Reine Vernunft. Zehn Skizzen über den Aufstieg der Experten und ...

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Reine Vernunft. Zehn Skizzen über den Aufstieg der Experten und den Abschied vom Politischen I. Unter den vielen Gegensätzen, die das politische Leben untergründig seit jeher durchziehen, ist der Gegensatz von Vernunft und Interesse möglicherweise einer der wichtigsten, zugleich aber auch einer der am häufigsten unterschätzten. Heute verkörpern ihn die stark idealisierte Figur des Experten einerseits und die reale Erscheinung der politischen Parteien andererseits. Die Parteien stehen für das Interesse und den Klientelismus, damit verbunden für Selbstbezüglichkeit und Selbstbedienungsmentalität, in den Augen der meisten vielleicht auch für das Schlechte und Korrumpierte des politischen Betriebs überhaupt. Der Experte steht für eine pragmatische, auf die Dinge angewendete Vernunft, für eine nicht-interessierte Sachkunde, überhaupt für die beharrliche Orientierung an der Sache statt am eigenen Vorteil oder gar an persönlicher Eitelkeit. Wo immer ernsthafte Probleme zu lösen sind, ruft man deshalb nach dem Experten, nicht nach den Parteien oder anderen politischen Kräften. In Griechenland und Italien, möglicherweise bald auch in anderen europäischen Ländern, ist dieser Mechanismus in einer Klarheit wie selten zu beobachten; hier sollen nun Regierungen unabhängiger Technokraten richten, was die Parteien verbrochen haben. Auch hierzulande ist das Bedürfnis nach Einholung externer Expertise in den letzten Jahren stetig gewachsen. In den Fachausschüssen des Parlaments, in unzähligen Kommissionen, in der Anhörung von Sachverständigen oder der Vergabe von Gutachtenaufträgen versucht sich der Staat das Wissen, ohne das er nicht existieren kann, zu verschaffen und macht sich selber von diesem Wissen abhängig. Selbst sein Proprium, die Fabrikation der Gesetze, hat er versuchsweise bereits ausgelagert und an international operierende Anwaltskanzleien übertragen, die darüber möglicherweise auch den Inhalt dieser Gesetze vorprägen können 1 . Für die Ethik hält er sich schon länger ein eigenes Beratungsgremium, als könne in ethischen Fragen nicht jeder Bauer mindestens genauso kompetent urteilen wie ein studierter Ethiker. Unter allen Disziplinen aber ist hierzulande ist vor allem die Ökonomie von einem Glanz umgeben, der nicht einmal dadurch erschüttert wird, dass sie ihrerseits in ganz unterschiedliche Schulen zerfällt und möglicherweise schon deshalb als befangen gelten muss, weil sie die Welt, die sie uns erklären soll, wesentlich selbst hervorgebracht hat 2 . Aber der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung trägt ungebrochen den Ehrentitel der Fünf Weisen, seine Mitglieder gelten als die Hüter des ökonomischen Weltwissens, und möglicherweise gibt es nicht wenige, die sich fragen, ob man in Zeiten wie diesen die Führung der Staatsgeschäfte nicht besser gleich in ihre Hände legen sollte. II. In der Sache ist die Vorstellung, dass der Staat nicht von Amateuren oder Laien geführt werden soll, sondern von denen, die sich darauf auf eine besondere Weise verstehen, alles andere als neu, und von Anfang verband sich mit ihr auch die Hoffnung auf unparteiliche, vernünftige Herrschaft. In der politischen Ikonographie entspricht ihr seit jeher das Bild vom Staat als „Schiff“ und dem des „Steuermanns“, der es als Einziger kundig lenken kann, die Untiefen des Meeres kennt, den Wind und die Gezeiten zu berechnen versteht. In einem klassischen Gleichnis stellt Platon hierzu das Kontrastmodell vor und zeigt, wozu es führen kann, wenn es daran fehlt, ein 1 Zu solchen „Ankereffekten“ J. Krüper, Law firm – legibus solutus?, in: Juristenzeitung 2010, 655ff. 2 Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, 2010/11, S. 8.

<strong>Reine</strong> <strong>Vernunft</strong>. <strong>Zehn</strong> <strong>Skizzen</strong> <strong>über</strong> <strong>den</strong> <strong>Aufstieg</strong> <strong>der</strong> <strong>Experten</strong> <strong>und</strong> <strong>den</strong> Abschied vom<br />

Politischen<br />

I.<br />

Unter <strong>den</strong> vielen Gegensätzen, die das politische Leben untergründig seit jeher durchziehen, ist<br />

<strong>der</strong> Gegensatz von <strong>Vernunft</strong> <strong>und</strong> Interesse möglicherweise einer <strong>der</strong> wichtigsten, zugleich aber<br />

auch einer <strong>der</strong> am häufigsten unterschätzten. Heute verkörpern ihn die stark idealisierte Figur des<br />

<strong>Experten</strong> einerseits <strong>und</strong> die reale Erscheinung <strong>der</strong> politischen Parteien an<strong>der</strong>erseits. Die Parteien<br />

stehen für das Interesse <strong>und</strong> <strong>den</strong> Klientelismus, damit verbun<strong>den</strong> für Selbstbezüglichkeit <strong>und</strong><br />

Selbstbedienungsmentalität, in <strong>den</strong> Augen <strong>der</strong> meisten vielleicht auch für das Schlechte <strong>und</strong> Korrumpierte<br />

des politischen Betriebs <strong>über</strong>haupt. Der Experte steht für eine pragmatische, auf die<br />

Dinge angewendete <strong>Vernunft</strong>, für eine nicht-interessierte Sachk<strong>und</strong>e, <strong>über</strong>haupt für die beharrliche<br />

Orientierung an <strong>der</strong> Sache statt am eigenen Vorteil o<strong>der</strong> gar an persönlicher Eitelkeit. Wo<br />

immer ernsthafte Probleme zu lösen sind, ruft man deshalb nach dem <strong>Experten</strong>, nicht nach <strong>den</strong><br />

Parteien o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en politischen Kräften. In Griechenland <strong>und</strong> Italien, möglicherweise bald<br />

auch in an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>n, ist dieser Mechanismus in einer Klarheit wie selten zu<br />

beobachten; hier sollen nun Regierungen unabhängiger Technokraten richten, was die Parteien<br />

verbrochen haben. Auch hierzulande ist das Bedürfnis nach Einholung externer Expertise in <strong>den</strong><br />

letzten Jahren stetig gewachsen. In <strong>den</strong> Fachausschüssen des Parlaments, in unzähligen Kommissionen,<br />

in <strong>der</strong> Anhörung von Sachverständigen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vergabe von Gutachtenaufträgen versucht<br />

sich <strong>der</strong> Staat das Wissen, ohne das er nicht existieren kann, zu verschaffen <strong>und</strong> macht sich<br />

selber von diesem Wissen abhängig. Selbst sein Proprium, die Fabrikation <strong>der</strong> Gesetze, hat er<br />

versuchsweise bereits ausgelagert <strong>und</strong> an international operierende Anwaltskanzleien <strong>über</strong>tragen,<br />

die dar<strong>über</strong> möglicherweise auch <strong>den</strong> Inhalt dieser Gesetze vorprägen können 1 . Für die Ethik hält<br />

er sich schon länger ein eigenes Beratungsgremium, als könne in ethischen Fragen nicht je<strong>der</strong><br />

Bauer mindestens genauso kompetent urteilen wie ein studierter Ethiker. Unter allen Disziplinen<br />

aber ist hierzulande ist vor allem die Ökonomie von einem Glanz umgeben, <strong>der</strong> nicht einmal<br />

dadurch erschüttert wird, dass sie ihrerseits in ganz unterschiedliche Schulen zerfällt <strong>und</strong> möglicherweise<br />

schon deshalb als befangen gelten muss, weil sie die Welt, die sie uns erklären soll,<br />

wesentlich selbst hervorgebracht hat 2 . Aber <strong>der</strong> Sachverständigenrat zur Begutachtung <strong>der</strong> gesamtwirtschaftlichen<br />

Entwicklung trägt ungebrochen <strong>den</strong> Ehrentitel <strong>der</strong> Fünf Weisen, seine Mitglie<strong>der</strong><br />

gelten als die Hüter des ökonomischen Weltwissens, <strong>und</strong> möglicherweise gibt es nicht<br />

wenige, die sich fragen, ob man in Zeiten wie diesen die Führung <strong>der</strong> Staatsgeschäfte nicht besser<br />

gleich in ihre Hände legen sollte.<br />

II.<br />

In <strong>der</strong> Sache ist die Vorstellung, dass <strong>der</strong> Staat nicht von Amateuren o<strong>der</strong> Laien geführt wer<strong>den</strong><br />

soll, son<strong>der</strong>n von <strong>den</strong>en, die sich darauf auf eine beson<strong>der</strong>e Weise verstehen, alles an<strong>der</strong>e als neu,<br />

<strong>und</strong> von Anfang verband sich mit ihr auch die Hoffnung auf unparteiliche, vernünftige Herrschaft.<br />

In <strong>der</strong> politischen Ikonographie entspricht ihr seit jeher das Bild vom Staat als „Schiff“<br />

<strong>und</strong> dem des „Steuermanns“, <strong>der</strong> es als Einziger k<strong>und</strong>ig lenken kann, die Untiefen des Meeres<br />

kennt, <strong>den</strong> Wind <strong>und</strong> die Gezeiten zu berechnen versteht. In einem klassischen Gleichnis stellt<br />

Platon hierzu das Kontrastmodell vor <strong>und</strong> zeigt, wozu es führen kann, wenn es daran fehlt, ein<br />

1 Zu solchen „Ankereffekten“ J. Krüper, Law firm – legibus solutus?, in: Juristenzeitung 2010, 655ff.<br />

2 Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, 2010/11, S. 8.


Schiffsherr etwa die Mannschaft nur mittels seiner körperlichen Kraft dominiert, sonst aber in<br />

seinem Fach wenig beschlagen ist 3 . Unter <strong>den</strong> Matrosen setzt sich dann bald die Ansicht durch,<br />

man brauche, um ein Schiff zu lenken, von <strong>der</strong> Seefahrt gar nichts zu verstehen, es sei auch gar<br />

keine Kunst, die man lernen könne, son<strong>der</strong>n je<strong>der</strong> beherrsche sie, man müsse nur einfach drauflosfahren<br />

fahren, <strong>der</strong> Rest werde sich schon fin<strong>den</strong>. Daraufhin beginnt eine Meuterei, es <strong>über</strong>nimmt<br />

mal dieser, mal jener das Ru<strong>der</strong>; <strong>über</strong>haupt entsteht eine Atmosphäre, in <strong>der</strong> ein K<strong>und</strong>iger,<br />

wenn er <strong>den</strong>n endlich erschiene, nur dem Gelächter <strong>und</strong> <strong>der</strong> allgemeinen Verachtung anheimfiele.<br />

Wohin es das Schiff unter diesen Bedingungen verschlägt, mag sich dann je<strong>der</strong> selber <strong>den</strong>ken <strong>und</strong><br />

wird an <strong>der</strong> betreffen<strong>den</strong> Stelle auch gar nicht näher ausgeführt. Das positive Gegenstück dazu,<br />

die Vorstellung von <strong>der</strong> richtigen Ordnung <strong>der</strong> Verhältnisse, findet sich im politischen Testament<br />

Friedrichs II., das sich schon in <strong>der</strong> Einleitung als ein Programm zu erkennen gibt, wie man „die<br />

stürmischen Zonen des politischen Meeres“ durchschifft <strong>und</strong> welche „Klippen“ es sind, die das<br />

„Staatsru<strong>der</strong>“ zu mei<strong>den</strong> hat. Gelingen kann dies nur, wenn <strong>der</strong> Fürst selbst es je<strong>der</strong>zeit fest in<br />

<strong>der</strong> Hand hält, weil nur er das Gedeihen des Ganzen im Auge hat, alle Subordinierten aber stets<br />

bloß ihre eigenen Interessen verfolgen. Auch das folgt wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> See- <strong>und</strong> Schiffsmetaphorik,<br />

die die Notwendigkeit <strong>über</strong>legener Sachk<strong>und</strong>e suggeriert. Noch einmal an<strong>der</strong>thalb Jahrhun<strong>der</strong>te<br />

später wird es dann <strong>der</strong> „Lotse“ sein, <strong>der</strong> allein <strong>über</strong> <strong>den</strong> notwendigen Weitblick zur Führung des<br />

Schiffes verfügt; ist er erst einmal von Bord gegangen, treibt auch jenes orientierungslos dahin.<br />

III.<br />

Die stillschweigende Prämisse solcher Bil<strong>der</strong> ist das Vorhan<strong>den</strong>sein einer objektiven, unbezweifelten<br />

<strong>Vernunft</strong>; es ist die Vorstellung, dass staatliches Handeln einer ihm von innen her eingeschriebenen<br />

Rationalität zu folgen hat, die nicht auf subjektiven Zwecksetzungen <strong>und</strong> Interessen<br />

beruht, son<strong>der</strong>n im Wesen <strong>der</strong> Dinge selbst begründet liegt. Von ihm aus entscheidet sich, welche<br />

Richtung einzuschlagen ist, welche Entscheidungen zu treffen sind <strong>und</strong> welche Mittel zu <strong>der</strong>en<br />

Umsetzung gewählt wer<strong>den</strong> müssen. Heute hat sich <strong>der</strong> Begriff des Sachzwangs eingebürgert, um<br />

diese Art <strong>der</strong> Vorherbestimmtheit zu kennzeichnen. Vor dem Eintritt in die Neuzeit ergab sie<br />

sich aus <strong>der</strong> umfassen<strong>der</strong>en Einordnung allen Daseins in höhere Sinnzusammenhänge, in die<br />

universale Weltvernunft <strong>der</strong> Griechen <strong>und</strong> Römer o<strong>der</strong> <strong>den</strong> göttlichen Schöpfungsplan des christlichen<br />

Mittelalters, die je auf ihre Weise auch das Woher <strong>und</strong> Wohin des Menschen bestimmten.<br />

Auch das Handeln des Staates bezog daraus folgerichtig seine innere Zielbestimmung, an <strong>der</strong> es<br />

auszurichten war. Diese Zielbestimmung mochte man die Glückseligkeit, die göttliche Verheißung,<br />

später das Gemeinwohl, die Staatsräson o<strong>der</strong> sonstwie nennen, aber was es immer es war,<br />

es lag allem Entschei<strong>den</strong> voraus, <strong>und</strong> es gab einzelne von Veranlagung, Natur o<strong>der</strong> Geburt beson<strong>der</strong>s<br />

Berufene, die es zu erkennen <strong>und</strong> umzusetzen in <strong>der</strong> Lage waren. Noch <strong>der</strong> Herrscher im<br />

Gottesgna<strong>den</strong>tum regierte so nicht nur aufgr<strong>und</strong> des Zufalls seiner Geburt, son<strong>der</strong>n kraft <strong>der</strong> ihm<br />

von Gott verliehenen Autorität seines Wissens, <strong>der</strong> inneren Befähigung zur Herrschaft <strong>und</strong> einer<br />

<strong>über</strong>legenen Einsicht, die ihm die Teilhabe an jener Vernünftigkeit zu vermitteln vermochte. Er<br />

war gleichsam <strong>der</strong> geborene Experte für das Herrschen, ein Experte von Natur aus, so wie auch<br />

das, was er tat, ein beson<strong>der</strong>es <strong>Experten</strong>tum voraussetzte, eine eigene „Kunst“ war, <strong>über</strong> die man<br />

ein unk<strong>und</strong>iges Publikum zwar nachträglich unterrichten, auf die selbst sich wie bei einer Geheimwissenschaft<br />

aber immer nur wenige verstan<strong>den</strong> 4 . Blickt man von heute aus zurück auf diese<br />

Welt, so erscheint sie auf eine fast idyllische Weise fraglos <strong>und</strong> schlicht. Das Moralische ist vom<br />

3 Platon, Der Staat, Sechstes Buch, III <strong>und</strong> IV.<br />

4 A. Müller, Elemente <strong>der</strong> Staatskunst, 2 Bde., 1815.


Unmoralischen streng geschie<strong>den</strong>, man hat sichere Kriterien für Richtig <strong>und</strong> Falsch; dass Menschen<br />

unterschiedliche Interessen <strong>und</strong> Bedürfnisse haben können, ist noch ganz unbekannt. Im<br />

Gr<strong>und</strong>e fehlt damit alles, was man heute in einem spezifischen Sinne als „politisch“ bezeichnen<br />

würde: die Erfahrung von Kontingenz, ein Sinn für die Verfügbarkeit menschlicher Ordnung,<br />

<strong>über</strong>haupt alles Subjektive o<strong>der</strong> Ideologische; es ist eine vor- <strong>und</strong> unpolitische Welt, die mit sich<br />

selbst im <strong>Reine</strong>n ist <strong>und</strong> weiß, wohin sie will. Die Herrschaft <strong>der</strong> reinen <strong>Vernunft</strong>, von <strong>der</strong> in<br />

Gestalt einer Herrschaft des reinen Sachverstandes auch heute mancher wie<strong>der</strong> träumen mag,<br />

erweist sich von hier aus als die ewig attraktive Idee einer Herrschaft des Unpolitischen: Alle Gegensätze<br />

sind darin aufgehoben, alle Konflikte durch die Verpflichtung auf das Richtige <strong>und</strong> Unabweisbare<br />

<strong>über</strong>wun<strong>den</strong>.<br />

IV.<br />

Die neuzeitliche Staatstheorie hat an sich mit dieser Vorstellung einer <strong>über</strong>geordneten Vernünftigkeit,<br />

die im Staat nur noch zu realisieren sei, für immer gebrochen <strong>und</strong> an <strong>der</strong>en Stelle ein<br />

Denken vom Interesse her gesetzt. Der Beginn dieser Entwicklung wird meistens mit Machiavelli<br />

datiert, <strong>der</strong> in seinem „Principe“ das wahre Antlitz <strong>der</strong> Macht vorgeführt <strong>und</strong> keine ihrer hässlichen<br />

Seiten ausgespart hat. So amoralisch <strong>und</strong> zynisch das von <strong>den</strong> Zeitgenossen bei seiner Veröffentlichung<br />

empfun<strong>den</strong> wurde, so wenig lässt es sich in seiner <strong>über</strong> die Jahrhun<strong>der</strong>te hinausweisen<strong>den</strong><br />

Wirkung <strong>über</strong>schätzen. Für je<strong>der</strong>mann war nun zu sehen, dass die Ordnung, in dem man<br />

lebte, nicht vom Himmel gefallen, son<strong>der</strong>n Menschenwerk mit allen menschlichen Unzulänglichkeiten<br />

war; nicht eine höhere <strong>Vernunft</strong> o<strong>der</strong> die göttliche Weltweisheit regierten darin, son<strong>der</strong>n<br />

eben Interessen <strong>und</strong> manchmal sogar die Nie<strong>der</strong>tracht. Die Folgen treten in mehrfacher Hinsicht<br />

ein. Zum einen erwacht mit dieser Zurückführung des Staates – o<strong>der</strong> dem, was man seinerzeit<br />

dafür hielt – auf menschliches Maß ein neues Bewusstsein für seine prinzipielle Formbarkeit <strong>und</strong><br />

Gestaltbarkeit, eine Ahnung davon, dass die Ausübung von Herrschaft eine zweckrationale, möglicherweise<br />

auch kalte Technik ist. Sichtbar wird dies darin, dass, wenn fortan vom Staat die Rede<br />

ist, dies nun immer öfter im Bild <strong>der</strong> „Maschine“ geschieht. Der Umgang damit mochte dann<br />

weiter eine beson<strong>der</strong>e Kunstfertigkeit o<strong>der</strong> ein Geschick voraussetzen, <strong>über</strong> das nicht je<strong>der</strong> verfügte.<br />

Aber ein solcher praktischer Umgang war prinzipiell möglich, vielleicht auch erlernbar, so<br />

wie eben auch eine Maschine vom Menschen beherrscht <strong>und</strong> zum eigenen Nutzen verwendet<br />

wer<strong>den</strong> kann 5 . Zum an<strong>der</strong>en <strong>und</strong> damit zusammenhängend ist jede Verbindung zu einer höheren<br />

Sphäre gekappt; <strong>der</strong> Staat tritt heraus aus <strong>den</strong> Fesseln <strong>der</strong> Konvention, aus religiösen Bindungen<br />

<strong>und</strong> transzen<strong>den</strong>talem Ordnungsrahmen. Damit eröffnet sich erstmals ein Raum autonomer politischer<br />

Gestaltung, in dem jenseits von sachlicher Vorherbestimmung eigene, selbst gesetzte Ziele<br />

<strong>und</strong> Interessen verfolgt wer<strong>den</strong> können. Zugleich wer<strong>den</strong> Konflikte <strong>über</strong> diese Interessen möglich,<br />

die als politische Gegensätze formuliert <strong>und</strong> ausgetragen wer<strong>den</strong> können. Man muss nicht<br />

wie Carl Schmitt die Möglichkeit solcher Gegensätze zu einem existenziellen Fre<strong>und</strong>-Feind-<br />

Konflikt <strong>über</strong>höhen o<strong>der</strong> wie seine postmarxistischen Gefolgsleute Politik aus dem Antagonismus<br />

unvereinbarer Hegemonieansprüche erklären, um zu sehen, dass damit das Politische in seinem<br />

heutigen Sinne erst beginnt 6 . Von Politik kann seitdem nur dort die Rede sein, wo es nicht<br />

um die Fügung in ein Schicksal o<strong>der</strong> eine Anpassung an <strong>über</strong>geordnete Sachzwänge geht, son<strong>der</strong>n<br />

wo Interessen gegeneinan<strong>der</strong> stehen, zwischen <strong>den</strong>en eine Entscheidung zu treffen ist;<br />

5 Zur eigenartigen Ambivalenz dieser Metapher B. Stolberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, 1985, S. 101ff.,<br />

6 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl. 1963; daran anknüpfend etwa Ch. Mouffe, Über das Politische,<br />

2007.


mochte <strong>der</strong>en tatsächliche Durchsetzung vorerst dann weiter davon abhängen, wer die stärkeren<br />

Bataillone aufzubieten hatte.<br />

V.<br />

Von dieser Entdeckung des Interesses als Triebkraft politischer Entscheidungen war es nur noch<br />

ein kleiner Schritt, das Verfahren zu <strong>der</strong>en Herstellung zu demokratisieren. Kommt es auf das<br />

Interesse <strong>und</strong> <strong>den</strong> egoistischen Willen an, lässt sich irgendwann nicht mehr begrün<strong>den</strong>, warum<br />

nur noch diejenigen einzelner beson<strong>der</strong>s Privilegierter zählen sollen. Statt dessen sind prinzipiell<br />

alle an diesen Entscheidungen <strong>und</strong> damit an <strong>der</strong> Ausübung <strong>der</strong> Staatsgewalt zu beteiligen. Was<br />

damit unter <strong>der</strong> Hand aber auch verabschiedet wird, ist die Vorstellung, dass es zu dieser Beteiligung<br />

noch einer beson<strong>der</strong>en Fachkompetenz bedürfe; es ist ganz offensichtlich, dass sich das<br />

nicht halten lässt, wo je<strong>der</strong> mitre<strong>den</strong> kann. Statt dessen <strong>über</strong>nehmen nun die ausgewiesenen<br />

Nicht-<strong>Experten</strong> die Macht, so wie heute etwa die Aktivisten <strong>der</strong> Occupy-Bewegung, die sich gegen<br />

die Finanzmärkte erheben, gerade keine Finanzexperten sind <strong>und</strong> sich in die Funktionsweise<br />

dieser Märkte – wenn <strong>über</strong>haupt – allenfalls notdürftig eingelesen haben; anstatt zu verstehen,<br />

was ein Kredit<strong>der</strong>ivat ist o<strong>der</strong> wie man damit arbeitet, reicht ihnen die Gewissheit, dass es Teufelszeug<br />

ist. Das Laienhafte <strong>und</strong> <strong>der</strong> Dilettantismus sind <strong>der</strong> Demokratie damit von Anfang an<br />

wesenseigen, <strong>und</strong> mit einer gewissen Überspitzung lässt sich formulieren, dass in ihr zusammen<br />

mit <strong>der</strong> Herrschaft des Volkes auch die Herrschaft <strong>der</strong> Laien <strong>und</strong> <strong>der</strong> Dilettanten heraufzieht. In<br />

<strong>der</strong> Demokratietheorie ist dieser Umstand allerdings nicht unbemerkt geblieben <strong>und</strong> hat seit jeher<br />

Anlass zu einigen erschrockenen Ausweichreaktionen gegeben. Bei dem Radikaldemokraten<br />

Rousseau ist dazu etwa zu lesen, dass zwar <strong>der</strong> Volkswille seiner inneren Natur nach vernünftig<br />

sei <strong>und</strong> niemals irre, weil er allein das Gemeinwohl repräsentiere. Er könne aber an<strong>der</strong>erseits in<br />

seinen konkreten Äußerungen leicht hinters Licht geführt wer<strong>den</strong>, so dass man ihm <strong>den</strong> rechten<br />

Weg immer auch weisen müsse; man müsse ihm deshalb die Dinge bisweilen so präsentieren, wie<br />

sie seien, bisweilen aber auch so, wie er sie sehen solle 7 . In realistischen o<strong>der</strong> skeptischen Demokratietheorien<br />

führt dies demgegen<strong>über</strong> zu <strong>der</strong> Empfehlung, <strong>der</strong> Bürger möge sich jenseits <strong>der</strong><br />

Abgabe seiner Wahlstimme aus dem politischen Geschehen so weit wie möglich heraushalten,<br />

weil er davon ohnehin intellektuell <strong>über</strong>for<strong>der</strong>t sei; er argumentiere dann auf eine Weise, die er<br />

innerhalb <strong>der</strong> Sphäre seiner eigenen Interessen bereitwillig als infantil erkennen würde 8 . Überwiegend<br />

wird demgegen<strong>über</strong> gesagt, dass demokratische Verfahren zumindest eine beschränkte Gewähr<br />

ihrer Vernünftigkeit bieten, weil darin prinzipiell jedes Argument repräsentiert <strong>und</strong> gehört<br />

wer<strong>den</strong> könne 9 . In <strong>der</strong> praktischen Ausgestaltung sorgt das Prinzip <strong>der</strong> Repräsentation für einen<br />

gewissen Filter gegen die ungehin<strong>der</strong>te Durchsetzung des Interesses <strong>und</strong> damit möglicherweise<br />

auch <strong>der</strong> Unvernunft: Die Repräsentanten können ein eigenes Ethos des Gemeinwohls ausbil<strong>den</strong><br />

<strong>und</strong> müssen nicht immer umsetzen, was im Volk je nach Stimmung gedacht <strong>und</strong> empfun<strong>den</strong><br />

wird. Aber wenn sie wirklich die „Vertreter des ganzen Volkes“ sind, als die sie in Art. 38 des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes vorgestellt wer<strong>den</strong>, bleiben sie möglicherweise <strong>der</strong> ursprünglichen Idee nach doch<br />

in Fragen des Politischen ebenso ahnungslos <strong>und</strong> in <strong>der</strong>selben fachlichen Beschränktheit befangen<br />

wie dieses.<br />

7 Rousseau, Du Contrat Social, 1762, dt. Vom Gesellschaftsvertrag, II 6.<br />

8 J. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus <strong>und</strong> Demokratie, 1950, S. 416f, mit weiteren Wendungen in diese Richtung:<br />

„Sein Denken wird assoziativ <strong>und</strong> affektmäßig“, „Er wird wie<strong>der</strong> zum Primitiven“ etc.<br />

9 Chr. Möllers, Demokratie – Zumutungen <strong>und</strong> Versprechen, 2. Aufl. 2009, S. 44.


VI.<br />

Dabei ist natürlich je<strong>der</strong>mann klar, dass Fachwissen, Sachverstand <strong>und</strong> eine pragmatische <strong>Vernunft</strong><br />

angesichts <strong>der</strong> zunehmen<strong>den</strong> Komplexität zu ordnen<strong>den</strong> Verhältnisse nicht entbehrlich<br />

sind <strong>und</strong> von irgendwoher beschafft wer<strong>den</strong> müssen. Das Mittel, das sie einführt <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Folge<br />

auch die Herrschaft von Dilettanten o<strong>der</strong> bestenfalls Semiprofessionellen <strong>über</strong>haupt erst möglich<br />

macht, ist die organisatorische Trennung von Entscheidung <strong>und</strong> Ausführung. Die Entscheidung<br />

als solche bleibt ihrer Idee nach in <strong>der</strong> Sphäre des Politischen, wo sie als eine freie, an politischen<br />

Kriterien orientierte Auswahl unter Alternativen ermöglicht wird; hier prallen die Interessen<br />

<strong>und</strong> unterschiedlichen Vorstellungen aufeinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> haben ihre sachliche Berechtigung. Die<br />

Ausführung wird demgegen<strong>über</strong> eine Sache <strong>der</strong> Administration, um die sich etwa ab dem 16.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t eine zunehmend spezialisierte Bürokratie kümmert. Die im Testament Friedrichs II.<br />

noch geäußerte Auffassung, <strong>der</strong> Herrscher müsse im Prinzip alles selbst in die Hand nehmen <strong>und</strong><br />

könne dies auch, weil ein klarer Kopf <strong>den</strong> Kernpunkt je<strong>der</strong> Frage mit Leichtigkeit erfasse, findet<br />

deshalb in <strong>den</strong> realen Verhältnissen immer weniger eine Stütze. Statt dessen wird dies im praktischen<br />

Ergebnis die Aufgabe eines professionellen Stabes, <strong>der</strong> das dazu notwendige Wissen versammelt<br />

<strong>und</strong> dessen Wirken selbst an <strong>den</strong> Universitäten zunehmend verwissenschaftlicht wird.<br />

Ihrem eigentlichen Wesen <strong>und</strong> Selbstverständnis nach aber bleibt diese Verwaltung unpolitisch;<br />

sie exekutiert mit dem notwendigen Sachverstand <strong>und</strong> <strong>der</strong> genauen Kenntnis <strong>der</strong> Verhältnisse vor<br />

Ort ein Programm, das sie nicht selber beschlossen hat. Vom Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts an wird<br />

dieses Programm durch das Recht verkörpert, die Verwaltung selbst mehr <strong>und</strong> mehr rechtlich<br />

gesteuerte Verwaltung. Dadurch verstärkt sich noch einmal die Vorstellung ihres prinzipiell unpolitischen<br />

Charakters; hier versammeln sich <strong>der</strong> Idee nach die Fachleute, von <strong>den</strong>en je<strong>der</strong> <strong>den</strong><br />

ihm zugewiesenen Aufgabenbereich beherrscht, aber ohne <strong>den</strong> Überblick <strong>über</strong> das Ganze handelt,<br />

<strong>der</strong> weiterhin oben auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> politischen Entscheidung angesiedelt bleibt. Heute<br />

weiß man, dass es eine solche unpolitische Verwaltung nicht gibt, dass auch auf dieser Ebene<br />

politische Entscheidungen fallen <strong>und</strong> die Vorstellung davon zu oft nur dazu diente, eine noch in<br />

vergangenen Denkweisen verhaftete Verwaltung gegen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> politischen Verhältnisse<br />

zu immunisieren. Ebenso weiß man, dass aus diesen Grün<strong>den</strong> zumindest die Spitze <strong>der</strong><br />

Verwaltung nach Parteibuch besetzt wird <strong>und</strong> dies in gewissen Grenzen auch legitim ist. Aber in<br />

<strong>den</strong> Beamtengesetzen gilt <strong>der</strong> Beamte noch heute als Diener des Staates, nicht einer Partei, man<br />

verpflichtet ihn zu politischer Zurückhaltung <strong>und</strong> Neutralität, <strong>und</strong> darin lebt noch etwas von <strong>der</strong><br />

alten Vorstellung, dass das reine Fachwissen einen objektiven, unpolitischen Charakter hat <strong>und</strong><br />

nur dort gebraucht wird, wo es um die kleinteilige Umsetzung größerer Wert- o<strong>der</strong> Richtungsentscheidungen<br />

geht.<br />

VII.<br />

Mit <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> Staatsaufgaben hat sich indessen die Notwendigkeit <strong>der</strong> Einführung von<br />

Sachverstand noch einmal potenziert <strong>und</strong> lässt sich beobachten, wie dieser nun zusehends auch<br />

auf die Ebene <strong>der</strong> politischen Entscheidung selbst vordringt. Solange sich <strong>der</strong> Staat, wie es dem<br />

ursprünglichen Programm des Liberalismus entsprach, im Wesentlichen darauf beschränkte, die<br />

äußere Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung einer sich ansonsten weitgehend selbst regulieren<strong>den</strong> Gesellschaft<br />

zu gewährleisten, mochten sich die meisten <strong>der</strong> zur Lösung anstehen<strong>den</strong> Probleme noch<br />

mit <strong>den</strong> Mitteln des Alltagsverstandes bewältigen lassen. Der regelungsintensive Vorsorgestaat,<br />

dem eine Globalverantwortung für die Lösung gesellschaftlicher Probleme aller Art zugewiesen<br />

ist, <strong>der</strong> mit technologischen Risiken ebenso fertig wer<strong>den</strong> soll wie mit dem demographischen


Wandel <strong>und</strong> <strong>den</strong> Finanzierungsproblemen <strong>der</strong> Renten- o<strong>der</strong> Krankenversicherung, kommt demgegen<strong>über</strong><br />

schon bei <strong>der</strong> gr<strong>und</strong>legen<strong>den</strong> Herstellung seiner Entscheidungen nicht ohne spezifischen<br />

Sachverstand aus. Bereits die Erzeugung <strong>der</strong> Gesetze als <strong>der</strong> demokratische Gr<strong>und</strong>vorgang<br />

ist deshalb angesichts <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Verhältnisse, auf die hin sie entworfen wer<strong>den</strong>, auf<br />

fortwährende sachverständige Begleitung <strong>und</strong> Betreuung angewiesen. Sie wer<strong>den</strong> deshalb im Parlament<br />

in Fachausschüssen behandelt, die ihrerseits in ihren Anhörungen regelmäßig die Expertise<br />

von außen einholen, <strong>und</strong> immer häufiger müssen selbst die gr<strong>und</strong>legen<strong>den</strong> Weichenstellungen<br />

in Kommissionen, wissenschaftlichen Beiräten <strong>und</strong> <strong>Experten</strong>gruppen – zur Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

des Arbeitsmarktes, zur Reform <strong>der</strong> Rentenversicherung, zur Neuregelung <strong>der</strong> Parteienfinanzierung<br />

– vorgeklärt wer<strong>den</strong>. Vor allem steigt die Bedeutung <strong>der</strong> Ministerialbürokratie, in <strong>der</strong> das<br />

meiste relevante Wissen versammelt ist <strong>und</strong> die namentlich gegen<strong>über</strong> dem Parlament praktisch<br />

immer <strong>über</strong> einen erheblichen Informationsvorsprung verfügt. Gleichwohl bleibt nach außen<br />

etwas von <strong>der</strong> sympathischen Vorstellung aufrechterhalten, dass es in letzter Konsequenz wie<strong>der</strong><br />

fachliche Laien <strong>und</strong> Inkompetente sind, die auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> genuin politischen Unterscheidungen<br />

handeln. Die Gesamtentscheidung wird im Plenum des Parlaments zuletzt wie<strong>der</strong><br />

von <strong>den</strong>en getroffen, die bloß die ungefähre Richtung zu beurteilen vermögen <strong>und</strong> von <strong>den</strong> Einzelheiten<br />

ansonsten nicht mehr verstehen als <strong>der</strong> normale Zeitungsleser auch. Und bis in die<br />

Auswahl <strong>der</strong> obersten Repräsentanten hinein sorgt das ehrwürdige Prinzip demokratischer<br />

Gleichheit dafür, dass je<strong>der</strong> jede Aufgabe <strong>über</strong>nehmen kann, unabhängig davon, ob er dafür<br />

<strong>über</strong>haupt <strong>über</strong> die fachliche Vorbildung verfügt. Ein Verteidigungsminister muss deshalb nicht<br />

selber „gedient“ haben, <strong>der</strong> Finanzminister kann auch Jura studiert haben, <strong>der</strong> Wirtschaftsminister<br />

von Haus aus Augenarzt sein. Am wenigsten erfor<strong>der</strong>lich ist eine spezifische Sachk<strong>und</strong>e nach<br />

wie vor an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung; hier tut es nach landläufiger Auffassung ein Generalist mit<br />

soli<strong>der</strong> Allgemeinbildung <strong>und</strong> dem Spezialwissen, wie man beliebige Inhalte durchsetzen kann.<br />

VIII.<br />

Sachverständige, die zu Ausschussberatungen im B<strong>und</strong>estag o<strong>der</strong> <strong>den</strong> Landesparlamenten herangezogen<br />

wer<strong>den</strong>, beklagen sich deshalb nach ihrer Befragung oft, man habe ihnen gar nicht richtig<br />

zugehört, sie seien nur als Staffage geholt wor<strong>den</strong>, die eigentliche Entscheidung sei von <strong>den</strong><br />

politischen Parteien längst vorher getroffen. Was ihnen als Missbrauch ihrer fachlichen Reputation<br />

vorkommt, betrifft aber in Wahrheit <strong>den</strong> Kern politischen Entschei<strong>den</strong>s, das immer auch<br />

mehr <strong>und</strong> an<strong>der</strong>es ist als die Anwendung von <strong>Experten</strong>wissen, wenn es <strong>über</strong>haupt als politisches<br />

bezeichnet wer<strong>den</strong> soll. Es kann aber als solches folgerichtig nur weiterbestehen, wenn es auch in<br />

Zukunft noch i<strong>den</strong>tifizierbare Gegensätze gibt, zwischen <strong>den</strong>en <strong>über</strong>haupt entschie<strong>den</strong> wer<strong>den</strong><br />

kann. Solche Gegensätze können sich aus bestimmten ideologischen Gr<strong>und</strong>haltungen ergeben,<br />

sie können in einer parteipolitischen Farbenlehre zum Ausdruck kommen; idealerweise bündeln<br />

sie sich in <strong>den</strong> bekannten klassischen Unterscheidungen: links <strong>und</strong> rechts, progressiv <strong>und</strong> konservativ,<br />

marktliberal <strong>und</strong> sozialstaatlich, Unterscheidungen also, die die unterschiedlichen Interessenstandpunkte<br />

bündig einfangen <strong>und</strong> an <strong>den</strong>en sich zugleich je<strong>der</strong>mann festhalten kann. Treten<br />

diese Unterscheidungen, wie es nun schon seit einiger Zeit zu beobachten ist, in ihrer Bedeutung<br />

zurück o<strong>der</strong> wer<strong>den</strong> nur noch als rhetorische Geste aufrechterhalten, verlieren auch die Entscheidungen<br />

auf Parlaments- o<strong>der</strong> Regierungsebene ten<strong>den</strong>ziell ihren politischen Charakter; politisch<br />

ist an ihnen von irgendeinem Zeitpunkt an nur noch <strong>der</strong> Ort, an dem sie getroffen wer<strong>den</strong>.<br />

In dieselbe Richtung führt es, wenn sie allesamt nicht mehr als Vorrangentscheidungen zwischen<br />

konkurrieren<strong>den</strong> Interessen, son<strong>der</strong>n nur noch als Fragen einer technischen Realisation behandelt


wer<strong>den</strong> 10 . Möglicherweise ist genau dies die Lage, in <strong>der</strong> wir uns heute befin<strong>den</strong>: Die gr<strong>und</strong>legende<br />

Weichenstellung <strong>über</strong> die politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Ordnung ist erfolgt, die Wirtschaft<br />

prinzipiell als Markt- <strong>und</strong> Wettbewerbswirtschaft etabliert, <strong>der</strong> Staat als Sozialstaat eingerichtet,<br />

<strong>der</strong> Euro eingeführt, nun muss man sich <strong>den</strong> praktischen Problemen zuwen<strong>den</strong>, die im weiteren<br />

Vollzug dieser Entscheidungen entstehen. Zahlreiche Fragen sind dar<strong>über</strong> hinaus auf <strong>der</strong> Ebene<br />

des <strong>über</strong>kommenen Nationalstaats gar nicht mehr behandelbar; beherrschende Akteure sind hier<br />

die Anleger auf <strong>den</strong> internationalen Finanzmärkten, die außerhalb jedes demokratischen Legitimationszusammenhangs<br />

stehen, während die demokratischen Institutionen nur noch damit beschäftigt<br />

sind, die Folgen ihrer Dispositionen zu begleiten <strong>und</strong> abzufe<strong>der</strong>n. Auch dies führt mit<br />

innerer Folgerichtigkeit dazu, dass das Wenige, was an Entscheidungsmasse noch vorhan<strong>den</strong> ist,<br />

statt eines politischen wie<strong>der</strong> einen rein administrativen Charakter annimmt; es geht dann nur<br />

noch um pragmatische <strong>und</strong> strikt sachbezogene Problembewältigung, wie sie traditionell dem<br />

Handeln <strong>der</strong> Verwaltung zugeschrieben wird. Es liegt auf <strong>der</strong> Hand, dass mit alledem auch die<br />

Rolle <strong>der</strong> <strong>Experten</strong> aufgewertet, wenn nicht <strong>über</strong>haupt neu definiert wird. Ihre Mitwirkung beim<br />

Zustandekommen <strong>der</strong> maßgeblichen Entscheidungen beschränkt sich unter diesen Bedingungen<br />

nicht mehr auf eine unterstützende <strong>und</strong> beratende Funktion. Son<strong>der</strong>n sie selbst sind es zunehmend,<br />

die diese Entscheidungen zu treffen haben <strong>und</strong> von <strong>den</strong>en sie immer mehr auch erwartet,<br />

vielleicht sogar ersehnt wird.<br />

IX.<br />

Am deutlichsten zu beobachten ist diese Ten<strong>den</strong>z auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Europäischen Union, die<br />

vielleicht manches von dem vorwegnimmt, was uns künftig bevorstehen könnte. An sich wäre<br />

die Union <strong>der</strong> Ort, wo die Probleme, die sich <strong>der</strong>zeit auftürmen, ihrer grenz<strong>über</strong>schreiten<strong>den</strong><br />

Natur nach noch am ehesten politisch bearbeitet wer<strong>den</strong> könnten. Der Modus, in dem sie sich<br />

ihrer annimmt, ist aber nur noch <strong>der</strong> einer permanenten Krisenbewältigung, die von Baustelle zu<br />

Baustelle eilt <strong>und</strong> ansonsten im Wesentlichen auf die Turbulenzen reagiert, die von <strong>den</strong> Transaktionen<br />

auf <strong>den</strong> internationalen Finanzmärkten ausgelöst wer<strong>den</strong>. Indessen wurde sie schon immer<br />

in einem exekutivischen o<strong>der</strong> gouvernementalen Stil geführt, wie er nun durch die krisenhafte<br />

Entwicklung nur seine letzte <strong>und</strong> diesmal vielleicht entschei<strong>den</strong>de Verstärkung erhalten hat: ein<br />

Regime <strong>der</strong> technischen Realisation, dessen oberste Maximen Pragmatismus <strong>und</strong> Effizienz sind.<br />

Sichtbar wird dies nicht zuletzt an <strong>der</strong> schon sprichwörtlichen Kleinteiligkeit <strong>und</strong> Detailversessenheit<br />

vieler Regelungen, mit <strong>der</strong> diese allenfalls in <strong>den</strong> je betroffenen Kreisen, in <strong>der</strong> breiten<br />

Bevölkerung aber praktisch gar nicht o<strong>der</strong> allenfalls dann registriert wer<strong>den</strong>, wenn an <strong>der</strong> Sache<br />

ohnehin nichts mehr zu än<strong>der</strong>n ist. In alledem folgt die Union im Wesentlichen dem Muster einer<br />

guten <strong>und</strong> geordneten Verwaltung, <strong>und</strong> würde man sie bereits in staatsähnliche Kategorien fassen,<br />

müsste man sagen, dass sie weit weniger politischer Staat <strong>und</strong> viel mehr Verwaltungsstaat ist<br />

als alle vergleichbaren Gebilde zuvor. Hier zuerst sind die großen ideologischen Gegensätze verschwun<strong>den</strong>,<br />

die Gräben zwischen <strong>den</strong> politischen Lagern eingeebnet, <strong>und</strong> was sich da <strong>und</strong> dort<br />

an Meinungsverschie<strong>den</strong>heiten auftut, hält keinen Vergleich mit <strong>den</strong> Gegensätzen früherer Tage<br />

aus. Gestritten wird allenfalls <strong>über</strong> die richtigen Wege <strong>und</strong> Mittel, aber kaum je <strong>über</strong> die gr<strong>und</strong>legen<strong>den</strong><br />

Ziele, die damit erreicht wer<strong>den</strong> sollen, also dar<strong>über</strong>, wohin es eigentlich mit dieser Union<br />

auf Dauer gehen soll. Den Konflikten, die dar<strong>über</strong> aufbrechen könnten, weicht man, vielleicht<br />

mit guten Grün<strong>den</strong>, lieber aus, wie man <strong>über</strong>haupt alles vermeidet, was ans Ideologische rührt.<br />

Auch das Europäische Parlament entscheidet deshalb häufig <strong>über</strong> Parteigrenzen hinweg, es kennt<br />

10 Der Begriff ist entlehnt von E. Forsthoff, Der Staat <strong>der</strong> Industriegesellschaft, 1971, S. 30ff.


kaum die Fraktionsdisziplin, so wie man <strong>über</strong>haupt in Europa vergeblich sucht, was innerstaatlich<br />

noch mit dem ehrwürdigen Begriff <strong>der</strong> „Opposition“ belegt wird. Hier haben dann tatsächlich<br />

die Fachleute <strong>und</strong> die Technokraten das letzte Wort, <strong>und</strong> gerade deshalb findet sich unter <strong>den</strong><br />

Sachverständigen, die dort zu einer Anhörung gela<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>, eine Aussage, die ihrer Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> nationalen Parlamente völlig entgegensteht, nämlich die Aussage, hier werde noch<br />

sachorientiert gearbeitet <strong>und</strong> ihr Wort habe dort ganz offenk<strong>und</strong>ig Gewicht. Es hat es aber gerade<br />

deshalb, weil die Entscheidungen, die dort gefällt wer<strong>den</strong>, immer weniger einen politischen<br />

<strong>und</strong> immer stärker rein administrativen Charakter haben. Die Politikwissenschaft, die all dies beobachtet,<br />

reagiert darauf folgerichtig mit einer Hinwendung zu outputorientierten Modellen <strong>der</strong><br />

Legitimation, bei <strong>der</strong> sich Entscheidungen nicht durch dadurch rechtfertigen, dass sie demokratisch,<br />

nämlich unter Beteiligung aller, zustande gekommen sind, son<strong>der</strong>n durch ihre unabweisbare<br />

Richtigkeit <strong>und</strong> Nützlichkeit, bei <strong>der</strong> zu viel Beteiligung nur stören würde.<br />

X.<br />

In <strong>der</strong> Entwicklung, die sich in alldem andeutet, könnte, wer sich einen gewissen Sinn für ironische<br />

Wendungen bewahrt hat, wie<strong>der</strong> die Rückkehr einer objektiven <strong>Vernunft</strong> sehen, die in <strong>der</strong><br />

Figur des <strong>Experten</strong> ihre säkularisierte Wie<strong>der</strong>auferstehung erlebt. Indessen wird, gerade wo sie<br />

am meisten gefragt sind, immer offensichtlicher, dass auch die <strong>Experten</strong> keine Lösungen anzubieten<br />

haben, son<strong>der</strong>n ihrerseits nur Vorschläge unterbreiten, für <strong>der</strong>en Erfolg das Prinzip Hoffnung<br />

gilt. Statt an <strong>den</strong> Kün<strong>der</strong> einer objektiven <strong>Vernunft</strong> erinnern sie so eher an <strong>den</strong> Hofastrologen<br />

früherer Tage, auf <strong>den</strong> sich auch lange aller Blicke erwartungsvoll richteten. Tatsächlich<br />

nimmt gerade in <strong>den</strong> hier interessieren<strong>den</strong> Bereichen das „reliable knowledge“, das gesicherte<br />

Wissen, eher zu als ab, so dass <strong>Experten</strong> zweiter Ordnung – also solche, die an<strong>der</strong>e <strong>Experten</strong><br />

beobachten – bereits seit längerem von einer <strong>Experten</strong>krise, nämlich einer „Krise <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Politikberatung“ <strong>über</strong>haupt, sprechen 11 . Zudem könnte es sein, dass die zu treffen<strong>den</strong><br />

Entscheidungen einen nach wie vor politischen o<strong>der</strong> eben auch ideologischen Kern haben,<br />

<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Einschaltung des <strong>Experten</strong> nur verdeckt wird. Tatsächlich lassen sich heute für fast<br />

jedes Thema Sachverständige benennen, die ganz gegenläufige Auffassungen vertreten, weil sie<br />

ihrerseits je unterschiedlichen Schulen o<strong>der</strong> Denkströmungen ihres Fachs anhängen, die selber<br />

letztlich unterschiedlichen Interessenstandpunkten folgen. Gleichwohl sind durch die Aura des<br />

Sachverständigen hierzulande je<strong>den</strong> Verdachts in diese Richtung enthoben. Es herrscht hier eben<br />

eine an<strong>der</strong>e Sicht als in <strong>den</strong> Vereinigten Staaten, wo die reichlich vorhan<strong>den</strong>en Think Tanks von<br />

vornherein ideologischen Lagern zugeordnet sind; es gibt säkulare <strong>und</strong> evangelikale, konservative<br />

<strong>und</strong> progressive, rechte <strong>und</strong> linke Think Tanks, <strong>und</strong> je<strong>der</strong> weiß, dass sie nicht <strong>über</strong>legenes Wissen<br />

verkaufen, son<strong>der</strong>n Standpunkte vertreten, nur eben auf höherem argumentativen Niveau 12 . Auch<br />

in <strong>der</strong> europäischen Finanz- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> jetzigen Staatsschul<strong>den</strong>krise geht es ja möglicherweise nicht<br />

nur darum, wie man möglichst effizient, schnell <strong>und</strong> unbeschadet aus ihnen herauskommt, son<strong>der</strong>n<br />

auch um Fragen gerechter Lastenverteilung, um mehr o<strong>der</strong> weniger Solidarität, um mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger staatlichen Interventionismus, also um Entscheidungen, die zunächst einmal politisch<br />

<strong>und</strong> in diesem Sinne von ökonomischen Dilettanten zu treffen wären. Insgesamt geht es um<br />

die darum, welches Verhältnis <strong>der</strong> Staat o<strong>der</strong> seine supranationalen Nachfolger künftig zur Wirtschaft<br />

einnehmen sollen, die vielleicht wichtigste demokratische Frage unserer Zeit. Wenn deshalb<br />

ein französischer Präsi<strong>den</strong>t plötzlich einen ganz an<strong>der</strong>en Kurs <strong>der</strong> Krisenbewältigung vor-<br />

11 Vgl. P. Weingart/J. Lentsch, Wissen – Beraten – Entschei<strong>den</strong>, 2008, S. 9ff.<br />

12 Möllers (Fn. 9), S. 112f.


schlägt <strong>und</strong> dies gerade mit solchen Erwägungen begründet, so ist das unter demokratischen Gesichtspunkten<br />

kein Unglück, son<strong>der</strong>n steht für die Rückkehr des Politischen, weil es wie<strong>der</strong><br />

kenntlich macht, dass es Alternativen gibt, für <strong>der</strong>en Entscheidung ökonomischer Sachverstand<br />

nicht ausreicht. Selbst das Buch eines ehemaligen Vorstands <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esbank, <strong>der</strong> <strong>den</strong> Ausstieg<br />

aus dem Euro empfiehlt, mag ökonomisch ganz unsinnig o<strong>der</strong> historisch unverantwortlich sein;<br />

wahrscheinlich ist es sogar beides. Es erinnert aber daran, dass die Einführung des Euro eine<br />

politische Entscheidung war, die man eben auch an<strong>der</strong>s treffen konnte <strong>und</strong> die man, wenn <strong>der</strong><br />

Wille dazu vorhan<strong>den</strong> wäre, möglicherweise auch wie<strong>der</strong> revidieren kann. Nur die Figur des <strong>Experten</strong><br />

hebt die Notwendigkeit solchen Entschei<strong>den</strong>s in <strong>der</strong> Illusion des Unpolitischen auf.

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