Ausgabe 3/2009 - Deutsche Olympische Gesellschaft
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die Rangordnung war insofern<br />
eindeutig festgeschrieben.<br />
Die meisten WM-Orte waren<br />
europäische Großstädte,<br />
insgesamt neun, und nun ist<br />
Deutschland nach Stuttgart<br />
(1993) zum zweiten Mal<br />
Gastgeber, 20 Jahre nach<br />
dem Fall der Mauer und dem<br />
Untergang der DDR. Der<br />
andere deutsche Staat repräsentierte<br />
mit dem DVfL einen<br />
Verband, der mit den Großen<br />
der Zunft, den USA an der<br />
Spitze, nicht nur Schritt<br />
halten konnte, sondern sie<br />
gelegentlich in den Ranglisten<br />
gar überflügelte. Der<br />
andere deutsche Verband, der<br />
1949 in München gegründete<br />
<strong>Deutsche</strong> Leichtathletik-<br />
Verband (DLV), hat eine<br />
solche WM-Bilanz aus<br />
bekannten Gründen nie<br />
aufweisen können, 1987 in<br />
Rom mit nur drei Medaillen<br />
(kein Gold) sogar ein damals<br />
als Desaster empfundenes<br />
Tief erlebt und 2008 bei den<br />
Spielen in Peking mit nur<br />
einer (Bronze-) Medaille sein<br />
schlechtestes Olympiaergebnis<br />
seit 104 Jahren erzielt.<br />
Ein wesentlicher Grund für<br />
den verspäteten Start der<br />
WM - auch als Konzession an<br />
den Zeitgeist - ist die traditionelle<br />
Verbundenheit der<br />
Leichtathletik mit der <strong>Olympische</strong>n<br />
Bewegung und einer<br />
ununterbrochenen Teilnahme an <strong>Olympische</strong>n Spielen von<br />
Beginn an. Nicht umsonst gilt sie als die "Krone des olympischen<br />
Sports". Auch <strong>Deutsche</strong> mit leichtathletischer Herkunft<br />
hatten enge Verbindungen zu Olympia: Carl Diem, der 1912<br />
wegen der Übernahme des Amtes als Generalsekretär der<br />
<strong>Olympische</strong>n Spiele 1916 in Berlin - sie fielen allerdings<br />
wegen des 1. Weltkriegs aus - den Vorsitz des deutschen<br />
Leichtathletik-Verbands aufgab; Karl Ritter von Halt, Vorsitzender<br />
(1931 - 1945) und später DLV-Ehrenpräsident, der seit<br />
1929 bis zu seinem Lebensende (1964) Mitglied im IOC war<br />
und national Präsident des NOK (1951-1960). Die internatio-<br />
Von Winfried Joch<br />
nale Personalvariante, der Schwede Sigfrid Edström, erster<br />
Präsident der IAAF (1912-1946), war eine Zeit lang gleichzeitig<br />
auch IOC-Präsident (1942 - 1952). 1952 löste ihn im IOC-<br />
Amt der Amerikaner Avery Brundage ab, auch ein früherer<br />
Leichtathlet und Olympiastarter.<br />
Die europäische Prägung<br />
der Leichtathletik<br />
Die Nähe zwischen Leichtathletik und Olympia ist auch das<br />
Resultat einer geistigen Verwandtschaft. Die Leichtathletik ist<br />
wie der Sport, für den sie exemplarisch steht, ein Kind des 19.<br />
Jahrhunderts und der industriellen Entwicklung, ausgehend<br />
von England, dem Mutterland des Sports. Wettkampfmaße<br />
und Gerätenormen zeugen bis heute von diesem englischen<br />
Ursprung. Und mit jenem Jahrhundert der Erfindungen und<br />
des überschießenden industriellen Wachstums teilt sie den<br />
Glauben an Fortschritt und Leistung, an die Omnipotenz<br />
menschlicher Fähigkeiten und das Vermögen, alles uneingeschränkt<br />
nach eigenen Maßstäben regeln zu können und<br />
allen Anforderungen gewachsen zu sein. Zusammen mit der<br />
<strong>Olympische</strong>n Bewegung ist sie von Anfang an zudem den<br />
(Wert-)Vorstellungen und der Gedankenwelt der europäischen<br />
Aufklärung verpflichtet. Dazu gehört das Genuin-Leichtathletische,<br />
die messbare Leistung, ihre Progression, der Rekord,<br />
gemessen am persönlichen und - in seiner höchsten Form -<br />
am internationalen Standard. Es sei das Los der Menschen, so<br />
wird in dieser Zeit argumentiert, unermüdlich nach immer<br />
neuen Herausforderungen zu streben, sich immer neue Ziele<br />
zu setzen: Eine bis ins beinahe Unendliche gehende Steigerung<br />
der Ansprüche und ihrer Befriedigung. Der Sport findet<br />
dafür die klassische Formel "citius, altius, fortius".<br />
Fortschritt und Leistung waren also die bewegenden Kräfte<br />
dieser neuen Sport- und <strong>Olympische</strong>n Bewegung, die ihren<br />
Siegeszug um die Welt antraten mit - damals wie vielfach<br />
heute noch - schier unglaublichen Leistungssteigerungen in<br />
allen Disziplinen, in allen Altersklassen für Männer und -<br />
zeitverzögert - für Frauen. Von Anfang an war diese Leichtathletik<br />
weltorientiert, auch wenn das neben den europäischen<br />
Ländern, voran die nordeuropäischen, zunächst nur<br />
oder vor allem die USA betraf. Aber ihre aufklärerische Wurzel,<br />
ihr geistiges Erbe liegt in Europa, in England, Frankreich<br />
und Deutschland.<br />
Zu dieser Wurzel gehört der Glaube an wissenschaftlichen<br />
Fortschritt, an die Lösbarkeit aller Probleme durch den Menschen,<br />
der sich auf sich selbst besinnt und auf seine Vernunft,<br />
der nicht abhängig ist von obrigkeitsstaatlichem Denken und<br />
von den vermeintlichen Autoritäten, die sein Leben, Handeln<br />
und Denken bestimmen wollen. Das Maß aller Dinge: der<br />
individuelle, vernunftbegabte, autonom handelnde Mensch.<br />
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