Die Neuauflage des Sommermärchens Für Leichtathleten ein aussichtsloses Unterfangen? Von Michael Gernandt Jedes Märchen, sagt der Volksmund, beginnt mit dem Satz: "Es war einmal". Auch oder gerade das des Sommers 2006. Das viel zitierte und deshalb schon ein wenig abgegriffene Sommermärchen der Fußball-WM vor drei Jahren in Deutschland. Die eigene WM vor Augen träumen nun die Freunde der Leichtathletik davon, dass es gelingen möge, solch ein Märchen in die Gegenwart zurück zu holen. Damit, wenn Berlin <strong>2009</strong> der Vergangenheit 24 anheim gegeben ist, die Geschichte ihres Fests des Sports ebenso beginnt: Es war einmal ein Sommermärchen anno domini <strong>2009</strong>. Ein solches Begehr, hört man allenthalben, sei Illusion, das Fußballereignis in der flirrenden Hitze des Sommers 2006, als Deutschland Flagge zeigte, schwarzrotgoldene Perücken trug und vor sich her wie eine Monstranz "gedämpften Patriotis-
mus" (Spiegel), sodass sich die Welt verwundert die Augen rieb, lasse sich nicht beliebig wiederholen. Zumindest nicht schon nach drei Jahren wieder. In der Tat, die letzte staunend wahrgenommene Verwandlung des <strong>Deutsche</strong>n zum weltoffenen, unverkrampften Gastgeber liegt eine Menschengeneration zurück; immerhin, auch sie ermöglicht erst durch ein Treffen des Sports: die mit pastellfarbener Leichtigkeit und heiter-beschwingter Ungezwungenheit sommerlich flanierenden <strong>Olympische</strong>n Spiele vor 37 Jahren in München. Zumindest bis zu dieser grausamen Zäsur des 5. Septembers. Und überhaupt: Heißt es nicht, die Leichtathletik, diese Disziplin der Individualisten und ihr eher der gehobenen Bürgerschicht entstammender und lautem Überschwang zumeist unverdächtiger Anhang würden nicht taugen zu bierseliger Party? Wie sie weiland der zu Gemeinsinn verpflichtete Fußball auf wogenden Fanmeilen und in lauschigen Vergnügungsparks vor überdimensionalen TV-Geräten feierte? Das Spiel mit dem Ball lebe sich eben auch auf der Straße aus, die Leichtathletik nicht. Wobei, zuweilen kann auch die durchaus zu frohgemutem Treiben neigen. Aber eben bevorzugt im Rund des Stadions, wie die Erinnerung an die erste WM in Deutschland lehrt: Im Sommer 1993 führten in Stuttgart begeisterte Ränge die Ola (damals "Schwabenwelle") in Deutschland ein, worauf das Internationale <strong>Olympische</strong> Komitee sich vor den Schwaben verneigte und sie, ob der allen Athleten entgegengebrachten Fairness, mit Lorbeer schmückte. Nur, lokal fixierter Enthusiasmus allein reicht diesmal dem nicht, der vom globalen Championat der Leichtathleten "Märchenqualität" erwartet. Qualitätsmindernd, führen hinsichtlich eines Sommermärchens `09 Ungläubige ins Feld, seien die im Vergleich zur Fußballauswahl 2006 nicht sonderlich ausgeprägten Erfolgsaussichten der heimischen Athletenklientel. Gemach, Freunde des Zweifels, selbst Leichtathleten vermögen über ihren Schatten zu springen. Die Hoffnung, die eigenen Sportler könnten vielleicht doch mit ihren Leistungen dem Fest eine märchenhaft anmutende Girlande flechten, hat schließlich Nahrung erhalten in den Wintermonaten, die auf das Pekinger Desaster folgten. Natürlich wird, weil auch die Welt des Sports nicht mehr ist, wie sie mal war, nichts mehr heranreichen an jenen rauschhaften Sonntagnachmittag im September 1972, an den wohl glorreichsten Tag der deutschen Nachkriegsleichtathletik. Damals gewannen Hilde Falck, Klaus Wolfermann und Bernd Kannenberg Olympiagold im Stundentakt, ihre Siege zogen wie Donnerhall durchs Land. Immerhin haben jetzt unverbrauchte, Optimismus widerspiegelnde Gesichter Neugier geweckt, haben Namen wie Bayer, Holzdeppe und Friedrich einen neuen Abschnitt angedeutet. Und vor allem: Irina Mikitenko, die Läuferin mit dem kurzen Schritt und dem langen Atem. Kaum auszudenken, wie sich die Woche in Berlin entwickelte, hätten die Organisatoren das Marathonrennen der Frauen an den Anfang des Programms gestellt und nicht ans Ende, wenn die Messe bereits gelesen ist: Vorneweg laufend Mikitenko, die Favoritin nach Siegen in Berlin und London, vorbei an Hunderttausenden auf den Straßen, lärmbewährt, fähnchenschwingend, und an Berlins vom Sonnenlicht filmreif ausgeleuchteten Sehenswürdigkeiten, und das Fernsehen immer voll drauf, hinein in die gute Stube, weltweit sowieso. Wer würde dann nicht Feuer fangen, landauf, landab ... … und sich delektieren an einem weiteren, kurzfristig programmierten Szenario des Marathons? Nach der Startzusage von Sabrina Mockenhaupt, die auf die zehn Bahnkilometer setzen wollte und nicht auf die 42 auf der Straße, wird eine nationale Konkurrentin Mikitenko begleiten. Eine für Werbefachleute faszinierende Geschichte: Mit Miki und Mocki quer durch die Kapitale. Da könnte selbst WM-Maskottchen Berlino in Atemnot geraten. Und Poldi und Schweini erst recht. Märchen, auch die des Sommers, selbst die für Erwachsene, beruhen auf Fiktion, auf etwas, das nur in der Vorstellung existiert. Mal angenommen, der Märchenfreund stellt sich nun vor, das verflixte Thema Doping hätte nicht wie ein Wirbelsturm tiefe Schneisen in den Wert geschlagen, der da heißt Glaubwürdigkeit - ein Sommermärchen <strong>2009</strong> der Leichtathleten besäße dann tatsächlich reelle Chancen, Realität zu werden. Unvorstellbar? Ja, aber … Die deutsche Leichtathletik sollte wenigstens die Möglichkeit erkennen, endlich den Schatten zu beseitigen, den der Moloch Doping auf sie wirft, seit zwei Jahrzehnten schon, aber im Jahr <strong>2009</strong> von besonders belastender Schwere. Gemeint ist die Auseinandersetzung zwischen Tätern und Opfern der staatlich verordneten Athletenmanipulation in der DDR mitsamt ihrem hässlichen Wurmfortsatz, der (auch von höchster Stelle vorgenommenen) Verschleierung der Dopingszene im Westen vor der Wende. Ist es nicht an der Zeit, allen Groll, hüben wie drüben, zu überwinden? Die Konfrontation der Ostdeutschen nach überfälliger persönlicher und mit aller Aufrichtigkeit und Toleranz geführter Aussprache mit einem Handschlag noch vor der WM zu beenden, wäre ein feiner Beitrag zur atmosphärischen Gestaltung der Weltmeisterschaft - und der Westdeutschen Geständnis, immer nur weggeschaut und auf andere gezeigt zu haben, der noch fehlende Schritt zu einem Zustand, der dann so beschrieben werden könnte: Die gesamtdeutsche Leichtathletik von nun an ohne trennenden Graben. Naiv sich derlei vorzustellen? Mag schon sein. Ein Sommermärchen halt. 25