Kolloquium Staatsrecht Sommer 2013 -- Art. 14 GG (Atomausstieg)
Kolloquium Staatsrecht Sommer 2013 -- Art. 14 GG (Atomausstieg)
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Prof. Dr. Wolfgang März <strong>Sommer</strong> <strong>2013</strong><br />
KOLLOQUIUM ZUM STAATSRECHT (1)<br />
18.4.<strong>2013</strong>: Eigentum und Erbrecht (<strong>Art</strong>. <strong>14</strong> <strong>GG</strong>)<br />
Fall III:<br />
<strong>Atomausstieg</strong> und Eigentumsschutz (beim BVerfG anhängig:<br />
1 BvR 2821/11, 1 BvR 321/12, 1 BvR <strong>14</strong>56/12 u.a.)<br />
(Bruch/Greve, DÖV 2011, 794 ff.; Ekardt, NuR 2012, 813 ff.; Ewer, NVwZ 2011, 1035 ff.;<br />
Ossenbühl, DÖV 2012, 697 ff.; Schröder, NVwZ <strong>2013</strong>, 105 ff.; Schwarz, DVBl. <strong>2013</strong>, 133 ff.;<br />
de Witt, UPR 2012, 281 ff.; Ziehm, ZNER 2012, 221 ff.)<br />
Seit mehr als 50 Jahren wird in Deutschland Strom in Kernkraftwerken (KKW) produziert.<br />
Rechtsgrundlage ist das Gesetz über die friedliche Nutzung der Kernenergie<br />
und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz – AtG). Es regelt u.a. die Voraussetzungen<br />
für Bau und Betrieb eines KKW und legt die für den Schutz von Leben und<br />
Gesundheit erforderlichen Sicherheitsstandards fest. Nach dem AtG bedarf ein Unternehmen,<br />
das ein KKW betreibt, einer Genehmigung, die nach einem aufwendigen<br />
Verwaltungsverfahren und zahlreichen Sicherheitsüberprüfungen erteilt wird. Diese<br />
Betriebsgenehmigungen wurden für alle siebzehn KKW, die von 1975 bis 1989 ans<br />
Netz gegangen sind und heute noch Strom erzeugen, zeitlich unbefristet erteilt. Abhängig<br />
von Bautechnik und Zustand sind diese Kraftwerke für eine Betriebsdauer<br />
von max. 50 Jahren ausgelegt.<br />
Der Betrieb von KKW war von Anfang umstritten, und ab 1970 formierte sich eine<br />
wachsende Anti-Atomkraft-Bewegung, aus der die Partei „Die Grünen“ hervorging.<br />
Nachdem diese mit der SPD nach der Bundestagswahl 1998 eine Koalition gebildet<br />
hatte, beschloß die Bundesregierung den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der<br />
Kernenergie. Sie vereinbarte nach längeren Verhandlungen mit den betroffenen<br />
Energieversorgungsunternehmen im Jahr 2000, daß alle siebzehn KKW in Zukunft<br />
insgesamt nur noch eine bestimmte Menge Strom erzeugen durften und dann ihren<br />
Betrieb einzustellen hatten. Die dabei in Abhängigkeit von Alter und Zustand vereinbarte<br />
„Reststrommenge“ jedes einzelnen KKW konnte unter bestimmten Voraussetzungen<br />
auf andere KKW übertragen werden. Bezogen auf deren Alter und Leistung<br />
sollte dies rechnerisch einen <strong>Atomausstieg</strong> bis spätestens 2020 bewirken. Dabei wurden<br />
als Regellaufzeit eines KKW 32 Jahre angesetzt, ein Wert, der auch nach Meinung<br />
der Unternehmen die Amortisation der Investitions- und Betriebskosten sowie<br />
einen angemessenen Gewinn sicherstellte. Dieser Atomkonsens führte zu einer entsprechenden<br />
Änderung des AtG, die im April 2002 in Kraft trat. Der Gesetzgeber<br />
definierte dessen Zweck neu, so daß nunmehr die Nutzung der Kernenergie zur Elektrizitätserzeugung<br />
geordnet zu beenden war (§ 1 Nr. 1 AtG 2002); Genehmigungen für<br />
Errichtung und Betrieb neuer KKW werden nicht mehr erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AtG<br />
2002); die erteilte Genehmigung zum Betrieb eines KKW erlischt, wenn die für das<br />
einzelne KKW festgelegte – und u.U. durch Übertragung verminderte oder erhöhte –<br />
Reststrommenge produziert ist (§ 7 Abs. 1a und 1b AtG 2002).
– 2 –<br />
Die Bundestagswahl im September 2009 hatte die Bildung einer Regierungskoalition<br />
aus CDU/CSU und FDP zur Folge, die bereits im Wahlkampf eine andere Energiepolitik<br />
angekündigt hatten. Die neue Bundesregierung beschloß deshalb, die Laufzeiten<br />
der siebzehn KKW unter Einhaltung der bisherigen strengen Sicherheitsstandards<br />
zu verlängern, d.h. den bis zum Jahr 2020 prognostizierten „<strong>Atomausstieg</strong>“<br />
zeitlich um etwa 12 Jahre hinauszuschieben. Im Herbst 2010 wurden in Verhandlungen<br />
der Bundesregierung mit den vier betroffenen Energieversorgungsunternehmen<br />
die Details dieses „Laufzeitverlängerungspakets“ vereinbart. Seine Umsetzung<br />
führte u.a. zu einer entsprechenden Änderung des AtG (AtG 2010), die ordnungsgemäß<br />
beschlossen wurde und am im Dezember 2010 in Kraft trat. Der Gesetzgeber<br />
erhöhte darin (Anlage 3) die 2002 festgelegte Reststrommenge um zwei Drittel und<br />
verteilte sie so auf die einzelnen KKW, daß die älteren Anlagen zusätzlich etwa acht<br />
Jahre, die jüngeren Anlagen etwa weitere <strong>14</strong> Jahre Strom produzieren konnten. Dies<br />
ergab praktisch eine durchschnittliche Laufzeitverlängerung von etwa 12 Jahren,<br />
wobei die acht ältesten KKW nunmehr voraussichtlich bis zum Jahr 2020 abgeschaltet<br />
werden mußten.<br />
Diese neue Rechtslage war bekanntlich nicht von Dauer. Im März 2011 waren infolge<br />
eines heftigen Erdbebens und eines nachfolgenden Tsunami mehrere Reaktorblöcke<br />
eines japanischen KKW stark beschädigt worden, was zur massiven Verstrahlung von<br />
Luft und Boden in der Umgebung des Reaktors und zur Evakuierung der Bevölkerung<br />
geführt hatte. Die Bundesregierung beschloß deshalb wenige Tage nach dieser<br />
Katastrophe unabhängig von der Wahrscheinlichkeit eines solchen Unglücks in<br />
Deutschland eine abrupte Änderung ihrer Energiepolitik. Sie räumte der nuklearen<br />
Sicherheit nunmehr absoluten Vorrang ein und kündigte an, die Nutzung der Kernenergie<br />
zur Stromerzeugung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden. Zu diesem<br />
Zweck wurde im zuständigen Bundesministerium folgender Entwurf eines Änderungsgesetzes<br />
zum AtG erarbeitet: Die im Dezember 2010 beschlossene Erhöhung der<br />
Reststrommenge wird gestrichen; die Betriebsgenehmigungen der acht ältesten KKW<br />
und deren noch vorhandene Reststrommengen erlöschen sofort mit dem Inkrafttreten<br />
dieses Änderungsgesetzes (§ 7 Abs. 1a Nr. 1 AtG 2011); die Betriebsgenehmigungen<br />
aller anderen KKW erlöschen zeitlich gestaffelt bis spätestens 2022, wobei ihre jeweiligen<br />
Reststrommengen aus dem Jahr 2002 beibehalten werden. Dieser Gesetzentwurf<br />
wurde von der Bundesregierung beschlossen und von den sie tragenden Fraktionen<br />
gemeinsam im Deutschen Bundestag eingebracht. Er wurde im ordnungsgemäßen<br />
Verfahren beraten und mit deutlicher parlamentarischer Mehrheit beschlossen.<br />
Auch der Bundesrat stimmte dem Gesetzesbeschluß zu. Nach Ausfertigung durch den<br />
Bundespräsidenten trat das Änderungsgesetz zum AtG Ende Juli 2011 in Kraft.<br />
Die Energieversorgungsunternehmen EnBW, RWE und Vattenfall betreiben fünf<br />
KKW der älteren Generation, die alle vom gesetzlich angeordneten sofortigen Erlöschen<br />
der Betriebsgenehmigung betroffen sind. Sie mußten diese Anlagen deshalb<br />
Ende Juli 2011 vom Netz nehmen und abschalten. Die Energieversorgungsunternehmen<br />
halten diese Gesetzesänderung für verfassungswidrig, da sie ihr Grundrecht aus
– 3 –<br />
<strong>Art</strong>. <strong>14</strong> <strong>GG</strong> verletzten: Das sofortige Erlöschen der Betriebserlaubnis führe dazu, daß<br />
die KKW nicht weiter genutzt werden dürften und von den im AtG 2002 festgelegten<br />
Reststrommengen kein Gebrauch mehr gemacht werden könne. Die fünf Reaktoren<br />
seien dadurch vollständig entwertet und hätten keinerlei technischen oder ökonomischen<br />
Nutzen mehr für ihre Betreiber. Dies stelle eine Enteignung dar, die aber<br />
schon deshalb nicht die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfülle, weil der<br />
Gesetzgeber hierfür – was zutrifft – keine Entschädigungsregelung vorgesehen habe.<br />
Selbst wenn man die Neuregelung nicht als Enteignung ansehen wolle, mißachte der<br />
Gesetzgeber zumindest den verfassungsgebotenen Vertrauensschutz der E hinsichtlich<br />
des Fortbestands der Regelung im AtG 2002 und hinsichtlich der Laufzeitverlängerung<br />
im AtG 2010. Das sofortige Erlöschen der fünf Betriebsgenehmigungen sei in<br />
jedem Fall unverhältnismäßig gewesen und stelle einen eklatanten Verfassungsverstoß<br />
dar.<br />
Was ist von dieser Argumentation zu halten?