Musterklausur
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Prof. Dr. Wolfgang März WS 2011/12<br />
Abschlussklausur (Themenkreis: Verfassungsgeschichte)<br />
im Modul „Historische und empirische Grundlagen des Rechts“<br />
(Stand: 15.2.2012)<br />
1.) Was versteht man unter dem im 19. Jahrhundert entwickelten Schlagwort „Kabinettsjustiz“?<br />
Nennen Sie ein historisches Beispiel hierfür. (10)<br />
Antwort: Mit Kabinettsjustiz werden eigenmächtige Eingriffe des Landesherrn und/oder seiner Minister („Kabinett“)<br />
in einzelne Gerichtsverfahren (in Zivil- oder auch Strafsachen) jenseits der rechtlich festgelegten normalen Zuständigkeiten<br />
bezeichnet. Der – negativ geprägte – Begriff findet sich vor allem in der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts;<br />
zuvor wurden solche Vorgänge sprachlich neutral als „Machtsprüche“ (Gegensatz zu „Rechtssprüchen“)<br />
bezeichnet, da sie der rechtlich ungebundenen, absolutistischen Machtvollkommenheit entsprangen und dort ihre<br />
gegenüber dem geschriebenen Recht bessere Legitimation fanden. Die Kabinettsjustiz stand und fiel also mit dem<br />
Absolutismus, der keine Gewaltenteilung und auch keine personelle Funktionentrennung kannte. Dem Monarchen<br />
kam dabei (neben dem Majestätsrecht der Gesetzgebung) auch das der Verwaltung und der höchsten Gerichtsbarkeit<br />
zu. Machtsprüche im Justizbereich erschienen daher – jedenfalls grundsätzlich – bis weit ins 18. Jahrhundert<br />
hinein nicht als rechtswidrige Willkürakte, sondern als rechtmäßiges Handeln des Monarchen, das die Zeitgenossen<br />
nicht als anstößig oder unerlaubt ansahen. Im Gegenteil wurden die persönlichen Entscheidungen des absoluten<br />
Herrschers, der weithin als Verkörperung des Richter-Ideals galt, von den Untertanen geradezu herausgefordert,<br />
denn ihm stand anerkanntermaßen das Recht zu, in Strafverfahren die von den dafür zuständigen Gerichten<br />
(und Juristen) erlassenen und ihm vorzulegenden Kriminalurteile zu bestätigen oder sie abzuändern, d.h. auch sie<br />
zu verschärfen. Das Schwergewicht lag dabei, wie gesagt, auf dem Gebiet der Strafrechtspflege, es gab aber auch<br />
häufig Eingriffe in zivilrechtliche Entscheidungen der ordentlichen Justiz.<br />
Ein berühmt (und berüchtigt) gewordener Fall war etwa der Müller-Arnold-Prozeß, der in fast allen verfassungsgeschichtlichen<br />
Lehrbüchern als „abschreckendes Exempel“ genannt wird. In diesem Fall griff der preußische König<br />
Friedrich II. (der Große) in einen anhängigen Zivilrechtsstreit ein und änderte das Urteil zugunsten des vor Gericht<br />
mehrmals unterlegenen Müllers Arnold ab; gegen die widerspenstigen Richter ordnete er Haft an. Ebenfalls genannt<br />
werden kann in diesem Zusammenhang der Katte-Prozeß, in dem der Jugendfreund und Vertraute eben dieses<br />
späteren preußischen Königs Friedrich II., der diesen in Jugendjahren bei der gescheiterten Flucht aus dem<br />
strengen Erziehungsregiment des Vaters – des preußischen „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. – unterstützt hatte,<br />
von einem Kriegsgericht zu lebenslanger Festungshaft verurteilt worden war. Friedrich Wilhelm I. verschärfte<br />
dieses Urteil gegen den hinhaltenden Widerstand der Richter zur Todesstrafe und befahl persönlich die Hinrichtung<br />
Kattes.<br />
2.) Welche Vorgaben für die Verfassungsordnung der Mitglieder des Deutschen Bundes enthielten<br />
seine beiden zentralen Verfassungsdokumente? (10)<br />
Antwort: In den beiden zentralen Verfassungsdokumenten des Deutschen Bundes: der Deutschen Bundesakte<br />
(DBA) vom 8. Juni 1815 und der Wiener Schlußakte (WSA) vom 15. Mai 1820, fanden sich verschiedene Vorgaben<br />
für die innere Verfassungsordnung der Mitglieder. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt (auch zeitlich) war Art. 13 DBA,<br />
wonach in allen Bundesstaaten „eine Landständische Verfassung statt finden“ sollte. Was darunter genau zu verstehen<br />
war, welcher Rahmen für die einzelnen Verfassungen der Mitglieder damit abgesteckt werden sollte, war<br />
von Anfang an undeutlich, weil mit dieser Kompromißformel Verschiedenes verbunden werden konnte und verbunden<br />
wurde. Während das restaurative Österreich Metternichs an die Wiederherstellung altständischer Verfassungszustände<br />
gedacht hatte und damit über den Deutschen Bund ein Hindernis gegen die moderne Repräsentativverfassung<br />
liberaldemokratischer Fundierung errichten wollte, befürchteten die süddeutschen Monarchien (Bayern,<br />
Württemberg, Baden) – die unter Napoleon zu modernen Staaten geworden waren, die spätabsolutistisch geführt<br />
und zentralistisch organisiert waren und die „intermediären Mächte“, vor allem den alten Adel, weitgehend entmachtet<br />
hatten – unter einer landständischen Verfassungsordnung das Wiedererstarken der partikularen Adelsherrschaft<br />
und dadurch eine Einbuße an innerer und äußerer Souveränität. Nicht von ungefähr hatten diese Mittelstaaten<br />
vor 1815 alle in ihren frühliberalen Verfassungen bzw. Verfassungsprojekten um der politischen Integration<br />
des Staatsvolkes willen eine parlamentarische Gesamtrepräsentation der Untertanen mit gleichberechtigten und<br />
rechtlich nicht an Weisungen der Wähler gebundenen Abgeordneten vorgesehen, und sie sahen in diesen Verfassungsstrukturen<br />
keinen Widerspruch zum bundesrechtlichen Rahmen des Art. 13 DBA. Mit seiner Hilfe sollte in den<br />
Ländern nicht in erster Linie ein „gleichmäßiger“, sondern ein rechtmäßiger, eben verfassungsmäßiger Zustand aufrechterhalten<br />
bzw. herbeigeführt werden. Dies konnte jedenfalls nur einer sein, der bei aller monarchischen Souveränität<br />
keine Fürstenwillkür und keine höchstpersönliche Despotie duldete.
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In eben dieser „modernen“ Verfassungspolitik sah Metternich aber die Gefahr einer Weiterentwicklung zum vollen<br />
„konstitutionellen“ oder gar zum parlamentarischen System, auch für Österreich-Ungarn. Er versuchte daher, 1819<br />
am Ende des Wiener Kongresses durch eine authentische Interpretation der Begrifflichkeit in der Bundesakte – die<br />
von dem hierzu beauftragten Politiker und Juristen Friedrich von Gentz im Sinn eines restaurativ-altständischen<br />
Verständnisses entwickelt wurde – der Verfassungsautonomie der Mitglieder des Deutschen Bundes und vor allem<br />
einer etwaigen weiteren Verfassungsmodernisierung in den süddeutschen Staaten Einhalt zu gebieten. Vor allem<br />
aber setzte Österreich zusammen mit Preußen in der Wiener Schlußakte durch, daß die um Art. 13 DBA entfachte<br />
Auslegungsdebatte formaljuristisch (im Wege des völkerrechtlichen Vertrages) entschieden und damit beendet<br />
wurde: In Art. 57 WSA wurde zwar nicht die „landständische Verfassung“ näher beschrieben, wohl aber wurden ihre<br />
Kernelemente negativ festgelegt, indem diese Vorschrift für die Mitglieder verbindlich das sog. monarchische<br />
Prinzip einführte (dazu unten Frage 3) und dadurch eine weitere Diskussion über Art. 13 DBA erübrigte. Damit war<br />
jedenfalls vorübergehend ein Bollwerk gegen demokratische Anwandlungen und Versuche der Erweiterung des<br />
parlamentarischen Einflusses auf die exekutiven Staatsgeschäfte in den Verfassungen der Mitglieder des Deutschen<br />
Bundes errichtet, das von der Bundesversammlung notfalls auch gegen die einzelnen Staaten und deren<br />
Landesherren durchgesetzt werden konnte. Auch die vordem zurückgedrängten Mitbestimmungsrechte des Adels<br />
wurden weitgehend wieder restauriert.<br />
3.) Fassen Sie mit wenigen Sätzen die wesentlichen Merkmale des „monarchischen Prinzips“<br />
zusammen. (10)<br />
Antwort: Das monarchische Prinzip, in Art. 57 WSA für die Mitglieder des Deutschen Bundes und deren Verfassungsautonomie<br />
verbindlich gemacht, sicherte dem Staatsoberhaupt die Substanz der Staatsgewalt und damit die<br />
Letztentscheidungsbefugnis in seinem Herrschaftsgebiet. Nur an der punktuellen Ausübung dieser Staatsgewalt,<br />
nicht aber an seiner substantiellen Innehabung, waren andere Organe, vor allem die parlamentarischen Vertretungskörperschaften<br />
des Staatsvolkes, mit genau festgelegten – und tendenziell restriktiv zu verstehenden – Befugnissen<br />
beteiligt. Die „Landstände“ i.S.v. Art. 13 DBA waren also nur nachgeordnete, gegenüber dem Souveränität<br />
beanspruchenden Landesherrn sekundäre Organe, die zwar im Rahmen der Verfassung begrenzten inhaltlichen<br />
Einfluß auf die Gesetzgebung ausüben konnten, aber nicht selbst „Gesetzgeber“ waren und deshalb auch nicht am<br />
Inkraftsetzen (Sanktion) der Gesetze beteiligt waren; gegen ein monarchisches Veto konnte ein Gesetz deshalb<br />
nicht zustande kommen. Damit war im Deutschen Bund rechtlich sichergestellt, daß der politische Expansionsdrang<br />
der Volksvertretungen gegenüber dem völkerrechtlich abgesicherten Prinzip monarchischer Souveränität<br />
(nach innen) letztlich nichts ausrichten konnte.<br />
Diese von Bundes wegen garantierte Souveränität konnte jedoch schon wegen der Bindung des Monarchen an die<br />
einmal von ihm gegebene Verfassung und ihrer deswegen unmöglichen einseitigen Zurücknahme nicht mehr unumschränkt<br />
(„absolut“) sein. War eine Verfassung einmal in Wirksamkeit getreten, kamen Veränderungen dieses<br />
nunmehr „konstitutionellen“ Zustandes nur noch im Rahmen der Verfassung und deren Verfahren und damit im<br />
Einvernehmen mit der Volksvertretung in Betracht; diese in Art. 56 WSA statuierte Verfassungsbindung relativierte<br />
die Souveränitätsansprüche des Monarchen erheblich. Überhaupt setzten Mitwirkungsrechte der Kammern in Angelegenheiten<br />
der Gesetzgebung, Steuer- und Kreditbewilligung, aber auch die vorgeschriebenen, monarchische<br />
Handlungen bestätigenden Gegenzeichnungen durch Minister und unabhängig von der Einflußnahme des Herrschers<br />
judizierende Gerichte der Machtausübung des Monarchen Grenzen. So gesehen lief das mit Art. 57 WSA<br />
herausgestellte monarchische Prinzip letztlich auf eine Fiktion hinaus: Es versprach mehr, als es auf Dauer rechtlich<br />
halten konnte. Es vermochte demnach nur noch insofern Ausdruck landesherrlicher Machvollkommenheit zu<br />
sein, als die qua Verfassung zur Mitwirkung berufenen Faktoren ihre Legitimation vom Monarchen ableiteten. Dieser<br />
allein blieb prinzipiell für alle Belange des Staates zuständig, doch war er nicht mehr in jedem Fall zur Alleinentscheidung<br />
berechtigt. Auf diese Weise erteilte Art. 57 WSA den landesverfassungsrechtlichen Bestrebungen nach<br />
Volkssouveränität und Gewaltenteilung eine klare Absage. Für ein rückwärtsgewandtes, spätabsolutistisches Souveränitätsverständnis<br />
ließ er aber ebensowenig Raum.
Prof. Dr. Wolfgang März WS 2011/12<br />
4.) Mit welchen in Art. 38 Abs. 1 GG genannten Wahlrechtsgrundsätzen war das Preußische<br />
Dreiklassenwahlrecht unvereinbar? Warum? (10)<br />
Antwort: Das Dreiklassenwahlrecht, wie es durch königliche Notverordnung 1849 für die Wahl zum Preußischen<br />
Abgeordnetenhaus eingeführt, in der Preußische Verfassung von 1850 dann festgeschrieben wurde und einfachgesetzlich<br />
im wesentlichen unverändert bis 1918 galt, war mit allen in Art. 38 Abs. 1 GG postulierten Wahlrechtsgrundsätzen<br />
unvereinbar:<br />
• Es war keine allgemeine Wahl, da Frauen und Fürsorgeempfänger – also Personen die für ihren Lebensunterhalt<br />
nicht selbst aufkommen konnten – nicht wahlberechtigt waren.<br />
• Es war keine unmittelbare Wahl, weil die Wähler („Urwähler“) zunächst Wahlmänner wählten, die dann in einem<br />
eigenen Wahlgang die Abgeordneten der Zweiten Kammer (bzw. des Hauses der Abgeordneten) wählten.<br />
• Es war in mehrfacher Hinsicht keine gleiche Wahl, da die Wählerschaft in jedem Wahlkreis in drei getrennte<br />
Klassen eingeteilt wurde, die je für sich ein Drittel des Steueraufkommens im konkreten Wahlkreis erbrachten.<br />
Die Urwähler in der Klasse I erbrachten dabei das oberste Drittel der Steuereinnahmen, die Urwähler der<br />
Klasse II das mittlere Drittel, die zahlenmäßig bei weitem überwiegenden Urwähler der Klasse III das unterste<br />
Drittel. Damit war der Erfolgswert der Urwähler in der Klasse I unverhältnismäßig hoch, während der Erfolgswert<br />
der Urwähler in der Klasse III außerordentlich niedrig war. Zudem waren die einzelnen Wahlkreise hinsichtlich<br />
der Zahl der Wahlberechtigten nicht gleich groß, so daß die wählerschwachen ländlichen Wahlkreise<br />
(mit mehrheitlich konservativer Ausrichtung) gegenüber den wählerstarken städtischen Wahlkreisen (mit<br />
mehrheitlich liberaler oder sozialistischer Ausrichtung) massiv privilegiert wurden.<br />
• Es war keine geheime Wahl, da sowohl die Stimmabgabe der Urwähler als auch die der Wahlmänner öffentlich<br />
stattfand und amtlich protokolliert wurde.<br />
• Damit war es wegen des Fehlens jedes Wahlgeheimnisses auch keine freie Wahl, da eine unliebsame parteipolitische<br />
Präferenz der Urwähler und Wahlmänner durch den Staat (oder auch den privaten Arbeitgeber)<br />
sanktioniert werden konnte und etwa die Beamtenschaft damit der obrigkeitlichen Kontrolle und Zurücksetzung<br />
durch den Dienstherrn (bis zur Nichtbeförderung oder Strafversetzung) ausgeliefert war.<br />
Hinweise:<br />
1. Die obigen Antworten werden in ihrer Breite und Tiefe nicht von den Prüflingen erwartet! Sie decken zur Orientierung<br />
der Korrekturassistenten das gesamte Antwortspektrum ab und würden mehr Punkte verdienen, als jeweils<br />
überhaupt erreicht werden können.<br />
2. Die vorstehenden Fragen waren Teil der Wiederholungsklausur im Winter 2011/12, so daß die Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer zum Zeitpunkt der Klausur bereits die Vorlesungen zum Staatsrecht besucht haben und diesen<br />
Ausbildungsstoff kannten. Daher konnte bei Frage 4 – ausnahmsweise – auch schon das Wissen um die Wahlrechtsgrundsätze<br />
des Grundgesetzes (Art. 38 Abs. 1) einbezogen und auf die verfassungsgeschichtliche Konstellation<br />
angewendet werden.