Broschuere Soziale Ungleichheit - Bund/Länder und Gemeinden ...
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Nicole Burzan<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>
Studientexte zur Soziologie<br />
Herausgeber:<br />
Heinz Abels, Nina Baur, Werner Fuchs-Heinritz, Wieland Jäger, Uwe Schimank,<br />
Rainer Schützeichel<br />
Die „Studientexte zur Soziologie“ wollen eine größere Öffentlichkeit für Themen, Theorien<br />
<strong>und</strong> Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe soll in klassische <strong>und</strong> aktuelle soziologische<br />
Diskussionen einführen <strong>und</strong> Perspektiven auf das soziale Handeln von Individuen <strong>und</strong><br />
den Prozess der Gesellschaft eröffnen. In langjähriger Lehre erprobt, sind die Studientexte als<br />
Gr<strong>und</strong>lagentexte in Universitätsseminaren, zum Selbststudium oder für eine wissenschaftliche<br />
Weiterbildung auch außerhalb einer Hochschule geeignet. Wichtige Merkmale sind eine<br />
verständliche Sprache <strong>und</strong> eine unaufdringliche, aber lenkenden Didaktik, die zum eigenständigen<br />
soziologischen Denken anregt.
Nicole Burzan<br />
<strong>Soziale</strong><br />
<strong>Ungleichheit</strong><br />
Eine Einführung in<br />
die zentralen Theorien<br />
4. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />
abrufbar.<br />
1. Auflage 2004<br />
2. Auflage 2005<br />
3. Auflage 2007<br />
4. Auflage 2011<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011<br />
Lektorat: Frank Engelhardt | Katrin Emmerich<br />
VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien.<br />
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www.vs-verlag.de<br />
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede<br />
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für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen <strong>und</strong> die Einspeicherung<br />
<strong>und</strong> Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
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Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche<br />
Namen im Sinne der Warenzeichen- <strong>und</strong> Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten<br />
wären <strong>und</strong> daher von jedermann benutzt werden dürften.<br />
Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg<br />
Druck <strong>und</strong> buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel<br />
Gedruckt auf säurefreiem <strong>und</strong> chlorfrei gebleichtem Papier<br />
Printed in the Netherlands<br />
ISBN 978-3-531-17534-8
1 Einleitung 5<br />
Inhalt<br />
1 Einleitung................................................................................................... 7<br />
Teil I: Ältere Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong><br />
2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle................................ 15<br />
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell ...................................... 15<br />
2.2 Max Weber: Klassen <strong>und</strong> Stände ........................................................ 20<br />
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers .................................................. 26<br />
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie.......................................... 31<br />
3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion.............................................. 41<br />
3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft................. 41<br />
3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive............................ 43<br />
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status...................... 47<br />
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren .............................. 58<br />
3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- <strong>und</strong><br />
Schichtmodellen.................................................................................. 64<br />
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen.......................... 66<br />
Teil II: Neuere Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong><br />
4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle............................................ 73<br />
4.1 Neuere Schichtansätze ........................................................................ 73<br />
4.2 Neuere Klassenmodelle....................................................................... 78
6 0 Inhalt<br />
5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus .......................................................................... 89<br />
5.1 Lebensstile .......................................................................................... 89<br />
5.2 Milieus .............................................................................................. 103<br />
5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung ................................................ 120<br />
6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei<br />
Bourdieu ................................................................................................ 125<br />
6.1 <strong>Soziale</strong> Positionen <strong>und</strong> Klassen ........................................................ 125<br />
6.2 Der Raum der Lebensstile................................................................. 129<br />
6.3 Einordnung <strong>und</strong> Kritik ...................................................................... 134<br />
7 <strong>Soziale</strong> Lagen ......................................................................................... 139<br />
7.1 <strong>Soziale</strong> Lagen als <strong>Ungleichheit</strong>skonzept........................................... 139<br />
7.2 Prekäre Lagen <strong>und</strong> Exklusion ........................................................... 147<br />
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>? ....... 155<br />
9 Zum Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en.................................................. 169<br />
10 Fazit........................................................................................................ 175<br />
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 179<br />
Abbildungsverzeichnis ................................................................................... 203
1 Einleitung 7<br />
1 Einleitung<br />
1. Einleitung<br />
Was ist das Thema der „<strong>Soziale</strong>n <strong>Ungleichheit</strong>“? Ein erster Anhaltspunkt besteht<br />
darin, dass es keinesfalls um beliebige Andersartigkeiten geht, sondern um die<br />
ungleiche Verteilung von Lebenschancen. So ist es nicht die Schuhgröße oder<br />
die Haarfarbe, die soziale <strong>Ungleichheit</strong> ausmacht (obwohl sich selbst in körperlichen<br />
Merkmalen <strong>Ungleichheit</strong>en widerspiegeln können), sondern z.B. ein höheres<br />
oder niedrigeres Einkommen oder ungleich verteilte Chancen je nach Geschlecht.<br />
Gerade in modernen, differenzierten Gesellschaften sind die „Unterschiedlichkeiten“<br />
recht groß. Welche Verschiedenheiten auch soziale <strong>Ungleichheit</strong><br />
bedeuten, ist bereits eine wichtige Frage, die sich theoretische Ansätze zur<br />
sozialen <strong>Ungleichheit</strong> stellen. Die zentralen Ursachen <strong>und</strong> Merkmale sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> können nämlich im Zeitverlauf <strong>und</strong> in verschiedenen Gesellschaften<br />
durchaus variieren <strong>und</strong> werden selbst in einer Gesellschaft zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt je nach theoretischem Hintergr<strong>und</strong> unterschiedlich gesehen.<br />
Sind z.B. die Nationalität, der Stadt-Land-Unterschied oder die Wohnverhältnisse<br />
eigenständige Kriterien sozialer <strong>Ungleichheit</strong>, oder sind sie eher abgeleitet<br />
von solchen Merkmalen, mit denen sie gegebenenfalls einhergehen, z.B. mit der<br />
Bildung oder dem Beruf?<br />
Die Definition im Lexikon zur Soziologie, soziale <strong>Ungleichheit</strong> sei jede Art<br />
verschiedener Möglichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft bzw. der Verfügung<br />
über gesellschaftlich relevante Ressourcen (Krause 2007: 686), erfasst diese<br />
Mehrdimensionalität <strong>und</strong> Relativität von <strong>Ungleichheit</strong>, denn was „gesellschaftlich<br />
relevant“ ist, muss durchaus nicht konstant bleiben, ebenso wenig die Formen<br />
der gesellschaftlichen Teilhabe.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> ist somit eine gesellschaftliche Konstruktion, die an<br />
ihre historische Zeit geb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> nie „objektiv“ sein kann. Modelle sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> geben ihre jeweilige Sichtweise davon wieder, welches wichtige<br />
Ursachen <strong>und</strong> Merkmale sozialer <strong>Ungleichheit</strong> sind (materielle wie Besitz <strong>und</strong><br />
immaterielle wie z.B. Macht). Sie beantworten aber auch die Frage, ob sich nach<br />
diesen Kriterien eine bestimmte Struktur abgegrenzter Gruppierungen ergibt, <strong>und</strong><br />
falls ja, welche. Gibt es zum Beispiel zwei sich feindlich gegenüberstehende<br />
Klassen, sieben hierarchisch angeordnete Schichten oder ein komplexes Gebilde<br />
aus über- <strong>und</strong> nebeneinander stehenden Milieus, die sich überschneiden können?<br />
Solche Modelle abstrahieren natürlich immer von den Differenzierungen der<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_1,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
8 1 Einleitung<br />
Realität, dies gilt für zwei Gruppen ebenso wie für zehn. Dennoch beanspruchen<br />
sie, wichtige Prinzipien z.B. der Über- <strong>und</strong> Unterordnung oder der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung (hier sind die Schwerpunkte je nach Ansatz verschieden)<br />
durch ihre spezifische Einteilung abbilden zu können.<br />
Die soziologische Perspektive, soziale <strong>Ungleichheit</strong> als ein veränderbares<br />
Konstrukt anzusehen <strong>und</strong> in der Konsequenz nach Ursachen für bestimmte <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen<br />
<strong>und</strong> ihren Wandel zu forschen, ist nicht selbstverständlich.<br />
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass man im antiken Griechenland <strong>Ungleichheit</strong><br />
durchaus als „natürlich“ ansah. Beispielsweise legt Aristoteles (in seiner<br />
„Politik“) dar, dass Herren <strong>und</strong> Sklaven oder Männer <strong>und</strong> Frauen von Natur aus<br />
besser/schlechter bzw. zum Herrschen/zum Dienen bestimmt seien – <strong>und</strong> das sei<br />
nicht nur notwendig, sondern auch nützlich. In den Über- <strong>und</strong> Unterordnungsverhältnissen<br />
verwirklicht sich danach die Natur des Menschen, was soziale<br />
<strong>Ungleichheit</strong> legitimiert.<br />
Eine Variante dieser Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen ist eine<br />
gottgegebene <strong>Ungleichheit</strong>. In einer strengen Form tritt die religiöse Begründung<br />
in der Kastengesellschaft auf, die den hierarchischen Aufbau der Gesellschaft als<br />
nicht veränderlich ansieht <strong>und</strong> dies über strenge Endogamie <strong>und</strong> Kommunikationsschranken<br />
kontrolliert. Aber auch in der feudalistischen Ständegesellschaft<br />
hatten Menschen einen bestimmten Rang durch Geburt <strong>und</strong> Herkunft inne (z.B.<br />
Adel, Klerus, Bürger oder Bauer). Dieser wurde zudem rechtlich gestützt, z.B.<br />
durch die Rechte <strong>und</strong> Pflichten, die mit dem Lehnswesen verb<strong>und</strong>en waren. Die<br />
Kasten <strong>und</strong> Stände weisen ein Merkmal auf, das später in milderer Form auch für<br />
andere Gruppierungen wie Klasse oder Schicht zumindest unterstellt wird: Die<br />
Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe bestimmt eindeutig die gesamte Lebensweise<br />
der Individuen.<br />
In modernen Gesellschaften geht man nicht mehr von „natürlichen“ oder<br />
„gottgegebenen“ Ursachen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> aus. „Angeborene“ Merkmale<br />
wie das Geschlecht oder die Rasse spielen zwar eine Rolle für die Lebenschancen,<br />
aber sie sind keine Legitimation mehr für soziale <strong>Ungleichheit</strong>en.<br />
Der Wandel vollzog sich – das sei hier nur in Stichworten angedeutet –<br />
durch gesellschaftliche, politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Entwicklungen seit der<br />
Aufklärung, später mit der Auflösung der Ständegesellschaft <strong>und</strong> der Industrialisierung.<br />
Das Gleichheitspostulat, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
Eingang in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung <strong>und</strong> in Schlagworte der<br />
französischen Revolution fand, markiert eine Veränderung der Sichtweise, die<br />
man jetzt erst als soziologisch bezeichnen kann: Wenn <strong>Ungleichheit</strong> nicht natürlich,<br />
sondern durch Menschen formbar <strong>und</strong> veränderbar ist, stellt sich erst die<br />
Frage nach ihren Ursachen <strong>und</strong> Mechanismen.
1 Einleitung 9<br />
J. J. Rousseau liefert 1754 eine frühe <strong>und</strong> für seine Zeit durchaus revolutionäre<br />
Antwort auf die Frage: „Welches ist der Ursprung der <strong>Ungleichheit</strong> unter den<br />
Menschen?“ (so ein Aufsatztitel) aus dieser Sichtweise. Sie lautet (nicht ohne<br />
Dramatik):<br />
„Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu<br />
sagen: dieses ist mein, <strong>und</strong> einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der<br />
wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel Laster, wie viel Krieg, wie viel<br />
Mord, Elend <strong>und</strong> Gräuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen,<br />
den Graben verschüttet <strong>und</strong> den Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Glaubt diesem<br />
Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der<br />
Boden aber niemandem gehört’.“ (Rousseau 1981 (zuerst 1754): 93). 1<br />
Mit anderen Worten: Der Ursprung der <strong>Ungleichheit</strong> lag für Rousseau primär im<br />
Eigentum – ein Gedanke, den auch einige spätere Ansätze, insbesondere Klassenmodelle,<br />
aufgreifen.<br />
Gleichheitspostulate bedeuten selbstverständlich nicht realisierte Gleichheit,<br />
selbst auf einer rechtlichen Ebene nicht (z.B. gab es bis 1918 in Preußen das<br />
Drei-Klassen-Wahlrecht). Und zu allen Zeiten, in denen man überhaupt über die<br />
Legitimität sozialer <strong>Ungleichheit</strong> diskutierte, gab es dazu unterschiedliche Positionen.<br />
So sah beispielsweise der Liberalismus ab dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert Eigentum<br />
keineswegs als Sündenfall, sondern eher als Gr<strong>und</strong>recht an <strong>und</strong> lehnte soziale<br />
<strong>Ungleichheit</strong> nach dem Leistungsprinzip unter der Voraussetzung von Chancengleichheit<br />
nicht ab.<br />
Diese frühe Kontroverse weist auf eine weitere Frage hin, die sich auch<br />
spätere Forscher stellten: Ist soziale <strong>Ungleichheit</strong> ungerecht <strong>und</strong> muss sie möglichst<br />
überw<strong>und</strong>en werden, oder ist sie mindestens teilweise, unter bestimmten<br />
Bedingungen gerecht <strong>und</strong> sogar notwendig für das gesellschaftliche Zusammenleben?<br />
(vgl. zum Zusammenhang von <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Gerechtigkeit auch<br />
Müller/Wegener 1995, zu sozialer Gerechtigkeit z.B. Miller 2008, Becker/Hauser<br />
2009). Diese Frage haben Theoretiker unterschiedlich <strong>und</strong> auch abhängig<br />
vom jeweiligen historischen Kontext beantwortet. So entwarf etwa Marx seine<br />
Klassentheorie, die die Ausbeutungsverhältnisse hervorhebt, im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />
als im Zuge der Industrialisierung soziale <strong>Ungleichheit</strong>en deutlich sichtbar<br />
hervortraten <strong>und</strong> insbesondere die soziale Lage der Arbeiter im Allgemeinen<br />
schlecht war.<br />
Der folgende Überblick über Theorien sozialer <strong>Ungleichheit</strong> von Marx in<br />
der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bis zu Analysen der Gegenwart zu Beginn des 21.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts soll die Ansätze daraufhin vergleichen, welche Fragen <strong>und</strong> Pro-<br />
1 Die Zitate wurden der geltenden Rechtschreibung angepasst.
10 1 Einleitung<br />
bleme sie in den Vordergr<strong>und</strong> stellten <strong>und</strong> wie sie sie beantworteten. Solche<br />
Fragen sind etwa:<br />
� Welche Ursachen hat soziale <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
� Durch welche Merkmale tritt sie in Erscheinung, nach welchen zentralen<br />
Kriterien ordnen Menschen andere einem bestimmten Rang zu?<br />
� Gibt es eine bestimmte (z.B. hierarchische oder andere) Struktur sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong>, die sich für eine bestimmte Gesellschaft zu einem Zeitpunkt<br />
anhand spezifischer Begriffe (wie Stand, Klasse oder Schicht) zu einem<br />
Modell verdichten lässt?<br />
� Welche Auswirkungen hat die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe im<br />
weiteren Sinne auf die Lebensweise, auf Verhalten <strong>und</strong> Einstellungen, das<br />
Bewusstsein <strong>und</strong> gegebenenfalls auf die Bildung kollektiver Akteure? Gibt<br />
es hier überhaupt kausale Zusammenhänge?<br />
� Welche Folgen hat soziale <strong>Ungleichheit</strong> für die Integration einer Gesellschaft?<br />
� Wie sehen Beziehungen zwischen verschiedenen Statusgruppen aus?<br />
� Was lässt sich über Veränderungsprozesse aussagen, sowohl im Sinne<br />
individueller Mobilität als auch im Sinne des Wandels von Strukturen?<br />
Bei der Erläuterung der Ansätze werden diese Fragen nicht systematisch abgehandelt,<br />
sondern sie stehen als Leitfragen im Hintergr<strong>und</strong>. Sie stellen damit eine<br />
Verbindung zwischen älteren <strong>und</strong> neueren Ansätzen her. Denn die älteren Ansätze<br />
sind nicht nur für an der Geschichte der Theorieentwicklung Interessierte<br />
Bestandteil der Darstellung. Durch die Diskussion, welche Fragen <strong>und</strong> Antworten<br />
für frühere Modelle wichtig waren, lässt sich im Vergleich zeigen, wo <strong>und</strong><br />
wie spätere Modelle bestimmte Elemente wieder aufgenommen haben. Weil es<br />
bis heute – dies kann man durchaus vorwegnehmen – nicht den „Königsweg“ der<br />
<strong>Ungleichheit</strong>stheorie gibt, der alle genannten Fragen umfassend beantwortet,<br />
lassen sich im Vergleich die jeweiligen Schwerpunkte sowie die Stärken <strong>und</strong><br />
Schwächen der Ansätze besser erkennen. Außerdem soll Pauschalurteilen entgegengewirkt<br />
werden, die sich aus einer verkürzten Sichtweise älterer Theorien aus<br />
der flüchtigen Retrospektive ergeben könnten (als Beispiele: Marx hatte Unrecht,<br />
daher ist seine Theorie nur noch von historischem Interesse; oder: wie konnte<br />
Schelsky nur annehmen, dass alle Gesellschaftsmitglieder sich auf einem mittleren<br />
(Rang-)Niveau einpendeln?).<br />
Die folgenden Kapitel können nicht umfassend alle Theorien <strong>und</strong> Modelle<br />
behandeln, die es zum Thema der sozialen <strong>Ungleichheit</strong> gegeben hat <strong>und</strong> gibt.<br />
Eine zentrale Einschränkung besteht beispielsweise darin, dass der Schwerpunkt<br />
auf der deutschen Diskussion liegt, das heißt auf Ansätzen deutscher Autorinnen
1 Einleitung 11<br />
<strong>und</strong> Autoren <strong>und</strong> solchen, die in der deutschen Rezeption vergleichsweise bedeutsam<br />
waren oder sind (als Überblick über wichtige Werke zur internationalen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sforschung s. Müller/Schmid 2003; für die US-amerikanische Perspektive<br />
Grusky 2008). Auch mit dieser Einschränkung besteht jedoch kein Vollständigkeitsanspruch.<br />
Die Arbeit dient als Einführung, von der aus man im<br />
nächsten Schritt sowohl in die Tiefe als auch in die Breite weiter lesen kann.<br />
Welche Ansätze wurden nun ausgewählt? Grob wird unterschieden zwischen<br />
„älteren“ <strong>und</strong> „neueren“ Ansätzen, wobei der „Schnitt“ Anfang der achtziger<br />
Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts gesetzt wurde. Die „älteren“ Ansätze zeichnen<br />
sich (in den meisten Fällen) dadurch aus, dass sie entweder Klassen- oder<br />
Schichtmodelle (zum Teil auch Zwischenpositionen) vertreten <strong>und</strong> dabei nicht<br />
selten die Argumente des jeweils „anderen“ Lagers heftig ablehnen (Kap. 2, 3).<br />
Erst mit den „neuen“ Ansätzen stellten <strong>Ungleichheit</strong>sforscher sowohl Klassen als<br />
auch Schichten radikaler in Frage (Näheres zu diesem Prozess in Kap. 3.6). Die<br />
theoretische Landschaft differenzierte sich (ebenso wie die soziale <strong>Ungleichheit</strong>?):<br />
� Zum einen gibt es weiterhin Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle in einer<br />
modifizierten Form (Kap. 4).<br />
� Zweitens gibt es Modelle, die andere Begriffe wählen, um die Sozialstruktur<br />
zu kennzeichnen, z.B. Lebensstile, Milieus oder die soziale Lage (Kap. 5-7).<br />
� Schließlich gibt es Ansätze, die ganz davon absehen, ein bestimmtes Strukturmodell<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu entwerfen, was andere Autoren teilweise<br />
als radikale „Entstrukturierung“ interpretieren (Kap. 8).<br />
Im Überblick handelt es sich um folgende Ansätze, die entweder eng mit einem<br />
bestimmten Theoretiker verknüpft sind oder für die beispielhaft ein Vertreter<br />
genannt wird. Der Überblick soll eine grobe Einordnung der Ansätze ermöglichen,<br />
ohne sie in ihren Nuancen angemessen wiederzugeben. Die Darstellung<br />
folgt ungefähr einer zeitlichen Achse nach der Entstehungszeit der Ansätze.
12 1 Einleitung<br />
Abbildung 1: Überblick über Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong><br />
Bis Ende der siebziger Jahre:<br />
Klassen<br />
Marx<br />
Weber<br />
Geiger<br />
Schichten<br />
Funktionalistische<br />
Schichtungstheorie<br />
(z.B. Parsons)<br />
Andere<br />
Ansätze<br />
Neomarxismus<br />
Dahrendorf<br />
Ab etwa Anfang der achtziger Jahre:<br />
Klassen Schichten Lebensstile<br />
<strong>und</strong> Milieus<br />
z.B. Wright,<br />
Goldthorpe,<br />
Bourdieu<br />
z.B. Geißler z.B.<br />
Bourdieu,<br />
Schulze<br />
Prestigemodelle (z.B.<br />
Warner, Scheuch)<br />
<strong>Soziale</strong><br />
Lagen<br />
z.B.<br />
Hradil,<br />
Schwenk<br />
Nivellierte Mittelstandsgesellschaft<br />
(Schelsky)<br />
Individualisierung<br />
z.B. Beck<br />
Die folgenden Kapitel sollen nun die Charakteristika der einzelnen Ansätze aufzeigen<br />
<strong>und</strong> mit Blick auf die genannten Leitfragen ihre Stärken <strong>und</strong> ausgewählte<br />
Kritikpunkte herausarbeiten.
1 Einleitung 13<br />
Teil I:<br />
Ältere Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong>
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell 15<br />
2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell<br />
Karl Marx (1818-1883) entwarf seine Klassentheorie in der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Zwar ist er nicht der „Erfinder“ des Klassenbegriffs oder seiner Verwendung<br />
im ökonomischen Bereich. 2 Wohl aber ist sein Konzept – <strong>und</strong> insgesamt<br />
sein Gedanke, Gesellschaft als Klassengesellschaft zu begreifen – gr<strong>und</strong>legend<br />
<strong>und</strong> bis heute einflussreich geblieben.<br />
Marx begreift die gesamte historische Entwicklung als Geschichte von<br />
Klassenkämpfen:<br />
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.<br />
Freier <strong>und</strong> Sklave, Patrizier <strong>und</strong> Plebejer, Baron <strong>und</strong> Leibeigener, Zunftbürger<br />
<strong>und</strong> Gesell, kurz, Unterdrücker <strong>und</strong> Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander,<br />
führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf,<br />
einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft<br />
endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“<br />
(Marx/Engels 1974 (zuerst 1848): 23f.).<br />
Die verschiedenen Stufen dieser Klassenkämpfe zeichnen sich durch je spezifische<br />
Produktivkräfte <strong>und</strong> Produktionsverhältnisse aus. Besitzer von Produktionsmitteln<br />
herrschen dabei über Nichtbesitzende. 3 Das zeigt erstens, dass nach<br />
dieser Vorstellung die Arbeit bzw. der Bereich der Produktion die Gr<strong>und</strong>lage des<br />
menschlichen Daseins <strong>und</strong> Zusammenlebens darstellt <strong>und</strong> zweitens, dass Marx<br />
eindeutig das Privateigentum (an Produktionsmitteln) als Ursache sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
ansieht (ein Gedanke, der ähnlich bereits bei Rousseau zu finden war).<br />
2 Z.B. hatten bereits die Physiokraten (z.B. Quesnay, 1694-1774) im Rahmen volkswirtschaftlicher<br />
Überlegungen Klasseneinteilungen vorgenommen, <strong>und</strong> der französische Sozialphilosoph Saint-<br />
Simon (1760-1825) unterschied zwischen einer produktiven <strong>und</strong> einer müßiggehenden Klasse.<br />
3 Zur Begriffsklärung: Produktivkräfte heißen die materiellen <strong>und</strong> personellen Faktoren, die die<br />
Produktion gewährleisten. Dazu gehören z.B. die menschliche Arbeitskraft oder die Kenntnisse <strong>und</strong><br />
Fähigkeiten, die unter anderem je nach dem Stand des technisch-naturwissenschaftlichen Wissens<br />
variieren. Produktionsverhältnisse sind Verhältnisse, die Menschen im Produktionsprozess eingehen<br />
– je nach dem historischen Stand der Produktivkräfte –, vor allem Rechts-, Eigentums- <strong>und</strong> damit<br />
Herrschaftsverhältnisse. Produktionsmittel sind z.B. Gr<strong>und</strong>stücke <strong>und</strong> Energiequellen, Maschinen,<br />
Werkzeuge <strong>und</strong> Werkstoffe.<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_2,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
16 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
Eine Klasse ist entsprechend bestimmt durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln.<br />
Auf dieser Basis lautet Marx’ Diagnose der bürgerlichen oder kapitalistischen<br />
Gesellschaft im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert:<br />
„Die ... moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben.<br />
Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen<br />
des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. ... Die ganze Gesellschaft spaltet<br />
sich mehr <strong>und</strong> mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt<br />
gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie <strong>und</strong> Proletariat.“ (a.a.O.: 24).<br />
Die Bourgeoisie zeichnet sich durch den Besitz von Produktionsmitteln aus. Die<br />
nicht besitzenden Arbeiter erarbeiten einen Mehrwert, über den ausschließlich<br />
die Produktionsmittelbesitzer verfügen können. So häufen sie, etwa durch die<br />
Ausbeutung der Arbeiter, Kapital an <strong>und</strong> gewinnen zunehmend Mittel zur Erlangung<br />
ökonomischer <strong>und</strong> damit gesellschaftlicher Macht. Die Bourgeoisie stellt<br />
also die herrschende Klasse dar. Das Proletariat, das keine Produktionsmittel<br />
besitzt, ist die Klasse der Arbeiter, die zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes<br />
ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen: „Die Arbeiter, die sich stückweis<br />
verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel“ (a.a.O.: 31).<br />
Sie erhalten nur einen geringen Lohn <strong>und</strong> sind nicht nur materiell von Verelendung<br />
bedroht, sondern werden auch sozial <strong>und</strong> politisch unterdrückt. Dadurch,<br />
dass Selbstbestimmung nicht möglich ist, werden sie zunehmend zu entfremdeten<br />
Individuen. Zwischenklassen lösen sich zugunsten der dichotomen Gegenüberstellung<br />
dieser zwei Klassen zunehmend auf, weil z.B. kleine Industrielle<br />
oder Kaufleute nicht genügend Kapital zur Verfügung haben, um dem Konkurrenzkampf<br />
standzuhalten <strong>und</strong> schließlich zum dadurch wachsenden Proletariat<br />
stoßen (zur Beschreibung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>sverhältnisse im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
aus historischer Perspektive vgl. z.B. Kaelble 1983, Rothenbacher 1989).<br />
Es sei noch einmal betont, dass die Herrschaft der „herrschenden“ Klasse<br />
zwar auf ökonomischen Ursachen basiert, sich aber nicht allein auf den ökonomischen<br />
Bereich erstreckt, sondern auch auf Bereiche wie Politik, Kultur, Recht<br />
<strong>und</strong> Religion, den „Überbau“. Nach Marx prägt „das Sein das Bewusstsein“, die<br />
ökonomische Lage wirkt sich ursächlich auf die Lebensverhältnisse der Einzelnen<br />
<strong>und</strong> die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Unter anderem bedingt wirtschaftliche<br />
Macht politische Macht. Deshalb reicht es auch aus, Klassen nach<br />
dem Kriterium des Besitzes oder Nichtbesitzes von Produktionsmitteln einzuteilen.<br />
Nochmals in den Worten von Marx heißt es zur Klassenlage:<br />
„Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben,<br />
die ihre Lebensweise, ihre Interessen <strong>und</strong> ihre Bildung von denen der anderen Klas-
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell 17<br />
sen trennen <strong>und</strong> ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse.“ (Marx<br />
1973 (zuerst 1852): 198).<br />
Und weiter:<br />
„Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen<br />
erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener <strong>und</strong> eigentümlich gestalteter<br />
Empfindungen, Illusionen, Denkweisen <strong>und</strong> Lebensanschauungen.“ (a.a.O.: 139).<br />
Solange sich die Mitglieder einer Klasse allein objektiv in der gleichen Klassenlage<br />
befinden (das heißt Produktionsmittel besitzen oder nicht), bilden sie in der<br />
Terminologie von Marx eine Klasse an sich. Wenn mit der Klassenlage ein gemeinsames<br />
Klassenbewusstsein <strong>und</strong> daraus folgend solidarische Handlungsweisen<br />
verb<strong>und</strong>en sind, wird die Klasse zu einer auch subjektiv bestehenden Klasse<br />
für sich. Der objektive Interessengegensatz, der mit den gegensätzlichen Klassenlagen<br />
verb<strong>und</strong>en ist (die Bourgeoisie will die bestehenden Verhältnisse bewahren,<br />
das Proletariat will sie überwinden), führt im Laufe der Entwicklung zu<br />
einem verschärften Klassenkonflikt, weil die schrumpfende Bourgeoisie immer<br />
reicher wird <strong>und</strong> das wachsende Proletariat immer mehr verelendet. Der Klassenkonflikt<br />
ist also keine kurzfristige Übergangserscheinung im Entwicklungsprozess<br />
der Industriegesellschaft. Die Klassengegensätze laufen dann – als immanente<br />
Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise – auf die Revolution des<br />
Proletariats hinaus, das zu diesem Zeitpunkt eine Klasse für sich geworden ist. In<br />
diesem Szenario wird das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft,<br />
eine gerechte soziale Ordnung, die klassenlose Gesellschaft, entsteht. Der Klassenkonflikt<br />
fungiert damit als Motor des gesellschaftlichen Wandels insgesamt.<br />
Die Prinzipien des Klassenbegriffs nach der Klassentheorie von Marx, die<br />
für spätere Klassenmodelle einflussreich waren, sollen nun noch einmal zusammengefasst<br />
werden:<br />
� Sein Klassenbegriff hat eine ökonomische Basis. Der Besitz oder Nichtbesitz<br />
von Produktionsmitteln ist entscheidend für die Klassenzugehörigkeit<br />
<strong>und</strong> damit für die soziale Lage in einem umfassenden Sinne sowie für<br />
Machtverhältnisse in der Gesellschaft. <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> lässt sich so<br />
mittels des Klassenbegriffs erklären.<br />
� Klassen stehen sich antagonistisch gegenüber: Aufgr<strong>und</strong> gegensätzlicher<br />
Interessen besteht ein Klassenkonflikt, wobei sich das Hauptaugenmerk auf<br />
zwei relevante Klassen richtet, die sich im Klassenkampf dichotom gegenüberstehen.<br />
Allgemein kommt der Betrachtung der Beziehungen zwischen<br />
den Klassen in der Klassentheorie damit große Bedeutung zu.
18 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
� Unter bestimmten Bedingungen zeichnen sich die Mitglieder einer Klasse<br />
auch durch ein gemeinsames (Klassen-) Bewusstsein aus, das solidarisches<br />
Handeln ermöglicht. Klassen sind damit keinesfalls nur sozialstatistische<br />
Kategorien, sondern „Akteure im gesellschaftlichen Kräftespiel“ (Kreckel<br />
1990: 55).<br />
� Die Analyse der Dynamik des Klassenkonflikts kann sozialen Wandel<br />
erklären.<br />
Marx’ Klassenmodell ist in allen erwähnten Punkten Basis für Auseinandersetzungen<br />
<strong>und</strong> Kritik geworden. Zunächst ist eine Beschäftigung mit seinem<br />
Klassenbegriff schon aus dem Gr<strong>und</strong>e nicht einfach, weil Marx keine eindeutige<br />
formale Definition des Begriffs liefert (z.B. bricht ein Kapitel über „die Klassen“<br />
bereits nach wenigen Zeilen ab; Marx 1974 (zuerst 1894): 892f.) <strong>und</strong> weil seine<br />
Klassentheorie laut Dahrendorf „das problematische Bindeglied zwischen soziologischer<br />
Analyse <strong>und</strong> philosophischer Spekulation [bildet]“ (Dahrendorf<br />
1957: 6). Inhaltlich stellen Kritiker in Frage, ob ökonomische Bestimmungsgründe<br />
allein die Phänomene der Lebenslage sowie der Machtverhältnisse in der<br />
Gesellschaft <strong>und</strong> in gesellschaftlichen Teilbereichen erklären. Sie bezweifeln<br />
weiterhin, dass die Berücksichtigung von zwei Hauptklassen ausreiche, um eine<br />
sinnvolle Sozialstrukturanalyse durchzuführen. Ein Kritikpunkt lautet ferner,<br />
dass Marx zwar die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in ihrer<br />
Struktur erkläre, dass sich aber die weitere Entwicklung nicht mehr mit dem<br />
Marxschen Modell vereinbaren lasse: Unter anderem begründen die Kritiker dies<br />
mit der Existenz „neuer“ Mittelklassen, die sich z.B. mit der Ausweitung des<br />
Dienstleistungssektors <strong>und</strong> damit der Gruppe der Angestellten herausgebildet<br />
haben. Der Hinweis auf soziale Mobilität <strong>und</strong> auf die allgemeine Wohlstandszunahme<br />
zeigt, dass die Verelendung breiter Massen nicht stattgef<strong>und</strong>en hat. Geiger<br />
formuliert beispielsweise:<br />
„Offenbar ist im Gegenteil die Lage <strong>und</strong> Stellung des Arbeiters innerhalb der kapitalistischen<br />
Gesellschaft erheblich günstiger geworden. Die Verelendungstheorie<br />
wurde daher schon vor dem Ersten Weltkrieg von den sozialdemokratischen Revisionisten<br />
(E. Bernstein) preisgegeben … Marx [hat] die Verelendungstheorie rein deduktiv<br />
dem Kapitalismus angedichtet. Sie liegt nicht in der Wirklichkeit des Kapitalismus,<br />
sondern in Marx’ Idee des Kapitalismus“ (Geiger 1975 (zuerst 1949): 58f.,<br />
Hervorhebung i. O.).<br />
Ein anderes Argument lautet: Nicht nur durch die ausgebliebene Verelendung,<br />
sondern auch dadurch, dass Klassenkonflikte institutionalisiert wurden, sind sie<br />
insgesamt stark abgeflaut (z.B. regeln heute meist Tarifverträge das Lohnniveau).<br />
Die Prognosen – die der proletarischen Revolution <strong>und</strong> der daraus folg-
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell 19<br />
enden klassenlosen Gesellschaft – bieten eine besondere Angriffsfläche, weil<br />
man Jahrzehnte später leicht diagnostizieren konnte, die klassenlose Gesellschaft<br />
sei nicht realisiert worden, <strong>und</strong> zwar auch nicht in den „sozialistischen <strong>Länder</strong>n“,<br />
in denen eine formale (weitgehende) Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln<br />
nicht zur Überwindung von Herrschaft <strong>und</strong> Unterdrückung geführt<br />
hatte. Schließlich hat auch die Annahme des entstehenden Klassenbewusstseins<br />
<strong>und</strong> damit des solidarischen Klassenhandelns zu Diskussionen geführt.<br />
Damit einher ging die Frage, ob man sich unter Klassen überhaupt eine konkrete<br />
Menschengruppe vorstellen dürfe oder ob sie nicht eher als theoretisches Konstrukt<br />
anzusehen seien. Elster bezweifelt, dass die Klassenstruktur in allen Gesellschaften<br />
die Haupterklärung für soziale Konflikte zwischen organisierten<br />
Gruppen darstelle (Elster 1985).<br />
A. Giddens begegnet einigen dieser Probleme – z.B. der Frage nach der Anzahl<br />
der Klassen – mit dem Hinweis darauf, dass bei Marx ein abstraktes <strong>und</strong> ein<br />
konkretes Klassenmodell nebeneinander existieren. Es gibt nach seiner Darstellung<br />
auch bei Marx mehrere Klassen (z.B. Klassen, die in einer Übergangszeit<br />
bestehen oder Untergruppen von Hauptklassen), die zwar für die Beschreibung<br />
einer bestimmten Gesellschaft wichtig sein können, in dem abstrakten Modell<br />
der Klassengesellschaft <strong>und</strong> ihrer Entwicklung jedoch keine zentrale Rolle spielen<br />
(1979: 34 f.). Damit kann man Marx nicht vorwerfen, gesellschaftliche Phänomene<br />
wie Zwischenklassen einfach übersehen zu haben. Ähnlich argumentiert<br />
T. Geiger, der seiner Kritik an Marx einige „unbegründete Einwände gegen die<br />
Lehre des Marxismus“ voranstellt (1975 (zuerst 1949): Kap. III). Dazu gehört<br />
die Konzentration auf zwei Klassen, durch die Marx das dominante Schichtungsprinzip<br />
(vgl. dazu Geigers Ansatz in Kap. 2.3) abbildet, aber nicht den<br />
Anspruch erhebt, eine vollständige Zustandsbeschreibung mit weiteren Trennungslinien<br />
<strong>und</strong> inneren Konflikten zu liefern. Dies ist auch deshalb der Fall,<br />
weil Marx einen Schwerpunkt auf die dynamische Analyse von Gesellschaftsentwicklungen<br />
legt.<br />
Zusammenfassung<br />
Nach Marx bestimmt der Besitz von Produktionsmitteln die konflikthaften<br />
Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. Die Analyse des Klassenkampfs <strong>und</strong><br />
seiner Rolle für den sozialen Wandel ist ein wichtiges Element des Ansatzes.<br />
Trotz verschiedener Kritikpunkte an Marx’ Modell (z.B. es sei zu <strong>und</strong>ifferenziert<br />
<strong>und</strong> seine Prognose sei nicht eingetreten) ist es in der Folgezeit nicht einfach „ad<br />
acta“ gelegt worden. Die Vorstellung späterer <strong>Ungleichheit</strong>sansätze zeigt, dass<br />
sich andere Forscher mit seinen Argumenten auseinandergesetzt <strong>und</strong> einzelne
20 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
Elemente aufgenommen oder verworfen haben. Somit spielen Klassen auch in<br />
der späteren Diskussion eine bedeutsame Rolle.<br />
Lesehinweise: 4<br />
� Marx, Karl; Friedrich Engels (1848): Manifest der kommunistischen Partei,<br />
Stuttgart: Reclam 1974, Kap. I (S. 23-37)<br />
� Dahrendorf 1957, Kap I: Das Modell der Klassengesellschaft bei Karl<br />
Marx, S. 1-33, unter anderem fasst Dahrendorf die Hauptgedanken Marx’<br />
zur Klassentheorie zusammen, indem er das Kapitel für Marx anhand vieler<br />
Zitate von ihm „zu Ende“ schreibt (S. 7-16).<br />
2.2 Max Weber: Klassen <strong>und</strong> Stände<br />
Auf das Konzept von Max Weber (1864-1920) stützen sich später Vertreter einer<br />
„gemäßigten“ Klassentheorie (Kreckel 1990), aber auch Vertreter von Schicht-<br />
<strong>und</strong> Lebensstilansätzen. Es ist also für die weitere Konzeptionierung sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> stark anschlussfähig.<br />
Ein zentraler Unterschied zu Marx besteht darin, dass Weber ein differenziertes,<br />
mehrdimensionales Modell vorlegt, das heißt er betont nicht allein den<br />
ökonomischen Aspekt <strong>und</strong> gibt auch die Beschränkung auf zwei relevante Klassen<br />
– Bourgeoisie <strong>und</strong> Proletariat – auf. Weber spricht nicht allein von „Klassen“,<br />
sondern zieht zur Charakterisierung der Sozialstruktur, der Machtverteilung<br />
in einer Gesellschaft, zusätzlich „Stände“ <strong>und</strong> „Parteien“ heran. Zudem teilt<br />
er Klassen auf: Er unterscheidet verschiedene Besitz-, Erwerbs- <strong>und</strong> soziale<br />
Klassen.<br />
Klassen<br />
Weber spricht dann von Klassen, wenn<br />
„1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer<br />
Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische<br />
Güterbesitz- <strong>und</strong> Erwerbsinteressen <strong>und</strong> zwar 3. unter den Bedingungen des<br />
4<br />
Verschiedene der unter den Lesehinweisen genannten Texte finden sich (gekürzt) auch in dem<br />
Reader von Solga et al. (2009).
2.2 Max Weber: Klassen <strong>und</strong> Stände 21<br />
(Güter- oder Arbeits-) Markts dargestellt wird (‚Klassenlage’)“ (1980 (zuerst 1922):<br />
531).<br />
Eine Klasse ist also gekennzeichnet durch die Art der Verfügung über Besitz <strong>und</strong><br />
des Erwerbs von Gütern sowie die Chancen, die sie dadurch auf dem Markt hat.<br />
Klassenlage heißt dann<br />
„die typische Chance 1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des<br />
inneren Lebensschicksals ..., welche aus Art <strong>und</strong> Maß der Verfügungsgewalt (oder<br />
des Fehlens solcher) über Güter <strong>und</strong> Leistungsqualifikationen <strong>und</strong> aus der gegebenen<br />
Art ihrer Verwertbarkeit über die Erzielung von Einkommen oder Einkünften<br />
innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt“ (a.a.O.: 177).<br />
Und weiter heißt es: „‚Klassenlage’ ist in diesem Sinn letztlich: ‚Marktlage’.“<br />
(a.a.O.: 532). 5<br />
Auch bei Weber basieren Klassen nach diesen Ausführungen zentral auf<br />
Besitz. T. Herz betont, dass Weber mit dem Merkmal der Verfügungsgewalt<br />
auch über Leistungsqualifikationen (nicht allein über Güter) die Basis der Klassenbildung<br />
erweitere (1983: 34).<br />
Weitere Differenzierungen ergeben sich nun dadurch, dass Weber Klassen<br />
unterteilt in Besitz-, Erwerbs- <strong>und</strong> soziale Klassen. Bei Besitzklassen bestimmen<br />
primär Besitzunterschiede die Klassenlage (Weber a.a.O.: 177). „Positiv privilegierte<br />
Besitzklassen“ (a.a.O.: 178) sind z.B. Besitzer von Arbeitsanlagen <strong>und</strong><br />
Apparaten, Bergwerken etc., negativ privilegierte z.B. Verschuldete <strong>und</strong> Arme.<br />
Dazwischen gibt es „Mittelstandsklassen“ (ebd.). Diese Durchbrechung der Dichotomie<br />
ist auch bei den Erwerbsklassen zu finden, in denen primär „die Chancen<br />
der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen“ die Klassenlage bestimmen<br />
(a.a.O.: 177). Als entgegengesetzte Beispiele führt Weber hier Unternehmer<br />
(z.B. Händler) bzw. Arbeiter an.<br />
<strong>Soziale</strong> Klassen, so lautet die Definition, „soll die Gesamtheit derjenigen<br />
Klassenlagen heißen, zwischen denen ein Wechsel a) persönlich, b) in der Generationenfolge<br />
leicht möglich ist <strong>und</strong> typisch stattzufinden pflegt.“ (a.a.O.: 177)<br />
<strong>Soziale</strong> Klassen bündeln also die Klassenlagen, innerhalb derer man wechseln<br />
kann, über die hinaus Mobilität jedoch typischerweise weniger stattfindet. Für<br />
seine Zeit führt Weber vier soziale Klassen an: die Arbeiterschaft, das Kleinbürgertum,<br />
die besitzlose Intelligenz <strong>und</strong> Fachgeschultheit sowie die Klassen der<br />
Besitzenden <strong>und</strong> durch Bildung Privilegierten (a.a.O.: 179).<br />
5 Ritsert macht darauf aufmerksam, dass sich Webers Begriffsbestimmungen von „Klasse“ an den<br />
verschiedenen Stellen in „Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft“ nicht völlig entsprechen. So werde in der<br />
zweiten Definition (Weber 1980: 531f.) die Bedeutung des Marktes als definiens für Klasse noch<br />
stärker hervorgehoben (Ritsert 1998: 77, 82).
22 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
<strong>Soziale</strong> Klassen weisen zum einen auf das Phänomen der sozialen Mobilität hin,<br />
zum anderen bündelt dieser Begriff in gewisser Weise die unübersichtliche<br />
Vielfalt der unterschiedlichen Besitz- <strong>und</strong> Erwerbsklassen.<br />
Im Unterschied zu Marx führt die Zugehörigkeit zu einer Klasse (bzw. zu<br />
einer sozialen Klasse) im Zuge sozialen Wandels nicht notwendig zu einem<br />
Klassenbewusstsein oder gemeinsamem Handeln: „Eine universelle Erscheinung<br />
ist das Herauswachsen einer Vergesellschaftung oder selbst eines Gemeinschaftshandelns<br />
aus der gemeinsamen Klassenlage keineswegs.“ (a.a.O.: 532 f.)<br />
Die Entwicklung zu einer „Klasse für sich“ (in Marx’ Terminologie) ist nur eine<br />
potentielle, nicht einmal besonders wahrscheinliche Möglichkeit. Klassenlagen<br />
<strong>und</strong> daran anknüpfende Interessenlagen sind bei Weber insgesamt weitaus vielfältiger<br />
<strong>und</strong> uneindeutiger als bei Marx (vgl. Kreckel 1982). Bedingungen, die<br />
Klassenhandeln begünstigen, sind z.B. eine massenhaft ähnliche Klassenlage,<br />
räumliche Nähe, Führung auf einleuchtende Ziele <strong>und</strong> ein Handeln gegen einen<br />
unmittelbaren Interessengegner, z.B. einen konkreten Unternehmer im Gegensatz<br />
zu Aktionären (Weber a.a.O.: 179).<br />
Stände<br />
Wie lassen sich nun nach Weber Stände von diesem Verständnis der Klassen<br />
absetzen? Während Klassen in der Sphäre der Wirtschaft angesiedelt sind, geben<br />
Stände eher eine „soziale“ Ordnung im engeren Sinne wider. Weber definiert<br />
„ständische Lage“ als<br />
„jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine<br />
spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ‚Ehre’ bedingt ist, die<br />
sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft.“ (a.a.O.: 534)<br />
Der Stand basiert also auf Ehre, auf sozialem Prestige <strong>und</strong> drückt sich primär in<br />
einer bestimmten Lebensführung 6 aus. Dazu gehören unter anderem die<br />
Personenkreise, mit denen man Umgang pflegt (was auch zur „Schließung“ gegenüber<br />
anderen Gruppen führt; zu diesem Begriff vgl. Weber a.a.O.: 23-25,<br />
weiterführend die Beiträge in Mackert 2004) oder die Befolgung spezifischer<br />
Werte. Durch das Element der Lebensführung berücksichtigt Weber eine subjektive<br />
Komponente für die Erklärung der Sozialstruktur. Stände sind in der Regel<br />
Gemeinschaften, allerdings amorphe Gemeinschaften, das heißt die Mitglieder<br />
müssen sich nicht persönlich kennen (a.a.O.: 534). Stände können beispielsweise<br />
Berufsstände (Offiziere, Ärzte etc.), Geburtsstände (aufgr<strong>und</strong> der Abstammung,<br />
6 Dies ist ein Element in Webers Konzept, an das spätere Lebensstilansätze anknüpfen, vgl. Kap. 5.1.
2.2 Max Weber: Klassen <strong>und</strong> Stände 23<br />
z.B. der Adel) oder politische Stände sein (a.a.O.: 180). Im Unterschied zur sozialen<br />
Klasse gibt Weber keine bestimmte Anzahl charakteristischer Stände für<br />
seine Zeit an.<br />
Giddens stellt zum Verhältnis von Klasse <strong>und</strong> Stand fest, dass es sich nicht<br />
allein um eine Unterscheidung zwischen objektiven <strong>und</strong> subjektiven Aspekten<br />
der Differenzierung handelt, sondern dass auch der Unterschied zwischen Produktion<br />
(Klassen) <strong>und</strong> Konsumtion (in Form einer spezifischen Lebensführung<br />
bei den Ständen) relevant ist (1979: 49; Weber a.a.O.: 538). Kann man so einerseits<br />
von zwei getrennten Prinzipien, dem Markt- <strong>und</strong> dem ständischen Prinzip,<br />
sprechen, die jeweils für sich die Struktur sozialer <strong>Ungleichheit</strong> beeinflussen <strong>und</strong><br />
quer zueinander liegen können, so sind andererseits Verknüpfungen keinesfalls<br />
ausgeschlossen:<br />
„Ständische Lage kann auf Klassenlage ... ruhen. Aber sie ist nicht durch sie allein<br />
bestimmt: Geldbesitz <strong>und</strong> Unternehmerlage sind nicht schon an sich ständische<br />
Qualifikationen, – obwohl sie dazu führen können.“ (Weber a.a.O.: 180).<br />
Verknüpfungen zwischen Klasse <strong>und</strong> Stand sind insgesamt weder unmöglich<br />
noch zwangsläufig. Offiziere, Beamte <strong>und</strong> Studenten können z.B. dem gleichen<br />
Stand angehören, ohne sich in der gleichen Klassenlage zu befinden. Oft ist jedoch<br />
eine bestimmte ständische Lebensführung doch ökonomisch mit bedingt,<br />
weil sie sich zumindest unter anderem im Konsum ausdrückt. Wenn man Webers<br />
begrifflichen Differenzierungen folgt, ließe sich zudem hinzufügen, dass soziale<br />
Klassen den ständischen Gemeinschaften näher kommen als z.B. die Erwerbsklassen.<br />
Die möglichen Beziehungen zwischen Klasse <strong>und</strong> Stand behandelt Weber<br />
jedoch nicht eingehend im Einzelnen.<br />
Hradil betont das Spannungsverhältnis beider Prinzipien, wenn er darauf<br />
hinweist, dass ausgeprägte Ständebildungen die freie Marktkonkurrenz, eine<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Klassengliederung, behindern (Hradil 1987: 75; vgl. Weber<br />
a.a.O.: 538). Über die Dominanz eines der beiden Prinzipien sagt Weber, dass<br />
eine „(relative) Stabilität der Gr<strong>und</strong>lagen von Gütererwerb <strong>und</strong> Güterverteilung“<br />
(a.a.O.: 539) eine ständische Gliederung begünstigt, während in Zeiten technisch-ökonomischer<br />
Erschütterung <strong>und</strong> Umwälzung die Klassenlage in den Vordergr<strong>und</strong><br />
rückt (ebd.). Kreckel ist der Ansicht, dass das ständische Prinzip zwar<br />
„ein Erbe aus vorkapitalistischer Zeit“ sei (1982: 623), aber nicht mit ihr zusammen<br />
sterbe, sondern weiter bestehe. Wenn Jahrzehnte später <strong>Ungleichheit</strong>sforscher<br />
darauf hinweisen, dass nicht nur ökonomische Faktoren für soziale<br />
<strong>Ungleichheit</strong> maßgeblich seien (vgl. Kap. 3.6, Teil II), können sie sich damit auf<br />
Webers Ausführungen berufen, die bereits zu Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts entstanden<br />
sind.
24 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
Parteien<br />
Eine weitere Differenzierung trifft Weber mit dem Begriff der „Partei“. Parteien<br />
sind<br />
„primär in der Sphäre der ‚Macht’ zu Hause. Ihr Handeln ist auf soziale ‚Macht’,<br />
<strong>und</strong> das heißt: Einfluss auf ein Gemeinschaftshandeln gleichviel welchen Inhalts<br />
ausgerichtet: es kann Parteien prinzipiell in einem geselligen ‚Klub’ ebensogut geben<br />
wie in einem ‚Staat’. Das ‚parteimäßige’ Gemeinschaftshandeln enthält, im Gegensatz<br />
zu dem von ‚Klassen’ <strong>und</strong> ‚Ständen’, bei denen dies nicht notwendig der<br />
Fall ist, stets eine Vergesellschaftung.“ (Weber 1980: 539)<br />
Man kann sagen, dass mit „Partei“ eine institutionalisierte Interessengruppe<br />
gemeint ist.<br />
Hradil stellt „Partei“ gleichrangig neben „Klasse“ <strong>und</strong> „Stand“, weil sie<br />
nach der ökonomischen <strong>und</strong> sozialen nun die politische Dimension sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
vertrete (1987: 62f.). Kreckel sowie Giddens machen aber auch darauf<br />
aufmerksam, dass man Macht nicht als dritte Dimension oder drittes Prinzip<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> sehen dürfe. Macht sei eher Oberbegriff, weil sowohl<br />
Klassen als auch Stände <strong>und</strong> Parteien Phänomene der Machtverteilung sind.<br />
Macht ist somit weder auf ökonomische, noch soziale oder politische Aspekte<br />
beschränkt (Kreckel 1982: 620; Giddens 1979: 49).<br />
Als Unterschied zu Marx kann man aus den Differenzierungen, die Weber vorgenommen<br />
hat, folgern, dass nach Webers Verständnis nicht der Klassencharakter<br />
das entscheidende Merkmal des modernen Kapitalismus darstellt, sondern die<br />
wachsende Bedeutung der Zweckrationalität mit bürokratischen Organisationen<br />
als ihrem Rahmen. Wenn man (wie Marx) den Klassenkampf als wichtigsten<br />
dynamischen gesellschaftlichen Prozess ansieht, vernachlässigt man nach Weber<br />
die Bedeutung der ständischen Lage (wenngleich die Klassenlage im modernen<br />
Kapitalismus der vorherrschende Faktor ist) <strong>und</strong> überschätzt gleichzeitig die<br />
Rolle der Ökonomie, wenn man aus ihr z.B. auch politische Konstellationen als<br />
sek<strong>und</strong>är ableitet (vgl. auch Giddens 1979: 58-60).<br />
Die Bedeutung von Webers Ausführungen wird häufig darin gesehen, dass<br />
er Wegbereiter war für mehrdimensionale (empirische) Analysen sozialer <strong>Ungleichheit</strong>.<br />
Einige heben sein Konzept als Etappe in der Entwicklung des<br />
Schichtkonzepts hervor, unter anderem durch die Berücksichtigung von Prestige<br />
(vgl. Kap. 3.3). Positiv werden ebenfalls seine präzisen begrifflichen Klärungen<br />
bewertet (z.B. von Giddens 1979: 50).<br />
Aber es gibt auch Kritik, die sich häufig auf den geringen Erklärungsbeitrag<br />
des Konzepts richtet. Hradil bemängelt beispielsweise, dass Weber keinen hin-
2.2 Max Weber: Klassen <strong>und</strong> Stände 25<br />
reichenden Zusammenhang zwischen objektiven <strong>und</strong> subjektiven Aspekten,<br />
zwischen sozio-ökonomischen, -kulturellen <strong>und</strong> -politischen Phänomenen sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> herstellt (1987: 64). Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich auf<br />
eine mangelnde Ursachenhinterfragung. Giddens weist darauf hin, dass Weber<br />
keine systematischen Hinweise auf die Bedingungen gibt, die z.B. Klassenbewusstsein<br />
hervorrufen (1979: 95). Webers abstrakte begriffliche Erörterungen<br />
sind lediglich unfertige Entwürfe, denen er eher in seinen historischen Arbeiten<br />
weiter nachgeht (a.a.O.: 50). Solche Entwürfe setzen sich damit weniger der<br />
Kritik aus als systematische Modelle eines <strong>Ungleichheit</strong>sgefüges mit seinen<br />
Ursachen <strong>und</strong> Dynamiken. G. Berger fasst zusammen: Weber habe weniger das<br />
Ziel, „eine Theorie über Ursachen <strong>und</strong> Formen der <strong>Ungleichheit</strong> im sozialen<br />
Wandel (vorzulegen), sondern eher einen konzeptionellen Rahmen für deren<br />
multidimensionale Analyse.“ (1989: 336).<br />
Zusammenfassung<br />
Weber entwickelt einen differenzierten Ansatz, in dem er vornehmlich ökonomisch<br />
definierte Klassen (Besitz-, Erwerbs- <strong>und</strong> soziale Klassen) <strong>und</strong> auf sozialer<br />
Ehre beruhende Stände, daneben Parteien unterscheidet. Diese Differenzierungen<br />
stellen den Ausgangspunkt für viele spätere mehrdimensionale Analysen<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> dar.<br />
Neuere Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong> sind jedoch nicht nur von den<br />
klassischen Theorien Marx’ <strong>und</strong> Webers beeinflusst, sondern müssen sich ebenfalls<br />
mit der Schichtungsforschung auseinandersetzen, die zunehmend an Bedeutung<br />
gewann. Zwei Ansätze dazu aus der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
werden daher im Folgenden vorgestellt.<br />
Lesehinweis:<br />
Weber, Max (1922): Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Gr<strong>und</strong>riss der verstehenden<br />
Soziologie, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen, 5., revidierte Auflage<br />
1980 (14.-18. Tsd), S. 177-180 („Stände <strong>und</strong> Klassen“); 531-540 („Klassen,<br />
Stände, Parteien“)
26 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers<br />
Die Themen Klassen- <strong>und</strong> Schichtstruktur sowie Mobilität bildeten einen<br />
Schwerpunkt der Arbeit Theodor Geigers (1891-1952), weitere Felder waren<br />
z.B. die Rechtssoziologie, die Ideologiekritik <strong>und</strong> die Analyse von Werbung <strong>und</strong><br />
Propaganda (vgl. als Überblick Geißler/Meyer 1999, ausführlicher Meyer<br />
2001b).<br />
Geiger grenzt sich ausführlich gegen Marx ab, am Rande gegen Weber <strong>und</strong><br />
setzt bisherigen Klassenbegriffen <strong>und</strong> -modellen (auch anderer Autoren, z.B. W.<br />
Sombart oder G. Schmoller) ein eigenes Schichtmodell entgegen, das S. Hradil<br />
als „nicht-marxistisches Klassenmodell“ einordnet (1999: 118). Was versteht<br />
Geiger unter einer Schicht?<br />
„Jede Schicht besteht aus vielen Personen (Familien), die irgendein erkennbares<br />
Merkmal gemein haben <strong>und</strong> als Träger dieses Merkmals einen gewissen Status in<br />
der Gesellschaft <strong>und</strong> im Verhältnis zu anderen Schichten einnehmen. Der Begriff<br />
des Status umfasst Lebensstandard, Chancen <strong>und</strong> Risiken, Glücksmöglichkeiten,<br />
aber auch Privilegien <strong>und</strong> Diskriminationen, Rang <strong>und</strong> öffentliches Ansehen.“<br />
(1955: 186, Hervorhebungen im Original).<br />
Eine Schicht beschreibt damit eine bestimmte soziale Lage <strong>und</strong> dient bei Geiger<br />
als Oberbegriff, der die Sozialstruktur einer Gesellschaft kennzeichnet. Andere<br />
Begriffe, z.B. Kaste, Stand oder Klasse, sind nur Beispiele für historische Sonderfälle<br />
einer Schichtung. Auch die Klasse ist also eine spezielle Form der<br />
Schichtung, <strong>und</strong> zwar eine Form, bei der die Produktionsverhältnisse das „dominante<br />
Schichtungsprinzip“ darstellen.<br />
Zwei Aspekte dieser Sichtweise sollen für ein genaueres Verständnis weiter<br />
erläutert werden:<br />
a. Stellt Geiger eine Verbindung her von Schichten, also von den sozialen<br />
Lagen, zu bestimmten subjektiven Haltungen bzw. zu einem gemeinsamen<br />
Bewusstsein?<br />
b. Was ist mit dem „dominanten Schichtungsprinzip“ gemeint?<br />
Ad a) Geiger nimmt eine Unterscheidung auf, die differenziert zwischen „objektiven“<br />
<strong>und</strong> „subjektiven“ Schichtbegriffen (z.B. 1930: 213; 1955: 192-194).<br />
„Objektive“ Begriffe richten sich ausschließlich auf äußere Merkmale der sozialen<br />
Lage, z.B. das Einkommen. Geiger kritisiert eine solche Vorgehensweise als<br />
sozialstatistische Klassifikation, die kaum eine soziologische Aussagekraft hat,<br />
weil man recht beliebig Personengruppen nach Kriterien gruppieren kann. Die<br />
„subjektive“ Ausrichtung konzentriert sich auf eine bestimmte gemeinsame
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers 27<br />
Haltung oder Denkweise, eine psychische Verfassung der Mitglieder, die nicht<br />
an Merkmale der sozialen Lage geb<strong>und</strong>en wird. „Gemischte“ Begriffe schließlich<br />
stellen einen Zusammenhang zwischen Lage <strong>und</strong> Haltung her, doch in einer<br />
aus Geigers Sicht ebenfalls unbefriedigenden Weise, weil zu den Schichten nur<br />
solche Personen einer gemeinsamen sozialen Lage gehören würden, die sich<br />
auch solidarisch fühlen <strong>und</strong> so verhalten. Wie sieht Geigers Lösung demgegenüber<br />
aus? „Indem man Lagen <strong>und</strong> Haltungen zuerst getrennt erfasst, dann aber<br />
die Verteilung der Lagen <strong>und</strong> die der Haltungen miteinander vergleicht, wird<br />
man gewisse Haltungen als typisch für gewisse Lagen erkennen. Man hat dann<br />
die Haltung in einer Schicht lokalisiert.“ (1955: 194).<br />
Die Haltung oder – in Geigers Terminologie – die „Mentalität“ ordnet er einer<br />
Schicht also quasi im Nachhinein zu. Solch eine Zuordnung ist nicht deterministisch,<br />
sondern sagt eher aus, dass viele, aber nicht alle Schichtmitglieder<br />
eine bestimmte Mentalität haben (es wäre zu diskutieren, ob es immer eine „vorherrschende“<br />
Mentalität in einer Schicht gibt). Eine andere Mentalität ist nicht<br />
„falsches Bewusstsein“ <strong>und</strong> führt auch nicht dazu, die Betreffenden der Schicht<br />
nicht mehr zuzuordnen, sie ist lediglich nicht der Normaltypus. Diese Mentalität,<br />
die durch die soziale Lebenswelt geprägte „geistig-seelische Disposition“ (1967<br />
(zuerst 1932): 77) wiederum ist eine „bewegende Kraft in der Entwicklung des<br />
Wirtschaftslebens“ (a.a.O.: 4).<br />
Abbildung 2: Verknüpfung von Schicht <strong>und</strong> Mentalität nach Geiger<br />
Schicht ( = Lagemerkmale)<br />
Zuordnung<br />
im Nachhinein<br />
Vorherrschende bzw. typische Mentalität<br />
Dieses Konzept von Schichten <strong>und</strong> ihren Mentalitäten hat Geiger in einer Studie<br />
umgesetzt, in der er Daten der Volkszählung von 1925 analysiert: „Die soziale<br />
Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932. Dort stellt er ein Fünf-Schichten-<br />
Modell auf, zu dem folgende Schichten gehören:<br />
� Kapitalisten (0,9% der Berufszugehörigen)<br />
� mittlere <strong>und</strong> kleinere Unternehmer („alter Mittelstand“, 17,8%)<br />
� Lohn- <strong>und</strong> Gehaltsbezieher höherer Qualifikation („neuer Mittelstand“,<br />
17,9%)
28 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
� Tagewerker für eigene Rechnung („Proletaroide“, 12,7%) sowie<br />
� Lohn- <strong>und</strong> Gehaltsbezieher minderer Qualifikation („Proletariat“, 50,7%;<br />
Geiger a.a.O.: 24, 73)<br />
Eine exakte Erforschung der zugehörigen Mentalitäten kann Geiger nicht vornehmen,<br />
dazu hätte er eine große Fülle empirischen Materials über das Alltagsleben<br />
der Menschen benötigt, z.B. über ihre Freizeitverwendung, den Lesegeschmack,<br />
die Formen der Geselligkeit etc. (Geiger a.a.O.: 80). 7 Dennoch macht<br />
er einige Bemerkungen zu den Charakteristika der Schichten. So ist – dies sei<br />
nur als ein Beispiel herausgegriffen – für die mittleren <strong>und</strong> kleinen Unternehmer,<br />
also für Bauern, Handwerker <strong>und</strong> Händler, die hohe Zahl mithelfender Familienangehöriger<br />
bezeichnend, damit bestimmt die „Familien- <strong>und</strong> Heimkultur …<br />
noch weitgehend den gesamten Lebensduktus“, was sich beispielsweise in einer<br />
religiösen Haltung äußert (1967 (zuerst 1932): 85). Diese Unternehmer befinden<br />
sich im „Verteidigungszustand“ nicht allein gegen wirtschaftliche Bedrängnis,<br />
sondern auch gegen drohenden Prestigeverlust (a.a.O.: 87). In ähnlicher Weise<br />
charakterisiert Geiger auch die anderen, in sich differenzierten Schichten <strong>und</strong><br />
berücksichtigt dabei kritisch, welche Schichten anfällig für die Ideologie des<br />
Nationalsozialismus sind (beispielsweise gehören die kleineren Händler dazu;<br />
a.a.O.: 86).<br />
Ad b) Was ist mit dem „dominanten Schichtungsprinzip“ gemeint? Geiger stellt<br />
sich den Begriff der Schichtung zunächst so allgemein vor, dass man unterschiedliche<br />
Schichten nach unterschiedlichen Merkmalen bilden kann. So würde<br />
sich eine andere Schichtung nach dem Einkommen als nach dem Beruf oder nach<br />
der Religionszugehörigkeit ergeben. Diese Schichtstrukturen „überkreuzen,<br />
durchdringen <strong>und</strong> überdecken einander“ (1967 (zuerst 1932): 5). Es sind jedoch<br />
nicht alle Schichtmerkmale gleichermaßen in einer Gesellschaft wichtig. In einer<br />
Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ist vielmehr eine Schichtung dominant,<br />
andere sind subsidiär. In einer ständischen Gesellschaft ist dann etwa die<br />
Schichtung nach der Berufsart dominant. Mit Hilfe dieser Trennung von dominanter<br />
<strong>und</strong> subsidiärer Schichtung gelingt es auch, das Schichtmodell zu einem<br />
dynamischen zu machen, das heißt Prozesse zu analysieren, denn eine dominante<br />
Schichtung muss im Zeitverlauf nicht gleich bleiben, sondern kann in den Hintergr<strong>und</strong><br />
treten, während andere an Bedeutung gewinnen. Nach dieser Sichtweise<br />
könnte man z.B. sagen, die ständische Gesellschaft mit einer Schichtung nach<br />
Berufsarten sei abgelöst worden von einer Klassengesellschaft mit einer Schich-<br />
7<br />
So geht später Bourdieu vor, doch erforscht er nach seiner Terminologie nicht Mentalitäten, sondern<br />
Lebensstile (vgl. Kap. 6).
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers 29<br />
tung durch das Produktionsverhältnis <strong>und</strong> wandelte sich von da aus wiederum<br />
weiter.<br />
Diese Sichtweise Geigers stellt eine wichtige Abgrenzung zu Marx dar. R.<br />
Geißler stellt fest, dass Geiger im Laufe seines wissenschaftlichen Arbeitens<br />
immer größere Distanz zu Marx gewonnen habe. Während Geiger in den allerersten<br />
Arbeiten noch das Zweiklassenmodell vertreten habe, stellt er in der genannten<br />
Studie von 1932 das Fünf-Schichten-Modell vor, in dem Buch „Die<br />
Klassengesellschaft im Schmelztiegel“ von 1949 äußert er schließlich starke,<br />
teilweise auch recht polemisch formulierte Kritik an Marx’ Theorie; Geißler<br />
bezeichnet das Buch daher als „den ‚Anti-Marx’ Geigers“ (Geißler 1985: 390,<br />
398-401). Geiger kritisiert dort beispielsweise, dass eine Verelendung der Arbeiterklasse<br />
nicht eingetreten sei, dass die Klassen sich zunehmend differenziert<br />
<strong>und</strong> schon gar nicht ein kollektives Klassenbewusstsein entwickelt hätten. Er<br />
schließt daraus: „Das marxistische Modell der industriellen Klassengesellschaft<br />
war vermutlich der Periode des Hochkapitalismus nicht unangemessen … Es ist<br />
nun aber zu bedenken, dass die Gesellschaft seit dem Durchbruch des Industrialismus<br />
von tiefer Unrast ergriffen ist“ (Geiger 1975 (zuerst 1949): 156). Abgesehen<br />
von einigen prinzipiellen Einwänden gegen Marx hat dieser aus Geigers<br />
Sicht also ein recht angemessenes Bild einer bestimmten Epoche entworfen,<br />
doch führt der soziale Wandel dahin, dass man nun andere Schichtungen als<br />
dominant herausarbeiten muss, um die Sozialstruktur der Gesellschaft zu charakterisieren.<br />
Stellt Geigers Ansatz die Lösung der Sozialstrukturanalyse dar? Obwohl er für<br />
einige spätere Modelle einflussreich war, gibt es auch an seinem Modell Kritikpunkte.<br />
Unter anderem stellt sich die Frage, wie man denn die bedeutsamsten<br />
Unterscheidungsmerkmale, die dominante Schichtung unter allen anderen<br />
Schichtungen einer Gesellschaft erkennen kann. Bei Geiger hört es sich so an,<br />
als ob sich, falls der Forscher nur genügend unvoreingenommen sei, die dominante<br />
Schichtung fast naturwüchsig herausschäle, z.B. möchte er zunächst alle<br />
Erscheinungen gesellschaftlicher Schichtung beschreiben, „wie sie sind“ (1955:<br />
199). 8 Seiner Meinung nach drängen sich gewisse Unterschiede der Lage als<br />
schicksalsbestimmend auf (1955: 195) – <strong>und</strong> dies sagt er, obwohl er andererseits<br />
zwei Schwierigkeiten selbst benennt:<br />
„Je näher der Betrachter insbesondere seiner eigenen Zeit kommt, desto schwerer<br />
fällt ihm die Unterscheidung zwischen typischen Perioden <strong>und</strong> den Übergangszuständen<br />
zwischen ihnen … ein anderer Umstand aber dürfte weit wichtiger sein. Die<br />
8 Im Gegensatz dazu bestimmt z.B. Weber Mobilität als Kriterium für die Bündelung zahlreicher<br />
Besitz- <strong>und</strong> Erwerbsklassen zu „sozialen Klassen“.
30 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
neuzeitlichen Gesellschaften sind tatsächlich in höherem Grade labil, sind hektischeren<br />
Veränderungen unterworfen als die Gesellschaften der Vorzeit“ (1975 (zuerst<br />
1949): 151f.).<br />
Daher findet er es auch<br />
„zweifelhaft, ob der Augenblick für die Durchführung solcher Untersuchungen [zur<br />
gesellschaftlichen Struktur, N.B.] günstig wäre. Alles scheint heute im Gleiten zu<br />
sein, eine klar sich abzeichnende Struktur ist kaum zu finden. Wohl aber lassen gewisse<br />
Tendenzen einer Schichtverlagerung sich aufzeigen.“ (a.a.O.: 147).<br />
Es stellt sich die Frage, ob angesichts der oben genannten Schwierigkeiten der<br />
Augenblick überhaupt einmal wieder günstig werden kann, ob man das Modell<br />
angesichts des schnellen sozialen Wandels nicht modifizieren muss. So stellt<br />
auch Geißler fest, dass es Geiger insgesamt nicht gelingt, einen Begriff für das<br />
dominante Schichtungsprinzip seiner Zeit zu prägen <strong>und</strong> damit „den Kern des<br />
Wandels begrifflich <strong>und</strong> theoretisch zu erfassen“ (1985: 399). Eine Anwendung<br />
auf Geigers Gegenwartsgesellschaft ist diesem selbst also nicht gelungen, der oft<br />
positiv bewertete Hinweis auf dynamische Aspekte bleibt damit recht vage.<br />
Trotz dieser Kritik ist Geigers Modell nicht ohne Einfluss geblieben. Zwar<br />
wirkte er nicht schulbildend, <strong>und</strong> es gibt keine umfassende systematische Weiterentwicklung<br />
seines Werkes (Geißler/Meyer 1999: 290). Jedoch beruft sich<br />
beispielsweise R. Dahrendorf (dessen Konzept in Kap. 3.2 behandelt wird) auf<br />
ihn, <strong>und</strong> auch R. Geißler betont, dass viele Punkte, die Kritiker gegen spätere<br />
Schichtmodelle vorbrachten, auf Geigers Konzept nicht zuträfen, <strong>und</strong> nimmt<br />
daher Gesichtspunkte aus Geigers Modell auf (Kap. 4.1). Zudem betont Geißler<br />
1985, dass sich die <strong>Ungleichheit</strong>sforschung nicht wesentlich weiterentwickelt<br />
habe. Bisher sei es „nicht gelungen, die Strukturen <strong>und</strong> die Dynamik der sozialen<br />
<strong>Ungleichheit</strong> in spätkapitalistischen Gesellschaften auf den Begriff zu bringen.<br />
Der Marx der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ist nicht in Sicht.“ (1985:<br />
407). Daher möchte er den Schichtbegriff, insbesondere den Schichtbegriff Geigers,<br />
nicht voreilig verabschieden. Auch Schroth betont Geigers Aktualität, er<br />
liege „voll im Trend der gegenwärtigen Sozialstrukturforschung“ (1999: 32) <strong>und</strong><br />
erfülle in jeder Hinsicht die Anforderungen, die an eine gegenwärtige Schichtanalyse<br />
zu stellen seien (1999: 34).<br />
Zusammenfassung<br />
In Abgrenzung insbesondere zu Marx entwirft T. Geiger ein Schichtmodell, das<br />
aus mehreren Schichten besteht. Das „dominante Schichtungsprinzip“, das für
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie 31<br />
die Einteilung der Schichten, der spezifischen sozialen Lagen, besonders bedeutsam<br />
ist, kann sich allgemein je nach Gesellschaft <strong>und</strong> auch im Zeitverlauf wandeln.<br />
Zudem bleibt Geigers Ansatz nicht bei der begründeten Klassifikation sozialer<br />
Lagen stehen, sondern verknüpft diese im nächsten Schritt mit typischen<br />
Mentalitäten. Allerdings ist es Geiger nicht gelungen, die Schichtungsstruktur<br />
seiner Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts auf den Begriff zu<br />
bringen, das dominante Schichtungsprinzip herauszuarbeiten, das historisch laut<br />
Geiger die Klassengesellschaft abgelöst hat.<br />
Lesehinweise:<br />
� Geiger, Theodor (1955 erschienen): Theorie der sozialen Schichtung; in:<br />
ders. (1962): Arbeiten zur Soziologie, hg. von Paul Trappe, Neuwied/Berlin:<br />
Luchterhand, S. 186-205<br />
� Als Überblick in der Sek<strong>und</strong>ärliteratur: Geißler, Rainer (1985): Die Schichtungssoziologie<br />
von Theodor Geiger. Zur Aktualität eines fast vergessenen<br />
Klassikers; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie <strong>und</strong> Sozialpsychologie 37,<br />
S. 387-410<br />
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie<br />
Die funktionalistische Sicht der sozialen Schichtung nimmt eine ganz andere<br />
Perspektive auf soziale <strong>Ungleichheit</strong> ein. Sie wurde in den Gr<strong>und</strong>lagen in den<br />
USA von T. Parsons (1902-1979) entwickelt (z.B. 1940, 1949). Die deutsche<br />
Rezeption hat sich zudem auch auf einen Aufsatz von K. Davis <strong>und</strong> W.E. Moore<br />
von 1945 konzentriert, der 1967 in deutscher Sprache erschien. Diese Perspektive<br />
fragt nicht, wie man möglicherweise Ungerechtigkeit oder Unterdrückung<br />
beseitigen könnte, sondern sie denkt darüber nach, wofür soziale Schichtung<br />
wohl nützlich sein könnte, ob sie für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben<br />
einen – vielleicht sogar notwendigen – Beitrag leistet.<br />
In der deutschen Diskussion um soziale <strong>Ungleichheit</strong> nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg war insbesondere ab Anfang der sechziger Jahre der Strukturfunktionalismus<br />
einflussreich, aber auch die Auseinandersetzung mit der Klassentheorie<br />
verschwand nicht ganz, so dass die funktionalistische Schichtungstheorie schnell<br />
auch Kritik hervorrief (z.B. Mayntz 1961). Ein Kritikpunkt bestand gerade darin,<br />
dass Elemente wie Macht <strong>und</strong> soziale Konflikte in der Theorie vernachlässigt<br />
würden. Doch sollen vor der Kritik einige Gr<strong>und</strong>züge der funktionalistischen<br />
Sichtweise sozialer <strong>Ungleichheit</strong> dargestellt werden.
32 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
T. Parsons<br />
T. Parsons versteht in seiner strukturfunktionalistischen Theorie Gesellschaft als<br />
ein System mit verschiedenen Subsystemen, die für die Gesellschaft bestimmte<br />
Funktionen erfüllen, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Beispielsweise<br />
ist, wenn man gesellschaftliche Institutionen betrachtet, die Politik unter anderem<br />
dafür zuständig, gemeinsame Handlungsorientierungen, z.B. in Form von<br />
Gesetzen, zu formulieren <strong>und</strong> zwischen verschiedenen Interessengruppen zu<br />
vermitteln (vgl. als einführende Sek<strong>und</strong>ärliteratur zu Parsons z.B. Münch 2007).<br />
Im Zusammenhang mit sozialer Schichtung fragt Parsons entsprechend, inwiefern<br />
sie dazu beiträgt, dass gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert.<br />
<strong>Soziale</strong> Schichtung bedeutet für Parsons<br />
„die differentielle Rangordnung …, nach der die Individuen in einem gegebenen sozialen<br />
System eingestuft werden <strong>und</strong> die es bedingt, dass sie in bestimmten, sozial<br />
bedeutsamen Zusammenhängen als einander über- <strong>und</strong> untergeordnet behandelt<br />
werden“ (Parsons 1940: 180).<br />
Stabile soziale Systeme brauchen Normen, die diese Beziehungen der Über- <strong>und</strong><br />
Unterordnung regeln, <strong>und</strong> die soziale Schichtung stellt ein solches Regelsystem,<br />
eine solche Ordnung dar, trägt damit zur Systemstabilität bei. An diese Aussage<br />
schließen sich zwei Fragen an. Erstens: Warum sollten sich die Menschen in eine<br />
solche Ordnung einfügen (anstatt sich, wie in den Vorstellungen von Marx, zusammenzuschließen<br />
<strong>und</strong> gegen Höhergestellte aufzubegehren)? Und zweitens:<br />
Nach welchen Merkmalen erfolgt eine Bewertung als über- oder untergeordnet?<br />
Zum ersten Punkt: Hierzu lautet Parsons’ These, grob gesagt, dass sich die<br />
Motive <strong>und</strong> Bewertungsmaßstäbe Einzelner einerseits <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
Normen andererseits im Wesentlichen entsprechen: „Wenn das Individuum also<br />
den institutionellen Normen nicht entspricht, so handelt es damit seinem eigenen<br />
Interesse entgegen.“ (Parsons 1940: 185). Diese Übereinstimmung kommt dadurch<br />
zustande, dass man bestimmte moralische Muster bereits in der Kindheit<br />
verinnerlicht, außerdem gibt es Sanktionen durch die soziale Umwelt, die das<br />
Handeln kontrollieren (was andeutet, dass keine vollkommenen Harmonievorstellungen<br />
angebracht sind über die Verknüpfung zwischen Individuum <strong>und</strong><br />
„Gesellschaft“). Ein wichtiges Handlungsmotiv besteht darin, die Anerkennung<br />
anderer zu erlangen, was durch die Befolgung sozialer Normen gelingen kann.<br />
Schichtung ist daher auch ein wichtiges Mittel zur Handlungsorientierung: „Die<br />
soziale Schichtung bildet also einen der Zentralpunkte für die Strukturierung des<br />
Handelns in sozialen Systemen“ (a.a.O.:186).
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie 33<br />
An welchen Merkmalen können sich die Individuen nun orientieren, um sich <strong>und</strong><br />
andere in einer Schichtungsskala einzuordnen? Parsons nennt sechs Gr<strong>und</strong>elemente:<br />
� Die Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe (das heißt eine Position,<br />
die man durch die Herkunftsfamilie innehat oder durch Heirat erlangt)<br />
� Persönliche Eigenschaften (z.B. das Geschlecht oder das Alter)<br />
� Leistungen (im Unterschied zu den Eigenschaften Ergebnisse von Handlungen,<br />
z.B. beruflicher Erfolg)<br />
� Eigentum (wobei z.B. Reichtum selten ein primäres Statuskriterium darstellt,<br />
sondern eher ein Symbol für den Leistungserfolg ist)<br />
� Autorität (das institutionell anerkannte Recht auf Einfluss, z.B. als Inhaber<br />
eines Richteramtes oder als Eltern)<br />
� Macht (im Unterschied zur Autorität handelt es sich hier um nicht institutionell<br />
anerkannten Einfluss).<br />
„Der Status eines jeden Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft kann<br />
als Resultante der gemeinsamen Wertungen betrachtet werden, nach denen ihm sein<br />
Status in diesen sechs Punkten zuerkannt wird“ (a.a.O.: 189).<br />
Jemand ist also z.B. ledig, männlich <strong>und</strong> Krankenpfleger mit einem bestimmten<br />
Einkommen etc. <strong>und</strong> wird entsprechend eingeordnet. Welche Merkmale besonders<br />
gewichtet werden, wie sie im Einzelnen bewertet werden, ist je nach Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> Zeitpunkt verschieden. Beispielsweise wäre der erste Punkt, die Mitgliedschaft<br />
in einer Verwandtschaftsgruppe, in einer Kastengesellschaft das eindeutig<br />
dominierende Rangkriterium. Für die Schichtungsskala der USA, also<br />
einer modernen, industrialisierten Gesellschaft, hält Parsons (1940, 1949) zwei<br />
Gr<strong>und</strong>elemente fest: zum einen Leistungen im Berufssystem (was ein Mindestmaß<br />
an Chancengleichheit voraussetzt) <strong>und</strong> zum anderen bestimmte Verwandtschaftsbande,<br />
<strong>und</strong> zwar Solidarität in einer Kernfamilie mit klarer Geschlechtsrollentrennung,<br />
in der vor allem der Mann den beruflichen Status der gesamten<br />
Familie festlegt.<br />
Über die offensichtliche zeitliche Geb<strong>und</strong>enheit des konkreten Beispiels<br />
hinaus will Parsons durch die sechs Bewertungskriterien ein analytisches Instrument<br />
entwerfen, mit dem man die Schichtung verschiedener Gesellschaften zu<br />
unterschiedlichen Zeitpunkten beschreiben kann. Diese Sichtweise betrachtet er<br />
als eine Weiterentwicklung von Marx’ Ansatz, dem er zwar eine wichtige Rolle<br />
in der soziologischen Theorieentwicklung zugesteht, der aber
34 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
„die Tendenz [hatte], die sozioökonomische Struktur der kapitalistischen Wirtschaft<br />
als eine einzige, unteilbare Einheit zu behandeln, statt analytisch zwischen einer<br />
Reihe verschiedener Variablen zu unterscheiden“ (Parsons 1949: 207).<br />
So dürfe eine zeitgemäße Sozialstrukturanalyse nicht allein die Gewinnorientierung<br />
<strong>und</strong> die Ausbeutung durch kapitalistische Unternehmer berücksichtigen,<br />
sondern an zentraler Stelle z.B. auch die Berufsrollenstruktur. Auch der Klassenkonflikt<br />
erscheine so nicht mehr unvermeidlich, sondern sei an bestimmte Bedingungen<br />
geb<strong>und</strong>en.<br />
K. Davis/W.E. Moore<br />
Auch K. Davis <strong>und</strong> W. E. Moore stellen in ihrer Arbeit von 1945 deutlich heraus,<br />
dass aus ihrer Sicht die Schichtung jeder Gesellschaft eine funktionale Notwendigkeit<br />
darstellt. Schichtung ist also gr<strong>und</strong>sätzlich aus gesellschaftlichem<br />
Blickwinkel etwas Positives, nicht etwas, das man überwinden müsste. Da sich<br />
die Argumente auf das allgemeine System der Positionen in einer Gesellschaft<br />
richten <strong>und</strong> nicht auf die einzelnen Individuen, sagen sie in keiner Weise, wie die<br />
Autoren selbst betonen, etwas darüber aus, ob die Lebenslage eines Einzelnen<br />
beispielsweise gerecht oder beklagenswert ist <strong>und</strong> wie er seine Chancen gegebenenfalls<br />
verbessern kann. Nach einer Unterscheidung von R.K. Merton könnte<br />
man sagen: Trotz manifester Unzufriedenheit mit bestehenden <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
gibt es eine latente Funktionalität sozialer Schichtung. Analytisch trennt diese<br />
theoretische Perspektive dadurch zwischen Motiven <strong>und</strong> objektiven Folgen sozialen<br />
Handelns (Merton 1995: Kap. 1). Mit den Worten von Davis/Moore ist<br />
soziale <strong>Ungleichheit</strong><br />
„ein unbewusst entwickeltes Werkzeug, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sicherstellt,<br />
dass die wichtigsten Positionen von den fähigsten Personen gewissenhaft ausgefüllt<br />
werden“ (1973 (zuerst 1945): 398).<br />
Was bedeutet das genauer? Eine Gesellschaft muss bestimmte Positionen besetzen,<br />
als wichtige Hauptfunktion nennen die Autoren beispielsweise die Aufgaben<br />
von Staat <strong>und</strong> Regierung, die Normen durchsetzen, Entscheidungen treffen,<br />
insgesamt planen <strong>und</strong> lenken sollen, oder die Integrationsfunktion, der z.B.<br />
die Religion dient. Geeignete Personen müssen nun dazu motiviert werden, diese<br />
Positionen zu besetzen <strong>und</strong> die Aufgaben zu erfüllen, daher sind die Positionen<br />
mit entsprechenden Belohnungen verknüpft (z.B. Einkommen oder Ansehen).<br />
Wann hat nun eine Position welchen Rang inne? Die zwei Determinanten, die<br />
Davis <strong>und</strong> Moore nennen, sind erstens die Bedeutung oder die Funktion der
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie 35<br />
Position für die Gesellschaft <strong>und</strong> zweitens die erforderliche Begabung <strong>und</strong>/oder<br />
Ausbildung, die zur angemessenen Ausübung der Position notwendig ist.<br />
Abbildung 3: Einflussfaktoren für den Rang einer Position nach Davis/Moore<br />
Funktionale Bedeutung einer Position �<br />
Relative Knappheit des Personals �<br />
(da Begabung/Ausbildung erforderlich)<br />
Rang einer Position<br />
Die Bedeutung der Position ist dabei eine notwendige, aber nicht allein hinreichende<br />
Bedingung. Beispielsweise ist es ganz sicherlich eine notwendige gesellschaftliche<br />
Aufgabe, den Hausmüll regelmäßig zur Entsorgung abzutransportieren,<br />
aber die Posten bei der Müllabfuhr rangieren im Belohnungssystem nicht<br />
gerade besonders weit oben. Die Autoren erklären dies so: Die Gesellschaft<br />
„muss diese Positionen lediglich mit so starken Anreizen ausstatten, dass eine angemessene<br />
Besetzung gewährleistet ist … wenn eine Position ohne Schwierigkeiten<br />
besetzt werden kann, braucht sie trotz ihrer Bedeutung nicht hoch belohnt zu werden.“<br />
(1973 (zuerst 1945): 399).<br />
Weil die meisten wichtigen Positionen spezielle Fähigkeiten erfordern, sieht der<br />
Normalfall so aus, dass geeignete Personen dafür knapp sind, weil nicht jeder die<br />
gleichen Begabungen hat <strong>und</strong> Ausbildungen Zeit, Geld <strong>und</strong> Mühe erfordern. Um<br />
die entsprechend Begabten z.B. für eine technische Expertenposition zu „locken“<br />
<strong>und</strong> für eine langwierige Ausbildung zu interessieren, sind mit solchen Positionen<br />
dann relativ hohe Belohnungen verb<strong>und</strong>en.<br />
Auch Davis <strong>und</strong> Moore beanspruchen, auf diese Weise ein allgemeines Modell<br />
aufzustellen, das nicht nur für eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt gilt. Die beiden Determinanten für den Rang einer Position<br />
halten sie für universal, aber einer Position kann in verschiedenen Gesellschaften<br />
(etwa mit unterschiedlichem Spezialisierungsgrad) unterschiedliche Bedeutung<br />
zukommen. So könnte z.B. die Integrationskraft der Religion im Vergleich<br />
zweier Gesellschaften unterschiedlich wichtig sein.<br />
Wie oben bereits angedeutet, gab es zu diesem Ansatz verschiedene Kritikpunkte.<br />
In der Kontroverse, die hier nicht nachvollzogen werden kann (vgl. z.B.<br />
die Beiträge in Bendix/Lipset 1966: 47-96, unter anderem von M. Tumin), mischen<br />
sich dabei Gesichtspunkte, die sich speziell auf die funktionalistische<br />
Schichtungstheorie richten, <strong>und</strong> solche, die den Strukturfunktionalismus generell<br />
betreffen. Hier sei beispielhaft auf zwei wichtige Kritikpunkte hingewiesen.
36 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
1. R. Mayntz führt an, dass das Modell stillschweigend von Voraussetzungen<br />
ausgeht, die die Autoren (sie bezieht sich vorwiegend auf Davis bzw. Davis/Moore)<br />
nicht explizit genug machen <strong>und</strong> deren Gültigkeit anzuzweifeln<br />
ist. Diese Voraussetzungen lauten, „dass erstens Talent angeboren <strong>und</strong><br />
knapp ist, dass zweitens niemand ohne Aussicht auf besondere Belohnung<br />
nach schwierigeren Aufgaben strebt, <strong>und</strong> dass drittens soziale Positionen im<br />
freien Wettbewerb errungen werden“ (1961: 13). Wenn dagegen beispielsweise<br />
Führungsqualitäten im politischen Bereich gar nicht so knapp wären<br />
oder diejenigen mit entsprechenden Fähigkeiten solche Aufgaben auch ohne<br />
besondere Belohnungen gern, etwa aus sachlichem Interesse oder sozialem<br />
Pflichtgefühl übernähmen, wäre das Modell von Davis <strong>und</strong> Moore weit weniger<br />
plausibel. Selbst wenn man z.B. das Handeln aus sozialem Pflichtgefühl<br />
als unwahrscheinlich oder illusionär annimmt, zeigt sich an diesem<br />
Sachverhalt doch, dass hinter dem funktionalistischen Modell ein ganz bestimmtes<br />
Menschenbild steht (Mayntz: ebd.).<br />
2. Auf den ersten Blick scheint es nicht unlogisch, unter der Voraussetzung<br />
von weitgehender Chancengleichheit vielleicht auch gerecht, wenn bedeutsamere<br />
Leistungen höher belohnt werden (teilweise hat sich diese Vorstellung<br />
eines Leistungsprinzips ja bis heute erhalten). Bei genauerem Nachdenken<br />
tauchen dann aber doch einige Fragen auf, die die Bewertung von<br />
Positionen betreffen: Nach welchem Maßstab beurteilt man, ob eine Position<br />
funktional bedeutsam ist? Gibt es Maßstäbe oder zumindest Einigkeit<br />
darüber, welche Funktionen für das Bestehen des Systems relevant sind,<br />
welcher Zielzustand für das System anzustreben ist? Wer wertet überhaupt<br />
<strong>und</strong> teilt Positionen zu? Kommt man zu der Antwort, dass die herrschenden<br />
Gruppen in einer Gesellschaft solche Bewertungen vornehmen oder zumindest<br />
großen Einfluss darauf haben, setzt sich der theoretische Ansatz dem<br />
Vorwurf aus, bestehende <strong>Ungleichheit</strong>sverhältnisse nicht nur hinsichtlich<br />
Macht <strong>und</strong> Ungerechtigkeiten zu ignorieren (ganz im Gegensatz zu Klassentheorien),<br />
sondern diese Verhältnisse sogar zu legitimieren.<br />
G. Lenski<br />
In einer Veröffentlichung von 1966 (im amerikanischen Original) versucht Gerhard<br />
Lenski, von „konservativen“ <strong>und</strong> „radikalen“ <strong>Ungleichheit</strong>stheorien ausgehend,<br />
man könnte in der hier verwendeten Terminologie sagen: von funktionalistischer<br />
Schichtungstheorie <strong>und</strong> Klassentheorie ausgehend, einen Schritt in<br />
Richtung einer Synthese zu unternehmen. Dies tut er dadurch, dass er zunächst<br />
Schichtung umdefiniert als „den Verteilungsprozess in menschlichen Gesell-
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie 37<br />
schaften, den Prozess, durch den knappe Werte verteilt werden“ (Lenski 1977:<br />
12). Im nächsten Schritt stellt er dann zwei Prinzipien dieses Verteilungsprozesses<br />
zur Klärung der Ursachen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> heraus: Bedürfnis <strong>und</strong><br />
Macht. Diese Prinzipien konkretisiert er in zwei Verteilungsgesetzen. Das erste<br />
lautet: Die Menschen teilen das Produkt ihrer Arbeit insoweit, als es zur Sicherung<br />
ihres Überlebens <strong>und</strong> der kontinuierlichen Produktivität jener notwendig ist,<br />
deren Handlungen für sie selbst notwendig oder nützlich sind. Dieses Gesetz<br />
beruht auf der Annahme, dass Menschen in erster Linie aus Eigeninteresse handeln,<br />
dieses aber meist nur durch Kooperation realisieren können. Die Verteilung<br />
der Güter auf dieser Stufe verursacht, so Lenskis Annahme, keine bedeutsamen<br />
Verteilungskonflikte, denn an einer weiteren Kooperation zur Überlebenssicherung<br />
ist jeder interessiert. Das ändert sich mit der Produktion eines Mehrwerts,<br />
also von Gütern, die nicht unmittelbar zum Überleben dienen. Dadurch dass<br />
erstrebenswerte Güter immer knapp sind, kommt es zu Konflikten. Das zweite<br />
Verteilungsgesetz sagt entsprechend aus: „Macht [bestimmt] weitgehend darüber,<br />
wie der Surplus einer Gesellschaft verteilt wird“ (a.a.O.: 71). Macht ist in<br />
der Folge auch ein bedeutsamer Einflussfaktor, die „Schlüsselvariable“, für Privilegien<br />
(der Besitz oder die Kontrolle eines Teils des Surplus) <strong>und</strong> für Prestige<br />
(a.a.O.: 73). Die Bedeutung des Verteilungsprinzips durch Macht wächst indes<br />
mit dem technologischen Fortschritt einer Gesellschaft (a.a.O.: 74).<br />
Lenskis Schwerpunkt liegt auf diesen dynamischen Aspekten von <strong>Ungleichheit</strong>,<br />
doch macht er auch Aussagen über die Struktur von Verteilungssystemen.<br />
Mitglieder einer Klasse befinden sich im Hinblick auf Macht (<strong>und</strong> auch<br />
im Hinblick auf Privilegien <strong>und</strong> Prestige) in einer ähnlichen Position, sie haben<br />
ähnliche Interessen, die jedoch nicht zu einem gemeinsamen Bewusstsein führen<br />
müssen (a.a.O.: 109-112). Das Verteilungssystem einer Gesellschaft insgesamt<br />
besteht aus mehreren Klassensystemen mit unterschiedlicher Gewichtung, denen<br />
jeweils ein bestimmtes Klassenkriterium zugr<strong>und</strong>e liegt, z.B. aus einem politischen<br />
Klassensystem <strong>und</strong> nachrangig aus einem Besitz-, Berufs- <strong>und</strong> ethnischen<br />
Klassensystem. Jedes Klassensystem teilt sich in verschiedene Klassen auf. Ein<br />
Individuum hat in jedem Klassensystem eine Position, erhält so ein spezifisches<br />
Profil, ist z.B. unpolitisch, Kaufmann aus dem Mittelstand <strong>und</strong> spanischer Herkunft<br />
(a.a.O.: 116f.). Wenn man nun noch die Klassensysteme unter verschiedenen<br />
Gesichtspunkten vergleicht – Lenski nennt z.B. Bedeutung, Spannweite,<br />
Mobilitätsgrad, Gegnerschaft etc. (a.a.O.: 118-120) – ergibt sich ein komplexes<br />
Gefüge, das zwar viele Dimensionen berücksichtigt, aber auch Gefahr läuft,<br />
unübersichtlich zu werden.<br />
Kritische Stimmen haben sich jedoch eher auf Lenskis Schwerpunkt, den<br />
Syntheseversuch, gerichtet. Beispielsweise bezweifelt Wiehn, dass es eine Gesellschaft<br />
ohne Mehrwert geben könne. Viele Gesichtspunkte bleiben unklar,
38 2 Die Entstehung der Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
z.B. wie teilen die Menschen in einer Gesellschaft ohne Mehrwert (Gleichverteilung?),<br />
oder wo kommt mit dem Mehrwert die Macht her? (z.B. Wiehn 1968:<br />
132, 136f.). Wiehn hält die Synthese letztlich für misslungen, doch habe Lenski<br />
auf wichtige Punkte aufmerksam gemacht, die über bisherige Ansätze hinausführen<br />
(z.B. Macht als Zentralkriterium; 1968: 137). Es sind also eher einzelne<br />
Aspekte als der Gesamtansatz Lenskis, die für spätere Ansätze Anregungen gaben<br />
(z.B. auch bei Dahrendorf 1966a: 346), doch ist er ein vergleichsweise frühes<br />
Beispiel für einen Versuch, durch ein mehrdimensionales Modell Einseitigkeiten<br />
anderer Theorien zu überwinden.<br />
Zusammenfassung<br />
Der funktionalistische Schichtungsansatz geht davon aus, dass die soziale<br />
Schichtung dazu beiträgt, dass Gesellschaft „funktioniert“, dass eine stabile soziale<br />
Ordnung möglich ist. Je mehr eine Position solche Leistungen erbringt, desto<br />
höher ist sie in der Rangordnung angesiedelt. Wenngleich konkrete Schichtungen<br />
je nach Gesellschaft variieren können, stehen doch bestimmte Elemente fest,<br />
die die Einordnung in die Schichtungsskala bedingen (s. die sechs Punkte bei<br />
Parsons) bzw. die den Rang einer Position beeinflussen (Davis/Moore). Einen im<br />
Versuch positiv zu würdigenden, im Ergebnis jedoch fraglichen Ansatz zur Verbindung<br />
von funktionalistischer Schichtungstheorie <strong>und</strong> konfliktorientierter<br />
Klassentheorie hat Lenski vorgelegt.<br />
Der funktionalistische Ansatz hat mit Geigers Schichtungsmodell gemeinsam,<br />
dass beide von mehrdimensionalen Schichtungen ausgehen, deren zentrale<br />
Merkmale nach Gesellschaft <strong>und</strong> Zeit variieren können. Ein Klassenkonflikt ist<br />
bei beiden keineswegs zwingend. Darüber hinaus haben sie jedoch ein unterschiedliches<br />
Erkenntnisinteresse: Bei Geiger ist es die Verknüpfung von<br />
Schichtung <strong>und</strong> Mentalität, beim funktionalistischen Ansatz der Beitrag der<br />
Schichtung zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung.<br />
Sowohl Klassen- als auch Schichtmodelle in ihren unterschiedlichen Ausführungen<br />
sahen sich nach wie vor jeweils verschiedenen Kritikpunkten ausgesetzt.<br />
Sie bildeten aber in der folgenden Zeit – noch bis etwa Anfang der achtziger<br />
Jahre – die Gr<strong>und</strong>lage, auf der theoretische Modelle <strong>und</strong> Kontroversen zur<br />
sozialen <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Sozialstrukturanalyse aufbauten, wie das folgende<br />
Kapitel zeigt.
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie 39<br />
Lesehinweis:<br />
Davis, Kingsley; Wilbert E. Moore (1945): Einige Prinzipien der sozialen<br />
Schichtung; in: Heinz Hartmann (Hg.) (1967): Moderne amerikanische Soziologie.<br />
Stuttgart: Enke, 2., umgearbeitete Auflage 1973, S. 396-410
3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft 41<br />
3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Die Konkurrenz verschiedener Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle von den fünfziger<br />
Jahren bis in die siebziger Jahre<br />
Zwischen den 1950er <strong>und</strong> 1970er Jahren gab es keine eindeutige Vorherrschaft<br />
eines bestimmten Autors oder Modells (wenngleich Autoren immer wieder auf<br />
das unten beschriebene „Zwiebelmodell“ als für die sechziger Jahre angemessen<br />
verweisen), aber mit wenigen Ausnahmen betrachten die verschiedenen Modelle<br />
einen der Begriffe Klasse oder Schicht als angemessen. Eine Auswahl von in<br />
Westdeutschland stärker diskutierten Ansätzen soll hier vorgestellt werden.<br />
3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft<br />
In den fünfziger Jahren entstand eine These, die sowohl den Klassen- <strong>und</strong><br />
Schichtbegriff ablehnte als auch überhaupt Modelle der vertikalen Strukturierung<br />
zur Charakterisierung der Sozialstruktur. Laut dieser These war die Gesellschaft<br />
nämlich auffällig „nivelliert“. Obwohl diese Perspektive bald ihre Kritiker fand,<br />
ist das Schlagwort von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft eines, das nicht<br />
in seiner Geltung, wohl aber in seinem Bekanntheitsgrad bis heute erhalten<br />
geblieben ist.<br />
In einem Aufsatz von 1953 stellt Schelsky seine Auffassung in einigen Thesen<br />
vor:<br />
1. In den letzten zwei Generationen hat es umfangreiche Auf- <strong>und</strong> Abstiegsprozesse<br />
gegeben, insbesondere Aufstiege von Industriearbeitern <strong>und</strong> zum<br />
Teil von Verwaltungsangestellten in den „neuen Mittelstand“ <strong>und</strong> andererseits<br />
Abstiege des ehemaligen Besitz- <strong>und</strong> Bildungsbürgertums (z.B. durch<br />
Vertreibungen). Diese Mobilität führte „zu einem relativen Abbau der Klassengegensätze,<br />
einer Entdifferenzierung der alten, noch ständisch geprägten<br />
Berufsgruppen <strong>und</strong> damit zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig<br />
einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch<br />
wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung <strong>und</strong> sozialen<br />
Hierarchie gekennzeichnet wird.“ (1953: 332). Staatliche Regulierungen<br />
wie die Sozial- <strong>und</strong> Steuerpolitik unterstützen diese Nivellierung.<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_3,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
42 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
2. Der Nivellierung folgt weitgehend eine Vereinheitlichung der sozialen <strong>und</strong><br />
kulturellen Verhaltensformen, die Schelsky als „kleinbürgerlich-mittelständisch“<br />
bezeichnet.<br />
3. <strong>Soziale</strong> Mobilität ist damit kein Umschichtungsvorgang mehr, sondern<br />
vorrangig eine Entschichtung. Schelsky ist nicht so naiv anzunehmen, dass<br />
alle Unterschiede eingeebnet wären: „Selbstverständlich bleibt eine Analyse<br />
der sozialen Schichtung auch in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft<br />
nach den alten Kriterien möglich, da deren Kennzeichen ja nicht ganz verwischt<br />
sind.“ (1953: 333). Allerdings glaubt er nicht, dass man aus solchen<br />
Gruppierungen einheitliche Interessen <strong>und</strong> Bedürfnisse ableiten könne.<br />
Schon gar nicht stehen sich zwei große feindliche Klassen gegenüber, wie<br />
es als Betrachtungsweise der frühindustriellen Gesellschaft im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
noch angemessener war. Eher schon gibt es im Produktionssystem<br />
Konflikte der Arbeiter mit einem anonymen bürokratischen System oder<br />
zwischen organisierten Interessenvertretungen (vgl. auch Schelsky 1956:<br />
339-342).<br />
4. Das Bewusstsein der Menschen hält dagegen noch oft an der Rangfolge der<br />
Prestigeschichtung fest, wie sie der früheren Klassengesellschaft entsprach,<br />
oder betont sie sogar besonders. Die Ursache sieht Schelsky in Sicherheits-<br />
<strong>und</strong> Geltungsbedürfnissen, die eine in hohem Maße mobile Gesellschaft<br />
nicht befriedigen kann. Auch Organisationen wie Gewerkschaften oder<br />
Unternehmerverbände erhalten die Ideologie eines Klassenkonflikts zu ihrer<br />
Legitimierung teilweise aufrecht (1956: 343f., 1961).<br />
5. In der nivellierten Gesellschaft sind den Aufstiegsbedürfnissen definitionsgemäß<br />
relativ enge Grenzen gesetzt, weil die „soziale Leiter“ insgesamt<br />
kürzer geworden ist. <strong>Soziale</strong> Unsicherheiten bleiben so bestehen, auch können<br />
daraus soziale Spannungen erwachsen. Die Nivellierung bedeutet also<br />
nicht ein harmonisches Zusammenleben.<br />
6. Das so genannte „Mittelstandsproblem“ einer unklaren Klassenzuordnung<br />
mittlerer Schichten (insbesondere Angestellter) stellt sich kaum mehr, weil<br />
es in der nivellierten Gesellschaft zu einer Problematik der Gesamtgesellschaft<br />
geworden ist.<br />
Obwohl Schelskys These fast einhellig abgelehnt wurde, diente sie oft als willkommene<br />
Folie, um sich abzugrenzen. Beispielsweise kann Dahrendorf die Behauptung<br />
der Angleichung wirtschaftlicher Positionen (welcher Maßstab liegt<br />
hier zugr<strong>und</strong>e?) nicht nachvollziehen, auch große Mobilität hält er für fraglich,<br />
wenn allenfalls jedes zehnte Arbeiterkind Aufstiegschancen habe (Dahrendorf<br />
1965: 148). Ebenso halten Bolte et al. (1967) die Nivellierungstendenzen für<br />
„zweifellos überbetont“ (1967: 284). Zudem bleibt wie beim funktionalistischen
3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive 43<br />
Schichtungsansatz die Frage nach Konflikten unterbelichtet, Dahrendorf spricht<br />
die Gefahr der Zementierung von Herrschaftsverhältnissen durch eine solche<br />
Sichtweise an (1965: 148). Sein eigenes Modell (s.u.) hält Konflikte dagegen für<br />
zentral.<br />
Über dreißig Jahre später stellte sich erneut die Frage, inwiefern es überhaupt<br />
noch Schichten gebe <strong>und</strong> ob soziale Lagen mit spezifischen Interessen<br />
verknüpft seien. Es handelt sich jedoch nicht um eine Reaktualisierung<br />
Schelskys, weil das (weiterhin kontrovers diskutierte) Thema unter veränderten<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sbedingungen aufkam (vgl. dazu insbesondere Kap. 8).<br />
Lesehinweis:<br />
Schelsky, Helmut (1953): Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes für die Analyse<br />
der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft; in: Schelsky, Helmut: Auf der<br />
Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln: Diederichs<br />
1965, S. 331-336<br />
3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive<br />
Wenn R. Dahrendorf in den sechziger Jahren nach dem Ursprung der <strong>Ungleichheit</strong><br />
unter den Menschen sucht, findet er natürlich bereits mehrere Antworten auf<br />
diese Frage: das Privateigentum, die Arbeitsteilung <strong>und</strong> die funktionale Notwendigkeit<br />
der Schichtung. Dahrendorf selbst bietet eine andere Lösung an:<br />
„Der Ursprung der <strong>Ungleichheit</strong> unter den Menschen liegt also in der Existenz von<br />
mit Sanktionen versehenen Normen des Verhaltens in allen menschlichen Gesellschaften“<br />
(1966b: 370).<br />
Was bedeutet das genauer? Dahrendorf geht davon aus, dass jedes gesellschaftliche<br />
Zusammenleben mit der Regelung des Verhaltens durch verfestigte Erwartungen<br />
(Normen) verb<strong>und</strong>en ist, die durch Sanktionen verbindlich werden.<br />
Daraus folgt für ihn,<br />
„dass es stets mindestens jene <strong>Ungleichheit</strong> des Ranges geben muss, die sich aus der<br />
Notwendigkeit der Sanktionierung von normgemäßem <strong>und</strong> nicht-normgemäßem<br />
Verhalten ergibt“ (a.a.O.: 368).<br />
Er betont, dass er damit keine zufällige individuelle <strong>Ungleichheit</strong> je nach persönlichen<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> dem Willen zur Normerfüllung meint, sondern eine
44 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
<strong>Ungleichheit</strong> sozialer Positionen. Normenkonformität wird belohnt, 9 die Fähigkeit<br />
dazu hängt von der Position ab. Hradil nennt als Beispiel, dass – angenommen,<br />
Verhaltensautonomie <strong>und</strong> Grad der „Geistigkeit“ einer Arbeit seien zentrale<br />
Bewertungsmaßstäbe – ein Landarbeiter auch dann, wenn er seine Arbeit gut<br />
verrichtet, nicht hoch in der gesellschaftlichen Wertung stehen wird, weil diese<br />
Arbeit zu unselbständig <strong>und</strong> zu ungeistig ist (Hradil 1999: 120). 10 Mit den<br />
Worten Dahrendorfs:<br />
„Derjenige [wird] die günstigste Stellung in einer Gesellschaft erringen, dem es kraft<br />
sozialer Position am besten gelingt, sich den herrschenden Normen anzupassen –<br />
<strong>und</strong> umgekehrt … [sind] die geltenden oder herrschenden Werte einer Gesellschaft<br />
an ihrer Oberschicht ablesbar“ (1966b: 376).<br />
Der letzte Teil des Zitats weist darauf hin, dass in dem zentralen Begriffs-Dreigespann<br />
Norm – Sanktion – Herrschaft (a.a.O.: 375) die Herrschaft den Strukturen<br />
sozialer Schichtung logisch vorausgeht. Die Herrschenden setzen die geltenden<br />
Normen fest, die durch entsprechende Sanktionen durchgesetzt werden.<br />
Schichtung bildet daher mindestens prinzipiell die Herrschaftsstruktur ab (nicht<br />
im Detail, weil z.B. auch Traditionen eine Rolle spielen; 1966a: 347).<br />
Im Zusammenhang mit der Herrschaftsstruktur spricht Dahrendorf zwar wie<br />
Marx von herrschenden <strong>und</strong> beherrschten Klassen, die im Konflikt zueinander<br />
stehen. In Abgrenzung zu Marx argumentiert er aber, dass der Klassenkonflikt in<br />
der Industrie an Intensität <strong>und</strong> Schärfe verloren habe, unter anderem durch die<br />
Institutionalisierung der Interessengegensätze. Zudem stellt er fest, dass<br />
„der industrielle Klassenkonflikt in entwickelten Industriegesellschaften zunehmend<br />
nicht mehr die gesamte Gesellschaft [beherrscht], sondern … auf den Bereich der<br />
Industrie beschränkt [bleibt]“ (1957: 234f.).<br />
Daraus folgt, dass<br />
„herrschende <strong>und</strong> beherrschte Klassen der Industrie nicht mehr Teil der entsprechenden<br />
Klassen im politischen Bereich sein müssen. Die Klassentheorie erlaubt<br />
den Schluss, dass in einer Gesellschaft so viele diskrete herrschende bzw. beherrschte<br />
Klassen bestehen können, wie es Herrschaftsverbände gibt“ (a.a.O.: 238).<br />
9 Die Normenkonformität verweist auf das allgemeine Modell des homo sociologicus, in dem der (in<br />
Rollen) Handelnde seine Handlungsorientierungen zentral durch Normen erhält (vgl. Dahrendorf<br />
1958, Schimank 2000).<br />
10 Ein Problem besteht laut Hradil allerdings dann, wenn eine Position nicht konsistent bewertet wird,<br />
wenn mit ihr z.B. ein hohes Einkommen, aber wenig Ansehen verb<strong>und</strong>en ist (1999: 120).
3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive 45<br />
Vielfältige Herrschaftsverbände haben also den einen ausschlaggebenden Herrschaftsverband,<br />
der sich bei Marx aus dem Besitz an Produktionsmitteln ergab,<br />
abgelöst. Trotz dieser Modifikation von Marx grenzt sich Dahrendorf selbst aber<br />
dadurch, dass die Konfliktperspektive allgemein für ihn wichtig ist, von einer<br />
funktionalistischen „Integrationstheorie“ der Sozialstruktur (1957: 159, 218)<br />
ab. 11 Aus der Sicht dieser Konfliktperspektive ist soziale <strong>Ungleichheit</strong> dann<br />
beispielsweise auch der „Stachel, der soziale Strukturen in Bewegung hält“<br />
(1966b: 379). Bei diesen sozialen Konflikten geht es um die Verteidigung oder<br />
Vergrößerung von Lebenschancen. Darunter versteht Dahrendorf eine Funktion<br />
aus Optionen <strong>und</strong> Ligaturen. Das heißt, dass die Lebenschancen nicht allein aus<br />
einer spezifischen Kombination aus Angeboten <strong>und</strong> Anrechten (z.B. beruflichen<br />
Möglichkeiten) bestehen, sondern auf der anderen Seite auch aus kulturellen<br />
Bindungen (etwa in der Familie oder in der Gemeinde), die dem Einzelnen Orientierung<br />
bieten (Dahrendorf 1979, 1992). Etwas unklar bleibt allerdings, wie<br />
sich durch den sozialen Konflikt ein Wandel von herrschenden Gruppen <strong>und</strong><br />
Normen vollzieht. Wie kommen neue Gruppen in eine herrschende Position,<br />
wenn die Konformität mit geltenden Normen belohnt wird?<br />
Insgesamt lässt Dahrendorf sich so einordnen, dass er – mit den genannten<br />
Modifikationen – einerseits vom Marxismus beeinflusst ist (auch in späteren<br />
Arbeiten betont er, dass man den sozialen Wandel durch Klassenkonflikt als<br />
einen der stärksten makrosoziologischen Ansätze nicht leichtfertig aufgeben<br />
solle (1987: 27)), abgesehen von seinen Kritikpunkten an der funktionalistischen<br />
Sichtweise andererseits aber auch etwas von dieser übernimmt, indem er <strong>Ungleichheit</strong><br />
durch die Existenz von Normen <strong>und</strong> daran geknüpfte Sanktionen erklärt.<br />
Seine allgemeine Argumentation zur Schichtung hat Dahrendorf durch ein<br />
konkretes Modell der Schichtung in Deutschland (mit dem Anspruch auf Übertragungsmöglichkeiten<br />
für andere westliche Gesellschaften) ergänzt (1965).<br />
Dazu lehnt er sich an die Studie Geigers von 1932 an, die er für „lebendiger“<br />
(1965: 104) hält als einige zeitgenössische Schichtungsmodelle (z.B. Moore/<br />
Kleining 1960, Scheuch 1961). Allerdings müsse man die Studie für die gegenwärtige<br />
Schichtung modifizieren. Der Rückgriff auf Geiger erklärt auch, dass<br />
Dahrendorf im Kontext seines Modells von Schichten (ohne eingehende Abgrenzung<br />
zu Klassen) spricht. Dahrendorfs eigenes Modell sieht so aus:<br />
11 Zur Einordnung <strong>und</strong> (relativ negativen) Beurteilung der „gegenwärtigen Lage der Theorie der<br />
sozialen Schichtung“ vgl. auch den so lautenden Aufsatz Dahrendorfs (1966a).
46 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Abbildung 4: Die soziale Schichtung in Deutschland nach Dahrendorf<br />
Quelle: Dahrendorf 1965: 105<br />
Die Eliten sind eine heterogene Gruppe führender Positionen (die Idee der vielfältigen<br />
Herrschaftsverbände findet sich hier wieder). Die Dienstklasse bilden<br />
Beamte <strong>und</strong> Verwaltungsangestellte aller Ränge, die im „Dienst“ der Herrschenden<br />
stehen <strong>und</strong> für die individuelle Konkurrenz prägender ist als kollektive Solidaritäten.<br />
Der Mittelstand besteht aus Selbständigen, die aufgr<strong>und</strong> ihrer defensiven<br />
Haltung keine prägende Schicht (mehr) sein können. Letzteres gilt auch für<br />
die Arbeiterelite (z.B. Meister). Im „falschen“ Mittelstand findet man ausführende<br />
Berufe im Dienstleistungsbereich, z.B. Kellner oder Chauffeure, deren<br />
Angehörige sich von ihrem Selbstbewusstsein her jedoch eher zur Mittelschicht<br />
zählen. Die Arbeiter sind in sich vielfach gegliedert (z.B. nach Branche oder<br />
Qualifikation), haben aber eine eigene Mentalität, was für die Unterschicht (z.B.<br />
Dauererwerbslose, Kriminelle) nicht gilt (1965: 105-115).<br />
Das Modell beansprucht nicht, Schichtung im Detail abzubilden, z.B. beruhen<br />
die Größenangaben auf „informierter Willkür“ (1965: 104). Sieht man das<br />
Modell als Gebäude an, finden sich in jedem „Zimmer“ noch Ecken <strong>und</strong> Nischen,<br />
Wände zwischen den Zimmern sind verstellbar <strong>und</strong> durchlässig (a.a.O.:<br />
114). Doch ist es ein Versuch, eine absichtlich recht allgemein gehaltene Argu-
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status 47<br />
mentation zur Schichtungstheorie durch ein konkretes Modell zu ergänzen (das<br />
allerdings zu dieser Argumentation in keinem sehr engen Zusammenhang steht).<br />
Dieses Modell bildete Anfang der neunziger Jahre die Vorlage für eine modernisierte<br />
Variante durch R. Geißler (vgl. Kap. 4.1). Den Prototyp für die Schichtung<br />
der sechziger Jahre bildete allerdings ein anderes Modell: die „Zwiebel“ von<br />
Bolte et al. (1967), die im folgenden Abschnitt erläutert wird.<br />
Lesehinweis:<br />
Dahrendorf, Ralf (1966b): Über den Ursprung der <strong>Ungleichheit</strong> unter den Menschen;<br />
in: ders. (1974): Pfade aus Utopia, München: Piper, S. 352-379; 2., überarbeitete<br />
<strong>und</strong> erweiterte Auflage des Aufsatzes von 1961 (Abschnitt I-VI: theoriehistorische<br />
Skizze, danach eigener Ansatz)<br />
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status<br />
In den fünfziger <strong>und</strong> sechziger Jahren wurde das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge häufig<br />
durch Prestigemodelle charakterisiert. Unter „Prestige“ ist laut Lexikon zur Soziologie<br />
die<br />
„Bezeichnung für die Wertschätzung, die eine Person oder eine Gruppe (z.B. eine<br />
Berufsgruppe) bzw. die Inhaber eines sozialen Status genießen“ zu verstehen (Klima<br />
2007: 506).<br />
Prestige ist damit dem Status recht nahe, der die Stellung eines Positionsinhabers<br />
ausdrückt. Der Status z.B. einer Berufsposition wie der des Polizisten kann beispielsweise<br />
auf Prestige (also auf der Wertschätzung) beruhen, aber z.B. auch auf<br />
der Qualifikation oder dem Einkommen.<br />
Das Prestige ist das soziale Ansehen, das man nicht verwechseln darf mit<br />
einem Ansehen aufgr<strong>und</strong> persönlicher Merkmale. Das Prestige des Polizisten ist<br />
also unabhängig davon, ob ein einzelner, mir bekannter Polizist besonders fleißig,<br />
fähig usw. ist oder nicht.<br />
Ein weiteres begriffliches Problem ist die Einordnung von „Prestige“ als<br />
objektives oder subjektives <strong>Ungleichheit</strong>smerkmal. Einerseits kann man Prestige<br />
als objektive Ressource ansehen, die ebenso wie z.B. das Einkommen in der<br />
Gesellschaft ungleich verteilt ist. Andererseits ist Prestige immer das Ergebnis<br />
einer subjektiven Wertung, ist nicht nach einem festen Maßstab zählbar wie z.B.<br />
das monatliche Einkommen in Euro. Für Wegener sind beide Aspekte des Be-
48 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
griffs „Prestige“ untrennbar verknüpft: „Sein Spezifikum ist, dass es sowohl<br />
subjektive Meinungsbildung als auch Abbild einer sozialen Strukturkomponente<br />
ist“ (Wegener 1988: 22).<br />
Exkurs zum „Status“<br />
Auf die Nähe zwischen dem Status <strong>und</strong> dem Prestige wurde bereits hingewiesen.<br />
Das Lexikon zur Soziologie definiert „Status“ als „mehr oder minder hohe Position<br />
in der Schichtungshierarchie … hinsichtlich eines beliebigen hierarchiebildenden<br />
Schichtkriteriums“ (Laatz 2007: 632).<br />
Der Autor fügt jedoch hinzu, dass der Begriff überwiegend auf Hierarchien<br />
sozialer Wertschätzung angewandt werde (anhand eines Kriteriums, z.B. Besitz,<br />
Beruf oder Macht; ebd.). Hradil ergänzt, der Bezug auf die Stellung im Prestigegefüge<br />
sei vor allem für die – in diesem Kapitel behandelte – ältere Schichtungsforschung<br />
charakteristisch, die neuere Literatur sehe Status als bessere oder<br />
schlechtere Stellung im Oben oder Unten verschiedener Dimensionen sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> an. Dies ist indes nicht immer ganz unproblematisch, etwa bei vieldimensionalen<br />
Aspekten wie „Arbeitsbedingungen“ oder Beziehungsungleichheiten,<br />
z.B. anhand von „Sozialintegration“. Hinzu kommt, wie später noch zu<br />
zeigen sein wird, das Problem einer zunehmenden Statusinkonsistenz, dass also<br />
beispielsweise jemand mit einem hohen Einkommen eine niedrige Bildung hat,<br />
dass allgemein sein Status nach verschiedenen <strong>Ungleichheit</strong>smerkmalen keine<br />
ähnlichen Ausprägungen aufweist (Hradil 1999: 29).<br />
Auch unabhängig von dieser Entwicklung variieren Statuskriterien je nach<br />
Gesellschaft <strong>und</strong> innerhalb einer Gesellschaft nach Milieu, Zeitpunkt etc. So<br />
kann in einem Milieu der Besitz eines besonders schnellen <strong>und</strong> teuren Autos als<br />
Statussymbol fungieren, was Mitglieder eines anderen Milieus vielleicht höchstens<br />
milde belächeln. Die Variation von Statuskriterien im Zeitverlauf hat wiederum<br />
etwas damit zu tun, dass sich Statussymbole, die die soziale Umwelt als<br />
solche wahrnehmen <strong>und</strong> anerkennen muss, wandeln. Wenn sich viele Menschen<br />
einen Mittelklassewagen leisten können oder das Abitur machen, verliert das<br />
Statussymbol durch diese „Inflation“ an Exklusivität, an Wert.<br />
In den bisher dargestellten Ansätzen ist der Status, mindestens indirekt, bereits<br />
bei Weber zur Sprache gekommen in dem Begriff des Standes, der eine<br />
soziale Statusgruppe beschreibt (allerdings berücksichtigt der Begriff des Standes<br />
Beziehungen zwischen Gruppen noch etwas stärker als die oft auf<br />
Verteilungsungleichheiten konzentrierten Statusgruppen). Parsons nennt ausdrücklich<br />
Kriterien (Eigentum, Leistungen, Autorität etc.), aus denen der Gesamtstatus<br />
eines Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft resultiert.
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status 49<br />
Auch spätere Ansätze thematisieren den Status zumindest implizit. Abels bemerkt<br />
beispielsweise, dass man Bourdieu (vgl. Kap. 6) auch als „Schilderung<br />
eines Klassenkampfes um den sozialen Status“ lesen könne (a.a.O.: 252). Status<br />
spielt schließlich eine Rolle in theoretischen Ansätzen, die sich nicht in erster<br />
Linie mit sozialer <strong>Ungleichheit</strong> beschäftigen. Beispielsweise sieht der Symbolische<br />
Interaktionismus die wechselseitige Statusbestimmung als ein Element zur<br />
Definition der Situation an. In der Rollentheorie ist die Rolle der dynamische<br />
Aspekt eines Status, also eines Platzes, den ein Individuum zu einer bestimmten<br />
Zeit in einem bestimmten System einnimmt (Linton 1973 (zuerst 1945)). Dabei<br />
kann man zwischen zugeschriebenem (z.B. aufgr<strong>und</strong> von Alter oder Geschlecht)<br />
<strong>und</strong> erworbenem Status (aufgr<strong>und</strong> von Leistung) unterscheiden (vgl. Abels 2001:<br />
Kap. 7).<br />
Vor weiteren begrifflichen <strong>und</strong> kritischen Anmerkungen soll nun an einigen<br />
Beispielen gezeigt werden, wie Prestigemodelle das gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge<br />
in den fünfziger/sechziger Jahren darstellten. Dieses Gefüge verstehen<br />
die Autoren als Schichtung (nicht etwa als Klasse).<br />
Für einige dieser Studien dienten US-amerikanische Forschungen als Vorbild,<br />
z.B. von W.L. Warner et al., die in den dreißiger <strong>und</strong> vierziger Jahren vor<br />
allem <strong>Gemeinden</strong> – als eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft – auf ihre <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen<br />
untersuchten (vgl. z.B. Warner et al. 1963). Warner verwendet<br />
den Begriff „class“ recht offen im Sinne von Schichten, die sich durch<br />
bewertende Einstufungen konstituieren:<br />
„By social class is meant two or more orders of people who are believed to be, and<br />
are accordingly ranked by the members of the community, in socially superior and<br />
inferior positions“ (1963: 36).<br />
Prestige ist damit das zentrale Kriterium. An die Schicht sind weitere Merkmale<br />
geb<strong>und</strong>en, z.B. Heiratskreise oder allgemein Vor- <strong>und</strong> Nachteile für die Mitglieder.<br />
Nach der Verwendung von zunächst aufwändigeren Erhebungsmethoden<br />
arbeiteten Warner et al. mit einem Index zur Feststellung von Prestige, der die<br />
Merkmale Beruf, Art des Einkommens, Haustyp <strong>und</strong> Wohngegend enthielt. Im<br />
Ergebnis fand Warner drei übereinander liegende Schichten, die jeweils zweigeteilt<br />
sind. Die Mehrheit der Bevölkerung ist dabei in der unteren Mitte/dem<br />
oberen Unten angesiedelt (in der Gemeinde „Yankee City“ z.B. zusammen über<br />
60%; Warner 1963: 43). Herzog betont, dass Warner auf diese Weise „reale“<br />
Schichten voneinander abgrenzen will, mit denen entsprechende Verhaltensmuster<br />
<strong>und</strong> ein Bewusstsein von den sozialen Unterschieden einhergehen (1965:<br />
79).
50 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Wie kam es dazu, dass gerade diese amerikanischen Forschungen als Vorbild für<br />
deutsche Untersuchungen ab den fünfziger Jahren dienten? Hradil nennt mehrere<br />
Gründe (1987: 80f.): Abgesehen von finanziellen Hilfen der USA für empirische<br />
Erhebungen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg ein Klima des Strebens nach<br />
gleichen Wettbewerbschancen in der sozialen Marktwirtschaft, zu dem die<br />
relativ „konfliktfreien“ Prestigemodelle besser passten als z.B. den Konflikt oder<br />
die ökonomischen <strong>Ungleichheit</strong>en betonenden Klassenmodelle. Zudem spielte<br />
eine allgemeine Hegemonie des Strukturfunktionalismus eine Rolle (vgl. Kap.<br />
2.4), mit dem Prestigekonzepte verb<strong>und</strong>en sind, unter anderem, weil sie einen<br />
relativen Wertekonsens (z.B. Prestigeeinstufungen betreffend) unterstellen. Auch<br />
bei der funktionalistischen Schichtungstheorie geht es darum, gesellschaftliche<br />
Bewertungen von Positionen als Gr<strong>und</strong>lage für ein hierarchisches Belohnungssystem,<br />
das Schichtgefüge, anzusehen.<br />
Nach dieser Einordnung von Prestigemodellen im weiteren Sinne zu amerikanischen<br />
Vorbildern sollen folgende Beispiele genauer dargestellt werden:<br />
1. H. Moore / G. Kleining (1960): Gesellschaftsschichten nach sozialer Selbsteinstufung<br />
2. E.K. Scheuch (unter Mitarbeit von H. Daheim) (1961): Prestigeschichten<br />
durch Indexbildung<br />
3. K.M. Bolte et al. (1967): Das „Zwiebel“-Modell<br />
H. Moore / G. Kleining<br />
In dem Ansatz von Moore <strong>und</strong> Kleining ist – wie in vielen Untersuchungen – der<br />
Beruf für die Schichteinstufung zentral, <strong>und</strong> zwar wählten sie als methodisches<br />
Verfahren die soziale Selbsteinstufung (SSE). Die Befragten erhielten eine Liste<br />
mit neun Gruppen zu je vier Berufen als Beispiel <strong>und</strong> sollten sich selbst in die<br />
Gruppe einordnen, die dem eigenen Beruf am nächsten kam. Die Forscher<br />
schlossen dann von dieser Eingruppierung auf die soziale Schicht (die Zuordnungen<br />
hatten sie zuvor durch eine Reihe von Tests <strong>und</strong> durch Anlehnung an die<br />
Untersuchungen von Warner et al. entwickelt).<br />
Die Schichteinstufung, die sich ergibt, hat nach dem Anspruch der Autoren<br />
einen Erkenntnisgewinn über die Berufsgliederung hinaus. Anhand der Berufe<br />
<strong>und</strong> ihrer Rangfolge lässt sich die Schicht bestimmen, diese wiederum hat Einfluss<br />
auf andere Lebensbereiche:<br />
„Wir finden ganz ähnliche Differenzierungen [wie für den Berufsaspekt, N.B.] auch<br />
auf vielen anderen Gebieten, zum Beispiel im Sektor der Familie (etwa der Kinder-
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status 51<br />
erziehung), des Konsums, der Meinungen … der Kleidung, der Sprache <strong>und</strong> so<br />
weiter“ (1960: 92).<br />
Für die obersten <strong>und</strong> die untersten Schichten gelte dies allerdings nur eingeschränkt,<br />
weil sich diese Menschen nicht in erster Linie durch ihre berufliche<br />
Tätigkeit definierten. Außerdem gilt für die Schichteinstufung, dass sie vom<br />
Mann <strong>und</strong> seinem Beruf ausgeht <strong>und</strong> dann auf seine Familie übertragen wird,<br />
weil man davon ausgeht, dass die Familie die kleinste Einheit der Gesellschaftsordnung<br />
<strong>und</strong> daher einheitlich einer Schicht zuzuordnen ist. Danach ist die Einstufung<br />
des Mannes auch auf die Frau <strong>und</strong> gegebenenfalls Kinder übertragbar.<br />
Das Ergebnis lautet, dass es eine breite Mitte gibt: Die untere Mittelschicht<br />
<strong>und</strong> die obere Unterschicht machen insgesamt 58% der Bevölkerung aus, die<br />
übrigen verteilen sich gleichermaßen darunter <strong>und</strong> darüber. Sowohl die untere<br />
Mittelschicht als auch die obere Unterschicht untergliedern die Autoren nochmals<br />
in einen industriellen <strong>und</strong> einen nicht-industriellen Teil. Die Charakterisierung<br />
der einzelnen Schichten umfasst nicht allein die Angabe zugehöriger<br />
Berufe, sondern auch weitere Charakteristika (die die Forscher durch offene<br />
Befragungen ermittelten). So gehören etwa zur mittleren Mittelschicht „mittlere“<br />
Angestellte wie Bürovorsteher, Fachschullehrer oder Inhaber mittelgroßer Geschäfte.<br />
Typisch ist beispielsweise ihre „bürgerliche“ Einstellung, sie sehen sich<br />
als über dem Durchschnitt der Bevölkerung platziert <strong>und</strong> sind gewissenhafte<br />
Spezialisten, die die bestehende Ordnung stützen. Insgesamt fanden Moore <strong>und</strong><br />
Kleining eine recht große Übereinstimmung mit den Ergebnissen Warners, was<br />
sie so erklären, dass es sich in beiden Fällen um die Untersuchung einer typisch<br />
industriellen Gesellschaft handele. Der Schichtenaufbau in Deutschland sei allerdings<br />
noch differenzierter (a.a.O.: 90). Im Überblick verteilen sich die<br />
Schichten wie folgt:
52 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Abbildung 5: Schichtenaufbau in Deutschland nach Moore/Kleining<br />
Schicht Anteil<br />
Oberschicht 1%<br />
Obere Mittelschicht 5%<br />
Mittlere Mittelschicht 15%<br />
Untere Mittelschicht:<br />
- nicht industriell 17%<br />
- industriell 13%<br />
Obere Unterschicht:<br />
- nicht-industriell 10%<br />
- industriell 18%<br />
Untere Unterschicht 17%<br />
Sozial Verachtete 4%<br />
Quelle: Moore/Kleining 1960: 91<br />
Bis in die siebziger Jahre gab es Folgestudien mit Hilfe der Selbsteinstufung; die<br />
Resultate erwiesen sich dabei als relativ stabil (Kleining/Moore 1968: 546f.;<br />
Kleining 1975: 273).<br />
E.K. Scheuch<br />
Eine andere Methode zur Messung von Prestige ist die Verwendung von Indizes<br />
(wie z.B. auch bei Warner et al.). Dabei sucht man nach Kriterien, nach Indikatoren,<br />
die in gebündelter Form das Prestige anzeigen. Wiederum ist der Beruf<br />
bzw. ist die Berufsgruppe (z.B. anhand der Internationalen Standardklassifikation<br />
der Berufe ISCO) ein zentrales Kriterium. Teilweise berücksichtigt man<br />
jedoch auch mehrere Kriterien. Dabei ordnet der Forscher z.B. je nach Einkommenshöhe,<br />
Nationalität usw. Punktwerte zu <strong>und</strong> addiert diese mit entsprechender<br />
Gewichtung zu einem Gesamtwert, der das Prestige anzeigt. Wie man die<br />
Punktwerte <strong>und</strong> Gewichtungen vergibt, ergibt sich aus Bewertungen, die man<br />
z.B. zuvor durch Befragungen erhoben hat (z.B. erhielten in der Untersuchung<br />
von Scheuch Personen für ihre Schulbildung bei mittlerer Reife 9 Punkte <strong>und</strong> bei<br />
einem Hochschulabschluss 20 Punkte). Bei der Entwicklung des Instruments<br />
orientierte sich Scheuch ebenso wie Moore <strong>und</strong> Kleining an einigen amerikanischen<br />
Vorbildern, ohne diese ungeprüft zu übertragen.<br />
Scheuch verwendete in einer ersten Fassung einen Index mit neun Variablen,<br />
reduzierte sie aber später auf drei Merkmale, die als „die“ Merkmale<br />
schlechthin zur deskriptiven Bestimmung einer Schichtzugehörigkeit gelten:<br />
Schulbildung, Beruf <strong>und</strong> Einkommen (1961: 68).
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status 53<br />
Ausdrücklich betont auch Scheuch, dass das Sozialprestige „ein besonders guter<br />
Zugang zur Erklärung der sozialen Schichtung“ ist oder auch „ein Symptom für<br />
Prinzipien des hierarchischen Aufbaus der Gesellschaft“ (a.a.O.: 66).<br />
Seine Einteilung ähnelt, wenngleich methodisch auf einem etwas anderen<br />
Weg erhoben, den Ergebnissen von Moore <strong>und</strong> Kleining. Auch im Modell von<br />
Scheuch konzentrieren sich die meisten Menschen in der unteren Mittelschicht<br />
bzw. oberen Unterschicht.<br />
Abbildung 6: <strong>Soziale</strong> Schichtung nach Scheuch<br />
Schicht Anteil der<br />
Eingeordneten*<br />
Oberschicht 2,5%<br />
Obere Mittelschicht 6,1%<br />
Mittlere Mittelschicht 14,6%<br />
Untere Mittelschicht 20,7%<br />
Obere Unterschicht 36,6%<br />
Untere Unterschicht 19,5%<br />
* 18% ließen sich aufgr<strong>und</strong> unvollständiger Angaben nicht einordnen.<br />
Quelle: Scheuch 1961: 103, Hradil 1999: 287<br />
K.M. Bolte<br />
Wenn man sich die beiden Tabellen zur Verteilung der Schichten anschaut, kann<br />
man sich durchaus das Bild einer Zwiebel mit schmalen Bereichen oben <strong>und</strong><br />
unten sowie einer breiten „unteren Mitte“ vorstellen. Bolte et al. ziehen diese<br />
Schlussfolgerung nach der Betrachtung auch weiterer Untersuchungen zum<br />
Thema (z.B. untersuchte Mayntz (1958) den Statusaufbau in Euskirchen 12 mit<br />
Hilfe eines multiplen Index, legte jedoch keine Schichtgrenzen fest, vgl. Bolte et<br />
al. 1967: 294f.). Zudem hatte Bolte selbst eine Untersuchung zu Sta-<br />
tusunterschieden in norddeutschen Wohngemeinden durchgeführt (Bolte 1963).<br />
Dort stellte er verschiedene Typen von Statusdifferenzierungen auf, die sich<br />
insbesondere danach unterschieden, ob Schichten, soziale „Ballungen“ oder eher<br />
Kontinua das Statusgefüge prägten. Der Begriff der Schichten war hier für<br />
Gruppierungen vorbehalten, die sich hinsichtlich ihres Ranges als eigenständige<br />
Gruppe empfanden (anderen gegenüber also als höher oder tiefer stehend), sich<br />
entsprechend verhielten <strong>und</strong> daher klar abgegrenzt werden konnten. Solche<br />
Abgrenzungen verlaufen bei sozialen „Ballungen“ fließend <strong>und</strong> sind bei einem<br />
12 Zur Struktur Euskirchens im Zeitvergleich s.a. Friedrichs et al. 2002.
54 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Kontinuum gar nicht bestimmbar (1963: 157; Typen auch in Bolte et al. 1967:<br />
285-293).<br />
Dadurch, dass das Zwiebelmodell eine zusammenfassende Sichtweise aus<br />
den Resultaten mehrerer Untersuchungen ist, verschwimmt der Unterschied, ob<br />
es sich hier um einen Statusaufbau oder – wie es in späteren Auflagen des Buches<br />
unpräziser <strong>und</strong> nichts ausschließend heißt – einen „Prestigestatusaufbau“<br />
(z.B. Bolte/Hradil 1988: 220) handelt. Prestige geht in die Betrachtung des Status<br />
jedenfalls ein. Statusgruppen bilden allein noch nicht „reale“ Schichten, sondern<br />
diese werden im von Bolte benutzten Wortsinn verwendet. Daraus ergibt<br />
sich, dass die „Zwiebel“ nicht in vertikal übereinander liegende Bereiche gegliedert<br />
ist, sondern es entstehen Überlappungen, die Abbildung 7 wiedergibt.<br />
Bolte et al. gehen davon aus, dass der Beruf in bestimmten Grenzen das<br />
Einkommen, den Lebensstil, den Umgang mit anderen etc. prägt. Es gibt aber<br />
keine eindeutige Verknüpfung des Berufsstatus mit anderen Statuslagen. Entsprechend<br />
gilt:<br />
„In unserer Gesellschaft gibt es vielfältige Statusdifferenzierungen, aber der Statusaufbau<br />
der Gesellschaft ist nicht in klar abgegrenzte Schichten unterteilt. Am<br />
stärksten sind Schichtungstendenzen oben <strong>und</strong> vor allem ganz unten im Statusaufbau.<br />
Zwischen diesen … gibt es einen weitgehend fließenden Übergang vom Höher<br />
zum Tiefer, in dem viele Gesellschaftsmitglieder nicht einmal einen präzise bestimmbaren<br />
gesellschaftlichen Status haben … Insgesamt ist die Mitte … eine Art<br />
Sammelbecken der differenziertesten Bevölkerungsgruppen, die nicht nur über- <strong>und</strong><br />
untereinander, sondern auch nebeneinander erscheinen“ (1967: 313f.).
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status 55<br />
Abbildung 7: Das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge Deutschlands in den 60er Jahren nach<br />
Bolte<br />
Quelle: Bolte et al. 1967: 316<br />
Diese Nicht-Bestimmbarkeit von Status deutet zum einen auf das Problem des<br />
Ansatzes hin, wie mit (zunehmenden) Statusinkonsistenzen umzugehen ist, wenn<br />
jemand also z.B. eine niedrige Bildung, aber ein mittleres Einkommen <strong>und</strong> ein<br />
hohes Ansehen als ehrenamtlicher Vereinsvorsitzender hat. Die Unschärfe des<br />
Bildes zeigt aber auch, dass sich bereits in den sechziger Jahren die Diskussion<br />
andeutete, die etwa ab dem Ende der siebziger Jahre intensiver geführt wurde<br />
<strong>und</strong> in der man eine (rein) vertikale Gliederung der Gesellschaft in Schichten als<br />
nicht mehr angemessen ablehnte.
56 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Hradil schreibt zum Stellenwert von Prestigemodellen, dass diese bis weit in die<br />
sechziger Jahre hinein so dominierten, dass „soziale Schichtung“ weitgehend mit<br />
Prestigedifferenzierung gleichgesetzt wurde (1987: 81). Auch in den siebziger<br />
Jahren gab es noch weitere Untersuchungen zum Prestige, die dabei jedoch teilweise<br />
nicht allein auf allgemeine Merkmale (wie z.B. den Schulabschluss), sondern<br />
auf konkretere Kriterien zurückgriffen. So fand Pappi in einer Gemeindeuntersuchung<br />
drei Schichten dadurch, dass er nach dem Beruf <strong>und</strong> dem der drei<br />
engsten Fre<strong>und</strong>e fragte (Pappi 1973). Reuband (1975) untersuchte, wie eng Befragte<br />
mit bestimmten Berufsgruppen verkehren wollten. K.U. Mayer (1977)<br />
ordnete Prestigegruppen anhand des Heiratsverhaltens. Heiratsbarrieren zwischen<br />
Berufsgruppen wiesen auf Prestigeabstufungen der Berufe hin, im Gegensatz<br />
zu Pappi schließt Mayer von den Statusgruppierungen jedoch nicht auf klar<br />
abgegrenzte Schichten:<br />
„Sie [die Statusgruppen; N.B.] sind jedoch eher durch graduelle Distanzen <strong>und</strong><br />
kleine Zwischengruppen als durch wenige hohe Schichtbarrieren voneinander getrennt.“<br />
(1977: 224).<br />
In den siebziger Jahren ging jedoch insgesamt die Verwendung von Prestigemodellen<br />
zurück. Die letzte umfassende Studie zu Berufsschichtungsskalen z.B.<br />
wurde 1979/80 durchgeführt (in dieser Skala stand der Arztberuf an erster Stelle<br />
vor dem des Richters <strong>und</strong> des Professors; lt. Hradil 1999: 283). Verschiedene<br />
Kritikpunkte an den Modellen <strong>und</strong> auch soziale Wandlungsprozesse sind dafür<br />
verantwortlich. Zentrale Kritikpunkte richten sich auf<br />
a. die Unschärfe des Begriffs „Prestige“,<br />
b. den Erklärungswert des Prestigeaufbaus für gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen.<br />
Ad a): Der Begriff „Prestige“ bleibt über die Alltagsbedeutung der Wertschätzung<br />
hinaus oft unklar, so dass nicht immer deutlich wird, was die Forscher<br />
messen. Es wurde bereits erwähnt, dass Prestige ein subjektives oder ein objektives<br />
<strong>Ungleichheit</strong>smerkmal sein kann. Oft ist beides verknüpft, wenn Ansätze<br />
davon ausgehen, dass subjektive Bewertungen einen Reflex auf objektive soziale<br />
<strong>Ungleichheit</strong>en darstellen, wenn also etwa die Bewertung des Polizistenberufes<br />
auch etwas über die Qualifikation oder die Einflusschancen aussagt. O.D. Duncan<br />
zeigte beispielsweise, dass Prestige in hohem Maße mit der Einkommenslage<br />
<strong>und</strong> dem Schulabschluss einhergeht (lt. Wegener 1985: 210). Daraus schlossen<br />
Kritiker allerdings, dass man in dem Fall besser diese Merkmale selbst als ein<br />
Ersatzmerkmal messen sollte, sie sprechen dem Bewertungsprozess also keine
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige <strong>und</strong> Status 57<br />
eigenständige Bedeutung zu (vgl. Herz 1983: 145). Etwas vage bleibt oft auch<br />
die Abgrenzung zum Status als eher „objektiver“ Dimension <strong>und</strong> insgesamt, wie<br />
die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge von Prestige, Statusmerkmalen, Lebenslagen<br />
<strong>und</strong> Lebensführung aussehen.<br />
Die Begriffsunschärfe kommt auch zum Ausdruck, wenn kritische Stimmen<br />
vorbringen, dass Prestigemodelle die eigenständige Bedeutung „objektiver“<br />
Mermale jenseits ihrer Bewertung zu wenig berücksichtigen (unter anderem als<br />
Reaktion darauf, dass sich in den sechziger Jahren erste wirtschaftliche Rezessionen<br />
ankündigten <strong>und</strong> damit der Glaube an Chancengleichheit <strong>und</strong> das dazu<br />
„passende“, relativ konfliktfreie Bild des Prestigeaufbaus hinterfragt wurden).<br />
Als „objektive“ Kriterien wurden dann aber oft genau die gleichen Merkmale<br />
gemessen wie in den vorigen Modellen, also z.B. die Bildung oder das Einkommen.<br />
Einerseits ist Prestige vom persönlichen Ansehen getrennt. An anderen<br />
Stellen geht dieses Ansehen aber doch mit ein, wenn die relationale Bedeutung<br />
von Prestige, also sein Ausdruck in konkreten Interaktionen hervorgehoben wird.<br />
Orientiert man sich in Untersuchungen an solchen konkreteren Interaktionen<br />
(z.B. in Gemeindestudien), kann dies den Vorteil haben, eine „lebensnähere“<br />
Beschreibung zu liefern, andererseits lassen sich entsprechende Ergebnisse teilweise<br />
schlecht auf die gesellschaftliche Ebene übertragen.<br />
Ad b): Gibt es eine Verbindung vom Prestigeaufbau (z.B. der Berufe) zu „realen“<br />
Schichten mit spezifischen Verhaltensmustern <strong>und</strong> Einstellungen, vielleicht<br />
auch einem Wir-Gefühl? Die Abgrenzung von (dazu oft nur vertikalen) Unterteilungen<br />
empfinden Kritiker häufig als künstliche <strong>und</strong> willkürliche Unterscheidung,<br />
die mit realen Abgrenzungen nichts zu tun hat.<br />
Hier spielt auch das Unbehagen am methodischen Vorgehen eine Rolle:<br />
Wenn z.B. Berufe bewertet werden sollen, trifft der Forscher eine – möglicherweise<br />
verzerrende – Auswahl an Berufen, die er als bekannt <strong>und</strong> eindeutig bewertbar<br />
voraussetzt. Bei einer Indexbildung ist möglicherweise die Vergabe von<br />
Punkten <strong>und</strong> Gewichtungen zur Ermittlung einer Gesamtzahl recht beliebig. Ist<br />
es zudem vergleichbar, wenn etwa hohes Einkommen <strong>und</strong> niedrige Bildung die<br />
gleiche Gesamtzahl ergeben wie umgekehrt hohe Bildung <strong>und</strong> niedriges Einkommen?<br />
Es ist also bereits schwierig, die Prestigeabstufung selbst zu ermitteln.<br />
Es ist im nächsten Schritt noch problematischer, Einschnitte in dieser Skala festzulegen,<br />
die eigenständige Einheiten (Schichten) bilden. Entsprechend wurde oft<br />
die Kritik geäußert, dass für solche Entscheidungen ein theoretischer Ansatz<br />
notwendig sei.
58 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Diese Kritikpunkte gelten für Prestigemodelle bereits unter den sozialstrukturellen<br />
<strong>und</strong> gesellschaftlichen Bedingungen der sechziger Jahre. Der soziale Wandel<br />
führt zusätzlich dazu, dass sich Wertmaßstäbe stärker ausdifferenzieren, eine<br />
einheitliche Prestigeskala also kaum mehr gemessen werden kann. Weiterhin<br />
stellen Statusinkonsistenzen nicht mehr nur eine Ausnahme dar, sondern kommen<br />
häufiger vor. Eine bestimmte Bildung geht also z.B. nicht unbedingt mit<br />
einem bestimmten Einkommen oder Wohntyp einher. Damit ist das allgemeine<br />
Sozialprestige weniger eindeutig am Beruf ablesbar als zuvor. Auf diesen Punkt<br />
der Bedeutung des sozialen Wandels wird später im Zusammenhang mit der<br />
Kritik an den Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen allgemein genauer zurückzukommen<br />
sein.<br />
Zunächst blieben in den siebziger Jahren jedoch Schichten ein vorherrschendes<br />
Modell zur Abbildung von <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen, außerdem gab es<br />
eine Renaissance von Klassenmodellen.<br />
Lesehinweis:<br />
Bolte, Karl Martin; Stefan Hradil (1988): <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> in der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik<br />
Deutschland, Opladen: Leske + Budrich, 6. Auflage, Kap. 6.4: <strong>Ungleichheit</strong><br />
des Prestiges, S. 190-224<br />
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren<br />
In den siebziger Jahren gab es als eine Nebenströmung des „mainstreams“ der<br />
Schichtungsforschung ein Aufleben neomarxistischer Ansätze, die konträr zu<br />
Schichtansätzen die Sozialstruktur durch Klassenmodelle besser erfasst <strong>und</strong><br />
erklärt sahen. Diese Strömung ergab sich aus der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen<br />
Verhältnissen ab den späten sechziger Jahren (eine Rolle als Träger<br />
von Kritik spielte z.B. der studentische Protest 1968, unter anderem gegen die<br />
Notstandsgesetze <strong>und</strong> für eine Hochschulreform; zudem gab es erstmals seit<br />
Beginn des „Wirtschaftsw<strong>und</strong>ers“ wieder sinkende ökonomische Wachstumsraten,<br />
1966/67 auch eine Rezession, vgl. Görtemaker 2002). Dieser allgemeinen<br />
Kritik entsprach eine Kritik an Schichtmodellen, die die nach wie vor bestehenden<br />
großen sozialen Gegensätze zwischen den Klassen vernachlässigen würden.<br />
Im Unterschied zu bisherigen theoretischen Positionierungen ordnen sich<br />
Vertreter dieser Ansätze meist eindeutig einer (linken) politischen Richtung zu.<br />
Leisewitz etwa beginnt sein Buch über „Klassen in der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik<br />
Deutschland heute“ (1977) damit, dass die Klassengesellschaft als zutreffendes
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren 59<br />
Bild von Gesellschaft nicht nur von konservativen Publizisten, sondern auch von<br />
führenden Sozialdemokraten abgelehnt werde (1977: 7), etwas später stellt er die<br />
marxistische Klassentheorie einem „bürgerlichen Gesellschaftsbild“ gegenüber<br />
(a.a.O.: 17). In dieser Gegenüberstellung wird deutlich, worin Leisewitz die<br />
Unterschiede <strong>und</strong> damit – aus seiner Sicht – die Vorteile der Klassenanalyse<br />
auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sieht:<br />
� Nur die Klassentheorie kann die Ursachen von Über- <strong>und</strong> Unterordnungen<br />
erklären, <strong>und</strong> zwar aus den gr<strong>und</strong>legenden Verhältnissen in der bürgerlichen<br />
Gesellschaft: aus der Stellung in der Wirtschaft <strong>und</strong> dem Eigentum an Produktionsmitteln.<br />
� Es gibt nicht nur unterschiedliche, sondern auch gegensätzliche Klasseninteressen,<br />
was notwendigerweise zu Konflikten führt.<br />
� Klassenmodelle liefern nicht allein eine beschreibende Momentaufnahme,<br />
sondern sehen dynamisch den Klassenkampf als zentrale Triebkraft der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung. Dazu ist es allerdings notwendig, politische<br />
Unterstützung zu leisten, so müsse man die Tatsache, dass die <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik<br />
eine Klassengesellschaft sei, in der die Arbeiter <strong>und</strong> Angestellten ihre<br />
Interessen nur gegen die Unternehmer <strong>und</strong> ihren Staat durchsetzen könnten,<br />
unter den Arbeitern <strong>und</strong> Angestellten erst verbreiten (a.a.O.: 22).<br />
Zwei prominente Beispiele für neomarxistische Untersuchungen aus dieser Zeit<br />
sind die Analysen des Instituts für Marxistische Studien <strong>und</strong> Forschungen (IMSF<br />
1974, Leisewitz 1977) <strong>und</strong> des Projekts Klassenanalyse (PKA; 1973, 1974; Bischoff<br />
et al. 1982). Ihre Ansätze <strong>und</strong> Ergebnisse sollen hier kurz skizziert werden.<br />
Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie neben der Bourgeoisie <strong>und</strong> der<br />
Arbeiterklasse auch von der Existenz von Mittelklassen ausgehen.<br />
Die Untersuchungen des IMSF <strong>und</strong> des PKA<br />
Das IMSF zählt, wie bereits Marx, Produktionsmittelbesitzer oder z.B. Manager<br />
zur Bourgeoisie. Es unterteilt die mittleren Klassen in selbständige Mittelschichten<br />
(ihre Produktionsmittel sind so gering, dass sie auch ihre eigene Arbeitskraft<br />
einsetzen müssen <strong>und</strong> keine Kapitalakkumulation in großem Stil<br />
betreiben können), die lohnabhängigen Mittelschichten (Leitungs- <strong>und</strong> Aufsichtspersonal,<br />
der Verkauf ihrer Arbeitskraft hat weniger entfalteten Warencharakter<br />
als bei den Arbeitern) sowie die selbständige <strong>und</strong> lohnabhängige Intelligenz<br />
(z.B. Ärzte, Künstler, Spezialisten mit Hochschulabschluss). Leisewitz<br />
spricht ausdrücklich von Mittelschichten, weil es sich um Gruppierungen han-
60 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
dele, die zwar in sozialen Beziehungen eine Rolle spielen können, beispielsweise<br />
als Bündnispartner für die beiden Klassen, die jedoch kaum selbst Initiative ergreifen<br />
oder eine eigenständige politische Position einnehmen, damit keinen<br />
Klassencharakter haben (Leisewitz 1977: 150).<br />
Zur Arbeiterklasse gehören schließlich Lohnabhängige, bei denen der Warencharakter<br />
der Arbeitskraft weitgehend entfaltet ist, die also nicht z.B. Spezialisten<br />
oder in einer leitenden Funktion sind, oder Arbeitslose. Zur Verteilung<br />
der Erwerbsbevölkerung auf die Klassen ergeben sich folgende Zahlen: 1950<br />
betrug das Verhältnis von Arbeiterklasse, Mittelschichten <strong>und</strong> Bourgeoisie 65%<br />
zu 32% zu 3%, 1974 dagegen 72% zu 22% zu 2% 13 (bei der Hochrechnung auf<br />
die Gesamtbevölkerung ergeben sich nur geringe Abweichungen, Leisewitz<br />
1977: 180-186, 193-196). Die ohnehin große Arbeiterklasse hat sich hiernach –<br />
im Wesentlichen auf Kosten der Mittelschichten – also nochmals erweitert.<br />
Erbslöh et al., die die Prinzipien des IMSF auf Zahlen von 1985 anwenden,<br />
kommen für diesen Zeitpunkt für die Erwerbsbevölkerung auf 73,5% zu 26,7%<br />
zu 0,8%, konstatieren also eine gleich bleibend sehr große Arbeiterklasse (Erbslöh<br />
et al. 1990: 70-72).<br />
Das Projekt Klassenanalyse (PKA) geht in erster Linie von „ökonomischen<br />
Formbestimmungen“ aus <strong>und</strong> definiert die Bourgeoisie ähnlich wie das IMSF als<br />
Produktionsmittelbesitzer (mit einem Mindestumfang an Produktionsmitteln,<br />
konkret bedeutet das, mindestens vier Beschäftigte zu haben). Die Kapitalisten<br />
setzen sich zusammen aus aktiven, fungierenden Kapitalisten <strong>und</strong> Kapitaleigentümern.<br />
In der Mitte gibt es Kleinunternehmer mit nur geringem Profit (ähnlich<br />
der selbständigen Mittelschicht beim IMSF) <strong>und</strong> die lohnabhängige Mittelklasse,<br />
zu der nach dieser Klassifizierung Arbeitnehmer gehören, deren Arbeitgeber<br />
nicht gewinnorientiert tätig ist (z.B. der Staat oder Wohlfahrtsverbände). Die<br />
Lohnabhängigen dieser Klasse verkaufen zwar auch ihre Arbeitskraft, jedoch<br />
nicht an einen Kapitalisten im obigen Sinne. Zur Arbeiterklasse gehören neben<br />
den Arbeitslosen Arbeiter mit gewinnorientierten Arbeitgebern, die sich aufteilen<br />
in kommerzielle Lohnarbeiter (die mit bereits produzierten Waren umgehen, also<br />
im „Zirkulationsprozess des Kapitals arbeiten“, PKA 1973: 263) <strong>und</strong> produktive<br />
Arbeiter, die direkt im Produktionsprozess tätig sind. Innerhalb der Arbeiter gibt<br />
es nochmals eine hierarchische Schichtung nach ihrer Qualifikation (von einfachen<br />
über technisch-wissenschaftliche Tätigkeiten bis zu Leitungsfunktionen).<br />
Diese Einteilung rechnet Personen mit höherer Qualifikation also nicht per se zur<br />
13 Dass sich die Zahlen für 1974 nicht zu 100% addieren, ist ein Fehler, der bereits in den Angaben<br />
bei Leisewitz besteht, die Hochrechnung auf die Gesamtbevölkerung summiert sich dagegen auf<br />
100%, hier ist das prozentuale Verhältnis von Arbeiter-, Mittelklasse <strong>und</strong> Kapitalisten 73:24:3<br />
(Leisewitz 1977: 180-186, 193-196).
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren 61<br />
Mittelklasse, was bei der Einteilung des IMSF durchaus ein bedeutsamer Faktor<br />
war.<br />
Die Zahlenverteilung zeigt hier für 1978 ebenfalls – wie beim IMSF – eine<br />
große Arbeiterklasse von fast zwei Dritteln der Erwerbsbevölkerung. 14 31%<br />
gehören zur Mittelklasse (20% lohnabhängige Mittelklasse, 11% Kleinbourgeoisie)<br />
<strong>und</strong> 3% zur Kapitalistenklasse (Bischoff et al. 1982: 72).<br />
Abbildung 8: Die Klassenstruktur der Erwerbsbevölkerung 1978 lt. Modell des<br />
PKA<br />
31%<br />
3%<br />
Quelle: Bischoff et al. 1982: 72<br />
66%<br />
Arbeiterklasse<br />
(kommerzielle <strong>und</strong><br />
produktive Arbeiter,<br />
Arbeitslose)<br />
Mittelklassen (kleine<br />
Selbständige oder<br />
Arbeitgeber ohne<br />
Gew innorientierung)<br />
Bourgeoisie<br />
Das PKA schätzt die Arbeiterklasse der siebziger Jahre etwas kleiner ein als das<br />
IMSF, <strong>und</strong> zwar zugunsten der Mittelklasse, während die Bourgoisie bei beiden<br />
Ansätzen etwa 2 bis 3% ausmacht. Der hohe Anteil der Arbeiterklasse setzt sich<br />
fort, wenn man die Fortschreibung der Kategorien des PKA durch Erbslöh et al.<br />
für 1985 betrachtet, allerdings expandiert auch die lohnabhängige Mittelklasse<br />
(Erbslöh et al. 1990: 78f.).<br />
Alle neomarxistischen Klassenmodelle gehen also (wie Marx über ein Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
zuvor) von einer großen Arbeiterklasse <strong>und</strong> einer nur sehr kleinen Bour-<br />
14 Einen noch höheren Anteil der Arbeiterklasse berechnen Tjaden-Steinhauer/Tjaden mit über 83%<br />
für 1970. Zur Arbeiterklasse gehören hier alle lohnabhängigen Arbeiter, Angestellten <strong>und</strong> Beamten<br />
außer einer Spitzengruppe, die Kapitalisten machen knapp 2% der Erwerbsbevölkerung aus, für<br />
Sondergruppen (z.B. kleine Selbständige) verbleiben etwa 15% (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 1973:<br />
198-200).
62 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
geoisie aus. Graphisch vorgestellt sind die Modelle damit weit entfernt von dem<br />
Zwiebelmodell der Schichtungsforschung, eher handelt es sich um eine Pyramide<br />
oder einen sehr bauchigen Regentropfen; dabei muss man allerdings berücksichtigen,<br />
dass die Modelle von unvereinbaren Interessengegensätzen der<br />
Klassen ausgehen, eine auch nur graphische Nähe damit dem Konzept möglicherweise<br />
nicht angemessen ist.<br />
Wie sind diese Ansätze zu bewerten? Die Bemerkung, dass es sich hier um eine<br />
Nebenströmung handelt, deutet Kritik von anderen Seiten bereits an.<br />
Spätestens, wenn man Mittelklassen im Modell hinzufügt <strong>und</strong> die Klassen<br />
in sich auch noch weiter differenziert, gibt es ein Problem, das auch Schichtkonzepte<br />
haben: Wo sind Grenzlinien zu ziehen? Die Klassenansätze wollen<br />
einerseits die theoretisch getroffene Vorannahme aufrechterhalten, dass die Produktionsverhältnisse<br />
der zentrale Faktor für die Klassenbildung sind, andererseits<br />
wollen sie durch Differenzierungen die Lebensnähe ihres Modells demonstrieren.<br />
Die Beispiele zeigen, dass die Lösungen dafür, wer in welche Klasse gehört,<br />
durchaus recht unterschiedlich sein können. Lohnabhängige mit höheren Qualifikationen<br />
können etwa laut PKA durchaus noch zur Arbeiterklasse zählen, während<br />
das IMSF sie zur Mittelschicht zählen würde. Im Modell des PKA befinden<br />
sich durch die sehr weite Definition der Arbeiterklasse ungelernte Arbeiter <strong>und</strong><br />
hochqualifizierte Angestellte in der Privatwirtschaft in der gleichen Klasse, während<br />
ein im öffentlichen Dienst Angestellter mit der gleichen Qualifikation zur<br />
Mittelklasse gehört. Ab wann die Arbeitskraft einen „weitgehend entfalteten“<br />
Warencharakter hat – dies ist eine Kategorie, nach der das IMSF einteilt –, ist<br />
kaum klar allgemein festzulegen. Die skeptische Frage, die sich ergibt, lautet, ob<br />
bei diesen – unterschiedlichen – Einteilungen der postulierte Interessengegensatz<br />
zwischen den Klassen deutlich zum Ausdruck kommt.<br />
Diese Frage untersuchen auch Erbslöh et al. anhand ihrer Fortschreibungen<br />
der Modelle. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Zuordnung zu einem Bewusstseinsindex<br />
(zwischen den Polen „pro Arbeit“ <strong>und</strong> „pro Kapital“) nicht<br />
vollständig stimmig ist (z.B. waren beim Modell des PKA die Mittelschichten<br />
weniger „kapitalistisch“ eingestellt als die Gesamtgruppe der Arbeiter, beim<br />
Modell des IMSF war die Systematik innerhalb der Mittelschichten nicht ganz<br />
stimmig; Erbslöh et al. 1990: 73, 81f.).<br />
Trotz der theoretischen Anbindung (deren Fehlen der Schichtungsforschung<br />
oft als Mangel vorgehalten wurde) gelingt es den neomarxistischen Klassenmodellen<br />
also anscheinend nicht, lebensnähere Modelle als die Schichtungsforschung<br />
zu entwickeln. Hradil betrachtet dies sogar als „das gr<strong>und</strong>sätzliche<br />
Dilemma marxistischer <strong>Ungleichheit</strong>stheoretiker, die zwischen der Marxschen<br />
Theorie einerseits <strong>und</strong> Lebensnähe andererseits zu wählen haben“ (1999: 356).
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren 63<br />
Zwar gibt es auch aus späterer Sicht Stimmen, die die Vorteile dieser Analysen<br />
hervorheben. So schreibt M. Koch 1994:<br />
„Der Ansatz des Projekts Klassenanalyse (PKA) gilt als der bislang gelungenste<br />
Versuch, ausgehend von den Kategorien des Verwertungsprozesses, den ökonomischen<br />
Formbestimmungen, zu einer auch empirisch f<strong>und</strong>ierten Differenzierung der<br />
Klassenstruktur vorzudringen“ (1994: 42).<br />
Doch sind solche Bewertungen die Ausnahme, eher betonen Autoren, wie unergiebig<br />
die Auseinandersetzungen zwischen Klassen- <strong>und</strong> Schichttheoretikern<br />
schon in den siebziger Jahren waren (Hradil 1999: 357) oder dass die neomarxistischen<br />
Modelle zumindest heute kaum noch vertreten würden, weil sie<br />
wenig überzeugend seien (z.B. Geißler 1992: 66).<br />
Dies heißt allerdings nicht, dass der Klassenbegriff in der heutigen <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />
vollständig obsolet geworden ist (vgl. Kap. 4.2), sondern<br />
nur, dass er in dieser vergleichsweise engen Auslegung Marxscher Theorie weniger<br />
verwendet wird.<br />
Geißler macht zudem darauf aufmerksam, dass die Kontroverse zwischen<br />
Klassen <strong>und</strong> Schichten in den siebziger Jahren immerhin dazu geführt habe, dass<br />
auch Schichtungstheoretiker ökonomische Faktoren <strong>und</strong> die insgesamt weiterhin<br />
bestehenden markanten Unterschiede in den Lebensbedingungen verstärkt berücksichtigt<br />
hätten (1992: 66). Es ließe sich hinzufügen, dass die Klassenforscher<br />
die genannten Vorteile, die sie für sich beanspruchten (die theoretische Ausrichtung,<br />
keine Vernachlässigung der Konfliktperspektive <strong>und</strong> längerfristiger Verläufe),<br />
zwar nicht in ein alle überzeugendes Modell umsetzen konnten, diese<br />
Aspekte aber in der ungleichheitstheoretischen Debatte zumindest in der Diskussion<br />
blieben.<br />
In den siebziger Jahren gab es keine Lösung in der Kontroverse um Klassen<br />
<strong>und</strong> Schichten. Die Suche nach einer Lösung innerhalb dieser theoretischen<br />
Richtungen wurde dann ab den achtziger Jahren davon abgelöst, beide zu kritisieren<br />
<strong>und</strong> nach anderen Modellen zu suchen, die das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge in<br />
einer mittlerweile erheblich veränderten Gesellschaft angemessen abbilden<br />
konnten.<br />
Lesehinweis:<br />
Erbslöh, Barbara et al. (1990): Ende der Klassengesellschaft? Eine empirische<br />
Studie zu Sozialstruktur <strong>und</strong> Bewusstsein in der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik, Regensburg:<br />
Transfer, S. 65-82
64 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen<br />
Die Diskussion um <strong>Ungleichheit</strong>smodelle in den fünfziger bis siebziger Jahren<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts umfasst verschiedene Ansätze. Schelsky lehnt in den fünfziger<br />
Jahren eine klare Schichtung zugunsten einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft<br />
ganz ab. Dahrendorf geht davon aus, dass die Schichtstruktur von<br />
den Normen abhängt, die die Herrschenden mit Hilfe von Sanktionen durchsetzen.<br />
Dabei gibt es nicht nur eine Klasse von Herrschenden, sondern vielfältige<br />
Herrschaftsverbände. In seinem „Haus-Modell“ konkretisiert er die soziale<br />
Schichtung in Deutschland Mitte der sechziger Jahre. Prestigemodelle betonen,<br />
dass Schichtstrukturen durch das soziale Ansehen, durch die Wertschätzung von<br />
Positionen erkennbar seien. Insbesondere die Wertschätzung des Berufes, Bildung<br />
<strong>und</strong> Einkommen spielen dabei eine zentrale Rolle. In den siebziger Jahren<br />
stellen neomarxistische Ansätze eine Nebenströmung neben der Schichtungsforschung<br />
dar, die wiederum stärker auf Herrschafts- <strong>und</strong> Unterdrückungsverhältnisse<br />
aufmerksam machen will.<br />
Von den einzelnen Varianten <strong>und</strong> Entwicklungstendenzen abstrahierend,<br />
sind zusammenfassend folgende Merkmale für Klassenmodelle kennzeichnend:<br />
� Ökonomische Aspekte stehen im Vordergr<strong>und</strong>. Insbesondere die Stellung<br />
im Produktionsprozess <strong>und</strong> der Besitz oder der Nicht-Besitz von Produktionsmitteln<br />
sind für die Klassenlage der Individuen verantwortlich, so dass<br />
sich als Hauptklassen das Proletariat <strong>und</strong> die Bourgeoisie ergeben. Zwischenklassen<br />
können aber zusätzlich Berücksichtigung finden (z.B. bei Webers<br />
Verständnis von „Klasse“ oder bei den neomarxistischen Modellen).<br />
� Die Zugehörigkeit zu einer Klasse hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche,<br />
auf innere Haltungen der Individuen <strong>und</strong> ihr Handeln. Spezifische<br />
Klasseninteressen können unter Umständen zu einem gemeinsamen Klassenbewusstsein<br />
führen.<br />
� Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Relationen zwischen den Klassen,<br />
deren Interessen die Forscher als gegensätzlich ansehen: Die Modelle betonen<br />
den Klassenkonflikt, allerdings nicht überall in gleich scharfer Form<br />
(z.B. hebt Dahrendorf hervor, dass der Klassenkonflikt durch eine Institutionalisierung<br />
an Intensität verloren habe). Teilweise ergreifen die Autoren<br />
dabei die Partei der unterdrückten Arbeiterklasse.<br />
� Die Betrachtung dieser Relationen bringt es mit sich, dass das theoretische<br />
Interesse nicht nur auf eine Momentaufnahme gerichtet ist, sondern auf<br />
Prozesse. Damit sind weniger individuelle Mobilitätsprozesse gemeint (im<br />
Klassenmodell hat z.B. das Proletariat wenig Aufstiegschancen), sondern
3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen 65<br />
längerfristig der Klassenkonflikt als der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung.<br />
� Klassenmodelle wollen in erster Linie anhand des theoretischen Modells die<br />
Ursachen der sozialen <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> den sozialen Wandel analysieren.<br />
Weniger geht es um eine möglichst genaue Beschreibung der Lebensbedingungen.<br />
Demgegenüber lassen sich Schichtmodelle im engeren Sinne auf entsprechend<br />
allgemeiner Ebene quasi spiegelbildlich so kennzeichnen:<br />
� Die Beschreibung ungleicher Lebensbedingungen, damit ungleicher<br />
Lebenschancen, steht im Vordergr<strong>und</strong>. Auch Vertreter von Schichtmodellen<br />
gehen davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer – in sich relativ homogenen<br />
– Schicht Einfluss auf Einstellungen <strong>und</strong> Verhalten hat (z.B. auf Heiratskreise);<br />
eine Schicht stellt jedoch nicht automatisch eine Interessengruppe<br />
dar. Die Schichten müssen sich nicht antagonistisch gegenüber stehen.<br />
� Die Kriterien zur Zuordnung in eine bestimmte Schicht sind häufig, theoretisch<br />
aber nicht notwendigerweise, sozioökonomisch orientiert, gegebenenfalls<br />
mit bestimmten soziokulturellen Ergänzungen: Häufig zentral sind die<br />
äußeren Merkmale Beruf (bzw. Berufsprestige), Bildung <strong>und</strong> Einkommen<br />
(bei eindimensionalen Modellen ist meist die Stellung im Beruf das ausschlaggebende<br />
Kriterium; z.B. Hartfiel 1978: 99). Die Bedeutung der einzelnen<br />
Kriterien für die Schichtzugehörigkeit kann je nach Gesellschaft <strong>und</strong><br />
betrachtetem Zeitraum variieren.<br />
� Nach den ausgewählten Kriterien ergibt sich eine vorwiegend vertikale<br />
Abstufung von mindestens drei Schichten. Es handelt sich also um einen<br />
hierarchischen Aufbau mit Untergliederungen, nicht etwa um die Vorstellung<br />
eines Kontinuums. Wie die Ansätze die genaue Abgrenzung von<br />
Schichten vornehmen, ist nicht theoretisch vorbestimmt, <strong>und</strong> an den Übergängen<br />
können die an sich klar voneinander getrennten Schichten unscharf<br />
sein.<br />
� Eine Prozessbetrachtung meint in der Schichtungsforschung eher die<br />
Auswirkungen individueller Mobilität, die als durchaus möglich angesehen<br />
wird (indem z.B. der Einzelne mehr leistet <strong>und</strong> so beruflich aufsteigt).<br />
� Aufgr<strong>und</strong> der Mobilitätschancen geht es nicht in erster Linie darum, <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
möglichst zu beseitigen, sondern die Ansätze sehen soziale<br />
<strong>Ungleichheit</strong> mindestens teilweise als notwendig für die Aufrechterhaltung<br />
der gesellschaftlichen Ordnung an (so der funktionalistische Schichtungsansatz).
66 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Im Vergleich dieser Charakteristika könnte ein Klassentheoretiker gegen<br />
Schichtungsansätze – vielleicht etwas überspitzt formuliert – argumentieren,<br />
diese seien zu statisch <strong>und</strong> zu wenig theoretisch angelegt. Sie seien lediglich<br />
beschreibend mit willkürlichen Abgrenzungen, ohne die Ursachen der <strong>Ungleichheit</strong><br />
<strong>und</strong> den sozialen Wandel angemessen zu berücksichtigen. Außerdem beachteten<br />
Schichtmodelle die sich aus den bedeutsamen sozialen <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
ergebenden Konfliktpotentiale <strong>und</strong> Herrschaftsverhältnisse zu wenig, seien mehr<br />
auf Harmonie <strong>und</strong> Integration hin orientiert.<br />
Umgekehrt könnte ein Schichtungsforscher Klassenmodelle ablehnen mit<br />
dem Hinweis, diese seien zu <strong>und</strong>ifferenziert, weil sie mit dem Hauptkriterium<br />
des Eigentums an Produktionsmitteln zu wenige Merkmale berücksichtigten.<br />
Auch Mobilitätsprozesse würden vernachlässigt. Könnte die Analyse gerade<br />
noch für gesellschaftliche Verhältnisse im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert stimmig sein, so sei<br />
sie doch für die Gesellschaft im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert schlicht realitätsfern, sowohl<br />
hinsichtlich der Konstruktion <strong>und</strong> Abgrenzung der Klassen als auch hinsichtlich<br />
der Annahme eines unvereinbaren Interessengegensatzes.<br />
Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten von Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen.<br />
Dazu gehört, dass beide Ansätze die Gesellschaft vertikal in ungleichheitsrelevante<br />
Gruppen unterteilen, meist anhand von ökonomisch ausgerichteten Dimensionen.<br />
Die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Schicht führt außerdem in<br />
der Regel zu typischen Handlungsorientierungen.<br />
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen<br />
Die Kritik, die <strong>Ungleichheit</strong>sforscher ab den achtziger Jahren an den Klassen-<br />
<strong>und</strong> Schichtmodellen äußerten, geht über die theoretischen Probleme hinaus, für<br />
die diese Modelle bis in die siebziger Jahre keine Lösung gef<strong>und</strong>en hatten. Einschneidende<br />
Prozesse sozialen Wandels (insbesondere in den sechziger <strong>und</strong> siebziger<br />
Jahren) ließen die traditionellen Herangehensweisen zur Erfassung <strong>und</strong><br />
Erklärung sozialer <strong>Ungleichheit</strong> noch weniger angemessen erscheinen. Ein<br />
wichtiger Aspekt des Wandels in Deutschland ist die soziale Differenzierung, die<br />
sich mit einem erhöhten Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung, mit<br />
der Absicherung durch den Wohlfahrtsstaat <strong>und</strong> der Bildungsexpansion immer<br />
weiter ausbildete. Einen (allein allerdings noch nicht hinreichenden) Hinweis auf<br />
die Ausdifferenzierung stellt beispielsweise die veränderte subjektive Zuordnung<br />
dar: Die wenigsten identifizieren sich heute noch mit einer sozialen Großgruppe<br />
wie z.B. der „Arbeiterklasse“. Und auch die Vielfalt der Familien- <strong>und</strong> Haushaltsformen<br />
weist auf die Differenzierungsprozesse hin, die Beck zusammenfassend<br />
als „Individualisierungsschub“ kennzeichnet (vgl. Kap. 8).
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen 67<br />
Verschiedene Autoren kritisieren die traditionelle <strong>Ungleichheit</strong>sforschung als<br />
unzureichend, weil sie eben diese Differenzierung <strong>und</strong> Pluralisierung von<br />
Lebensweisen nicht erfasse (als Beispiele Bolte 1990, Hradil 1999: 358f.). Pluralisierung<br />
schließt – so z.B. Hradil (1992) – ein, dass ähnliche objektive Lebensbedingungen<br />
(z.B. der gleiche Beruf) häufig mit sehr verschiedenen Lebensstilen<br />
<strong>und</strong> auch unterschiedlichen subjektiven Zuordnungen zu bestimmten Milieus<br />
(zu diesen Begriffen vgl. Kap 5) verb<strong>und</strong>en sind, wobei die Vielfalt von<br />
Gruppierungen mit je typischen Lebensweisen <strong>und</strong> Werthaltungen erheblich<br />
zugenommen hat. So könnte ein dreißigjähriger Schlossergeselle einen Teil seiner<br />
Freizeit im Schrebergarten verbringen, während sein gleichaltriger Kollege<br />
gerne Punkkonzerte besucht. Eine einfache Zuordnung von einigen wenigen<br />
„objektiven“ Merkmalen – wie z.B. dem formalen Bildungsabschluss – zu einer<br />
bestimmten Schicht oder Gruppierung oder zu subjektiven Zugehörigkeiten <strong>und</strong><br />
Verhaltensweisen trifft hiernach den Kern der Sozialstruktur heute nicht mehr.<br />
Durch die genannten sozialen Prozesse ergeben sich zudem „neue“ <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
bzw. eine neue Aufmerksamkeit für bestimmte Aspekte sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> in der öffentlichen <strong>und</strong> wissenschaftlichen Diskussion. Viele Aspekte<br />
lassen sich nicht (mehr) auf die bislang üblichen Dimensionen wie Bildung<br />
oder den Beruf zurückführen. Dazu zählen z.B. Freizeit, soziale Sicherheit (z.B.<br />
Arbeitsplatzsicherheit) oder Wohnen. Allgemeiner gesagt treten die Lebensverhältnisse<br />
als Dimensionen neben Ressourcen (wie z.B. das Erwerbseinkommen).<br />
So kann man die Perspektive beispielsweise auch auf Nichterwerbstätige oder<br />
auf die Ungleichverteilung (wohlfahrts-)staatlicher Leistungen <strong>und</strong> Einrichtungen<br />
erweitern. Ein häufiges Stichwort im Zusammenhang mit der Erweiterung<br />
von <strong>Ungleichheit</strong>sdimensionen sind „horizontale“ <strong>Ungleichheit</strong>en. Hierbei handelt<br />
es sich um Merkmale, die für sich genommen keine Rangfolge implizieren,<br />
z.B. die Ausprägungen von Nationalität, Geschlecht, Region oder Kohorte (im<br />
Gegensatz zu vertikalen Merkmalen wie z.B. mehr oder weniger Einkommen,<br />
höhere oder niedrigere Bildung etc.). Diese <strong>Ungleichheit</strong>en sind nicht neu, die<br />
Merkmale erhalten aber in neueren Modellen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> eine eigenständige<br />
Bedeutung. Auch sie lassen sich nicht umstandslos auf wenige andere<br />
Merkmale (z.B. die Bildung) zurückführen. Die Nationalität oder das Geschlecht<br />
beispielsweise könnten die beruflichen Aufstiegschancen auch bei sonst gleicher<br />
Qualifikation positiv oder negativ beeinflussen. Mit horizontalen <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
ist auf der Ebene des <strong>Ungleichheit</strong>sgefüges aber damit zusammenhängend auch<br />
gemeint, dass sich mehrere Gruppen auf der gleichen vertikalen Stufe ausdifferenzieren<br />
können (z.B. bei Milieumodellen, die auf einer horizontalen Achse z.B.<br />
nach Altersgruppen oder Werten differenziert sind, vgl. Kap. 5.2).<br />
Mit der Berücksichtigung zahlreicher <strong>Ungleichheit</strong>smerkmale ist die Annahme<br />
verb<strong>und</strong>en, dass Statusinkonsistenzen häufiger werden, die traditionelle
68 3 Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Diskussion<br />
Modelle kaum in ihr Konzept integrieren können. Ging man früher eher davon<br />
aus, dass der Status einer Person in den verschiedenen Lebensbereichen gleich<br />
oder ähnlich sei (so dass z.B. eine Person mit einer bestimmten Bildung auch ein<br />
bestimmtes Einkommen hat, sich in einer entsprechenden Wohnsituation<br />
befindet etc.), so sind heute häufiger Inkonsistenzen festzustellen, nicht allein<br />
aufgr<strong>und</strong> der Existenz neuer Dimensionen, sondern auch aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
vielfältigen Kombinationen (vgl. dazu die Konsistenzberechnung bei Schwenk<br />
1999: 24). In besonderem Ausmaß sind Personen in mittleren Statuszonen von<br />
Statusinkosistenzen betroffen, z.B. ein mittlerer Beamter mit einer hohen sozialen<br />
Sicherheit, aber relativ geringem Einkommen (s.a. Hradil 1987: Kap. 1; ders.<br />
1992: 160).<br />
Die Kritik lautet also: Herkömmliche Modelle konzentrieren sich zu stark<br />
auf wenige, meist ökonomische Ursachen <strong>und</strong> Dimensionen sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
(zentral z.B. auf den Beruf) <strong>und</strong> berücksichtigen damit vorwiegend vertikale<br />
Abstufungen von Gruppen Erwerbstätiger (die Einordnung anderer Personen<br />
nehmen sie oft nur abgeleitet vor, über den „Haushaltsvorstand“ oder einen früheren<br />
Beruf). Von zusätzlichen Merkmalen nehmen diese Modelle – fälschlicherweise<br />
– an, dass sie typischerweise mit den Klassen oder Schichten einhergehen.<br />
Zu solchen Merkmalen zählen weitere Lebensbedingungen wie Umweltbedingungen<br />
oder die ethnische Zugehörigkeit, aber auch Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster.<br />
Zudem betrachten die Analysen meist nur einen Nationalstaat ohne<br />
Vergleiche mit anderen <strong>Länder</strong>n.<br />
Weitere Kritikpunkte an Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen, die mit der dargestellten<br />
Vernachlässigung von Differenzierung <strong>und</strong> ihren Konsequenzen zusammenhängen,<br />
lauten: Die Modelle sind zu abstrakt. Als künstliche Konstruktion<br />
mit künstlichen Abgrenzungen besitzen sie keine Entsprechung in der Erfahrungswelt<br />
oder im Bewusstsein der Individuen. Diese ordnen sich <strong>und</strong> andere im<br />
Alltag nicht nach den Schemata dieser Modelle ein. Mit Bolte ließe sich ergänzen,<br />
dass das Fehlen eines dominanten <strong>und</strong> sichtbaren Kriteriums sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
(z.B. eindeutige Statussymbole) eine Einordnung in die Großgruppe<br />
einer Schicht zusätzlich erschwert (Bolte 1990: 40f.). Die Modelle (insbesondere<br />
der Schichtbegriff) sind zudem zu statisch. Den Wandel der Sozialstruktur <strong>und</strong><br />
Bewegungen der Individuen innerhalb der Sozialstruktur erfassen sie nur unzureichend.<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser Argumente fehlt den herkömmlichen Konzepten nach<br />
Meinung der Kritiker somit der notwendige theoretische Erklärungswert (vgl.<br />
auch Geißler 1994: 12-17).<br />
Diese Mängel führten unter anderem in der wissenschaftlichen Diskussion<br />
dazu, „Schichtung“ oft durch „<strong>Ungleichheit</strong>“ als neutraleren Oberbegriff für den<br />
zentralen Forschungsgegenstand zu ersetzen.
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen 69<br />
Als Zusammenfassung soll zur Beurteilung der bisherigen Modelle folgendes<br />
Zitat dienen:<br />
„Vielleicht stellt die mit der Berufshierarchie verknüpfte Schichtungsstruktur nach<br />
wie vor den ‚harten Kern’ des Gefüges sozialer <strong>Ungleichheit</strong> in fortgeschrittenen Industriegesellschaften<br />
dar. Insgesamt kann es aber kaum mehr als Schichtungsgefüge<br />
beschrieben werden. Dazu spielen außerökonomische Ursachen, außerberufliche<br />
Determinanten, ‚neue’ Dimensionen, komplexe Soziallagen <strong>und</strong> nichtdeterminierte<br />
Milieu- <strong>und</strong> Lebensstilbindungen eine zu wichtige Rolle“ (Hradil 1992: 162).<br />
Diese von fast allen <strong>Ungleichheit</strong>sforschern in dieser Zeit geäußerte Kritik führte<br />
dazu, nach der Aufkündigung des „Minimalkonsenses strukturierter sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong>“ (H.-P. Müller 1992: 11) nach modifizierten oder neuen Modellen<br />
zur Darstellung <strong>und</strong> Erklärung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>sphänomene zu suchen. Die<br />
verschiedenen Lösungen sollen im folgenden Teil vorgestellt werden.
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodellen 71<br />
Teil II:<br />
Neuere Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong>
4.1 Neuere Schichtansätze 73<br />
4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
4.1 Neuere Schichtansätze<br />
Als Vertreter dieser Position ist insbesondere Rainer Geißler zu nennen. Er bestreitet<br />
keineswegs gesellschaftliche Veränderungen, die die Modifizierung <strong>und</strong><br />
Erweiterung bisheriger Schichtmodelle notwendig machen. Er ist aber andererseits<br />
der Ansicht, dass viele neuere Ansätze zur Erforschung sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
(die in den folgenden Kapiteln näher dargestellt werden) über das Ziel<br />
hinausgeschossen seien <strong>und</strong> nun die durchaus fortbestehende <strong>und</strong> für die Lebenschancen<br />
relevante soziale Schichtung vernachlässigen würden, somit auch<br />
die sozialkritische Haltung einer solchen Theorieperspektive verloren gehe. Sein<br />
Haupteinwand gegen Modelle, die er als Mainstream der Sozialstrukturanalyse<br />
seit den achtziger Jahren ansieht, lautet zusammengefasst:<br />
„Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus<br />
<strong>und</strong> Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin bestehende vertikale <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen<br />
getrübt. Es besteht die Tendenz, dass vertikale Strukturen<br />
wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert <strong>und</strong> wegdynamisiert werden.“<br />
(Geißler 1996: 323).<br />
Er selbst vertritt demgegenüber die Position, dass „nicht die Auflösung der Klassen<br />
<strong>und</strong> Schichten ein Ergebnis des Modernisierungsprozesses [ist], sondern die<br />
Herausbildung einer dynamischeren <strong>und</strong> pluraleren Schichtstruktur“ (a.a.O.:<br />
332). Schicht versteht er im Sinne Geigers als Oberbegriff, der konkreter „Gruppierungen<br />
mit ähnlicher Soziallage <strong>und</strong> damit verknüpften typischen Subkulturen<br />
<strong>und</strong> Lebenschancen“ meint (Geißler 2002: 117 15 ).<br />
In fünf Thesen nennt er weitere Kennzeichen einer modernen Klassen- <strong>und</strong><br />
Schichtstruktur (1996: 332-335):<br />
1. Vertikale Strukturen sind nur eine Dimension in einem multidimensionalen<br />
Gefüge, in dem auch z.B. Geschlecht oder Ethnie eine Rolle spielen.<br />
15<br />
Die sechste Auflage des Buches von 2011 weist hinsichtlich des Schichtmodells keine<br />
wesentlichen Änderungen auf.<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_4,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
74 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
2. Die vertikale Dimension ist in diesem Gefüge weiterhin dominant. Die<br />
Bildung <strong>und</strong> der Beruf beeinflussen in hohem Maße die Lebenschancen –<br />
definiert als Chancen auf die Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer<br />
Gesellschaft im allgemeinen als erstrebenswert angesehen werden (Geißler<br />
1994: 4) (während z.B. die Lebensstilforschung das Alter als weiteren<br />
wichtigen Einflussfaktor hervorhebt, vgl. Kap. 5.1). Beispielsweise gibt es<br />
immer noch große schichtspezifische Unterschiede im schulischen Bildungsbereich,<br />
die die Reformen in den sechziger Jahren nicht beseitigt haben<br />
(weitere Beispiele zum Einfluss sozialer Schichtung auf verschiedene<br />
Lebensbereiche in Geißler (Hg.) 1994, 2002).<br />
3. Schichten sind nicht durch klare Grenzen getrennt. Mit bestimmten Bildungs-Berufs-Kombinationen<br />
sind typisch, aber nicht notwendigerweise,<br />
Ressourcen, Haltungen <strong>und</strong> Lebenschancen verknüpft.<br />
4. Die moderne Schichtstruktur ist eher latent <strong>und</strong> einer Alltagsbeobachtung<br />
oft entzogen. Jenseits dieser „lebensweltlichen Oberfläche“ (Geißler 1996:<br />
333) oder von Moden in der sozialwissenschaftlichen <strong>und</strong> öffentlichen Diskussion<br />
bestehen sie in der „Tiefenstruktur“ einer Gesellschaft jedoch weiter<br />
fort.<br />
5. Ein Kern von stark schichtspezifisch geprägten Segmenten der Sozialstruktur<br />
ist – wie in einem Modell konzentrischer Kreise – umgeben von Zonen<br />
mittlerer oder nur sehr schwach schichtspezifischer Segmente. Damit beeinflusst<br />
die Schichtzugehörigkeit bestimmte Handlungsweisen stärker als andere:<br />
Etwa ist die Teilnahme an <strong>B<strong>und</strong></strong>estagswahlen relativ schichtneutral,<br />
während aktive Parteiarbeit in hohem Maße durch die Schicht geprägt ist.<br />
Solche Modifizierungen stellen den schichtspezifischen Kern jedoch nicht<br />
in Frage.<br />
Gegenüber einem Klassenmodell sieht Geißler die Vorteile eines Schichtgefüges<br />
darin, dass Schichten (im engeren Sinne) weniger auf die Stellung des Menschen<br />
im Wirtschaftsprozess fixiert seien (1994: 23).<br />
Geißler weist darauf hin, dass bereits Theodor Geiger viele Kennzeichen einer<br />
modernen Sozialstruktur erkannte (vgl. Kap. 2.3), z.B. die multidimensionale<br />
Sichtweise mit einer Offenheit für neue Formen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> oder die<br />
Erkenntnis, dass sich Schichten überlappen können <strong>und</strong> dass sie Mentalitäten<br />
typischerweise, aber nicht deterministisch prägen. Die Hauptströmungen der<br />
neueren Sozialstrukturanalyse hätten Geigers Erkenntnisse danach zu Unrecht<br />
vernachlässigt, sie hätten Einseitigkeiten durch eine Berücksichtigung Geigers<br />
vermeiden können (vgl. auch Geißler 1985: 404-406). Schroth stellt ebenfalls<br />
Geigers Aktualität heraus <strong>und</strong> nimmt eine empirische Untersuchung von Geigers<br />
Schichtmodell mit Daten von 1993 <strong>und</strong> 1996 vor (Schroth 1999: Kap. 5). Es
4.1 Neuere Schichtansätze 75<br />
zeigten sich unter anderem deutliche Mentalitätsunterschiede in einer unteren<br />
<strong>und</strong> in einer gehobenen Soziallage, weniger deutliche jedoch in den Mittellagen<br />
(a.a.O.: 103).<br />
Geißler beruft sich bei der Erarbeitung eines konkreten Modells der sozialen<br />
Schichtung neben Geiger auf Dahrendorf (der seinerseits auf Geiger zurückgreift<br />
<strong>und</strong> dessen Konzept ebenfalls den Begriff der Lebenschancen beinhaltet) <strong>und</strong><br />
möchte dessen Haus-Modell (vgl. Kap. 3.2) modernisieren. Eine wichtige Rolle<br />
bei der Schichteinteilung spielt der Beruf, der laut Geißler nach wie vor mit verschiedenen<br />
anderen Merkmalen einhergeht: Er „[bündelt] verschiedene Faktoren<br />
wie Funktion in der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Qualifikation,<br />
Einkommen, Prestige <strong>und</strong> Einfluss“ (2002: 118). 16 Weiter zieht er Mentalitäten,<br />
Subkulturen, Lebenschancen <strong>und</strong> Ethnie heran (ohne dies genauer auszuführen).<br />
Es ergibt sich das in Abbildung 9 dargestellte Bild für die soziale Schichtung<br />
der westdeutschen Wohnbevölkerung im Jahr 2000.<br />
16 Demgegenüber hatte Geißler 1994 vermutet, dass die Berufsdimension langfristig an<br />
strukturprägender Kraft einbüße, die Bildungsdimension dafür an Bedeutung gewinne (1994: 24).
76 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
Abbildung 9: Das Schichtmodell nach Geißler<br />
Quelle: Geißler 2002: 119<br />
Im Vergleich zu Dahrendorfs Modell für die sechziger Jahre „hat sich das vergleichsweise<br />
einfache Wohnhaus … inzwischen in eine ansehnliche Residenz<br />
mit Komfortappartements verwandelt … zum anderen sind die Decken <strong>und</strong><br />
Wände noch durchlässiger geworden“ (2002: 120). Im Vergleich zu den achtziger<br />
Jahren (Geißler 1992: 76) hat vor allem die höhere Dienstleistungsschicht<br />
an Bedeutung gewonnen, während sich der Anteil einiger anderer Schichten<br />
reduziert hat (z.B. sank der Anteil der Arbeiterelite von 12% auf 2%). Für Ostdeutschland<br />
fehlt bislang der Entwurf eines differenzierten Schichtmodells. Nach<br />
der subjektiven Schichteinstufung wandelte sich das ostdeutsche Selbstverständ-
4.1 Neuere Schichtansätze 77<br />
nis erst um die Jahrtausendwende in Richtung „Mittelschichtengesellschaft“, die<br />
Einordnung in die Arbeiterschicht fällt weiterhin stärker aus als im Westen<br />
(Geißler 2011: 102; vgl. auch Noll/Weick 2011). Allerdings ist eine subjektive<br />
Schichteinstufung allein kein Nachweis für die Existenz einer geschichteten<br />
Gesellschaft, Befragte hätten sich vielleicht ebenfalls z.B. in vorgegebene<br />
Milieus eingeordnet.<br />
Kritisch ist gegen Geißler einzuwenden, dass er andere Ansätze zur sozialen<br />
<strong>Ungleichheit</strong> (abgesehen von einigen Ausnahmen) relativ pauschal abwertet.<br />
Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, geht es bei anderen neueren<br />
Ansätzen durchaus nicht allein darum, sich an der bunten Vielfalt sozialer Erscheinungsformen<br />
zu erfreuen, sondern ebenfalls darum, differenzierte Zusammenhänge<br />
zur Sozialstruktur festzustellen. Das schließt auch – aber nicht allein –<br />
die Prägung durch vertikale Merkmale ein. Einige Milieumodelle (z.B. die<br />
SINUS-Milieus, vgl. Kap. 5.2) sind sogar ausdrücklich eng mit einem Schichtmodell<br />
verb<strong>und</strong>en, erweitern es aber um einige Dimensionen. An anderer Stelle<br />
spricht Geißler zumindest von einer mittlerweile existierenden, aus seiner Sicht<br />
sinnvollen Paradigmen-Vielfalt, wobei verschiedene Ansätze unterschiedliche<br />
Ausschnitte einer komplexen Sozialstruktur erhellten (2011: 119).<br />
Den Entwurf seines eigenen, modernisierten Haus-Modells macht Geißler<br />
ferner nicht sehr transparent: Wie hat er die konstituierenden Merkmale miteinander<br />
verknüpft? Wie sind im Ergebnis Schichtzugehörigkeit <strong>und</strong> Mentalitäten<br />
miteinander verb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> ist tatsächlich noch davon auszugehen, dass mit dem<br />
Beruf viele andere Merkmale einhergehen? Der früheren Schichtungsforschung<br />
war unter anderem ja gerade vorgeworfen worden, zunehmende Inkonsistenzen<br />
nicht erfassen zu können. Zudem gibt Geißler selbst an, die Schichtstruktur sei<br />
„latenter“ geworden (wodurch er sich der empirischen Prüfung seiner Thesen ein<br />
Stück weit entzieht). Auch die Zuordnung zu einer Schicht nach dem Status des<br />
Haushaltsvorstandes, die Geißler vornimmt, ist umstritten. Er sollte gegebenenfalls<br />
genauer herausstellen, worin die Modernisierung seines Konzeptes (bei aller<br />
Betonung der nach wie vor dominanten vertikalen Dimension) in dem konkreten<br />
Modell besteht.<br />
Die Betonung der gesellschaftskritischen Absicht durch die Verknüpfung<br />
mit Lebenschancen stellt schließlich einen wichtigen Aspekt in Geißlers Ansatz<br />
dar, den es im Laufe der Entwicklung der <strong>Ungleichheit</strong>smodelle bereits einmal<br />
gegeben hat. Warfen früher Klassentheoretiker den Verfechtern von Schichtansätzen<br />
vor, die Themen Macht, Herrschaft <strong>und</strong> soziale Ungerechtigkeiten zu<br />
vernachlässigen, wiederholt sich nun das Argument bei Geißler als Vertreter<br />
eines modernisierten Schichtmodells gegenüber anderen Ansätzen sozialer <strong>Ungleichheit</strong>,<br />
die z.B. andere Begriffe zur Kennzeichnung eines <strong>Ungleichheit</strong>sgefüges<br />
als Klasse oder Schicht benutzen.
78 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
Zusammenfassung<br />
In Anlehnung an das Schichtungsmodell Geigers betont Rainer Geißler die<br />
Nützlichkeit eines dynamischen <strong>und</strong> pluralen Schichtmodells. Bei aller Modernisierung<br />
dürften für die Gegenwart angemessene Modelle sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
die Bedeutung vertikaler Strukturen nicht vernachlässigen.<br />
Lesehinweis:<br />
Geißler, Rainer (1996): Kein Abschied von Klasse <strong>und</strong> Schicht. Ideologische<br />
Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie<br />
<strong>und</strong> Sozialpsychologie, 48. Jg., H. 2, S. 319-338<br />
4.2 Neuere Klassenmodelle<br />
So wie Schichtmodelle heben auch Klassenansätze hervor, dass man bisherige<br />
Strukturierungen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> bei allen Veränderungen <strong>und</strong> trotz berechtigter<br />
Kritikpunkte an den älteren Ansätzen nicht leichtfertig aufgeben sollte.<br />
Dies beruht unter anderem auf der Ansicht, dass bestehende vertikale <strong>Ungleichheit</strong>saspekte<br />
<strong>und</strong> Herrschaftsverhältnisse in anderen Modellen schnell unterbelichtet<br />
sein könnten (so stellt etwa Hadler (2003) fest, dass die Bevölkerung in<br />
dreißig von ihm untersuchten <strong>Länder</strong>n nach wie vor vertikale Konflikte wahrnehme).<br />
Die Autoren versuchen in ihrer Argumentation daher, den weiterhin<br />
bestehenden Erklärungsbeitrag gerade von Klassenmodellen zu verdeutlichen.<br />
Klassenmodelle gibt es zum einen in der englischsprachigen Diskussion mit<br />
Einfluss auch auf deutsche Sozialstrukturansätze. Als international beachtete<br />
Beispiele – auch in Form empirischer Umsetzungen – werden in diesem Zusammenhang<br />
öfter z.B. die Ansätze aus den achtziger Jahren von E.O. Wright oder<br />
J.H. Goldthorpe genannt. Dabei ist Wright (USA) einer marxistisch orientierten<br />
Richtung zuzuordnen, während Goldthorpe (GB) eher eine Fortführung von<br />
Webers Konzept zugeschrieben wird. Beide Ansätze sollen in ihren Gr<strong>und</strong>zügen<br />
kurz dargestellt werden.<br />
Als Beispiel für deutsche Autorinnen <strong>und</strong> Autoren, die mit dem Klassenbegriff<br />
operieren, soll im Anschluss daran die Argumentation von W. Müller<br />
skizziert werden, der unter anderem auf eine differenzierte Variante des Klassenschemas<br />
von Goldthorpe zurückgreift. R. Kreckel benutzt eine andere Begrifflichkeit,<br />
die von „Zentrum“ <strong>und</strong> „Peripherie“, doch rückt er durch die Betonung
4.2 Neuere Klassenmodelle 79<br />
der primären Asymmetrie von Kapital <strong>und</strong> Arbeit ebenfalls in die Nähe von<br />
Klassenmodellen.<br />
Der Ansatz des französischen Soziologen P. Bourdieu wird in einem gesonderten<br />
Kapitel behandelt, weil er ein eigenes Klassenmodell mit einem anderen<br />
Ansatz (Lebensstilen) zu einem komplexen Theoriegefüge verknüpft (vgl. Kap.<br />
6).<br />
E.O. Wright<br />
Erik Olin Wright legte Ende der siebziger Jahre ein Klassenmodell vor, das er in<br />
der Mitte der achtziger Jahre zu einer neuen Version überarbeitete (Wright<br />
1985a, 1985b, 1989). Wie schon die neomarxistischen Ansätze der siebziger<br />
Jahre geht er nicht nur von Bourgeoisie <strong>und</strong> Proletariat, sondern auch von der<br />
Existenz von Mittelklassen aus. In dem „alten“ Modell fügt er den beiden<br />
Hauptklassen eine dritte hinzu, das Kleinbürgertum, <strong>und</strong> identifiziert zudem<br />
widersprüchliche Zwischenklassen (z.B. Manager oder „semi-autonome“ Arbeitnehmer).<br />
Die Notwendigkeit für eine neue Variante seines Modells sah er unter<br />
anderem deshalb gegeben, weil das bisherige Modell den Aspekt der Ausbeutung<br />
noch zu wenig berücksichtigte, zudem gab es theoretische <strong>und</strong> empirische Probleme<br />
beim Umgang mit den bisherigen Zwischenklassen.<br />
In der neueren Variante (1985a), die unter anderem auf spieltheoretische<br />
Anregungen (von J. Roemer) zurückgreift, beruhen die Klassenverhältnisse auf<br />
der Ausbeutung anhand von drei Ressourcen dazu: Produktionsmittelbesitz,<br />
daneben aber auch Organisationsmacht <strong>und</strong> Qualifikation. Ausbeuter verfügen<br />
über diese Mittel, Ausgebeutete nicht, dazwischen gibt es Klassen, die entweder<br />
eine geringe Menge dieser Ressourcen besitzen („alte“ Mittelklasse) oder zwar<br />
von einer Dimension viel, von anderen aber nichts („neue“ Mittelklasse; Wright<br />
1985b: 47). Das folgende Schaubild zeigt die zwölf Klassen, die sich nach diesem<br />
Konstruktionsprinzip ergeben:
80 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
Abbildung 10: Das Klassenmodell nach Wright<br />
Ausbeuter<br />
weder<br />
Ausbeuter<br />
noch<br />
ausgebeutet <br />
ausgebeutet<br />
Besitz an<br />
Produktionsmitteln<br />
1) Bürgertum (Bourgeoisie)<br />
Diese haben genügend<br />
Kapital, um Arbeitnehmer<br />
zu beschäftigen <strong>und</strong> selbst<br />
nicht arbeiten zu müssen<br />
2) Kleine Arbeitgeber<br />
Diese haben genügend<br />
Kapital, um Arbeitnehmer<br />
zu beschäftigen, müssen<br />
aber selbst mitarbeiten<br />
3) Kleinbürger<br />
Diese haben genügend<br />
Kapital zur Selbständigkeit,<br />
aber nicht zur Beschäftigung<br />
von Arbeitnehmern<br />
Nichtbesitz an Produktionsmitteln<br />
(Lohnarbeit)<br />
Ausbeuter weder Ausbeuter<br />
noch ausgebeutet<br />
ausgebeutet<br />
4) fachlich<br />
qualifizierte<br />
Manager<br />
5) fachlich<br />
qualifizierteAufsichtspersonen<br />
6) fachlich<br />
qualifizierte<br />
Nicht-<br />
Manager<br />
7) fachlich<br />
teilweise qualifizierte<br />
Manager<br />
8) fachlich<br />
teilweise qualifizierteAufsichtspersonen<br />
9) fachlich<br />
teilweise qualifizierte<br />
Arbeiter<br />
10) fachlich<br />
nicht qualifizierte<br />
Manager<br />
11) fachlich<br />
nicht qualifizierteAufsichtspersonen<br />
12) „Proletarier“<br />
(Arbeiterklasse)<br />
Ausstattung mit Qualifikation<br />
Quelle: Hradil 1999: 114 (Übersetzung des Modells in Wright 1985a: 88)<br />
Ausstattung<br />
mit Organisationsmacht<br />
Damit legt Wright ein in recht hohem Maße differenziertes Klassenmodell vor,<br />
in dem die Asymmetrie zwischen Arbeit <strong>und</strong> Kapital jedoch weiter einen zentralen<br />
Stellenwert einnimmt (vgl. zur Quantifizierung der Klassen z.B. Wright<br />
1997). Dabei haben die Mittelklassen durchaus einen Einfluss auf den<br />
Klassenkonflikt:<br />
„It is no longer axiomatic that the proletariat is the unique, or perhaps even universally<br />
the central, rival to the capitalist class for class power in capitalist society“<br />
(Wright 1985a: 89).<br />
In einer empirischen Überprüfung für die <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik Deutschland bescheinigen<br />
Erbslöh et al. (1990) Wrights Modell Erklärungskraft für Einkommensunterschiede<br />
<strong>und</strong> mit Einschränkungen auch für ein typisches Bewusstsein (das<br />
Modell erklärte diese Unterschiede besser als z.B. die Ansätze des PKA oder<br />
IMSF, auch stellte das neuere Modell Wrights tatsächlich eine Verbesserung<br />
gegenüber der älteren Variante dar). Die Autoren kommen zu einer insgesamt<br />
positiven Einschätzung von Wrights Ansatz <strong>und</strong> damit dem Klassenmodell.<br />
Zumindest ist „Klasse“ ihres Erachtens eine nützliche Kategorie für die Analyse<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong>, wenngleich nicht unbedingt die einzige, etwa lassen sich<br />
askriptive Dimensionen wie das Geschlecht nur schwer in das Klassenmodell<br />
integrieren.
4.2 Neuere Klassenmodelle 81<br />
Dies weist auf Kritik auch an Wright hin: Zwar möchte er Klasse <strong>und</strong> Geschlecht<br />
weder als einheitliche, noch als vollkommen getrennte <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen<br />
ansehen, <strong>und</strong> er unternimmt mit der Kategorie von „mittelbaren Klassenbeziehungen“<br />
(durch Beziehungen zu Familienmitgliedern oder dem Staat)<br />
einen Vorstoß, beide zu verbinden (Wright 1998). Doch vernachlässigt sein<br />
Modell tendenziell nicht nur das Geschlecht, sondern auch andere – außerwirtschaftliche<br />
– Aspekte sozialer <strong>Ungleichheit</strong>.<br />
Auch weitere Aspekte, die für die Klassenanalyse traditionell bedeutsam<br />
sind, sind bei Wright weniger zentral. Zwar gibt es beispielsweise einen Hinweis<br />
auf verschiedene Kombinationen von relevanten Ausbeutungsressourcen je nach<br />
Gesellschaftstyp. Jedoch kritisiert z.B. Hradil, dass Wright ingesamt weniger<br />
Prozessen nachgehe, z.B. Prozessen der Bildung von Klassenbewusstsein oder<br />
von politischen Konflikten. Dies führt Hradil zu der Kritik, dass Wright mit<br />
seiner Ausdifferenzierung eher in die Breite als in die Tiefe gegangen sei (Hradil<br />
1999: 115). Erbslöh et al. (1990) sowie Koch (1994) führen zudem ein theoretisches<br />
Problem an: Die Dimensionen der Qualifikation <strong>und</strong> Organisationsmacht<br />
können zu mehr oder weniger Ausbeutung durch das Kapital führen, dass sie<br />
jedoch ein Ausbeutungsverhältnis zwischen den Arbeitnehmern begründen sollen,<br />
erscheint ihnen weniger plausibel. Erbslöh et al. finden es daher sinnvoller,<br />
von einem Modell mehrdimensionaler Handlungsressourcen als von Ausbeutung<br />
zu sprechen. Koch resümiert: Der Verdienst von Wrights Ansatz liege in einer<br />
empirischen F<strong>und</strong>ierung der Klassenanalyse, jedoch bleibe es unklar, „welche<br />
Probleme der Klassentheorie durch ihre ausbeutungs- <strong>und</strong> spieltheoretische Rekonstruktion<br />
eigentlich gelöst worden sind“ (Koch 1994: 87).<br />
J.H. Goldthorpe<br />
Wie oben angedeutet, ist John H. Goldthorpes Beitrag als nicht-marxistisches<br />
Klassenmodell einzustufen, das unter anderem auch in Deutschland bei der Allgemeinen<br />
Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) empirisch<br />
eingesetzt wurde (siehe z.B. im Datenreport des Statistischen <strong>B<strong>und</strong></strong>esamtes 2008:<br />
177). Hradil sieht es sogar als das derzeit international am meisten verwendete<br />
Schema an (1999: 363). Diese empirische Umsetzung entspricht Goldthorpes<br />
Vorstellung von der Klassenanalyse als Forschungsprogramm (Goldthorpe 1996:<br />
481). Das Modell fußt zentral auf dem Beruf, der die Arbeitssituation <strong>und</strong> die<br />
Marktlage reflektieren soll <strong>und</strong> damit Macht- <strong>und</strong> Marktorientierung (Marx <strong>und</strong><br />
Weber) verbindet. Goldthorpe entwickelte, ebenso wie Wright, mehrere Varianten<br />
des Modells. Nach der theoretischen Leitidee sind verschiedene Merkmale<br />
für die Klassen konstitutiv wie Einkommensquelle <strong>und</strong> -höhe, die Arbeitsplatz-
82 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
sicherheit oder Beförderungschancen, faktisch erfolgt die Einteilung nach beruflicher<br />
Stellung <strong>und</strong> der internationalen Standardklassifikation von Berufen ISCO<br />
(Zerger 2000: 53). Charakteristisch sind für das Modell insbesondere die<br />
„Dienstklassen“ (die es z.B. auch im Modell von Dahrendorf gab). Für eine Zuordnung<br />
sind weniger die Arbeitsinhalte wichtig (dass man eine Dienstleistung<br />
erbringt), sondern das Dienstverhältnis, das eine relative Autonomie in dem<br />
Sinne meint, dass die Arbeit nur begrenzt einer Kontrolle unterliegt (<strong>und</strong> unterliegen<br />
kann). Dies gilt für die obere Dienstklasse noch ausgeprägter als für die<br />
untere Dienstklasse. Wenn man Klassenpositionen insgesamt als Positionen<br />
versteht, die durch Beschäftigungsverhältnisse definiert werden, so ist im<br />
„Dienstleistungsverhältnis“ sowohl die Überwachung der Arbeit schwierig als<br />
auch die Spezifität des Humankapitals (Qualifikation, Wissen) hoch, während es<br />
beim „Arbeitsvertrag“, z.B. von Arbeitern, umgekehrt ist. In der Realität kommen<br />
natürlich auch Mischformen vor, z.B. verfügen Routineangestellte über eher<br />
geringe spezifische Qualifikationen, doch ist die Kontrolle ihrer Tätigkeit<br />
vergleichsweise schwierig (Goldthorpe 2007).<br />
Die Klassen nach Goldthorpe (nach den Mitautoren eines Aufsatzes,<br />
Erikson <strong>und</strong> Portocarero, auch EGP-Klassenschema genannt) lauten in der<br />
häufiger benutzten Sieben-Klassen-Variante:<br />
1. (Obere <strong>und</strong> untere) Dienstklasse<br />
2. Nicht-manuelle Berufe mit Routinetätigkeiten (damit gehören also nicht alle<br />
Dienstleistenden zur „Dienstklasse“)<br />
3. Kleinbürgertum<br />
4. Landwirte<br />
5. Facharbeiter<br />
6. An-/Ungelernte<br />
7. Landarbeiter (Erikson/Goldthorpe 1992: 38f.).<br />
Im Jahr 2006 wurden in Deutschland laut Allbus etwa 36% (West) bzw.<br />
27% (Ost) der Befragten den Dienstklassen zugeordnet; leitende, Fach- <strong>und</strong><br />
einfache Arbeiter/innen machten 33% (West) bzw. 42% (Ost) aus (Statistisches<br />
<strong>B<strong>und</strong></strong>esamt 2008: 177). Forschungsergebnisse führen in dieser Perspektive insgesamt<br />
zur Schlussfolgerung:<br />
„What is revealed is a remarkable persistence of class-linked inequalities of classdifferentiated<br />
patterns of social action, even within periods of rapid change at the<br />
level of economic structure, social institutions, and political conjunctures” (Goldthorpe/Marshall<br />
1997: 61).
4.2 Neuere Klassenmodelle 83<br />
Mobilität (die für Goldthorpe insgesamt ein wichtiges Thema darstellt) in <strong>und</strong><br />
aus der Dienstklasse ist am ehesten als Auf- bzw. Abstieg interpretierbar, weitere<br />
Bewegungen zwischen den Klassen sind uneindeutiger, so dass nicht ganz deutlich<br />
wird, inwieweit das Modell als hierarchisch zu verstehen ist. Mit der Konzentration<br />
auf Berufsgruppen, so ein weiterer Kritikpunkt, erscheint die Grenzziehung<br />
zwischen Klassen ein wenig willkürlich. Ein Kritikpunkt an anderen<br />
Klassenmodellen gilt zudem auch hier: Die Konzentration auf die Wirtschaft <strong>und</strong><br />
damit die Vernachlässigung anderer <strong>Ungleichheit</strong>sbereiche <strong>und</strong> nicht-erwerbstätiger<br />
Personen.<br />
Zerger äußert anhand einer eigenen empirischen Überprüfung von<br />
Goldthorpes Modell Zweifel an dessen Leistungsfähigkeit, weil es nur bedingt<br />
klassenspezifische Einkommenslagen erkläre. Darüber hinaus sei die Klassenlage<br />
nur für bestimmte Einstellungen <strong>und</strong> selbst dann nicht für alle Klassen gleichermaßen<br />
einflussreich. Auch das Wahlverhalten sei eher von anderen Faktoren<br />
wie z.B. der Kohorte als von der Klassenlage abhängig (Zerger 2000: Kap. V).<br />
Aber es gibt auch positivere Einschätzungen. So kommt W. Müller mit einer<br />
differenzierten Variante des Goldthorpe-Schemas (ebenfalls für das Wahlverhalten)<br />
zu dem Ergebnis, dass alte Konfliktfronten der Klassenspaltung im Wesentlichen<br />
erhalten geblieben seien (1998a: 37-40).<br />
W. Müller<br />
Walter Müller kann damit als Beispiel unter deutschen Forscherinnen <strong>und</strong> Forschern<br />
genannt werden, die mit einer modernen Form von Klassenanalyse arbeiten.<br />
Auch an der älteren Diskussion um Modelle der Sozialstruktur nahm er<br />
bereits teil, beispielsweise schrieb er 1977 einen Beitrag zu „Klassenlagen <strong>und</strong><br />
sozialen Lagen in der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik“ (Müller 1977). Müller lehnt sich an den<br />
Klassenbegriff Max Webers an, so dass neben dem Besitz z.B. die Qualifikation<br />
einen wichtigen Faktor darstellt. Müller nimmt Differenzierungen verschiedener<br />
Klassenlagen vor, unter anderem unterscheidet er die abhängig Erwerbstätigen in<br />
Personen mit manuellen <strong>und</strong> nicht-manuellen Tätigkeiten <strong>und</strong> weiterhin nach der<br />
Qualifikation.<br />
Auch in späteren Veröffentlichungen wendet er sich gegen eine Überbetonung<br />
von Tendenzen der Entstrukturierung, insbesondere gegen die Individualierungsthese<br />
(vgl. Kap. 8). Keinesfalls möchte er weitreichende Entwicklungen<br />
seit der Nachkriegszeit verleugnen, doch ist er der Meinung, dass man die Analyse<br />
der durch gesellschaftliche Bedingungen fortgesetzt produzierten sozialen<br />
<strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> ihrer Folgen nicht vernachlässigen dürfe (1996: 14). Auch<br />
heutzutage ist danach das Spannungsverhältnis zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit
84 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
einer der zentralen gesellschaftlichen Konflikte, der durch das Eingreifen des<br />
(Wohlfahrts-)Staates <strong>und</strong> durch Differenzierungen im Bereich der lohnabhängigen<br />
Arbeit neue Formen angenommen hat (a.a.O.: 16). Unter anderem sind verschiedene<br />
Konfliktarenen entstanden (so auch Kreckel, s.u.). Für Analysen der<br />
Sozialstruktur unter diesen Bedingungen sieht W. Müller – <strong>und</strong> das ohne eine<br />
„Wiederbelebung“ von Marx – den Klassenbegriff als am besten geeignet an.<br />
Dieser scheint ihm flexibler zu sein als der seines Erachtens einseitiger rein auf<br />
Hierarchien gerichtete Schichtbegriff (a.a.O.: 17). Sein Verständnis von Klasse<br />
schließt nicht ein, dass es sich um einen kollektiven Akteur handelt. Auch bestimmt<br />
nicht das Sein umstandslos das Bewusstsein. Müller möchte jedoch nicht<br />
als Folge den Klassenbegriff für die Mikroebene des Handelns <strong>und</strong> der Deutungen<br />
vollkommen abschreiben. Hinsichtlich der Kriterien für die Klassenlage<br />
sollen multivariate Modelle zeigen, welche <strong>Ungleichheit</strong>sdimensionen theoretisch<br />
<strong>und</strong> empirisch das überzeugendste Erklärungspotential haben. Eine Diagnose<br />
der abnehmenden Erklärungskraft von Klassenzugehörigkeit ist aus dieser<br />
Sicht auch eine Folge davon, dass die meisten Studien keine adäquaten Begriffe<br />
<strong>und</strong> Operationalisierungen verwenden würden (Müller 1998a: 6; zu einer ‚Europäischen<br />
Sozioökonomischen Klassifikation‘, EseC, s. Müller et al. 2006).<br />
Auf der Basis dieses modernisierten Klassenkonzeptes beschäftigt sich<br />
Müller mit verschiedenen Feldern sozialer <strong>Ungleichheit</strong>, z.B. mit der Erklärungskraft<br />
der Klassenzugehörigkeit für das Wahlverhalten (1997, 1998a) <strong>und</strong><br />
mit sozialen <strong>Ungleichheit</strong>en im Bereich der Bildung. Wie erwähnt, stellt er für<br />
das Wahlverhalten eine fortbestehende Strukturierung durch die Klassenzugehörigkeit<br />
fest (1998a: 37-40). Auch im Bildungsbereich gibt es nach wie vor <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
in der Bildungsbeteiligung; die Mechanismen der sozialen Reproduktion<br />
von Bildungsungleichheit sind Müller zufolge sehr stark (1998b: 90).<br />
Ein relativer Abbau von <strong>Ungleichheit</strong>en in der Bildungsbeteiligung ist zudem ein<br />
langfristiger Prozess, in dem die Bildungsexpansion in den sechziger Jahren<br />
keine Hauptrolle spielte. Weiter gibt es keine Entkopplung von Bildungs- <strong>und</strong><br />
Beschäftigungssystem: „Die Bef<strong>und</strong>e weisen eher in Richtung der meritokratischen<br />
Logik“ (1998b: 100). Und an anderer Stelle heißt es ähnlich: „Das Ergebnismuster<br />
der langfristigen Veränderungen der Bildungserträge [ist] nicht das<br />
einer generellen Bildungsinflation, es ist eher eines, das als zunehmende bildungsbezogene<br />
Schließung der vorteilhaftesten Berufspositionen gekennzeichnet<br />
werden könnte“ (2001: 58). Es gibt also danach keinen generellen Rückgang der<br />
Bildungserträge oder eine zunehmende Heterogenität innerhalb einer Bildungsgruppe.<br />
Die Bef<strong>und</strong>e betreffen allerdings nicht die jüngsten Erwerbskohorten, für<br />
die einzelne Ergebnisse in eine andere Richtung weisen könnten (2001: 59).<br />
Insgesamt findet Müller durch die Bef<strong>und</strong>e jedoch sein Argument bestätigt, dass<br />
der Einfluss sozialstruktureller Merkmale – die er am ehesten als Klassenlage
4.2 Neuere Klassenmodelle 85<br />
fassen will – auch über gesellschaftliche Veränderungen hinweg groß ist. Dies ist<br />
jedoch kein konsensuelles Ergebnis, wie die Beschäftigung mit anderen neueren<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sansätzen zeigen wird.<br />
R. Kreckel<br />
Reinhard Kreckel hat in einer Veröffentlichung zur „politischen Soziologie der<br />
sozialen <strong>Ungleichheit</strong>“ (1992) 17 ein Modell zur Erfassung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
in modernen westlichen Gesellschaften vorgestellt, das neben anderen<br />
Einseitigkeiten herkömmlicher Modelle insbesondere die Konzentration auf die<br />
vertikale Ebene vermeiden soll. Dieses Modell zeigt eine gewisse Nähe zum<br />
Klassenansatz, daher wird es an dieser Stelle dargestellt, doch benutzt es an zentraler<br />
Stelle auch eigene Begrifflichkeiten. Laut Kreckel gibt es durchaus weiterhin<br />
einen Konflikt um Ressourcen (um distributive Ressourcen: Reichtum <strong>und</strong><br />
Wissen/Zeugnisse sowie um relationale Ressourcen: hierarchische Organisation<br />
bzw. Rang <strong>und</strong> Zugehörigkeit; Kreckel 1992: 94). Daher müsste man eher die<br />
Stabilität von Gesellschaften erklären als in ihr stattfindende Konflikte. Ansätze<br />
zu dieser Erklärung liefert Kreckel, indem er zum einen auf einen Konsensaspekt<br />
(durch die Akzeptanz einer Prestigeordnung) <strong>und</strong> zum anderen auf den Zwangsaspekt<br />
(durch die Rechtsordnung, das Gewaltmonopol des Staates) verweist.<br />
Kreckels Alternative zur begrifflichen Erfassung sozialer <strong>Ungleichheit</strong> hat<br />
den Anspruch, diese asymmetrischen Verhältnisse zu berücksichtigen, aber<br />
gleichzeitig über eine einseitig vertikale Perspektive hinaus zu gelangen. Dazu<br />
wählt er die Metapher von „Zentrum“ <strong>und</strong> „Peripherie“. Diese Begriffe gibt es<br />
z.B. bereits in Forschungen zur so genannten „Dritten Welt“, sie verweist auf<br />
Asymmetrien <strong>und</strong> zugleich auf eine Vielfalt von Interdependenzen. Periphere<br />
Lagen sind dabei „strukturell verankerte Bedingungskonstellationen, aus denen<br />
sich für die Betroffenen Benachteiligungen hinsichtlich ihrer Zugangsmöglichkeiten<br />
zu … Gütern <strong>und</strong> hinsichtlich ihres Spielraums für autonomes Handeln<br />
ergeben“ (a.a.O.: 43). Sie zeichnen sich durch geringere Organisations- <strong>und</strong><br />
damit Konfliktfähigkeit aus als zentralere Lagen. Mehrere Konfliktlinien sind in<br />
solch einem Modell denkbar, Zentrum-Peripherie-Kräftefelder können sich z.B.<br />
überlappen (in der Regel ergeben sich keine klaren Polarisierungen, beispielsweise<br />
gibt es auch Semiperipherien). Das Schichtmodell mit einer einheitlichen<br />
Hierarchisierung ist nach dieser Vorstellung dann nur als ein Sonderfall zu betrachten.<br />
17 Die Auflage von 2004 ist um die Aspekte <strong>Ungleichheit</strong> im vereinten Deutschland <strong>und</strong> in einer<br />
„globalisierten“ Weltgesellschaft erweitert.
86 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
Anschaulich wird das Modell in einem Bild konzentrischer Kreise. Für die<br />
<strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik Deutschland lässt es sich so konkretisieren: Der Arbeitsmarkt ist<br />
nach wie vor „die zentrale Drehscheibe sozialer <strong>Ungleichheit</strong>“ (a.a.O.: 153). Im<br />
Zentrum des Kräftefeldes steht – <strong>und</strong> damit geht Kreckel über eine rein ökonomische<br />
Betrachtung hinaus – das korporatistische Dreieck von Arbeit, Kapital<br />
<strong>und</strong> Staat. In den weiteren Kreisen befinden sich – in ihrer organisierten Interessenvertretung<br />
abnehmend – Verbände, neue soziale Bewegungen (z.B. die Umweltbewegung)<br />
<strong>und</strong> schließlich die sozial strukturierte Bevölkerung. Parteien<br />
sind Vermittlungsinstanzen, die quer zu den Kreisen liegen können. Es ergibt<br />
sich folgendes Modell:<br />
Abbildung 11: Das Zentrum-Peripherie-Modell nach Kreckel<br />
Quelle: Kreckel 1992: 164<br />
Innerhalb der primären Asymmetrie von Kapital <strong>und</strong> Arbeit haben die Arbeitgeber<br />
deutliche strategische Vorteile (durch ihre Ressourcenausstattung, Organisationsfähigkeit,<br />
homogenere Interessenlage), eine Analyse muss jedoch auch<br />
weitere Gegensätze berücksichtigen, etwa zwischen Arbeit <strong>und</strong> Nicht-Arbeit<br />
(z.B. Empfänger von Transferleistungen ohne organisatorische Interessenvertretung).<br />
Kreckel führt weiter sek<strong>und</strong>äre Asymmetrien innerhalb der von Arbeit
4.2 Neuere Klassenmodelle 87<br />
<strong>und</strong> Kapital an, die z.B. durch Segmentation <strong>und</strong> Schließungsstrategien auf dem<br />
Arbeitsmarkt entstehen. Illegale Einwanderer haben danach z.B. eine viel<br />
schlechtere arbeitsmarktstrategische Lage als Erwerbspersonen mit Leitungs-<br />
<strong>und</strong> Managementfunktionen.<br />
Diese Ausführungen deuten die mehrdimensionalen Asymmetrien an, die<br />
man noch ergänzen müsste durch askriptive Merkmale, z.B. das Geschlecht.<br />
Auch das (abstrakte) Geschlechterverhältnis bildet einen für <strong>Ungleichheit</strong> relevanten<br />
strukturellen Gegensatz (nicht von Arbeit <strong>und</strong> Kapital, sondern von Produktion<br />
<strong>und</strong> Reproduktion). Konkret wirkt sich das Geschlecht auf dem Arbeitsmarkt<br />
neben der nationalen <strong>und</strong> ethnischen Zugehörigkeit als Hauptkriterium<br />
für eine illegitime strukturelle Benachteiligung aus (a.a.O.: Kap. IV). Das<br />
Zentrum-Peripherie-Modell gerät bei der Berücksichtigung dieser Merkmale<br />
jedoch (ähnlich wie die Klassenmodelle) an seine Grenzen, Kreckel konnte sie,<br />
wie er selbst anmerkt, nur „mühsam einfangen“ (a.a.O.: 51).<br />
Zur Frage, ob sich die „sozial strukturierte Bevölkerung“ in Form von Klassen,<br />
Milieus oder anderen Gruppierungen fassen lässt, meint Kreckel, dass das<br />
komplexe Mischungsverhältnis von klassenspezifischen, milieuspezifischen <strong>und</strong><br />
atomisierten Erscheinungsformen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> nicht theoretisch,<br />
sondern nur empirisch bestimmbar sei (a.a.O.: 137). Damit lässt sich von dem<br />
Gegensatz zwischen Arbeit <strong>und</strong> Kapital auch nicht umstandslos auf eine Klasse<br />
schließen, die einen kollektiven Akteur darstellt.<br />
Kritische Punkte, die andere Autoren gegen Kreckel äußern, lauten beispielsweise,<br />
sein Ansatz sei zu deskriptiv (H.-P. Müller 1992: 47f.). Hradil dagegen<br />
glaubt, dass Kreckel mehr als beabsichtigt der herkömmlichen Klassentheorie<br />
verpflichtet sei, weil er kulturelle Bestimmungsgründe sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
<strong>und</strong> Ursachen im Bereich des Staates im engeren Sinne letztlich vernachlässige.<br />
Als Vorteil betont Hradil jedoch die Berücksichtigung von Organisationen<br />
(1999: 136). Insgesamt wird Kreckels Konzept an verschiedenen Stellen erwähnt<br />
als eigenständige Position zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong> mit einer gewissen Nähe zu<br />
Klassenmodellen. Da jedoch bislang keine systematische Weiterentwicklung<br />
oder Konkretisierung des Modells vorliegt, ist es eher an der „Peripherie“ der<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sdiskussion zu verorten.<br />
Die Diskussion um neuere Klassenmodelle erschöpft sich nicht in den hier<br />
genannten Ansätzen, sondern wird immer wieder mit Hilfe weiterer Konzepte<br />
oder neuer Varianten fortgesetzt. Ein Beispiel ist das Modell von D. Oesch<br />
(2006, 2007; vgl. auch Vester 2010), der neben Unternehmern/Arbeitnehmern<br />
<strong>und</strong> Qualifikationsstufen verschiedene berufliche Arbeitslogiken (organisatorische,<br />
technische, interpersonelle Tätigkeiten) unterscheidet sowie nach dem<br />
Geschlecht differenziert. In einem anderen Konzept schlagen Grusky/Weeden<br />
(2005) eine Untergliederung in mannigfache Mikroklassen aus Berufen/Berufs-
88 4 Modifizierte Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle<br />
gruppen vor, die Einstellungen <strong>und</strong> Lebensstile beeinflussen (vgl. auch Rössel<br />
2009: 121-124).<br />
Die Darstellung sowohl von neueren Schichtungsansätzen als auch von Klassenansätzen<br />
legt den Schluss nahe, dass diese in neueren Versionen ab den achtziger<br />
Jahren nur noch wenig voneinander entfernt liegen <strong>und</strong> daher keine ideologischen<br />
Gr<strong>und</strong>satzdebatten herausfordern. Beide greifen in hohem Maße auf die<br />
Berufsstruktur zurück <strong>und</strong> erarbeiten auf dieser Gr<strong>und</strong>lage mehrdimensionale<br />
Konzepte, die dadurch realitätsnah <strong>und</strong> erklärungskräftig sein sollen. Diesen<br />
Anspruch können sie jedoch oft nur zum Teil einlösen. Unter anderem bleibt der<br />
Kritikpunkt bestehen, der auch schon für die älteren Modelle galt, dass mit der<br />
Konzentration auf den wirtschaftlichen Bereich <strong>und</strong> auf Erwerbspersonen bereits<br />
auf der „objektiven“ Ebene bestimmte Aspekte leicht ausgeblendet bleiben (z.B.<br />
das Geschlecht). Im Rahmen von Erwerbsarbeit könnten zudem Folgen des<br />
Wandels von Arbeitsstrukturen (man denke z.B. an Stichworte wie den „Arbeitskraftunternehmer“,<br />
Pongratz/Voß 2001) in breiterer Form in die Modelle<br />
integriert werden. Die Mikroebene von Einstellungen <strong>und</strong> Handeln thematisieren<br />
die Ansätze eher in dem Sinne, dass sie einen angenommenen Einfluss von<br />
Klasse oder Schicht auf diese prüfen. Diesen Einfluss unterstellen sie gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
aber erst einmal, es erfolgt keine eingehende Konzeptionierung dieser<br />
„Mikro“-Ebene selbst. Dies stellt sich anders dar bei den Lebensstil- <strong>und</strong> Milieumodellen,<br />
die im Folgenden vorgestellt werden.<br />
Zusammenfassung<br />
Neuere Klassenmodelle heben die weiterhin bestehenden vertikalen Aspekte<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> hervor, berücksichtigen aber auch Differenzierungen <strong>und</strong><br />
wollen durch verschiedene Konzeptualisierungen von Mittelklassen ihre Modelle<br />
empirisch anschlussfähig machen. R. Kreckel fügt durch das Zentrum-Peripherie-Modell<br />
zudem eine neue Begrifflichkeit hinzu.<br />
Lesehinweise:<br />
� Wright, Erik O. (1985b): Wo liegt die Mitte der Mittelklasse? In: PROKLA:<br />
Zeitschrift für politische Ökonomie <strong>und</strong> sozialistische Politik 58, S. 35-62<br />
� Goldthorpe, John H. (2007): <strong>Soziale</strong> Klassen <strong>und</strong> die Differenzierung von<br />
Arbeitsverträgen; in: Nollmann, Gerd (Hg.): Sozialstruktur <strong>und</strong> Gesellschaftsanalyse,<br />
Wiesbaden: VS, S. 39-71
5.1 Lebensstile 89<br />
5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
5.1 Lebensstile<br />
Lebensstile <strong>und</strong> Milieus gehören, teilweise in enger Verbindung, zu den Begriffen,<br />
die im Zuge der Kritik an Klassen <strong>und</strong> Schichten in der Soziologie (wieder-)entdeckt<br />
wurden, um das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge in einer modernen Gesellschaft<br />
angemessen zu erfassen. Gestiegene Optionen von Menschen, die sich in<br />
den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt materiell oft mehr leisten konnten, führten<br />
dazu, dass eine Verbindung von Klasse oder Schicht <strong>und</strong> der Lebensführung der<br />
Menschen weniger eng wurde, dass sich diesen Ansätzen zufolge vielfältigere<br />
Lebensstile <strong>und</strong> Milieus herausbildeten (häufig wird auch ein Zusammenhang<br />
von Individualisierungsprozessen <strong>und</strong> der Ausdifferenzierung von Lebensstilen<br />
<strong>und</strong> Milieus hergestellt, was aber nicht unumstritten ist, vgl. Kap. 8).<br />
Den Begriff des „Stils“ gibt es schon lange, bis in das 17. Jahrh<strong>und</strong>ert war<br />
er fast ausschließlich auf Sprache <strong>und</strong> Schrift gerichtet, dann verwendete man<br />
ihn auch für die bildende Kunst. Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert vollzog sich ein Wandel von<br />
einer Sicht sehr eingegrenzter legitimer Epochalstile zu einer Perspektive von<br />
„stilistischem Pluralismus“, was der heutigen Bedeutung von Lebensstilen näher<br />
kommt (Drieseberg 1995: Kap. 1). Erste soziologische Zugänge gibt es bereits<br />
bei den Klassikern der Soziologie, etwa bei Max Weber, Georg Simmel oder<br />
Thorstein Veblen.<br />
M. Weber benutzt den Begriff der Lebensführung (englisch dann als „style<br />
of life“ übersetzt) als charakteristisches Merkmal eines Standes. Im Gegensatz<br />
zur ökonomisch geprägten Klasse basiert der Stand bei Weber auf dem sozialen<br />
Prestige, auf Ehre (vgl. Kap. 2.2). Ein Stand hat eine spezifische Lebensführung,<br />
z.B. typische Formen des Konsums, bestimmte Werte usw. So ist etwa das Prinzip,<br />
Zeit <strong>und</strong> Geld nicht müßig zu vergeuden <strong>und</strong> sich keinem unbefangenen<br />
Kunst- <strong>und</strong> Lebensgenuss hinzugeben, ein charakteristisches Lebensstil-Merkmal<br />
der asketisch-protestantischen Ethik (Weber 1980: 719 (zuerst 1922)). Die<br />
gemeinsame Lebensführung von Mitgliedern eines Standes ist damit gerade<br />
keine allein „moderne“ Erscheinung, sondern hat zumindest feudalistische Ursprünge.<br />
Ein wichtiges Merkmal auch neuerer Lebensstilansätze ist bereits bei<br />
Weber enthalten: Durch die Lebensführung versichert man sich der Zugehörig-<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_5,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
90 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
keit zu einer bestimmten Gruppe, deren Anspruch auf soziale Anerkennung man<br />
so auch nach außen demonstriert.<br />
G. Simmel betont, dass der Einzelne im Zuge der Modernisierung (im Sinne<br />
der Durchsetzung des Geldverkehrs, zunehmender Arbeitsteilung, Industrialisierung<br />
etc.) durch seinen Lebensstil versucht, Identität zu finden. Die Modernisierungsprozesse<br />
bringen Wahlmöglichkeiten mit sich, doch unter anderem dadurch,<br />
dass sich die Lebenswelt nicht mehr einheitlich darstellt, gibt es auch eine<br />
Identitätsgefährdung (Simmel spricht auch von einem Übergewicht der objektiven<br />
gegenüber der subjektiven Kultur, s. z.B. 1977 (zuerst 1900): Kap. 6; 1983<br />
(zuerst 1911)). Die zunehmenden Wahlmöglichkeiten haben also nicht allein<br />
positive Seiten für das Individuum. Daher:<br />
„Was den modernen Menschen so stark zum Stil treibt, ist die Entlastung <strong>und</strong> Verhüllung<br />
des Persönlichen, die das Wesen des Stiles ist. Der Subjektivismus <strong>und</strong> die<br />
Individualität hat sich bis zum Umbrechen zugespitzt, <strong>und</strong> in den stilisierten Formgebungen,<br />
von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, liegt eine Milderung<br />
<strong>und</strong> Abtönung dieser akuten Personalität zu einem Allgemeinen <strong>und</strong> seinem<br />
Gesetz“ (1993 (zuerst 1908): 382).<br />
Veblen (1997, zuerst 1899) behandelt den spezifischen Stil der „feinen Leute“<br />
(„leisure class“) im späten 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Auch bei ihm klingt bereits die<br />
Funktion eines Lebensstils an, durch expressive Handlungspraktiken (z.B. im<br />
Konsumbereich) soziale Anerkennung zu erlangen <strong>und</strong> sich nach „unten“ abgrenzen<br />
zu wollen. Demonstrativer Müßiggang symbolisiert z.B., dass sich die<br />
„feinen Leute“ freie Zeit leisten können.<br />
Heutige soziologische Lebensstilansätze folgen jedoch oft weniger in systematischer<br />
Form diesen Traditionen – wenngleich Autoren häufig die Klassiker<br />
erwähnen –, sondern entwickelten sich eher aus Lebensstilansätzen, die in der<br />
Marktforschung Anwendung fanden (vgl. im Überblick: Kramer 1991). Das Ziel<br />
von Lebensstil- oder „lifestyle“-Analysen besteht dort beispielsweise darin,<br />
Produkte <strong>und</strong> Produktwerbung auf einzelne Käufertypen abstimmen zu können.<br />
In der „outfit“-Studie (Spiegel-Dokumentation 1994) etwa ist eine „geltungsbedürftige<br />
Frau“ eine Person, für die aktuelle modische Trends wichtig sind, die<br />
ruhig etwas extravagant sein können, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie<br />
neigt zu Spontankäufen, bestimmte Marken würde sie allerdings nie kaufen. Es<br />
handelt sich meist um Jüngere mit einfacher Bildung <strong>und</strong> einer „Fun&Action“-<br />
Orientierung (a.a.O.: 54). Auch die allgemeinere Konsum- <strong>und</strong> zum Teil die<br />
Wahlforschung (z.B. Gluchowski 1987) wenden Lebensstile ähnlich an.<br />
Dieses Vorgehen kommt einer alltagssprachlichen Bedeutung von Lebensstilen<br />
entgegen. Mit Hilfe des Lebensstils lassen sich zusammenfassende Aussagen<br />
über einen Einzelnen in der heutigen Zeit treffen, jemand ist z.B. „abge-
5.1 Lebensstile 91<br />
dreht“ oder „konventionell“. Auch ist es oft bereits positiv assoziiert, wenn etwas<br />
„stilvoll“ ist (mit leichter Tendenz zur Einseitigkeit, was man an der Werbung<br />
einer Möbelfirma für ein Sofa ablesen kann: „Kann man gleichzeitig Stil haben<br />
<strong>und</strong> lebendig sein?“).<br />
Aber was ist ein Lebensstil? Wo hört eine einzelne Vorliebe auf, wo fängt<br />
der Lebensstil an? Ist der Lebensstil nicht gerade etwas Persönliches, was mit<br />
sozialen Zusammenhängen weniger zu tun hat? (Was hat beispielsweise die<br />
Gesellschaft damit zu tun, wenn jemand gern Pfirsiche isst?) Wenn jemand modische<br />
Jeans trägt <strong>und</strong> gerne GEO-Hefte liest, ist das dann schon ein Lebensstil?<br />
Welche Begründung berechtigt dazu, bestimmte Kombinationen von Aktivitäten,<br />
Eigenschaften, Einstellungen etc. zu einem Lebensstil zusammenzufassen, so<br />
dass es nicht unendlich viele individuelle Lebensstile gibt, sondern Lebensstilgruppen?<br />
Diese Klärung, was ein Lebensstil ist <strong>und</strong> wovon er abhängt, ist dabei für<br />
ungleichheitstheoretische Zwecke in einer anderen Form vorzunehmen als etwa<br />
in der Marktforschung. Es reicht nicht aus, Beschreibungen darüber zu liefern,<br />
welche Merkmale häufig gemeinsam auftreten, z.B. eine bestimmte Wohnungseinrichtung<br />
<strong>und</strong> ein bestimmter Musikgeschmack. Der soziologische Zugang<br />
stellt sich zwar auch die Fragen, was ein Lebensstil ist, durch welche Dimensionen<br />
er konstituiert wird <strong>und</strong> wovon Lebensstile abhängen. Diese Fragen stehen<br />
jedoch in einem weiteren Rahmen z.B. der Fragen, wie das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge<br />
in der Gesellschaft aufgebaut ist, welche Lebenschancen mit den einzelnen<br />
Lebensstilen verb<strong>und</strong>en sind, in welchem Verhältnis die Lebensstilgruppen<br />
zueinander stehen <strong>und</strong> möglicherweise auch, wie Entwicklungen von Lebensstilen<br />
aussehen (hinsichtlich individueller Wechsel oder Veränderungen im Gefüge<br />
verschiedener Lebensstile). Dies ist vor dem Hintergr<strong>und</strong> zu betrachten,<br />
dass der Anspruch der Lebensstilmodelle darin besteht, soziale <strong>Ungleichheit</strong><br />
differenzierter <strong>und</strong> insgesamt angemessener analysieren zu können als allein<br />
(zumindest die älteren) Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle.<br />
Im Folgenden soll nun zunächst gezeigt werden, was unter Lebensstilen im<br />
soziologischen Sinne verstanden wird <strong>und</strong> welche Vorteile eine Lebensstilanalyse<br />
nach Meinung ihrer Vertreter hat. Zwei Beispiele konkretisieren die Vorstellung<br />
des Ansatzes. Einige ungeklärte Fragen <strong>und</strong> Probleme der Lebensstilforschung<br />
sollen schließlich im Anschluss an die Vorstellung der Milieukonzepte<br />
für beide Ansätze gemeinsam thematisiert werden.<br />
Stellte H. Lüdtke Ende der achtziger Jahre noch fest, dass es fast so viele<br />
Klassifikationen für Lebensstile wie Forschungsansätze gebe (1989: 103), zeichnete<br />
sich einige Jahre später doch bei allen Unterschieden im Detail ein gewisser<br />
Konsens darüber ab, worum es geht. Einige Beispiele verdeutlichen dies. Das<br />
Wörterbuch der Soziologie spricht sehr allgemein von „Ausdrucksformen der
92 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
alltäglichen Daseinsgestaltung“ in ganzheitlich-umfassender Weise (Hillmann<br />
2007: 489), H.-P. Müller von raum-zeitlich strukturierten Mustern der Lebensführung,<br />
die von materiellen <strong>und</strong> kulturellen Ressourcen, der Familien- <strong>und</strong><br />
Haushaltsform <strong>und</strong> Werthaltungen abhängen. Als wichtige Dimensionen von<br />
Lebensstilen nennt er verschiedene Verhaltensformen, <strong>und</strong> zwar expressives<br />
Verhalten (z.B. Freizeitaktivitäten <strong>und</strong> Konsummuster), interaktives Verhalten<br />
(wie Geselligkeit oder das Heiratsverhalten), evaluatives Verhalten (Werte,<br />
Wahlverhalten usw.) <strong>und</strong> schließlich kognitives Verhalten (z.B. subjektive Zugehörigkeiten)<br />
(Müller 1992: 376-378). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen,<br />
dass die Stilisierungsneigung, das heißt etwa seinen Geschmack <strong>und</strong> die Art der<br />
Lebensführung nach außen zu demonstrieren, in verschiedenen sozialen Gruppen<br />
unterschiedlich ist.<br />
Das Verhalten, vor allem im Konsum-, Freizeit <strong>und</strong> sozialen Bereich, nennt<br />
auch Hradil (1992: 28) als kleinsten gemeinsamen Nenner von Lebensstilkonzepten.<br />
Später drückt er allgemeiner aus: „Der Lebensstilbegriff … konzentriert<br />
sich auf die Prinzipien, Ziele <strong>und</strong> Routinen, nach denen die Einzelnen ihr Leben<br />
relativ beständig ausrichten“ (2001a: 273).<br />
Bedeutsam ist nun zusätzlich für die Lebensstilanalyse, dass der aus spezifischen<br />
Haltungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen bestehende Lebensstil bestimmte<br />
Funktionen erfüllt, die teilweise schon bei den kurz skizzierten Ansätzen der<br />
soziologischen Klassiker erwähnt wurden.<br />
� Er sichert Verhaltensroutine, allgemein eine Handlungsorientierung im<br />
Alltag, ständige Gr<strong>und</strong>satzentscheidungen über Verhaltensweisen sind nicht<br />
notwendig.<br />
� Dadurch, dass man einen Lebensstil mehr oder weniger demon-<br />
strativ zum Ausdruck bringt, kann der Lebensstil Zugehörigkeiten zu sozialen<br />
Gruppen <strong>und</strong> andererseits die Abgrenzung von anderen Gruppen durch<br />
diese Distinktion betonen.<br />
� Durch diese Kennzeichen fördert der Lebensstil neben der sozialen ebenfalls<br />
die persönliche Identität (ähnlich auch Lüdtke 2000: 118).<br />
Welche Vorteile beanspruchen nun Lebensstilmodelle gegenüber den früheren<br />
Klassen- <strong>und</strong> Schichtungsansätzen? Man kann sie quasi spiegelbildlich aus der<br />
Kritik an diesen älteren Modellen herauslesen:<br />
Lebensstile sind in ihrer Bestimmung weniger einseitig auf „objektive“<br />
Merkmale (z.B. ein bestimmtes Einkommen) festgelegt, sondern setzen einen<br />
Schwerpunkt bei kulturellen <strong>und</strong> symbolischen Faktoren, auf das Verhalten einer<br />
Person, also etwa, was jemand in seiner Freizeit mit wem tut. Die Erweiterung<br />
besteht damit in der im weiteren Sinne kulturellen Komponente <strong>und</strong> auch darin,
5.1 Lebensstile 93<br />
dass man nicht unhinterfragt von bestimmten objektiven Merkmalen auf das<br />
Verhalten <strong>und</strong> die Einstellungen einer Person schließt, sondern fragt, wie jemand<br />
mit bestimmten Ressourcen <strong>und</strong> Restriktionen umgeht. Beispielsweise ist eine<br />
Zuordnung durch den Besitz von Statussymbolen nicht mehr so einfach möglich,<br />
sie zeigen viel weniger eindeutig als noch vor einigen Jahrzehnten die soziale<br />
Stellung einer Person an. Die gestiegenen Wahlfreiheiten finden also systematisch<br />
Berücksichtigung (allerdings in unterschiedlichem Ausmaß, wie die Debatte<br />
um Strukturierungs- versus Entstrukturierungsansätze zeigt, s.u.). So beachten<br />
Lebensstilansätze die subjektive Seite stärker. Gleichzeitig nehmen sie<br />
eine ganzheitlichere Sicht ein als es etwa der Fall in Ansätzen war, die sich vorrangig<br />
auf Merkmale Berufstätiger konzentrierten. Dadurch beanspruchen Lebensstilkonzepte,<br />
ein lebensnahes Modell zu entwerfen, das die Makroebene der<br />
Struktur mit der Mikroebene der Handlungen verknüpft.<br />
Wenn es darum geht, verschiedene Lebensstile zu einem Modell des <strong>Ungleichheit</strong>sgefüges<br />
zusammenzufassen, ist dieses dem Anspruch nach differenzierter<br />
als Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle, weil es vielfältige Einflussfaktoren<br />
berücksichtigt, die dazu führen, dass Lebensstile nicht nur vertikal strukturiert<br />
sind, sondern auch nebeneinander liegen können. Beispielsweise könnten Menschen<br />
mit der gleichen Qualifikation (einem vertikalen Merkmal), aber unterschiedlichem<br />
Alter (einem „horizontalen“ <strong>Ungleichheit</strong>smerkmal) unterschiedliche<br />
Lebensstile haben, die jedoch nicht mit unterschiedlich großen Lebenschancen<br />
verb<strong>und</strong>en sind. Zudem müssen sich Lebensstilgruppen nicht feindlich<br />
gegenüberstehen, Relationen zwischen ihnen können jedoch zum Thema werden,<br />
indem man die distinktive Funktion der Lebensstile hervorhebt.<br />
Teilweise unterscheiden Autoren, unter anderem zu Abgrenzungszwecken,<br />
zwei Richtungen innerhalb der Lebensstilforschung. So spricht Konietzka (1994)<br />
von Strukturierungs- gegenüber Entstrukturierungsmodellen (ähnlich unterscheiden<br />
Funke/Schroer eine strukturtheoretische <strong>und</strong> ein kulturalistische Sichtweise;<br />
1998: 220). Im Strukturierungsmodell sind Lebensstilgruppen durch<br />
strukturelle Kriterien, wie z.B. das Alter, das Geschlecht, aber auch durch<br />
vertikale Merkmale der sozialen Lage wie das Bildungsniveau geprägt. Solche<br />
Modelle liefern eine differenzierte Darstellung (mit dem Anspruch auf die<br />
genannten Vorteile gegenüber der Schichtungsforschung), die die bisherige<br />
Sozialstrukturanalyse ergänzt, aber nicht ersetzt. Konietzka ordnet hier z.B. die<br />
Arbeiten von P. Bourdieu (1997 (zuerst 1979)), H.-P. Müller (1992) oder W.<br />
Zapf (Zapf et al. 1987) ein. Diese Hauptströmung lässt sich abgrenzen von<br />
Entstrukturierungsmodellen. Aus dieser Perspektive sind Lebensstile ein<br />
gr<strong>und</strong>legend alternatives Konzept sozialer <strong>Ungleichheit</strong>, in dem nicht mehr<br />
durch Ressourcen oder allgemein: strukturelle Kriterien definierte soziale<br />
Gruppen bedeutsam sind, sondern solche, die durch Lebensstiltypen konstituiert
94 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
sind. Lebensstile werden dann selbst zum Einflussfaktor, zum erklärenden<br />
Merkmal, etwa für Handlungsorientierungen oder für die empf<strong>und</strong>ene<br />
Lebensqualität. Damit stellen sie einen eigenständigen Modus sozialer<br />
Differenzierung dar, der im soziokulturellen Bereich angesiedelt ist. Eine relative<br />
Loslösung von strukturellen Merkmalen betonen solche Modelle also zugunsten<br />
der tendenziell nach ihren Präferenzen handelnden Individuen. Zu dieser Richtung<br />
zählt Konietzka beispielsweise die Ansätze von Karl H. Hörning et al. <strong>und</strong><br />
von H. Lüdtke.<br />
Hörning et al. sehen bei einer ähnlichen Dichotomisierung von Ansätzen (in<br />
Struktur- vs. Kulturansätze) Lüdtke dagegen als Vertreter des Strukturansatzes<br />
an (Hörning et al. 1996). Dies deutet darauf hin, dass insgesamt eher von graduellen<br />
Unterschieden auszugehen ist, bei denen Extrempositionen kaum besetzt<br />
sind. Von einer völligen Entstrukturierung des Verhältnisses zwischen sozialer<br />
Lage <strong>und</strong> Bewusstsein dürfte kaum jemand ausgehen. Bereits generell ist die<br />
Lebensstilanalyse ein Mittelweg zwischen relativ stark hierarchisch strukturierter<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> einer bunten Vielfalt an <strong>Ungleichheit</strong>sformen, die auf<br />
vergleichsweise großen Wahlmöglichkeiten der Einzelnen beruhen. Innerhalb<br />
der Lebensstilanalyse sind dann wiederum Ansätze erkennbar, die von der Tendenz<br />
her ein wenig in die eine oder die andere Richtung ausschlagen.<br />
Aus dieser Perspektive könnte man Hörning et al. tendenziell dann in die<br />
Richtung der Entstrukturierung einordnen, wenn sie schreiben:<br />
„Es geht darum, den Lebensstil als eine eigenständige Kategorie in seinem theoretischen<br />
Gehalt voranzutreiben. In Absetzung von bisherigen Lebensstilen [das heißt<br />
Lebensstilkonzepten, N.B.] gehen wir von der Autonomie der Lebensstile aus … der<br />
Lebensstil ist nicht als abhängige Variable struktureller Bedingungen zu verstehen.<br />
Diese finden vielmehr erst im Lebensstil ihre je unterschiedlichen Ausformulierungen.“<br />
(1996: 34f.; Hervorhebungen i. O.).<br />
Die Lebensstile selbst strukturieren hiernach, nicht andere Merkmale.<br />
Lüdtke gibt einen Hinweis auf die recht großen individuellen Wahlfreiheiten,<br />
wenn er als Ergebnis einer empirischen Analyse feststellt: „Lebensstile sind<br />
nicht stärker kontextabhängig als präferenzengesteuert“ (1990: 451). Diese insgesamt<br />
doch noch recht vorsichtige Aussage ist allerdings in dem Kontext zu<br />
sehen, dass er die Lebensstilanalyse als Instrument sieht, um Mikro- <strong>und</strong> Makroperspektiven<br />
in der <strong>Ungleichheit</strong>stheorie verknüpfen zu können. Eine völlige<br />
Lösung von Strukturen ist nicht erkennbar, wofür z.B. auch die Argumentation<br />
Lüdtkes spricht, dass Lebensstile eher (aber immerhin) mit komplexen Milieus<br />
als mit sozioökonomischen Lagen verb<strong>und</strong>en seien, die in der vertikalen<br />
Schichtungsdiskussion üblicherweise thematisiert wurden (a.a.O.: 450).
5.1 Lebensstile 95<br />
Zwei deutsche Beiträge aus den neunziger Jahren, in denen Lebensstiluntersuchungen<br />
am häufigsten durchgeführt wurden, sollen die Darstellung der Lebensstilanalyse<br />
hier weiter konkretisieren, <strong>und</strong> zwar die Beiträge von W. Georg<br />
<strong>und</strong> von A. Spellerberg. 18 Der viel beachtete Ansatz P. Bourdieus wird später in<br />
einem eigenen Kapitel näher vorgestellt (Kap. 6).<br />
Lebensstile nach W. Georg<br />
W. Georg möchte die Lebensstile nicht zur Ablösung, sondern ausdrücklich zur<br />
Ergänzung der Sozialstrukturanalyse durch Klassen- <strong>und</strong> Schichtenmodelle nutzen.<br />
Und zwar ordnet er die Thematik ungleicher Ressourcen weiterhin der Klassen-<br />
<strong>und</strong> Schichtungsforschung zu, während sich die Lebensstilanalyse mit den<br />
symbolischen Ausdrucksformen der <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> im weiteren Schritt ihren<br />
Auswirkungen, das heißt Prozessen sozialer Schließung bzw. der Sozialintegration,<br />
beschäftigt.<br />
Im Einklang mit der obigen Begriffsbestimmung definiert Georg Lebensstile<br />
als „relativ stabile, ganzheitliche <strong>und</strong> routinisierte Muster der Organisation<br />
von expressiv-ästhetischen Wahlprozessen“ (1998: 92). Gr<strong>und</strong>voraussetzung für<br />
diese Wahlprozesse ist das Vorhandensein von Wahloptionen <strong>und</strong> Gestaltungsspielräumen<br />
der Akteure, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich<br />
vergrößert haben. Im Vordergr<strong>und</strong> der Bestimmung der Lebensstile stehen bei<br />
ihm „expressiv-ästhetische“ Aspekte, die auf die Betonung von Geschmack <strong>und</strong><br />
Verhalten als Dimensionen für einen Lebensstil hindeuten. Bei ihm macht also<br />
die „wahrnehmbare, klassifizierbare <strong>und</strong> prestigeträchtige Stilisierungspraxis“<br />
(a.a.O.: 93) im Alltag einen Lebensstil aus, mit der die Menschen auch eine „gewisse<br />
repräsentative Außenwirkung“ erzielen möchten (a.a.O.: 98). Zu dieser<br />
Praxis gehören konkret z.B. die Freizeitaktivitäten, der Musikgeschmack, die<br />
Wohnungseinrichtung, die Kleidung, der Kulturkonsum, Lesegewohnheiten,<br />
Mitgliedschaften <strong>und</strong> das Interaktionsverhalten.<br />
Von den Dimensionen, die einen Lebensstil ausmachen, sollte man klar die<br />
Einflussfaktoren unterscheiden, die zu einem bestimmten Lebensstil führen.<br />
Diese Einflussfaktoren bestimmt Georg auf zwei Ebenen: die soziale Lage <strong>und</strong><br />
die mentale Ebene. Die soziale Lage umfasst sowohl vertikal verteilte Handlungsressourcen<br />
(z.B. Einkommen, Bildung, soziale Netzwerke) als auch hori-<br />
18 Die Ansätze wurden ausgewählt, weil sie Lebensstile allgemein untersuchen (nicht nur z.B.<br />
Wohnstile, Lebensstile von Musikern oder „nachhaltige“ Lebensstile im Sinne der Förderung eines<br />
ökologischen Bewusstseins, siehe dazu z.B. Brand 2002, Lange 2005). Darüber hinaus ist die<br />
Auswahl natürlich relativ willkürlich, weitere Ansätze könnten genannt werden, z.B. von Konietzka<br />
(1995), Wahl (1997/2003), Hartmann (1999), Schroth (1999) etc.
96 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
zontal differenzierte Lebensbedingungen wie Alter, Kohortenzugehörigkeit oder<br />
Region. Die mentale Ebene schließt gemeinsame Wertorientierungen, Einstellungen<br />
<strong>und</strong> Lebensziele ein. Diese Ebene richtet sich insbesondere auf identitätsstiftende<br />
bzw. distinktive Funktionen von Lebensstilen über symbolische Zugehörigkeiten<br />
<strong>und</strong> Abgrenzungen. Georg unterstellt nicht vorab einen Zusammenhang<br />
zwischen sozialer Lage <strong>und</strong> mentaler Ebene einerseits <strong>und</strong> Lebensstilen<br />
andererseits, sondern dieser ist empirisch zu prüfen. Dabei soll sich auch herausstellen,<br />
welche Merkmale der sozialen Lage gegebenenfalls besonders bedeutsam<br />
für die Ausbildung von Lebensstilen sind. Graphisch lässt sich Georgs Konzept<br />
so darstellen:<br />
Abbildung 12: Das Lebensstilkonzept nach W. Georg<br />
<strong>Soziale</strong> Lage: Mentale Ebene:<br />
Ressourcen, Restriktionen, z.B. Werte <strong>und</strong> Ziele<br />
horizontale Merkmale<br />
Quelle: nach Angaben in Georg 1998: 98<br />
Verknüpfung:<br />
empirische<br />
Frage<br />
Lebensstile:<br />
Ästhetisch expressives Verhalten<br />
Was findet Georg nun empirisch heraus? Er analysiert Daten einer Werbeagentur<br />
in Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut von 1990 (Lifestyle ’90, repräsentativ<br />
für die westdeutsche Bevölkerung ab 14 Jahren) <strong>und</strong> ermittelt anhand einer<br />
Clusteranalyse sieben Lebensstile:<br />
Typ 1: Hedonistisch-expressiver Lebensstil (10,2%)<br />
Typ 2: Familienzentrierter Lebensstil (19,2%)<br />
Typ 3: Kulturbezogen-asketischer Lebensstil (11,3%)<br />
Typ 4: Konservativ-passiver Lebensstil (14,9%)<br />
Typ 5: „Prestigebezogene Selbstdarstellung“ (11,1%)<br />
Typ 6: Zurückhaltend-konventioneller Lebensstil (16,1%)<br />
Typ 7: „Selbstdarstellung, Genuss <strong>und</strong> Avantgardismus“ (11,6%)
5.1 Lebensstile 97<br />
Die Charakteristika der einzelnen Stile sollen in diesem Rahmen nicht im Einzelnen<br />
geschildert werden, zur Veranschaulichung dient ein Beispiel: Der konservativ-passive<br />
Lebensstil ist unauffällig (z.B. bei der Kleidung) <strong>und</strong> traditionell<br />
(z.B. bei der Ernährung), der Wohnstil lässt sich als „konventionelle Gemütlichkeit“<br />
charakterisieren. Das Alter dieser Menschen liegt über dem Stichprobendurchschnitt,<br />
die soziale Lage kennzeichnet unterdurchschnittliches Einkommen<br />
<strong>und</strong> niedrige Bildung. Zur Mentalität lassen sich unter anderem ein relativ<br />
rigides Festhalten an stereotypen Geschlechtsrollen <strong>und</strong> konservative Werte<br />
feststellen (1996: 170f.).<br />
Die Merkmale der sozialen Lage, die die Lebensstile insgesamt am stärksten<br />
beeinflussten, waren Alter (wobei Georg einen Kohorteneffekt vermutet, das<br />
heißt er nimmt generationstypische Lebensstile an, weniger einen Alterseffekt),<br />
die Lebenszyklusvariable „mit Partner zusammenlebend oder verheiratet (beides<br />
mit Kind)“, Bildungsniveau <strong>und</strong> Geschlecht noch vor dem Einkommen <strong>und</strong> dem<br />
beruflichen Status (1996: 175-179). Damit unterscheidet sich das Modell deutlich<br />
von Schichtmodellen, die dem beruflichen Status eine besondere Bedeutung<br />
beimessen. Regressionsmodelle mit verschiedenen Mentalitätsskalen zeigen,<br />
dass auch die mentale Ebene eine eigenständige Prädiktionskraft für Lebensstile<br />
besitzt. Als einzelner Mentalitätsskala kommt der „traditionellen Wertorientierung“<br />
die größte Bedeutung für den Lebensstil zu (1998: 230-235).<br />
Einige der Einflussfaktoren (z.B. das Geschlecht oder das Alter als Kohorteneffekt)<br />
sowie der Hinweis in der Definition des Begriffs „Lebensstil“ auf<br />
„relative Stabilität“ deuten darauf hin, dass sich nach Georgs Verständnis ein<br />
Gr<strong>und</strong>muster des Lebensstils relativ früh in der Biographie herausbildet. Andererseits<br />
schließt Georg lebenszyklische Veränderungen nicht aus, gerade wenn<br />
man die Bedeutung des Merkmals „mit Partner <strong>und</strong> Kind zusammenlebend“<br />
betrachtet. Doch ist die Entwicklungsdynamik von Lebensstilen insgesamt kein<br />
Thema, das Georg in besonderem Maße weiter verfolgt. Dies trifft auch auf viele<br />
andere Lebensstilanalysen zu.<br />
Lebensstile nach A. Spellerberg<br />
A. Spellerberg bezeichnet Lebensstile als „individuelle Organisation <strong>und</strong> expressive<br />
Gestaltung des Alltags“ (1995: 230), stimmt also mit anderen Definitionen<br />
überein <strong>und</strong> betont dabei die expressive Komponente. Die Dimensionen leitet sie<br />
aus dem Konzept von H.-P. Müller ab, indem sie interaktive (z.B. das Freizeitverhalten),<br />
expressive (z.B. Musik- <strong>und</strong> Einrichtungsgeschmack oder Lesegewohnheiten)<br />
<strong>und</strong> evaluative Dimensionen (z.B. Lebensziele) unterscheidet. Eine<br />
Variante zu dem Konzept von Georg besteht übrigens darin, dass bei Spellerberg
98 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Werte zu den Merkmalen gehören, die einen Lebensstil ausmachen, während<br />
Georg die mentale Ebene zu den Einflussfaktoren zählt.<br />
Das Konzept soll hier nicht im Detail dargestellt werden, spezifisch für den<br />
Ansatz ist unter anderem, dass er auf der Datenbasis des Wohlfahrtssurveys<br />
(1993) ost- <strong>und</strong> westdeutsche Lebensstile vergleicht <strong>und</strong> Zusammenhänge zur<br />
Lebensqualität herstellt.<br />
Die Lebensstilgruppen teilt Spellerberg nach dem Aktionsradius (häuslicher<br />
Umkreis vs. außerhäuslich) <strong>und</strong> nach kulturellen Vorlieben (ähnlich den alltagsästhetischen<br />
Schemata bei G. Schulze) ein <strong>und</strong> findet für Ost- <strong>und</strong> Westdeutschland<br />
jeweils neun Lebensstilgruppen heraus, die sich in einigen Punkten durchaus<br />
auffällig unterscheiden, z.B. gibt es einen „erlebnisorientierten Häuslichen“<br />
nur in Ostdeutschland; die Vorliebe für Hochkultur differenziert sich im Westen<br />
Deutschlands in drei Stile, während sich hierzu im Osten nur ein Typus findet<br />
etc. (1996: 122, 145). Hinsichtlich der wichtigsten Einflussfaktoren gibt es Übereinstimmungen<br />
mit anderen Untersuchungen: Das (als Kohorteneffekt gedeutete)<br />
„Alter, Bildung <strong>und</strong> Geschlecht weisen die stärksten Zusammenhänge zum Lebensstil<br />
auf“ (1996: 192).<br />
In einer zweiten Untersuchung von 1996 (Schneider/Spellerberg 1999,<br />
Kap. 4) ergeben sich leicht andere Ergebnisse, teilweise bedingt durch die<br />
Berücksichtigung auch Älterer (über 61 Jahre). Insgesamt zeigt sich eine<br />
Tendenz zur Angleichung von Lebensstilen in Ost- <strong>und</strong> Westdeutschland:<br />
Unterhaltung, Geselligkeit <strong>und</strong> Genussorientierung haben jeweils an Bedeutung<br />
gewonnen; traditionelle Lebensstile sind in Ostdeutschland weniger verbreitet als<br />
noch 1993; im Westen hat der Anteil hochkulturell Interessierter leicht<br />
abgenommen (Schneider/Spellerberg 1999: 119).<br />
Die Einflussfaktoren sind ähnlich geblieben: Im Westen weisen Alter,<br />
Bildung, Einkommen <strong>und</strong> Geschlecht (in dieser Reihenfolge) die größte<br />
Bedeutung für die Lebensstilzuordnung auf, im Osten sind es ähnlich Alter,<br />
Geschlecht, Bildung <strong>und</strong> Kinder im Haushalt (a.a.O.: 120-123).
5.1 Lebensstile 99<br />
Abbildung 13: Lebensstile in West- <strong>und</strong> Ostdeutschland nach<br />
Schneider/Spellerberg
100 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Quelle: Schneider/Spellerberg 1999: 106, 113<br />
Für einen Zusammenhang mit der Lebensqualität dienen die Lebensstile als<br />
unabhängige Variable, sind in dem Fall also selbst ein möglicher erklärender<br />
Faktor. Zunächst lässt sich dazu als aufschlussreich feststellen, dass man mit<br />
Hilfe von Lebensstilen Gruppen ermitteln kann, die sich nach ihren Bewertungsmaßstäben<br />
für Lebensqualität unterscheiden. Weitergehende Aussagen sind<br />
weniger eindeutig: „Es hat sich gezeigt, dass Lebensstile im Westen eine hohe<br />
Erklärungskraft für das Wohlbefinden haben, während in Ostdeutschland häufiger<br />
die materielle Situation im Vordergr<strong>und</strong> steht.“ (Spellerberg 1996: 221).<br />
Immer, wenn Lebensstile als erklärendes Merkmal dienen, muss man insgesamt<br />
darauf achten, dass man Zirkelschlüsse vermeidet. Wenn der Forschende z.B.<br />
Stile durch Werte konstituiert <strong>und</strong> gleichzeitig (allerdings andere) Werte durch<br />
Lebensstile erklären möchte, sollte er sich einer gewissen Gratwanderung bewusst<br />
sein. Dies gilt auch für die Erklärung von Wohnverhalten durch Lebens-
5.1 Lebensstile 101<br />
stile (Spellerberg/Schneider 1999), wozu die Autorinnen feststellen, dass sich<br />
das Lebensstilkonzept <strong>und</strong> die Klassifikation nach Lebensphasen als Erklärungsfaktor<br />
tragfähiger zeigten als ein Schichtindex (a.a.O.: 285).<br />
Exkurs zu Methoden in der Lebensstilforschung<br />
Da die Lebensstil- <strong>und</strong> Milieuanalyse einen starken empirischen Bezug hat,<br />
sollen an dieser Stelle einige Hinweise zu den Erhebungs- <strong>und</strong> Auswertungsmethoden<br />
gegeben werden. Als Erhebungsinstrument dient häufig die<br />
Befragung (bzw. die Sek<strong>und</strong>äranalyse früherer Befragungen), stellenweise kombiniert<br />
mit Beobachtungen (Garhammer merkt hierzu kritisch an, dass Zeitbudgetstudien<br />
fragwürdige subjektive Häufigkeitseinschätzungen von Verhaltensweisen<br />
ergänzen sollten; 2000: 309 – jedoch haben Zeitbudgetstudien wiederum<br />
eigene Nachteile bzw. Grenzen). Hinsichtlich der Methoden zur Auswertung<br />
erhobener Daten verwenden sowohl Georg als auch Spellerberg in ihrer Untersuchung<br />
die Clusteranalyse zur Bestimmung von Lebensstilgruppen. Es handelt<br />
sich hier um ein multivariates Verfahren (das heißt man betrachtet mehr als zwei<br />
Merkmale gleichzeitig). Angenommen, man hat bei 1.000 Personen die Häufigkeit<br />
von 20 Freizeitbeschäftigungen erhoben: Nun geht es nicht um die Verschiedenartigkeit<br />
von 1.000 Varianten, sondern man versucht, ähnliche Kombinationen<br />
zu „Klumpen“, zu Clustern, zusammenzufassen. Statistische Maßzahlen<br />
geben hierbei Regeln vor, wann Fälle als ähnlich zu betrachten sind (durch Ähnlichkeits-<br />
oder Distanzmaße) <strong>und</strong> auch dafür, wie viele Cluster sinnvollerweise<br />
gebildet werden sollen. Im nächsten Schritt kann man die Cluster, z.B. auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage von Freizeitbeschäftigungen, auf mögliche Einflussfaktoren prüfen.<br />
Sind z.B. in einem Cluster mit auffallend vielen außerhäuslichen Freizeitbeschäftigungen<br />
mehr Männer oder mehr Frauen oder Menschen einer bestimmten<br />
Altersgruppe vertreten? (vgl. ausführlicher zur Clusteranalyse Weltner 1976;<br />
Backhaus et al. 2011: Kap. 8). Ein anderes multivariates Verfahren in der Lebensstilforschung<br />
ist unter anderem durch die Untersuchungen P. Bourdieus<br />
bekannt: die Korrespondenzanalyse. Charakteristisch ist die graphische Darstellung<br />
als Koordinatensystem, auf diese Weise lassen sich in einem Schritt abhängige<br />
Merkmale (z.B. Freizeitbeschäftigungen) mit möglichen Einflussfaktoren<br />
verknüpfen, nicht erst im Nachhinein, wie bei der Clusteranalyse (s. zur Veranschaulichung<br />
Abbildung 21 in Kap. 6). Als grobe Faustregeln für eine Interpretation<br />
können unter anderem gelten: Räumlich nah beieinander liegende Merkmale<br />
symbolisieren zwar tatsächliche Ähnlichkeiten <strong>und</strong> Zusammenhänge (entsprechend<br />
ist es bei den Distanzen), aber dadurch, dass es sich um ein Vektormodell<br />
handelt, sind keine einfachen Distanzaussagen möglich. Wenn beispiels-
102 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
weise eine der Achsen das Geschlecht abbildet, wird niemand „männlicher“ oder<br />
„weiblicher“ mit einer Eintragung höher oder niedriger auf der Achse. Eher ist es<br />
so, dass die Freizeitbeschäftigungen <strong>und</strong> die Einflussfaktoren jeweils eine Eintragung<br />
im Koordinatensystem erhalten; räumliche Nähe weist dann auf einen<br />
Zusammenhang hin (wenn z.B. eine Vorliebe für Bungee-Jumping, Rudern <strong>und</strong><br />
Kneipenbesuche mit Fre<strong>und</strong>en in der Nähe von männlichen Fachhochschulabsolventen<br />
anzutreffen wären). Je weiter dabei die Eintragungen vom Nullpunkt<br />
des Achsenkreuzes entfernt sind, desto mehr Aussagekraft kommt dem Einflussfaktor<br />
zu (genauer zur Korrespondenzanalyse Blasius 2001, zum Vergleich von<br />
Cluster- <strong>und</strong> Korrespondenzanalyse in der Lebensstilforschung Blasius/Georg<br />
1992, zu Problemen beider Methoden auch Stein 2006: 136-140). Eine weitere<br />
multivariate Methode, die die Lebensstilforschung benutzt, ist die Faktorenanalyse<br />
(Backhaus et al. 1990: Kap. 3; zu multivariaten Verfahren bei der Auswertung<br />
mit SPSS Fromm 2007).<br />
Die „Konjunktur“ zahlreicher Lebensstiluntersuchungen hat nach den 1990er<br />
Jahren nachgelassen. Dies steht im Kontext eines verschiedentlich konstatierten<br />
generellen Umschwungs der <strong>Ungleichheit</strong>sforschung angesichts von Prozessen<br />
wie zunehmender Arbeitslosigkeit, Deregulierung von Erwerbsarbeit, Krise des<br />
Sozialstaats etc. hin zu wieder stärkerer Betonung vertikal strukturierter sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> (siehe auch Kap. 7.2) bzw. angesichts der Erkenntnis, dass ein<br />
Schwarz-Weiß-Bild von strukturiert („früher“) vs. pluralisiert („heute“) der Realität<br />
zu keinem Zeitpunkt angemessen war. Dennoch bedeutet dies nicht, dass<br />
Lebensstile keinen Stellenwert mehr als <strong>Ungleichheit</strong>sansatz hätten. Es gibt zum<br />
einen weiterhin empirische Untersuchungen zu <strong>und</strong> Spezifizierungen von Lebensstilen<br />
wie auch von Milieus. 19 Als ein Beispiel kann die Studie von P. Stein<br />
(2006) genannt werden, die den Einfluss der sozialen Position, der sozialen Herkunft<br />
<strong>und</strong> der sozialen Mobilität auf Lebensstile, insbesondere auf kulturelle<br />
Orientierungen, analysiert. In einer anderen Untersuchung überprüft Otte (2004)<br />
mit Hilfe einer dem eigenen Anspruch nach theoriegeleiteten, auf einer Synthese<br />
früherer Modelle beruhenden Typologie mit den Dimensionen Ausstattungsniveau<br />
<strong>und</strong> Modernität bzw. biographischer Perspektive die Erklärungskraft von<br />
Lebensstilen, z.B. für Partizipation in städtischen Szenen <strong>und</strong> Urlaubszielwahlen.<br />
Die statistische Erklärungskraft der Typen ist zwar mäßig <strong>und</strong> zeigt sich am<br />
ehesten in multivariaten Modellen; für einige Anwendungsbereiche, z.B. die<br />
Wohngebietswahl, sieht Otte auch nach wie vor eine Strukturierung durch „klassische“<br />
Sozialstrukturmerkmale. Trotz dieser differenzierten Ergebnisse bildet<br />
die Studie jedoch ein Beispiel für die fortgesetzte Anwendung von Lebensstil-<br />
19<br />
Zu weiteren Publikationen über Milieus s. z.B. Hradil 2006b, die Beiträge in Bremer/Lange-Vester<br />
2006 oder Vester et al. 2007.
5.2 Milieus 103<br />
analysen. In einem weiteren Sinne gilt dies auch für Rössels Plädoyer für eine<br />
„plurale Sozialstrukturanalyse“ (Rössel 2005), wobei er betont, dass sich Klasse,<br />
Milieu <strong>und</strong> Lebensstile nicht gegenseitig substituieren ließen <strong>und</strong> er zudem<br />
(handlungs-)theoretische Neuorientierungen vorschlägt, indem er etwa im Kontext<br />
von Lebensstilen lieber von kulturellen Präferenzen sprechen möchte (näher<br />
dazu in Rössel 2004, 2005, 2006b, 2009: 329-332).<br />
Zum anderen deuten verschiedene Bilanzierungen von Lebensstilanalysen<br />
(z.B. Meyer 2001a, Hermann 2004, Otte 2005, Rössel 2006b) auf eine fortbestehende<br />
Diskussion des Ansatzes hin – selbst wenn diese Bilanzen teilweise<br />
skeptisch ausfallen (siehe Kap. 5.3). Vor einer Abwägung der Kritikpunkte sollen<br />
nun jedoch zunächst die Spezifika von Milieumodellen erläutert werden.<br />
5.2 Milieus<br />
Im Zuge der Einsicht, dass äußere Einflüsse (<strong>und</strong> nicht etwa z.B. allein Vererbung)<br />
das menschliche Dasein prägen, wurden bereits bei Comte, Durkheim <strong>und</strong><br />
später z.B. bei Lepsius Überlegungen zum Milieu angestellt (Hradil 1992: 21-<br />
25). Als Entwicklungstrends des Begriffs bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
stellt Hradil neben einem allgemeinen Aufschwung des Begriffs die<br />
zunehmende Betonung sozialer gegenüber natürlichen Umweltfaktoren <strong>und</strong> die<br />
Öffnung für subjektive Aspekte fest (das heißt für die Frage, welche Faktoren<br />
subjektiv bedeutsam sind). Aufgr<strong>und</strong> der Bevorzugung von Schichtmodellen mit<br />
deren Betonung objektiver Aspekte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
gewannen Milieukonzepte dann aber erst wieder in den achtziger Jahren an<br />
Bedeutung, unter anderem durch die Untersuchungen des SINUS-Instituts.<br />
Das Lexikon zur Soziologie definiert „Milieu“ als Gesamtheit der äußeren,<br />
natürlichen (z.B. Klima) <strong>und</strong> der sozialen Umwelt (z.B. Gesetze) des Einzelnen<br />
bzw. einer Gruppierung, die auf die Entwicklung, Entfaltungsmöglichkeit <strong>und</strong><br />
die Modalität sozialen Handelns Einfluss nimmt (Rammstedt 2007: 432). Hradil<br />
bestimmt den Begriff so: Milieus sind<br />
„Gruppen Gleichgesinnter, die gemeinsame Werthaltungen <strong>und</strong> Mentalitäten aufweisen<br />
<strong>und</strong> auch die Art gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Menschen einzurichten<br />
<strong>und</strong> ihre Umwelt in ähnlicher Weise zu sehen <strong>und</strong> zu gestalten“ (1999: 41).<br />
Kleinere Milieus, z.B. Stadtviertelmilieus, sind zudem häufig durch ein Wir-<br />
Gefühl verb<strong>und</strong>en (ebd.). Im weiteren Sinne sind Milieus aber durchaus größere<br />
gesellschaftliche Gruppen, die Angehörigen müssen sich nicht unbedingt gegenseitig<br />
kennen oder räumlich nah (z.B. im „Rotlichtmilieu“) zusammenleben.
104 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Unterschiedliche Werte zu haben kann z.B. heißen, dass materielle Sicherheit<br />
Angehörigen eines „alternativen“ Milieus weniger wichtig ist als einem<br />
Beamten, oder Erfolg für Aufstiegsorientierte ein bedeutenderes Ziel ist als für<br />
„Hedonisten“.<br />
Milieus sind keinesfalls unabhängig von sozioökonomischen <strong>und</strong> soziodemographischen<br />
Bedingungen. Aber die Milieuangehörigen „filtern“ die „objektiven“<br />
Bedingungen in milieuspezifischer Weise. Je nach Ansatz ist die Verknüpfung<br />
mit den „objektiven“ Merkmalen der sozialen Lage sogar recht eng,<br />
z.B. gibt es bei den SINUS-Milieus (s.u.) innerhalb von sozialen Schichten jeweils<br />
mehrere Milieus nebeneinander, die sich durch ihre Werte bzw. Gr<strong>und</strong>orientierungen<br />
unterscheiden. Grenzen zwischen den einzelnen Milieus verlaufen<br />
dabei mit fließenden Übergängen. Schichten werden also nach diesem Ansatz<br />
differenziert oder ergänzt durch das Modell von Milieus, die nicht (allein) hierarchisch<br />
angeordnet sind.<br />
Welche Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Unterschiede bestehen zwischen Lebensstil-<br />
<strong>und</strong> Milieukonzepten? Zunächst zu den Gemeinsamkeiten:<br />
Lebensstil- <strong>und</strong> Milieumodelle dienen als Alternative zu Klassen- <strong>und</strong><br />
Schichtkonzepten der traditionellen Art. Sie unterstellen keine einfache Kausalbeziehung<br />
von Handlungsbedingungen zu ihrer Wahrnehmung <strong>und</strong> Nutzung<br />
sowie zu Werten <strong>und</strong> Verhaltensweisen. Vielmehr kommen dem Handeln <strong>und</strong><br />
den Entscheidungen sowie der Lebensweise der Akteure selbst relativ große<br />
Bedeutung zu. Die Modelle können mehrere Dimensionen integrieren <strong>und</strong> dadurch<br />
Realitätsnähe anstreben. Jedoch gibt es keine vollständige Loslösung von<br />
„objektiven“ Lebensbedingungen.<br />
Die Modelle ordnen den Lebensstilen <strong>und</strong> Milieus bestimmte Personengruppen<br />
zu oder fassen sie zu Typen zusammen. Milieus können sich teilweise<br />
sogar durch bestimmte Lebensstile konstituieren (z.B. bei Nowak/Becker 1985),<br />
es besteht also auch eine Ergänzungsmöglichkeit beider Konzepte (so auch bei<br />
Schulze 1992, s.u.). Bei dieser engen Verknüpfung beider Begriffe ist eine Abgrenzung<br />
nicht ganz einfach. Tendenziell lässt sich aber festhalten:<br />
Verhalten ist ein wichtiges Moment für Lebensstilkonzepte; dabei stehen<br />
die Aspekte der (zumindest teilweise bestehenden) Wahlfreiheit <strong>und</strong> der Expression<br />
im Vordergr<strong>und</strong>. Diese Wahlfreiheiten (<strong>und</strong> auch die Expressivität) unterstellt<br />
der Milieubegriff nur in begrenzterer Form, dort geht es stärker um milieuspezifische<br />
Wahrnehmungen <strong>und</strong> Nutzungen gegebener Bedingungen. Milieu ist<br />
also in einigen Begriffsbestimmungen (z.B. Hofmann/Rink 1996, Strasser/Dederichs<br />
2000: 91) etwas näher an den „objektiven“ Gegebenheiten orientiert<br />
als Lebensstile, etwas mehr Meso- als Mikroebene (dennoch erhebt auch die<br />
Lebensstilforschung den Anspruch, gerade Makro- <strong>und</strong> Mikroebenen zu verbinden).
5.2 Milieus 105<br />
Hradil unterscheidet zwischen „tiefsitzenden“ Werthaltungen als kennzeichnend<br />
für Milieus <strong>und</strong> demgegenüber typischen Verhaltens- <strong>und</strong> Meinungsroutinen von<br />
Lebensstilen (1999: 42). Eine klare Abgrenzung bedeutet dies allerdings nicht,<br />
wenn etwa Mentalitäten ihrerseits wiederum Verhaltensweisen prägen (a.a.O.:<br />
430). Auch das Argument, Lebensstile würden sich schneller ändern <strong>und</strong> seien<br />
stärker Moden unterworfen als Milieuzugehörigkeiten (a.a.O: 42), ist zumindest<br />
nicht für alle Lebensstilansätze plausibel. Beispielsweise liegt bei Bourdieu dem<br />
Lebensstil ein sicherlich ebenfalls „tiefsitzender“ Habitus zugr<strong>und</strong>e (vgl. Kap. 6).<br />
Auch andere Begriffsbestimmungen von Lebensstil weisen auf die relative<br />
Stabilität hin, weil es beim Lebensstil nicht darum geht, ob man – etwa beim<br />
Kleidungsstil – enge oder weite Hosen je nach Mode trägt, sondern um dahinter<br />
stehende Prinzipien wie z.B. „modische“ oder „solide“ Kleidung tragen.<br />
Otte sieht Lebensstile als den „expressiven Kern“ von Milieus an, zu denen<br />
zusätzlich die Zuordnung von Kontextbedingungen (z.B. die soziale Lage oder<br />
Netzwerke) gehört (1997: 306). Allerdings bleiben auch Lebensstilanalysen<br />
meist nicht auf einer individuellen Ebene stehen, sondern verknüpfen Lebensstile<br />
mit sozialstrukturellen Trägergruppen.<br />
Es lässt sich festhalten, dass die Rolle von Werten in den einzelnen Konzepten<br />
unterschiedlich ist: Bei Lebensstilmodellen sind sie manchmal konstituierendes<br />
Merkmal, manchmal ein Einflussfaktor; bei einigen Milieumodellen<br />
sind sie eine zentrale Dimension, aber bei dem unten beschriebenen Ansatz von<br />
Schulze ist die „Lebensphilosophie“ nur ein Merkmal unter mehreren. Die<br />
Kennzeichen von Milieumodellen erschließen sich noch deutlicher, wenn im<br />
Folgenden einige konkrete Ansätze vorgestellt werden.<br />
Die SINUS-Milieus<br />
Der Ausgangspunkt einer Studie von U. Becker <strong>und</strong> H. Nowak (1985) im Auftrag<br />
des SINUS-Institutes bestand darin, Lebenswelten über subjektive Lebenslagen<br />
<strong>und</strong> -stile zu erfassen. Dementsprechend definieren sie soziale Milieus:<br />
„<strong>Soziale</strong> Milieus fassen ... Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung <strong>und</strong><br />
Lebensweise ähneln, die also subkulturelle Einheiten in der Gesellschaft bilden.“<br />
(Nowak/Becker 1985: 14)<br />
Die Untersuchung dieser Lebensweisen ist eng an die Interessen der Marktforschung<br />
geknüpft, anhand der Milieus (<strong>und</strong> entsprechend typischer Konsumstile<br />
ihrer Angehörigen) sollen Produzenten von Konsumgütern ihre Zielgruppen<br />
erkennen <strong>und</strong> die Werbung darauf abstimmen können.
106 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Nach qualitativen Interviews Ende der siebziger Jahre gab es 1982 die erste<br />
quantitative Überprüfung. Es ergaben sich laut Becker/Nowak acht Milieus in<br />
einem Koordinatensystem, dessen waagrechte Achse nach traditionellen bis<br />
postmateriellen Wertorientierungen 20 geordnet war <strong>und</strong> dessen senkrechte Achse<br />
eine Schichteinteilung darstellte. Das Modell wurde seither in repräsentativen<br />
Erhebungen auf Veränderungen der Milieugrößen untersucht, teilweise wurden<br />
die Milieus neu zugeschnitten <strong>und</strong>/oder umbenannt. Nach einer spezifischen<br />
Systematik für Ostdeutschland 1991 gab es ab 2000 ein gesamtdeutsches<br />
Milieumodell. Das Modell wird auch auf andere Zielgruppen als die<br />
Bevölkerung Deutschlands angewandt, z.B. auf Migrant/innen in Deutschland<br />
oder auf die Bevölkerung anderer <strong>Länder</strong>. Die Achsen des Modells bilden<br />
weiterhin horizontal die Gr<strong>und</strong>orientierungen (2010 lauten die Ausprägungen<br />
„Tradition“, „Modernisierung/Individualisierung“ <strong>und</strong> „Neuorientierung“) <strong>und</strong><br />
vertikal soziale Lagen auf der Basis von Bildung, Beruf <strong>und</strong> Einkommen. Die<br />
Anpassung der Milieukonstruktion erfolgt fortlaufend (z.B. dominierten noch<br />
2007 die „Konsum-Materialisten“ die modernisierte Orientierung in der unteren<br />
Mittelschicht bzw. Unterschicht, 2010 findet man hier das Milieu der<br />
„Prekären“; www.sinus-institut.de/loesungen/sinus-milieus.html). Für das Jahr<br />
2010 sind die sich teilweise überlagernden Milieus wie folgt verteilt:<br />
20 „Traditionelle“ Werte sind z.B. Pflichterfüllung oder materielle Sicherheit, „postmaterielle“ Werte<br />
z.B. Selbstverwirklichung oder Partizipation; vgl. zum Wertewandel Inglehart 1977, 1995;<br />
Meulemann 1996; Gensicke 1996; Klages/Gensicke 1999; Oesterdieckhoff/Jegelka 2001.
5.2 Milieus 107<br />
Abbildung 14: Die Sinus-Milieus 2010<br />
Quelle: Sinus Institut<br />
(http://www.sinus-institut.de/uploads/tx_mppress/Modellwechsel_2010_neue_Charts.pdf)<br />
Am Beispiel der „Expeditiven“ soll angedeutet werden, welche (schlagwortartigen)<br />
Merkmale sich hinter einer Milieubezeichnung verbergen: Sie sind die<br />
unkonventionelle, kreative Avantgarde, hyperindividualistisch, mental <strong>und</strong><br />
geografisch mobil, digital vernetzt <strong>und</strong> immer auf der Suche nach Veränderungen<br />
(das Modell geht somit davon aus, dass sich die Wertorientierungen auch in<br />
typischem Verhalten ausdrücken).<br />
Nach einem ähnlichen Schema identifiziert das Institut auch länderübergreifende,<br />
so genannte „Meta-Milieus“. Dem liegt die Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass<br />
Menschen verschiedener <strong>Länder</strong>, aber vergleichbarer Milieus oft mehr miteinander<br />
verbindet als mit ihren Landsleuten, die anderen Milieus zugehören. Zu<br />
solchen gemeinsamen Gr<strong>und</strong>orientierungen gehören in Westeuropa laut Sinus<br />
traditionelle, etablierte, intellektuelle, moderne Mainstream-, konsum-materialistische,<br />
sensationsorientierte <strong>und</strong> „modern performing“-Milieus. Die sowohl<br />
vertikal als auch horizontal in der Mitte angesiedelte „modern mainstream“-Orientierung<br />
beispielsweise zeichnet sich durch den Wunsch nach einem angenehmen<br />
<strong>und</strong> harmonischen Leben sowie durch das Streben nach materieller <strong>und</strong><br />
sozialer Sicherheit aus (vgl. Hradil 2006b: 10).
108 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Kritisch wendet G. Schulze zu den Sinus-Milieus ein, dass subjektive Dimensionen<br />
(über Werthaltungen) nur eindimensional erfasst würden <strong>und</strong> die<br />
Aufnahme von Kategorien der Schichtungsforschung verw<strong>und</strong>ere, nachdem<br />
doch gerade der Zweifel an empirisch auffindbaren Schichten die Forschenden<br />
geleitet hätte (1990: 421). H.-P. Müller führt an, dass die Determinanten z.B. der<br />
Milieubildung <strong>und</strong> des Milieuwechsels ausgeblendet bleiben <strong>und</strong> dass das Modell<br />
zwar individuellen Wertewandel, aber nicht ausreichend den Zusammenhang<br />
zum sozialstrukturellen <strong>und</strong> institutionellen Wandel berücksichtige (Müller<br />
1989: 63).<br />
Milieus nach Vester et al.<br />
Vester et al. (1993, 2001) untersuchen aus einer enger soziologischen Perspektive<br />
ausdrücklich „soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“. Sie<br />
bezeichnen Milieus, auch mit Verweis auf Bourdieu, als Gruppen mit ähnlichem<br />
Habitus <strong>und</strong> ähnlicher Alltagskultur (2001: 24) <strong>und</strong> stellen fest:<br />
„Die sozialen Milieus … haben sich seit der Entstehung der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik erheblich<br />
verändert. Als fest gefügte politische Großgruppen, die sich als kämpfende Lager<br />
scharf gegeneinander abgrenzen, bestehen sie nicht mehr. Als lebensweltliche<br />
Traditionslinien, die sich nach dem Stil <strong>und</strong> den Prinzipien ihrer alltäglichen Lebensführung<br />
unterscheiden, wirken sie fort … Gleichwohl sind diese großen Traditionslinien<br />
heute immer noch durch erhebliche Kulturschranken <strong>und</strong> gegenseitige<br />
Vorurteile voneinander getrennt.“ (Vester et al. 2001: 13).<br />
Die Veränderungen der Milieus kennzeichnen die Autoren so, dass die historischen<br />
Traditionslinien der Milieus fortbestehen, sich aber differenziert <strong>und</strong> modernisiert<br />
haben. Sie haben sich, wie Familienstammbäume, in neue Zweige mit<br />
stärkeren „postmateriellen“ oder „individualisierten“ Einzelzügen aufgefächert<br />
(a.a.O.: 16, 33). Die sozialen Milieus nach Vester et al. in Westdeutschland sehen<br />
dann 2003 so aus:
5.2 Milieus 109<br />
Abbildung 15: Die sozialen Milieus in Westdeutschland 2003<br />
Quelle: Bremer/Lange-Vester 2006: 14
110 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Dabei bildet die vertikale Achse wiederum Herrschaft ab, das Mehr oder Weniger<br />
von sozialen Chancen, Wohlstand, Macht <strong>und</strong> Einfluss. Horizontal machen<br />
die Autoren Unterschiede an den Einstellungen zur Autorität fest, von autoritärer<br />
bis zu avantgardistischer Gr<strong>und</strong>einstellung. Auch dieses Milieumodell geht also<br />
von unterschiedlichen Werteinstellungen auf der horizontalen Ebene aus. Die<br />
Veränderungen der letzten 25 Jahre, das war bereits zwischen 1982 <strong>und</strong> 1995 zu<br />
erkennen (Vester et al. 2001: 48/49) <strong>und</strong> zeigt sich im Modell von 2003 wieder,<br />
bewegen das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge dabei nicht in seinen Gr<strong>und</strong>prinzipien, sondern<br />
demonstrieren langsame Veränderungen meist innerhalb der größeren<br />
Trennlinien.<br />
So waren beispielsweise das bildungsbürgerliche <strong>und</strong> das gehobene Dienstleistungsmilieu<br />
1995 noch zusammengefasst zum „liberal-intellektuellen Milieu“,<br />
das zu der Zeit circa 10% ausmachte. Ein Novum der Milieudarstellung<br />
2003 gegenüber 1995 besteht zudem in der Hervorhebung von „Trennlinien“ der<br />
Distinktion <strong>und</strong> der Respektabilität (siehe auch Bremer/Lange-Vester 2006: 15).<br />
Wenn Vester – ohne die horizontale Differenzierung von Milieus aufzugeben –<br />
eine verstärkte vertikale Dreiteilung der Gesellschaft feststellt, in der unterprivilegierte<br />
Verliergruppen zunehmend von den „respektablen“ Standards sozialer<br />
Teilhabe ausgeschlossen würden (Vester 2005: 28), so verknüpft er den mehrdimensionalen<br />
Milieuansatz mit einer wiedergekehrten Aufmerksamkeit für<br />
prekäre soziale Lagen <strong>und</strong> Ausgrenzung (siehe Kap. 7.2). Milieumodelle weisen<br />
in diesem Kontext unter anderem darauf hin, dass die Akteure sich nicht passiv<br />
äußeren Verhältnissen anpassen, sondern ihre bisherigen Lebensweisen <strong>und</strong><br />
Haltungen mit veränderten Bedingungen immer wieder – auf milieuspezifische<br />
Weise – neu abstimmen. So erläutert Vester, dass zumindest ein Teil der unterprivilegierten,<br />
besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen Milieus trotz der<br />
schwierigen äußeren Bedingungen nicht resigniert, sondern z.B. informelle Gelegenheitsarbeiten<br />
annimmt <strong>und</strong> auf die damit einhergehenden Unsicherheiten<br />
teilweise besser vorbereitet ist als Menschen in den „mittleren“ Milieus, für die<br />
Beständigkeit <strong>und</strong> Zuverlässigkeit wichtige Werte darstellen (Vester 2006: 269-<br />
273).<br />
Die Erlebnisgesellschaft<br />
Gerhard Schulze leistete insbesondere mit seiner Veröffentlichung „Die Erlebnisgesellschaft“<br />
von 1992 einen populär gewordenen Beitrag zum Thema. Die<br />
Individuen in der Erlebnisgesellschaft, die er für Deutschland ab den achtziger<br />
Jahren konstatiert, sind erlebnisorientiert im Sinne einer unmittelbaren Form der<br />
Suche nach Glück (sie wollen es möglichst sofort), das Projekt des „Schönen
5.2 Milieus 111<br />
Lebens“ tritt als ein Massenphänomen auf, <strong>und</strong> der Erlebniswert von Gütern<br />
gewinnt gegenüber dem Gebrauchswert an Bedeutung (z.B. möchte man vielleicht<br />
lieber einen schicken Geländewagen fahren statt „irgendein“ gegebenenfalls<br />
sparsameres Auto). Das erlebnisorientierte (synonym: innenorientierte)<br />
Handeln hat also das Ziel, schöne Erlebnisse für sich selbst herbeizuführen. Was<br />
Menschen jeweils als schön empfinden, ist dabei milieuabhängig, jedoch gibt es<br />
letztlich keine Festlegungen für ein „schönes“ Erlebnis: Unsicherheiten, welche<br />
Entscheidung man treffen soll, <strong>und</strong> Enttäuschungen (eine besuchte Veranstaltung<br />
war z.B. nicht das erhoffte „Event“) bleiben typische Begleiterscheinungen der<br />
Erlebnisorientierung. Nicht jede Handlung muss zudem innenorientiert sein,<br />
sondern diese Haltung ist graduell zu verstehen. Beispielsweise zieht man seine<br />
Kleidung gegebenenfalls nicht nur an, um sich schön zu fühlen, sondern auch –<br />
das wäre außenorientiert –, um einen guten Eindruck zu erzielen. Als Tendenz<br />
gilt aber in der Erlebnisgesellschaft:<br />
„Handelt man erlebnisrational, wird man andere Entscheidungen treffen, als wenn es<br />
etwa darum geht, das Überleben sicherzustellen, kollektiven Zielen zu dienen oder<br />
göttlichen Geboten zu folgen“ (Schulze 1992: 41; zur fortgesetzten Erlebnisorientierung<br />
auch Schulze 2000).<br />
Dies deutet an: Auch für die Erlebnisgesellschaft gilt als Vorbedingung, dass die<br />
Gesellschaft eine relative Wohlstandsgesellschaft ist, die den Individuen vergleichsweise<br />
große Wahloptionen eröffnet.<br />
Das erlebnisorientierte Handeln formt sich nun nach Schulze im persönlichen<br />
Stil zu einem stabilen, situationsübergreifenden Muster. Der persönliche<br />
Stil ist ein deutliches Zeichen bei der Konstitution sozialer Milieus, was zeigt,<br />
dass Lebensstil- <strong>und</strong> Milieukonzepte eng miteinander verb<strong>und</strong>en sein können, in<br />
diesem Fall sogar innerhalb eines Ansatzes. Nach Schulzes Terminologie lassen<br />
sich Stiltypen durch alltagsästhetische Schemata zum Ausdruck bringen. Diese<br />
sind zum einen durch bestimmte Zeichen charakterisiert (wie gehabt: z.B. Kleidung,<br />
Möbel, besuchte Veranstaltungen, bevorzugte Fernsehsendungen), zum<br />
anderen durch bestimmte Bedeutungsebenen, die Schulze durch Genuss, Distinktion<br />
<strong>und</strong> Lebensphilosophie näher bestimmt. Es gibt nach Schulze drei<br />
hauptsächliche alltagsästhetische Schemata, <strong>und</strong> zwar das Hochkultur-, das Trivial-<br />
<strong>und</strong> das Spannungsschema (vgl. Schulze 1992, besonders Kap. 2 <strong>und</strong> 3).<br />
Der Musikgeschmack ist ein Beispiel, um die Schemata näher zu konkretisieren.<br />
Im Hochkulturschema interessiert man sich – etwas pauschal kategorisiert<br />
– für klassische Musik, im Trivialschema hört man Schlager <strong>und</strong> bei einer<br />
Nähe zum Spannungsschema Rockmusik.<br />
Mit einem Wort lässt sich das Hochkulturschema als „schöngeistig“ charakterisieren,<br />
schließt dabei aber eine gewisse Selbstironie ein. Auf der Genuss-
112 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
ebene ist die Kontemplation kennzeichnend. Dazu gehört auch eine Zurücknahme<br />
des Körpers, z.B. sind laute Heiterkeitsausbrüche verpönt. Auf der<br />
Distinktionsebene wählt Schulze die Kennzeichnung „anti-barbarisch“, kulturelle<br />
Feindbilder sind insbesondere der Bier trinkende Viel-Fernseher oder der Bildzeitungsleser.<br />
Überspitzt gesagt, liest man zudem ein Buch oder besucht ein<br />
Museum nicht für den Genuss, sondern weil man etwas auf sich hält. Die Lebensphilosophie<br />
zeichnet sich durch eine relative Neutralität gegenüber Inhalten<br />
aus, es gibt eher eine Begeisterung für Perfektion.<br />
Das Trivialschema wird häufig abfällig beurteilt, die Inkarnation dieser<br />
Vorstellung bildet der Gartenzwerg. Das hervorstechende Merkmal auf der<br />
Ebene des Genusses ist hier die Gemütlichkeit. Erlebnisse sollen nicht anstrengen,<br />
man ist eher auf der Suche nach dem Gewohnten. Hinsichtlich der Distinktion<br />
gab es lange eher eine Abgrenzung anderer von dem Trivialschema als eine<br />
eigene distinktive Position, die sich aber mittlerweile entwickelt hat, <strong>und</strong> zwar ist<br />
sie anti-exzentrisch. Die Lebensphilosophie des Schemas lautet Harmonie als<br />
Kultur der schönen Illusion (wie sie etwa Happy Ends in Erzählungen repräsentieren).<br />
Das Spannungsschema schließlich ist das historisch jüngste Schema, für das<br />
Unruhe, Abwechslung <strong>und</strong> Bewegung typisch sind. Dies drückt sich auch auf der<br />
Genussebene als Suche nach Action, nach immer Neuem aus, der Körper wird<br />
dabei expressiv eingesetzt, z.B. in der Disco oder beim Sport. Die Distinktionsweise<br />
ist anti-konventionell, Feindbilder sind z.B. biedere Familienväter oder<br />
„Sonntagsfahrer“. Die Lebensphilosophie ist hier schließlich eine des Narzissmus:<br />
Im Hochkulturschema wird das Ich an den Ansprüchen gemessen, im Trivialschema<br />
an der Ordnung, im Spannungsschema jedoch ist das Ich nur mit sich<br />
selbst konfrontiert. Der Maßstab ist hier die subjektiv erfolgreiche Unterhaltung<br />
oder Selbstverwirklichung.
5.2 Milieus 113<br />
Abbildung 16: Alltagsästhetische Schemata nach Schulze<br />
Alltags-<br />
ästhetische<br />
Schemata<br />
Hochkulturschema<br />
Typische<br />
Zeichen<br />
(3 Beispiele)<br />
Klassische Musik,<br />
Museumsbesuch,<br />
Lektüre „guter<br />
Literatur“<br />
Trivialschema Deutscher Schlager,<br />
Fernsehquiz,<br />
Arztroman<br />
Spannungsschema<br />
Rockmusik,<br />
Thriller, Ausgehen<br />
(Kneipen, Discos,<br />
Kinos usw.)<br />
Quelle: Schulze 1992: 163<br />
Genuss<br />
Bedeutungen<br />
Distinktion Lebensphilosophie<br />
Kontemplation Anti-barbarisch Perfektion<br />
Gemütlichkeit Anti-exzentrisch<br />
Action Anti-konventionell<br />
Harmonie<br />
Narzissmus<br />
Es gibt nun keine einseitige Zuordnung zu nur einem Schema, die Affinität zu<br />
einem Schema allein macht noch kein Milieu aus, sondern die Position eines<br />
Individuums bestimmt sich durch Nähe bzw. Distanz zu allen Schemata:<br />
Abbildung 17: Milieus <strong>und</strong> alltagsästhetische Schemata nach Schulze<br />
Milieuspezifische Varianten<br />
der Erlebnisorientierung<br />
Streben nach Rang<br />
(Niveaumilieu)<br />
Streben nach Konformität<br />
(Integrationsmilieu)<br />
Streben nach Geborgenheit<br />
(Harmoniemilieu)<br />
Streben nach Selbstverwirklichung<br />
(Selbstverwirklichungsmilieu)<br />
Streben nach Stimulation<br />
(Unterhaltungsmilieu)<br />
Quelle: Schulze 1992: 165<br />
Übersetzung in den dimensionalen Raum alltagsästhetischer<br />
Schemata (Stiltypen)<br />
„+“ bedeutet Nähe, „-“ bedeutet Distanz<br />
Hochkulturschema Trivialschema Spannungsschema<br />
+ - -<br />
+ + -<br />
- + -<br />
+ - +<br />
- - +
114 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Fünf typische Kombinationen (eine gleichzeitige Nähe von Trivial- <strong>und</strong> Spannungsschema<br />
ist eher untypisch) bilden schließlich die sozialen Milieus. Diese<br />
definiert Schulze als „Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen<br />
<strong>und</strong> erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben“ (1992:<br />
174). Dabei meint Binnenkommunikation innerhalb einer sozialen Großgruppe<br />
natürlich nicht, dass jeder jeden kennt, sondern dass Angehörige desselben Milieus<br />
mit größerer Wahrscheinlichkeit aufeinander treffen, z.B. im Fre<strong>und</strong>eskreis<br />
oder in Vereinen (ebd.).<br />
Die spezifischen Nähe-Distanz-Kombinationen zu den alltagsästhetischen<br />
Schemata beschreiben also die Milieus:<br />
Abbildung 18: Das Milieumodell von Schulze<br />
Bildung<br />
Selbstverwirklichungs<br />
milieu<br />
Unterhaltungsmilieu<br />
Quelle: Schulze 1992: 384<br />
Niveaumilieu<br />
Integrationsmilieu<br />
Harmoniemilieu<br />
Alter<br />
So weist das Selbstverwirklichungsmilieu die gleichzeitige Affinität zum Hochkultur-<br />
<strong>und</strong> zum Spannungsschema auf. Dort sind Menschen zu finden, die sich<br />
unter anderem für Kleinkunst, aber auch für klassische Musik <strong>und</strong> Rock <strong>und</strong> Pop<br />
interessieren, einen großen Fre<strong>und</strong>eskreis haben sowie Individualtourismus <strong>und</strong>
5.2 Milieus 115<br />
Naturkostläden mögen (ausführliche Milieubeschreibungen in Schulze 1992,<br />
Kap. 6). 21<br />
Wer zu welchem Milieu gehört, ist jedoch nicht zufällig, sondern insbesondere<br />
durch zwei Dimensionen festgelegt, die für Interaktionspartner vergleichsweise<br />
leicht erkennbar sind: Alter <strong>und</strong> Bildung, wobei das Alter dichotom unterteilt<br />
ist in jünger <strong>und</strong> älter als etwa 40 Jahre (Schulze legt sich nicht fest, ob es<br />
sich um einen Alters- oder Kohorteneffekt handelt). Bildung ist in niedrigere <strong>und</strong><br />
höhere, bei den älteren Milieus zudem in mittlere Bildung gegliedert, so dass die<br />
fünf Milieus vergleichsweise klar zuzuordnen sind (ohne dass es einen Determinismus<br />
gibt). Eine hierarchische Struktur durch das Bildungsniveau wird dabei<br />
gebrochen durch die Altersdimension, was Schulze mit „gespaltener Vertikalität“<br />
bezeichnet:<br />
„Eindeutig überlagert eine moderne, fast ausschließlich erlebnisorientierte Altersschichtung<br />
die traditionelle Bildungs- <strong>und</strong> Berufsschichtung, deren soziale Interpretation<br />
als hierarchische <strong>Ungleichheit</strong> dadurch immer mehr verdrängt wird … Der<br />
Vertikalisierungseffekt der Bildung wird durch den Horizontalisierungseffekt des<br />
Lebensalters konterkariert“ (a.a.O.: 401).<br />
Der Gesamtzusammenhang von sozialer Lage <strong>und</strong> Milieus sieht wie folgt aus:<br />
„Jedes Milieu enthält eine Mehrzahl von sozialen Lagen; bestimmte soziale Lagen<br />
treten in mehreren Milieus auf; gleichzeitig ist aber auch eine deutliche milieuübergreifende<br />
Abstufung zu erkennen – nicht nur für Sozialwissenschaftler, sondern<br />
auch für die Menschen im Alltag“ (ebd.).<br />
Dieses Erkennen führt jedoch nicht zu einer hierarchischen Einordnung oder gar<br />
einem Milieukonflikt entsprechend einem Klassenkonflikt:<br />
„Zwischen den Milieus herrscht ein Klima von Indifferenz oder achselzuckender<br />
Verächtlichkeit, nicht geregelt <strong>und</strong> hierarchisiert durch eine umfassende Semantik<br />
des Oben <strong>und</strong> Unten“ (a.a.O.: 405).<br />
Zwar gibt es nach wie vor eine stabile vertikale Ordnung etwa von Berufen nach<br />
dem Prestige, doch ist das Berufsprestige für den Gesamtstatus einer Person, für<br />
ihre Einschätzung durch andere weniger wichtig geworden.<br />
Ein Kritikpunkt, den manche Autoren an Schulzes Modell (<strong>und</strong> gelegentlich<br />
an Lebensstilanalysen allgemein) äußern, lautet, dass es nur in Phasen relativ<br />
21 Die Ergebnisse beruhen auf einer Befragung von etwa 1000 Personen zwischen 18 <strong>und</strong> 70 Jahren<br />
in Nürnberg von 1985. Die alltagsästhetischen Schemata bestimmten die Forscher anhand von<br />
Faktorenanalysen <strong>und</strong> Verfahren der klassischen Testtheorie.
116 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
großen Wohlstands gültig sei (im Deutschland der achtziger Jahre also gerade<br />
noch zutreffend gewesen sein mag), bei zunehmender Knappheit jedoch an Geltungskraft<br />
verliere. Beispielsweise schreibt Neckel: „Gerhard Schulze indes<br />
entwirft eine Kultursoziologie über Leute, die Geld ausgeben, aber keines verdienen<br />
müssen“ (1998: 211). H.-P. Müller betont die wieder zunehmende Bedeutung<br />
von Bildung, Beruf <strong>und</strong> Einkommen in der „neub<strong>und</strong>esdeutschen<br />
Knappheitsgesellschaft“ (1995: 933f.). Dagegen ist einzuwenden, dass man Erlebnisorientierung<br />
auch weiter fassen kann <strong>und</strong> dann z.B. Genuss eine Pflicht<br />
sein kann, um die eigene Stellung im sozialen Raum zu legitimieren (so geht es<br />
dem neuen Kleinbürgertum nach Bourdieu), oder dass Gewalt bei Jugendlichen<br />
Folge einer Erlebnisorientierung sein kann, die dann gerade eine soziale Reaktionsform<br />
auf Krisensituationen ist (so etwa Funke 1997: 324-326). Auch Müller-Schneider<br />
ist der Meinung, dass sich die innenorientierte Erlebniskultur nicht<br />
allein (möglicherweise sogar immer weniger) auf Konsum richtet, sondern auch<br />
auf andere Bereiche, z.B. auf die Gestaltung des Liebeslebens <strong>und</strong> anderer Kontakte<br />
oder auf die Freizeit, für deren Erweiterung manche Menschen Einkommenseinbußen<br />
in Kauf nehmen. Außerdem seien die gegenwärtigen Einkommenseinbußen<br />
angesichts der Wohlstandsentwicklung der vorangegangenen<br />
Jahrzehnte zu relativieren (1998: 148-154). Als Ergebnis eines Zeitvergleichs der<br />
Daten aus dem Jahr 1985 mit Daten aus den Jahren 1993 <strong>und</strong> 1998 resümiert er,<br />
dass sowohl die alltagsästhetischen Schemata als Stilmuster als auch die Prägung<br />
durch Bildung <strong>und</strong> Lebensalter, nicht jedoch durch die Einkommensstärke, stabil<br />
geblieben seien (Müller-Schneider 2000: 37). Schnierer warnt demgegenüber,<br />
die Werte der erlebnisorientierten Akteure könnten auch ein ideologischer<br />
Schleier sein, der Schulze wie auch den Akteuren selbst den Blick auf den Wettbewerb<br />
um begehrte soziale Positionen in seiner Härte verstelle. Die Nicht-Erreichbarkeit<br />
dieser Positionen bekommt dann z.B. dadurch ein Ventil, dass man<br />
sagt: „Ich habe ohnehin keine Lust, mich für den beruflichen Aufstieg ‚kaputtzumachen’<br />
“ (Schnierer 1996: 80f.).<br />
Eine empirische Bestätigung der Erlebnisgesellschaft wiederum liefert<br />
Lechner (2003). Nach seinen Bef<strong>und</strong>en ist eine alltagsästhetisch dominierte<br />
Milieustruktur Mitte der neunziger Jahre auch in Ostdeutschland (konkret in<br />
Chemnitz) festzustellen.<br />
Hinsichtlich einer vor allem in den USA ausgearbeiteten These des „kulturellen<br />
Allesfressers“ (cultural omnivore), wonach die Orientierung an Hochkultur<br />
von einer Vorliebe für kulturelle Vielfalt abgelöst worden sei, kommt<br />
Rössel anhand einer Untersuchung von Kinobesucherinnen <strong>und</strong> -besuchern in<br />
Leipzig zu dem Schluss, dass dieses Konzept nicht umstandslos auf die deutsche<br />
Situation zu übertragen sei. Anstelle eine „Hochkultursnobismus“ (dies auch mit<br />
Bezug auf Bourdieus Ansatz, siehe Kap. 6) sei eher eine „dosierte Grenzüber-
5.2 Milieus 117<br />
schreitung zwischen einem hochkulturellen <strong>und</strong> einem populären Geschmack“<br />
erkennbar (Rössel 2006a: 270). Danach ist die Aussagekraft alltagsästhetischer<br />
Schemata nicht als überholt anzusehen.<br />
Allgemein lässt sich zu Milieu- <strong>und</strong> Lebensstilansätzen anhand dieser Kontroverse<br />
nochmals festhalten: Sie unterstellen keine Loslösung von sozialstrukturellen<br />
Merkmalen, aber der Zusammenhang zwischen diesen Strukturen <strong>und</strong> dem<br />
typischen Handeln der Akteure ist komplexer geworden.<br />
Alltägliche Lebensführung<br />
An dieser Stelle soll noch ein weiteres Konzept dargestellt werden, das durch<br />
den Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung auch ungleichheitstheoretische<br />
Fragen behandelt <strong>und</strong> das konzeptionell in der Nähe von Milieu- <strong>und</strong> Lebensstiluntersuchungen<br />
(allerdings mit einem etwas anderen Schwerpunkt) liegt: Der<br />
Ansatz der Alltäglichen Lebensführung. Ab Mitte der achtziger Jahre haben<br />
verschiedene Forscher, ausgehend vom Sonderforschungsbereich „Entwicklungsperspektiven<br />
von Arbeit“ der Universität München, das Konzept der Alltäglichen<br />
Lebensführung entwickelt (vgl. z.B. Projektgruppe Alltägliche Lebensführung<br />
1995, Kudera/Voß 2000, Voß/Weihrich 2001, Weihrich/Voß 2002,<br />
www.arbeiten<strong>und</strong>leben.de/alf-start.htm). Die Ausgangsüberlegung besteht darin,<br />
dass im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels die Beziehung zwischen<br />
Arbeit <strong>und</strong> „Leben“ komplizierter wird, dass zunehmende Entscheidungsmöglichkeiten<br />
auch Aushandlungsprozesse mit sich bringen, dass jeder in seinem<br />
Alltag viele Dinge <strong>und</strong> Rollen „unter einen Hut“ bekommen muss. Die Akteure<br />
sind den Strukturbedingungen nicht ausgesetzt, sondern konstruieren ihre<br />
Lebensführung (der Begriff orientiert sich grob an Webers Überlegungen) auch<br />
selbst. Unter Lebensführung verstehen die Forscher dabei, „was Personen immer<br />
wieder tagaus tagein in ihren verschiedenen Lebensbereichen (Beruf, Haushalt,<br />
Familie, Fre<strong>und</strong>eskreis, Vereine u.a.m.) tun.“ (Rerrich/Voß 2000: 150). Das<br />
Konzept betont das Gesamtarrangement der Handlungspraxis im Alltag der<br />
Akteure (wenngleich auch ihre subjektiven Deutungen nicht unerheblich sind)<br />
<strong>und</strong> richtet sich dabei zum einen auf deren aktive Konstruktionsleistung<br />
zwischen äußeren Bedingungen <strong>und</strong> eigenen Präferenzen, zum anderen aber auch<br />
auf die Entwicklung einer gewissen Eigenlogik der Lebensführung gegenüber<br />
den Akteuren (Voß 1995, Rerrich/Voß 2000). Eine häufig erwähnte Basis der<br />
Analyse ist eine „subjektorientierte“ Perspektive (vgl. Voß/Pongratz 1997), doch<br />
beansprucht das Konzept auch, eine Verbindung zwischen Mikro- <strong>und</strong><br />
Makroperspektive herzustellen, weil es Vergesellschaftungen, den Rahmen<br />
sozialer Bedingungen andererseits nicht unterschlägt. Bolte sieht Lebensführung
118 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
als „zentrales Kupplungssystem“ zwischen Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft (Bolte<br />
2000: 145).<br />
Nicht zu verwechseln ist dieses Konzept der Alltäglichen Lebensführung<br />
übrigens mit Ottes Begriff der Lebensführung, den er verwendet, um in der<br />
Lebensstilanalyse neue Akzente zu setzen (2004). 22 Das hier charakterisierte<br />
Konzept der Alltäglichen Lebensführung haben Forscher in verschiedenen<br />
empirischen Untersuchungen angewandt. Sie kamen dabei zu Typisierungen der<br />
Alltäglichen Lebensführung spezifischer Untersuchungsgruppen, die daher nicht<br />
unbedingt vergleichbar sind. Bolte (2000) arbeitet übergreifende Typen mit den<br />
Dimensionen Außengeleitetheit vs. Eigeninitiative, gleichförmig vs. variabel<br />
sowie kurzfristig vs. dauerhaft heraus. Es ergeben sich verschiedene Varianten<br />
„außen geleitet konstanter“ Lebensführung, „mitbestimmter“ Lebensführung <strong>und</strong><br />
„selbst bestimmter“ Lebensführung, außerdem die „resignative“ <strong>und</strong> die<br />
„chaotische“ Lebensführung. Die Form der Lebensführung sagt dabei noch<br />
nichts über die subjektive Zufriedenheit aus.<br />
Das allgemeine Konzept der Alltäglichen Lebensführung stellt also eine<br />
Verbindung zwischen individuellem Handeln <strong>und</strong> gesellschaftlichen Strukturen<br />
her, ein Anspruch, den vergleichbar auch die Milieu- <strong>und</strong> Lebensstilanalysen<br />
formulieren. Die Mikro-Makro-Verknüpfung der Alltäglichen Lebensführung ist<br />
dabei nicht per se auf soziale <strong>Ungleichheit</strong> gerichtet. Dieser Zusammenhang ist<br />
jedoch herstellbar. Rerrich/Voß (2000) zeigen etwa an zwei Fallbeispielen, dass<br />
die betrachteten Männer gleichen Alters aus der Perspektive von Dimensionen<br />
„klassischer“ <strong>Ungleichheit</strong>sforschung unterschiedlich einzuordnen sind. Der<br />
eine, angelernter Arbeiter im Schichtsystem mit bäuerlicher Herkunft, hat es<br />
schlechter getroffen als der andere, Sohn eines Landarztes <strong>und</strong> qualifizierter<br />
Journalist. Auf den zweiten Blick, wenn man auch die Lebensführung berücksichtigt,<br />
wird das Bild mindestens ambivalenter. Der vermeintliche „Underdog“<br />
präsentiert sich zufrieden, er hat ein Eigenheim, seine Frau verrichtet die Hausarbeit,<br />
einen großen Teil seiner arbeitsfreien Zeit widmet er seinen Hobbys. Der<br />
freiberufliche Journalist hingegen ist ständig auf der Suche nach neuen Aufträgen,<br />
das Preisniveau ist in der Großstadt zudem recht hoch, er empfindet seine<br />
Lebenssituation wesentlich prekärer. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass<br />
die Alltägliche Lebensführung die soziale Lage relativieren kann, unter anderem<br />
durch die aktive Aneignung der äußeren Bedingungen. In ihren Worten:<br />
22 Otte fügt in seinem Verständnis von Lebensführung manifeste Lebensstile mit latenten Wertorientierungen<br />
zusammen (2004: 57). Dabei geht es gerade nicht um das Gesamtarrangement, durch<br />
das der Akteur den Alltag „unter einen Hut“ bekommt, wenngleich es im Detail Überschneidungen<br />
geben kann (z.B. bei Ausdrucksformen einer offenen vs. geschlossenen biographischen Perspektive).
5.2 Milieus 119<br />
„In der alltäglichen Lebensführung laufen die verschiedenen ungleichheitsrelevanten<br />
Faktoren aus dem sozialen Lebensumfeld von Personen zusammen, woraus nicht direkt<br />
daraus ableitbare, sondern relativ kontingente Interferenzaspekte für soziale Benachteiligungen<br />
oder Privilegierungen der Betroffenen entstehen“ (Rerrich/Voß<br />
2000: 158).<br />
Jürgens (2002) stellt eine andere Lesart der Bef<strong>und</strong>e vor. Wenn man die Lebensbedingungen<br />
differenzierter sieht als Rerrich <strong>und</strong> Voß in ihrem ersten Schritt der<br />
Fallanalyse, haben die beiden Personen unterschiedliche Positionen im sozialen<br />
Raum (gemäß Bourdieus Konzept) bzw. sind einem anderen Milieu (mit Verweis<br />
auf Vester et al.) zuzuordnen. Bereits auf der – differenziert betrachteten – „objektiven“<br />
Ebene würden die Unterschiede der beiden Männer also deutlich werden,<br />
nicht erst die Alltägliche Lebensführung macht den Unterschied aus. Damit<br />
ist das Konzept der Alltäglichen Lebensführung aus Jürgens’ Sicht für die <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />
jedoch nicht obsolet geworden. Die Lebensführung kann<br />
durchaus eine Ressource oder eine Restriktion darstellen, z.B. kann sich der<br />
Journalist leichter an veränderte Rahmenbedingungen anpassen (er hat eine „offenere“<br />
Lebensführung). Milieu- oder Lebensstilstudien erfassen zudem weniger<br />
die alltäglichen Koordinations- <strong>und</strong> Synchronisationsleistungen der Individuen.<br />
Ein weiteres Potential der Alltäglichen Lebensführung liegt in der Untersuchung<br />
verschränkter Lebensführung, z.B. in Paarbeziehungen (Ansätze dazu in Jürgens<br />
2001) oder auch im Erwerbsleben. Daher können die Forschungsrichtungen<br />
gegenseitig füreinander anregend sein: „Genese <strong>und</strong> sozialstrukturelle Verortung<br />
von Lebensführung sind ebenso zentral wie die systematische Aufdeckung<br />
alltäglicher Vereinbarkeitsleistungen, in denen sich soziale <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
widerspiegeln <strong>und</strong> reproduzieren“ (Jürgens 2002: 88).<br />
Mit der dichten Beschreibung typischer Alltäglicher Lebensführungen kann<br />
das Konzept einen wichtigen Bestandteil für weitere Untersuchungen liefern, den<br />
andere Ansätze in dieser Form bislang nicht berücksichtigten (die „sozialen<br />
Lagen“ etwa streben eher komplexe Beschreibungen auf der „anderen“, der objektiven<br />
Seite, an, Lebensstile <strong>und</strong> Milieus sind zwar ebenfalls ganzheitlich orientiert,<br />
doch fehlen ihnen die erwähnten Elemente, insbesondere legen sie weniger<br />
Gewicht auf das Gesamtarrangement der Lebensführung im Alltag). Eine<br />
Aggregation der Ergebnisse des Konzepts Alltägliche Lebensführung zu einem<br />
Modell sozialer <strong>Ungleichheit</strong> bzw. eine systematische Verknüpfung z.B. mit<br />
Milieumodellen gibt es jedoch bislang nicht.<br />
Auf eine weitere mögliche Ergänzung macht Nollmann (2003) aufmerksam.<br />
Er weist – ohne ausdrückliche Abgrenzung zu bestimmten Lebensstil- oder Milieumodellen<br />
– darauf hin, dass die empirische Analyse der Transformationsprozesse<br />
von „Verschiedenheit“ in soziale, bewertete <strong>Ungleichheit</strong>en noch in den<br />
Kinderschuhen stecke. Er spricht somit durch die Betonung von Konstruktions-
120 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
leistungen einer „Kultur“ der sozialen <strong>Ungleichheit</strong> einen noch höheren Stellenwert<br />
zu als dies viele Lebensstil- <strong>und</strong> Milieumodelle tun. Inhaltlich argumentiert<br />
er unter diesem Blickwinkel, dass soziale <strong>Ungleichheit</strong> zugenommen habe, weil<br />
z.B. Geschlechterungleichheiten unabhängig vom Ausmaß der Ungleichverteilungen<br />
in den letzten Jahrzehnten stärker als soziale <strong>Ungleichheit</strong>en wahrgenommen<br />
<strong>und</strong> öffentlich thematisiert würden. Diese Sichtweise ist sicherlich<br />
selbst wieder diskussionswürdig, doch thematisiert auch sie eine möglicherweise<br />
sinnvolle Erweiterung der <strong>Ungleichheit</strong>sperspektive.<br />
5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung<br />
Wieder zurück zum „mainstream“ der Lebensstil- <strong>und</strong> Milieuanalyse: Ist sie das<br />
analytische Instrument der Wahl zur Beschreibung <strong>und</strong> Erklärung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
Dass dies umstritten ist, deuten Kritikpunkte <strong>und</strong> offene Fragen<br />
ebenso an wie die Wiederbetonung vertikaler Strukturen in der <strong>Ungleichheit</strong>sdebatte<br />
der letzten Jahre. Die Kritiker beziehen sich dabei häufig auf Lebensstile,<br />
durch die Nähe <strong>und</strong> Überschneidungen zu Milieustudien richten sich die Argumente<br />
jedoch oft auch auf diese.<br />
� Ein Vorwurf lautet, die Lebensstilforschung gehe zu beschreibend vor ohne<br />
genügend Theorieanbindung. Dies ändere sich auch nicht durch einen pauschalen<br />
Verweis auf soziologische Klassiker oder die Individualisierungsthese<br />
Becks (Bourdieu kann man diesen Vorwurf am wenigsten machen, in<br />
diesem Fall tritt eher die Kritik auf den Plan, dass er den Einfluss ökonomischer<br />
Aspekte auf den Lebensstil letztlich als zu groß ansetze, vgl. das folgende<br />
Kapitel). Garhammer formuliert den Einwand so: „Kaum eine der<br />
Arbeiten … stellt … die Frage, die doch erst mal zu klären wäre: Was bedeutet<br />
es für die moderne Gesellschaft, wenn das Leben zu einer Stilfrage<br />
wird?“ (2000: 297). Und im Weiteren: „Der Nachweis durch Hartmann,<br />
Georg <strong>und</strong> Wahl [Arbeiten, die er zu einer Sammelbesprechung heranzieht,<br />
N.B.], wie viel Varianz des Freizeitverhaltens durch Bildung <strong>und</strong> Alter,<br />
durch Geschlecht <strong>und</strong> Lebensform, durch Berufsstatus <strong>und</strong> Einkommen<br />
aufgeklärt wird, ist eindrucksvoll. Er greift aber zu kurz, insofern er konkurrierende<br />
Erklärungen immer nur durch die Brille des Empirikers bespricht,<br />
d.h. als Methode zur Aufklärung von Varianz. So wird der Diskurs über das<br />
‚Warum’ der Zusammenhänge von sozialer Lage ebenso verstellt wie darüber,<br />
ob die Diagnose der ‚Erlebnisgesellschaft’ überzeugend ist.“ (2000:<br />
301). Der Empiriker kann dann fast beliebig viele unterschiedliche Lebensstile<br />
feststellen. Zwar wird immer wieder auf gr<strong>und</strong>sätzliche Überschnei-
5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung 121<br />
dungen der empirischen Ergebnisse hingewiesen, z.B. von Schulze – unter<br />
anderem zu den Sinus-Milieus (1992: 393) – oder in der Zusammenstellung<br />
von Typenvergleichen bei Hartmann (1999: Kap. 5). Es bleibt aber letztlich<br />
offen, ob eher die Brille der Forscher schärfer, differenzierter geworden ist,<br />
oder ob sich tatsächlich mehr Gruppen ausdifferenziert haben, die für die<br />
Handlungsorientierungen <strong>und</strong> das soziale Zusammenleben von Bedeutung<br />
sind. Einige Autoren weisen darauf hin, dass die Erklärungskraft von Lebensstilen<br />
möglicherweise je nach Anwendungsbereich variiert. So äußert<br />
sich Hermann (2004) positiv hinsichtlich der Erklärung von Mortalitätsrisiken<br />
durch Lebensstile, Rössel spricht die Relevanz von Lebensstilen vor<br />
allem in „ästhetisierbaren“ Handlungsbereichen (2006b: 463) wie Konsum<br />
<strong>und</strong> Freizeit an. Es ist dabei jedoch darauf zu achten, ob die Spezifizierung<br />
dazu führt, dass ungleichheitstheoretische Fragestellungen auf der Makroebene<br />
dann nicht mehr im Zentrum der Analyse stehen (ähnlich Otte 2005:<br />
24). Solga et al. kritisieren einen theoretischen Mangel auch bei Milieukonzepten.<br />
Es sei unklar, ob Milieus überhaupt Determinanten, Ursachen oder<br />
Dimensionen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> seien (2009: 40).<br />
� Wenn man die Vielfalt von Lebensstilgruppen betont, die teilweise nebeneinander<br />
liegen <strong>und</strong> die sich oft eher indifferent als antagonistisch gegenüberstehen,<br />
geht damit zudem die Gefahr einher, dass Herrschaftsstrukturen<br />
unterbelichtet bleiben (ein möglicher blinder Fleck, den bereits die<br />
Klassentheorie gegen die Schichtungsforschung vorgebracht hatte). Meyer<br />
befürchtet einen Verlust des kritischen Impetus <strong>und</strong> entsprechend eine legitimatorische<br />
Rückendeckung für die bestehende <strong>Ungleichheit</strong>sordnung<br />
(2001a: 265f.). Allerdings könnte man dagegen argumentieren, dass man<br />
bei einer Berücksichtigung der integrativen bzw. distinktiven Funktion von<br />
Lebensstilen zumindest potentiell durchaus kritisch Verhältnisse zwischen<br />
den Lebensstilgruppen an zentraler Stelle diskutieren könnte.<br />
� Auch zwei weitere Kritikpunkte weisen Befürworter der Lebensstilanalyse<br />
als eher einseitige Sichtweise zurück: Erstens spricht gegen die Kritik an einer<br />
zu großen Vielfalt von Ansätzen mit unterschiedlichem Gegenstand,<br />
Operationalisierungen <strong>und</strong> herausgef<strong>und</strong>enen, allenfalls bedingt vergleichbaren<br />
Lebensstilen der immer wieder zu lesende Hinweis auf einen gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Konsens darüber, was ein Lebensstil ist (s.o. zur Begriffsklärung),<br />
welche es gibt (Parallelen sind trotz der unterschiedlichen Benennungen<br />
<strong>und</strong> Klassifikationen festzustellen) <strong>und</strong> wovon sie abhängen (<strong>und</strong> zwar<br />
in nennenswertem Ausmaß vom Alter, der Bildung <strong>und</strong> dem Geschlecht).<br />
� Der zweite Aspekt besteht in der möglicherweise zu starken Betonung von<br />
individuellen Wahlfreiheiten <strong>und</strong> einer Präferenzensteuerung, die sich kaum<br />
nach strukturellen Kriterien richte. Die Diskussion um Strukturierungs- vs.
122 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
Entstrukturierungsmodelle innerhalb der Lebensstilanalyse, bei der Entstrukturierungsmodelle<br />
seltener sind <strong>und</strong> teilweise von anderen zusätzlich<br />
radikalisiert werden, zeigt, dass „Entstrukturierung“ keine Position der Lebensstilanalyse<br />
allgemein ist, <strong>und</strong> dies noch weniger in den letzten Jahren.<br />
Auch Hradil relativiert dieses Argument recht heftig: „Lebensstile [bestehen]<br />
keineswegs unabhängig von äußeren Bestimmungsgründen. Anders als<br />
Thomas Meyer kenne ich auch niemanden, der das behauptet“ (2001a: 275).<br />
An verschiedenen Stellen, unter anderem in mehreren Bilanzierungen der<br />
Lebensstilforschung (Hermann 2004, Otte 2005, Rössel 2006b) wird teilweise<br />
mit etwas bedauerndem Unterton konstatiert, dass Lebensstile lediglich<br />
als Ergänzung zur klassischen <strong>Ungleichheit</strong>sforschung fungieren<br />
könnten, nicht als deren Ersatz (z.B. Rössel 2006: 454/455, Otte 2005: 22).<br />
Der weggefallene oder ohnehin fehlende Anspruch, Lebensstile als etwas<br />
gänzlich Neues, eine vertikale Gesellschaftsstruktur ablösendes Modell<br />
postulieren zu müssen, kann für Aussagen mittlerer theoretischer<br />
Reichweite allerdings durchaus konstruktiv sein, sofern die Konstatierungen<br />
nicht dabei stehen bleiben, bereits das Phänomen eines Mischungsverhältnisses<br />
von Struktureinflüssen <strong>und</strong> Optionen als entscheidenden Erkenntnisgewinn<br />
anzusehen. Die Postulierung einer „Lebensstilgesellschaft“ als<br />
Gegenwartsdiagnose (Richter 2005) dürfte, zumal als Aussage jüngeren<br />
Datums, dagegen eher eine Minderheitenposition im ungleichheitstheoretischen<br />
Kontext darstellen. In Zusammenhang mit Lebensstilen, sofern diese<br />
als Erklärungsmerkmal dienen sollen, ist jedenfalls ein Hinweis notwendig:<br />
Immer, wenn Forscher Lebensstile selbst als erklärenden Faktor einsetzen,<br />
müssen sie darauf achten, Zirkelschlüsse zu vermeiden. So ist es nicht ganz<br />
unproblematisch, etwa Konsumverhalten aus Lebensstilen zu erklären, die<br />
unter anderem durch ähnliche Merkmale konstituiert sind (z.B. stellt Klocke<br />
(1994) die Erklärungskraft von Lebensstilen für Käufertypen auf dem Second-Hand-Markt<br />
heraus). Zwar relativiert Hradil auch hier plausibel, dass<br />
es nicht per se tautologisch sei, wenn man aus allgemeinen Handlungstypen<br />
konkretes – auch ungleichheitsrelevantes – Verhalten erkläre (2001a: 279),<br />
z.B. findet Otte heraus, dass sich Wahlverhalten teilweise besser durch Lebensstile<br />
als durch ein Klassenmodell erklären lässt (1997). Doch ist hier<br />
zumindest Vorsicht für den Forscher geboten, der den soziologischen Erklärungswert<br />
nicht aus dem Auge verlieren sollte. Wenn man einen Mann bestimmten<br />
Alters mit einem bestimmten Outfit im CD-Geschäft vor bestimmten<br />
Regalen antrifft, kann man nicht sicher sagen, ob er gern Spinat<br />
isst. Vielleicht kann man etwas über Tendenzen oder Wahrscheinlichkeiten<br />
sagen, nur wäre das soziologisch nicht gerade spannend, es sei denn, das<br />
Spinat-Essen hätte eine (z.B. distinktive) Bedeutung. Interessanter wäre die
5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung 123<br />
Verbindung zu Lebenschancen oder Handlungsorientierungen. Somit zeigt<br />
sich: Man muss eine erklärende Verknüpfung verschiedener Ebenen herstellen,<br />
z.B. zwischen Handlungstypen <strong>und</strong> ungleichheitsrelevantem konkreten<br />
Verhalten oder zwischen Handlungstypen <strong>und</strong> Lebenschancen, um<br />
über eine für Marktforscher interessante Aussage hinaus zu gelangen. Damit<br />
ist wiederum die Herausarbeitung von Erklärungsmechanismen auf einer<br />
theoretischen Ebene angesprochen.<br />
� Eine weitere Frage an die Lebensstilforschung richtet sich schließlich auf<br />
die Entstehung <strong>und</strong> die Entwicklungsbedingungen von Lebensstilen. Unter<br />
welchen Umständen <strong>und</strong> in welche Richtung können sich Lebensstile verändern?<br />
Ohne diesen Aspekt hätte man lediglich ein statisches Modell entworfen.<br />
Auch bedürfte es einer Begründung, wenn gerade ein Modell, das<br />
insgesamt von vergleichsweise großen Wahlmöglichkeiten der Individuen<br />
ausgeht, Kontinuität von Lebensstilen unterstellen würde. Verschiedentlich<br />
streifen Forscher diesen Punkt, indem sie z.B. auf die Rolle des Alters oder<br />
der Lebensphase als Einflussfaktor für den Lebensstil hinweisen. Vester et<br />
al. (2001) stellen zudem Milieus im Zeitvergleich vor (<strong>und</strong> untersuchen damit<br />
unter anderem Kohorteneffekte). Doch gibt es insgesamt eher ansatzweise<br />
als systematisch Überlegungen dazu zu erklären, wann gegebenenfalls<br />
einzelne Menschen ihren Lebensstil in eine bestimmte Richtung<br />
ändern. Dies spricht nicht gegen die Lebensstilanalyse im Gr<strong>und</strong>satz, doch<br />
ist hier zumindest weiterer Forschungsbedarf festzustellen bzw. eine stärkere<br />
Verknüpfung mit der Lebenslaufforschung sinnvoll.<br />
Zusammenfassung<br />
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Verschiedene Milieu- <strong>und</strong> Lebensstilkonzepte<br />
suchen einen Mittelweg zwischen einer Strukturiertheit nach dem nicht<br />
mehr adäquaten Muster traditioneller Klassen <strong>und</strong> Schichten auf der einen Seite<br />
<strong>und</strong> einer vollkommen entstrukturierten Vielfalt individuellen Wahlhandelns auf<br />
der anderen Seite. Objektive Bedingungen <strong>und</strong> subjektive Wahrnehmungs- <strong>und</strong><br />
Handlungsweisen sind verknüpft, aber auf komplexe Art <strong>und</strong> Weise. In der Konzeptionalisierung<br />
dieses Mittelweges bzw. dieser Ergänzung bisheriger <strong>Ungleichheit</strong>smodelle<br />
ist der gemeinsame Nenner von sonst im Detail recht unterschiedlichen<br />
Modellen zu sehen. Neben dem Vorteil, viele Aspekte in dem Modell<br />
berücksichtigen <strong>und</strong> damit das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge einer modernen<br />
Gesellschaft angemessen erfassen zu können, sind die Ansätze jedoch auch der<br />
Kritik ausgesetzt: Sie könnten z.B. Gefahr laufen, einen theoretischen, erklärenden<br />
Anspruch aufzugeben, bestehende vertikale <strong>Ungleichheit</strong>en bzw. sogar
124 5 Lebensstile <strong>und</strong> Milieus<br />
zunehmende Restriktionen nicht genügend zu beachten oder Entwicklungen <strong>und</strong><br />
Beziehungen sozialer Gruppen zu vernachlässigen.<br />
Lesehinweise<br />
� Die Lebensstilforschung in den 1990er Jahren bilden z.B. die Sammelbände<br />
von Dangschat/Blasius (Hg.) 1994, Schwenk (Hg.) 1996, Hillebrandt et al.<br />
(Hg.) 1998 ab.<br />
� Bilanzierungen des Lebensstilkonzepts finden sich etwa bei T. Meyer<br />
(2001a), Hradil (2001a), Otte (2005) <strong>und</strong> Rössel (2006b).<br />
� Das Konzept von Schulze gibt es zusammengefasst in: Schulze, Gerhard<br />
(1990): Die Transformation sozialer Milieus in der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik<br />
Deutschland; in: Berger, Peter A.; Stefan Hradil (Hg.) (1990): Lebenslagen,<br />
Lebensläufe, Lebensstile; <strong>Soziale</strong> Welt Sonderband 7, Göttingen, S. 409-<br />
432<br />
� Weitere Texte zu Lebensstilen <strong>und</strong> Milieus finden Sie im Reader von Heike<br />
Solga et al. (Hg.) (2009): <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse,<br />
Frankfurt am Main: Campus, Kapitel III.
6.1 <strong>Soziale</strong> Positionen <strong>und</strong> Klassen 125<br />
6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der<br />
soziale Raum bei Bourdieu<br />
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) hat ein Modell entwickelt,<br />
das sowohl Klassenmodelle in einer eigenständigen Form weiterführt als<br />
auch Lebensstile als einen zentralen Bestandteil integriert. Die Elemente seines<br />
Konzepts sollen an dieser Stelle im Zusammenhang vorgestellt werden.<br />
6.1 <strong>Soziale</strong> Positionen <strong>und</strong> Klassen<br />
Pierre Bourdieu entwirft ein Modell des sozialen Raums, dessen erste Ebene er<br />
als Raum objektiver sozialer Positionen konstruiert. 23 Bedeutsam ist hier vor<br />
allem die Ausweitung des Kapitalbegriffs. An zentraler Stelle berücksichtigt<br />
Bourdieu nicht allein ökonomisches, sondern auch kulturelles <strong>und</strong> soziales Kapital<br />
(Bourdieu 1983). Eine soziale Position ist dann abhängig vom Kapitalvolumen,<br />
der Kapitalstruktur <strong>und</strong> schließlich einem zeitlichen Faktor, der sozialen<br />
Laufbahn. Diese Gedanken sollen nun etwas genauer erläutert werden.<br />
Kapital in dem weit gefassten Verständnis ist zentral für die Stellung im sozialen<br />
Raum:<br />
„Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener<br />
Arten <strong>und</strong> Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen<br />
Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die<br />
das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt <strong>und</strong> über<br />
die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.“ (Bourdieu 1983: 183).<br />
Das Kapital setzt sich im Einzelnen aus folgenden Arten zusammen:<br />
Das ökonomische Kapital bezeichnet das Kapital, das im engeren Sinne<br />
bislang als solches verstanden wurde, also etwa Eigentum <strong>und</strong> Vermögen. Es ist<br />
relativ direkt in Geld konvertierbar.<br />
23 In diesem Rahmen kann nur ein kleiner Ausschnitt von Bourdieus theoretischem Gesamtkonzept<br />
vorgestellt werden. Vgl. zu Bourdieus Werk im weiteren Rahmen z.B. Eder (Hg.) 1989, Fuchs-<br />
Heinritz/König 2005, Barlösius 2006, Rehbein 2006, Bohn/Hahn 2007, Schwingel 2009; zum<br />
Zusammenhang zwischen Klasse <strong>und</strong> Feld z.B. Kieserling 2008.<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_6,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
126 6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu<br />
Das kulturelle Kapital nimmt drei Formen an:<br />
a. Das inkorporierte Kulturkapital meint Bildung, Wissen (allerdings nicht<br />
allein in der Schule erworbenes Wissen, auch z.B. die Erziehung in der Familie<br />
spielt eine Rolle). Der Erwerb erfordert (Lern-) Zeit, man kann es<br />
nicht kurzfristig kaufen oder verschenken. Die Umstände der ersten Aneignung<br />
dieses Kapitals prägen die Person in hohem Maße, z.B. ihre Sprechweise.<br />
b. Objektiviertes Kulturkapital hat die Form von kulturellen Gütern, die man<br />
besitzt, z.B. Bücher, Gemälde, Instrumente. Sie sind leichter auf andere<br />
übertragbar, gewinnen aber nur dann als Aktivposten an Bedeutung, wenn<br />
der Handelnde es sich aneignet <strong>und</strong> strategisch einsetzt (er braucht z.B. inkorporiertes<br />
Kapital, um ein Gemälde auch als hochwertig erkennen zu<br />
können).<br />
c. Institutionalisiertes Kulturkapital bezeichnet (schulische) Titel. Der Inhaber<br />
hat ein Zeugnis kultureller Kompetenz mit einem relativ dauerhaften <strong>und</strong><br />
rechtlich garantierten Wert, der Titel ist also institutionell anerkannt <strong>und</strong> sichert<br />
eine gewisse Übertragbarkeit in ökonomisches Kapital, die sich im<br />
Zeitverlauf allerdings ändern kann. Ein Abiturient kann heutzutage beispielsweise<br />
weniger sicher aufgr<strong>und</strong> seines Abschlusses davon ausgehen,<br />
eine gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden, als dies noch vor einigen Jahrzehnten<br />
der Fall war.<br />
Mit sozialem Kapital meint Bourdieu Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu<br />
einer Gruppe beruhen (z.B. Absolventen einer exklusiven Schule), man hat ein<br />
Netzwerk von Beziehungen. Jemand kennt die entscheidenden Leute <strong>und</strong> kann<br />
an bestimmten Fäden ziehen, um seine Ziele zu erreichen, er ist in einem weiten<br />
Wortsinn „kreditwürdig“. Dieses Kapital ist erheblich von der familiären Herkunft<br />
abhängig, es bedarf aber auch einer dauerhaften Beziehungsarbeit, um<br />
dieses Kapital aufrechtzuerhalten. (vgl. zur Verknüpfung des sozialen Kapitals<br />
mit der Netzwerkanalyse bzw. einer relationalen Soziologie z.B. Fuhse 2010).<br />
Am Beispiel des sozialen Kapitals zeigt sich besonders, dass ökonomisches<br />
Kapital nicht ohne „Transformationsarbeit“ (Bourdieu 1983: 195) in andere<br />
Kapitalarten übertragbar ist (<strong>und</strong> auch umgekehrt). Beim Aufbau des sozialen<br />
Kapitals handelt es sich um „eine scheinbar kostenlose Verausgabung von Zeit,<br />
Aufmerksamkeit, Sorge <strong>und</strong> Mühe“ (a.a.O.: 196), die gerade nicht ausdrücklich<br />
dadurch gekennzeichnet sein darf, dass nur finanzielle Interessen die Beziehung<br />
herstellen. Nichtsdestoweniger stehen die Kapitalarten in einem engen Zusammenhang.<br />
Das ökonomische Kapital in einer Familie beeinflusst z.B., wie viel<br />
Zeit <strong>und</strong> Geld Eltern in die Ausbildung ihrer Kinder investieren können.
6.1 <strong>Soziale</strong> Positionen <strong>und</strong> Klassen 127<br />
Bourdieu nennt zudem noch eine weitere Kapitalart, die eine andere Ebene betont<br />
als die bisherigen Arten: das symbolische Kapital bezeichnet das Prestige<br />
oder Renommee einer Person, es ist die „wahrgenommene <strong>und</strong> als legitim anerkannte<br />
Form der drei vorgenannten Kapitalien“ (Bourdieu 1985: 11). Hierzu<br />
gehören z.B. das institutionalisierte kulturelle Kapital (Titel) oder generell das<br />
soziale Kapital. Dadurch, dass das symbolische Kapital soziale Anerkennung<br />
widerspiegelt, hat es eine wichtige Funktion bei der alltäglichen Legitimation<br />
gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse (Schwingel 1995: 89).<br />
Um die Position einer Person im sozialen Raum zu bestimmen, genügt es<br />
nun nicht, das Volumen, also die quantitative Menge des Kapitals insgesamt in<br />
den drei genannten Formen zu bestimmen. Eine Klasse ist laut Bourdieu nicht<br />
durch ein Merkmal, eine Summe oder eine Kette von Merkmalen definiert, sondern<br />
„durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen“<br />
(Bourdieu 1997 (zuerst 1979): 182). Bedeutsam ist neben dem Kapitalvolumen<br />
als zweiter Faktor die Kapitalstruktur, das heißt das Verhältnis der<br />
Kapitalarten (insbesondere von ökonomischem <strong>und</strong> kulturellem Kapital). Überwiegt<br />
also etwa das kulturelle Kapital das ökonomische Kapital einer Person<br />
oder umgekehrt? Der erfolgreiche Profifußballer mit niedrigem Bildungsabschluss<br />
würde nach diesem zweiten Kriterium anders eingeordnet als die promovierte<br />
Historikerin, die in Teilzeitanstellung in einem Museum Ausstellungen<br />
organisiert, der Ingenieur (mit einem größeren Anteil an ökonomischem Kapital)<br />
anders als der Lehrer (mit einem größeren Anteil an kulturellem Kapital). Ein<br />
dritter Faktor kommt schließlich hinzu, bei der sozialen Laufbahn wird die<br />
Kombination der Kapitalarten im Zeitverlauf betrachtet. Handelt es sich z.B. bei<br />
einer Person um einen „Aufsteiger“ oder einen „Absteiger“ (unter anderem gibt<br />
es das „absteigende Kleinbürgertum“, s.u.) oder sind in einer Gruppierung heterogene<br />
Lebensverläufe typisch? Eder (1989) versucht, Bourdieus Modell (s.<br />
Diagramm 1997 (zuerst 1979): 212f.) auf deutsche Verhältnisse zu übertragen<br />
<strong>und</strong> trägt folgende Berufsgruppen in vier Felder ein, die sich (anhand einer Korrespondenzanalyse)<br />
ergeben, wenn das Kapitalvolumen die senkrechte Achse<br />
<strong>und</strong> die Kapitalstruktur die waagrechte Achse eines Koordinatensystems bilden.
128 6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu<br />
Abbildung 19: Der Raum objektiver Klassenlagen in Deutschland<br />
Quelle: Eder 1989: 21<br />
Laut Bourdieu ergaben sich in der französischen Gesellschaft der sechziger Jahre<br />
anhand von Korrespondenzanalysen drei Hauptklassen (das Modell an sich beansprucht<br />
jedoch Gültigkeit für Klassengesellschaften allgemein):<br />
a. Die herrschende Klasse lässt sich in zwei Gruppen unterteilen, diejenigen,<br />
die über besonders hohes ökonomisches Kapital verfügen (z.B. Unternehmer<br />
aus der Handelsbranche) <strong>und</strong> solche mit hohem kulturellen Kapital<br />
(z.B. Künstler oder Hochschullehrer); dazwischen (der Anteil von ökonomischem<br />
<strong>und</strong> kulturellem Kapital ist ausgeglichener) finden sich freiberuflich<br />
Tätige (Bourdieu 1997 (zuerst 1979): Kap. 5, insbesondere Diagramm<br />
S. 409).<br />
b. Die Mittelklasse ist dreigeteilt in:<br />
� das absteigende Kleinbürgertum, z.B. Handwerker <strong>und</strong> kleine Händler:<br />
Sie sind durch objektive Merkmale sowie durch ihre Verhaltensweisen<br />
<strong>und</strong> Meinungen an eine überholte Vergangenheit geb<strong>und</strong>en; teilweise<br />
stammen sie selbst von kleinen Handwerkern <strong>und</strong> Händlern ab <strong>und</strong><br />
sind mangels ökonomischen <strong>und</strong> vor allem kulturellen Kapitals dazu<br />
verurteilt, in einer gefährdeten Branche, z.B. dem kleinen<br />
Lebensmittelhandel, zu bleiben (Bourdieu a.a.O.: 541-549);
6.2 Der Raum der Lebensstile 129<br />
� das exekutive Kleinbürgertum (ausführende berufliche Tätigkeiten,<br />
z.B. Büroangestellte, Volksschullehrer) (a.a.O.: 549-560);<br />
� <strong>und</strong> das neue Kleinbürgertum (Berufe in Branchen mit starkem<br />
Wachstum, unter anderem Verkaufs- <strong>und</strong> Vertreterberufe, Berater,<br />
Kulturverbreitung, z.B. Werbeagenten, Eheberater, Journalisten;<br />
heterogene Laufbahnen sind charakteristisch; a.a.O: 561-572).<br />
c. Die Volksklasse oder die Beherrschten, in der Arbeiter eingeordnet sind, im<br />
untersten Bereich etwa angelernte Arbeiter, Hilfsarbeiter <strong>und</strong> Landarbeiter.<br />
(a.a.O: 212f., Kap. 7).<br />
Diese Darstellung soll jedoch nicht den Eindruck einer statischen Perspektive<br />
vermitteln. Die Menschen im sozialen Raum sind<br />
„ausgehend von ihrer Stellung in ihm, in einen fortwährenden Kampf untereinander<br />
verwickelt – um die Veränderung dieses Raums. Der gesellschaftliche Raum ist –<br />
wie der geographische – im höchsten Maße determinierend; wenn ich sozial aufsteigen<br />
möchte, habe ich eine enorme Steigung vor mir, die ich nur mit äußerstem<br />
Kraftaufwand erklettern kann; einmal oben, wird mir die Plackerei auch anzusehen<br />
sein, <strong>und</strong> angesichts meiner Verkrampftheit wird es dann heißen: ‚Der ist doch nicht<br />
wirklich distinguiert!’ … Dieser Raum ist also von einer penetranten Realität <strong>und</strong><br />
wir kämpfen unablässig gegen ihn an … allerdings ist dieser Raum veränderbar.“<br />
(Bourdieu 1992a: 37).<br />
Wie sind die sozialen Positionen, die Klassen mit Lebensstilen verb<strong>und</strong>en? Darauf<br />
geht der nun folgende Abschnitt ein.<br />
6.2 Der Raum der Lebensstile<br />
In einer Radiosendung des ORF zum Werk Bourdieus (Titel: „Die verborgenen<br />
Mechanismen der Macht“ vom 24.10.1998) fragt sich der Sprecher, warum<br />
Pierre Bourdieus Buch „Die feinen Unterschiede“ von 1982 (französisch 1979:<br />
„La Distinction“) ein Bestseller werden konnte (<strong>und</strong> übrigens bei Kaesler/Vogt<br />
2000 zu den Hauptwerken der Soziologie zählt) trotz zahlreicher soziologischer<br />
Fachbegriffe, langer Sätze, einer verschlungenen Argumentation <strong>und</strong> nicht auf<br />
den ersten Blick völlig erschließbarer Darstellungen multivariater Analysen. Die<br />
Antwort lautet: Das Thema trifft den Nerv einer „abgeklärten Erlebnisgesellschaft“.<br />
Glaubte man bisher, der persönliche Geschmack sei ein Mittel gegen die<br />
bedrohte Einzigartigkeit des Individuums, dem allgemeinen Zwang zur Konformität<br />
erfolgreich abgerungen, so widerspricht Bourdieu hier ganz ausdrücklich:
130 6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu<br />
Der Lebensstil ist gesellschaftlich geprägt durch die Klassenzugehörigkeit, man<br />
wählt ihn keinesfalls so frei, wie man es vielleicht angenommen hatte.<br />
Bourdieu verknüpft also sein Klassenmodell eng mit Lebensstilen, die Klassenzugehörigkeit<br />
drückt sich am ehesten in den verschiedenen Lebensstilen, also<br />
in einer typischen Handlungspraxis aus. Erst durch die Verbindung von den<br />
sozialen Positionen als Strukturebene mit der Praxisebene der Lebensstile ergibt<br />
sich dabei ein vollständiges Bild des sozialen Raums.<br />
Der Zusammenhang zwischen sozialer Position <strong>und</strong> Lebensstil ist aber weder<br />
deterministisch noch mechanisch. Wenn man beispielsweise feststellt, dass<br />
Menschen in Mittel- <strong>und</strong> Oberschichten mehr Reis essen als Menschen in Unterschichten,<br />
dann heißt das nicht, dass wirklich jede(r) Oberschichtsangehörige<br />
Reis vorzieht, sondern dass es typischerweise so ist. Zudem handelt es sich nicht<br />
nur um einzelne Praktiken wie „Reis essen“ (als Beispiel für Ernährungsgewohnheiten),<br />
sondern um Handlungsweisen, die oft subtiler sind <strong>und</strong> die man<br />
sich im Zuge der Sozialisation angeeignet hat, die dafür auch deutlicher die soziale<br />
Position, in den oberen Klassen die Abgrenzung nach „unten“ zum Ausdruck<br />
bringen. Dazu gehört etwa die Selbstgewissheit der oberen Klassen, die Spielregeln<br />
des Umgangs miteinander zu kennen, eine lässige Distanz zu Kultur <strong>und</strong><br />
Bildung, die die Mittelklassen nicht haben (diese nehmen etwa Bildung viel<br />
ernster). Das Beispiel deutet an, inwiefern der Zusammenhang zwischen sozialer<br />
Position <strong>und</strong> Lebensstil nicht mechanisch ist: Der Raum der sozialen Positionen<br />
<strong>und</strong> der Raum der Lebensstile sind durch den Habitus miteinander verknüpft, das<br />
Modell erhebt damit auch einen erklärenden Anspruch.<br />
Was ist mit dem Habitusbegriff gemeint? Der Habitus ist keinesfalls nur<br />
eine Gewohnheit, sondern eine allgemeine Gr<strong>und</strong>haltung gegenüber der Welt<br />
<strong>und</strong> meint bestimmte kollektive Wahrnehmungs-, Denk- <strong>und</strong> Handlungsschemata,<br />
die den Einzelnen nur zu einem kleinen Teil bewusst sind. In Bourdieus<br />
Worten:<br />
„Der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis<br />
<strong>und</strong> Klassifikationssystem … dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den<br />
Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen<br />
<strong>und</strong> Werke zum einen, der Unterscheidung <strong>und</strong> Bewertung der Formen <strong>und</strong><br />
Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale<br />
Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile (Bourdieu 1997 (zuerst 1979):<br />
277f., Hervorhebungen im Original).<br />
Und an anderer Stelle heißt es in etwas einfacherer Formulierung:<br />
„Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten<br />
dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: Der Habitus ist ein System von
6.2 Der Raum der Lebensstile 131<br />
Grenzen … Deshalb sind für ihn [jemanden mit einem kleinbürgerlichen Habitus,<br />
N.B.] bestimmte Dinge einfach <strong>und</strong>enkbar, unmöglich; es gibt Sachen, die ihn aufbringen<br />
oder schockieren. Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch,<br />
sind seine Reaktionen keineswegs immer schon im Voraus bekannt“<br />
(1992a: 33). 24<br />
Abbildung 20: Der soziale Raum nach Bourdieu<br />
<strong>Soziale</strong> Position - Habitus - Lebensstil<br />
(Struktur) (Praxis)<br />
Herrschende Klasse � Legitimer Geschmack<br />
Mittelklasse, Klein- � Mittlerer / prätentiöser<br />
bürgertum Geschmack<br />
Volksklasse, beherrschte � Populärer/„Notwendig-<br />
Klasse keitsgeschmack“<br />
Den erklärenden Anspruch des Modells mit Hilfe des Habitus formuliert auch<br />
Eder:<br />
„Unterschichten essen mehr Kartoffeln, Mittelschichten <strong>und</strong> Oberschichten eher<br />
mehr Reis. Was hat man erklärt? Nichts, weil man nicht unterscheiden kann, was<br />
Reis Essen für unterschiedliche Schichten bedeutet.“ (Eder 1989: 26).<br />
Und etwas später resümiert er:<br />
„Es interessieren nicht die Meinungen, ihre Inhalte, sondern die Struktur, die der<br />
Selektion von möglichen Meinungen ... zugr<strong>und</strong>e liegt. Es geht darum, die<br />
kollektiven Erfahrungs- <strong>und</strong> Wahrnehmungsschemata zu identifizieren, die die<br />
klassenspezifische Reproduktion von Meinungen regulieren.“ (Eder 1989: 28,<br />
Hervorhebung i. O.).<br />
Wie sind soziale Positionen <strong>und</strong> Lebensstile konkret verb<strong>und</strong>en? Die genannte<br />
Studie „Die feinen Unterschiede“ gelangt auf der Basis von Interviews (die in<br />
den sechziger Jahren geführt wurden), Beobachtungen (z.B. der Wohnungseinrichtung<br />
<strong>und</strong> Kleidung der Befragten) sowie von Sek<strong>und</strong>äranalysen<br />
zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:<br />
Der „legitime Geschmack“ der oberen Klassen zeichnet sich durch Sinn für<br />
Distinktion <strong>und</strong> teilweise durch Vorliebe für Luxusartikel aus. Die Gruppe in-<br />
24 Vgl. zum Habitus auch Krais/Gebauer 2002 sowie Barlösius 2004: Kap. 5.2.
132 6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu<br />
nerhalb der herrschenden Klasse mit einem hohen Anteil an ökonomischem<br />
Kapital (z.B. Unternehmer) zeigt z.B. eine Vorliebe für Boulevardtheater <strong>und</strong><br />
Varieté, Boutiquen, Luxuswagen, Aufenthalte in Drei-Sterne-Hotels in Badeorten<br />
etc. Diejenigen mit höherem kulturellem Kapital (z.B. Lehrer) dagegen<br />
bevorzugen im Theater klassische oder avantgardistische Stücke, außerdem Museen,<br />
klassische Musik, Flohmärkte <strong>und</strong> Wandern (1997 (zuerst 1979): 442). Die<br />
vergleichsweise geringeren ökonomischen Mittel lassen bei ihnen einen „asketischen<br />
Ästhetizitismus“ (a.a.O.: 449) entstehen. Den Bourgeois kennzeichnet<br />
insgesamt eine „Ungezwungenheit aus Vertrautheit“ im Umgang mit Kultur <strong>und</strong><br />
Bildung, die bereits in der familiären Erziehung entstanden ist (a.a.O: 121).<br />
Charakteristisch für den mittleren oder „prätentiösen Geschmack“ ist der<br />
Versuch, den oberen Klassen nachzueifern, unter anderem durch Bildungsbeflissenheit.<br />
Die Selbstsicherheit der oberen Klassen fehlt den Kleinbürgern dabei<br />
jedoch. Während nur die herrschende Klasse „ihre Lebensform zu einer Kunstform<br />
erheben“ kann, ist<br />
„der Eintritt des Kleinbürgers in dieses Spiel der Distinktion <strong>und</strong> Unterscheidung<br />
demgegenüber nicht zuletzt durch die Furcht gekennzeichnet, anhand von Kleidung<br />
oder Mobiliar … sichere Hinweise auf den eigenen Geschmack zu liefern <strong>und</strong> sich<br />
so deren Klassifizierung auszusetzen“ (a.a.O.: 107).<br />
Der (etwas gezwungene) Bildungseifer zeigt sich unter anderem in der Anhäufung<br />
von Zeugnissen „bedingungsloser kultureller Beflissenheit“ (a.a.O.: 503),<br />
wozu z.B. der Besuch „lehrreicher“ Aufführungen gehört. Bourdieu spricht sogar<br />
von „Ergebenheit“ gegenüber der Kultur (a.a.O.: 503). Kleinbürger sind typische<br />
Abnehmer von Massenkultur, die vergleichsweise leicht zugänglich ist, aber<br />
auch die äußeren Anzeichen der legitimen Kultur aufweist. Die einzelnen Varianten<br />
des kleinbürgerlichen Geschmacks (Bourdieu differenziert ein absteigendes,<br />
exekutives <strong>und</strong> neues Kleinbürgertum, s.o.) können hier nicht ausführlich<br />
beschrieben werden (a.a.O.: Kap. 6), als Beispiele seien nur genannt: Das absteigende<br />
Kleinbürgertum bevorzugt eine ordentliche <strong>und</strong> pflegeleichte Wohnungseinrichtung,<br />
in der Musik „die deklassierten Stücke der bürgerlichen Kultur“<br />
(a.a.O.: 541), z.B. „An der schönen blauen Donau“. Das exekutive Kleinbürgertum<br />
kennzeichnet der Bildungseifer in besonderem Maße. Seine Angehörigen<br />
kaufen ihre Möbel in Kaufhäusern <strong>und</strong> interessieren sich des Öfteren für Fotografie<br />
<strong>und</strong> Filme. Eine phantasiereiche Wohnungseinrichtung <strong>und</strong> schicke Kleidung<br />
sind für das neue Kleinbürgertum (<strong>und</strong> zwar eher in Paris als in der Provinz)<br />
typisch.<br />
Der populäre oder „Notwendigkeitsgeschmack“ der unteren Klassen<br />
schließlich orientiert sich am Praktischen. Dabei ist immer zu berücksichtigen,<br />
dass es Bourdieu nicht etwa darum geht, eine angeborene Unfähigkeit z.B. zu
6.2 Der Raum der Lebensstile 133<br />
einer ästhetischen Wahrnehmung festzustellen, sondern die distinktiven Strategien<br />
der höheren Klassen zu betonen, die die Macht haben, ihren Geschmack als<br />
den legitimen zu definieren <strong>und</strong> gegen einen allgemeinen Zugang zu verteidigen.<br />
Schaffen es bereits die Kleinbürger bei allem Eifer nicht, die lässige Selbstsicherheit<br />
der herrschenden Klasse zu erreichen, fehlt es der Volksklasse noch<br />
stärker an materiellem <strong>und</strong> kulturellem Kapital. Sie passt sich an den Mangel an.<br />
Beispielsweise geben Arbeiter häufiger als alle anderen Klassen an, dass sie eine<br />
pflegeleichte Wohnungseinrichtung <strong>und</strong> preiswerte Kleidung (die nicht ausgefallen,<br />
dafür haltbar sein soll) bevorzugen (a.a.O.: 592f.).<br />
„Aus den Gr<strong>und</strong>einstellungen des Habitus geht die Anpassung an die objektiven<br />
Möglichkeiten hervor, die zu all den realistischen Entscheidungen führt, die, den<br />
Verzicht auf ohnehin unzugängliche symbolische Gewinne voraussetzend, Verhalten<br />
<strong>und</strong> Objekte auf ihre technische Funktion reduzieren: ‚sauberer’ Haarschnitt, ‚nettes<br />
einfaches Kleid’, ‚stabile’ Möbel usw.“ (a.a.O.: 594).<br />
Am Beispiel des Nahrungsmittelkonsums veranschaulicht die folgende Abbildung<br />
nochmals die Geschmacksrichtungen der verschiedenen sozialen Positionen:<br />
Abbildung 21: Die Verteilung des Nahrungsmittelkonsums im sozialen Raum<br />
nach Bourdieu<br />
Quelle: Bourdieu 1997 [1979]: 306
134 6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu<br />
Wenngleich „die feinen Unterschiede“ eine wichtige Untersuchung im Rahmen<br />
eines theoretischen Zugangs zu sozialer <strong>Ungleichheit</strong> bei Bourdieu markieren,<br />
gibt es natürlich auch in seinen anderen Schriften Beiträge zum Thema, die sich<br />
gegenseitig ergänzen. Als Beispiel einer etwas jüngeren Studie dient an dieser<br />
Stelle „La misère du monde“ von 1993 (deutsch: Das Elend der Welt, 1997) von<br />
Bourdieu <strong>und</strong> Mitarbeitern. Im Zentrum stehen Passagen aus offenen Interviews<br />
mit Befragten, die deren Perspektive ihrer „Misere“ (der Begriff ist weniger eng<br />
als die Übersetzung) in den Vordergr<strong>und</strong> stellen. Es gibt keine übergreifende<br />
theoretische Interpretation, sondern knappe Zusammenfassungen <strong>und</strong> Kommentare.<br />
Dennoch ist der soziologische Anteil nicht zu verkennen, nicht allein z.B.<br />
durch die Auswahl der Interviews, sondern etwa auch durch Wechselbezüge zu<br />
theoretischen Konzepten Bourdieus (dies betont auch Schultheis 1997: 833). In<br />
durchaus politischer Positionierung wendet sich Bourdieu gegen (unter anderem<br />
durch neoliberalistische Strömungen Anfang der achtziger Jahre entstandene)<br />
Miseren, z.B. von Arbeitslosen oder (mittelbar leidenden) Sozialarbeitern.<br />
Wichtig im ungleichheitstheoretischen Zusammenhang ist auch hier: Das Elend<br />
der sozialen Stellung leitet sich nicht allein aus objektiven Bedingungen her,<br />
sondern aus subjektiven Wahrnehmungen <strong>und</strong> Bewertungen. Der Habitus betont<br />
hier nicht in erster Linie die Verknüpfung von Positionen <strong>und</strong> Lebensstilen, sondern<br />
von Positionen <strong>und</strong> subjektiven Perspektiven. Barlösius unterstreicht die im<br />
Gegensatz zu den „feinen Unterschieden“ andere erklärende Herangehensweise:<br />
„Während er [Bourdieu, N.B.] in ‚La Distinction’ die Wechselwirkung zwischen<br />
beiden Räumen [Sichtweisen <strong>und</strong> Positionen, N.B.] im Wesentlichen von den Positionen<br />
her reproduziert, geht er in der späteren Studie umgekehrt vor: Er reproduziert<br />
die Sichtweisen <strong>und</strong> Standpunkte, um von diesen aus die Spezifika der distinktiven<br />
Habitus zu rekonstruieren“ (1995: 6).<br />
Schultheis <strong>und</strong> Schulz haben 2005 – ebenfalls mit dem dezidierten Anspruch<br />
einer Gesellschaftsdiagnose – eine Replikationsstudie für Deutschland unter dem<br />
Titel „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“ herausgegeben, die ähnlich wie das<br />
„Elend der Welt“ im Kern aus Interviews besteht, unter anderem mit Betroffenen<br />
einer „brüchigen Arbeitswelt“ oder mit Menschen „jenseits der Mitte“ hinsichtlich<br />
ethnischer, regionaler oder sozialer Merkmale. Letztlich sind die makrotheoretischen<br />
Bezüge hier allerdings größtenteils recht implizit.<br />
6.3 Einordnung <strong>und</strong> Kritik<br />
Inwiefern ist Bourdieus Ansatz ein Klassenmodell in der Tradition von Marx <strong>und</strong><br />
Weber, inwiefern gibt es charakteristische Unterschiede, die Müller im positiven
6.3 Einordnung <strong>und</strong> Kritik 135<br />
Sinne für eine radikale Revision der „Marx-Weberschen Melange“ hält (1994:<br />
127)?<br />
� Das verfügbare Kapital spielt für die Klassenzugehörigkeit eine große Rolle<br />
(so auch in anderen Klassenmodellen), dabei ist das ökonomische Kapital<br />
von Bedeutung, darüber hinaus jedoch auch andere Kapitalarten: das kulturelle<br />
<strong>und</strong> das soziale Kapital. Eine Erweiterung erfährt die Konstitution von<br />
Klassen auch dadurch, dass die soziale Position nicht allein ein Resultat aus<br />
der Summe der Kapitalien ist (das wäre einem Schichtmodell ähnlich), sondern<br />
auch ihre Struktur <strong>und</strong> soziale Laufbahnen sind relevant. Empirisch<br />
lassen sich nach diesen Prinzipien drei nochmals in sich differenzierte Klassen<br />
identifizieren.<br />
� Der soziale Raum umfasst nicht allein die sozialen Positionen, sondern auch<br />
– vermittelt durch den Habitus – Lebensstile. Das Konzept integriert auf<br />
diese Weise kulturelle Momente der Lebensführung (bei Weber bereits angedeutet<br />
durch den „Stand“), ohne dass Bourdieu die ungleichen Lebenschancen<br />
aus dem Auge verliert. Eder spricht in diesem Zusammenhang von<br />
der „kulturtheoretischen Wendung“ der Klassenanalyse (1989: 15). Verschiedentlich<br />
weisen Autoren darauf hin, dass Bourdieu damit implizit auch<br />
die Konzepte von Geiger (Schichtmentalitäten, vgl. Kap 2.3) oder Veblen<br />
(der sich mit dem Stil der „feinen Leute“ beschäftigte; s. den Hinweis in<br />
Kap. 5.1) weiter führt. Klassen <strong>und</strong> Lebensstile sind in einem Ansatz eng<br />
verknüpft.<br />
� Von den sozialen Positionen kann man aufgr<strong>und</strong> eines klassenspezifischen<br />
Habitus einen Zusammenhang zu den Lebensstilen, also zu Handlungspraktiken<br />
herstellen. Auch bei Bourdieu hat somit die Klassenzugehörigkeit<br />
Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. Der Zusammenhang ist allerdings<br />
nicht deterministisch zu verstehen. Ferner ergibt sich dadurch, dass<br />
der Habitus keineswegs vollständig bewusst ist, aus der Klassenlage nicht<br />
automatisch ein Klassenbewusstsein oder gar ein revolutionäres Potential<br />
(Eder spricht von einem „kollektiven Klassenunbewusstsein“, 1989: 17).<br />
Bourdieu bezeichnet es explizit als Fehler (etwa von Marx), „Klassen auf<br />
dem Papier“ als reale Klassen zu behandeln, also von einer objektiven Homogenität<br />
der Bedingungen auf eine vereinigte Gruppe zu schließen<br />
(1992b: 141).<br />
� Den Relationen zwischen den Klassen trägt Bourdieu Rechnung, indem er<br />
beispielsweise Distinktionsstrategien der herrschenden Klasse oder die Aufstiegsbestrebungen<br />
der Kleinbürger herausarbeitet. Es handelt sich dabei<br />
weniger um einen offenen Kampf, eine größere Rolle spielen subtile Strate-
136 6 Klassen <strong>und</strong> Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu<br />
gien, z.B. der Machterhaltung. Zu einem ökonomischen Klassenkonflikt tritt<br />
somit verstärkt ein symbolischer um Werte <strong>und</strong> legitime Standards.<br />
� Wie in anderen Klassenmodellen ist es auch für Bourdieu wichtig, Ursachen<br />
<strong>und</strong> Prozesse sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu analysieren.<br />
Am Schluss dieses Abschnitts sollen nun noch einige kritische Fragen an Bourdieus<br />
Modell genannt werden:<br />
� Ist das Modell auf andere Gesellschaften als Frankreich zu anderen Zeitpunkten<br />
als für die sechziger/siebziger Jahre übertragbar? Blasius <strong>und</strong><br />
Winkler (1989) finden beispielsweise in einer Überprüfung für Deutschland<br />
Bestätigungen („grobe Unterschiede“ zwischen den Klassen), aber auch Ergebnisse,<br />
die Fragen aufwerfen. So äußern sie methodische Kritik am Vorgehen<br />
bei der Korrespondenzanalyse, bezweifeln Unterschiede einzelner<br />
Gruppen innerhalb der Klassen <strong>und</strong> machen nicht berufstätige Gruppen,<br />
z.B. von Hausfrauen, aus, die Bourdieu nicht berücksichtigt habe.<br />
� Ist das Modell nicht letztlich doch, trotz des Verbindungsgliedes des Habitus,<br />
deterministisch angelegt, wobei insbesondere die ökonomischen Faktoren<br />
als prägend gelten? Hradil z.B. schreibt: „Für Pierre Bourdieu sind es<br />
die homogenen Lebensbedingungen einer sozialen Klasse, welche wiederum<br />
zu ‚homogenen Konditionierungen <strong>und</strong> Anpassungsprozessen’ führen<br />
<strong>und</strong> so die Handlungsdisposition ‚Habitus’ hervorbringen. Bourdieu<br />
verfolgt somit, trotz seiner unkonventionellen Wortwahl, die ganz konventionellen<br />
deterministischen Vorstellungen, die in der Klassentheorie schon<br />
immer ... vorherrschen“ (Hradil 1987: 164). Honneth kritisiert ebenfalls den<br />
„utilitaristischen Rahmen“ (1984: 162) Bourdieus als zu eng: „Die ökonomischen<br />
Zentralbegriffe ... zwingen ihn, alle Formen sozialer Auseinandersetzungen<br />
nach dem Typus von Verteilungskämpfen zu begreifen, obwohl<br />
doch der Kampf um die soziale Geltung von Moralmodellen ganz offensichtlich<br />
einer anderen Logik gehorcht.“ (a.a.O.: 161). A. Weiß stellt in<br />
Frage, warum heterogene soziale <strong>Ungleichheit</strong>en in eine einheitliche<br />
Struktur des sozialen Raums münden sollten (2004: 217).<br />
� Berücksichtigt das Modell sozialen Wandel in ausreichendem Maße? Einerseits<br />
gibt es ja beispielsweise den Aspekt der sozialen Laufbahnen. Andererseits<br />
schließt das Konzept zwar nicht aus, dass sich der Habitus wandeln<br />
kann (insbesondere in differenzierten, modernen Gesellschaften), doch<br />
schließt er auch Momente der Stabilität <strong>und</strong> Trägheit ein, ein Habitus ändert<br />
sich gerade nicht von heute auf morgen gr<strong>und</strong>legend. Wie kann das Modell<br />
dann den Wandel genau erklären? (vgl. dazu auch den Abschnitt zu Bourdieu<br />
in Kap. 9)
6.3 Einordnung <strong>und</strong> Kritik 137<br />
� H.-P. Müller weist auf einige Unklarheiten des Modells <strong>und</strong> weitere Kritikpunkte<br />
hin, z.B. sei der Zusammenhang zwischen Klassen <strong>und</strong> Berufsgruppen<br />
recht locker ohne nähere Begründungen (ist z.B. der Habitus klassen-,<br />
klassenfraktions- oder berufsgruppenspezifisch?). Bourdieu nennt die Bedeutung<br />
der Familie, ohne in der Konsequenz Sozialisationsprozesse genauer<br />
zu untersuchen. Weil zumindest „Die feinen Unterschiede“ wenig auf<br />
qualitativem Material beruhen, erfährt man in dieser Untersuchung wenig<br />
über die Gebrauchsweisen der Kultur. Funktionieren kulturelles <strong>und</strong> soziales<br />
Kapital nach der Logik des ökonomischen Kapitals oder gibt es nicht<br />
doch größere Wesensunterschiede? etc. (Müller 1992: 342-351).<br />
Obwohl einige Kritikpunkte hier lediglich angedeutet werden konnten, wird<br />
doch deutlich, dass andere Autoren Bourdieus Konzept durchaus ernst nehmen<br />
<strong>und</strong> Anregungen kritisch aufnehmen. Ein wichtiger Anwendungsbereich ist die<br />
Analyse in Deutschland nach wie vor ausgeprägter Bildungsungleichheiten (vgl.<br />
z.B. Becker/Lauterbach 2010), für die etwa die Konzepte der differenzierten<br />
Kapitalarten <strong>und</strong> des Habitus genutzt werden (vgl. z.B. Engler/Krais 2004,<br />
Georg 2006, Kramer/Helsper 2010, Schmitt 2010).<br />
Lesehinweise:<br />
� Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales<br />
Kapital; in: Kreckel, Reinhard (Hg.): <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>en, <strong>Soziale</strong><br />
Welt Sonderband 2, Göttingen: Schwartz, S. 183-198<br />
� Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main:<br />
Suhrkamp, 9. Auflage 1997 (frz. 1979), Kap. 5-7<br />
� Sprachlich etwas einfacher: Bourdieu, Pierre (1992a): Die verborgenen<br />
Mechanismen der Macht, hg. von Margareta Steinrücke, Hamburg: VSA<br />
(Taschenbuchausgabe 2005)<br />
� Als Sek<strong>und</strong>ärliteratur siehe die Hinweise in Fußnote 23 sowie als<br />
Hintergr<strong>und</strong>information auch die DVD „Soziologie ist ein Kampfsport.<br />
Pierre Bourdieu im Porträt“ von Pierre Carles, filmedition suhrkamp, Frankfurt<br />
am Main: Suhrkamp 2008
7.1 <strong>Soziale</strong> Lagen als <strong>Ungleichheit</strong>skonzept 139<br />
7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
7.1 <strong>Soziale</strong> Lagen als <strong>Ungleichheit</strong>skonzept<br />
Das Konzept sozialer Lagen hat das Ziel, alternativ zu Klassen <strong>und</strong> Schichten ein<br />
Modell zu entwickeln, das mehr Dimensionen der sozialen <strong>Ungleichheit</strong> erfasst<br />
<strong>und</strong> das damit für alle (erwachsenen) Gesellschaftsmitglieder alle relevanten<br />
Merkmale berücksichtigen kann. Es soll auf diese Weise die Berufszentriertheit,<br />
die z.B. auch erweiterten Schichtmodellen noch als verengte Sichtweise vorgeworfen<br />
wird, überwinden. Hradil definiert „soziale Lagen“ allgemein wie folgt:<br />
Es sind „typische Kontexte von Handlungsbedingungen, die vergleichsweise<br />
gute oder schlechte Chancen zur Befriedigung allgemein anerkannter Bedürfnisse<br />
gewähren“ (1987: 153). Charakteristische Merkmale eines Lagemodells<br />
sind:<br />
� Es ist mehrdimensional. Als Oberdimensionen schließt es neben ökonomischen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>en z.B. auch wohlfahrtsstaatlich erzeugte (z.B. soziale<br />
Absicherung, Arbeits- <strong>und</strong> Freizeitbedingungen) <strong>und</strong> soziale <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
(z.B. soziale Beziehungen, Privilegien/Diskriminierungen) mit ein. Hradil<br />
erläutert: „So mag beispielsweise die Lebenslage eines Menschen durch geringe<br />
Einkünfte, viel Freizeit, eine billige, ges<strong>und</strong>heitlich <strong>und</strong> ökologisch<br />
gut gelegene Wohnung, hohe Integration in die Gemeinde, schlechte Arbeitsbedingungen<br />
im Schichtdienst <strong>und</strong> geringe Qualifikation gekennzeichnet<br />
sein.“ (1999: 40). Statusinkonsistenzen können Forscher auf diese<br />
Weise berücksichtigen.<br />
� Die Dimensionen sind nicht additiv miteinander verb<strong>und</strong>en. Hradil unterscheidet<br />
zwischen primären oder dominierenden Ressourcen (wenn jemand<br />
z.B. sehr viel oder sehr wenig Geld zur Verfügung hat, ist dies ein wichtiger<br />
Hinweis auf die Dominanz dieses Merkmals) <strong>und</strong> weniger wichtigen Dimensionen<br />
für jeweils bestimmte Lagen. In einer Lage könnte also das Geld<br />
primäre Ressource sein, in einer anderen dagegen die formale Bildung (die<br />
„dominante“ Ressource erinnert an T. Geigers dominantes Schichtungsprinzip,<br />
das anstatt für eine Epoche nun jeweils für eine soziale Lage angewandt<br />
wird). Der Ansatz will Kontexteffekte <strong>und</strong> Kompensationsmöglichkeiten<br />
von Dimensionen untereinander durch diese nicht additive Verknüpfung der<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_7,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
140 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
Dimensionen berücksichtigen. Schwenk (1999) hält es in einer empirischen<br />
Umsetzung für schwierig, Gewichtungen einzelner Merkmale im Vorhinein<br />
festzulegen. Er will daher die Dimensionen vorläufig gleichgewichtig behandeln,<br />
eine spätere Untersuchung von Lage-Konstellationen kann dann<br />
gegebenenfalls die Dominanz bestimmter Lebensbedingungen herausstellen<br />
(1999: 92f.). Das Ziel, charakteristische Lage-Profile mit lebensweltlicher<br />
Nähe zu entwickeln, behält er bei.<br />
� Lagen bilden in erster Linie die „objektiven“ Lebensbedingungen ab. Wie<br />
die Menschen die ungleichen Lebensbedingungen wahrnehmen <strong>und</strong> in einer<br />
konkreten Handlungspraxis mit ihnen umgehen, müsste ein weiterer Untersuchungsschritt<br />
klären (Hradil schlägt beispielsweise vor, die Lagen mit<br />
Milieus zu verknüpfen, welche als Filter oder Verstärker der ungleichen<br />
Lebensbedingungen wirken können; 1987: Kap. 4.3). Während etwa die<br />
Lebensstilforschung einen Schwerpunkt auf die Handlungspraxis legt <strong>und</strong><br />
oft auf dieser Basis gebildete Typen auf mögliche Einflussfaktoren prüft,<br />
setzen die sozialen Lagen auf der „anderen“ Seite an. Eine sorgfältige Beschreibung<br />
der komplexen Lebenslage ist danach für weitere Forschungen<br />
nützlicher als ein Arbeiten mit einzelnen Merkmalen (z.B. Bildungsabschluss)<br />
oder sozialen Schichten (so auch B. Geissler 1994).<br />
� Aus der Konstruktion der Lagen ergibt sich, dass diese nicht notwendig<br />
hierarchisch übereinander angeordnet sein müssen. Zwar geben die Vertreter<br />
die Vorstellung eines Strukturmodells nicht auf, es lassen sich etwa eindeutig<br />
vorteilhafte bzw. nachteilige Lebensbedingungen identifizieren. 25<br />
Von einer strikt vertikalen Anordnung gehen sie jedoch nicht aus.<br />
Obwohl Hradil den Begriff der sozialen Lage nicht „erf<strong>und</strong>en“ hat (z.B. gibt es<br />
ihn schon bei F. Engels, M. Weber <strong>und</strong> in einem sozialpolitischen Kontext bei G.<br />
Weisser <strong>und</strong> O. Neurath; s. Hradil 1999: 40; Schwenk 1999: Kap. II.1), hat er ihn<br />
innerhalb neuerer Konzepte zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong> vor allem durch seine<br />
Veröffentlichung von 1987: „Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen<br />
Gesellschaft. Von Klassen <strong>und</strong> Schichten zu Lagen <strong>und</strong> Milieus“ bekannt gemacht.<br />
Der Gedanke der Mehrdimensionalität (hier insbesondere auf der Strukturebene)<br />
ist dabei charakteristisch, aber ebenfalls nicht neu, wenn man sich die<br />
vorigen Kapitel in Erinnerung ruft (z.B. Weber, Geiger, Lenski; bei den neueren<br />
Ansätzen z.B. Bourdieu). Bereits die früheren Autoren standen vor der Schwierigkeit,<br />
die vielfältigen Dimensionen in ein (noch übersichtliches) Strukturmodell<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> umzusetzen. Hradil konkretisiert seine Überlegungen<br />
25 Letzteres Phänomen (wenn also nachteilige Lebensbedingungen kumulieren) beschreiben andere<br />
Autoren (unter anderem in der Armutsforschung) auch mit dem Begriff der „Exklusion“ (vgl. Kap.<br />
7.2 in diesem Buch; Kronauer 2010).
7.1 <strong>Soziale</strong> Lagen als <strong>Ungleichheit</strong>skonzept 141<br />
in einem Modell sozialer Lagen mit primären <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ären Dimensionen. Die<br />
Lagebezeichnungen rücken dabei die Stellung im oder zum Erwerbsleben<br />
weiterhin in den Vordergr<strong>und</strong> (Abbildung 22).<br />
Abbildung 22: <strong>Soziale</strong> Lagen nach Hradil<br />
Ungleiche Lebensbedingungen <strong>und</strong> ihre Ausprägungen<br />
Name der Lage<br />
Primäre<br />
Dimensionen<br />
Sek<strong>und</strong>äre Dimensionen<br />
Macht-Elite Formale Macht 1 Geld 1-2, Formale Bildung 1-2, Prestige 1-2<br />
Reiche Geld 1 Formale Bildung 1-3, Prestige 1-2, Formale Macht 1-3<br />
Bildungselite Formale Bildung 1 Geld 2-3, Prestige 1-2, Formale Macht 2-3<br />
Manager Formale Macht 2<br />
Geld 1-2, Formale Bildung 1-2, Prestige 2, Arbeitsbedingungen<br />
2-4, Freizeitbedingungen 3-4<br />
Experten<br />
Geld 1-3, Prestige 2-3, Formale Macht 2-4, Arbeits-<br />
Formale Bildung 2<br />
bedingungen 2-4, Freizeitbedingungen 2-4<br />
Studenten<br />
Geld 3-5, Arbeitsbedingungen 1-3, Freizeitbedin-<br />
Formale Bildung 3<br />
gungen 1-3<br />
„Normalverdiener“<br />
mit geringen Risiken<br />
„Normalverdiener“<br />
mit mittleren<br />
Risiken<br />
„Normalverdiener“<br />
mit hohen Risiken<br />
Rentner<br />
Arbeitslose<br />
(langfristig)<br />
Arme<br />
(keine<br />
Erwerbspersonen)<br />
Randgruppen<br />
Geld 3-4<br />
Risiken 1-2<br />
Geld 3-4<br />
Risiken 3-4<br />
Geld 3-4<br />
Risiken 5-6<br />
Geld 2-4<br />
<strong>Soziale</strong> Rollen 5-6<br />
Geld 4-5<br />
Risiken 5-6<br />
Geld 6<br />
Diskriminierung 5-<br />
6<br />
Formale Bildung 3-4, Prestige 3-4, Formale Macht 3-4,<br />
Arbeitsbedingungen 1-3, Freizeitbedingungen 1-2,<br />
Wohnbedingungen 2-3<br />
Formale Bildung 3-4, Prestige 3-4, Formale Macht 3-4,<br />
Arbeitsbedingungen 2-4, Freizeitbedingungen 2-4,<br />
Wohnbedingungen 2-4, <strong>Soziale</strong> Absicherung 2-4<br />
Formale Bildung 4-5, Prestige 4-5, Formale Macht 4-5,<br />
Arbeitsbedingungen 3-5, Freizeitbedingungen 2-4,<br />
Wohnbedingungen 3-4, <strong>Soziale</strong> Absicherung 3-5<br />
Prestige 4, <strong>Soziale</strong> Absicherung 3-5, Freizeitbedingungen<br />
3-4, Wohnbedingungen 2-5, Demokratische Institutionen<br />
4-5, <strong>Soziale</strong> Beziehungen 3-5<br />
Formale Bildung 4-5, Prestige 4-5, <strong>Soziale</strong> Absicherung<br />
4, Wohnbedingungen 2-5, Demokratische Institutionen<br />
4-5, <strong>Soziale</strong> Beziehungen 3-5, <strong>Soziale</strong> Rollen 4-<br />
5<br />
Prestige 5, <strong>Soziale</strong> Absicherung 4-5, Freizeitbeziehungen<br />
3-5, Wohnbedingungen 4-5, Demokratische Institutionen<br />
4-5, <strong>Soziale</strong> Beziehungen 3-5<br />
Geld 3-5, Formale Bildung 4-5, <strong>Soziale</strong> Absicherung 3-<br />
5, Wohnbedingungen 3-6, Demokratische Institutionen<br />
4-6, <strong>Soziale</strong> Rollen 4-6<br />
Quelle: Hradil 1987 bzw. Schwenk 1999: 82. Die Ausprägungen der Dimensionen reichen<br />
von 1=sehr gut bis 6=sehr schlecht.
142 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
Schwenk hat eine systematische <strong>und</strong> umfassende empirische Anwendung des<br />
Modells von Hradil zum Ziel (1999: 87). Er zieht in einer Sek<strong>und</strong>äranalyse<br />
sieben Merkmale (die jeweils einen Index aus mehreren Variablen darstellen) für<br />
eine Clusteranalyse sozialer Lagen heran (zu seinen Methoden im Einzelnen<br />
Schwenk 1999: III 1.3). Für die sozialen Lagen ergeben sich typische Profile.<br />
Beispielsweise bildet „W6“ eine Lage mit meist unterdurchschnittlichen<br />
Ausprägungen der Merkmale, z.B. bei der Bildung, dem Einkommen <strong>und</strong><br />
insbesondere bei der Wohnungsausstattung. Diese Lage umfasst oft ältere Nicht-<br />
Erwerbstätige oder Arbeiter, häufig Frauen mit geringer Bildung, die in<br />
großstädtischen Gebieten leben, schlecht sozial eingeb<strong>und</strong>en, häufig katholisch<br />
sind, selten SPD wählen <strong>und</strong> insgesamt eine benachteiligte soziale Lage bilden<br />
(1999: 154f.).<br />
Abbildung 23: Profil einer sozialen Lage nach Schwenk<br />
Quelle: Schwenk 1999: 154<br />
Auf bestimmte andere (soziodemographische) Merkmale wie Alter, Geschlecht<br />
oder Erwerbstätigkeit untersucht allerdings auch Schwenk die soziale Lage erst<br />
im Nachhinein. Eine andere Abweichung gegenüber dem abstrakten Modell<br />
besteht darin, dass nicht allein „objektive“ Merkmale in die Konstruktion der<br />
Lagen eingehen. So gehört zum Merkmal „Anomie“ auch die Einschätzung, ob<br />
man sich oft einsam fühle (Schwenk 1999: 107). Daraus lässt sich schließen,<br />
dass Lagemodelle zwar komplexer <strong>und</strong> weniger auf Berufstätigkeit konzentriert
7.1 <strong>Soziale</strong> Lagen als <strong>Ungleichheit</strong>skonzept 143<br />
sind als Schichtmodelle, dass man sie im Einzelnen auf ihre Konsequenz im<br />
Hinblick auf ihre Ansprüche jedoch jeweils überprüfen sollte.<br />
Schwenk fasst die Lagen (neun für Ost- <strong>und</strong> zehn für Westdeutschland)<br />
aufgr<strong>und</strong> ihrer Komplexität nicht zu einem einzigen <strong>Ungleichheit</strong>smodell für<br />
Deutschland zusammen; er unterscheidet vorteilhafte, nachteilige <strong>und</strong> kombinierte<br />
Lebensbedingungen. Solch eine Struktur dient damit eher als Basis für weitere<br />
Analysen, z.B. für die Gegenüberstellung von sozialen Lagen <strong>und</strong> Lebensstilen<br />
oder Milieus (diese müsste man dann allerdings – so ist zu ergänzen –<br />
trennscharf von den sozialen Lagen abgegrenzt konstruieren).<br />
Den Begriff der sozialen Lagen verwenden außerdem etwa auch Habich/Noll<br />
(2008). Sie verstehen soziale Lagen in einem weiteren Sinne als Schichten oder<br />
Klassen, insofern sie<br />
„weitere <strong>Ungleichheit</strong>sdimensionen [umfassen], darunter auch so genannte neue soziale<br />
<strong>Ungleichheit</strong>en, die alte <strong>Ungleichheit</strong>en überlagern, verstärken oder abschwächen<br />
können. Daher werden neben objektiven Merkmalen der Benachteiligung zum<br />
Teil auch subjektive Merkmale betrachtet“ (Habich/Noll 2008: 173).<br />
Unter anderem wird nach dem Erwerbsstatus (inklusive einiger nicht<br />
erwerbstätiger Gruppen, z.B. Rentner), dem Geschlecht, der Region (Ost-/Westdeutschland)<br />
<strong>und</strong> dem Alter differenziert (Abbildung 24). 26<br />
26 Vgl. zur begrifflichen Abgrenzung der Lagemodelle von Hradil bzw. Schwenk einerseits <strong>und</strong><br />
Habich/Noll andererseits Hradil 1999: 367-369, Schwenk 1999: 47-50, 59.
144 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
Abbildung 24: <strong>Soziale</strong> Lagen in West- <strong>und</strong> Ostdeutschland 2006, in %<br />
Quelle: Habich/Noll 2008: 174<br />
Kritisch lassen sich, ohne auf die Details der Modelle einzugehen, an dieser<br />
Stelle zwei Punkte anführen: Zum einen verweist z.B. H.-P. Müller darauf, dass<br />
Hradils Modell sozialer Lagen für eine einfühlsame Deskription von empirischen<br />
Lebensverhältnissen gut geeignet sein möge, jedoch keinen Erklärungsbeitrag<br />
leiste, also z.B. nichts darüber aussage, wie Lagen mit Milieus verknüpft sind<br />
(Müller 1992: 48). Geißler formuliert noch schärfer, dass die Milieus frei über<br />
den Lagen schwebten <strong>und</strong> Hradil den Zusammenhang zwischen Struktur- <strong>und</strong><br />
Handlungsebene nicht herstelle (1998: 222). Hradil sieht dagegen den<br />
deskriptiven Anspruch nicht einseitig als Nachteil. Um die Vielfalt der<br />
Bestimmungsgründe sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu erfassen, komme den<br />
beschreibenden Modellen „logische <strong>und</strong> zeitliche“ Priorität zu (1987: 71).<br />
Ebenso ist Noll der Ansicht, dass verallgemeinernde Aussagen über die<br />
gegenwärtige Struktur sozialer <strong>Ungleichheit</strong> nicht angemessen sind, sondern dass<br />
detaillierte komparative Studien unter der Berücksichtigung mehrerer Staaten<br />
benötigt werden (Noll 2001: 426). Als einen zweiten kritischen Punkt gegen<br />
(Hradils) Lagemodell sieht Müller, dass sich gerade die nichts ausschließende<br />
Komplexität empirisch schwer umsetzen lasse (1992: 48). Schwenks Arbeit ist<br />
ein Versuch, dieses mögliche Manko zu widerlegen, doch zeigt sich an seiner<br />
Umsetzung des Konzepts, dass er empirisch einige Eingrenzungen machen<br />
musste. Beispielsweise konnte er keine primären Ressourcen oder andere
7.1 <strong>Soziale</strong> Lagen als <strong>Ungleichheit</strong>skonzept 145<br />
systematische Gewichtungen festlegen. Auch muss man eine Auswahl<br />
konstituierender Merkmale treffen (z.B. berücksichtigt Schwenk – dies übrigens<br />
im Unterschied zu Geißlers Schichtmodell (Kap. 4.1) – die Nationalität nicht als<br />
Merkmal). Der Unterschied, den Hradil zwischen Lagemodellen macht, die die<br />
unmittelbar erfahrbaren Lebensbedingungen eines Menschen erfassen <strong>und</strong><br />
solchen (z.B. vom WZB), die Bestimmungsgründe von Lebensbedingungen<br />
festlegten, von denen man nur mittelbar auf die Lebensbedingungen schließen<br />
könne (1999: 368f.), wird in einer konkreten Umsetzung dann schnell relativ.<br />
Zum Einfluss so genannter „neuer“ oder „horizontaler“ Merkmale sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
soll an dieser Stelle noch eine Anmerkung gemacht werden. Weil sich<br />
die Ausführungen in diesem Rahmen vor allem darauf konzentrieren, wie die<br />
einzelnen Konzepte soziale <strong>Ungleichheit</strong> als Modell erfassen <strong>und</strong> welche theoretischen<br />
Ansprüche damit verb<strong>und</strong>en sind, kann nicht im Einzelnen darauf eingegangen<br />
werden, welche dieser Merkmale der eine oder andere Ansatz besonders<br />
oder nur nachrangig/gar nicht berücksichtigt <strong>und</strong> wie genaue empirische Ergebnisse<br />
dazu aussehen (vgl. zu sozialstrukturellen Informationen im Überblick z.B.<br />
Hradil 2001b, Schäfers 2004, Klein 2005, Geißler 2011, Statistisches <strong>B<strong>und</strong></strong>esamt<br />
2008, Huinink/Schröder 2008, Rössel 2009; zur Sozialstrukturanalyse im<br />
europäischen Vergleich einführend Hradil 2006a, Mau/Verwiebe 2009).<br />
Auf die Rolle des Wohlfahrtsstaates etwa als <strong>Ungleichheit</strong>sdimension hat<br />
unter anderem bereits Lepsius (1979) aufmerksam gemacht, der Webers Klassen<br />
durch „Versorgungsklassen“ ergänzt (die <strong>Ungleichheit</strong>en durch wohlfahrtsstaatiche<br />
Leistungen <strong>und</strong> Zugang zu öffentlichen Gütern <strong>und</strong> Dienstleistungen abbilden).<br />
Esping-Andersen (1990) unterscheidet mehrere Typen des Wohlfahrtsstaates,<br />
die soziale <strong>Ungleichheit</strong> beeinflussen. Der Stellenwert von Merkmalen<br />
wie z.B. Alter, Geschlecht, Wohnort oder Ethnie ist in neueren Modellen (<strong>und</strong><br />
zwar nicht nur in Lagemodellen!) generell höher, als es bei traditionellen Klassen-<br />
<strong>und</strong> Schichtkonzepten der Fall war – die selbstverständliche Entsprechung<br />
von Klassen- <strong>und</strong> Schichtmerkmalen einerseits <strong>und</strong> anderen <strong>Ungleichheit</strong>smerkmalen<br />
andererseits oder deren völlige Vernachlässigung war ja gerade auch ein<br />
Kritikpunkt an den älteren Modellen gewesen (vgl. Kap. 3.6).<br />
Lebensstil- <strong>und</strong> Milieumodelle betonen beispielsweise oft den prägenden<br />
Einfluss von Alter <strong>und</strong> Geschlecht. In Schwenks Lagemodell gehen Wohn(umwelt)-Bedingungen<br />
ein, in das Lagemodell von Habich/Noll mögliche Ost-West-<br />
Unterschiede, <strong>und</strong> R. Geißler unterscheidet in seinem Schichtmodell in- <strong>und</strong><br />
ausländische Gruppen. Weitere <strong>Ungleichheit</strong>sfaktoren sind etwa der mit dem<br />
Geldwohlstand konkurrierende Zeitwohlstand (Rinderspacher 2002), die „längst<br />
tot geglaubte Dimension“ des Unterschieds zwischen städtischen <strong>und</strong> peripheren<br />
ländlichen Gebieten (Barlösius/Neu 2002: 1) oder auch die Berücksichtigung der
146 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
subjektiven Wahrnehmung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en (z.B. Faik/Becker 2009,<br />
Sachweh 2010).<br />
Die Berücksichtigung des Geschlechts wird in <strong>Ungleichheit</strong>skontexten seit<br />
längerer Zeit eingefordert (vgl. z.B. Beer 1987, Frerichs/Steinrücke 1993, Cyba<br />
2000, Gottschall 2000, Schäfgen 2000, Aulenbacher et al. 2010). Eine ausdrücklich<br />
Mehrdimensionalität anstrebende Richtung mit besonderer Berücksichtigung<br />
des Geschlechts ist dabei die Intersektionalitätsforschung (Klinger et al.<br />
2007, Winker/Degele 2009, Lutz et al. 2010). Wie bei einer Straßenkreuzung<br />
überschneiden sich Diskriminierungsformen wie Klasse, Geschlecht <strong>und</strong> Ethnie,<br />
sind also nicht nur additiv miteinander verb<strong>und</strong>en – wenn beispielsweise USamerikanische<br />
schwarze Jugendliche aus der Unterschicht ihre Männlichkeit hervorheben,<br />
um einen Statusgewinn zu erzielen oder wenn (teilweise illegalisierte)<br />
Migrantinnen als günstige Pflegekräfte tätig sind (zu Letzterem s. Lutz 2007).<br />
Winker/Degele (2009) unterscheiden als zentrale Kategorien neben Geschlecht,<br />
Klasse <strong>und</strong> Ethnie/Rasse zudem den Körper, wozu Aspekte wie (zugeschriebene)<br />
Attraktivität, eine Behinderung, das Alter etc. zählen, dies zudem auf den<br />
drei Ebenen der Sozialstruktur, der Repräsentationen <strong>und</strong> der Identität. Wieder<br />
zeigt sich: Ein umfassendes Modell sozialer <strong>Ungleichheit</strong> steht vor der Aufgabe,<br />
relevante Merkmale auszuwählen <strong>und</strong> ihren Stellenwert zu gewichten (zur Gewichtung<br />
von <strong>Ungleichheit</strong>sdimensionen vgl. auch Berger/Schmidt 2004).<br />
Schließlich ist im Kontext einer mehrdimensionalen Erfassung von <strong>Ungleichheit</strong><br />
auf die internationale Perspektive aufmerksam zu machen. Ansätze,<br />
soziale <strong>Ungleichheit</strong> auch in einem europäischen Rahmen zu sehen, gibt es z.B.<br />
bei M. Heidenreich (2006). Er selbst äußert sich zurückhaltend optimistisch zu<br />
einer Europäisierung von <strong>Ungleichheit</strong>sdiskursen <strong>und</strong> Sozialpolitiken, ohne dass<br />
er nationale Blickrichtungen der <strong>Ungleichheit</strong>sforschung damit als überholt ansähe<br />
(2006: 14/15). Kreckel geht in seinem Plädoyer für eine internationale <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />
weiter, er spricht von einer nicht nur <strong>Länder</strong> vergleichenden,<br />
sondern staatenübergreifenden Perspektive, z.B. wenn der Zusammenhang<br />
von Weltökonomie <strong>und</strong> globaler <strong>Ungleichheit</strong> analysiert wird. Und selbst<br />
„wenn die soziologische <strong>Ungleichheit</strong>sforschung ihr empirisches Augenmerk auf<br />
lokale oder nationale <strong>Ungleichheit</strong>sverhältnisse konzentriert, darf sie deren …<br />
globale Bedingtheit nicht außer Acht lassen“ (Kreckel 2006: 32). Diese<br />
übergreifende Sichtweise eines „transnationalen“ Raums findet sich beispielsweise<br />
auch bei Berger/Weiß (2008) oder Pries (2010). U. Beck (s. Kap. 8) ist<br />
ebenfalls ein prominenter Vertreter einer kosmopolitischen Perspektive „jenseits<br />
des methodologischen Nationalismus“ (Beck/Grande 2010; vgl. auch Beck 2008,<br />
Beck/Beck-Gernsheim 2010).
7.2 Prekäre Lagen <strong>und</strong> Exklusion 147<br />
Zusammenfassung<br />
Kennzeichnend für mehrdimensionale <strong>Ungleichheit</strong>smodelle wie dem der<br />
sozialen Lagen oder der Intersektionalität ist zusammenfassend, dass sie durch<br />
die Berücksichtigung vielfältiger <strong>Ungleichheit</strong>smerkmale eine differenzierte Beschreibung<br />
von („objektiven“) Lebensbedingungen anstreben <strong>und</strong> somit einen<br />
Vorteil auch gegenüber neueren Schichtmodellen beanspruchen, die nach wie<br />
vor auf die Berufstätigkeit <strong>und</strong> vorrangig auf die vertikale Ebene sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
konzentriert seien.<br />
7.2 Prekäre Lagen <strong>und</strong> Exklusion<br />
Im Zusammenhang mit Lebensstilen <strong>und</strong> Milieus wurde angesprochen, dass die<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sdiskussion in den letzten Jahren (wieder) dazu neigt, vertikale<br />
<strong>Ungleichheit</strong>en zu betonen <strong>und</strong> somit gelegentlich z.B. Lebensstilanalysen, die<br />
eine gewisse – nicht vollständige – Lösung individueller Handlungsmuster von<br />
Klassen- oder Schichtzugehörigkeiten postulieren, als begrenzte Phase im <strong>Ungleichheit</strong>sdiskurs<br />
anzusehen. Barlösius etwa konstatiert, die Strukturierungsthese<br />
habe seit Ende der 1990er Jahre an Plausibilität zurückgewonnen (2004:<br />
19), Vester geht mit recht großer Selbstverständlichkeit von einer „Wiederkehr<br />
sozialer Klassenunterschiede“ aus (2005: 21), in vielen Veröffentlichungen findet<br />
man weitere Beispiele. 27 Eine vorläufige Zuspitzung, die auch die öffentliche<br />
Diskussion über <strong>Ungleichheit</strong> in den Massenmedien erreichte, ist in Begriffen<br />
wie Prekariat (als Wortkombination von prekär <strong>und</strong> Proletariat) bzw. Prekarität<br />
oder „Prekarisierung“ (Castel/Dörre 2009; Manske/Pühl 2010), Exklusion,<br />
Ausgrenzung von „Überflüssigen“, „Ausgeschlossenen“ (Bude/Willisch 2006,<br />
2008, Bude 2008, Kronauer 2010) oder auch einer „neuen Unterschicht“ (Chassé<br />
2009) zu sehen. Gemeinsam ist diesen Begrifflichkeiten, dass sie den Blick auf –<br />
teilweise extrem – benachteiligte soziale Lagen richten, wobei soziale Lage hier<br />
in einem weiten Sinne gemeint ist, nicht als spezifisches, im vorigen Abschnitt<br />
erläutertes Modell. Diese Perspektive auf Benachteiligungen wirkt jedoch auch<br />
27 Dass damit nicht zwingend eine eindimensional gefasste Restrukturierung verb<strong>und</strong>en sein muss,<br />
zeigen beispielhaft Lessenich/Nullmeier, die in den von ihnen diskutierten multiplen Spaltungen<br />
innerhalb der Gesellschaft, z.B. zwischen Arm <strong>und</strong> Reich oder sicheren <strong>und</strong> prekären Lagen, „kein<br />
eindeutig-eindimensionales Muster sozialer Über- <strong>und</strong> Unterprivilegierungslagen erkennen“ (2006:<br />
15) Dies gilt auch dann, wenn im Weiteren festgestellt wird, dass sich sicherlich keine Wiederkehr<br />
der Klassengesellschaft vollziehe, dass aber „die Diagnose bloß nebeneinander existierender<br />
Spaltungen, die nicht kumulieren …, die potentiellen Wirkungen wachsender sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
eher zu unterschätzen [scheine]“ (a.a.O.: 15/16).
148 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
auf allgemeine Vorstellungen von sozialer <strong>Ungleichheit</strong> in einer Gesellschaft<br />
zurück.<br />
Bedingungsfaktoren dieser Veränderungen im Diskurs sind unter anderem –<br />
dies kann hier nur in Stichworten angedeutet werden – in der gestiegenen Arbeitslosigkeit<br />
zu sehen, damit im Zusammenhang in Prozessen der Flexibilisierung<br />
<strong>und</strong> Deregulierung von Erwerbsarbeit, was sich z.B. auf die Arbeitszeit,<br />
die Arbeitsplatzsicherheit, atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit<br />
etc. richtet. „Prekär“ bezog <strong>und</strong> bezieht sich zu einem Teil insbesondere auf die<br />
Prekarität von Arbeitsverhältnissen in diesem Sinne (vgl. Dörre 2005,<br />
Brinkmann/Dörre/Röbenack 2006). Schließlich ist die Krise des Wohlfahrtsstaats,<br />
der sozialen Sicherungssysteme, zu nennen.<br />
Bei der Verwendung von Begriffen wie Ausgrenzung <strong>und</strong> Exklusion richtet<br />
sich der Blick nicht auf Benachteiligungen im Allgemeinen, sondern die Begriffe<br />
deuten darauf hin, dass eine Grenze überschritten worden ist, hinter der es den<br />
Benachteiligten nicht allein deutlich schlechter geht als einem – wie auch immer<br />
bestimmten – Durchschnitt der Bevölkerung, sondern hinter der sie nicht mehr<br />
eindeutig zur Gesellschaft hinzugehören, in dem Sinne, dass sie ausgeschlossen<br />
sind von vielen Konsummöglichkeiten <strong>und</strong> von gesellschaftlicher Teilhabe. Umgekehrt<br />
werden sie für ein Funktionieren des gesellschaftlichen Ganzen scheinbar<br />
auch nicht zwingend benötigt, wenn z.B. ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt<br />
dauerhaft keine Nachfrage findet (zu „Überflüssigen“ siehe auch Hark<br />
2005). Exklusion zielt in der Armutsforschung (vgl. Barlösius/Ludwig-Mayerhofer<br />
2001) außerdem oft darauf ab, kumulierende Benachteiligungen zu erfassen,<br />
wenn z.B. der Verlust der Arbeitsstelle dazu führt, dass man weniger konsumieren<br />
kann, in eine kleinere Wohnung umziehen muss, sein Auto verkauft <strong>und</strong><br />
schließlich weniger soziale Kontakte hat, was wiederum eine schlechte Ausgangsbedingung<br />
dafür darstellt, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Schließlich<br />
bildet Exklusion im Begriffspaar Inklusion – Exklusion innerhalb der Differenzierungstheorie<br />
eine Möglichkeit, die vorrangige Perspektive einer funktionalen<br />
Differenzierung von Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme mit Aspekten der<br />
(vertikalen) sozialen <strong>Ungleichheit</strong> zu verknüpfen (Luhmann 1997: 618-634,<br />
Göbel/Schmidt 1998, Schimank 1998, Barlösius 2004: 186-210, Schwinn 2004,<br />
2007, Farzin 2006, Stichweh/Windolf 2009, Münch 2009). Exklusion bedeutet<br />
differenzierungstheoretisch im engeren Sinne zunächst, dass Personen aus der<br />
Blickrichtung von Teilsystemen nur in einer ganz bestimmten Weise<br />
wahrgenommen, inkludiert, werden, nämlich hinsichtlich ihres binären Codes.<br />
Dies bedeutet für das Ges<strong>und</strong>heitssystem etwa, dass jemand nur danach beurteilt<br />
wird, ob er krank oder ges<strong>und</strong> ist. Seine Bildungsqualifikation oder ob er<br />
zugleich in einen Rechtsstreit verwickelt oder Wähler ist, spielt hier keine Rolle.<br />
Richtet sich das Teilsystem allerdings in seiner spezifischen Ausrichtung nicht
7.2 Prekäre Lagen <strong>und</strong> Exklusion 149<br />
an alle Gesellschaftsmitglieder, so ist dies begründungspflichtig, daher wurden in<br />
modernen Gesellschaften solche prinzipiellen Exklusionen reduziert (Marshall<br />
1992). Beispielsweise wurde im Zeitverlauf immer mehr Gruppen das Wahlrecht<br />
zuerkannt, der Ausschluss unter 18jähriger auch heutzutage stützt sich darauf,<br />
dass Kinder <strong>und</strong> Jugendliche unter 18 Jahren noch nicht wahlmündig seien.<br />
Diese Sicht von Exklusion als noch nicht inkludiert im historischen Verlauf ist<br />
zu unterscheiden von Ausgrenzungen dort, wo Zugangsrechte prinzipiell gewährt<br />
waren, z.B. beim dauerhaften Verlust des Arbeitsplatzes. Da es diese<br />
Exklusionsformen aber real gibt, bietet es sich über die Begriffe der Exklusion<br />
<strong>und</strong> Inklusion an, nach Verbindungen zwischen der gesellschaftlichen<br />
Strukturierung durch funktionale Differenzierung <strong>und</strong> durch soziale <strong>Ungleichheit</strong><br />
zu suchen. Solche Verbindungen werden sowohl theoretisch hergestellt (z.B.<br />
durch Schwinn 2005 oder Stichweh 2005: 163-196) als auch teilweise empirisch<br />
hinterfragt (z.B. Burzan/Schimank 2004 <strong>und</strong> Burzan et al. 2008, dort werden<br />
Inklusionsprofile als Muster der Inklusion in die verschiedenen gesellschaftlichen<br />
Teilsysteme <strong>und</strong> deren Prägung durch die soziale Lage untersucht).<br />
Exklusion als Ausgrenzung aus zentralen gesellschaftlichen Zusammenhängen<br />
ist also Thema der allgemeinen <strong>Ungleichheit</strong>s- <strong>und</strong> der Armutsforschung<br />
ebenso wie der Diskussion über Schnittstellen zwischen <strong>Ungleichheit</strong>s- <strong>und</strong> Differenzierungstheorie.<br />
Ein Problem besteht darin, dass der Exklusionsbegriff an<br />
Schärfe verlieren kann, wenn er sehr heterogen verwendet wird, andererseits in<br />
Teilen nur eine dichotome Unterteilung von „drin“ <strong>und</strong> „draußen“ kennt. R.<br />
Castel etwa macht auf die „Fallstricke des Exklusionsbegriffs“, der sich – in<br />
Frankreich bereits seit Beginn der 1990er Jahre – zum Allzweckwort entwickelt<br />
habe, aufmerksam (2000a). Er sieht die Gefahren,<br />
� dass Exklusion zu unspezifisch <strong>und</strong> <strong>und</strong>ifferenziert verwendet wird, wenn<br />
sie vorrangig „einen Mangel bezeichnet, ohne zu sagen, worin er besteht<br />
<strong>und</strong> woher er kommt“ (Castel 2000a: 12);<br />
� dass die Sicht auf den Zustand des Ausgeschlossenseins bzw. auf die<br />
Ausgeschlossenen den Blick auf Prozesse, die zu Exklusion führen, versperrt.<br />
Angesichts dessen, dass Exklusion heutzutage meist eine Degradierung,<br />
einen Abstieg gegenüber einer früheren sozialen Position bedeute <strong>und</strong><br />
feste Grenzziehungen z.B. zwischen Prekarisierung <strong>und</strong> Exklusion unmöglich<br />
seien, sei es umso bedeutsamer, Exklusion als „Auswirkung von Prozessen<br />
[zu] sehen, die die gesamte Gesellschaft durchqueren <strong>und</strong> ihren Ursprung<br />
im Zentrum <strong>und</strong> nicht an der Peripherie des sozialen Lebens haben.<br />
Zum Beispiel in der Entscheidung von Unternehmen, die Karte der Flexibilität<br />
ganz auszuspielen, oder in der Entscheidung des Finanzkapitals, anderswo<br />
zu investieren“ (a.a.O.: 14; Hervorhebung im Original).
150 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
� dass schließlich daraus eine sozialpolitisch einseitige Konzentration auf<br />
Ausgeschlossene erwachsen könnte. Anstelle eines solchen Fokus auf vermeintliche<br />
Randgruppen <strong>und</strong> damit einer eher technischen Problembehandlung<br />
müssten gr<strong>und</strong>sätzlichere Maßnahmen ergriffen werden, um bei<br />
den gesellschaftlichen Ursachen von Ausgrenzungsprozessen statt allein bei<br />
den Symptomen anzusetzen (a.a.O.). M. Kronauer schließt an, dass der<br />
Kampf gegen Exklusion – überdies ein erklärtes Ziel der Europäischen<br />
Union – als Wiedereingliederung Ausgegrenzter verstanden auch deshalb zu<br />
kurz greife, weil die Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg zunehmend<br />
auf die Betroffenen verschoben werde, wenn beispielsweise sozialstaatliche<br />
Leistungen verstärkt an Vorleistungen geb<strong>und</strong>en würden (Kronauer 2006:<br />
42/43).<br />
Gegen die unter Umständen wenig komplexe Unterscheidung, exkludiert oder<br />
nicht exkludiert zu sein, setzen einige Autoren, wiederum in Anschluss an Castel<br />
(2000a/b), ein Modell dreier Zonen sozialer Kohäsion: Es handelt sich dabei um<br />
die Zone der Integration – hier sind gefestigte Arbeitsverhältnisse <strong>und</strong> stabile<br />
soziale Beziehungen charakteristisch –, die Zone der Verw<strong>und</strong>barkeit mit Arbeitsplatzunsicherheit<br />
<strong>und</strong> wenig tragfähigen sozialen Netzen in einer insgesamt<br />
von Unkalkulierbarkeit geprägten Situation <strong>und</strong> schließlich die Zone der Abkoppelung<br />
oder Entkoppelung, in der sowohl die Beteiligung an Erwerbsarbeit als<br />
auch soziale Beziehungen in hohem Maße problematisch sind <strong>und</strong> es zu sozialer<br />
Isolation kommen kann (Castel 2000b: 13, siehe auch z.B. Kronauer 2006: 35-<br />
38, Vogel 2006: 344/345). Solch eine Zoneneinteilung, die hier nicht im Einzelnen<br />
diskutiert werden kann, vermittelt eine andere Vorstellung von einer<br />
Mittelkategorie als solche, in der die „Mitte“ eine Normalität in dem Sinne darstellt,<br />
dass hier eine materiell abgesicherte Lebensführung möglich ist – wie es<br />
etwa die Vorstellung von Mittelschichten tut. Sondern hier ist bereits die Mittelkategorie<br />
systematisch mit prekären Lebenslagen verb<strong>und</strong>en, was ja auch wiederum<br />
anknüpft an den oben angesprochenen Gedanken, dass Exklusionsprozesse<br />
im Zentrum der Gesellschaft <strong>und</strong> ihren Institutionen ihren Ursprung haben.<br />
Brisanz erhält diese Aussage vor allem durch die These, dass sich die Zone der<br />
Verw<strong>und</strong>barkeit, etwa durch den Rückgang unbefristeter Arbeitsverhältnisse,<br />
durch hohe Arbeitslosigkeit etc., ausweite. (zur Öffnung der <strong>Ungleichheit</strong>sschere<br />
<strong>und</strong> der These einer schrumpfenden Mittelschicht Grabka/Frick 2008, Goebel et<br />
al. 2010, zur Diskussion der gesellschaftlichen Mitte z.B. Herbert-Quandt-<br />
Stiftung 2007, Vogel 2009, Münkler 2010, Burzan/Berger 2010)<br />
Hier schließt nun auch der Begriff der Prekarität oder Prekarisierung an. Prekäre<br />
Arbeitsbedingungen <strong>und</strong> weiter gefasst prekäre Lebensverhältnisse stehen dabei<br />
im Blickpunkt. Prekär als unsicher oder heikel deutet darauf hin, dass es um
7.2 Prekäre Lagen <strong>und</strong> Exklusion 151<br />
Menschen in Lebensverhältnissen geht, die – noch – etwas zu verlieren haben,<br />
die also zumindest aktuell nicht am unteren Ende des <strong>Ungleichheit</strong>sgefüges<br />
stehen, deren soziale Position jedoch gefährdet ist. Die Begrifflichkeit des<br />
„prekären Wohlstandes“ ist sogar in sozialstatistische Kategorien eingegangen,<br />
bezeichnet etwa im Datenreport des Statistischen <strong>B<strong>und</strong></strong>esamtes die Spanne von<br />
50-75% des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens (während unterhalb<br />
der 50%-Grenze relative Armut besteht; der Anteil derjenigen in einer prekären<br />
Wohlstandssituation betrug demzufolge nach Daten des SOEP 25% im Jahr<br />
2006, Statistisches <strong>B<strong>und</strong></strong>esamt 2008: 165). B. Vogel weist darauf hin, dass prekärer<br />
Wohlstand – zusammen mit sozialer Verw<strong>und</strong>barkeit – auf<br />
Zugleich<br />
„uneindeutige <strong>und</strong> spannungsreiche soziale Lagen zielt … Denen, die in dieser Zone<br />
der Gesellschaft leben, darf in ihrem sozialen <strong>und</strong> beruflichen Alltag nichts ‚dazwischenkommen’<br />
– nicht der Verlust des Arbeitsplatzes, keine chronische Krankheit,<br />
keine Ehescheidung oder andere familiäre Probleme … die eigene Lebens- <strong>und</strong><br />
Haushaltsführung [gleicht] einem fragilen Kartenhaus, das nur geringer Erschütterungen<br />
bedarf, um in sich zusammenzustürzen.“ (Vogel 2006: 346).<br />
„[setzt] die Prekarität des Wohlstands Wohlstand voraus, <strong>und</strong> das Gefühl der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
kennen nur diejenigen, denen soziale Sicherheit <strong>und</strong> Stabilität nicht<br />
fremd ist“ (ebd.).<br />
P. Böhnke (2006a/b) grenzt ebenfalls dezidiert Ausgrenzung oder Marginalisierung<br />
einerseits von Verunsicherung andererseits ab. Ausgrenzungsrisiken<br />
wie Armut oder Langzeitarbeitslosigkeit<br />
„stehen nach wie vor in erster Linie mit Qualifikationsmangel <strong>und</strong><br />
Ausbildungslosigkeit in Verbindung. Die Ergebnisse bestätigen die These nicht,<br />
dass sich prekäre Lebenslagen sprunghaft ausbreiten <strong>und</strong> sich von<br />
schichtspezifischen Risikofaktoren lösen“ (Böhnke 2006a: 214; eine ähnliche<br />
Diagnose eines starken Zusammenhangs von Armut bzw. Prekarität <strong>und</strong> sozialer<br />
Klassenlage findet sich bei Groh-Samberg 2004, 2009; Groh-Samberg/Hertel 2010).<br />
Also: Keine dramatische Zunahme von Bevölkerungsanteilen in stark<br />
benachteiligten Lebenslagen, aber auf der anderen Seite reichen Verlustängste<br />
<strong>und</strong> Verunsicherungen bis in mittlere soziale Lagen hinein, z.B. Angst vor<br />
Arbeitslosigkeit oder zunehmende Konfliktwahrnehmungen, etwa zwischen Arm<br />
<strong>und</strong> Reich (Böhnke 2006b: 119). Diese Aussage zieht nun nicht die<br />
Schlussfolgerung nach sich, die Verunsicherung sei nur eingebildet <strong>und</strong> entbehre<br />
objektiver Gr<strong>und</strong>lagen, sondern Böhnke will zwischen Verunsicherung <strong>und</strong>
152 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
Ausgrenzung deshalb unterscheiden, „um auf beide Formen von Benachteiligungen<br />
angemessen reagieren zu können“ (2006b: 120). 28 Hinzufügen ließe sich,<br />
dass es in Längsschnittbetrachtungen interessant wäre zu untersuchen, wie sich<br />
Abstiegsängste auf der Handlungsebene zu späteren Zeitpunkten auswirken, zu<br />
welchen Lebenslaufereignissen sie typischerweise führen, um die<br />
Zusammenhänge zwischen „objektiven“ sozialen Lagen <strong>und</strong> „subjektiver“<br />
Verunsicherung nicht zuletzt theoretisch genauer zu analysieren (zur<br />
Unsicherheit in mittleren Lagen vgl. z.B. Kämpf 2008, Burzan/Berger 2010; zur<br />
Unsicherheit in einem allgemeinen Rahmen etwa Böhle/Weihrich 2009, Soeffner<br />
2010).<br />
Popularität in der öffentlichen Wahrnehmung erlangte der Begriff der Prekarität<br />
außerdem im Zusammenhang mit den Ergebnissen einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />
zu politischen Milieus aus dem Jahr 2006, insofern dort eines<br />
der Milieus als „abgehängtes Prekariat“ bezeichnet wurde (Neugebauer 2007).<br />
Hierin zeigt sich eine Überschneidung von <strong>Ungleichheit</strong>skonzepten: Zum einen<br />
baut die Studie auf einem Milieukonzept auf, wobei die Milieus durch Werte<br />
konstituiert sind, die für den dort fokussierten politischen Zusammenhang wichtig<br />
sind (es handelt sich um die Positionierung anhand der Wertekonflikte Libertarismus<br />
– Autoritarismus, soziale Gerechtigkeit – Marktfreiheit <strong>und</strong> Religiosität<br />
– Säkularität). Allerdings hat die Studie keine Abbildung des <strong>Ungleichheit</strong>sgefüges<br />
im engeren Sinne zum Ziel, sondern ein spezifisches Interesse, das<br />
sich auf politische Einstellungen <strong>und</strong> das Wahlverhalten richtet. Zum anderen ist<br />
durch die Bezeichnung des „abgehängten Prekariats“ die in diesem Abschnitt<br />
beschriebene Diskussionslinie integriert, auch in dem Sinne, dass Perspektiven<br />
<strong>und</strong> Verunsicherungen berücksichtigt werden – es gibt etwa ein weiteres Milieu,<br />
das als „bedrohte Arbeitnehmermitte“ charakterisiert wird.<br />
Das „abgehängte Prekariat“ macht nach diesen Bef<strong>und</strong>en 8% der Bevölkerung<br />
aus, ist in Ostdeutschland deutlich stärker vertreten als in Westdeutschland,<br />
insbesondere bei Männern, <strong>und</strong> entstammt nach Schichtkriterien der Unter- bzw.<br />
unteren Mittelschicht; der Arbeitslosenanteil ist in diesem Milieu am höchsten.<br />
Vielfach waren die hier Zugeordneten bereits mit Abstiegserfahrungen konfrontiert.<br />
Ihren Einstellungen nach empfinden sie ihre Lebenssituation auch selbst als<br />
prekär <strong>und</strong> machen sich große Sorgen um die Zukunft. Politischen Reformen<br />
stehen sie skeptisch gegenüber, was mit einem hohen Nichtwähleranteil, aber<br />
auch mit Stimmen für linke <strong>und</strong> rechte Randparteien einhergeht (Neugebauer<br />
28 Bude/Lantermann (2006) bekräftigen mit Hilfe von Daten aus einer Befragung Erwerbstätiger,<br />
dass „objektiver“ Ressourcenmangel nicht einlinig zu einem Gefühl des Ausgeschlossenseins führt.<br />
Vergleichsweise prekäre Lagen wurden nicht unbedingt als solche empf<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> umgekehrt<br />
konnte ein Exklusionsempfinden bei pessimistischer Zukunftsperspektive auch dann entstehen, wenn<br />
die aktuelle Lebenslage nicht prekär war (2006: 244).
7.2 Prekäre Lagen <strong>und</strong> Exklusion 153<br />
2007: 69, 82-84; vgl. auch die Aufnahme eines „prekären Milieus“ innerhalb der<br />
Sinus-Milieus, Kapitel 5.2 in diesem Band).<br />
Es ist nicht die Größenordnung dieser Gruppe (8%), die Aufmerksamkeit<br />
erregt, auch sind nicht alle Milieus im sozialstrukturell „unteren“ Bereich hier zu<br />
verorten, es gibt außerdem „selbstgenügsame Traditionalisten“ (11%, darunter<br />
viele Rentner) <strong>und</strong> „autoritätsorientierte Geringqualifizierte“ (7%, ebenfalls mit<br />
höherem Durchschnittsalter; a.a.O.: 79-82). 29 Kennzeichnend ist vielmehr die<br />
Problemperspektive, nach teilweise bereits erfahrenen Abstiegen auch in Zukunft<br />
voraussichtlich von Ressourcen <strong>und</strong> gesellschaftlicher Teilhabe „abgehängt“ zu<br />
sein. Weniger akut <strong>und</strong> von einer besseren Versorgungslage ausgehend sind<br />
diese Sorgen <strong>und</strong> Verunsicherungen dann auch für die „bedrohte Arbeitnehmermitte“<br />
charakteristisch. Die Studie ist ein Beispiel dafür, dass sich neuere<br />
<strong>Ungleichheit</strong>smodelle – hier Milieumodelle – nicht der vertikalen <strong>Ungleichheit</strong>sachse<br />
sowie Ausgrenzungsprozessen <strong>und</strong> verfestigten Benachteiligungen verschließen<br />
müssen, sondern sie umgekehrt zumindest potentiell durch ihre mehrdimensionale<br />
Anlage berücksichtigen können. Anders formuliert: Der soziale<br />
Wandel, auf den die ungleichheitstheoretische Diskussion reagiert, muss nicht zu<br />
einem vorrangigen Blick auf allein vertikale Abgrenzungen oder – zur Verdeutlichung<br />
etwas überspitzt – zur reumütigen Rückkehr zu „alten“ Schichten- <strong>und</strong><br />
Klassenmodellen führen, sondern <strong>Ungleichheit</strong>smodelle können mehrdimensional<br />
sein, ohne damit die Beliebigkeit sozialer Lagen zu postulieren. Die Anforderungen<br />
an mehrdimensionale Modelle, verschiedene <strong>Ungleichheit</strong>smerkmale zu<br />
gewichten, das Verhältnis vertikaler <strong>und</strong> horizontaler Dimensionen zu bestimmen<br />
<strong>und</strong> eine Aussage über die Relationen zwischen den Lagen zu treffen, bleiben<br />
allerdings auch hierbei bestehen.<br />
Die Sicht auf <strong>Ungleichheit</strong> nimmt mit einer Perspektive auf Prekarisierung<br />
<strong>und</strong> Verunsicherung stärker zeitliche Aspekte in den Blick, als es ein <strong>Ungleichheit</strong>smodell<br />
tut, das seinen Schwerpunkt auf <strong>Ungleichheit</strong>sverteilungen zu einem<br />
bestimmten Zeitpunkt setzt. Dies schließt Lebensverläufe ebenso ein wie (möglicherweise<br />
fehlende) Zukunftsperspektiven <strong>und</strong> subjektive Aufstiegschancen/Abstiegsängste<br />
mit ihren Auswirkungen auch auf die „objektive“ Ebene von<br />
Mobilitätsprozessen. Begriffe wie Verunsicherung in der Gesellschaftsmitte<br />
können damit Chancen bieten, nicht nur eine sachliche, sondern auch eine zeitliche<br />
Aspekte betreffende Erweiterung der <strong>Ungleichheit</strong>sdebatte anzuregen,<br />
29 Zur Vervollständigung des Bildes seien auch die anderen Milieus genannt: In der Mitte befinden<br />
sich neben der bedrohten Arbeitnehmermitte (16%) die zufriedenen Aufsteiger (13%), im oberen<br />
Bereich (insgesamt 45%) sind Leistungsindividualisten (11%), etablierte Leistungsträger (15%),<br />
kritische Bildungseliten (9%) sowie das engagierte Bürgertum (10%) angesiedelt (Neugebauer 2007:<br />
68-79).
154 7 <strong>Soziale</strong> Lagen<br />
sofern sie sich auf das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge als Ganzes beziehen <strong>und</strong> damit einen<br />
auch ungleichheitstheoretischen Anspruch haben.<br />
Zusammenfassung<br />
Prekäre Lagen <strong>und</strong> Exklusion richten sich auf auffällige Benachteiligungen in<br />
der Gesellschaft, die jedoch auch in die Mitte der Gesellschaft verweisen, sowohl<br />
hinsichtlich der zugr<strong>und</strong>e liegenden Ausgrenzungsprozesse als auch im Sinne der<br />
Betroffenheit durch Verunsicherung <strong>und</strong> Abstiegsangst. Damit trifft diese Perspektive<br />
auch Aussagen über die Vorstellung von sozialer <strong>Ungleichheit</strong> in einer<br />
Gesellschaft insgesamt <strong>und</strong> bietet Potential für die Betonung zeitlicher Aspekte.<br />
Ein in sich geschlossenes Modell sozialer <strong>Ungleichheit</strong> auf dieser Basis, gegebenenfalls<br />
in Verbindung mit z.B. Klassen- oder Milieuansätzen, liegt allerdings<br />
bislang nicht vor.<br />
Lesehinweise:<br />
� Hradil, Stefan (1987): Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen<br />
Gesellschaft. Von Klassen <strong>und</strong> Schichten zu Lagen <strong>und</strong> Milieus, Opladen:<br />
Leske + Budrich, insbesondere Kap. 4.2: <strong>Soziale</strong> Lagen (S. 145-158)<br />
� Bude, Heinz; Willisch, Andreas (Hg.) (2006): Das Problem der Exklusion.<br />
Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg: Hamburger Edition<br />
� Castel, Robert; Klaus Dörre (Hg.) (2009): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung.<br />
Die soziale Frage zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts, Frankfurt am Main:<br />
Campus
8 Individualisierung – Entstrukturierung soler <strong>Ungleichheit</strong>? 155<br />
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong>?<br />
8. Individualisierung – Entstrukturierung soler <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
Die Individualisierungsthese (insbesondere von U. Beck) ist eine Position zur<br />
sozialen <strong>Ungleichheit</strong>, die weder die Begriffe Klasse oder Schicht für gewandelte<br />
gesellschaftliche Verhältnisse modifiziert noch andere Begriffe wie z.B. Milieu<br />
verwendet, um auf diese Art ungleichheitsrelevante Gruppen zu identifizieren.<br />
Sie behauptet vielmehr, so der provokante Titel eines Aufsatzes Becks von 1983,<br />
dass wir uns „jenseits von Klasse <strong>und</strong> Stand“ (bzw. „Schicht“, Beck 1986: 121)<br />
befinden, womit gemeint ist, dass überhaupt keine gesellschaftlichen Großgruppen<br />
mehr existieren, die nicht nur rein statistische Zusammenfassungen, z.B.<br />
ähnlicher Einkommensgruppen, darstellen. „Objektive“ Bedingungen <strong>und</strong> „subjektive“<br />
Lebensweise fallen danach recht stark auseinander.<br />
Einige Autoren sehen Beck daher als prominentesten Vertreter von Richtungen,<br />
die man als Entstrukturierungsansätze oder Auflösungsthesen bezeichnen<br />
könnte.<br />
R. Geißler beispielsweise, der selbst für die Beibehaltung des Schichtbegriffs<br />
plädiert (s. Kap. 4.1), deutet <strong>und</strong> kritisiert die Individualisierungsthese<br />
als Übersteigerung von Pluralisierung, wenn Beck „nicht nur eine Pluralisierung,<br />
sondern sogar eine Individualisierung der Lebensbedingungen zu erkennen“<br />
meine (Geißler 2002: 137). Auch H.-P. Müller spricht von „radikalen Strategien“,<br />
die das Paradigma strukturierter sozialer <strong>Ungleichheit</strong> in eine „Phänomenologie“<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> überführen wollen (1992: 45), oder von der Vorstellung<br />
eines „Patchworks“ sozialer Unterschiede (a.a.O.: 38). Er führt Beck als<br />
ein Beispiel für solche Strategien an, die angesichts Pluralisierung <strong>und</strong> Individualisierung<br />
eher eine Beschreibung der Vielfalt sozialer <strong>Ungleichheit</strong> liefern. Sie<br />
versuchen laut Müller,<br />
„die verschiedenen Formen <strong>und</strong> Fragmente sozialer Unterschiede detailliert empirisch<br />
zu ermitteln <strong>und</strong> die Ergebnisse in Einzelbeobachtungen zusammenzufassen,<br />
ohne noch den Anspruch eines einheitlichen theoretischen Bezugsrahmens zu erheben.<br />
Gerade die Unmöglichkeit, Formen <strong>und</strong> Wirkungsweisen verschiedener <strong>Ungleichheit</strong>sfaktoren<br />
in einen allgemeinen Rahmen zu integrieren, wird als Ausdruck<br />
der Komplexität der Gesellschaft <strong>und</strong> der Pluralität ungleichheits-bedeutsamer Differenzierungen<br />
angesehen.“ (Müller 1992: 45).<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_8,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
156 8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
Wie viel Radikalität man Becks These unterstellt, liegt an der Deutung des<br />
mehrdimensionalen <strong>und</strong> damit missverständlichen Begriffs der Individualisierung.<br />
Der folgende Abschnitt wird daher die Individualisierungsthese in ihren<br />
Gr<strong>und</strong>zügen zunächst darstellen, bevor nochmals darauf eingegangen wird, was<br />
sie im ungleichheitstheoretischen Rahmen bedeutet.<br />
Die Individualisierungsthese ist nicht allein eine Position zu <strong>Ungleichheit</strong>sverhältnissen,<br />
sondern zugleich eine Gegenwartsdiagnose für westliche Gesellschaften<br />
seit etwa den sechziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts (Individualisierungsschübe<br />
gibt es auch in anderen Zeiträumen, zur Individualisierung bei soziologischen<br />
Klassikern <strong>und</strong> anderen Autoren vgl. z.B. Kippele 1998, Bauman<br />
2001, Schroer 2001, 2008, Howard 2007, Kron/Horá�ek 2009; hier soll vor<br />
allem auf die Diagnose Becks für den genannten Zeitraum eingegangen werden).<br />
Die These bündelt gesellschaftliche Entwicklungen in einem charakteristischen<br />
Begriff, eben in der Individualisierung, locker verb<strong>und</strong>en mit weiteren<br />
Schlagworten, der „Risikogesellschaft“ bzw. der „Weltrisikogesellschaft“ sowie<br />
der „Reflexiven Moderne“. 30<br />
Beck stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Entwicklungen sich vor<br />
allem seit den sechziger Jahren <strong>und</strong> insbesondere in Deutschland vollzogen haben,<br />
verallgemeinert seine Gedanken aber auch generell auf moderne Gesellschaften.<br />
Er stellt fest, dass es einen Individualisierungsschub gegeben hat, der<br />
durch drei Dimensionen gekennzeichnet ist (1986: 206):<br />
1. Freisetzung aus traditionellen Bindungen, z.B. aus Ständen oder sozialen<br />
Klassen, aber auch traditionellen Geschlechtsrollen. Durch die Freisetzung<br />
gibt es mehr Mobilität <strong>und</strong> Wahlfreiheiten als vorher. Ein Beispiel ist, dass<br />
man seinen Beruf unabhängiger davon wählen kann, welchen Beruf die Eltern<br />
haben, Arbeiterkinder müssen nicht unbedingt wieder Arbeiter werden.<br />
Auch kann man in höherem Maße selbst entscheiden, ob man z.B. heiratet<br />
oder nicht <strong>und</strong> Kinder hat oder nicht. Man wird etwa als vierzigjährige unverheiratete<br />
Frau ohne Kinder nicht mehr gesellschaftlich diskriminiert,<br />
man sagt nicht, die Frau habe keinen Mann „abbekommen“. Allgemein sind<br />
30 Zur Individualisierung als Gegenwartsdiagnose vgl. z.B. Schroer 1997, 2000, Volkmann 2000, zur<br />
Reflexiven Moderne Beck/Lau 2005, zur Weltrisikogesellschaft Beck 2007b – dort geht er weniger<br />
auf Individualisierung ein, wenngleich er biographische Risiken als Dimension neben den dort<br />
behandelten ökologischen, Finanz- <strong>und</strong> Terrorrisiken nennt, sondern verweist auf künftige Forschungen<br />
zum Zusammenhang z.B. zwischen Individualisierung <strong>und</strong> Kosmopolitisierung im Rahmen<br />
einer Theorie der reflexiven Modernisierung, a.a.O.: 37; zur Kosmopolitisierung etwa auch Beck<br />
2008, Beck/Beck-Gernsheim 2010, Beck/Grande 2010.
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>? 157<br />
Handlungsorientierungen, die dadurch entstehen, dass man in eine bestimmte<br />
Familie <strong>und</strong> soziale Lage hineingeboren wurde oder ein bestimmtes<br />
Geschlecht hat, geringer geworden. Diese Freiheit hat aber nicht nur positive<br />
Seiten, was die zweite Dimension ausdrückt:<br />
2. Entzauberung: Dadurch, dass es keine festen Handlungsorientierungen<br />
mehr gibt, muss man selbst entscheiden, ohne sicher zu wissen, was die<br />
richtige Wahl ist. Die Freiheit bringt also auch Unsicherheiten <strong>und</strong> Risiken<br />
mit sich. Heute kann man sich z.B. eher wieder von einem Partner trennen,<br />
aber diese Freiheit bringt auch das Risiko mit sich, dass man von seinem<br />
Partner verlassen wird <strong>und</strong> sein Leben dann neu ohne ihn organisieren<br />
muss. Eine Frau könnte sich z.B. weniger denn je darauf verlassen, durch<br />
eine Heirat lebenslang ökonomisch abgesichert zu sein. Auch bei der beruflichen<br />
Wahl ist man auf sich gestellt, es ist unsicher, ob man später eine<br />
gute Arbeitsstelle bekommen wird etc. Welchen Beruf der Vater hatte, ist<br />
heute kaum noch ein zuverlässiges Kriterium, um eine Wahl zu treffen. In<br />
Becks Worten: „Die handlungsleitenden ‚Meso-Sicherheiten’ sozialer Milieus<br />
schmelzen weg, <strong>und</strong> die Individuen müssen auch innerhalb weiter bestehender<br />
Einkommenshierarchien <strong>und</strong> innerhalb weiter existierender Familien<br />
ihre Biographie durch aufbrechende Entscheidungszwänge <strong>und</strong><br />
Entscheidungsrisiken hindurch selbst planen, organisieren, zusammenhalten,<br />
in einem kontinuierlichen Versuch-<strong>und</strong>-Irrtum-Verfahren“ (Beck/Beck-<br />
Gernsheim 1993: 179). Die Risiken werden außerdem verstärkt den einzelnen<br />
Individuen zugeschrieben: Wenn jemand z.B. arbeitslos wird, liegt es<br />
nahe, dass er sich Mühe geben muss <strong>und</strong> dass er vielleicht früher eine falsche<br />
Berufsentscheidung getroffen hat. Selbst wenn man weiß, dass es<br />
strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung gibt, führen sie<br />
nicht mehr z.B. zur Solidarisierung einer Klasse von Arbeitslosen, es sind<br />
individualisierte Arbeitslose. Individualisierung kann somit auch als gesellschaftlicher<br />
Zurechnungsmodus verstanden werden, der die Selbstverantwortung<br />
<strong>und</strong> Selbststeuerung akzentuiert (so auch Wohlrab-Sahr 1997).<br />
Insgesamt bedeutet Individualisierung also mehr Freiheit, aber auch mehr<br />
Unsicherheit für das Individuum. Eine dritte Dimension kommt hinzu:<br />
3. Reintegration in die Gesellschaft: Die Freiheit des Individuums ist nach der<br />
Individualisierungsthese nicht unendlich. Es gibt eine neue Art der Wiedereinbindung,<br />
nur nicht mehr z.B. durch Klassen vermittelt. Individuum <strong>und</strong><br />
Gesellschaft stehen sich unmittelbarer gegenüber. Nicht nur gibt es jetzt einen<br />
Zwang, sich zu entscheiden (z.B. ob <strong>und</strong> welchen Beruf jemand ergreift),<br />
sondern die Entscheidungen sind begrenzt, vor allem durch Institutionen,<br />
also z.B. den Arbeitsmarkt, rechtliche <strong>und</strong> sozialstaatliche Regelungen<br />
usw. Z.B. gibt es die Schulpflicht, wenn man Ärztin werden will,
158 8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
muss man dafür eine bestimmte Ausbildung an der Universität durchlaufen,<br />
der Arbeitsmarkt bietet bestimmten Personen (je nach Qualifikation, Branche,<br />
räumlicher Mobilität, Wunsch nach Teilzeit etc.) weniger Chancen als<br />
anderen etc. Institutionelle Anerkennung von Pluralität (z.B. im<br />
Familienrecht) <strong>und</strong> die Adressierung von (politischen <strong>und</strong> sozialen)<br />
Gr<strong>und</strong>rechten sowie Reformen (z.B. Arbeitsmarktreformen) an das<br />
Individuum anstatt an ein Kollektiv sind Bestandteile der von Beck des<br />
Öfteren hervorgehobenen „institutionellen Individualisierung“ (z.B. Beck<br />
2008: 303). Neben der Integration durch Institutionen spielt zudem der<br />
Modus der Selbstintegration, das heißt das Eingehen freiwilliger Bindungen,<br />
eine Rolle (Beck 1997).<br />
Beck spricht im Zusammenhang mit Freisetzung <strong>und</strong> Reintegration auch von<br />
Doppelgesichtern der Individualisierung. Die Freiheit ist nur die eine Seite, Restriktionen<br />
in neuer Form sind die andere Seite. Ein Beispiel: Frauen sind heute<br />
oft qualifizierter als früher <strong>und</strong> möchten gern einer entsprechenden Erwerbsarbeit<br />
nachgehen, aber andererseits lässt der Arbeitsmarkt dies nicht immer zu.<br />
Dabei entsteht – wie geschildert – der Eindruck, die Entscheidungen des Individuums<br />
hätten zu seiner Situation geführt. Spätestens auf den zweiten Blick sieht<br />
man aber die Institutionenabhängigkeit daran, dass es bei zehn Millionen Menschen<br />
nicht zehn Millionen ganz unterschiedliche Lebensverläufe gibt. Natürlich<br />
hat im Detail jeder ein einzigartiges Leben <strong>und</strong> es gibt weniger „Normallebensläufe“<br />
als z.B. Ende der fünfziger Jahre. Zu der Zeit gab es eher das bürgerliche<br />
Ideal, dass der Mann für die Erwerbstätigkeit <strong>und</strong> die Frau (gegebenenfalls neben<br />
einer Erwerbstätigkeit) in erster Linie für den Haushalt <strong>und</strong> die Kinder zuständig<br />
ist. Aber auch in einer individualisierten Gesellschaft gibt es Standardisierungen,<br />
z.B. von Ausbildungsverläufen oder Freizeitbeschäftigungen (wie Fernsehen).<br />
Soweit zum Begriff der Individualisierung nach Beck: Eine Freisetzung aus<br />
bestimmten sozialen Bindungen wird dabei also begleitet durch Risiken, Unsicherheiten<br />
<strong>und</strong> zudem neue Einbindungen. In diesem Prozess ändert sich das<br />
Verhältnis von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft. Das Verhältnis wird direkter, es ist<br />
nicht mehr in erster Linie vermittelt durch soziale Instanzen wie die soziale<br />
Schicht oder Klasse.<br />
Individualisierung hat zum einen Folgen für das Individuum, es darf <strong>und</strong><br />
muss wählen <strong>und</strong> Entscheidungen treffen, dabei muss es auch Handlungsweisen<br />
mit anderen abstimmen <strong>und</strong> auf Risiken gefasst sein. In längerfristiger Perspektive<br />
ergibt sich durch diese Wahlfreiheiten der einzelnen eine „Bastelbiographie“,<br />
die mehr Varianten aufweist als frühere „Normalbiographien“. Jeder bastelt<br />
sich seinen Lebenslauf aus den (nicht unendlichen) Möglichkeiten zusammen.<br />
Auf der Makroebene bestehen Folgen in der erwähnten Standardisierung
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>? 159<br />
<strong>und</strong> Pluralisierung (z.B. von Formen des Zusammenlebens: verheiratet oder<br />
nicht, Kinder oder nicht oder aus einer früheren Beziehung, Alleinerziehende,<br />
homosexuelle Paare etc.).<br />
Welche Ursachen hatte dieser Individualisierungsprozess? Eine wichtige<br />
Ursache ist der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg. Die Menschen konnten sich mehr Dinge leisten. Beck nennt dies den<br />
„Fahrstuhleffekt“: Nicht die ökonomischen Unterschiede sind verschw<strong>und</strong>en,<br />
sondern die Reicheren sind noch ein bisschen reicher geworden, die Menschen in<br />
schlechteren ökonomischen Lagen haben ebenfalls hinzugewonnen. Die meisten<br />
haben also ein wenig mehr Geld, die Unterschiede zwischen ihnen sind aber<br />
ungefähr gleich geblieben, alle (jedenfalls viele) sind mit dem Fahrstuhl eine<br />
Etage höher gefahren. Gestiegenes Einkommen wird bei diesem Effekt noch<br />
dadurch begleitet, dass man bei insgesamt gestiegener Lebenserwartung eine<br />
geringere Arbeitszeit (auch Lebensarbeitszeit) hat. Inwiefern bewirkte dieser<br />
ökonomische Aufschwung Individualisierung? Zwar sind Unterschiede zwischen<br />
arm <strong>und</strong> reich relativ gleich geblieben, aber dadurch, dass sich auch die Ärmeren,<br />
etwa die Arbeiter, mehr leisten können, z.B. ein Auto, Reisen, eine hübsche<br />
Wohnung, sind die <strong>Ungleichheit</strong>en subjektiv weniger wichtig geworden, der<br />
potentielle Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen sozialer Lage ist weniger<br />
wichtig, die individuelle Bindung an eine Klasse verliert an Bedeutung. Für diesen<br />
Bedeutungsverlust ist außerdem der Einflussfaktor „Mobilität“ relevant:<br />
Durch verstärkte räumliche <strong>und</strong> soziale Mobilität verbringt man nicht mehr sein<br />
ganzes Leben in dem gleichen sozialen Umfeld (man zieht z.B. in eine andere<br />
Stadt <strong>und</strong>/oder wechselt die Arbeitsstelle), auch in diesem Sinne verlieren also<br />
traditionelle Bindungen an ihrer unbedingten Bedeutung. Ein zweiter Gr<strong>und</strong><br />
neben dem wirtschaftlichen Aufschwung ist die wohlfahrtsstaatliche Absicherung,<br />
z.B. wird das Studieren durch Bafög möglicherweise erleichtert. Eine Frau,<br />
die mit einem Kind ihren Mann verlassen will, muss dadurch vielleicht ökonomische<br />
Einbußen hinnehmen, wenn der Mann bisher Haupternährer war <strong>und</strong> sie<br />
auch in Zukunft wegen des Kindes keine Vollzeitstelle annehmen könnte. Sie<br />
fällt aber nicht ins finanzielle Nichts, es gibt Unterhaltsregelungen <strong>und</strong> im Notfall<br />
die Sozialhilfe. Solche Umstände können Entscheidungen (z.B. den Partner<br />
zu verlassen) erleichtern. Ein dritter Gr<strong>und</strong> ist schließlich die Bildungsexpansion<br />
in den sechziger Jahren, von der vor allem die Frauen profitiert haben. Mit mehr<br />
Ausbildung stehen ihnen mehr Entscheidungsfreiheiten offen, auch ihre Werte<br />
verändern sich zum Teil (z.B. weg von traditionellen Idealen oder der Hinnahme<br />
von <strong>Ungleichheit</strong>en). Hinzu kommen gerade für die Situation von Frauen weitere<br />
Faktoren, z.B. mehr technische Hilfen bei der Hausarbeit oder eine erleichterte<br />
Familienplanung durch die Antibabypille. Ein Ergebnis dieser Entwicklungen<br />
<strong>und</strong> vor allem der Bildungsexpansion ist, dass Frauen <strong>und</strong> Männer stärker als
160 8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
Paar aushandeln müssen, wer geht wie viel arbeiten, wer macht die Hausarbeit<br />
<strong>und</strong> passt auf die Kinder auf etc. Die Arbeitsteilung ist nicht mehr selbstverständlich,<br />
auch wenn sie häufig noch in etwa geschlechtsspezifisch abläuft (zumindest<br />
ist die Frau meist noch hauptsächlich für den Haushalt <strong>und</strong> die Kinder<br />
zuständig, ob sie erwerbstätig ist oder nicht, vgl. z.B Dressel/Cornelißen/Wolf<br />
2005 oder Mühling et al. 2006). Die Option, sich einen anderen Partner zu suchen<br />
anstatt weitere Kompromisse einzugehen, beeinflusst die Diskussionen<br />
stärker als es etwa noch in den fünfziger Jahren der Fall war. Beck prägte für<br />
diesen Sachverhalt das griffige Schlagwort der „Verhandlungsfamilie auf Zeit“.<br />
Es gibt durch die vielen Dimensionen des Begriffs (<strong>und</strong> auch durch Becks<br />
Darstellungsweise) verschiedene Missverständnisse, jeder versteht unter Individualisierung<br />
etwas anderes, kritisiert dann wiederum die anderen, nicht präzise<br />
genug zu sagen, was sie meinen usw., auch empirische Überprüfungen sind nicht<br />
einfach zu konzeptionieren. Wichtige Kritikpunkte richten sich neben oder im<br />
Kontext der Mehrdeutigkeit des Konzepts z.B. auf die Frage des Vergleichszeitraums,<br />
die Universalität der Geltung von Individualisierung oder auf die Frage,<br />
inwiefern Individualisierung tatsächlich mit Pluralisierung zusammenhängt beziehungsweise<br />
zusammenhängen muss. 31 Beck wehrt sich gegen einige Deutungen<br />
des Begriffs. Auf individueller Ebene heißt Individualisierung beispielsweise<br />
nicht unbegrenzte Freiheit oder Autonomie, Selbstverwirklichung oder Emanzipation.<br />
Er bedeutet aber auch nicht Einsamkeit (nachdem Beck die Existenz von<br />
Großgruppen wie der Klasse oder die bestimmende Bedeutung der Familie für<br />
alle Lebensentscheidungen verneint, könnte man auf die Idee kommen, das Individuum<br />
sei nun einsam). Individualisierung meint „nicht Atomisierung, nicht<br />
Vereinzelung, nicht Vereinsamung, nicht das Ende jeder Art von Gesellschaft ...<br />
nicht Netzwerklosigkeit“ (Beck/Beck-Gernsheim 1993: 179, Hervorhebungen i.<br />
O.). Es gibt die oben genannten Wiedereinbindungen, <strong>und</strong> es gibt auch Bindungen<br />
an Personen <strong>und</strong> Personengruppen, nur nicht so unbedingt feststehende (z.B.<br />
lebenslang zum Ehepartner) oder solche zu Großgruppen wie der Klasse, wie es<br />
in der Vergangenheit eher der Fall war. Trotz dieser Entgegnungen bleibt jedoch<br />
die Anforderung bestehen, Begriffe (z.B. Wahlfreiheit, Entscheidung, Wiedereinbindung)<br />
im Rahmen der Individualisierungsthese zu präzisieren <strong>und</strong> damit<br />
einer empirischen Überprüfung zugänglich zu machen.<br />
31 Vgl. zu theoretisch oder empirisch angelegter Prüfung <strong>und</strong> Kritik der Individualisierungsthese z.B.<br />
Hondrich 1997, Friedrichs 1998, Hartmann 2001, Simonson 2004, Kohler 2005, Scherger 2007,<br />
Atkinson 2007 (s. auch Beck 2007a), Berger/Hitzler 2010; Konkretisierungen <strong>und</strong> Auseinandersetzungen<br />
mit ‚Individualisierung’ finden sich zudem z.B. in einigen von Beck herausgegebenen Sammelbänden:<br />
Beck/Beck-Gernsheim 1994, Beck 1997, Beck/Sopp 1997; als Gesamtdarstellung des<br />
Konzepts vgl. auch Junge 2002, Schroer 2008.
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>? 161<br />
Weiterhin gibt es das Argument, nur besser verdienende, junge qualifizierte<br />
Menschen seien individualisiert, weil nur sie die Entscheidungsspielräume hätten,<br />
die Beck beschreibt (z.B. Burkart 1993). Solch eine Einschätzung beruht<br />
aber ebenfalls auf der Deutung, Individualisierung meine in erster Linie Entscheidungsfreiheit.<br />
Man muss aber auch die andere Seite, die Wiedereinbindung<br />
(z.B. durch Institutionen) im Blick haben, dann kann man das Argument nicht so<br />
stehen lassen. Eine Person mit Hauptschulabschluss etwa hat vielleicht weniger<br />
Ausbildungswege zur Verfügung als eine Person mit Abitur. Aber erstens hat<br />
auch der Abiturient nicht unendliche Möglichkeiten (z.B. Studienbeschränkungen<br />
durch einen numerus clausus), andererseits geht es auch beim Hauptschüler<br />
nicht darum, ohne langes Nachdenken wie vielleicht der Vater Arbeiter zu werden,<br />
eventuell sogar beim gleichen Großunternehmen, er muss ebenfalls unter<br />
einigen Möglichkeiten abwägen, kann dabei nicht auf traditionell feststehende<br />
Wege zurückgreifen, hat aber andererseits zumindest theoretisch die Möglichkeit,<br />
sich weiter zu qualifizieren <strong>und</strong> die beruflichen Möglichkeiten damit zu<br />
verbessern. Nollmann <strong>und</strong> Strasser verstehen Individualisierung ohnehin vor<br />
allem als Deutungsmuster (welches den Einzelnen als Entscheidungszentrum<br />
seines Lebens ansieht), das man nicht ohne weiteres auf die Sozialstruktur, etwa<br />
auf Entstandardisierung oder auch Desintegration, „hochrechnen“ könne (2004:<br />
99). Folglich widersprechen aus dieser Perspektive Phänomene, die z.B. eher die<br />
Restriktionen des Handelns anzeigen, der Individualisierungsthese nicht. Insgesamt<br />
kann man für die gesellschaftliche Ebene sagen, dass Individualisierung<br />
nicht eine vollkommene Entstrukturierung oder die Aufhebung der sozialen<br />
<strong>Ungleichheit</strong> bedeutet.<br />
Zu Becks Perspektive auf <strong>Ungleichheit</strong> lässt sich nun nochmals auf der Basis<br />
dieser Erläuterungen sagen: Nicht Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle in neuer<br />
Form, nicht Modelle mit anderen Begriffen, sondern die Verneinung von Großgruppen<br />
überhaupt scheint angemessen. Da die <strong>Ungleichheit</strong>srelationen ähnlich<br />
bleiben, wie beim Fahrstuhleffekt erklärt, handelt es sich nicht um eine Entstrukturierung<br />
der Gesellschaft, nicht um eine Auflösung von <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
<strong>und</strong> damit auch nicht um eine Neuauflage von Schelskys „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“<br />
(vgl. Kap. 3.1), aber man kann laut Beck die Sozialstruktur<br />
mit Großgruppen nicht mehr angemessen beschreiben:<br />
„Wir leben trotz fortbestehender <strong>und</strong> neu entstehender <strong>Ungleichheit</strong>en heute in der<br />
<strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik bereits in Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft … Auf der<br />
einen Seite sind die Relationen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> in der Nachkriegsentwicklung<br />
der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik weitgehend konstant geblieben. Auf der anderen Seite haben<br />
sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung radikal verändert [durch den Fahrstuhleffekt,<br />
N.B.] … In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten<br />
<strong>und</strong> -bindungen ausgedünnt oder aufgelöst. Gleichzeitig wird ein Prozess der Indivi-
162 8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
dualisierung <strong>und</strong> Diversifizierung von Lebenslagen <strong>und</strong> Lebensstilen in Gang gesetzt,<br />
der das Hierarchiemodell sozialer Klassen <strong>und</strong> Schichten unterläuft <strong>und</strong> in seinem<br />
Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt“ (1986: 121f., Hervorhebung i. O.).<br />
In einer späteren Veröffentlichung verdeutlicht er zudem:<br />
„Individualisierung ist allerdings kein bloß subjektiver Sachverhalt, demgegenüber<br />
eine objektive ‚Sozialstruktur’ der ‚Klassen’ <strong>und</strong> ‚Schichten’ fortbesteht, die für das<br />
Denken der Individuen verschlossen ist. Individualisierung ‚verflüssigt’ die ‚Sozialstruktur’<br />
der modernen Gesellschaft“ (2001: 3).<br />
Diese Position steht im Gegensatz z.B. zu der These Geißlers, dass die moderne<br />
Schichtstruktur durchaus weiterhin besteht, jedoch in weiten Teilen latent <strong>und</strong><br />
der Alltagsbeobachtung schwerer zugänglich ist (1996: 333; vgl. Kap. 4.1).<br />
Beck nimmt hier allerdings nur die Position dazu ein, was es nicht mehr gibt<br />
(nämlich z.B. Klassen), bestreitet dabei auch <strong>Ungleichheit</strong> nicht. Beck legt jedoch<br />
mit der Individualisierungstheorie kein eigenes Modell dafür vor, wie man<br />
<strong>Ungleichheit</strong> in der Gesellschaft dann heute noch erfassen kann. Er spricht davon,<br />
dass es zeitlich begrenzte Zusammenschlüsse geben kann, es gibt also noch<br />
Bindungen <strong>und</strong> Interessengruppen, z.B. bei Bürgerinitiativen. Dies ist aber nur<br />
ein spezielles Beispiel. Es sagt nichts darüber aus, wie die <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur<br />
einer Gesellschaft insgesamt soziologisch zu erfassen wäre.<br />
Individualisierung wird mit anderen Konzepten der <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />
teilweise verknüpft. So beruft sich insbesondere die Lebensstilforschung der<br />
1980er <strong>und</strong> 1990er Jahre oft auf die Individualisierung. In Einleitungen etwa ist<br />
dort häufig zu lesen, Individualisierung <strong>und</strong> Pluralisierung hätten dazu geführt,<br />
dass Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle an Erklärungskraft verloren <strong>und</strong> sich dafür<br />
differenzierte Lebensstiltypen oder Milieus herausgebildet hätten, die über- <strong>und</strong><br />
nebeneinander liegen, sich zum Teil auch überlappen. Trotz der vielfältigen<br />
Kritik an Becks Ausführungen stellen die meisten Autoren einige Gr<strong>und</strong>züge des<br />
beschriebenen Prozesses kaum in Frage. Einige Autoren bezweifeln jedoch den<br />
oft selbstverständlich hergestellten Zusammenhang von Individualisierung als<br />
Ursache einerseits <strong>und</strong> Pluralisierung <strong>und</strong> Ausbildung von Lebensstilen als Folge<br />
andererseits. Huinink <strong>und</strong> Wagner beispielsweise sind der Ansicht, dass „Individualisierung<br />
weder eine notwendige, noch eine hinreichende Voraussetzung für<br />
Pluralisierung von Lebensformen ist“ (1998: 92). Nicht nur werde die Homogenität<br />
von Lebensformen in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften oft<br />
überschätzt <strong>und</strong> die homogenisierende Wirkung von Reintegrationsmechanismen<br />
nach einem Abbau traditionaler Selbstverständlichkeiten gleichzeitig unterschätzt.<br />
Es käme hinzu, dass (insbesondere in Teilgruppen der Bevölkerung)<br />
auch bei normativ schwachen Vorgaben homogenes Verhalten entstehen kann,
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>? 163<br />
wenn es sich als erfolgreich im Rahmen der Lebenslage dieser Teilgruppe erwiesen<br />
hat (a.a.O.: 91f.). Das Zusammenleben als Verheiratete mit Kindern etwa<br />
erfolgt dann weniger, weil es immer schon so war oder Abweichungen diskriminiert<br />
würden, sondern weil man sich im Rahmen institutioneller Vorgaben für<br />
diese Lebensform entschieden hat (diese Kausalzusammenhänge sind natürlich<br />
komplexer, als sie hier dargestellt werden können). Beck selbst schreibt dazu:<br />
„Nonkonformismus schließt die Möglichkeit ein, konventionell <strong>und</strong> traditionell<br />
zu leben“ (2001: 4).<br />
Konietzka bezweifelt die Verknüpfbarkeit von Individualisierung (soweit<br />
belegbar) <strong>und</strong> der Ausbildung von Lebensstilen. Becks Argumentation richte<br />
sich eher auf die Rahmenbedingungen des Handelns, auf die Lebenslage, als auf<br />
das Handeln selbst, wie dies bei Lebensstilen der Fall sei. Zudem könne man<br />
sich entweder dafür entscheiden, Lebensstile oder stattdessen Individualisierung<br />
als neue Vergesellschaftungsform anzusehen. Beides gleichzeitig schließe sich<br />
aus, weil Individualisierung das Individuum als „Reproduktionseinheit des <strong>Soziale</strong>n“<br />
ansehe <strong>und</strong> damit jede gruppenspezifische Sicht ablehne. Schließlich<br />
sieht Konietzka einen Widerspruch zwischen den neuen Kontrollstrukturen, der<br />
Institutionenabhängigkeit <strong>und</strong> Standardisierung bei Beck einerseits <strong>und</strong> andererseits<br />
den Lebensstilen, die trotz bestimmter Strukturbindungen die Präferenzen<br />
der Individuen (man müsste hinzufügen: teilweise) stärker betonen (Konietzka<br />
1994: 153-158).<br />
Zusammenfassung der Individualisierungsthese<br />
Individualisierung ist ein Prozess, der laut U. Beck in modernen Gesellschaften<br />
(zumindest in westlichen Gesellschaften) seit den sechziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
festzustellen ist. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Prozess, in<br />
dem die Individuen aus traditionellen Bindungen (z.B. Klasse <strong>und</strong> Schicht) freigesetzt<br />
werden, was neue Freiheiten, aber auch Unsicherheiten mit sich bringt.<br />
Neue Formen der Wiedereinbindungen sind nicht mehr in erster Linie durch<br />
Großgruppen wie die Klasse vermittelt, die Einbindung (<strong>und</strong> damit die Grenze<br />
der Wahlfreiheiten) erfolgt unter anderem über Institutionen wie den Arbeitsmarkt.<br />
Das bedeutet nicht, dass der Einzelne keine Bindungen mehr hat, sie sind<br />
nun aber anderer Art, insbesondere in einer längerfristigen Perspektive. Auch<br />
bestehen bestimmte <strong>Ungleichheit</strong>en, z.B. zwischen Einkommensgruppen, durchaus<br />
fort oder können sich sogar verschärfen. Ein <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge aus stabilen<br />
gesellschaftlichen Großgruppen, deren Mitglieder eine identitätsstiftende<br />
Bindung zur Gruppe haben oder die sich aufgr<strong>und</strong> ihrer Zugehörigkeit ähnlich<br />
verhalten, gibt es nach dieser Auffassung jedoch nicht mehr. Dann werden die
164 8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
„in allen möglichen ‚Soziotopen’ sich entwickelnden habituellen Eigen- <strong>und</strong><br />
Besonderheiten, die speziellen Praktiken <strong>und</strong> Riten, die identitätsstiftenden<br />
Emblematiken <strong>und</strong> Symboliken, die Relevanzsysteme <strong>und</strong> Wissensbestände, die<br />
Deutungsschemata <strong>und</strong> Distinktionsmarkierungen … zu zentralen Gegenständen<br />
einer individualisierungstheoretisch orientierten Diagnose des Wandels der modernen<br />
Gegenwartsgesellschaft“ (Hitzler 1999: 244f.). Eine solche Position ist<br />
jedoch auch dann, wenn man Individualisierung nicht als vollständige Entstrukturierung<br />
versteht, aus theoretischer <strong>und</strong> empirischer Sicht umstritten.<br />
Individualisierung als vollständige Entstrukturierung wird insgesamt nicht<br />
nur von kritischen Stimmen abgelehnt, sondern ist gar nicht zwingend eine Aussage<br />
der Individualisierungsthese selbst. Folglich kann es nicht darum gehen, im<br />
Zuge von Re-Strukturierungsdiskussionen Individualisierung (wie auch einige<br />
Lebensstilanalysen, siehe Kap. 5.1 <strong>und</strong> 5.3) als einseitig die Vielfalt von Unterschieden<br />
betonend <strong>und</strong> damit als – zumindest mittlerweile – überholt abzulehnen,<br />
sondern die Integration sozialer Wandlungsprozesse mit ihren Folgen für<br />
Lebensläufe seit den 1960er Jahren, wie sie unter anderem Beck beschrieben hat,<br />
bleibt auch für neuere <strong>Ungleichheit</strong>smodelle eine Herausforderung.<br />
Verzeitlichung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en bei P.A. Berger<br />
Eine ähnliche Betonung instabiler Strukturen wie bei Beck <strong>und</strong> zumindest von<br />
Tendenzen der Entstrukturierung findet man bei Peter A. Berger. Insbesondere<br />
macht er auf die Bedeutung einer verzeitlichten oder dynamisierten Perspektive<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> aufmerksam, darauf also, dass Personen ihren Status im<br />
Lebenslauf zunehmend häufiger wechseln. Zu dieser Bewegung in Strukturen<br />
tritt noch die Bewegung von sozialen Strukturen (in geraffter Form z.B. Strukturen<br />
Ostdeutschlands nach der Vereinigung).<br />
Diese Perspektive bedeutet auch bei Berger nicht die Annahme einer vollkommenen<br />
Entstrukturierung oder die Auflösung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en überhaupt.<br />
An verschiedenen Stellen seiner Veröffentlichungen finden sich Hinweise<br />
darauf, z.B. heißt es: Die<br />
„inter- <strong>und</strong> intragenerationellen Auflockerungstendenzen im westdeutschen Mobilitätsregime<br />
sind freilich nicht gleichbedeutend mit einer Außerkraftsetzung hergebrachter<br />
Mechanismen der Statusvererbung oder gar einem ‚Ende’ der Reproduktion<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en“ (1996: 245).<br />
Dennoch sieht er es als Mangel der bisherigen Sozialstrukturanalyse, die Verzeitlichung<br />
von <strong>Ungleichheit</strong>en <strong>und</strong> die Dauer des Verbleibs in einer bestimmten<br />
Lage zu wenig zu beachten. Selbst bei mehreren betrachteten Zeitpunkten neige
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>? 165<br />
sie dazu, Stabilität zu überschätzen <strong>und</strong> Fluktuationen zu unterschätzen. Die<br />
Armutsforschung kann beispielsweise zeigen, dass eine relative Konstanz von<br />
Armutsanteilen zu zwei Zeitpunkten mit erheblichen Zu- <strong>und</strong> Abgangsbewegungen<br />
innerhalb dieses Zeitraums verb<strong>und</strong>en sein kann (1996: 20/21). Berger<br />
kommt zu dem Schluss, dass es zwar einerseits in bestimmten Hinsichten durchaus<br />
ausgeprägte „meritokratische“ Züge der gegenwärtigen „Erwerbsgesellschaft“<br />
gebe, dass es aber andererseits „wachsende Instabilitäten <strong>und</strong> Unsicherheiten“<br />
gibt, „die die strukturprägende <strong>und</strong> legitimierende Kraft der meritokratischen<br />
Triade aushöhlen“ – <strong>und</strong> dies nicht nur am unteren Ende der Statushierarchie<br />
(Berger/Konietzka 2001: 22). Diese Instabilitäten, allgemein die<br />
Dauer des Verbleibs in sozialen Lagen (in einem weiten Wortsinn) müsste die<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sforschung konsequent als Element der objektiven Lebensbedingungen<br />
berücksichtigen (Berger 1990: 324). Hinzu kommt Bergers Hinweis,<br />
dass man beim Schluss von objektiven <strong>Ungleichheit</strong>smustern auf die „kulturelle“<br />
oder „subjektive“ Ebene, also auf Werte, Mentalitäten, Stile etc., durchaus die<br />
wissenssoziologischen <strong>und</strong> konstruktivistischen Untertöne etwas ernster nehmen<br />
solle als dies (auch neuere) sozialstrukturelle Arbeiten tun. Die genannte Verknüpfung<br />
solle daher sorgfältig konzeptionell überlegt sein (Berger 2001: 210).<br />
Auf jeden Fall impliziert dieser Gedanke den Vorschlag, nicht abgehoben von<br />
Positionen auszugehen, die zu besetzen sind, sondern von den Personen, die<br />
(ungleichheitsrelevante) Lebensläufe haben, Statusbiographien erleben.<br />
Zunehmende Instabilitäten <strong>und</strong> Diskontinuitäten sieht Berger nicht einseitig<br />
als Gefahr für die soziale Integration an. Kurze Verbleibsdauern in einem Status<br />
können zwar zu einer Schwächung der Integration führen, möglich ist aber auch<br />
eine flexiblere Haltung gegenüber vormals fremden Normen <strong>und</strong> Lebensstilen<br />
als Basis für eine andere Form der Integration als zuvor. So ist nicht a priori<br />
entscheidbar, ob sich eher eine Statusunsicherheit oder Erfahrungsvielfalt ergibt.<br />
Diese Ambivalenz entspricht auf einer kollektiven Ebene dem Doppelgesicht<br />
von Individualisierung für die Einzelnen, die als Chance, aber auch als Risiko<br />
zum Ausdruck kommen kann (Berger 1996). Eine empirische Prüfung von Häufigkeitsverteilungen<br />
zwischen den beiden Polen nimmt er allerdings nicht vor.<br />
Berger versucht jedoch, hinsichtlich von Erwerbsverläufen eine Bündelung von<br />
Bef<strong>und</strong>en zu sozialstrukturellen Bewegungen vorzunehmen, indem er „Bewegungstypen“<br />
ausmacht: Aufsteiger, Stetige, Unstetige <strong>und</strong> Absteiger (1996: 232-<br />
236). Diese verbindet er in einem nächsten Schritt mit Formen der Alltäglichen<br />
Lebensführung (vgl. Kap. 5), so dass sich folgendes Schema ergibt:
166 8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>?<br />
Abbildung 25: Bewegungstypen <strong>und</strong> Formen alltäglicher Lebensführung nach<br />
Berger<br />
Quelle: Berger 1996: 240<br />
Berger ist sich dabei allerdings bewusst, dass man bei der Berücksichtigung<br />
weiterer Faktoren (als nur von Erwerbsverläufen) <strong>und</strong> weiteren Untersuchungszeitpunkten<br />
Stabilitätsquoten fast beliebig „klein rechnen“ kann (1996: 242). Das<br />
Schema ist somit eher als ein heuristischer Schritt zu werten, um die Forderung<br />
nach einer dynamischen Sicht nicht im luftleeren Raum enden zu lassen.<br />
Mit dem Hinweis auf die zentrale Rolle von Personen <strong>und</strong> ihren Statusverläufen<br />
setzt Berger sich von mehr die Makroebene betonenden Ansätzen wie<br />
Klassenmodellen ab. Andererseits nimmt er mit der konsequenten Berücksichtigung<br />
von <strong>Ungleichheit</strong>sdynamiken (<strong>und</strong> zwar nicht nur in, sondern auch von<br />
Strukturen) eine zentrale Forderung der Klassenansätze auf, die diese von<br />
Schichtmodellen <strong>und</strong> teilweise auch anderen neueren Ansätzen sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
unterscheiden. Die Konsequenz, mit der Berger auf die Instabilität von<br />
(andererseits nicht vollkommen negierten) <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen hinweist,<br />
bringt seinen Ansatz in die Nähe der Argumente von Becks Individualisierungsthese.<br />
Dass übrigens eine Berücksichtigung von Lebensläufen nicht unbedingt<br />
zum Konzept Bergers führen muss, zeigen beispielsweise die Arbeiten von Karl<br />
Ulrich Mayer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin (vgl.
8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>? 167<br />
z.B. Mayer/Blossfeld 1990). Weniger „radikal“ als Berger schreibt er z.B., „dass<br />
soziale <strong>Ungleichheit</strong>en auf mehrfache Weise im Verlauf des individuellen Lebens<br />
entstehen <strong>und</strong> sich kumulativ verfestigen … Ressourcen der Herkunftsfamilie<br />
[müssen] während des eigenen Lebens erst in sichere Statuspositionen<br />
<strong>und</strong> Klassenlagen umgesetzt werden“ (Mayer/Blossfeld 1990: 297). Zwar<br />
schreibt auch er, dass sich Personen während ihres Lebenslaufs unterschiedlich<br />
lange in verschiedenen Klassenlagen aufhalten können (ebd.) <strong>und</strong> plädiert für<br />
einen „diachronen Klassenbegriff“ (a.a.O.: 302), aber bereits das stärkere Festhalten<br />
am Klassenbegriff unterscheidet ihn von Berger. Thesen, die er anhand<br />
von Untersuchungen untermauert, zeigen dann auch eher eine fortbestehende<br />
Prägung von „Klasse <strong>und</strong> Schicht“ unter Berücksichtigung des Lebenslaufs.<br />
Beispielsweise bestimmt die soziale Herkunft nach wie vor die Qualität der beruflichen<br />
Ausbildung (vergleichbar mit den Ergebnissen von W. Müller, vgl.<br />
Kap. 4.2). Entstrukturierung <strong>und</strong> Individualisierung lehnen diese Autoren insgesamt<br />
als zu einseitiges (<strong>und</strong> auch nicht direkt empirisch prüfbares) Ergebnis von<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sanalysen ab (Mayer/Blossfeld 1990).<br />
Wie oben angesprochen, bleibt es nach wie vor eine Aufgabe der<br />
Lebenslaufforschung (Hillmert/Mayer 2004, Blossfeld et al. 2007, Mayer/Schulze<br />
2009, Mayer/Solga 2010, Solga et al. 2009: Kapitel IV) zum einen <strong>und</strong> der<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sforschung zum anderen, ihre Konzepte <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e über die<br />
Dynamik sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en unter Berücksichtigung des Lebenslaufs aufeinander<br />
zu beziehen.<br />
Lesehinweise:<br />
� Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,<br />
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, insbesondere: Zweiter Teil;<br />
� Zur Diskussion <strong>und</strong> Kritik: Berger, Peter A.; Ronald Hitzler (Hg.) (2010):<br />
Individualisierungen. Ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert „jenseits von Stand <strong>und</strong><br />
Klasse“? Wiesbaden: VS
9 Zum Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
9. Zum Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
Der Schwerpunkt der bisherigen Darstellung lag auf den Fragen, wie die einzelnen<br />
Ansätze soziale <strong>Ungleichheit</strong> verstehen, welche Struktur sie postulieren, wie<br />
sie soziale <strong>Ungleichheit</strong> erklären <strong>und</strong> teilweise auch, welche Folgen diese für das<br />
gesellschaftliche Zusammenleben hat. Dabei ist immer auch das Thema angeklungen,<br />
wie sich soziale <strong>Ungleichheit</strong>en wandeln, entweder durch die Mobilität<br />
von Individuen oder durch die Veränderung des gesamten <strong>Ungleichheit</strong>sgefüges.<br />
Die Analyse des Wandels ist bedeutsam, um über eine rein statische Sicht hinaus<br />
zu gelangen <strong>und</strong> um die theoretischen Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong> auch<br />
angesichts zukünftiger Entwicklungen anschlussfähig zu halten (was nicht bedeutet,<br />
dass die Ansätze eine Prognose vornehmen). Dieser Abschnitt soll in<br />
komprimierter Form die bisher dargestellten Ansätze nochmals zusammenfassend<br />
<strong>und</strong> vergleichend unter der Fragestellung durchgehen, ob <strong>und</strong> in welcher<br />
Weise sie den Gesichtspunkt der Veränderung sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en berücksichtigen.<br />
Dabei wird jedoch nicht der Anspruch erhoben, die Rolle des sozialen<br />
Wandels in den einzelnen Ansätzen umfassend zu diskutieren (vgl. Weymann<br />
1998, Jäger/Meyer 2003) oder einen Überblick über die Mobilitätsforschung zu<br />
geben (vgl. Breen 2004, Groß 2008, Pollak 2008).<br />
� Marx: Es wird üblicherweise als ein Vorteil marxistischer Klassenmodelle<br />
angesehen, dass sie explizit eine dynamische Analyse intendieren. Dabei<br />
steht weniger die individuelle Mobilität im Vordergr<strong>und</strong> (Marx nimmt an,<br />
dass das Proletariat zu Lasten der Bourgeoisie wächst, Aufstiegschancen<br />
sind relativ gering). Der Ansatz konzentriert sich stärker auf gesamtgesellschaftlichen<br />
Wandel, dessen Motor hiernach der Klassenkonflikt ist. Mit einer<br />
relativ präzisen Festlegung darauf, wie die Entwicklungsgesetzlichkeiten<br />
der kapitalistischen Gesellschaft aussehen, setzt sich das Modell aber<br />
auch gleichzeitig verstärkt Kritik aus, weil die weitere Entwicklung zumindest<br />
im Nachhinein die Prognose widerlegen kann. Vertreter <strong>und</strong> Kritiker<br />
der Klassentheorie sind uneinig darüber, ob man Marx’ Ansatz im Hinblick<br />
auf den Wandel nun verwerfen sollte (höchstens also die Diagnose für das<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert Erklärungskraft habe) oder ob bestimmte Nebenbedingungen<br />
die Entwicklung zwar anders verlaufen ließen, verschiedene Aspekte<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_9,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
170 9 Zum Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
(wie der Klassenkonflikt) jedoch nach wie vor zentrale Faktoren für sozialen<br />
Wandel bleiben.<br />
� Weber: Weber setzt seinen konzeptionellen Rahmen mit nur wenigen systematischen<br />
Konkretisierungen in geringerem Maße der Gefahr aus, durch<br />
zukünftige Entwicklungen falsifiziert zu werden. Auch er deutet jedoch zumindest<br />
Wandlungsaspekte an, wenn er z.B. schreibt, dass je nach Stabilität<br />
oder Umwälzung der technisch-ökonomischen Situation die Stände- oder<br />
die Klassengliederung in den Vordergr<strong>und</strong> rückt. Die Definition der „sozialen<br />
Klassen“ berücksichtigt ausdrücklich Mobilität. Zwischen verschiedenen<br />
(Besitz- <strong>und</strong> Erwerbs-)Klassen ist durchaus Mobilität möglich, für einen<br />
bestimmten untersuchten Zeitpunkt grenzen die sozialen Klassen die<br />
Vielfalt ein auf solche Klassenlagen, über die hinaus Mobilität jeweils wenig<br />
typisch ist. <strong>Soziale</strong> Klassen scheinen dann sogar ein recht behäbiges<br />
Konstrukt zu sein, weil man erst dann von ihnen spricht, wenn über sie hinaus<br />
nicht nur persönliche, sondern auch Intergenerationenmobilität untypisch<br />
ist.<br />
� Geiger: Geigers Modell beinhaltet einen dynamischen Aspekt durch den<br />
Begriff des „dominanten Schichtungsprinzips“, das sich im Laufe der historischen<br />
Entwicklung ändern kann. Allerdings ist es schwierig, gerade für die<br />
eigene Gegenwart <strong>und</strong> unter Bedingungen schnellen sozialen Wandels ein<br />
dominantes Schichtungsprinzip konkret zu identifizieren. In seinem Spätwerk<br />
nimmt Geiger zudem konkretere Mobilitätsanalysen vor (z.B. für die<br />
dänische Stadt Aarhus). Geißler kommentiert hierzu kritisch, dass das Mehr<br />
an Präzision, Differenzierung <strong>und</strong> Realitätsnähe seinen Tribut an Relevanz<br />
gefordert habe, weil Geiger bestimmte theoretische Fragen, z.B. nach dem<br />
dominanten Schichtungsprinzip, hier gar nicht mehr stellt (Geißler 1985:<br />
401f.).<br />
� Funktionalistische Schichtungstheorie: So wie Marx’ Modell für die dynamische<br />
Analyse steht, wird dem funktionalistischen Ansatz oft der Fokus<br />
auf Ordnung zugeschrieben aufgr<strong>und</strong> der Fragestellung, inwiefern Schichtung<br />
zur Systemstabilität beiträgt. Im Einzelnen lassen sich jedoch auch hier<br />
Wandlungsaspekte finden. Parsons nennt etwa verschiedene Merkmale zur<br />
Einordnung in die Schichtungsskala (z.B. Eigentum oder Leistung), deren<br />
Gewichtung im Zeitverlauf variieren kann. Ebenso verhält es sich mit der<br />
funktionalen Bedeutung einer Position, die deren Rang festlegt (Davis/Moore).<br />
Für moderne Gesellschaften deutet der Ansatz an, dass Leistung<br />
ein wichtiger Einflussfaktor für den Rang einer Position ist. Mobilität<br />
scheint damit in hohem Maße der individuellen Eigenverantwortung zu unterliegen,<br />
was vielfach kritisiert wurde. Die Ausführungen im Kapitel 2.4
9 Zum Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en 171<br />
haben jedoch auch gezeigt, dass Pauschalurteile hierzu nicht angemessen<br />
sind.<br />
� Verschiedene Klassen- <strong>und</strong> Schichtmodelle (fünfziger bis siebziger Jahre):<br />
Nach Schelsky hat eine massenhafte Mobilität zu einer bestimmten neuen<br />
Struktur geführt, nämlich zu der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Er<br />
macht jedoch kaum Angaben zu allgemeinen Entwicklungsbedingungen,<br />
höchstens schließt er soziale Spannungen aufgr<strong>und</strong> der definitionsgemäß<br />
geringen Aufstiegsmöglichkeiten in einer nivellierten Gesellschaft nicht<br />
aus. Laut Dahrendorf setzen – grob formuliert – die Herrschenden die geltenden<br />
Normen fest, deren Befolgung sie durch eine vergleichsweise hochrangige<br />
Position belohnen. Zur Frage, wie sich Strukturen unter diesen Bedingungen<br />
ändern, gibt er einige Hinweise, z.B. sieht er die <strong>Ungleichheit</strong> als<br />
„Stachel“ an, der Strukturen in Bewegung hält, <strong>und</strong> nach einer Institutionalisierung<br />
des Klassenkonflikts haben vielfältige Herrschaftsverbände einen<br />
zentralen Herrschaftsverband aufgr<strong>und</strong> des Produktionsmittelbesitzes abgelöst.<br />
Doch könnten Antworten auf die Frage nach dem Wandel von Normen<br />
<strong>und</strong> damit von <strong>Ungleichheit</strong> ausführlicher <strong>und</strong> systematischer sein. Die<br />
Prestigemodelle im weiteren Sinne ähneln hinsichtlich der Aussagen zum<br />
Wandel dem funktionalistischen Schichtungsmodell, weil sie das Schichtgefüge<br />
tendenziell als hierarchisches Belohnungssystem ansehen. Zudem steht<br />
in den Schichtmodellen die Beschreibung einer bestimmten Gesellschaft zu<br />
einem bestimmten Zeitpunkt im Vordergr<strong>und</strong>. Auf der Basis von teilweise<br />
durchgeführten Folgestudien ergeben sich eher Änderungen im Detail (damit<br />
höchstens ein Wandel von Häufigkeitsverteilungen in den Schichten<br />
aufgr<strong>und</strong> von individueller Mobilität, nicht größere Strukturveränderungen).<br />
Für neomarxistische Ansätze gilt im Wesentlichen, was über das marxistische<br />
Klassenmodell gesagt wurde.<br />
� Schichtung nach Geißler: Geißler berücksichtigt sozialen Wandel durch die<br />
Betonung, dass sich eine dynamischere <strong>und</strong> pluralere Schichtstruktur herausgebildet<br />
habe. In der Nachfolge früherer Schichtungsanalysen meint er<br />
damit jedoch eher das Ergebnis eines Dynamisierungs- <strong>und</strong> Pluralisierungsprozesses,<br />
das sich in einem modernisierten Schichtmodell aufzeigen lässt,<br />
als konkrete Entwicklungsbedingungen. Das modernisierte Schichtmodell<br />
ist zudem vergleichsweise durchlässig, was auf die Möglichkeiten individueller<br />
Mobilität verweist.<br />
� Neuere Klassenmodelle: Eine durchgängige Fokussierung auf Wandlungsprozesse<br />
lässt sich hier nicht feststellen, was nicht heißt, dass sie vollständig<br />
ausgeblendet bleiben (z.B. beschäftigt sich Goldthorpe mit Mobilität,<br />
Wright thematisiert verschiedene zentrale Ausbeutungsressourcen im Zeitverlauf).<br />
Insgesamt steht jedoch der Entwurf eines mehrdimensionalen Mo-
172 9 Zum Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
dells tendenziell stärker im Vordergr<strong>und</strong> als eine Theorie zur Entwicklung<br />
von Gesellschaft. Einige Autoren thematisieren Klassenstrukturen allerdings<br />
nach wie vor im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung (z.B. Eder<br />
2001).<br />
� Lebensstile <strong>und</strong> Milieus: In den Untersuchungen gehen die Autoren oft von<br />
einer relativen Stabilität des Lebensstils aus. Die Aspekte der relativen<br />
Wahlfreiheit von Lebensstilen <strong>und</strong> wichtige Einflussfaktoren wie Alter<br />
(nicht nur, aber auch als Kohorteneffekt) <strong>und</strong> lebenszyklische Veränderungen<br />
relativieren die Stabilitätsvorstellung aber andererseits <strong>und</strong> zeigen Anknüpfungspunkte<br />
für die Berücksichtigung von Veränderungen auf. Lebenszyklische<br />
Veränderungen (z.B. die Geburt des ersten Kindes) können<br />
z.B. horizontale Mobilität zu einem anderen Lebensstil bewirken, <strong>und</strong> wenn<br />
man die Milieus von Schulze als Kohorteneffekt begreift, müssten sich<br />
spätestens nach einigen Jahrzehnten die (gegebenenfalls modifizierten)<br />
„jungen“ Milieus horizontal auf der Abszisse verschieben, während „neue<br />
Milieus“ nachrücken. Teilweise gibt es Betrachtungen im Längsschnitt, die<br />
einen Wandel im Gefüge von Lebensstiltypen oder Milieus aufzeigen (z.B.<br />
Spellerberg; Vester et al.). Doch könnten die Ansätze insgesamt noch systematischer<br />
nach allgemeinen Entwicklungsbedingungen forschen, z.B.<br />
durch eine engere Verknüpfung mit der Lebenslaufforschung.<br />
� Bourdieu: Bourdieu konzipiert den Raum sozialer Positionen durch das<br />
Kapitalvolumen, die Kapitalstruktur <strong>und</strong> die soziale Laufbahn. Durch das<br />
letztgenannte Kriterium rücken Veränderungsmöglichkeiten an eine zentrale<br />
Stelle. In der Analyse konkreter gesellschaftlicher Klassen findet sich dieses<br />
Kriterium wieder, wenn Bourdieu beispielsweise das „absteigende Kleinbürgertum“<br />
beschreibt. So kann er Mobilitätserscheinungen in diesem<br />
Rahmen nicht nur diagnostizieren, sondern konzeptionell einordnen. Weiter<br />
ist die Konfliktperspektive der Klassenmodelle auch bei ihm erkennbar,<br />
wenn er schreibt, dass die Menschen in einem fortwährenden Kampf um die<br />
Veränderung des sozialen Raums verwickelt sind. Der zentrale Begriff des<br />
Habitus deutet bei allen prinzipiellen Wandlungsmöglichkeiten (insbesondere<br />
in hoch differenzierten Industriegesellschaften) auch auf eine gewisse<br />
Stabilität (positiv formuliert: die die Identifizierung von Strukturen erst ermöglicht)<br />
<strong>und</strong> Trägheit hin. Wie vollzieht sich der Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en<br />
genau, wenn der Habitus sich gerade nicht in rasantem Tempo<br />
ändert? Ansätze Bourdieus zu dieser Frage sind zumindest vorhanden, wie<br />
etwa Ebrecht (2002) hervorhebt: Die Handlungspraxis entspricht nur dann<br />
dem Habitus ganz genau, wenn Entstehungs- <strong>und</strong> Anwendungsbedingungen<br />
des Habitus zusammenfallen (was in einer modernen Gesellschaft nicht<br />
mehr den Regelfall darstellt). Als Beispiel für die Entstehung eines innova-
9 Zum Wandel sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en 173<br />
tiven Habitus nennt Ebrecht die Kombination zweier alter, nacheinander inkorporierter<br />
Habitusformen, z.B. in der Kindheit <strong>und</strong> in der Jugend (Ebrecht<br />
2002: 234f.). So verknüpft er das Habituskonzept konkret mit Wandlungsaspekten.<br />
� <strong>Soziale</strong> Lagen: Ein wichtiges Stichwort lautet hier die nicht-additive Verknüpfung<br />
der <strong>Ungleichheit</strong>sdimensionen. Die Gewichtung verschiedener<br />
Dimensionen kann prinzipiell nicht nur von Lage zu Lage, sondern auch im<br />
Zeitverlauf variieren. Eine empirische Umsetzung ist jedoch mit Problemen<br />
verb<strong>und</strong>en. Im Vordergr<strong>und</strong> des Ansatzes steht zudem eher das Ziel, eine<br />
sorgfältige Beschreibung komplexer Lebenslagen in einer modernen Gesellschaft<br />
zu liefern, weniger die Analyse von Veränderungsmechanismen. Der<br />
Blick speziell auf prekäre Lagen bietet ein Potential zur Berücksichtigung<br />
zeitlicher Aspekte, z.B. hinsichtlich der Wechselwirkungen von bisherigem<br />
Lebenslauf <strong>und</strong> Zukunftsperspektiven einerseits <strong>und</strong> Mobilitätsprozessen<br />
andererseits. Zur theoretischen Ausarbeitung dieses Potentials besteht allerdings<br />
noch erheblicher Forschungsbedarf. Dies gilt auch für die Theorie-<br />
Empirie-Verknüpfung im Kontext der Intersektionalitätsforschung.<br />
� Individualisierung: Die Darstellung von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen<br />
bildet einen Kern der Individualisierungsthese <strong>und</strong> weiterer Annahmen<br />
zur gesellschaftlichen Entwicklung von Ulrich Beck (etwa zur reflexiven<br />
Moderne oder zur Risikogesellschaft; Beck 1986; kritisch z.B. Münch<br />
2002). Ein Teil der Diagnose lautet: Stetiger Wandel mit einer komplizierten<br />
Kombination aus Pluralisierung <strong>und</strong> Standardisierung. Neben der<br />
Postulierung der Auflösung von Klassen <strong>und</strong> Schichten finden auch einige<br />
hypothetische Zukunftsszenarien darin Platz. Dadurch, dass ein bestimmtes<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sgefüge mit einer bestimmten Struktur jedoch nicht Bestandteil<br />
der Individualisierungsthese ist, kann eine solche auch nicht auf konkrete<br />
Veränderungen <strong>und</strong> Veränderungsmechanismen untersucht werden. In Bergers<br />
Ansatz bilden <strong>Ungleichheit</strong>sverläufe ein wichtiges Thema, auf dem die<br />
Argumentation insgesamt basiert.
10 Fazit 10. Fazit<br />
Der Wandel von <strong>Ungleichheit</strong>en ist nur ein (wichtiges) Thema ungleichheitstheoretischer<br />
Ansätze. Wenn man sich die zu Anfang gestellten Leitfragen in<br />
Erinnerung ruft, wird nun nach der Darstellung <strong>und</strong> Diskussion sowohl der älteren<br />
als auch der neueren Ansätze deutlich, dass diese nach wie vor unterschiedliche<br />
theoretische Schwerpunktsetzungen vornehmen. Auch die neueren Ansätze<br />
sehen es entweder nicht als ihre Aufgabe an oder sind meist nicht – zumindest<br />
nicht konsensfähig – in der Lage, die theoretischen Anforderungen oder auch die<br />
komplexe Realität in ein einziges theoretisches Modell zu integrieren, das zudem<br />
noch empirisch umsetzbar wäre.<br />
Unter den neueren Ansätzen setzen Lage- <strong>und</strong> tendenziell Schichtmodelle<br />
beispielsweise einen Schwerpunkt auf die (mehrdimensionale) Beschreibung von<br />
<strong>Ungleichheit</strong>. Die „kulturelle“ Ebene sozialer <strong>Ungleichheit</strong> (die Lebensweise,<br />
Verhalten <strong>und</strong> Einstellungen) beleuchten insbesondere Milieu- <strong>und</strong> Lebensstilansätze.<br />
Nicht aus allen Lebensstil- <strong>und</strong> Lagemodellen <strong>und</strong> ebenfalls nicht aus<br />
dem Individualisierungskonzept lässt sich ein Strukturmodell des gesellschaftlichen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sgefüges ablesen (welche Gruppen liegen wie über-, neben-<br />
oder gegeneinander?), was bei Klassen-, Schicht- <strong>und</strong> Milieumodellen eher der<br />
Fall ist. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse finden, wie das vorige Kapitel<br />
zeigte, überall ihren Niederschlag, dem Anspruch der Konzepte nach aber insbesondere<br />
bei Klassenmodellen <strong>und</strong> bei der Individualisierungsthese, was in beiden<br />
Fällen mit der Zielsetzung einhergeht, diese Prozesse auch in ihren Ursachen zu<br />
erklären. Die Aspekte aus den Leitfragen, die sich auf die Beziehungen zwischen<br />
ungleichheitsrelevanten Gruppen (also auf eine Mesoebene) oder auf die Folgen<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> für die Integration richten, sind weiterführende Fragen, die<br />
kein Ansatz in das Zentrum seiner Überlegungen stellt. Zwar liegen Konzepte<br />
zur Beantwortung dieser Fragen vor, auf die z.B. Stichworte wie Distinktion,<br />
Indifferenzklima zwischen Milieus, Klassenkonflikt oder die Reintegrationsdimension<br />
in einer individualisierten Gesellschaft hinweisen können. Doch gibt<br />
es hier <strong>und</strong> bei einigen weiteren Aspekten (z.B. mahnt Levy an, meso-soziale<br />
Strukturen wie die Rolle von Institutionen bei der Sozialstrukturanalyse stärker<br />
zu berücksichtigen, Levy 2002) sicherlich weiteren Forschungsbedarf.<br />
Die Komplexität der <strong>Ungleichheit</strong>sverhältnisse bringt es mit sich, dass<br />
selbst entgegengesetzte modellhafte Abstraktionen empirische Belege für ihr<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_10,<br />
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176 10 Fazit<br />
Vorgehen anführen können. So können die Klassenansätze auf der Ebene einzelner<br />
empirischer Phänomene durchaus plausibel machen, dass soziale Herkunft<br />
<strong>und</strong> Bildungsabschlüsse das (Berufs-)Leben auch heutzutage gravierend beeinflussen.<br />
Genauso können Autoren, die auf Individualisierung, Statusinkonsistenzen<br />
oder die recht kurze Verbleibdauer in einem bestimmten Status aufmerksam<br />
machen wollen, empirische Phänomene finden, die ihre Thesen stützen. Seit<br />
etwa Mitte der neunziger Jahre neigt die <strong>Ungleichheit</strong>sdiskussion dabei wieder<br />
mehr der Tendenz zu, die strukturellen Ressourcen <strong>und</strong> Restriktionen zu betonen,<br />
ohne jedoch die kulturellen (bzw. subjektiven, symbolischen etc.) Aspekte<br />
völlig zu vernachlässigen. Stichworte wie Knappheit, Re-Stratifizierung, Prekarisierung<br />
<strong>und</strong> vertikale <strong>Ungleichheit</strong> zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> einer<br />
angespannten Finanzlage des Staates erlangten wieder eine höhere Bedeutung,<br />
was jedoch nicht zu größerer konzeptioneller Einmütigkeit geführt hat.<br />
Es geht also bei der theoretischen Modellierung nicht um eine möglichst<br />
naturgetreue Abbildung detaillierter Verhältnisse (ohne den Anspruch der Realitätsnähe<br />
andererseits aufzugeben). In früheren sowie späteren Ansätzen zeigt<br />
sich, dass die Berücksichtigung von Multidimensionalität an ihre Grenzen stößt<br />
(z.B. bei Lenski oder bei den sozialen Lagen Hradils), insbesondere, wenn die<br />
Ansätze nicht allein die „objektive“ Ebene von Lebensbedingungen, sondern<br />
auch die „subjektive“ Ebene typischer Handlungspraxen <strong>und</strong> Haltungen einschließen<br />
sollen. Ebenfalls zeigt sich, dass die Modelle, die in Teilen auch bestimmten<br />
„Moden“ unterliegen (z.B. der Betonung oder der Abschwächung<br />
sozialer Gegensätze), nie vollständig „objektive“ Abbildungen von Strukturen<br />
<strong>und</strong> deren Entwicklung sein können. Sie tragen damit auch selbst dazu bei, gesellschaftliche<br />
Vorstellungen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu (re-)produzieren. So<br />
könnten beispielsweise Vorstellungen von oben <strong>und</strong> unten oder verschiedene<br />
Funktionen horizontal zueinander liegender Gruppen unter anderem auch durch<br />
entsprechende Modelle mit manifestiert werden (siehe zum Themenfeld der<br />
Repräsentationen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> auch Barlösius 2004: insbesondere 229-<br />
245, dies. 2005).<br />
Die genannten Grenzen ziehen fast zwangsläufig Schwerpunktsetzungen<br />
nach sich, die anhand der skizzierten Stärken <strong>und</strong> Kritikpunkte der einzelnen<br />
Ansätze deutlich geworden sein sollten. Neuere Ansätze stehen dabei ausnahmslos<br />
vor der nicht einfachen Aufgabe, Differenzierungsprozesse <strong>und</strong> den<br />
Einfluss fortbestehender (auch vertikaler) <strong>Ungleichheit</strong>sfaktoren zu integrieren<br />
<strong>und</strong> dabei Mechanismen von Zusammenhängen (etwa von Sozialstruktur <strong>und</strong><br />
Lebensführung) herauszuarbeiten, die auch Hinweise auf Entwicklungsprinzipien<br />
der <strong>Ungleichheit</strong>sverhältnisse geben. Es wird eine – sicherlich interessante<br />
– Diskussion für die Zukunft bleiben, welche (verfeinerten) Lösungsansätze für<br />
dieses Problem entwickelt werden.
10 Fazit 177<br />
Zuletzt sei ein Punkt angesprochen, der den Blick ein wenig über Fragen sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> im engeren Sinne hinausführt: Die <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />
thematisiert zweifellos zentrale soziologische Fragen des Wechselverhältnisses<br />
zwischen Handeln <strong>und</strong> Strukturen. Ist sie damit auch anschlussfähig für andere<br />
soziologische Theorien? In einigen Fällen kann diese Frage sicherlich bejaht<br />
werden, insbesondere für einige Ansätze mittlerer Reichweite (z.B. Gender-Forschung,<br />
Netzwerkanalyse, Lebenslaufmodelle, Organisationssoziologie, sozialer<br />
Wandel, Bezüge zur Rational-Choice-Theorie, letzteres z.B. bei Lüdtke 1990<br />
oder Friedrichs 1998). Andere Verbindungen könnten noch systematischer verfolgt<br />
werden, etwa die zur Differenzierungstheorie. Ungleichartigkeit (unter<br />
anderem gesellschaftlicher Teilsysteme) mit Fragen nach der Systemintegration<br />
steht hier der <strong>Ungleichheit</strong> mit Fragen insbesondere der Sozialintegration angesichts<br />
von Verteilungskonflikten gegenüber (vgl. z.B. Schwinn 2004).<br />
Es muss nicht darum gehen, die eine integrierte Gesellschaftstheorie zu<br />
entwickeln, die alle Fragen nicht nur der sozialen <strong>Ungleichheit</strong>, sondern der<br />
Soziologie insgesamt beantworten kann, aber Forscherinnen <strong>und</strong> Forscher können<br />
darauf abzielen, die jeweils „blinden Flecken“ ihrer Perspektive mitzudenken<br />
<strong>und</strong> ihr Konzept für andere Theorierichtungen anschlussfähig zu halten.<br />
Auch in diesem Punkt darf man auf die weitere Diskussion gespannt sein.
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<strong>und</strong> Ausgrenzung, vollständig überarbeitete <strong>und</strong> aktualisierte Fassung der Ausgabe<br />
von 1993, Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />
Vester, Michael; Christel Teiwes-Kügler; Andrea Lange-Vester (2007): Die neuen<br />
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VSA<br />
Vogel, Berthold (2006): <strong>Soziale</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit <strong>und</strong> prekärer Wohlstand. Für ein verändertes<br />
Vokabular sozialer <strong>Ungleichheit</strong>; in: Bude, Heinz; Andreas Willisch (Hg.):<br />
Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg:<br />
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Vogel, Berthold (2009): Wohlstandskonflikte. <strong>Soziale</strong> Fragen, die aus der Mitte kommen,<br />
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„Risikogesellschaft“; in: Schimank, Uwe; Ute Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen<br />
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München/Mering: Hampp<br />
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York: Campus
Abbildungsverzeichnis<br />
Abbildung 1: Überblick über Ansätze zur sozialen <strong>Ungleichheit</strong> ................ 12<br />
Abbildung 2: Verknüpfung von Schicht <strong>und</strong> Mentalität nach Geiger.......... 27<br />
Abbildung 3: Einflussfaktoren für den Rang einer Position nach<br />
Davis/Moore........................................................................... 35<br />
Abbildung 4: Die soziale Schichtung in Deutschland nach Dahrendorf ...... 46<br />
Abbildung 5: Schichtenaufbau in Deutschland nach Moore/Kleining ......... 52<br />
Abbildung 6: <strong>Soziale</strong> Schichtung nach Scheuch .......................................... 53<br />
Abbildung 7: Das <strong>Ungleichheit</strong>sgefüge Deutschlands in den 60er Jahren<br />
nach Bolte .............................................................................. 55<br />
Abbildung 8: Die Klassenstruktur der Erwerbsbevölkerung 1978 lt.<br />
Modell des PKA..................................................................... 61<br />
Abbildung 9: Das Schichtmodell nach Geißler ............................................ 76<br />
Abbildung 10: Das Klassenmodell nach Wright ............................................ 80<br />
Abbildung 11: Das Zentrum-Peripherie-Modell nach Kreckel ...................... 86<br />
Abbildung 12: Das Lebensstilkonzept nach W. Georg .................................. 96<br />
Abbildung 13: Lebensstile in West- <strong>und</strong> Ostdeutschland nach<br />
Schneider/Spellerberg ............................................................ 99<br />
Abbildung 14: Die Sinus-Milieus 2010........................................................ 107<br />
Abbildung 15: Die sozialen Milieus in Westdeutschland 2003.................... 109<br />
Abbildung 16: Alltagsästhetische Schemata nach Schulze .......................... 113<br />
Abbildung 17: Milieus <strong>und</strong> alltagsästhetische Schemata nach Schulze ....... 113<br />
Abbildung 18: Das Milieumodell von Schulze ............................................ 114<br />
Abbildung 19: Der Raum objektiver Klassenlagen in Deutschland............. 128<br />
Abbildung 20: Der soziale Raum nach Bourdieu......................................... 131<br />
Abbildung 21: Die Verteilung des Nahrungsmittelkonsums im sozialen<br />
Raum nach Bourdieu............................................................ 133<br />
Abbildung 22: <strong>Soziale</strong> Lagen nach Hradil ................................................... 141<br />
Abbildung 23: Profil einer sozialen Lage nach Schwenk............................. 142<br />
Abbildung 24: <strong>Soziale</strong> Lagen in West- <strong>und</strong> Ostdeutschland 2006, in %...... 144<br />
Abbildung 25: Bewegungstypen <strong>und</strong> Formen alltäglicher Lebensführung<br />
nach Berger .......................................................................... 166<br />
N. Burzan, <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8,<br />
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