaltsverstoß (Art und Maß <strong>de</strong>r anzuwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Sorgfalt ergeben sich aus einer ex-ante-<br />

Betrachtung <strong>de</strong>r Gefahrenlage anhand von <strong>Recht</strong>s- und Verkehrsnormen sowie einer differenzierten Maßfigur<br />

[= einsichtiger, gewissenhafter und besonnener Mensch <strong>de</strong>s Berufs- und Verkehrskreises, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> angehört, in <strong>de</strong>r konkreten Lage <strong>de</strong>s Täters])<br />

a) objektive Sorgfalts-/Pflichtwidrigkeit und Vermeidbarkeit (nach m.M. unter Berücksichtigung etwaiger<br />

Son<strong>de</strong>rfähigkeiten <strong>de</strong>s Täters), ggf. begrenzt durch <strong>de</strong>n sog. Vertrauensgrundsatz<br />

b) objektive Vorhersehbarkeit <strong>de</strong>r Tatbildverwirklichung unter Berücksichtigung etwaigen Son<strong>de</strong>rwissens<br />

<strong>de</strong>s Täters<br />

c) etwaiger gefor<strong>de</strong>rter gesteigerter Sorgfaltsverstoß (Leichtfertigkeit)<br />

[abweichend wird teilweise <strong>de</strong>r Sorgfaltsverstoß nicht wie hier (objektiv) im Tatbestand und (subjektiv)<br />

in <strong>de</strong>r Schuld, son<strong>de</strong>rn - nach festgestellter zurechenbarer Gefahrerhöhung - als individuelle Fahrlässigkeit<br />

in einem beson<strong>de</strong>ren subjektiven Tatbestand geprüft; tw. wird auch die (objektive) Pflichtwidrigkeit erst<br />

in <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>swidrigkeit zusammen mit etwaigen <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong>n erörtert]<br />

3. bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten: objektive Zurechnung <strong>de</strong>s Taterfolgs (unstreitig)<br />

- Tatbestandsannex<br />

II.<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

Fehlen bzw. Vorliegen von <strong>Recht</strong>fertigungsgrün<strong>de</strong>n, begrenzt auf die objektiven <strong>Recht</strong>fertigungselemente<br />

(str.)<br />

III. Schuld<br />

1. Schuldfähigkeit einschließlich <strong>de</strong>s evtl. Vorliegens einer actio libera in causa (str.)<br />

2. etwaige spezielle Schuldmerkmale (wie A.1.1.1.)<br />

- persönliche Vorwerfbarkeit:<br />

3. Subjektiver Sorgfaltsverstoß<br />

a) subjektive Sorgfalts-/Pflichtwidrigkeit und Vermeidbarkeit einschließlich Übernahmefahrlässigkeit<br />

b) subjektive Vorhersehbarkeit <strong>de</strong>r Tatbildverwirklichung (unbewußte Fahrlässigkeit) bzw. <strong>de</strong>ren Voraussicht<br />

bei Vertrauen auf ihr Ausbleiben (bewußte Fahrlässigkeit)<br />

4. Möglichkeit <strong>de</strong>r Unrechtseinsicht (virtuelles Unrechtsbewußtsein) bzw. Vorliegen eines Verbots- o<strong>de</strong>r<br />

Erlaubnisrrtums, § 17 StGB<br />

5. Fehlen bzw. Vorliegen von Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n<br />

6. ggf. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (bei bewußter Fahrlässigkeit) [nach a.A. im Tatbestand zu<br />

prüfen]<br />

IV. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

V. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong><br />

VI. Strafverfolgungsvoraussetzungen<br />

VII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 61


1. Materielles Strafrecht: A.2.2. Das fahrlässige unechte Unterlassungs<strong>de</strong>likt<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen (wie A.1.1.1.)<br />

I. Tatbestand<br />

1. Tatbildverwirklichung<br />

a) Eintritt <strong>de</strong>s Taterfolgs<br />

b) beson<strong>de</strong>re Merkmale <strong>de</strong>s Tatobjekts<br />

c) Nichtvornahme <strong>de</strong>r zur Erfolgsabwendung objektiv erfor<strong>de</strong>rlichen Handlung<br />

d) trotz tatsächlicher Handlungsmöglichkeit <strong>de</strong>s Täters (sog. Erfolgsabwendungsmöglichkeit)<br />

e) hypothetische Kausalität <strong>de</strong>s Unterlassens für <strong>de</strong>n Taterfolg<br />

f) etwaige beson<strong>de</strong>re objektive Merkmale <strong>de</strong>s Tatsubjekts<br />

g) Garantenstellung <strong>de</strong>s Unterlassen<strong>de</strong>n<br />

h) Gleichwertigkeit <strong>de</strong>s Unterlassens im Vergleich zum positiven Tun, sog. Entsprechensklausel<br />

2. Objektiver Sorgfaltsverstoß<br />

a) objektive Sorgfalts-/Pflichtwidrigkeit und Vermeidbarkeit<br />

b) objektive Vorhersehbarkeit <strong>de</strong>r Tatbildverwirklichung<br />

3. Objektive Zurechnung <strong>de</strong>s Taterfolgs (unstreitig)<br />

- Tatbestandsannex<br />

II.<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit (wie A.2.1.)<br />

III. Schuld<br />

1. Schuldfähigkeit einschließlich <strong>de</strong>s evtl. Vorliegens einer omissio libera in causa (str.)<br />

2. etwaige spezielle Schuldmerkmale (wie A.1.1.1.)<br />

- persönliche Vorwerfbarkeit:<br />

3. Subjektiver Sorgfaltsverstoß<br />

a) subjektive Sorgfalts-/Pflichtwidrigkeit und Vermeidbarkeit<br />

b) subjektive Vorhersehbarkeit <strong>de</strong>r Tatbildverwirklichung (unbewußte Fahrlässigkeit) bzw. <strong>de</strong>ren Voraussicht<br />

bei Vertrauen auf ihr Ausbleiben (bewußte Fahrlässigkeit)<br />

4. Möglichkeit <strong>de</strong>r Unrechtseinsicht (virtuelles Unrechtsbewußtsein) bzw. Vorliegen eines Gebots- o<strong>de</strong>r<br />

Erlaubnisirrtums, § 17 StGB<br />

5. Fehlen bzw. Vorliegen von Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>n<br />

6. (Un-) Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (wie A.2.1.)<br />

IV. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

V. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong><br />

VI. Strafverfolgungsvoraussetzungen<br />

VII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse<br />

62<br />

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1. Materielles Strafrecht: A.3. Das erfolgsqualifizierte Delikt (§ 18 StGB)<br />

I. Vollständige Prüfung <strong>de</strong>s vorsätzlichen (bzw. fahrlässigen) Grund<strong>de</strong>likts<br />

(tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Verwirklichung <strong>de</strong>s Grundtatbestands)<br />

[Abweichend kann auch sogleich unter das erfolgsqualifizierte Delikt subsumiert wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m die Merkmale<br />

<strong>de</strong>r Erfolgsqualifikation im Anschluß an <strong>de</strong>n Tatbestand o<strong>de</strong>r in diesen integriert geprüft wer<strong>de</strong>n.]<br />

II. Prüfung <strong>de</strong>r Erfolgsqualifikation ("beson<strong>de</strong>ren Tatfolge")<br />

[Beachte: Die beson<strong>de</strong>re Tatfolge muß zumin<strong>de</strong>st fahrlässig herbeigeführt sein (§ 18 StGB), teilweise<br />

for<strong>de</strong>rt das Gesetz (wenigstens) Leichtfertigkeit o<strong>de</strong>r auch Vorsatz (dann ist u.U. zu klären, welche<br />

Vorsatzform vorausgesetzt wird). Soweit eine vorsätzliche Verwirklichung <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Folge<br />

vorliegt, das Gesetz aber nicht ausdrücklich eine vorsätzliche Begehung erfor<strong>de</strong>rt, ist zu klären, ob<br />

auch eine vorsätzliche Erfolgsherbeiführung möglich ist (str.).<br />

Nachfolgend allein zur fahrlässigen beson<strong>de</strong>ren Tatfolge:]<br />

1. Objektive Merkmale<br />

a) Eintritt <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Folge<br />

b) (kausale) Verursachung <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Folge<br />

c) sowie tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang (nach Rspr. bei § 227 StGB: sog. Unmittelbarkeitserfor<strong>de</strong>rnis)<br />

[vgl. hierzu die Kriterien objektiver Zurechnung] zwischen Grund<strong>de</strong>likt und <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren<br />

Folge (hierbei auch Erörterung, ob die beson<strong>de</strong>re Folge in bezug auf <strong>de</strong>n Grundtatbestand handlungs-<br />

o<strong>de</strong>r erfolgsbezogen zu verstehen ist)<br />

d) Objektive Fahrlässigkeitselemente *) : Objektive Vorhersehbarkeit <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Folge einschließlich<br />

<strong>de</strong>s tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhangs<br />

e) etwaiger gefor<strong>de</strong>rter gesteigerter Sorgfaltsverstoß (Leichtfertigkeit)<br />

2. Subjektive Merkmale<br />

- Subjektive Fahrlässigkeitselemente *) : Subjektive Vorhersehbarkeit <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Folge einschließlich<br />

<strong>de</strong>s tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhangs<br />

*)<br />

Die Pflichtwidrigkeit <strong>de</strong>r Erfolgsherbeiführung folgt regelmäßig schon aus <strong>de</strong>r Verletzung <strong>de</strong>s Grundtatbestands<br />

und ist insofern nach h.M. nicht mehr geson<strong>de</strong>rt zu prüfen; nach a.A. ist zumin<strong>de</strong>st noch die<br />

subjektive Pflichtwidrigkeit (/Vermeidbarkeit) zu prüfen.<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 63


1. Materielles Strafrecht: B. Täterschaftliche Beteiligung (§ 25 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2 StGB)<br />

Für die Prüfung <strong>de</strong>r mittelbaren Täterschaft (§ 25 Abs. 1 2. Fall StGB) und <strong>de</strong>r Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2<br />

StGB) bedarf es aufgrund <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen Zurechnung frem<strong>de</strong>r Tatbeiträge einer Ergänzung <strong>de</strong>s Prüfungsaufbaus.<br />

Allgemein gilt, daß die beson<strong>de</strong>ren Täterschaftsmerkmale grundsätzlich dort zu erörtern sind, wo sie<br />

<strong>de</strong>liktssystematisch anzusie<strong>de</strong>ln sind, also die objektiven Täterschaftsmerkmale im objektiven Tatbestand und die<br />

subjektiven Täterschaftsmerkmale im subjektiven Tatbestand. Doch kann die "Täterschaftsprüfung" auch am<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tatbestands als eigenständiger Punkt erfolgen, siehe dazu unten. Eine vorgezogene, abstrakte Erörterung<br />

<strong>de</strong>r Beteiligung (Täterschaftsform sowie Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme) ist unzulässig.<br />

- Mittelbare Täterschaft (zusätzliche Prüfungspunkte)<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

a) beson<strong>de</strong>re Täterqualifikation und weitere <strong>de</strong>liktsspezifische Tätermerkmale *<br />

b) Ausführung <strong>de</strong>r tatbildmäßigen Handlung durch <strong>de</strong>n (nicht voll verantwortlich han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n) Tatmittler<br />

c) Unterlegene Stellung (sog. Werkzeugqualität) <strong>de</strong>s Tatmittlers (gegenüber <strong>de</strong>m Hintermann) infolge von<br />

Umstän<strong>de</strong>n, welche die Tatherrschaft <strong>de</strong>s mittelbaren Täters (= Hintermannes) begrün<strong>de</strong>n<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

a) Tatbestandsvorsatz insoweit<br />

b) beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale<br />

- Mittäterschaft (zusätzliche Prüfungspunkte)<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

a) beson<strong>de</strong>re Täterqualifikation und weitere <strong>de</strong>liktsspezifische Tätermerkmale *<br />

b) gemeinschaftliche Tatbildverwirklichung in Form von unmittelbarer Täterschaft o<strong>de</strong>r infolge Zurechnung<br />

über § 25 Abs. 2 StGB (zumin<strong>de</strong>st bedarf es eines, von <strong>de</strong>r Tatherrschaft getragenen, kausalen<br />

objektiven Tatbeitrags)<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

a) gemeinsamer Tatentschluß (Tatplan) und Tatbestandsvorsatz **<br />

b) beson<strong>de</strong>re subjektive Tatbestandsmerkmale<br />

3. ggf. Tatbestandsverschiebung nach § 28 Abs. 2 StGB<br />

(vgl. hierzu die Ausführungen bei <strong>de</strong>r Teilnahmeprüfung)<br />

* Da eine täterschaftliche Beteiligung an einer Tat ausschei<strong>de</strong>t, wenn <strong>de</strong>r mittelbare Täter o<strong>de</strong>r Mittäter etwaige beson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>liktsspezifische Tätermerkmale in seiner Person nicht erfüllt, sollte die Prüfung hiermit beginnen.<br />

** Teilweise wird abweichend empfohlen, auf <strong>de</strong>n gemeinsamen Tatplan <strong>de</strong>r Mittäter im objektiven Tatbestand (vor 1.b))<br />

o<strong>de</strong>r in einem geson<strong>de</strong>rten Aufbaupunkt vor diesem (nicht empfehlenswert!) einzugehen; dies erübrigt allerdings nicht<br />

die (spätere) Feststellung <strong>de</strong>s subjektiven Tatbestands.<br />

Da bei <strong>de</strong>n Erfolgs<strong>de</strong>likten die Leistung eines kausalen Tatbeitrags ausreicht (ob ein solcher für die Beihilfe<br />

erfor<strong>de</strong>rlich ist, ist allerdings str.), ist hier auch ein abweichen<strong>de</strong>r Prüfungsaufbau möglich, wonach im objektiven<br />

Tatbestand zunächst nur <strong>de</strong>r kausale Tatbeitrag festgestellt und dann im Anschluß an <strong>de</strong>n subjektiven Tatbestand<br />

in einem geson<strong>de</strong>rten Prüfungspunkt die Frage <strong>de</strong>r Beteiligung (etwa Abgrenzung Mittäterschaft/Teilnahme)<br />

erörtert wird: a) Täterschaft (Tatherrschaft bzw. animus auctoris)<br />

b) (beson<strong>de</strong>re) objektive und subjektive Täterschaftsmerkmale<br />

Dieser Aufbau empfiehlt sich etwa auch dann, wenn eine (mit)täterschaftliche Tatbeteiligung am subjektiven<br />

Tatbestand (z.B. wegen fehlen<strong>de</strong>r Zueignungsabsicht) scheitert (<strong>de</strong>nn Mittäter kann nur sein, wer <strong>de</strong>n vollen<br />

subjektiven Tatbestand in seiner Person verwirklicht).<br />

Bei <strong>de</strong>r Prüfung mehrerer Tatbeteiligter (dies gilt auch - und wegen <strong>de</strong>r Akzessorietät gera<strong>de</strong> - für die Anstiftung<br />

und Beihilfe) ist stets mit <strong>de</strong>m tatnächsten Beteiligten zu beginnen. Also ist <strong>de</strong>r Tatmittler vor <strong>de</strong>m mittelbaren<br />

Täter, <strong>de</strong>r tatnähere Mittäter vor <strong>de</strong>m tatferneren Mittäter sowie <strong>de</strong>r Haupttäter vor <strong>de</strong>m Teilnehmer zu<br />

prüfen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Prüfung <strong>de</strong>r Mittäterschaft gilt zu<strong>de</strong>m: Verwirklichen alle Mittäter für sich das gesetzliche Tatbild, so<br />

empfiehlt sich eine gemeinsame Prüfung mit einem kurzen Hinweis auf ihr mittäterschaftliches Han<strong>de</strong>ln. Bedarf<br />

es <strong>de</strong>r gegenseitigen Zurechnung <strong>de</strong>r verwirklichten objektiven Tatbestandsmerkmale, um die Tatbestandsmäßigkeit<br />

für alle Mittäter bejahen zu können, so sind sie (ebenfalls) gemeinsam zu prüfen (abw.<br />

Johannes Wessels/Werner Beulke, Strafrecht AT, 34. Aufl. 2004, Rn. 882 unter c); wie hier noch Johannes<br />

Wessels, Strafrecht AT, 27. Aufl. 1997, Rn. 871).<br />

64<br />

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1. Materielles Strafrecht: C. Teilnahme (§§ 26, 27 StGB) unter Einbeziehung <strong>de</strong>r §§ 28, 29 StGB<br />

A) Prüfung <strong>de</strong>r Haupttat (diese muß zumin<strong>de</strong>st eine vorsätzliche und rechtswidrige, nicht notwendig<br />

schuldhafte Tat sein und min<strong>de</strong>stens das Stadium <strong>de</strong>s strafbaren Versuchs erreicht haben)<br />

B) Teilnahmeprüfung<br />

I. Tatbestand<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

a) Feststellen <strong>de</strong>s Vorliegens einer vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat, dabei auch Feststellen etwaiger<br />

durch <strong>de</strong>n Haupttäter verwirklichter beson<strong>de</strong>rer Tatbestandsmerkmale<br />

b) Teilnahmehandlung ("Bestimmen" bzw. "Hilfeleisten") zur konkreten Haupttat<br />

2. Subjektiver Tatbestand (Teilnehmervorsatz)<br />

a) Vorsatz hinsichtlich <strong>de</strong>r Verwirklichung (Vollendung) <strong>de</strong>r Haupttat* ) , und zwar in bezug auf alle objektiven<br />

und subjektiven, einschließlich <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Tatbestandsmerkmale <strong>de</strong>r Haupttat<br />

Umfaßt <strong>de</strong>r Teilnehmervorsatz nicht die beson<strong>de</strong>ren Tatbestandsmerkmale, so schei<strong>de</strong>t wegen dieses<br />

Tatbestandsirrtums eine akzessorische Haftung <strong>de</strong>s Teilnehmers aus, doch kann die Akzessorietät <strong>de</strong>r<br />

Teilnahme nach § 28 Abs. 2 StGB durchbrochen wer<strong>de</strong>n, s.u. 3.<br />

* ) Ist <strong>de</strong>r Teilnehmervorsatz weiterreichend, so kommt (daneben) versuchte Teilnahme in Betracht, die<br />

allerdings nur als versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 1 StGB) strafbar ist.<br />

b) Vorsatz hinsichtlich <strong>de</strong>r Teilnahmehandlung<br />

3. ggf. Tatbestandsverschiebung nach § 28 Abs. 2 StGB<br />

Gibt es einen auf täterbezogenen beson<strong>de</strong>ren persönlichen Merkmalen grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Qualifizierungs- o<strong>de</strong>r<br />

Privilegierungstatbestand, welcher die Haupttat o<strong>de</strong>r das darin enthaltene - <strong>de</strong>m Teilnehmer bekanntermaßen<br />

verwirklichte - Grund<strong>de</strong>likt schärft o<strong>de</strong>r mil<strong>de</strong>rt, so ist zu prüfen, ob <strong>de</strong>r Teilnehmer einen solchen<br />

an<strong>de</strong>ren Tatbestand als <strong>de</strong>r Haupttäter erfüllt:<br />

a) Gibt es keinen solchen Tatbestand, so ist <strong>de</strong>r Teilnehmer akzessorisch zum Haupttäter zu bestrafen,<br />

b) gibt es einen solchen Tatbestand, so ist auf <strong>de</strong>n Teilnehmer jene Norm anzuwen<strong>de</strong>n (Qualifizierung<br />

o<strong>de</strong>r Privilegierung), <strong>de</strong>ren Merkmale er verwirklicht (§ 28 Abs. 2 StGB).<br />

[Aufbauhinweis: Dies kann auch erst unter IV.2. (mit-) geprüft wer<strong>de</strong>n.]<br />

II. <strong>Recht</strong>swidrigkeit (wie A.1.1.1.)<br />

III. Schuld (wie A.1.1.1.)<br />

Nach h.M. fin<strong>de</strong>t auf die bei <strong>de</strong>m Teilnehmer vorliegen<strong>de</strong>n allgemeinen (nach a.A. auch speziellen)<br />

Schuldmerkmale § 29 StGB Anwendung.<br />

IV. Zurechnung beson<strong>de</strong>rer persönlicher Merkmale nach § 28 StGB (siehe auch oben I.3)<br />

1. Verwirklicht <strong>de</strong>r Haupttäter beson<strong>de</strong>re Tatbestandsmerkmale? (falls nein, mit 2. fortfahren)<br />

a) Sind die durch <strong>de</strong>n Haupttäter verwirklichten beson<strong>de</strong>ren Tatbestandsmerkmale täterbezogene, beson<strong>de</strong>re<br />

persönliche Merkmale i.S.v. §§ 28, 14 Abs. 1 StGB?<br />

[Bei tatbezogenen Merkmalen bleibt es bei <strong>de</strong>n allgemeinen Akzessorietätsregeln.]<br />

b) Sind die täterbezogenen, beson<strong>de</strong>ren persönlichen Merkmale (aa) strafbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r (bb)<br />

strafmodifizieren<strong>de</strong>r Art?<br />

aa) Teilt <strong>de</strong>r Teilnehmer das strafbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Merkmal <strong>de</strong>s Haupttäters, so ist er aus <strong>de</strong>mselben Straftatbestand<br />

und -rahmen wie <strong>de</strong>r Haupttäter zu bestrafen;<br />

teilt <strong>de</strong>r Teilnehmer es nicht, so ist er gemäß § 28 Abs. 1 StGB zwar aus <strong>de</strong>mselben Straftatbestand<br />

wie <strong>de</strong>r Haupttäter zu bestrafen, die Strafe aber nach § 49 Abs. 1 StGB zu mil<strong>de</strong>rn - sofern nicht<br />

nach <strong>de</strong>m BGH ein Fall gekreuzter gleichartiger Mordmerkmale vorliegt.<br />

bb) Teilt <strong>de</strong>r Teilnehmer das strafmodifizieren<strong>de</strong> Merkmal <strong>de</strong>s Haupttäters, so ist er aus <strong>de</strong>mselben<br />

Straftatbestand und -rahmen wie <strong>de</strong>r Haupttäter zu bestrafen;<br />

teilt <strong>de</strong>r Teilnehmer es nicht, so ist er nach § 28 Abs. 2 StGB aus <strong>de</strong>m Grundtatbestand zu bestrafen.<br />

2. Gibt es einen auf beson<strong>de</strong>ren persönlichen Merkmalen grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n persönlichen Strafausschließungsgrund<br />

(z.B. tätige Reue nach vollen<strong>de</strong>tem Delikt, Angehörigeneigenschaft bei <strong>de</strong>r Strafvereitelung, § 258 Abs. 6<br />

StGB), welcher die Strafbarkeit ausschließt, so ist zu prüfen, ob <strong>de</strong>r Teilnehmer diesen erfüllt:<br />

a) Gibt es keinen solchen Strafausschließungsgrund, so än<strong>de</strong>rt sich nichts,<br />

b) gibt es einen solchen Strafausschließungsgrund, so ist er - unabhängig davon, ob er für <strong>de</strong>n Haupttäter<br />

eingreift - auf <strong>de</strong>n Teilnehmer anzuwen<strong>de</strong>n, wenn er diese Merkmale verwirklicht (§ 28 Abs. 2 StGB).<br />

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1. Materielles Strafrecht: D. Versuchte Anstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB)<br />

- ggf. allgemeine Vorfragen (wie A.1.1.1.)<br />

0. (Beson<strong>de</strong>re) Vorfragen <strong>de</strong>r Versuchsstrafbarkeit<br />

1. Feststellen fehlen<strong>de</strong>r erfolgreicher Anstiftung<br />

2. Verbrechenscharakter <strong>de</strong>r Haupttat (§ 12 Abs. 1 StGB; ggf. ergibt sich dieser auch erst infolge einer Tatbestandsverschiebung<br />

nach § 28 Abs. 2 StGB, str. [siehe dazu Peter Cramer u. Günter Heine in: Adolf<br />

Schönke/Horst Schrö<strong>de</strong>r, StGB, 26. Aufl. 2001, § 30 Rn. 11 ff]<br />

I. Tatbestand<br />

1. Subjektiver Tatbestand<br />

a) Vorsatz hinsichtlich <strong>de</strong>r Verwirklichung (Vollendung) eines teilnahmefähigen Verbrechens,<br />

ggf. erstreckt sich dieser Vorsatz auch auf beson<strong>de</strong>re - nur in <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s Hintermannes vorhan<strong>de</strong>ne<br />

- persönliche Tatbestandsmerkmale i.S.v. § 28 Abs. 2 StGB (vgl. oben C. unter B.I.2. u. 3.)<br />

b) Vorsatz hinsichtlich <strong>de</strong>r Anstifterhandlung (Herbeiführung <strong>de</strong>s Tatentschlusses)<br />

2. Objektiver Tatbestand<br />

Unmittelbares Ansetzen i.S.d. § 22 StGB zur Einwirkung auf <strong>de</strong>n Anzustiften<strong>de</strong>n<br />

(diese bleibt erfolglos, weil entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re keinen Tatentschluß faßt, diesen zwar faßt, aber nicht<br />

ausführt o<strong>de</strong>r er schon zuvor zur Tat entschlossen war [omnimodo facturus])<br />

II.<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit (wie A.1.1.1.)<br />

III. Schuld (wie A.1.1.1. bzw. C.)<br />

IV. ggf. zu<strong>de</strong>m Prüfung <strong>de</strong>r Zurechnung beson<strong>de</strong>rer persönlicher Merkmale nach § 28 StGB (wie C.)<br />

V. Persönliche Strafausschließungsgrün<strong>de</strong><br />

VI. Persönliche Strafaufhebungsgrün<strong>de</strong>,<br />

hier insbeson<strong>de</strong>re Rücktritt vom Versuch <strong>de</strong>r Beteiligung:<br />

a) Nichtvorliegen eines sog. fehlgeschlagenen Anstiftungsversuchs (bei erkanntem Fehlschlagen ist ein<br />

Rücktritt ausgeschlossen)<br />

b) endgültige und freiwillige Aufgabe <strong>de</strong>s Anstiftervorsatzes<br />

c) Rücktrittshandlung: eigene Abwendungstätigkeit, soweit die Gefahr entstan<strong>de</strong>n ist, daß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re die<br />

Tat begeht; ansonsten genügt das Aufgeben <strong>de</strong>r weiteren Einwirkung auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, § 31 Abs. 1 Nr.<br />

1 StGB bzw.<br />

unterbleibt die Tat ohne Zutun <strong>de</strong>s Zurücktreten<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r wird sie unabhängig von seinem früheren Verhalten<br />

begangen, so genügt das freiwillige und ernsthafte Bemühen, die Tat zu verhin<strong>de</strong>rn, § 31 Abs. 2<br />

StGB<br />

VII. Strafverfolgungsvoraussetzungen<br />

VIII. Strafverfolgungshin<strong>de</strong>rnisse<br />

An<strong>de</strong>re Formen versuchter Beteiligung sind<br />

(1) das Sichbereiterklären (= Sicherbieten und Annahme einer Auffor<strong>de</strong>rung) zur Begehung eines Verbrechens<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Anstiftung zu diesem, § 30 Abs. 2 1. Fall StGB,<br />

(2) die (ernstgemeinte) Annahme <strong>de</strong>s Erbietens eines an<strong>de</strong>ren, ein Verbrechen zu begehen o<strong>de</strong>r zu ihm anzustiften,<br />

§ 30 Abs. 2 2. Fall StGB und<br />

(3) die Verabredung mit einem an<strong>de</strong>ren ein Verbrechen als Mittäter zu begehen o<strong>de</strong>r einen an<strong>de</strong>ren gemeinschaftlich<br />

zu <strong>de</strong>ssen Begehung anzustiften, § 30 Abs. 2 3. Fall StGB<br />

66<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


1. Materielles Strafrecht: E. Der Erlaubnistatbestandsirrtum (Prüfungsschritte)<br />

Nachfolgen<strong>de</strong>s Aufbauschema beruht auf <strong>de</strong>m dreistufigen Verbrechensbegriff und <strong>de</strong>r eingeschränkten, hier:<br />

rechtsfolgenverweisen<strong>de</strong>n Schuldtheorie; zu <strong>de</strong>m Aufbau bei abweichen<strong>de</strong>n dogmatischen Ansichten siehe<br />

Johannes Wessels/Werner Beulke, Strafrecht AT, 34. Aufl. 2004, Rn. 888 ff.)<br />

Tatbestand<br />

...<br />

<strong>Recht</strong>swidrigkeit<br />

hier: objektive <strong>Recht</strong>fertigungselemente<br />

1) Feststellung, daß es für <strong>de</strong>n fraglichen (das ist <strong>de</strong>r aufgrund <strong>de</strong>r irrig angenommenen Sachlage einschlägige)<br />

<strong>Recht</strong>fertigungsgrund an <strong>de</strong>ssen objektiven Voraussetzungen, <strong>de</strong>r rechtfertigen<strong>de</strong>n Sachlage, fehlt<br />

und eine <strong>Recht</strong>fertigung ausschei<strong>de</strong>t.<br />

[Nach a.A., nämlich auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Lehre von negativen Tatbestandsmerkmalen (dann direkte Anwendung<br />

von § 16 Abs. 1 StGB) o<strong>de</strong>r bei Annahme eines Vorsatzunrechtsausschlusses im Rahmen <strong>de</strong>r<br />

eingeschränkten Schuldtheorie (dann analoge Anwendung von § 16 Abs. 1 StGB) ist <strong>de</strong>r Irrtum, genauer:<br />

sind die Irrtumsfolgen, bereits in <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>swidrigkeitsprüfung, hier <strong>de</strong>n subjektiven <strong>Recht</strong>fertigungsvoraussetzungen,<br />

zu erörtern.]<br />

Schuld<br />

...<br />

hier: Vorsatz-Schuldvorwurf<br />

2) Darstellung <strong>de</strong>r Irrtumskonstellation, wobei die Fehlvorstellung <strong>de</strong>s Täters hinsichtlich <strong>de</strong>r rechtfertigen<strong>de</strong>n<br />

Sachlage herauszuarbeiten ist.<br />

3) Wäre <strong>de</strong>r Täter bei Zugrun<strong>de</strong>legung seiner die <strong>Recht</strong>fertigungslage betreffen<strong>de</strong>n Fehlvorstellung aus <strong>de</strong>m<br />

einschlägigen <strong>Recht</strong>fertigungsgrund gerechtfertigt? Das heißt, die Rechfertigungshandlung muß auch <strong>de</strong>n<br />

gesetzlichen Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s (angenommenen) <strong>Recht</strong>fertigungsgrun<strong>de</strong>s genügen, insbeson<strong>de</strong>re also<br />

erfor<strong>de</strong>rlich und angemessen sein.<br />

Bei Überschreiten <strong>de</strong>r rechtlichen Grenzen <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>fertigungsgrun<strong>de</strong>s liegt zugleich ein Erlaubnisirrtum<br />

vor, und solch ein Doppelirrtum ist nach h.M. allein nach <strong>de</strong>n Regeln <strong>de</strong>s Erlaubnisirrtums (§ 17 StGB) zu<br />

behan<strong>de</strong>ln!<br />

4) Erörterung <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>sfolgen <strong>de</strong>s Erlaubnistatbestandsirrtums (erst hier Eingehen auf <strong>de</strong>n Theorienstreit<br />

zwischen <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>n negativen Tatbestandsmerkmalen, <strong>de</strong>r eingeschränkten und <strong>de</strong>r rechtsfolgenverweisen<strong>de</strong>n<br />

Schuldtheorie, <strong>de</strong>r [nach h.M. überholten] strengen Schuldtheorie und <strong>de</strong>r [kaum mehr<br />

erwähnenswerten] Vorsatztheorie)<br />

Dann: (Eigenständige) Fahrlässigkeitsprüfung<br />

5) Bei fehlen<strong>de</strong>r Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat ggf. Prüfung eines einschlägigen Fahrlässigkeitstatbestands<br />

(Dabei kann die Fahrlässigkeitsprüfung im wesentlichen auf die Prüfung beschränkt wer<strong>de</strong>n, ob die irrige<br />

Annahme einer rechtfertigen<strong>de</strong>n Sachlage durch <strong>de</strong>n Täter auf Fahrlässigkeit beruht, d.h. ob <strong>de</strong>ren Nichtvorliegen<br />

bei Anwendung <strong>de</strong>r gebotenen Sorgfalt objektiv erkennbar war und ob <strong>de</strong>r Täter nach seinen<br />

persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten <strong>de</strong>n Irrtum und damit die Herbeiführung <strong>de</strong>s tatbestandlichen<br />

Erfolges hätte vermei<strong>de</strong>n können.)<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 67


2. Staatsrecht: Grundrechtsprüfung<br />

A) Prüfungsaufbau bei Eingriffen in Freiheitsrechte (insbeson<strong>de</strong>re Schrankenziehung)<br />

I. Schutzbereich <strong>de</strong>r Grundrechtsgewährleistung<br />

Wird durch das (staatliche) Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Schutzbereich eines Grundrechts (bzw. eines verfassungsrechtlich verbürgten<br />

Menschenrechts o<strong>de</strong>r einer Grundfreiheit) betroffen?<br />

1. Sachlicher Schutzbereich: Was?<br />

hier sind inhaltliche Begrenzungen <strong>de</strong>r Grundrechtsgewährleistung (sog. grundrechtsimmanente Schranken)<br />

zu beachten (z.B. bei <strong>de</strong>r Versammlungsfreiheit, Art. 8 Abs. 1 GG: "friedlich und ohne Waffen")<br />

2. Persönlicher Schutzbereich (Grundrechtsträger bzw. -berechtigter): Wer?<br />

- je<strong>de</strong> natürliche Person ("je<strong>de</strong>rmann"), ggf. Frage <strong>de</strong>r Grundrechtsmündigkeit beachten<br />

- teilweise aber nur Deutsche (s. Artt. 8, 9, 11, 12, 16 GG)<br />

- ggf. Fragen <strong>de</strong>r Grundrechtsgeltung im sog. Son<strong>de</strong>rstatusverhältnis (= beson<strong>de</strong>res Gewaltverhältnis)<br />

klären<br />

- daneben beschränkt auch (inländische) juristische Personen, Art. 19 Abs. 3 GG (grundsätzlich nicht <strong>de</strong>s<br />

öffentlichen <strong>Recht</strong>s)<br />

[3. ggf. zu<strong>de</strong>m: zeitlicher und räumlicher Anwendungsbereich]<br />

4. Grundrechtskonkurrenz:<br />

- liegt eine sog. unechte o<strong>de</strong>r Scheinkonkurrenz (Vorgehen eines - spezielleren - Grundrechts, z.B. Subsidiarität<br />

<strong>de</strong>r allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, als sog. Auffanggrundrecht bzw. <strong>de</strong>s<br />

allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 Abs. 1 GG, gegenüber <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Gleichheitssätzen) o<strong>de</strong>r<br />

- ein Fall <strong>de</strong>r sog. I<strong>de</strong>alkonkurrenz vor?<br />

II. Grundrechtsbeeinträchtigung (Eingriff)<br />

Wird durch die Maßnahme d(ies)er Schutzbereich beeinträchtigt, d.h. wird in ihn "eingegriffen"? In <strong>de</strong>r Regel geht es<br />

bei polizeilichen (Zwangs-)Maßnahmen um (klassische) Eingriffe in Abwehrrechte.<br />

Hier ist zu klären,<br />

- ob die Eingriffsschwelle erreicht ist (ist die Beeinträchtigung einigermaßen erheblich?),<br />

- ggf. ist schon hier - spätestens aber unten bei <strong>de</strong>r Eingriffsrechtfertigung - <strong>de</strong>r Eingriff dahingehend zu<br />

qualifizieren, welche Ausprägung <strong>de</strong>s Schutzbereichs betroffen ist, etwa welche "Stufe" <strong>de</strong>s Allgemeinen<br />

Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) bzw.<br />

ob es um eine bloße Inhaltsbestimmung geht, soweit <strong>de</strong>r Gesetzgeber verfassungsrechtlich zur näheren<br />

Ausgestaltung <strong>de</strong>r Grundrechtsgewährleistung durch ein einfaches Gesetz befugt ist (z.B. in Art. 14 Abs.<br />

1 S. 2 GG) und<br />

- ob ggf. ein "Grundrechtsverzicht" durch wirksame Einwilligung in <strong>de</strong>n Eingriff vorliegt.<br />

III. Grundrechtsschranken (Eingriffsrechtfertigung)<br />

Ist d(ies)er Eingriff in <strong>de</strong>n Schutzbereich durch beson<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r allgemeine Grundrechtsschranken o<strong>de</strong>r durch kollidieren<strong>de</strong>s<br />

Verfassungsrecht gerechtfertigt?<br />

1. Verfassungsgemäßheit <strong>de</strong>r Eingriffsnorm<br />

Ist das einschränken<strong>de</strong> Gesetz in formeller und materieller Hinsicht verfassungsgemäß?<br />

a) Formelle Verfassungsgemäßheit<br />

- kompetenz- und verfahrensgemäßes (= ordnungsgemäßes) Zustan<strong>de</strong>kommen <strong>de</strong>s Gesetzes (u.a. bestehen<strong>de</strong><br />

Gesetzgebungskompetenz nach Artt. 77 ff GG ?)<br />

- Beachten <strong>de</strong>s Zitiergebots, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG<br />

(so bei Artt. 2 Abs. 2, 6 Abs. 3, 8 Abs. 2, 10, 11, 12 Abs. 2 u. 3, 13, 16 Abs. 1 S. 2 GG),<br />

b) Materielle Verfassungsgemäßheit<br />

- Frage nach <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>fertigungsgrundlage zur Schrankenziehung und ggf. Einhalten <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r jeweiligen Schranke<br />

Läßt die Verfassung einen Grundrechtseingriff zu? Und unter welchen Voraussetzungen? Besteht ein<br />

- sog. qualifizierter Gesetzesvorbehalt (z.B. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 2 GG: "allgemeine" Gesetze; Freizügigkeit,<br />

Art. 11 Abs. 2 GG "... und nur für die Fälle ...")<br />

- o<strong>de</strong>r ein sog. einfacher Gesetzesvorbehalt (z.B. Freiheit <strong>de</strong>r Person, Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG; Berufsfreiheit,<br />

Art. 12 Abs. 1 S. 2: "auf Grund eines Gesetzes" o<strong>de</strong>r "durch ein Gesetz");<br />

- o<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt es sich um ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht (z.B. Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1<br />

GG), das nur bei Kollisionen mit Grundrechten Dritter o<strong>de</strong>r sonstigen verfassungsrechtlich geschützten Gü-<br />

68<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften


tern im Wege <strong>de</strong>r Güter-/Interessenabwägung bzw. durch Herstellen "praktischer Konkordanz" sog. verfassungsimmanenten<br />

Schranken unterliegt (siehe dazu auch unten die Verhältnismäßigkeit)?<br />

insbeson<strong>de</strong>re allgemeine Schranken-Schranken:<br />

• inhaltliche Bestimmtheit <strong>de</strong>s beschränken<strong>de</strong>n Gesetzes (<strong>Recht</strong>sstaatsgebot, Art. 20 Abs. 3 GG) und<br />

• hierbei auch Einhalten <strong>de</strong>r förmlichen Anfor<strong>de</strong>rungen an die Ermächtigungsnorm nach Art. 80 GG<br />

bzw. <strong>de</strong>n allgemeinen Vorbehalt <strong>de</strong>s Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG), insbeson<strong>de</strong>re auch die sog.<br />

Wesentlichkeitstheorie (d.h. das Gesetz selbst muß alle wichtigen, grundrechtsbe<strong>de</strong>utsamen Fragen<br />

regeln [vgl. Parlamentsvorbehalt/Gewaltenteilungsprinzip]),<br />

• Verbot <strong>de</strong>s Einzelfallgesetzes, Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG (wird tw. auch <strong>de</strong>r Prüfung <strong>de</strong>r formellen Verfassungsgemäßheit<br />

zugeordnet),<br />

• Verhältnismäßigkeit (= Übermaßverbot)<br />

- <strong>de</strong>r abstrakten gesetzlichen Schrankenziehung, bei <strong>de</strong>r Beschränkung durch "allgemeine" Gesetze<br />

im Sinne <strong>de</strong>r sog. Wechselwirkungslehre,<br />

einschließlich <strong>de</strong>r sog. Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG; insoweit sind Eingriffe in <strong>de</strong>n<br />

Kernbereich privater Lebensführung grundsätzlich unzulässig) und ggf. auch Beachten <strong>de</strong>r sog.<br />

Ewigkeitsgarantie <strong>de</strong>s Art. 79 Abs. 3 GG<br />

- <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit im konkreten Fall (dazu hier unten 3.)<br />

2. Ggf. Verfassungsgemäßheit <strong>de</strong>s Einzelakts<br />

- ordnungsgemäße <strong>Recht</strong>sanwendung (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG!), d.h. Einhalten <strong>de</strong>r formalen und materiellen<br />

tatbestandlichen Voraussetzungen (= Grenzen) <strong>de</strong>r Eingriffsnorm (sog. Ermächtigungsgrundlage)<br />

unter Beachtung <strong>de</strong>r "objektiven verfassungsrechtlichen Wertungen" bei <strong>de</strong>r Gesetzesauslegung und<br />

-anwendung<br />

3. Verhältnismäßigkeit im Einzelfall<br />

[- Verfolgen eines legitimen Zwecks (d.h. das verfolgte Ziel darf nicht durch die Verfassung verboten<br />

sein)]<br />

- Geeignetheit (Zwecktauglichkeit, zumin<strong>de</strong>st aber zur Erreichung <strong>de</strong>s Zwecks för<strong>de</strong>rlich)<br />

- Erfor<strong>de</strong>rlichkeit (Fehlen eines an<strong>de</strong>ren mil<strong>de</strong>ren, aber gleich wirksamen Mittels)<br />

- Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i.e.S.), hierzu Interessenabwägung, z.B. zwischen <strong>de</strong>m Interesse<br />

<strong>de</strong>r Allgemeinheit an einer leistungsfähigen Strafjustiz und <strong>de</strong>n Individualrechten<br />

B) Prüfung einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht<br />

I. Schutzbereich <strong>de</strong>s Grundrechts (Betrifft das Verhalten <strong>de</strong>n Schutzbereich <strong>de</strong>s Grundrechts?)<br />

a) in sachlicher Hinsicht: Ist <strong>de</strong>r Schutzgegenstand betroffen?<br />

b) in persönlicher Hinsicht: Wird <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer als Person selbst geschützt?<br />

c) Läßt sich aus <strong>de</strong>m betroffenen Grundrecht eine entsprechen<strong>de</strong> Schutzpflicht ableiten?<br />

II. an die Stelle <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>s Vorliegens eines Grundrechtseingriffs tritt die Frage nach <strong>de</strong>m Erreichen einer<br />

eingriffsadäquaten Gefährdungsschwelle (Besteht die hinreichen<strong>de</strong> Wahrscheinlichkeit eines Scha<strong>de</strong>nseintritts?)<br />

III. Grundrechts-, hier: Schutzpflichtverletzung (Bleibt das staatliche Han<strong>de</strong>ln hinter <strong>de</strong>m grundrechtlich erfor<strong>de</strong>rlichen<br />

Han<strong>de</strong>ln evi<strong>de</strong>nt zurück?)<br />

- hier insbeson<strong>de</strong>re Prüfung <strong>de</strong>s sog. Untermaßverbotes (Abwägung unter Berücksichtigung von Art und<br />

Schwere <strong>de</strong>r Beeinträchtigung, <strong>de</strong>ren Wahrscheinlichkeit und vorhan<strong>de</strong>ner Regelungen bzw. entgegenstehen<strong>de</strong>r<br />

<strong>Recht</strong>sgüter)<br />

© Wilhelm, <strong>Recht</strong> <strong>verstan<strong>de</strong>n</strong> ... eine Einführung in die <strong>Recht</strong>swissenschaften 69


3. Verfassungsprozeßrecht: Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> (Übersicht)<br />

I. Zulässigkeit<br />

1. Zuständigkeit <strong>de</strong>s BVerfG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG<br />

2. Beschwer<strong>de</strong>- o<strong>de</strong>r Grundrechtsfähigkeit (= Partei-/Beteiligtenfähigkeit), Art. 90 Abs. 1 BVerfGG<br />

Je<strong>de</strong>rmann i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG ist <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>r im konkreten Fall in Betracht kommen<strong>de</strong>n<br />

Grundrechte o<strong>de</strong>r grundrechtsgleichen <strong>Recht</strong>e ist.<br />

[3. Prozeßfähigkeit]<br />

4. Beschwer<strong>de</strong>gegenstand, § 90 Abs. 1 BVerfGG<br />

Beschwer<strong>de</strong>gegenstand können Akte <strong>de</strong>r (<strong>de</strong>utschen) öffentlichen Gewalt (§ 90 Abs. 1 BVerfGG), d.h. Han<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r<br />

Unterlassen aller drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) sein, wobei ggf. herauszuarbeiten ist, ob die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong><br />

sich gegen <strong>de</strong>n Akt <strong>de</strong>r Exekutive bzw. Judikative selbst o<strong>de</strong>r mittelbar gegen das zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong><br />

Gesetz o<strong>de</strong>r aber unmittelbar gegen das Gesetz richtet.<br />

Beachte, bei Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>n gegen Akte <strong>de</strong>r Exekutive (i.d.R. also Verwaltungsakte) wird wegen <strong>de</strong>s<br />

Erfor<strong>de</strong>rnisses <strong>de</strong>r <strong>Recht</strong>swegerschöpfung (s. u. 6.) stets eine klagabweisen<strong>de</strong> letztinstanzliche Gerichtsentscheidung<br />

vorliegen; Gegenstand <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> sind dann regelmäßig <strong>de</strong>r Verwaltungsakt und die ihn bestätigen<strong>de</strong>n<br />

Gerichtsentscheidungen.<br />

5. Beschwer<strong>de</strong>befugnis, § 90 Abs. 1 BVerfGG<br />

Behauptung einer Grundrechtsverletzung<br />

a) Möglichkeit <strong>de</strong>r Grundrechtsverletzung<br />

Beachte, hier führt nur die offensichtliche, leicht begründbare Ablehnung <strong>de</strong>s Schutzbereichs zur Unzulässigkeit<br />

<strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>.<br />

b) Eigene, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit (sog. Beschwer) <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers<br />

-Eine eigene Betroffenheit liegt insbeson<strong>de</strong>re (aber nicht nur) vor, wenn <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer selbst<br />

Adressat <strong>de</strong>r Maßnahme ist (keine Anerkennung einer sog. Popularklage bzw. Prozeßstandschaft).<br />

- Gegenwärtig ist eine bereits eingetretene, aber noch nicht been<strong>de</strong>te Beeinträchtigung, grundsätzlich<br />

aber nicht eine künftige o<strong>de</strong>r vergangene Beeinträchtigung.<br />

- Unmittelbar ist eine Beschwer, wenn keine weiteren Vollzugsakte erfor<strong>de</strong>rlich sind, um <strong>Recht</strong>swirkungen<br />

gegenüber <strong>de</strong>m Beschwer<strong>de</strong>führer zu entfalten (nicht abzuwarten sind aber Sanktionen <strong>de</strong>s<br />

Straf- o<strong>de</strong>r Ordnungswidrigkeitenrechts).<br />

6. Erschöpfung <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sweges und Grundsatz <strong>de</strong>r Subsidiarität<br />

a) Erschöpfung <strong>de</strong>s <strong>Recht</strong>sweges (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG; abgesehen von § 47 Abs. 1 VwGO besteht i.d.R. kein<br />

<strong>Recht</strong>sweg gegen <strong>Recht</strong>snormen) und<br />

Subsidiarität <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> (st. Rspr.)<br />

b) Ausnahmen (§ 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG):<br />

- Entscheidung von allgemeiner Be<strong>de</strong>utung o<strong>de</strong>r<br />

- schwerer und unabwendbarer Nachteil<br />

[7. fehlen<strong>de</strong> entgegenstehen<strong>de</strong> Gesetzeskraft/<strong>Recht</strong>skraft, § 41 Abs. 1 BVerfGG]<br />

8. Ordnungsgemäßer Antrag und Frist<br />

a) Ordnungsgemäßer Antrag (§§ 23 Abs. 1; 92 BVerfGG)<br />

- Schriftform (§ 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG)<br />

- Begründung (§§ 23 Abs. 1 S. 2; 92 BVerfGG)<br />

b) Frist (§ 93 BVerfGG)<br />

- Monatsfrist bei Akten <strong>de</strong>r Exekutive und Judikative (§ 93 Abs. 1 BVerfGG)<br />

- Jahresfrist bei Gesetzen o<strong>de</strong>r sonstigen Hoheitsakten, gegen die kein <strong>Recht</strong>sweg offensteht (§ 93 Abs.<br />

3 BVerfGG)<br />

II. Begrün<strong>de</strong>theit (hier bei Abwehrrechten)<br />

1. Schutzbereich (s.o. Schema 2)<br />

2. Eingriff (s.o. Schema 2)<br />

3. Grundrechtsschranken/Eingriffsrechtfertigung (s.o. Schema 2)<br />

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