Aufgabentext / Gliederung - Juristische Fakultät
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Prof. Dr. Wolfgang März Winter 2012<br />
WISSENSCHAFTLICHES ARBEITEN IM ÖFFENTLICHEN RECHT<br />
– 1. BESPRECHUNGSFALL –<br />
Auf den Alleenstraßen der im Landkreis Nordwestmecklenburg gelegenen kreisangehörigen<br />
Gemeinde X kommt es wegen zu schnellen Fahrens oft zu schweren Verkehrsunfällen.<br />
In X diskutiert man daher verstärkt darüber, wie diesem Mißstand abgeholfen werden<br />
könne. Auch die freie Wählergemeinschaft „Bürger für mehr Sicherheit“ (BfmS) – seit der<br />
letzten Kommunalwahl in Fraktionsstärke in die Gemeindevertretung gewählt – überlegt<br />
intensiv, wie man die Zahl der Unfallopfer reduzieren könne. Sie ist der Auffassung, daß<br />
sich durch massive Geschwindigkeitsbegrenzungen der größte Teil der Unfälle vermeiden<br />
ließe. Die BfmS beauftragt daher ihren Fraktionsvorsitzenden Schleich (S), beim Vorsitzenden<br />
der Gemeindevertretung Wichtig (W) schriftlich zu beantragen, in die Tagesordnung<br />
der nächsten Sitzung der Gemeindevertretung als Verhandlungsgegenstand das „Aufstellen<br />
von Verkehrsschildern zur Geschwindigkeitsbegrenzung durch die Gemeinde“ aufzunehmen.<br />
W weist den Antrag des S jedoch zurück; er begründet dies damit, daß dieses Thema<br />
auf der Tagesordnung einer Sitzung der Gemeindevertretung nichts zu suchen habe.<br />
Die Gemeindevertretung sei nicht befugt, über die Aufstellung solcher Schilder zu entscheiden.<br />
In der darauffolgenden Woche findet in X eine Sitzung der Gemeindevertretung statt. Zunächst<br />
geht alles seinen gewohnten Gang; doch dann wird in einer Rede zufällig und nebenbei<br />
die „Sicherheit im Straßenverkehr“ angesprochen. Die BfmS versucht sofort, dieses<br />
Thema zum Gegenstand der Sitzung zu machen. Sie ist immer noch darüber empört, daß W<br />
ihr die Aufnahme des Themas auf die Tagesordnung verwehrt hat. W weigert sich aber<br />
erneut und nachdrücklich, in der Gemeindevertretung darüber diskutieren und entscheiden<br />
zu lassen, weil das Thema weder auf der Tagesordnung stehe noch die Gemeindevertretung<br />
hierfür zuständig sei. Es kommt zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen in der<br />
Gemeindevertretung. Vorlaut (V), ein Mitglied der BfmS-Fraktion, ist dabei wie immer<br />
besonders laut und engagiert und ruft W zu, dieser verhalte sich „genauso stur und autoritär<br />
wie früher unter dem Sozialismus“. Als er sich auch nach mehrmaligen Ordnungsrufen<br />
des W nicht beruhigt und weiter polemisiert, schließt ihn der Vorsitzende der Gemeindevertretung<br />
von der Sitzung aus. Aufgrund der hitzigen Debatte lassen sich auch Zuschauer<br />
im Sitzungssaal zu lauten Meinungsäußerungen hinreißen; dies führt rasch zu chaotischen<br />
Zuständen. W schließt daraufhin auch die Öffentlichkeit von der weiteren Sitzung aus.<br />
Nachdem die Zuschauer zusammen mit V unter Protest den Saal verlassen haben, wird die<br />
Sitzung mit den verbliebenen Gemeindevertretern fortgesetzt.<br />
Noch am selben Abend telefoniert S mit W und protestiert heftigst gegen das Verhalten des<br />
Vorsitzenden der Gemeindevertretung gegenüber seiner Fraktion in der Sitzung. Er behauptet<br />
sodann, eine Duldung dieser „undemokratischen Machenschaften“ nicht mehr mit<br />
seinem Gewissen vereinbaren zu können, und er kündigt an, ein Zeichen setzen zu wollen<br />
und zur nächsten Sitzung der Gemeindevertretung nicht zu erscheinen. Die Tagesordnung
– 2 –<br />
der nächsten Sitzung der Gemeindevertretung – S ist ihr in der Tat ferngeblieben – enthält<br />
daher einen Punkt „Reaktion auf ein etwaiges Nichterscheinen des Mitglieds der Gemeindevertretung<br />
Schleich bei der heutigen Sitzung der Gemeindevertretung“. Nach eingehender<br />
Diskussion beschließt die Gemeindevertretung mehrheitlich, gegen S ein Ordnungsgeld<br />
zu verhängen. Begründet wird dieser Beschluß damit, daß S unrechtmäßig handele, wenn<br />
er an der Sitzung nicht teilnehme; er habe als Gemeindevertreter eine Teilnahmepflicht.<br />
Diese Pflicht habe er wahrnehmen müssen; in der bloßen Meinungsverschiedenheit über<br />
den Ablauf einer Sitzung läge kein wichtiger Grund für ein Fernbleiben. Von einem Ordnungsgeld<br />
solle hier schon deshalb nicht abgesehen werden, um auch künftig Disziplin in<br />
den Sitzungen zu behalten und die Funktionsfähigkeit der Gemeindevertretung zu sichern.<br />
Aufgabe:<br />
Nach alledem erhebt S vor dem Verwaltungsgericht Schwerin unverzüglich Klage und beantragt,<br />
den Vorsitzenden der Gemeindevertretung zu verurteilen, in die Tagesordnung der<br />
nächsten Sitzung der Gemeindevertretung als Verhandlungsgegenstand das „Aufstellen<br />
von Verkehrsschildern zur Geschwindigkeitsbegrenzung durch die Gemeinde“ aufzunehmen.<br />
Gegen den Beschluß der Gemeindevertretung, gegen ihn ein Ordnungsgeld zu verhängen,<br />
hatte S gleich nach dessen Zustellung Widerspruch erhoben. Nachdem der Beschluß aufrechterhalten<br />
wurde, will er nun auf demselben gerichtlichen Weg gegen die Verhängung<br />
des Ordnungsgeldes vorgehen.<br />
Zudem möchte S vom Verwaltungsgericht feststellen lassen, daß die Öffentlichkeit zu Unrecht<br />
von der Sitzung der Gemeindevertretung ausgeschlossen wurde.<br />
Wie sind die Erfolgsaussichten dieser drei Klagen?<br />
Hinweise:<br />
1. Legen Sie Ihrer Bearbeitung die Kommunalverfassung M-V in der aktuellen Fassung<br />
(13. Juli 2011) zugrunde.<br />
2. Bearb. hat zu versichern, daß die Hausarbeit ohne fremde Hilfe angefertigt wurde.<br />
3. Der Umfang darf 25 Seiten (1/3 Rand; Text 1,5-zeilig, Fußnoten 1-zeilig; Schrift Times<br />
[New] Roman, Text 12 Punkt, Fußnoten 10 Punkt) nicht überschreiten.<br />
4. Ausgabe: 22. Februar 2013; Abgabe: spätestens am 22. März 2013, 15.00 Uhr im Lehrstuhlsekretariat<br />
(Zi. 215), <strong>Juristische</strong> Fakultät, Möllner Str. 10, 18109 Rostock, oder mit<br />
der Post (Poststempel von diesem Tag wahrt die Frist nur, wenn die Arbeit spätestens<br />
am 28. März 2013 eingeht).
Prof. Dr. Wolfgang März Winter 2012<br />
Wissenschaftliches Arbeiten im Öffentliches Recht – <strong>Gliederung</strong> zu Fall 1<br />
A. Klage des S bzgl. der Aufnahme des Tagesordnungspunkts<br />
I. Zulässigkeit<br />
Schwerpunkt in der Zulässigkeit: Besonderheiten des Kommunalverfassungsstreits. Literaturempfehlung hierzu:<br />
Markus Ogorek, Der Kommunalverfassungsstreit im Verwaltungsprozess, in: JuS 2009, S. 511-516.<br />
1. Justitiabilität<br />
Impermeabilitätstheorie; eher von historischem Interesse und nicht näher zu behandeln (wenn überhaupt)<br />
2. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, § 40 Abs. 1 VwGO<br />
a. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit (+)<br />
streitentscheidende Norm ist § 29 I 3 KV M-V<br />
b. Nichtverfassungsrechtlicher Art (+)<br />
keine doppelte Verfassungsunmittelbarkeit; „Kommunalverfassung“ ist keine Verfassung i.e.S.<br />
c. Keine abdrängende Sonderzuweisung (+)<br />
3. Zuständiges Gericht<br />
a. Sachlich und instantiell zuständiges Gericht: ein VG<br />
b. Örtlich zuständiges Gericht: Gemeinde X im Landkreis Nordwestmecklenburg → VG Schwerin<br />
§ 52 Nr. 1 VwGO ist missverständlich weit gefasst, aber mangels konkreter Ortsgebundenheit des kommunalen<br />
Initiativrechts nicht einschlägig, daher Rückgriff auf den subsidiären § 52 Nr. 5 VwGO<br />
4. Statthafte Klageart<br />
a. Klage sui generis (-)<br />
wird heute praktisch nicht mehr vertreten<br />
b. Verpflichtungsklage (-)<br />
die vom Kläger begehrte Aufnahme des Themas in die Tagesordnung wäre nicht auf unmittelbare Außenwirkung<br />
gerichtet und daher kein VA; Verpflichtungsklage daher nicht statthaft<br />
c. Allgemeine Leistungsklage (+)<br />
die vom Kläger begehrte Aufnahme des Themas in die Tagesordnung ist als sonstiges hoheitliches Tun<br />
zu qualifizieren; das Klagebegehren kann also mit einer allgemeinen Leistungsklage verfolgt werden<br />
d. Allgemeine Feststellungsklage (+)<br />
trotz Subsidiarität ggü. der allg. Leistungsklage könnte jedoch für die allg. Feststellungsklage sprechen,<br />
dass sie im Gegensatz zur Leistungsklage nicht zu einem vollstreckbaren Titel führt und dadurch der in<br />
Art. 28 II 1 GG verbürgten kommunalen Selbstverwaltungsgarantie eher gerecht wird. → Meinungsstreit<br />
zw. Rspr. und h.L.:<br />
- nach BVerwG ist trotz fehlender Vollstreckbarkeit eines Feststellungsurteils die Rechtstreue der<br />
unterlegenen staatlichen bzw. kommunalen Partei zu erwarten<br />
- die h.L. wendet dagegen ein, dass die VwGO eine evtl. nötige Vollstreckung gegen den Staat, also einen<br />
„Ehrenmann“, kennt (§§ 170, 172)<br />
- zudem spreche der eindeutige Wortlaut der Subsidiaritätsklausel § 43 II 1 VwGO gegen eine allg. FK<br />
- dagegen wendet die Rspr. wiederum ein, dass durch eine allg. Feststellungsklage (im Vergleich zur allg.<br />
Leistungsklage) keine Zulässigkeitsvoraussetzungen umgangen würden, der Schutzzweck der Subsidiaritätsklausel<br />
also nicht berührt wird<br />
→ sowohl allg. Leistungsklage als auch allg. Feststellungsklage sind bei entsprechender Argumentation vertretbar<br />
5. Besonderes Feststellungsinteresse (+): Rechtslage ist ungewiss und es besteht konkreter Klärungsbedarf
6. Klagebefugnis (+)<br />
str., ob zur Zulässigkeit einer Feststellungsklage neben dem besonderen Feststellungsinteresse auch eine<br />
Klagebefugnis analog § 42 II VwGO nötig ist. → Meinungsstreit zw. Rspr. und h.L.:<br />
- Gegenargument der h.L. ist, dass es an einer planwidrigen Regelungslücke oder jedenfalls an einer vergleichbaren<br />
Interessenlage, also den Voraussetzungen einer Analogie, fehle<br />
- nach der Rspr. ist der Ausschluss von Popularklagen ein dem deutschen Rechtsschutzsystem innewohnender<br />
Grundsatz, der auch bei etwa der allg. Leistungsklage analog § 42 II VwGO gewahrt wird<br />
- bei einem Kommunalverfassungsstreit wie hier erkennt aber auch der überwiegende Teil der Lehre an,<br />
dass unabhängig von der Klageart – also auch bei Feststellungsklagen – eine Klagebefugnis zu fordern ist<br />
Bei der Klagebefugnis ist zu berücksichtigen, dass Organ(teil)e nicht Träger subjektiver Rechte sein können,<br />
sondern sie lediglich Kompetenzen bzw. wehrfähige Innenrechtspositionen haben können. Das Initiativrecht<br />
aus § 29 I 3 KV M-V ist eine solche wehrfähige Innenrechtsposition des Klägers<br />
7. Klagegegner<br />
§ 78 VwGO gilt für die allgemeine Feststellungsklage weder direkt noch analog → Klagegegner ist daher<br />
grds. nach dem Rechtsträgerprinzip zu bestimmen. Da es sich hier aber um einen Organstreit handelt ist darauf<br />
abzustellen, welches Organ kompetent ist, das Begehren des Klägers zu erfüllen (Funktionsträgerprinzip)<br />
→ das ist hier der Vorsitzende der Gemeindevertretung (§ 29 I 1 KV M-V)<br />
8. Beteiligten- und Prozessfähigkeit<br />
die Beteiligtenfähigkeit des Klägers ergibt sich nach e.A. aus § 61 Nr. 1, 2. Alt. VwGO analog, nach a.A.<br />
mangels der für eine Analogie zu Nr. 1 nötigen vergleichbaren Interessenlage jedenfalls aus § 61 Nr. 2<br />
VwGO analog oder doppelt analog<br />
die Prozessfähigkeit des Klägers ergibt sich aus § 62 I VwGO<br />
entsprechend ist der Beklagte beteiligten- und prozessfähig<br />
9. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis (+)<br />
(teilweise wird das allg. Rechtsschutzbedürfnis bei der allg. Feststellungsklage schon als durch das besondere<br />
Feststellungsinteresse abgedeckt angesehen, was aber – wie hier an den Unterpunkten ersichtlich –<br />
nicht immer der Fall sein muss)<br />
a. Einschaltung der Kommunalaufsicht (/)<br />
wäre möglicherweise einfacher, schneller und kostengünstiger als ein gerichtliches Verfahren; ein Einschreiten<br />
der Rechtsaufsichtsbehörde liegt jedoch in deren Ermessen (§ 81 I KV M-V) und ist daher kein<br />
gleichwertiges Mittel<br />
b. Einstweiliger Rechtsschutz (/)<br />
ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 I VwGO wäre ein schnelleres Mittel;<br />
einstweiliger Rechtsschutz zielt aber nur auf vorläufigen Rechtsschutz ab und behält die endgültige Klärung<br />
der streitigen Rechtsfragen einem Hauptsacheverfahren vor, so dass er nicht als gleichwertiges Mittel<br />
anzusehen ist<br />
c. Verwirkung (-)<br />
wäre nur bei längeren Zeiträumen und insbes. dann anzunehmen, wenn der potentielle Klagegegner darauf<br />
vertrauen dürfte, dass nicht mehr geklagt wird<br />
→ Die Klage des S ist zulässig<br />
II. Begründetheit<br />
Kommt das Initiativrecht des § 29 I 3 KV M-V dergestalt zum Tragen, dass der Beklagte den vom Kläger beantragten<br />
Verhandlungsgegenstand in die Tagesordnung aufzunehmen hat?<br />
1. Formelle Voraussetzungen (+)<br />
die Aufnahme des Verhandlungsgegenstandes wurde von einem dazu berechtigten Organ(teil) beim zuständigen<br />
Organ(teil) beantragt<br />
2. Materielle Voraussetzungen<br />
- dem Gemeindevertretungsvorsitzenden kommt nach § 29 I 3 KV M-V kein Ermessen zu<br />
- die Ablehnung der Aufnahme des Verhandlungsgegenstandes könnte aber berechtigt sein, wenn dem Vorsitzenden<br />
ein materielles Prüfungsrecht zukommt und hier ein solches wegen Rechtswidrigkeit greift<br />
- ein allgemeines Recht zur Prüfung der Rechtmäßigkeit dergestalt, dass nur solche Angelegenheiten auf<br />
die Tagesordnung gesetzt werden müssen, die zu rechtmäßigen Beschlüssen der Gemeindevertretung<br />
führen können, ist nicht normiert und widerspräche dem Regelungsgefüge der KV M-V
- möglicherweise kann der Vorsitzende aber prüfen, ob die Befassung mit einem Verhandlungsgegenstand<br />
nicht mehr von der Verbandskompetenz der Gemeinde gedeckt ist und damit rechtswidrig wäre<br />
- tatsächlich fällt das Aufstellen von Verkehrsschildern zur Geschwindigkeitsbegrenzung nicht in die<br />
Verbandskompetenz der Gemeinde (§ 44 I 1 StVO i.V.m. § 2 I 1 StVZustLVO M-V)<br />
- fraglich ist aber, ob auch eine kompetenzwidrige Befassung vorliegt<br />
- wäre erst die Beschlussfassung in der Sache durch die Gemeindevertretung eine kompetenzwidrige<br />
Befassung, dann läge zum hier fraglichen Zeitpunkt noch kein kompetenz- und damit rechtswidriger<br />
Akt vor, den der Vorsitzende beanstanden könnte<br />
- auch die einer Beschlussfassung vorhergehende Behandlung der Sache durch die Gemeindevertretung<br />
wäre zum fraglichen Zeitpunkt noch nicht gegeben<br />
- zum fraglichen Zeitpunkt greifen könnte nur ein präventives Prüfungsrecht, bei dem schon dann,<br />
wenn ein Gegenstand, für den die Gemeinde unzuständig ist, als Verhandlungsgegenstand auf die<br />
Tagesordnung gesetzt wird, eine kompetenzwidrige Befassung anzunehmen ist; Rspr. und h.L.<br />
sind sich jedoch einig, dass es dazu einer entsprechenden Norm bedürfte, die aber nicht existiert<br />
→ es besteht kein präventives Prüfungsrecht des Gemeindevertretungsvorsitzenden<br />
→ er hat weder eine Pflicht noch ein Recht dazu, die Aufnahme des Verhandlungsgegenstandes abzulehnen<br />
→ Die Klage wird dergestalt Erfolg haben; das Gericht wird feststellen, dass der Vorsitzende den Tagesordnungspunkt<br />
aufzunehmen hat.<br />
B. Klage des S gegen die Verhängung des Ordnungsgelds<br />
I. Zulässigkeit<br />
1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (+)<br />
streitentscheidende öffentlich-rechtliche Norm ist § 172 I KV M-V<br />
2. Zuständiges Gericht: VG Schwerin<br />
3. Statthafte Klageart<br />
das Ordnungsgeld betrifft den S nicht bloß als Gemeindevertreter, sondern als Privatperson; die Verhängung<br />
des Ordnungsgeldes stellt daher einen VA dar → statthaft ist die Anfechtungsklage<br />
4. Klagebefugnis (+)<br />
S ist möglicherweise in seinem materiellen subjektiven öffentlichen Recht aus Art. 2 I GG verletzt sowie aufgrund<br />
der Eigenschaft von § 172 I KV M-V als Ermessensnorm möglicherweise in seinem formellen subjektiven<br />
öffentlichen Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung aus Art. 20 III GG<br />
5. Vorverfahren (+)<br />
Widerspruchsverfahren war nötig und hat erfolglos stattgefunden<br />
6. Klagefrist: ein Monat<br />
7. Klagegegner<br />
nach dem Behördenprinzip (§ 78 I Nr. 2 VwGO i.V.m. § 14 II AGGerStrG M-V) die Gemeindevertretung als<br />
Erlassbehörde<br />
8. Beteiligten- und Prozessfähigkeit (+)<br />
9. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis (+)<br />
→ Die Klage ist zulässig<br />
II. Begründetheit<br />
1. Objektive Rechtswidrigkeit<br />
a. Ermächtigungsgrundlage: § 172 I 1, 1. Var. KV M-V (in Bezug auf § 23 III 3 KV M-V)<br />
b. Formelle Rechtmäßigkeit<br />
aa.Zuständigkeit (+)<br />
bb.Verfahren (+)<br />
die gem. § 28 I VwVfG M-V durchzuführende Anhörung hat nicht stattgefunden; der Verfahrensfehler
ist aber gem. § 45 I Nr. 3, II VwVfG M-V als durch das Widerspruchsverfahren nachgeholt und damit<br />
geheilt anzusehen<br />
cc.Form (+)<br />
c. Materielle Rechtmäßigkeit<br />
aa.Tatbestand (+)<br />
die Ermächtigungsgrundlage setzt voraus, dass Gemeindevertreter S eine Pflicht zur Teilnahme an<br />
der Gemeindevertretungssitzung hatte<br />
- als Gemeindevertreter war er gem. § 23 III 3 KV M-V zur Teilnahme an der Sitzung verpflichtet, falls<br />
er nicht aus wichtigem Grund verhindert war<br />
- „wichtiger Grund“ können z.B. vorrangige Termine oder Krankheit sein; die von S vorgebrachten<br />
Gründe rechtfertigen sein Fernbleiben hingegen nicht<br />
→ er hätte also die Pflicht gehabt, an der Sitzung teilzunehmen; der Tatbestand ist gegeben<br />
bb.Rechtsfolge: keine Ermessensfehler<br />
→ das Ordnungsgeld wurde rechtmäßig verhängt<br />
→ Die Klage des S ist unbegründet und hat keine Aussicht auf Erfolg<br />
C. Klage des Schleich gegen den Öffentlichkeitsausschluss<br />
I. Zulässigkeit einer auf eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes gestützten Klage<br />
1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs und Gerichtszuständigkeit<br />
streitentscheidende öffentlich-rechtliche Norm wäre § 29 V 1 KV M-V; Verwaltungsrechtsweg wäre eröffnet<br />
zuständiges Gericht: VG Schwerin<br />
2. Statthafte Klageart und Klagebefugnis<br />
fraglich ist schon, ob in diesen Rechtsstreit beide Parteien in ihrer Eigenschaft als Organ(teil)e der Gemeinde<br />
X involviert wären, ob also ein Innen- oder ein Außenrechtsstreit vorläge; unabhängig von der statthaften<br />
Klageart ist aber vor allem die gem. § 42 II VwGO direkt oder analog nötige Klagebefugnis fraglich:<br />
- § 29 V 1 KV M-V, wonach die Sitzungen der Gemeindevertretung öffentlich sind, besteht allein im öffentlichen<br />
Interesse; die Norm schützt oder berechtigt den S weder als Gemeindevertreter, noch als Fraktionsvorsitzenden,<br />
noch als Privatperson, die Öffentlichkeit der Sitzung einzufordern<br />
- auch ist Gemeindevertreter S nicht Adressat des Öffentlichkeitsausschlusses<br />
- der von einigen Gerichten vertretenen Auffassung, dass die in Bezug auf in nichtöffentlicher Sitzung beratenen<br />
Angelegenheiten bestehende Verschwiegenheitspflicht von Gemeindevertretungsmitgliedern (in M-V:<br />
gem. § 23 VI KV M-V) deren freie Mandatsausübung (M-V: § 23 III 1 und 2 KV M-V) beschränkt und der<br />
Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit daher ein wehrfähiges Innenrecht eines jeden Gemeindevertreters gegen<br />
einen Öffentlichkeitsausschluss darstelle, ließe sich – wenn überhaupt – nur in solchen Fällen folgen, in<br />
denen ein Ausschlussgrund in Gestalt eines Geheimhaltungsinteresses (M-V: § 29 V 2 KV M-V) vorläge; im<br />
hiesigen Fall diente der Öffentlichkeitsausschluss aber nicht der Geheimhaltung, sondern dazu, die chaotischen<br />
Zustände während der Sitzung zu beenden, die Ordnung wiederherzustellen und ein Weiterarbeiten<br />
der Gemeindevertretung zu ermöglichen, so dass eine Verschwiegenheitspflicht des S nicht besteht<br />
→ S ist somit nicht klagebefugt<br />
→ Die auf eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes gestützte Klage wäre unzulässig<br />
Das von S formulierte Klagebegehren beschränkt die Möglichkeiten des Rechtsstreits jedoch nicht allein auf eine<br />
Verletzung des Grundsatzes des Öffentlichkeit:<br />
II. Zulässigkeit einer auf eine Kompetenzwidrigkeit gestützten Klage<br />
1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs<br />
a. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit<br />
aa.Öffentlichkeitsausschluss als Ausübung des Hausrechts durch den Vorsitzenden<br />
entscheidend für die Frage der Kompetenzgemäßheit des Öffentlichkeitsausschlusses durch den<br />
Ge-meindevertretungsvorsitzenden W könnte § 29 I 5 KV M-V sein, wonach der Vorsitzende in den<br />
Gemeindevertretungssitzungen für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgt und das Hausrecht<br />
ausübt
→ Abgrenzung zu einer Ausübung privatrechtlichen Hausrechts nach den §§ 903, 1004 und 859 f.<br />
BGB nötig<br />
(1) Abgrenzung nach dem Zweck der Inanspruchnahme durch die Öffentlichkeit<br />
e.A.: dem Sitzungsausschluss als „actus contrarius“ zur Inanspruchnahme des Sitzungssaals<br />
durch die Besucher liegt die öffentlich-rechtliche Norm zugrunde, wenn die Zuschauer den Sitzungssaal<br />
– als öffentliche Sache im Verwaltungsgebrauch – innerhalb seines öffentlichen Widmungszweckes<br />
aufgesucht haben<br />
- der Sitzungssaal ist als auch der Anwesenheit von Zuschauern gewidmet anzusehen<br />
- zu den lauten Meinungsäußerungen ließen sich die Zuschauer erst aufgrund der hitzigen Debatte<br />
hinreißen, weshalb davon auszugehen ist, dass die Zuschauer gekommen waren, um im Rahmen<br />
des öffentlichen Widmungszweckes die Arbeit der Gemeindevertretung zu verfolgen<br />
→ demnach läge dem Öffentlichkeitsausschluss § 29 I 5 KV M-V zugrunde<br />
(2) Abgrenzung nach dem Zweck des Öffentlichkeitsausschlusses<br />
a.A.: dem Sitzungsausschluss liegt die öffentlich-rechtliche Norm zugrunde, wenn der Ausschluss<br />
einem öffentlichen Zweck diente<br />
der Öffentlichkeitsausschluss diente hier dazu, die chaotischen Zustände zu beenden, um die Ordnung<br />
wiederherzustellen und ein Weiterarbeiten der Gemeindevertretung zu ermöglichen; es handelte<br />
sich mithin um einen öffentlichen Zweck<br />
→ demnach läge dem Öffentlichkeitsausschluss § 29 I 5 KV M-V zugrunde<br />
(da beide Abgrenzungsmethoden zu demselben Ergebnis gelangen ist ein Streitentscheid untunlich)<br />
bb.Öffentlichkeitsausschluss als Ausübung speziell normierten Rechts<br />
streitentscheidende Normen könnten als speziell normierte Ausschließungsmöglichkeit aber auch die<br />
§ 29 V 2 bis 4 KV M-V sein<br />
→ die streitentscheidenden Normen sind in allen Fällen solche des öffentlichen Rechts, es handelt sich daher<br />
um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit; der Verwaltungsrechtsweg ist auch im Übrigen eröffnet<br />
2. Gerichtszuständigkeit: VG Schwerin<br />
3. Statthafte Klageart<br />
a. Erweiterte Anfechtungsfortsetzungsfeststellungsklage<br />
die Gemeindevertretungssitzung, von der die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde, ist bereits beendet;<br />
der Akt des Ausschlusses hat sich also durch Zeitablauf erledigt → es ist die auf eine Erledigung vor Klageerhebung<br />
erweiterte Anfechtungsfortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 I 4 VwGO analog in Betracht<br />
zu ziehen<br />
dann müsste sich der Ausschluss der Öffentlichkeit gegenüber S als VA darstellen; der Ausschluss hat jedoch<br />
weder intendiert noch objektiv unmittelbare Außenwirkung gegenüber S<br />
→ die erweiterte Anfechtungsfortsetzungsfeststellungsklage ist nicht einschlägig<br />
b. Allgemeine Feststellungsklage (Kommunalverfassungsstreit in Gestalt einer allg. Feststellungsklage)<br />
- (Innen-)Rechtsverhältnis, dessen Bestehen strittig ist, ist hier das vom Vorsitzenden auszuübende<br />
Hausrecht nach § 29 I 5 KV M-V, in Bezug auf das konkret strittig ist, ob es neben dem gem. § 29 V 3,<br />
2. Alt. KV M-V durch das Organ Gemeindevertretung in seiner Gesamtheit zu beschließenden Öffentlichkeitsausschluss<br />
nach § 29 V 2 KV M-V als Kompetenzgrundlage für einen Öffentlichkeitsausschluss<br />
durch allein den Gemeindevertretungsvorsitzenden dienen kann → tauglicher Klagegegenstand<br />
- Subsidiaritätsklausel § 43 II 1 VwGO: S kann sein Begehren mangels VA-Qualität des Öffentlichkeitsausschlusses<br />
nicht durch Gestaltungsklage verfolgen (s.o.); da er auch kein sonstiges Tun, Dulden oder<br />
Unterlassen begehrt, wäre auch eine allg. Leistungsklage nicht vorrangig<br />
→ allgemeine Feststellungsklage statthaft<br />
4. Besonderes Feststellungsinteresse<br />
nach wohl h.M. sind das berechtigte Feststellungsinteresse i.S.d. § 113 I 4 VwGO und das berechtigte Feststellungsinteresse<br />
i.S.d. § 43 I VwGO identisch auszulegen, so dass die im Rahmen von § 113 I 4 VwGO anerkannten<br />
Fallgruppen für erledigte VA entsprechend auch auf „erledigte“ Rechtsverhältnisse im Rahmen<br />
von § 43 I VwGO anwendbar sind<br />
- Fallgruppe der Wiederholungsgefahr: setzt konkrete Wiederholungsgefahr voraus; hier liegen für eine über<br />
die abstrakte Wiederholungsgefahr hinausgehende konkrete Wiederholungsgefahr keine Anhaltspunkte vor<br />
- Fallgruppe des Rehabilitationsinteresses: nicht einschlägig
- Fallgruppe der Vorbereitung eines zivilgerichtlichen Amtshaftungs- oder Entschädigungsprozesses: nicht<br />
einschlägig; kommt schon aufgrund des vor Klageerhebung liegenden Zeitpunktes der Erledigung nicht in<br />
Betracht<br />
- auch ein außerhalb der anerkannten Fallgruppen bestehendes besonderes Feststellungsinteresse des S ist<br />
hier nicht gegeben<br />
→ Die auf die Kompetenzwidrigkeit des Öffentlichkeitsausschlusses gestützte Klage wäre ebenfalls unzulässig;<br />
auch eine solche Klage hat keine Erfolgsaussicht.<br />
D. Zusammenfassung<br />
- Die Klage des S auf Aufnahme des strittigen Tagesordnungspunktes wird Erfolg haben<br />
- Die Klage des S gegen die Verhängung des Ordnungsgeldes wäre zulässig, aber unbegründet und hat daher keine<br />
Aussicht auf Erfolg<br />
- Die Klage des S mit dem Ziel feststellen zu lassen, dass die Öffentlichkeit zu Unrecht von der Sitzung<br />
ausgeschlossen wurde, würde bereits an der Zulässigkeit scheitern und hat keine Erfolgsaussichten.