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Teil Tausch – Theorie

Diplomarbeit von Isabell Thoma Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Studiengang Industrial Design Sommersemester 2013

Diplomarbeit von Isabell Thoma
Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Studiengang Industrial Design
Sommersemester 2013

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<strong>Teil</strong><br />

tausch<br />

<strong>–</strong><br />

<strong>Theorie</strong>


INHALT<br />

<strong>Theorie</strong><br />

Praxis<br />

<strong>Teil</strong><br />

tausch<br />

Einleitung<br />

Theoretische Grundlagen<br />

Kollaborative Ökonomien<br />

heute<br />

Kollaborative Ökonomien<br />

und Design<br />

Quellenverzeichnis<br />

Zusammenfassung<br />

3<br />

6<br />

20<br />

24<br />

26<br />

29<br />

Einleitung<br />

Ansätze aus der<br />

Recherche<br />

Erste Ideen<br />

Zielformulierung<br />

Entwicklung Entwurf<br />

Technische Ausarbeitung<br />

Prototypenbau<br />

Modellbau<br />

Farbauswahl<br />

Bilder / Konzept<br />

Bilder / Variationen<br />

Danksagung<br />

3<br />

6<br />

8<br />

20<br />

26<br />

44<br />

48<br />

56<br />

66<br />

72<br />

80<br />

102<br />

Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart / Industrial Design<br />

Sommersemester 2013<br />

Prof. Uwe Fischer / Prof. Winfried Scheuer<br />

AM Manuel Messmer / AM Susanne Hoffmann<br />

Diplomarbeit Isabel Thoma


getauscht, geteilt, geliehen<br />

motivation und ziele des projekts<br />

Carsharing oder Leihfahrrad, Mitfahrgelegenheit<br />

oder Couchsurfing, Kleidertauschparty<br />

oder Internettauschbörse: Eine<br />

wachsende Zahl Menschen möchten nicht<br />

mehr besitzen und kaufen, sondern benutzen<br />

- dann, wenn etwas gerade gebraucht<br />

wird. Das Internet als nötiger Organisationsrahmen<br />

ist Wegbereiter und Antrieb der<br />

Entwicklung. Laut der Studie „Deutschland<br />

teilt“ hat immerhin schon jeder zweite Erfahrung<br />

mit alternativen Konsumformen gesammelt,<br />

etwa zwölf Prozent nutzen die Angebote<br />

regelmäßig.<br />

Dauerhaftes Eigentum scheint demnach ein<br />

Konzept von gestern zu sein, beinahe eine<br />

Belastung und Einschränkung. <strong>Tausch</strong>en,<br />

Leihen und <strong>Teil</strong>en erscheint dagegen zeitgemäßer,<br />

offener und nachhaltiger. Was zählt,<br />

ist nicht mehr das Eigentum, sondern der<br />

Zugang. Was als „Collaborative Consumption“<br />

oder „Sharing Economy“ umschrieben<br />

wird, kann unterschiedlichen Systemen folgen:<br />

Zum einen tauschen oder verleihen<br />

Privatpersonen Gegenstände untereinander.<br />

Zum anderen testen auch Firmen alternative<br />

Konsumformen und bieten ihre Produkte zur<br />

temporären oder gemeinschaftlichen Nutzung<br />

an.<br />

Interessant ist dabei insgesamt, dass die<br />

Bereitschaft, Dinge mit anderen zu teilen,<br />

Produkte umfasst, die eigentlich seit jeher<br />

als Statussysbole oder zumindest als sehr<br />

persönlich gelten: Die eigene Wohnung, das<br />

eigene Auto, Kleider, sogar Lebensmittel<br />

werden weitergegeben oder gemeinsam genutzt.<br />

Die Grenzen scheinen sich hier stetig<br />

zu verschieben - und werden sich vermutlich<br />

weiter verschieben. Die zukünftig effektivere<br />

Nutzung eines gemeinsamen Bestandes<br />

an Dingen und die damit einhergehende<br />

Ressourcenschonung gilt als eine der Chancen<br />

der Entwicklung.<br />

Von Seiten der Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften<br />

gibt es einige sehr<br />

interessante Arbeiten und Denkansätze zu<br />

dem Thema. Auch in der Öffentlichkeit und in<br />

den Medien wird es seit kurzem ausführlich<br />

diskutiert. Da es sich im Kern ganz konkret<br />

um die dingliche Welt, um Nutzgegenstände<br />

handelt, liegt die Vermutung nahe, dass<br />

es auch eine Relevanz für Design hat oder<br />

haben wird. Folgt man der aktuell gängige<br />

These, dass sich die Entwicklung in Zukunft<br />

verstärkt, stellt sich die Frage: Wie müssen<br />

Produkte der Zukunft aussehen, die - in variierender<br />

Form und Abfolge - nicht mehr nur<br />

von einem, sondern von mehreren Menschen<br />

benutzt werden? Wenn der Schwerpunkt<br />

nicht mehr auf dem Haben-Wollen, sondern<br />

auf dem Nutzen-Wollen liegt? In welcher<br />

Balance stehen realer Nutzwert und symbolischer,<br />

identitätsstiftender Wert, und welche<br />

Rolle spielt der temporäre Aspekt?<br />

Die Herausforderung des Projekts besteht<br />

darin, die durch gründliche Recherche erarbeiteten<br />

Inhalte in einem Entwurfsprojekt<br />

umzusetzen.<br />

2<br />

3


<strong>Theorie</strong><br />

Eine umfangreiche theoretische Recherche<br />

zum Thema der kollaborativen Ökonomien<br />

bildet den ersten <strong>Teil</strong> des Projekts. Darin<br />

werden verschiedene Fragen untersucht:<br />

Was sind kollaborative Ökonomien und woher<br />

kommen die Modelle dafür? Wie sieht in<br />

Abgrenzung dazu der Eigentumsbegriff aus?<br />

Welche aktuellen Veränderungen gibt es, wie<br />

können diese erklärt werden? Gibt es Thesen<br />

für die Zukunft? Und zuletzt: Was hat<br />

dies mit Design zu tun?<br />

Die Recherche kann in Hinblick auf das Gesamtprojekt<br />

als eigenständiges «Projekt im<br />

Projekt» gesehen werden. Als reine <strong>Theorie</strong>arbeit<br />

gehört sie einer anderen Kategorie<br />

an wie das praktische Entwurfsprojekt. Ihre<br />

Inhalte tauchen zwar in der Praxis auf, allein<br />

schon weil sie als Hintergrundwissen vorhanden<br />

waren, trotzdem kann die praktische<br />

Arbeit nicht linear aus der Recherche hervorgehen.<br />

Beide Arbeitsphasen, <strong>Theorie</strong> und<br />

Praxis, haben zwar Überschneidungspunkte,<br />

gehen aber als eigenständige Elemente jeweils<br />

über den anderen <strong>Teil</strong> hinaus.<br />

Diese klare Trennung zu ziehen war ein<br />

wichtiger und zugleich schwieriger Schritt im<br />

Prozess. Um dem Rechnung zu tragen sind<br />

die Arbeitsphasen in zwei Büchern, THEO-<br />

RIE und PRAXIS, dokumentiert.<br />

4<br />

5


theoretische grundlagen<br />

Eigentum und Markt<br />

geschichte der Begriffe<br />

Die Vorstellungen von Eigentum und Markt,<br />

wie sie heute gelten, haben eine lange Etwicklungsgeschichte<br />

hinter sich.<br />

In den vormodernen Gesellschaften ist die<br />

Beziehung zu Eigentum stark mit der entsprechenden<br />

Religion verbunden: Gottes Schöpfung<br />

ist Gottes Eigentum. Entsprechend des<br />

Glaubens wurden die irdischen Güter den<br />

Menschen zu ihrer Verfügung überlassen. Je<br />

nach gesellschaftlicher Organisation und<br />

innerer Hierarchie, wurden die Güter untereinander<br />

aufgeteilt oder gemeinsam genutzt.<br />

Als Gegenleistung galt es, den Pflichten der<br />

Ehrerbietung und Lebenstreue der entsprechenden<br />

göttlichen Ordnung nachzukommen.<br />

1 Die Gesellschaften waren meist als<br />

Spiegelbild dieser Ordnungen organisiert,<br />

wobei «die Dinge nicht direkt und exklusiv<br />

einer Person [gehörten], sondern nach den<br />

Bedingungen verteilt [wurden], die ihrerseits<br />

aus dem stringenten Kodex gegenseitiger<br />

Verpflichtungen abgeleitet wurden.» 2<br />

In den feudalen Gesellschaften waren die<br />

Menschen also indirekt Anhängsel von Landstücken.<br />

Denn das Recht, auf dem Stück<br />

Land, auf dem sie geboren waren, lebenslang<br />

zu bleiben, wurde den Leibeigenen vom<br />

Feudalherren zugebilligt. 3<br />

Einfriedung des landes<br />

Im England des 16. Jahrhundert wurde durch<br />

die „Einfriedung des Landes“ eine entscheidende<br />

Transformation der Eigentumsverhältnisse<br />

vorgenommen. Denn nun gehörten<br />

Personen nicht mehr zu einem bestimmten<br />

Land, sondern das Land bestimmten Perso-<br />

nen. Land wurde so zu einer Handelsware.<br />

«Durch die Einfriedung der Anger und ihre<br />

Umwandlung in Privateigentum wurden Millionen<br />

von Bauern aus ihren festgeschriebenen<br />

Verpflichtungen befreit. Doch sie verloren<br />

mit dieser Freiheit ihre traditionellen,<br />

durch die Geburt gegeben Rechte, die ihnen<br />

die Zugehörigkeit zum Land garantiert hatten.»<br />

4 , meint Rifkin.<br />

Eigentumsrecht durch<br />

Arbeit<br />

Mit John Lockes «Die zweite Abhandlung<br />

über die Regierung» erschien 1689 eine<br />

Schrift, welche die konkreten Umstände in<br />

England verregeln sollte. Zentral formuliert<br />

er dort: «Jeder Mensch hat ein Eigentum an<br />

seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand<br />

ein Recht als nur er allein. Die Arbeit<br />

seines Körpers und das Werk seiner Hände<br />

sind, so können wir sagen, im eigentlichen<br />

Sinne sein Eigentum. (…) Was immer er also<br />

dem Zustand entrückt, den die Natur so vorgesehen<br />

hat und in dem sie es belassen hat.,<br />

hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm<br />

etwas eigenes zugefügt. Er hat es somit zu<br />

seinem zu seinem Eigentum gemacht. (…)<br />

So viel Land ein Mensch bepflügt, bepflanzt,<br />

kultiviert und so viel er von diesem Ertrag<br />

verwerten kann, soviel ist sein Eigentum.» 5<br />

Dem Staat kommt dabei eine zentrale Rolle<br />

zu: er muss das Eigentum seiner Bürger<br />

schützen <strong>–</strong> also auch deren Sicherheit garantieren,<br />

da das Leben der Bürger ja deren<br />

erstes Eigentum ist. Die Akkumulation von<br />

Eigentum zeichnet Bürger unter- und voreinander<br />

aus, Arbeitsamkeit und Besitz werden<br />

zu den wichtigsten hierarchisierenden Elementen<br />

in der Gesellschaft und formen das<br />

Selbstbewusstsein des modernen Menschen. 6<br />

Nur wenig später publiziert Adam Smith seine<br />

Vorstellungen und schreibt: «Aus dem<br />

Vorgang des Erbens, der Übertragung von<br />

Eigentum zwischen aufeinanderfolgenden<br />

Generationen, erwuchs die Vorstellung der<br />

<strong>Tausch</strong>barkeit, und mit dem <strong>Tausch</strong> wurde<br />

Eigentum zu einem Mittel, Herrschaft auszuüben;<br />

ein Mittel, Klassenunterschiede zu<br />

schaffen und zu erhalten.» 7 Nach Smiths Vorstellungen<br />

wird dieser (<strong>Tausch</strong>-)Markt von<br />

einer unsichtbaren Hand regiert, welche zwischen<br />

Produziertem und Konsumierten für<br />

eine Balance sorgt. Der Handel wird damit<br />

nicht nur zum Zentrum der kapitalistischen<br />

Wirtschaft, sondern auch zum Herzstück der<br />

Gesellschaft.<br />

Mit der Industrialisierung wandeln sich die<br />

Arbeitsverhältnisse und Beziehungen zwischen<br />

Produzierenden, Produziertem und<br />

dem daraus Erwirtschaftetem. Nebenbei wird<br />

auch die Funktion des Hauses neu bestimmt:<br />

wo früher Wohn- und Produktionsstätte angesiedelt<br />

war, entsteht nun ein reiner «Ort<br />

der Konsumption». 8<br />

Ausblick:<br />

in drei stufen von der<br />

Industrialisierung zur<br />

sharing economy<br />

Vom Beginn der Industrialisierung über die<br />

Etablierung eines Marktes mit Massenartikeln<br />

bis hin zu zeitgenössischen Konzepten<br />

der Sharing Economy lassen sich grob drei<br />

Stufen ausmachen, welche in ihrer jeweiligen<br />

Ausprägung Einfluss auf die Gestaltung<br />

der Dinge ausgeübt haben.<br />

Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist der<br />

Geist des Kapitalismus maßgeblich von Familienbetrieben<br />

bestimmt. Es herrscht ein<br />

Fortschrittsglaube und die Hoffnung, sich<br />

durch finanziellen Erfolg aus Lokalgemeinschaften<br />

zu befreien. Persönliches Eigentum<br />

wird als Sicherheit wahrgenommen, während<br />

die Gesellschaft nach einem streng paternalistischem<br />

System organisiert ist. 9<br />

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs übernehmen<br />

die Vereinigten Staaten die Vorherrschaft<br />

im globalen Markt <strong>–</strong> und prägen<br />

diesen mindestens bis zur Auflösung des<br />

Bretton Woods Systems und der Ölkrise in<br />

den 1970er Jahren. Große Industriebetriebe<br />

diktieren weitgehend den Weltmarkt, geführt<br />

von Managern, welche ausschließlich das<br />

Ziel hoher Absatzzahlen verfolgen <strong>–</strong> nicht<br />

immer zugunsten der Qualität der Artikel. 10<br />

Anreiz sind individuelle Karrierechancen der<br />

<strong>Teil</strong>nehmer und das erreichen bestimmter<br />

Machtpositionen. Man glaubt, durch erfolgreiches<br />

Wirtschaften an Freiheit zu gewinnen<br />

und durch ‹effizienzbestimmte Meritokratie›<br />

allgemein für Gerechtigkeit sorgen<br />

zu können. Die Wachstumsprognosen zeigen<br />

in dieser Zeit ausschließlich nach oben und<br />

so scheint die Hoffnung nicht unbegrün-<br />

6<br />

7


det, durch langfristige Karriereplanungen<br />

an persönlicher Sicherheit zu gewinnen. Es<br />

ist die Zeit des Wirtschaftswunders und der<br />

sozialen Marktwirtschaft, wobei die Idee des<br />

Wohlfahrtsstaates vor allem durch das <strong>–</strong> in<br />

der westlichen Welt <strong>–</strong> überall zu spürende<br />

Wachstum bestimmt wird.<br />

Ein neuer Geist zeigt sich erst in den 1980er<br />

Jahren deutlicher. Unternehmen vernetzen<br />

sich immer stärker global, was sich enorm<br />

auf den Arbeitsmarkt und die Verteilung von<br />

Produktionsstandorten niederschlägt. Die<br />

Stätten der industriellen Produktion wandern<br />

nach Asien und Osteuropa, wo die<br />

Gesetze und Vorschriften dehnbar und die<br />

Löhne niedrig sind. Gleichzeitig wird aber<br />

auch das Finanznetz immer weltumspannender<br />

und schneller. In den 1990er Jahren wird<br />

dies durch den Einfluss des Internet und der<br />

digitalen Kommunikationswege noch einmal<br />

entscheidend beeinflusst. Während die<br />

Fähigkeit zum manuellen Arbeiten stark an<br />

Wert verliert, ändern sich die Anforderung<br />

an Arbeitnehmer und Marktteilnehmer deutlich.<br />

Interessant ist, wer sich als kreativ und<br />

innovativ darstellen kann. Alles hat sich beschleunigt<br />

und ein jeder muss an physischer<br />

und geistiger Mobilität zulegen, möchte er<br />

mit dem globalen Marktgeschehen noch<br />

mithalten können. «Wer „Größe“ zeigt, lehnt<br />

Projekte ab, die ein ganzes Leben dauern<br />

(eine Berufung, ein Beruf, eine Ehe etc.). Er<br />

ist mobil. Nichts darf seine Fortbewegung<br />

unterbrechen. Er ist ein Nomade. Die Forderung<br />

nach Leichtigkeit setzt das Ablehnen<br />

von Stabilität, Verwurzelung, Bindung an<br />

Personen und Dinge voraus. Dem Besitz, der<br />

belastest und beschwert, zieht er das vor,<br />

was den Zugang zur Freude an Dingen ermöglicht,<br />

etwa das Mietverhältnis. « 11<br />

Nur wer dem neuen Ideal des kreativen, mobilen<br />

und ständig im totalen Informationsfluss<br />

stehenden Akteur entsprechen kann,<br />

werden Perspektiven und Sicherheiten garantiert.<br />

forderung nach Kreativität,<br />

mobilität, flexibilität<br />

Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel<br />

beschrieb diese Entwicklung schon früh. Er<br />

diagnostiziert eine „allenthalben sich steigernde<br />

Formlosigkeit des modernen Lebens<br />

(...) dass das Leben... gegen seine festgewordenen<br />

Erzeugnisse, die mit ihm nicht mitkommen,<br />

dauernd ankämpft» 12 . Im 20. Jahrhundert<br />

erlebten sich die Menschen selbst<br />

zunehmend als nicht abgeschlossen, als<br />

‹work in progress›. An Stelle des ‹Seins› trat<br />

in der stromlinienförmigen Welt das ‹Werden›.<br />

Das Individuum wird dazu genötigt,<br />

eine ‹Steigerung des Nervenlebens› vorzunehmen<br />

13<br />

Nach Rifkin diagnostiziert Simmel bis zur<br />

Mitte des 20. Jahrhunderts die Eigentumsbeziehung<br />

als den wichtigsten Motor der<br />

Geschichte. Er sieht in der utopischen Erzählung<br />

vom Glück durch materiellen Reichtum<br />

die große Triebfeder hinter dem Handeln<br />

der Menschen. Sie glaubten, sich ihren Platz<br />

in der Geschichte erarbeiten zu können. 14<br />

Diese Ideologie wird schließlich, so Rifkin,<br />

ab der Mitte des 20. Jahrunderts durch das<br />

therapeutische Bewusstsein abgelöst. „Das<br />

Leben gilt als zu kurz, um sich selbst der<br />

Geschichte oder irgend einem zukünftigen<br />

Wohlergehen zu opfern <strong>–</strong> besonders, wenn<br />

Selbsterfüllung und Wohlergehen hier und<br />

jetzt erreichbar scheinen.“ 15 , beschreibt Rifkin<br />

die heutige Ausgangslage. Auf ihr werden<br />

ihm zufolge neue Konzepte aufgebaut<br />

werden müssen.<br />

Veränderungen im 20.<br />

Jahrhundert<br />

Während bis in die 1950er und 60er Jahre<br />

immer noch die Akkumulation von Sachkapital<br />

das Handeln am Markt bestimmte, wandelt<br />

sich dieses Bewusstsein in der danach<br />

einsetzenden Dienstleistungsgesellschaft<br />

dahingehend, dass nun nicht mehr die Fähigkeit<br />

zur Produktion als maßgeblich erachtet<br />

wurde, sondern die Mittel zum Konsum das<br />

Agieren bestimmte. 16<br />

Entsprechend hatten sich die Produkte verändert.<br />

Der sich immer weiter optimierende<br />

Massenmarkt wurde 1907 von den Amerikanern<br />

Hugh Moore und Lawrence Luellen um<br />

ein nicht unbedeutenden Artikel erweitert:<br />

den sogenannten „Dixie Cups“, die auch „Health<br />

Cups“ genannte wurden.<br />

Dahinter verstecken sich einfache Einweg-Pappbecher.<br />

Mit ihnen sollte das gemeinsame<br />

Trinken aus wenigen Gefäßen<br />

eingeschränkt werden, welches zuvor immer<br />

wieder zur schnellen Verbreitung von<br />

Krankheiten wie Tuberkulose oder Pocken<br />

gesorgt hatte. 17 Ursprünglich für das Militär<br />

entwickelt, fand die Idee nach dem ersten<br />

Weltkrieg auch in Privathaushalten regen<br />

Zuspruch.<br />

Die Politik fördert dies, denn man erhofft<br />

sich so, mit den Gütern der Kriegswirtschaft<br />

Geld zu verdienen. Endgültig durchgesetzt<br />

hatte sich die Einwegmentalität mit dem<br />

wachsendem Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt.<br />

18 Produkte wie Kleenex-Tücher,<br />

Q-tips, Papierhandtücher oder Plastiktüten<br />

gehörten nun fest zum Alltag. 19<br />

Einwegmentalität und<br />

wegwerfgesellschaft<br />

Ikonographisch eindrucksvoll lässt sich die<br />

damalige Einstellung auf einem „Life“- Magazin<br />

Cover von 1955 studieren. Dort ist ein<br />

junge und offensichtlich glückliche Familie<br />

zu sehen, die Familienmitglieder blicken<br />

strahlend nach oben. Ihre Arme sind hoch<br />

in die Luft gestreckt, denn sie haben sich<br />

gerade gemeinsam werfend von ihrem Geschirr,<br />

ihren Nahrungsmittelverpackungen<br />

und sonstigem Einwegunrat getrennt, den<br />

sie nun erleichtert herumfliegen sehen.<br />

Das Szenario wird auch in der US-Serie „Mad<br />

Men“ aufgenommen. 20 Der heutige Zuschauer<br />

erschreckt beinah, wenn er die Familie<br />

Draper nach einem Picknick im Park lässig<br />

die Decke ausschütteln sieht, von welcher<br />

der mannigfaltige Geschirr- und Verpackungsmüll<br />

auf den Rasen fällt <strong>–</strong> und dort,<br />

keines weiteren Blickes mehr würdig, zurückgelassen<br />

wird.<br />

Und überhaupt: die Werbeindustrie. Als Propaganda-Instrument<br />

werden die ersten Public<br />

Relation Büros während des 1. Weltkriegs<br />

gegründet. Schnell wird absehbar, dass Menschen<br />

sich gerne zum Konsum verführen las-<br />

8<br />

9


sen. Dies sorgt für einen rasanten Boom der<br />

„Madison Avenue Advertising Industry.“ 21<br />

Zum Aufstieg der Werber gibt es die Anekdote,<br />

dass Edward Bernay, der später eine<br />

Art Advertising-Guru werden sollte, seinen<br />

Onkel um Geld bat, dieser ihm aber lediglich<br />

das unveröffentlichte Manuskript zu seinem<br />

neuen Buch „Allgemeine Einführung in die<br />

Psychoanalyse“ schickte. Der Name des Onkels:<br />

Sigmund Freud. 22<br />

Bernays wusste mit dem Inhalt offenbar einiges<br />

anzufangen und leitete daraus theoretische<br />

Hintergründe für die Praxis der Werbung<br />

ab; Kundenverhalten ist manipulierbar,<br />

indem man das entsprechende Produkt mit<br />

einem unterbewussten Begehren der Menschen<br />

verknüpft. «„From soap to silk to even<br />

Wall Street stocks, Bernays got consumers<br />

to buy not what they needed but what they<br />

desired, connecting not just to who the<br />

consumer is but who he or she wanted to be.<br />

He realized that the power in this principle<br />

was that unmet desires have no fixed point.“<br />

23<br />

Die Zeichenhaftigkeit<br />

der Ware<br />

„Im modernen Kapitalismus der massenhaft<br />

hergestellten Waren geraten die materiellen<br />

Qualitäten eines Dings aus dem Fokus, stattdessen<br />

werden die Dinge mit „archaischen<br />

Bildern“(Benjamin), Symbolen und Zeichen<br />

aufgeladen. Das jeweils Neuste ist Zeichenträger<br />

des Kultus, Erlebnisses, Fortschritts.“,<br />

schreibt Aida Bosch. 24 Und Baudrillard sieht<br />

im Konsum eine idealistische Praxis, in welcher<br />

das eigentliche Objekt des Verbrauchs<br />

der Affekt und die Idee ist, nicht das Material.<br />

25 Die Welt der Waren wird zu einem<br />

Arsenal reiner Zeichen, welche innerhalb der<br />

gesellschaftlichen Struktur als Distinktionsmerkmale<br />

genutzt werden.<br />

Konsum strukturiert<br />

die soziale Sphäre<br />

Georg Simmel zählt in diesem Zusammenhang<br />

zu den Urhebern der „Trickle-Down-<strong>Theorie</strong>“,<br />

welche zu beschreiben versucht, wie<br />

durch den Besitz und Wandel der Dinge Sozialstruktur<br />

symbolisch hergestellt wird. So<br />

wird den oberen Schichten durch das ständige<br />

Proklamieren neuer Moden und Produkte<br />

ein Abheben untereinander und vom Rest<br />

der Gesellschaft suggeriert. Sobald diese<br />

Trends aber von anderen sozialen Gruppen<br />

nachgeahmt werden, entsteht für die ‹Oberschicht›<br />

erneut Druck, sich durch Innovationen<br />

zu verändern. 26 Das Design der Dinge<br />

wird dadurch zum Code für soziale Zugehörigkeiten.<br />

Die Menschen orientieren und verorten<br />

sich anhand der konsumierten Waren.<br />

„Die Dinge und ihr Design zeigen dabei zum<br />

einen reale Zugehörigkeiten, zum anderen<br />

spiegeln sie jedoch auch Wünsche, sie verweisen<br />

auf soziale Kreise, denen man zugehören<br />

möchte.“ 27 , schreibt Aida Bosch.<br />

wie kam es zum<br />

Massenkonsum?<br />

Nachdem der amerikanische Markt Mitte der<br />

1950er Jahre zu großen <strong>Teil</strong>en gesättigt war,<br />

wurde alles unternommen, damit die Absatzzahle<br />

trotzdem nicht einbrechen. Den Ausweg<br />

suchte man in dem Konzept der großen<br />

Auswahl, der Ausdifferenzierung des Warenangebots.<br />

Die Wahlmöglichkeiten zwischen<br />

verschiedenen Ausführungen des gleichen<br />

Produkts stiftet beim Konsumenten Verwirrung<br />

und Unbehagen, denn er kann sich<br />

nicht mehr sicher sein, ob sein Ist-zustand<br />

noch als zufriedenstellend betrachtet werden<br />

kann. Einzig die nächste Anschaffung<br />

kann ihn von dieser Qual erlösen. 28<br />

Das Phänomen des Massenkonsums schafft<br />

seine Rechtfertigung also aus sich selbst<br />

heraus, indem es sich immanent selbst seine<br />

Bedeutungen zuschreibt. Die entsprechenden<br />

Ökonomien sind darauf ausgerichtet,<br />

massenhaft Waren zu produzieren um damit<br />

Bedürfnisse zu befriedigen, die sie zuvor<br />

selbst geschaffen haben. Menke schreibt:<br />

„Die Bedürfnisse, für die im System des Massenkonsums<br />

die Waren einen ‹Gebrauchswert›<br />

haben sollen, sind daher im eminenten<br />

Sinne ‹kulturell›: nicht nur artifiziell generiert,<br />

sondern selbst gerichtet auf die Bedeutung,<br />

die der Ware und ihrem Besitzen<br />

zukommt.“ 29 Wenn man also den Bereich der<br />

Kultur in den Systemen des Massenkonsums<br />

als eine Art Massenkultur auffassen kann, so<br />

lässt sich darauf schließen, dass der Massenkonsum<br />

gar nicht erst eine Massenkultur<br />

benötigt, sondern dass das System des<br />

Massenkonsums und das der Massenkultur<br />

im Grunde kongruent sind. 30<br />

Folgen der<br />

eigentumsGesellschaft<br />

Die universelle Macht der Massengüterindustrie<br />

hat einige verheerende Folgen: zum<br />

Beispiel jede Menge Abfall. Rachel Botsman<br />

nennt zur Veranschaulichung dieses<br />

Misstands das Beispiel der so genannte<br />

„great pacific garbage patch“: 3 500 000<br />

Tonnen Kunststoffmüll treiben zwischen<br />

Hawaii und Japan direkt unter der Meeresoberfläche,<br />

verteilt auf hunderttausend<br />

Quadratkilometer 31 <strong>–</strong> und jedes Jahr werden<br />

weltweit etwa 100 Millionen weitere Tonnen<br />

des Materials produziert. 32 Nicht mehr nur<br />

dezidiert als ‹Wegwerfprodukte› konzipierte<br />

Dinge landen auf der Müllkippe: Um den Warenabsatz<br />

zu steigern, hat die Industrie bereits<br />

zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit<br />

begonnen, die Lebenszyklen ihrer Produkte<br />

zu verringern. 33 Diese sogenannte geplante<br />

Obsoleszenz blieb lange unbeachtet, erst<br />

in letzter Zeit werden die vielfältigen Strategien<br />

der Produzenten öffentlich kritisiert.<br />

Im Hyperkonsum, der Steigerungsform des<br />

Massenkonsums, steigt also die Geschwindigkeit<br />

der Einkäufe und die Menge an akkumulierten<br />

Dingen, gleichzeitig sinkt deren<br />

Lebensdauer.<br />

Massenhaftes anhäufen<br />

von ungenutzten dingen<br />

Dies wird anschaulich, wenn Rich Ellmer aus<br />

Texas von seinem Geschäftsmodell erzählt.<br />

Ellmer ist ein Pionier des Self-Storage Modells.<br />

34 Seit 1976 betreibt er seine mittlerweile<br />

über 200 Lagereinheiten in Austin.<br />

Dort können Privatpersonen Lagerflächen<br />

für ihre Besitztümer anmieten. In der Regel<br />

kämen die Leute zu ihm mit dem Anliegen,<br />

ihre Sachen für ein oder zwei Monate zwischenzulagern.<br />

Aus den wenigen würden<br />

mehr Monate, aus den Monaten Jahre, so<br />

Ellmer.<br />

Der Service kostet monatlich zwischen 99<br />

und 195 Dollar. „Normalerweise ist es so,<br />

dass nach rund einem halben Jahr die Kosten<br />

für die Lagerung den Wert der darin befindlichen<br />

Dinge überschritten hat.“, erzählt<br />

Ellmer. „Aber den meisten scheint es sehr<br />

viel leichter zu fallen, mir einen weiteren<br />

Scheck auszustellen, solange sie sich nicht<br />

mit ihrem Zeug beschäftigen müssen.“<br />

So geht das also über Jahre, bis bei Ellmer<br />

das Telefon klingelt und den Mietern plötzlich<br />

klar geworden sein muss, dass sie der<br />

Container viel mehr kostet, als ihnen der Inhalt<br />

wert ist. „Und dann bitten sie mich, einfach<br />

alles zu entsorgen.“ 35<br />

10<br />

11


Neue Ideen<br />

Nach wie vor scheint der Siegeszug des<br />

Hyperkonsums ungebrochen. Gleichzeitig<br />

zeigen Studien, dass sich kein linearer Zusammenhang<br />

zwischen materiellem Wohlstand<br />

und Lebensqualität herstellen lassen<br />

kann. 36 Spätestens seit der Wirtschafts- und<br />

Finanzkrise 2008 ist das Bewusstsein für<br />

eine veränderte Umwelt gestiegen und es<br />

scheint, als würden die Konsumenten sich<br />

mehr und mehr nach neuen, alternativen Arten<br />

des Konsums umsehen. Die Gründe dafür<br />

und verschiedenen Ansätze sollen in den<br />

kommenden beiden Abschnitten diskutiert<br />

werden.<br />

Wertschöpfung durch<br />

Dienstleistungen statt<br />

durch Waren<br />

Warum kostete ein Mobilfunkgerät des Herstellers<br />

Motorola 1989 zunächst 2500 Dollar,<br />

Mitte der 90er aber nur noch etwa 100<br />

Dollar? Und weshalb bekommt man die Geräte<br />

heute in der Regel kostenlos zu einem<br />

Vertrag dazu? 37 Liegt dies schlichtweg an<br />

den günstigeren Produktionsbedingungen?<br />

Oder macht der Hersteller aufgrund des<br />

Preisdrucks der Konkurrenz ständig Verluste?<br />

Produktionskosten lassen sich zwar durch<br />

technologischen Fortschritt, einer Erhöhung<br />

der produzierten Stückzahl und durch die<br />

Wahl der Herstellungsorte bis zu einem gewissen<br />

Punkt senken, die Gründe für diesen<br />

‹Preisverfall› sind aber woanders zu suchen:<br />

im gewandelten Geschäftsmodell. Denn die<br />

seit Mitte des letzten Jahrhunderts sich zunehmend<br />

etablierende Dienstleistungsgesellschaft<br />

treibt immer eindrücklichere Blü-<br />

ten. Ein Handy kostet heute so wenig, weil<br />

es dem Verkäufer um den Vertrag geht. Das<br />

Geschäft wird so nicht mehr mit dem Ding<br />

selbst, sondern mit der damit verbunden<br />

Dienstleistung erzielt.<br />

Servicesysteme setzen sich an immer mehr<br />

Stellen durch und es scheint, als habe sich<br />

die Rolle des Konsumenten verändert. War in<br />

der Vergangenheit die eigene Identitätsbildung<br />

untrennbar mit der Akkumulation von<br />

Besitz verbunden, scheint es heute entscheidender<br />

zu werden, die eigene Identität durch<br />

das knüpfen von Netzwerken zu gestalten. 38<br />

Für Unternehmen bedeutet dies, dass es<br />

sehr viel wichtiger wird, einen guten Zugriff<br />

auf den Kunden zu haben. Unternehmen<br />

bestimmen dazu immer häufiger den „Life-<br />

Time-Value“ (LTV) eines Konsumenten. 39<br />

Dieser ermittelt den wirtschaftlichen Gegenwert<br />

eines Kunden, der für den Rest seines<br />

Lebens dem Unternehmen treu bleibt. 40 Dazu<br />

Rifkin: „Der Konsument wird mobilisiert und<br />

in ein immer dichteres Netz von andauernden<br />

kommerziellen Beziehungen eingebettet<br />

und droht vollkommen von den kommerziellen<br />

Kräften abhängig zu werden, die er kaum<br />

versteht und über die er immer weniger Kontrolle<br />

besitzt.“ 41<br />

Netzwerklogik statt<br />

Eigentumslogik<br />

Geistiges Eigentum gewinnt an Bedeutung,<br />

derweil sich der Besitz von Materiellem zunehmend<br />

marginalisiert. Rifkin behauptet:<br />

„Im kommenden Zeitalter treten Netzwerke<br />

an die Stelle der Märkte, und aus dem Streben<br />

nach Eigentum wird Streben nach Zugang,<br />

nach Zugriff auf das, was diese Netzwerke<br />

zu bieten haben.“ 42 Für Rifkin wird der<br />

Wandel vor allem in Bezug auf das ursprüngliche<br />

<strong>Tausch</strong>en von Eigentum sichtbar. Er attestiert<br />

zwar das „Eigentum weiter fortbestehen<br />

[wird] (...)“, aber die „Anbieter der neuen<br />

Ökonomie werden ihr Eigentum behalten, sie<br />

werden es verpachten und vermieten oder<br />

auch Zugangsgebühren, Abonnements- oder<br />

Mitgliedsbeiträge für seinen befristeten Gebrauch<br />

erheben. Der Austausch von Eigentum<br />

zwischen Verkäufern und Käufern <strong>–</strong> das<br />

Grundschema des neuzeitlichen Marktsystems<br />

<strong>–</strong> wird abgelöst vom kurzfristigen Zugang,<br />

wobei Anbieter und Kunden in einem<br />

Netzwerk miteinander verbunden sind.“ 43<br />

der geist der<br />

postmoderne<br />

Die Geschäftsmodelle der Zukunft, so Rifkin,<br />

sind also vor allem durch die Schlüsselbegriffe<br />

Zugang, Zugriff und Access geprägt. 44<br />

Dem zugrunde liegen subtile Veränderungen<br />

im Bewusstsein der postmodernen Gesellschaften.<br />

So sind es vor allem Erkenntnisse<br />

aus der Physik, wie die Heisenbergsche<br />

Unschärfe oder Einsteins Relativitätstheorie,<br />

welche die Idee von einer festen, objektivierbaren<br />

Realität, einer vom Menschen<br />

unabhängigen höheren Ebene langsam untergraben<br />

hat. Der Geist der Postmoderne, in<br />

welcher der Mensch erkennt, „weit entfernt<br />

davon, unbeteiligter Beobachter zu sein,<br />

[sondern] Spieler und <strong>Teil</strong>nehmer zugleich“<br />

und dabei „die Welt [zu beeinflussen] und<br />

stets von der Welt beeinflusst [zu sein], die<br />

sie manipulieren und beeinflussen wollen.“ 45<br />

Wo Materie sich in Kraftfelder auflöst liegt<br />

es nicht fern, den Glauben nach der Sicherheit<br />

durch festes Eigentum in Frage zu stellen.<br />

46 „Diese neue Welt ist nicht objektiv,<br />

sondern weitgehend kontingent, sie besteht<br />

nicht aus Wahrheiten, sondern aus Optionen<br />

und Szenarien. Es ist eine Welt, die durch<br />

Sprache geschaffen und von Metaphern und<br />

akzeptierten gemeinsamen Bedeutungen zusammengehalten<br />

wird, die sich jede in der<br />

Zeit ändern kann. Realität ist nichts, was uns<br />

‹gegeben› ist, sondern eher etwas, was wir<br />

von Anfang bis Ende erschaffen, indem wir<br />

es in seine Existenz kommunizieren.“ 47<br />

Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise<br />

2008 <strong>–</strong> das attestieren auch Studien<br />

<strong>–</strong> haben sich solche und ähnliche Einsichten<br />

verbreitet und gefestigt. 48 In der Diskussion<br />

des bestehenden Systems und in der Kritik<br />

an den Formeln des ewigen Wachstums und<br />

der damit verbundenen ideologischen Fundamente<br />

werden immer mehr Gegenmodelle<br />

zur Massenkonsumgesellschaft entwickelt<br />

und ausprobiert. 49 Ein Konzept, dem aktuell<br />

besonders viel <strong>Teil</strong>nahme und Aufmerksamkeit<br />

zukommt, soll im Weiteren genauer betrachtet<br />

werden: Das der Sharing Economy<br />

oder Collaborative Consumption.<br />

Das Aufkommen der<br />

sharing economy<br />

Durch die Etablierung des Web 2.0 in fast<br />

allen Lebensbereichen und der damit einhergehenden<br />

Übernahme dessen Strukturen in<br />

die eigenen Denksysteme wird es alternativen<br />

ökonomischen Modelle leichter gemacht,<br />

sich zu etablieren. Zum einen, weil sich der<br />

Aktionsradius ändert <strong>–</strong> man kann nun relativ<br />

einfach mit Menschen auf der anderen Seite<br />

des Globus kooperieren -, zum anderen weil<br />

man auf großen Plattformen leichter ähnlich<br />

Denkende erreicht <strong>–</strong> und all das so gut wie<br />

kostenlos.<br />

Ebay, Netflix, Google oder Craigslist sind nur<br />

einige wenige Konzepte, welche das Netz mit<br />

12<br />

13


seinen Kommunikationsformen hervorgebracht<br />

hat.<br />

Was den Warenaustausch im Netz betrifft,<br />

ist vor allem Vertrauen wichtig. Ohne dieses<br />

kann es kaum zu Kooperationen zwischen<br />

Fremden, die sich möglicherweise am<br />

anderen Ende des Globus befinden, kommen.<br />

Interessant daran ist, dass man beobachten<br />

kann, dass das Vertrauen in andere<br />

Menschen mit dem eigenen sozialen Status<br />

steigt. Dies bedeutet, dass „die Stärkung von<br />

Sozialkapital also hauptsächlich für jene in<br />

Kraft [tritt], die ohnehin positivere Einstellungen<br />

gegenüber ihren Mitmenschen besitzen<br />

(…). Insofern findet sich Konsum in diesem<br />

Zusammenhang nicht mehr als primär<br />

differierendes Gut wieder, sondern verstärkt<br />

eine Differenzierung entlang der Dimension<br />

des sozialen Vertrauens.“ 50<br />

Zwar scheinen also Menschen mit einem höheren<br />

sozialen Status es leichter zu haben,<br />

im Netz anderen zu vertrauen und also an<br />

neuen Projekten teilzunehmen und mitzuwirken.<br />

Allerdings bestätigt eine statistische<br />

Umfrage der Leuphana Universität von 2012,<br />

dass sich ein verändertes Konsumverhalten<br />

darüber hinaus auf beinah alle gesellschaftlichen<br />

Schichten übertragen lässt. 51<br />

Doch was ist aus den positiven Werten geworden,<br />

die wir über einen so langen Zeitraum<br />

dem Eigentum zugeschrieben haben?<br />

Liegt das Streben nach Eigentum nicht doch<br />

im Innersten des Menschen tief verwurzelt?<br />

Hegel attestierte dem Eigentum nicht nur<br />

die Möglichkeit, bestimmte Bedürfnisse zu<br />

befriedigen, sondern er verstand Eigentum<br />

als Ausdruck persönlicher Freiheit. Während<br />

Arbeit in Hegels Gesellschaftstheorie als<br />

kreative Äußerung verstanden werden kann<br />

und damit mehr ist als eine bloße Verrichtung<br />

einer Tätigkeit, repräsentiert das Produkt<br />

dieser Arbeit eine Art Aneignung der<br />

Welt. Die Welt wird so durch die projezierte<br />

Persönlichkeit des Eigentümers vereinnahmt.<br />

52 So steht also das Produkt der Arbeit<br />

- also das Eigentum <strong>–</strong> für die Objektivierung<br />

der Persönlichkeit als Ausdruck persönlicher<br />

Freiheit.<br />

Wird mit einer Abkehr vom Eigentum diese<br />

Freiheit, diese Habbarmachung der Welt nun<br />

aufgegeben? Um die Frage beantworten zu<br />

können, lohnt sich ein Blick zurück auf die<br />

Entwicklung der kulturellen Produktion. Es<br />

handelt sich um die Geschichte eines Aufstiegs.<br />

konsum - kultur<br />

Noch bis in das 20. Jahrhundert hinein war<br />

das vorrangige Ziel der Menschen politische<br />

<strong>Teil</strong>habe und Selbstbestimmung. Doch dieses<br />

Streben wurde durch das Streben nach<br />

mehr materiellem Eigentum und der Vielfalt<br />

der Güter abgelöst. 53 Einzig der Bereich der<br />

Kultur galt als Zufluchtsort vor der Macht<br />

des Konsums. In dieser Sonderzone sollte<br />

es noch möglich sein, einem Wunsch nach<br />

Selbsterfüllung und nach einer unabhängigen<br />

Entwicklung der eigenen Persönlichkeit<br />

nachgehen zu können. Auf paradoxe Art und<br />

Weise wurde genau dieser Wunsch von der<br />

Werbeindustrie erkannt und in die Warenwelt<br />

projeziert. Die eigentlich als Widerstand<br />

gedachten künstlerischen Produktionen und<br />

Haltungen konnten vom Wirtschaftssystem<br />

aufgesogen werden und beförderten letztlich<br />

den „Übergang vom Produktions- zum Konsumptionsmodus.“<br />

54<br />

Bereits in den 1920er Jahren wurden die<br />

Waren zunehmend mit kultureller Aura versehen<br />

und in Bilder eines kreativen Lebensstils<br />

eingebettet. Wer konsumierte, der lebte<br />

selbstbestimmt und selbsterfüllt <strong>–</strong> und also<br />

so, wie es sich in der Erzählung sonst nur<br />

Diejenigen aus der Bereich der kulturellen<br />

Produktion erlauben konnten. Durch die<br />

Vermischung der kulturellen und marktbestimmten<br />

Bereiche trat Schritt für Schritt der<br />

Nutzwert von Dingen und Dienstleistungen<br />

hinter ihren psychologischen Wert zurück. 55<br />

Das Verhältnis vom gedruckte Buch zum Hypertext<br />

illustriert das neue Verständnis von<br />

Materialität. Gedruckte Bücher haben einen<br />

Anfang und ein Ende. Ein Buch ist vollständig.<br />

Ein Hypertext hat keinen klaren Anfang<br />

und auch kein eindeutiges Ende, sondern er<br />

beginnt dort, wo das Subjekt einsteigt und<br />

läuft entsprechend der vom Nutzer gewählten<br />

Verbindung weiter. Das gedruckte Buch<br />

ist ein Produkt, der Hypertext vielmehr ein<br />

Prozess. So eignet sich lediglich das Buch<br />

als langfristiges Eigentum, derweil das Prozesshafte<br />

durch einen momentanen Zugang<br />

genutzt wird. 56 Rifkin meint: „Der Computer<br />

trägt dazu bei, dass eine neue Art relationalen<br />

Bewusstseins entstehen kann, genauso<br />

wie der Druck dazu beitrug, die Vorstellungen<br />

eines autonomen Wesens zu fördern.“ 57<br />

Rifkin behauptet, dass das Eigentum zwar<br />

nicht verschwindet, aber schrittweise an<br />

Bedeutung verliert. So wurde in der Wissensgesellschaft<br />

schließlich auch nicht die<br />

Produktion abgeschafft, und zu Beginn der<br />

industriellen Revolution hat auch niemand<br />

das Agrarwirtschaften unter Strafe gestellt.<br />

Es sollte also nun auch davon ausgegangen<br />

werden, dass beide Formen, die des Eigentums<br />

und die des Zugangs, in Zukunft nebeneinander<br />

existieren. 58<br />

Kollaborative Ökonomie<br />

Eine allgemein annerkannte These lautet,<br />

dass die Entwicklung des Web 2.0 eine notwendige<br />

Bedingung war, um das verbreitete<br />

Aufkommen der kollaborativen Ökonomien<br />

zu erklären. Zum einen bietet erst das Internet<br />

den nötigen Organisationsrahmen<br />

und die Plattform für verschiedene <strong>Tausch</strong>-,<br />

<strong>Teil</strong>- und Leihgeschäfte. Es bietet die Infrastruktur,<br />

um Anbieter und Nutzer zusammenzubringen.<br />

Im Netz haben sich die Menschen<br />

außerdem daran gewöhnt, virtuelle Inhalte zu<br />

teilen. Daraus erwächst möglicherweise eine<br />

höhere Bereitschaft, auch reale Produkte zu<br />

tauschen und leihen. Das Vertrauen in Fremde<br />

wächst mit jeder erfolgreichen Transaktion.<br />

Das Onlinelexikon Wikipedia ist eines von<br />

vielen Beispielen für diese neue Bereitschaft<br />

zur Kooperation: Eine Vielzahl Nutzer arbeitet<br />

unentgeltlich an den Inhalten der Enzyklopädie.<br />

Der Umfang und die Qualität der<br />

Inhalte von Wikipedia lässt längst etablierte<br />

Nachschlagewerke hinter sich. Woher kommt<br />

dieses scheinbar selbstlose neue Verantwortungsbewusstsein,<br />

das Engagement für eine<br />

gemeinsame Sache, für ein gemeinsam erschaffenes<br />

Produkt?<br />

Homo oeconomicus?<br />

Stellt es doch den geläufigen Begriff des<br />

«Homo Oeconomicus» scheinbar auf den<br />

Kopf. Dieser beschreibt eine angeborene<br />

Konstitution, die dem Menschen oftmals zugeschrieben<br />

wird: Nur auf seinen eigenen<br />

Vorteil bedacht, agiere er rein rational und<br />

strebe in allen seinen Handlungen nach dem<br />

eigenen ökonomischem Vorteil Dass diese<br />

14<br />

15


Vorstellung womöglich nicht schon immer<br />

selbstverständlich war, deutet ein Blick in<br />

die Vergangenheit an.<br />

Die Idee der Commons, also des Gemeinguts<br />

ist bei weitem keine Erfindung des Internetzeitalters,<br />

sondern lässt sich beispielsweise<br />

schon bei den Römern unter dem Begriff der<br />

res communis finden. Unter diese gemeinschaftlich<br />

besessenen Güter fallen Luft,<br />

Wasser, Natur und Kultur. 59 Sie werden abgegrenzt<br />

zu res publica, öffentlichem Eigentum,<br />

also den öffentlichen Staatsvermögen<br />

wie Parks, Straßen oder öffentlichen Gebäuden.<br />

60 Res communis beschreibt also etwas,<br />

was weder Privateigentum noch öffentliches<br />

Eigentum ist - vielmehr gehört es den Mitgliedern<br />

einer Gemeinschaft und unterliegt<br />

deren Verantwortung. Erst im 15. Jahrhundert<br />

wird gemeinschaftliches Eigentum eingeschränkt,<br />

indem man in England damit<br />

begann, das gemeinsam genutzte Land aufzuteilen<br />

und als Privateigentum einzuzäunen.<br />

61<br />

gesellschaftliche verpflichtungen<br />

durch<br />

Gabentausch<br />

Auch der Soziologe Marcel Mauss weist in<br />

seinem Essay über «Die Gabe» in ähnlicher<br />

Weise darauf hin, dass andere Formen des<br />

Austauschs, die nicht in die Logik egoistischen<br />

Eigentumsstrebens passen, bereits<br />

vor dessen Durchsetzung existiert hätten<br />

<strong>–</strong> und das deren Moral und Ökonomie sich<br />

bis heute in unserem Handelssystem unterschwellig<br />

erhalten haben. 62 In seinem Essay<br />

untersucht Mauss Systeme des Austauschs<br />

in alten, archaischen Gesellschaften - vorallem<br />

im Pazifkikraum und Nordamerika -<br />

die von den Entwicklungen des westlichen<br />

Wirtschaftssysttems weitgehend unberührt<br />

blieben. Er erklärt: „In den Wirtschafts- und<br />

Rechtsordnungen, die den unseren vorausgegangen<br />

sind, begegnet man fast niemals<br />

dem einfachen Austausch von Gütern, Reichtümern<br />

und Produkten im Rahmen eines zwischen<br />

Individuen abgeschlossenen Handels.<br />

Zunächst einmal sind es nicht Individuen,<br />

sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten,<br />

die austauschen und kontrahieren;<br />

die am Vertrag beteiligten Personen sind<br />

moralische Personen: Clans, Stämme, Familien,<br />

die einander gegenübertreten sei es als<br />

Gruppe auf dem Terrain selbst, sei es durch<br />

die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auch<br />

auf beide Weisen zugleich. Zum anderen ist<br />

das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich<br />

Güter und Reichtümer, bewegliche und<br />

unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche<br />

Dinge (...) Schließlich vollziehen sich diese<br />

Leistungen und Gegenleistungen in einer<br />

eher freiwilligen Form, durch Geschenke,<br />

Gaben, obwohl sie im Grunde streng obligatorisch<br />

sind, bei Strafe des privaten oder öffentlichen<br />

Kriegs. Wir haben vorgeschlagen,<br />

all dies das System der totalen Leistungen<br />

zu nennen.“ 63<br />

Mauss beobachtet, dass verschiedenste<br />

Clans und Stämme die Tradition pflegen,<br />

sich in einer Art immenser Verschwendung<br />

gegenseitig Gaben darzubringen, also Güter<br />

zu verschenken. Diese Gaben werden in<br />

Form eines Potlatschs, einer Zeremonie der<br />

feierlichen Übergabe und Verschwendung,<br />

ausgeführt. Die Gabe erfolgt zunächst ohne<br />

Gegenleistung oder Bezahlung. Entscheidend<br />

ist aber, dass jede Gabe die moralische<br />

und gesellschaftliche Verpflichtung beinhaltet,<br />

zu einem späteren Zeitpunkt erwidert zu<br />

werden. Diese Verpflichtung ist unumgänglich<br />

und übersteigt jede andere Priorität des<br />

individuellen Lebens. „Schulden machen und<br />

Schulden begleichen <strong>–</strong> das ist der Potlatsch.“,<br />

kommentiert Mauss. 66 Um die Schuldverhältnisse<br />

klar festzulegen, werden keine Verträge<br />

unterzeichnet - stattdessen vollzieht<br />

sich der Gabentausch in aller Öffentlichkeit.<br />

So spannt sich das Netz der gegenseitigen<br />

Verpflichtungen nicht zwischen Individuen,<br />

sondern zwischen Kollektive. Juristische und<br />

wirtschaftliche Vorgänge werden also nicht<br />

getrennt betrachtet, sondern sind <strong>Teil</strong> eines<br />

Netzes aus Beziehungen und Verpflichtungen.<br />

„In diesen Gesellschaften vermögen<br />

weder der Clan noch die Familie sich selbst<br />

oder ihre Handlungen auseinanderzuhalten;<br />

auch sind die einzelnen Individuen, so einflussreich<br />

und selbstbewusst sie auch sein<br />

mögen, nicht imstande, zu begreifen, dass<br />

sie gegeneinander auftreten und ihre Handlungen<br />

voneinander trennen müssen.“ 64 In<br />

den meisten dieser Kulturen existierte in der<br />

Sprache nur ein Begriff für tauschen, kaufen,<br />

teilen oder leihen.<br />

Mauss zufolge werden durch das System der<br />

Gabe elementare gesellschaftliche Bindungen<br />

geschaffen. Die Menschen und Völker<br />

begeben sich in ein Netz aus gegenseitigen<br />

Verpflichtungen. In den untersuchten Stämmen<br />

kann dieses Netz als die einzige friedens-<br />

und sicherheitsstiftende Alternative<br />

zum Kriegszustand gedeutet werden: Mangels<br />

eines Rechtsstaats sind gemeinsame<br />

moralische Werte die einzige Möglichkeit,<br />

Frieden und Zusammenleben zu ermöglichen.<br />

Dies lässt sich auch an nordamerikanischen<br />

Stämmen beobachten, die sehr reich und weit<br />

entwickelt waren. Im Sommer zerstreuten sie<br />

sich und lebten als Jäger und Sammler. Im<br />

Winter versammelten sie sich in Städten, in<br />

welchen ein reges gesellschaftliches Treiben<br />

herrschte. „Ein Fest folgte dem anderen.<br />

Bei einer Heirat, bei den verschiedensten<br />

Ritualen und Beförderungen wird mit vollen<br />

Händen alles ausgegeben, was man im Sommer<br />

und im Herbst mit großem Fleiß an einer<br />

der reichsten Küsten der Welt zusammengehäuft<br />

hat.“ 65 Ökonomie der<br />

gesellschaftlichen<br />

verpflichtungen<br />

Kommt es zum Gabentausch, so wird durchaus<br />

mit einer Art Kredit hantiert, denn durch<br />

die moralische Verpflichtung, ein Geschenk<br />

erwiedern zu müssen, folgen die handlungen<br />

der Akteure im strengen Sinne auch einer<br />

Ökonomie. Nur hat diese Ökonomie nicht<br />

mit unserem Begriff von Wirtschaft als Geldund<br />

Kreditsystem zu tun.<br />

Interessanterweise ergab sich damals eine<br />

Situation, die erstaunliche Ähnlichkeit mit<br />

unserer heutigen hat: Das Wirtschaftssystem<br />

des Gabentauschs entwickelte sich auf so<br />

rasante Art, dass bald das Kapital der Individuen<br />

eines Stammes zusammengerechnet<br />

bei weitem die real verfügbaren Werte überstieg.<br />

Auch heute können wir feststellen,<br />

dass in keinerlei Hinsicht genügend Geldmittel<br />

vorhanden wären, all unsere Außenstände<br />

damit aufwiegen zu können. 67 Damit wird<br />

nebenbei auch klar, dass Darlehen, Zinsen<br />

und Fristen keine Erfindung des modernen<br />

Geldmarktes sind. 68 Verändert haben sich<br />

die strenge Unterscheidung zwischen dinglichen<br />

und persönlichen Rechten, Personen<br />

und Sachen. Außerdem trennen wir heute<br />

strikt die kostenpflichtige Leistung vom Geschenk.<br />

«Aber sind diese Unterscheidungen<br />

16<br />

17


nicht relativ jungen Datums in den Rechtssystemen<br />

der großen Kulturen? Haben diese<br />

nicht eine frühere Phase durchlaufen, in<br />

der man noch weniger kalt und berechnend<br />

dachte?», wirft Mauss zurecht ein. 69<br />

Soziale Beziehungen als<br />

wertvollstes gut der<br />

heutigen welt<br />

In der heutigen Zeit, in der Netzwerke und<br />

Kontakte zum wichtigsten Faktor unseres<br />

Lebens werden, erlangt das von Mauss beschriebene<br />

System des Gabentauschs eine<br />

gewisse Aktualität. Die Chancen scheinen<br />

gerade nicht schlecht, dass diese andere Art<br />

der Ökonomie wieder vermehrt Verbreitung<br />

finden könnte, dass die Menschen die alten<br />

Prinzipien des Geben und Nehmen abseits<br />

des Geldtransfers neu für sich entdecken.<br />

Denn gerade diese sozialen Beziehungen,<br />

die durch kollaborative Ökonomien erst geschaffen<br />

werden, werden in einer Welt der<br />

Netzwerklogik zum wertvollsten Gut.<br />

Selbstverständlich findet zu keiner Zeit eine<br />

Verwandlung aller Beteiligten zu selbstlosen<br />

Gutmenschen statt, wie es einige Positionen<br />

aktuell vermuten. Denn statt über ein Geldsystem<br />

erfolgt die Festlegung von Schuld<br />

und Leistung über ein alternatives System<br />

des gesellschaftlichen Kredits.<br />

Konkrete Hinweise für diese Entwicklung<br />

gibt es aktuell zu genüge: in den USA existierten<br />

vor zwanzig Jahren rund 1700 regionale<br />

Bauernmärkte. Heute sind es über<br />

5.750. Damit sind die Bauernmärkte der am<br />

schnellsten wachsende <strong>Teil</strong> der amerikanischen<br />

Nahrungsmittelwirtschaft. 70 Der Erfolg<br />

ist mit einem positiven Einkaufserlebnis,<br />

hochwertiger Qualität, individuellen und<br />

einzigartigen Produkten, der Gelegenheit zur<br />

sozialen Interaktion, einem Gefühl von mehr<br />

Transparenz und authentischen Geschichten<br />

zu den Waren und deren Hintergründe<br />

schnell erklärt. Die Märkte schaffen so auch<br />

den Eindruck, als habe der Kunde selbst einen<br />

<strong>Teil</strong> zum Guten beigetragen. Das Gefühl<br />

des persönlichen Miteinander ist dabei zentraler<br />

Bestandteil des Systems. Und das mit<br />

gutem Grund: „Anthropologen glauben, das<br />

Mutualismus (also Menschen, die sich gegenseitig<br />

helfen) und Reziprozität (Ich werde<br />

dir heute ein Brot geben, du gibst mir eines<br />

in der Zukunft) fest veranlagte Verhaltenszüge<br />

beim Menschen sind und als Basis für die<br />

Kooperationen zwischen ihnen dienen <strong>–</strong> und<br />

damit das Herzstück der menschlichen Existenz<br />

überhaupt darstellen.“, so Botsman. 71<br />

Fazit<br />

Das Geben und Nehmen, das <strong>Teil</strong>en und<br />

<strong>Tausch</strong>en sorgt nicht nur für Hilfe und Sicherheit<br />

zwischen den Menschen, es schafft<br />

zugleich auch einen sozialen Rahmen, der<br />

Gemeinschaft bedeutet. Partizipiert man an<br />

kollaborativen Ökonomien, so verortet man<br />

sich selbst in diesem sozialen Raum und wird<br />

<strong>Teil</strong> der Gemeinschaft.<br />

Verglciht man diesen Vorgang mit dem des<br />

klassischen Konsums als Anhäufung von Eigentum,<br />

so lässt sich eine starke Gemeinsamkeit<br />

ausmachen: Konventioneller Konsum<br />

und kollaborativer Konsum sind beides<br />

Strategien der sozialen Differenzierung. Die<br />

neuesten Produkte zu besitzen ist schließlich<br />

nichts anderes als ein Weg, sich seines<br />

Platzes als berechtigtes Mitglied der Gesellschaft<br />

zu versichern. Bei <strong>Teil</strong>-, <strong>Tausch</strong>- und<br />

Leihgeschäften wird dieser Aspekt nun zum<br />

wichtigsten Faktor: Indem man anderen Vertrauen<br />

entgegen bringt, wird man selbst ein<br />

vertrauenswürdiges und potentes Mitglied<br />

der Gesellschaft. Durch die <strong>Teil</strong>habe an<br />

der Gemeinschaft der Kollaborativ-Konsumenten<br />

versichert man sich seiner eigenen<br />

Position im Netzwerk der Beziehungen. Mit<br />

jeder Transaktion wird diese gefestigt und<br />

verstärkt. In diesem Licht betrachtet zeigen<br />

kollaborative Ökonomien Konsum und Handel<br />

als das auf, was er schon immer, auch in<br />

Zeiten von Hyperkonsum und Massenmarkt<br />

war: Ein Prozess der Strukturierung der sozialen<br />

Sphäre.<br />

18<br />

19


kollaborative ökonomien<br />

heute<br />

Die Beschäftigung mit dem Thema der kollaborativen<br />

Ökonomien ist ein ausgesprochen<br />

aktuelles Thema -noch im Verlauf der Arbeit<br />

an dem Projekt kommen eine Vielzahl neuer<br />

Quellen hinzu. Die Sharing Economy ist<br />

Thema in Zeitungen und Zeitschriften, auf<br />

Messen und Kongressen, in Literatur und natürlich<br />

im Internet. 2011 wird sie vom TIME<br />

Magazine zu einer der «10 Ideas that will change<br />

the world» gekürt, 2013 ist sie Leitthema<br />

der Computermesse CeBit <strong>–</strong> um nur zwei<br />

Beispiele zu nennen.<br />

Die Begriffe «Collaborative Consumption»<br />

und «Sharing Economy» umfassen eine Vielzahl<br />

unterschiedlicher Konzepte. Allen gemeinsam<br />

ist die Abgrenzung vom herkömmlichen<br />

Vorgang des Konsums von Produkten:<br />

Beim konventionellem Konsum werden Produkte<br />

nach ihrer Herstellung an (Privat-)<br />

Kunden verkauft, damit gehen sie in dessen<br />

Eigentum über und bleiben dort bis zum<br />

Ende ihres Lebenszyklus. Die kollaborativen<br />

Ökonomien bieten verschiedene Alternativen<br />

zu diesem Modell. Die folgende Aufführung<br />

konzentiert sich im Wesentlichen auf<br />

die Ausführungen der Amerikanerin Rachel<br />

Botsman. Mit ihrem Buch «What›s Mine Is (Y)<br />

ours. How Collaborative Consumption Is Changing<br />

The Way We Live» liefert sie die erste<br />

umfassende, viel beachtete Abhandlung<br />

über kollaborative Ökonomien. Sie ist der<br />

optimistischen Auffassung, dass Collaborative<br />

Consumption in Zukunft an Bedeutung<br />

gewinnen wird, ja einen Umbruch in unseren<br />

Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen<br />

darstellt, und dass dies Vielfältige positive<br />

Folgen auf unser Leben haben wird. Das<br />

Buch wirkt zwar eher populärwissenschaftlich,<br />

ist dafür aber hochaktuell und inhaltlich<br />

breit aufgestellt.<br />

medienHype oder<br />

echter wandel?<br />

Ein Blick in die bunte Welt des <strong>Tausch</strong>ens,<br />

<strong>Teil</strong>ens und Leihens zeigt, dass momentan<br />

viel experimentiert und ausprobiert wird<br />

<strong>–</strong> die Offenheit gegenüber neuen Ideen<br />

scheint groß zu sein. Die bekanntesten Beispiele<br />

sind Carsharing Angebote, Werkzeugverleih<br />

und Fahrradverleihsysteme in Großstädten.<br />

Es gibt außerdem Bücherregale auf<br />

der Straße, aus welchen ein jeder etwas herausnehmen<br />

oder hineinlegen kann, es gibt<br />

Kleidertauschbörsen, offene Werkstätten<br />

und eine Vielzahl von Open Source Projekten<br />

im Netz. In regionalen Kollektiven tauschen<br />

Menschen selbst gemachte Marmelade gegen<br />

Güter ein oder bieten ihre Fähigkeiten<br />

zum <strong>Tausch</strong> an.<br />

Man kann das Aufkommen dieser Modelle<br />

durchaus als einen grundlegenden Umbruch<br />

betrachten, der eine neue Form des Wirtschaftens<br />

mit sich bringt.<br />

Strukturell können die Modelle anhand verschiedener<br />

Kriterien unterschieden werden.<br />

Zum einen nach ihren Akteuren: Leih- oder<br />

<strong>Tausch</strong>geschäfte können entweder zwischen<br />

Konsument und Konsument ablaufen (Kleiderkreisel),<br />

oder zwischen einem Unternehmen<br />

und einem Konsumenten ab (Kommerzielles<br />

Carsharing). Es gibt auch Konzepte, bei<br />

denen zwei Unternehmen kollaborieren.<br />

Produkt-Service-Systeme<br />

Redistributionsmärkte<br />

Kollaborativer Lebensstil<br />

Eine weitere Unterscheidung kann zwischen<br />

sogenannten Produkt-Service-Systemen,<br />

Redistributionsmärkten und kollaborativem<br />

Lebensstil getroffen werden. Bei Produkt-Service-Systemen<br />

handelt es sich um<br />

die temporäre Bereitstellung eines Produkts,<br />

meistens sind Serviceleistungen inbegriffen.<br />

Carsharing ist ein Beispiel hierfür. Unter die<br />

Kategorie der Redistributionsmärkte fallen<br />

Angebote wie Ebay, aber auch Kleidertauschbörsen.<br />

Benutzte Objekte werden hier<br />

weiterverkauft oder gegen etwas anderes<br />

eingetauscht.<br />

Die dritte Kategorie der kollaborativen Lebensstile<br />

beinhaltet schließlich verschiedenste<br />

Güter und Leistungen, die in einem<br />

Kollektiv aus <strong>Teil</strong>nehmern ausgetauscht werden.<br />

Nachbarschaftshilfen oder sogenannte<br />

«Hubs» sind hierfür Beispiele.<br />

Woher kommt nun die Motivation, an kollaborativen<br />

Ökonomien teilzunehmen? Rachel<br />

Botsman konstatiert: „Across product<br />

service systems, redistribution markets and<br />

collaborative lifestyles, motivation can range<br />

from saving money to making money, from<br />

convenience to meeting friends, from saving<br />

space to saving time, from feeling a part of a<br />

community to doing the right thing. Sustainability<br />

is often an unintended consequence of<br />

Collaborative Cosumption.“ 75<br />

Produkte in<br />

Geschlossenen<br />

Kreislaufsystemen<br />

Die Vorteile der kollaborativen Ökonomien<br />

fallen je nach Produkt und Prozess ganz<br />

unterschiedlich ind Gewicht. Zum einen verlängert<br />

sich meist die Nutzungdauer jedes<br />

einzelnen Produkts. Dadurch, dass Produkte<br />

<strong>–</strong> vorallem bei Produkt-Service-Systemen <strong>–</strong><br />

im Eigentum der Firma bleiben, kann ihre Lebensdauer<br />

verlängert werden. Regelmäßige,<br />

fachgerechte Wartung und wichtige Upgrades<br />

als <strong>Teil</strong> eines Produkt-Service-Angebots<br />

tragen dazu bei, dass der Nutze möglichst<br />

lange den Nutzwert eines Produkts genießen<br />

kann. Besonders für technische Geräte,<br />

die an sich schnell veralten, gilt dieser<br />

Vorteil. Schon 1970 bemerkt Victor Papanek<br />

in seinem berühmten Text «Design for the<br />

Real World» hier ein Potential von <strong>Tausch</strong>-<br />

<strong>Teil</strong> und Leihgeschäften. «... Kameras, Stereoanlagen<br />

oder Beförderungemittel usw.<br />

Diese Dinge werden wir besitzen, wobei uns<br />

jedoch bewusst ist, dass wir sie nur für eine<br />

begrenzte Zeit verwenden können und dass<br />

20<br />

21


es immer wieder echte technische Verbesserungen<br />

geben wird. Die Gegenstände aus<br />

dieser Kategorie müssen letztendlich einem<br />

solchen vorübergehenden Besitz durch niedrige<br />

Preise oder Leasingmöglichkeiten Rechung<br />

tragen.» 76<br />

Neue Möglichkeiten des Recycling sind ein<br />

weiter Aspekt der kollaborativen Ökonomien.<br />

Leihprodukte sind prädestiniert dafür,<br />

in einem geschlossenen Kreislaufsystem<br />

produziert, benutzt und recycelt zu werden,<br />

da sie sich indirekt immer in den Händen<br />

des Produzenten befinden. Rachel Botsman<br />

nennt hier das Beispiel des Teppichbodenproduzeten<br />

Interface. Mitte der neunziger<br />

Jahre hat das Unternehmen sein Geschäftsmodell<br />

komplett umgestellt. Seither wird der<br />

Teppichboden nicht mehr verkauft, sondern<br />

verleast. Das Unternehmen übernimmt die<br />

Planung und Installation des Teppichbodens,<br />

anschließend die Pflege und etwaige Reperatur,<br />

außerdem Austausch und Entfernen<br />

des Teppichbodens falls er abgenutzt ist.<br />

Der Vorteil: Alte Teppichbodenstücke können<br />

von der Firma recycelt und die Fasern<br />

zur Produktion von neuem Teppich benutzt<br />

werden. „With an extended-life PSS (product-service-system),<br />

the company‘s responsibility<br />

does not end when the product is<br />

manufactured or sold - it is accountable for<br />

the entire life cycle.“ 77<br />

Ein weiteres Beispiel für effiziente und ökologisch<br />

sinnvolle Vorgänge durch Leasingmodelle<br />

ist das Chemikalienleasing: Ein<br />

Chemikalienhersteller stellt einem Betrieb<br />

Chemikalien, die dieser für einen bestimmten<br />

Arbeitsvorgang benötigt, mitsamt aller<br />

Serviceleistungen bereit. 78 Beide, Hersteller<br />

und Anwender, arbeiten zusammen an Optimierung<br />

des Prozesses, da erhöhter Chemikalienverbrauch<br />

für den Hersteller nicht<br />

zu mehr Gewinn, sondern zu mehr Kosten<br />

führt. 78<br />

Potential zur einsparung<br />

von ressourcen<br />

Die Hoffnung ist da, dass der Wandel hin zu<br />

kollaborativen Ökonomien nicht nur ökonomische,<br />

sondern auch ökologische Vorteile<br />

mit sich bringt. Die <strong>Theorie</strong>, dass bei der<br />

gemeinsamen Nutzung von Produkten insgesamt<br />

weniger Materie produziert werden<br />

muss, erscheint logisch. Allerdings ist dies in<br />

der Realität nur der Fall, wenn dieser positive<br />

Effekt auf die Umwelt nicht an anderer Stelle<br />

wieder kompensiert wird, beispielsweise<br />

durch häufigen Transport und weite Transportwege.<br />

Auf diesen Umstand weist die<br />

Studie «Nutzen Statt Besitzen» hin, die die<br />

Heinrich-Böll-Stiftung im Auftrag des NABU<br />

erstellt hat .79 Die beste Ökobilanz wird dieser<br />

Studie zufolge bei Modellen erzielt, die auf<br />

regionaler Ebene stattfinden, beispielsweise<br />

bei regionalen Kleidertauschbörsen.<br />

Ein weiterer Vorteil von kollaborativen Konsumformen<br />

ist das höhere Maß an Freiheit<br />

und Flexibilität, welches man gewinnt, wenn<br />

man Produkte nicht für alle Zeiten besitzen,<br />

sondern temporär leihen kann. Leihen, <strong>Teil</strong>en<br />

oder Weiterverkaufen befreit von den Lasten<br />

und Pflichten einer großen Sammlung materiellen<br />

Eigentums. Diese Ungebundenheit<br />

passt zur fluiden Welt der Postmoderne. Die<br />

Möglichkeiten zum Erwerb erscheinen heute<br />

so mannigfaltig, es gibt so viele unterschiedliche<br />

Dinge auszuprobieren und zu nutzen,<br />

dass der Eigentumserwerb schnell zu einer<br />

einschränkenden Festlegung der eigenen<br />

Aktivitäten erscheint. 80<br />

Bei welchen Produkten machen die verschiedenen<br />

Modelle Sinn <strong>–</strong> und wann ist der<br />

Markt reif für sie?<br />

freies Nutzungspotential<br />

Beim Carsharing ist es das oftmals hohe ungenutzte<br />

Potential des eigenen Autos, das<br />

sich auch bei manchen Haushaltsgeräten<br />

oder Werkzeugen attestieren lässt. Wer nur<br />

selten eine Bohrmaschine oder ein Fahrzeug<br />

mit großer Ladefläche benötigt, profitiert von<br />

der Möglichkeit, diese temporär zu leihen.<br />

Bei Produkten mit begrenzter Nutzungsdauer<br />

ist es ähnlich: Kleidertauschkonzepte<br />

profitieren von der kurzen Halbwertszeit der<br />

Moden. Auch Artikel, die temporäre Bedürfnisse<br />

erfüllen, zählen zu beliebten Leih- oder<br />

Leasing-Ideen. Darunter fallen Kinder- oder<br />

Schwangerschaftskleider oder Kinderspielzeug.<br />

Andere Produkte, beispielsweise Filme,<br />

verlieren nach der Nutzung an (kulturellem)<br />

Wert - schließlich möchte man sich Filme<br />

nur selten mehrmals ansehen - sodass das<br />

Ausleihen oder Streamen von Filmen sinnvoll<br />

erscheint.<br />

Auch für Produkte mit einem sehr hohen<br />

Einkaufswert oder Anschaffungsaufwand<br />

können Leihmodelle interessant werden, ein<br />

Beispiel sind Solarzellen. Zusammenfassend<br />

lässt sich festhalten, dass alle Dinge, die wir<br />

aufgrund ihres Nutzwertes, aber nicht aufgrund<br />

ihres Eigentumswertes brauchen, für<br />

die kollaborative Ökonomien von Interesse<br />

sind. 81<br />

Social proof<br />

Der entscheidende Faktor für den Erfolg<br />

eines Leih- oder <strong>Tausch</strong>systems ist aber<br />

nicht rein wirtschaftlicher, sondern sozialer<br />

Art: Für jedes neue Konzept gilt, dass es<br />

zunächst von einer entscheidenden Masse<br />

an Nutzern anerkannt und adaptiert werden<br />

muss, bevor es einen breiten Erfolg erfahren<br />

kann. Rachel Botsman bezeichnet dies<br />

als den Faktor des «social proof». 82 Sie führt<br />

dazu aus: «Whether ist‘s Barclay‘s cycle hires<br />

users riding around the streets of London<br />

on distinct turquoise bikes or a clothing<br />

swap blogging about the deals they found,<br />

these early users provide a critical mass of<br />

„social proof“ that these forms of collaborative<br />

consumption are something others should<br />

try. It enables people, not just early adopters,<br />

to cross the psychological barrier that often<br />

existst around new behaviours.»<br />

Wiedererkennungswert<br />

und <strong>Teil</strong>habe<br />

Interessant ist dabei die Rolle, die Gestaltung<br />

spielt: Botsman beschreibt den hohen<br />

Wiedererkennungswert der türkisfarbenen<br />

Leihfahrräder in London. Eine auffällige Ge-<br />

22<br />

23


staltung ist ein charakteristisches Merkmal<br />

vieler Fahrradverleihsysteme.Durch charakteristische<br />

Rahmenformen und eine spezielle<br />

Farbgebung setzen sich die jeweiligen<br />

Leihfahrräder deutlich von herkömmlich<br />

genutzten Fahrrädern ab. Durch den hohen<br />

Wiedererkennungswert wird bei jeder<br />

Fahrt nicht nur der Benutzer von A nach B<br />

gebracht, es wird auch eine Werbebotschaft<br />

in eigener Sache transportiert, der Benutzer<br />

wird quasi zum Vorreiter und Werbebotschafter.<br />

So ist es für die diversen Projekte<br />

sehr entscheidend welche Gruppe von ‹early<br />

adopters› ihr Konzept verbreitet, denn daran<br />

hängt viel vom späteren Erfolg ab. 84<br />

mehr verantwortung<br />

für designer<br />

Im vorherigen Abschnitt sind nun bereits<br />

einige konkrete Modelle der kollaborativen<br />

Ökonomie angesprochen worden. Eine entscheidende<br />

Frage ist dabei aber nicht gestellt<br />

worden, welcher nun dieser abschließende<br />

<strong>Teil</strong> des Textes gewidmet ist: Wie<br />

sollen die zu leihenden und tauschenden<br />

Dinge gestaltet werden? Überhaupt: welche<br />

Rolle kommt dem Designer in Zukunft zu?<br />

Die Frage betrifft auf der einen Seite die<br />

Gestaltung der Strukturen und Serviceleistungen,<br />

die fast immer ein wichtiger <strong>Teil</strong><br />

von kollaborativen Konsummodellen sind.<br />

Bei netzbasierenden Projekten ist es beispielsweise<br />

von großer Bedeutung, wie die<br />

jeweilige Plattform ausgestaltet ist, wen sie<br />

anspricht, wie einfach und intuitv sie zu bedienen<br />

ist. Während Design also schon bei<br />

den Plattformen beginnen kann, über welche<br />

Produkte getauscht oder verliehen werden,<br />

zieht sich das Gestaltungsfeld in viele Bereich<br />

fort. Es geht nicht nur darum, Produkte<br />

zu entwerfen, die aufgrund ihrer ästhetischen<br />

Qualität Freude an der Partizipation verbreiten.<br />

gestaltung des gesamten<br />

nutzungszyklus eines<br />

produkts<br />

Der Blick der Gestalter muss sich zunehmend<br />

auf die größeren Zusammenhänge<br />

richten, in denen Produkte eingebettet sind.<br />

Der Begriff „Design Thinking“ ist damit eng<br />

verknüpft. Und es gilt genau zu studieren,<br />

wie verschiedene Nutzer ein und dasselbe<br />

Objekt behandeln und verwenden. Wieder<br />

kann das Beispiel der Leihfahrräder herangezogen<br />

werden: Die Fahrräder sind ausgesprochen<br />

solide konstruiert, dadurch wenig<br />

reperaturanfällig, beständig gegen Vandalismus,<br />

außerdem dank des hohen Gewichts<br />

relativ diebstahlsicher.<br />

Designer müssen bei solchen Projekten verstärkt<br />

mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten.<br />

Insgesamt steigt die Komplexität<br />

der Projekte, und Designer müssen mehr<br />

Verantwortung übernehmen. Dazu Botsman:<br />

„Designers can and must play a critical roe in<br />

uncovering what people need and want from<br />

systems of Collaborative Consumption, ensuring<br />

that they gain enough critical mass to<br />

continue to improve and grow“ 83<br />

<strong>Teil</strong>habe gestalten<br />

Dass es sich hier nicht um rein funktionale<br />

Anforderungen handeln kann, ist eine wichtige<br />

Erkenntnis dieser Recherche. Das zentrale<br />

Element der kollaborativen Ökonomien ist<br />

nämlich das der <strong>Teil</strong>habe: <strong>Teil</strong> einer Gruppe<br />

von Menschen zu sein, die offen für alternative<br />

Konsumformen, flexibler, freier und<br />

umweltbewusster sind, die nicht mehr dem<br />

angestaubten Konzept des Eigentums anhängen,<br />

ist neben allen praktischen Aspekten<br />

die stärkste Motivation der Nutzer. Um<br />

diese <strong>Teil</strong>habe zu kommunizieren, spielt das<br />

Design der Produkte, die getauscht, geteilt<br />

und geliehen werden, eine zentrale Rolle.<br />

Diese Erkenntnis in einem praktischen Entwurfsprojekt<br />

umzusetzen soll das Ziel des<br />

Projekts sein.<br />

24<br />

25


Quellen:<br />

Fuß noten:<br />

<strong>–</strong> Boltanski, Luc; Chiapello, Eve: «Die Arbeit<br />

der Kritik und der normative Wandel»; in: in:<br />

«Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärigen<br />

Kapitalismus», Christoph Menke<br />

und Juliane Rebentisch (Hg.), Kadmos Verlag<br />

Berlin, 2010<br />

<strong>–</strong> Bosch, Aida: «Sinnlichkeit, Materialität,<br />

Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch<br />

und Objekt und ihre sziologische Relevanz»,<br />

in: «Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie<br />

des Designs», Herausgeber:<br />

Stephan Moebius, Sophia Prinz; Transcript<br />

Verlag Bielefeld, 2012<br />

<strong>–</strong> BrandEins Heft 05/Mai 2013: Artikel<br />

«Sein und Haben», Autor: Wolf Lotter<br />

<strong>–</strong> Botsman, Rachel; Rogers, Roo:<br />

«What’s Mine Is Yours. How Collaborative<br />

Consumption Is Changing The Way We<br />

Live», HarperCollinsPublishers London,<br />

2011<br />

<strong>–</strong> Mauss, Marcel: «Die Gabe», Suhrkamp<br />

Verlag Frankfurt/Main, 1990, Copyright<br />

1968<br />

<strong>–</strong> Menke, Christoph: «Ein anderer Geschmack.<br />

Weder Autonomie noch Massenkonsum»,<br />

in: «Kreation und Depression.<br />

Freiheit im gegenwärigen Kapitalismus»,<br />

Christoph Menke und Juliane Rebentisch<br />

(Hg.), Kadmos Verlag Berlin, 2010<br />

<strong>–</strong> «Nutzen Statt Besitzen. Auf dem Weg<br />

zu einer ressourcenschonenden Konsumkultur»,<br />

Kurzstudie von Kristin Leismann,<br />

Martina Schmitt, Holger Rohn und Carolin<br />

Baedeker, Fachliche Mitarbeit: Indra Enterlein;<br />

Im Auftrag und herausgegeben von der<br />

Heinrich-Böll-Stiftung In Zusammenarbeit<br />

mit dem Naturschutzbund Deutschland e.V.<br />

Berlin 2012<br />

<strong>–</strong> Papanek, Victor: «Design für die reale<br />

Welt: Anleitungen für eine humane Ökologie<br />

und sozialen Wandel», Springer Verlag;<br />

Auflage: 2009.<br />

<strong>–</strong> Rifkin, Jeremy: «Access. Das Verschwinden<br />

des Eigentums», Campus Verlag Frankfurt/Main,<br />

3. erweiterte Auflage 2007<br />

<strong>–</strong> «Sharing Economy. Auf dem Weg in eine<br />

neue Konsumkultur?» Studie des Centrum<br />

für Nachhaltigkeitsmanagement (CNM) an<br />

der Leuphana Universität Lüneburg. Autoren:<br />

Harald Heinrichs and Heiko Grunenberg,<br />

2012<br />

01 <strong>–</strong> Rifkin S. 106<br />

02 <strong>–</strong> Rifkin S. 106<br />

03 <strong>–</strong> Rifkin S. 106<br />

04 <strong>–</strong> Rifkin S. 107<br />

05 <strong>–</strong> Rifkin S. 108<br />

06 <strong>–</strong> Rifkin S. 109<br />

07 <strong>–</strong> Rifkin S. 109<br />

08 <strong>–</strong> Rifkin S. 110<br />

09 <strong>–</strong> Boltanski/Chiapello<br />

10 <strong>–</strong> Boltanski/Chiapello<br />

11 <strong>–</strong> Boltanski/Chiapello<br />

12 <strong>–</strong> Rifkin S. 271<br />

13 <strong>–</strong> Rifkin S. 272<br />

14 <strong>–</strong> Rifkin 271<br />

15 <strong>–</strong> Rifkin S. 273<br />

16 <strong>–</strong> Rifkin S.112<br />

17 <strong>–</strong> Botsman S. 8<br />

18 <strong>–</strong> Botsman S. 8<br />

19 <strong>–</strong> Botsman S. 8f.<br />

20 <strong>–</strong> Botsman S. 8f.<br />

21 <strong>–</strong> Botsman S. 20<br />

22 <strong>–</strong> Botsman S. 21<br />

23 <strong>–</strong> Botsman S. 22<br />

24 <strong>–</strong> Bosch S. 63<br />

25 <strong>–</strong> Bosch S. 63<br />

26 <strong>–</strong> Bosch S. 63<br />

27 <strong>–</strong> Bosch S. 64<br />

28 <strong>–</strong> Botsman S. 38<br />

29 <strong>–</strong> Menke S. 231<br />

30 <strong>–</strong> Vgl. dazu: Menke S. 231<br />

31 <strong>–</strong> Botsman S. 3<br />

32 <strong>–</strong> Botsman S. 5<br />

33 <strong>–</strong> Bootsman S. 33<br />

34 <strong>–</strong> Bootsman, S. 14<br />

35 <strong>–</strong> Bootsman, S. 14<br />

36 <strong>–</strong> Leuphana<br />

37 <strong>–</strong> Rifkin S. 127<br />

38 <strong>–</strong> Rifkin S. 10<br />

39 <strong>–</strong> Rifkin S. 133<br />

40 <strong>–</strong> Rifkin S.133<br />

41 <strong>–</strong> Rifkin S. 139<br />

42 <strong>–</strong> Rifkin S. 10<br />

43 <strong>–</strong> Rifkin S. 11<br />

44 <strong>–</strong> Rifkin S. 13<br />

45 <strong>–</strong> Rifkin, S. 257<br />

46 <strong>–</strong> Rifkin S. 259<br />

47 <strong>–</strong> Rifkin S. 260<br />

48 <strong>–</strong> Leuphana S. 2<br />

49 <strong>–</strong> Leuphana S. 2<br />

50 <strong>–</strong> Leuphana S. 9<br />

51 <strong>–</strong> Leuphana S. 10<br />

52 <strong>–</strong> Rifkin S. 175<br />

53 <strong>–</strong> Rifkin S. 190f<br />

54 <strong>–</strong> Rifkin S. 191<br />

55 <strong>–</strong> Rifkin S. 192<br />

56 <strong>–</strong> Rifkin, S. 278<br />

57 <strong>–</strong> Rifkin S. 280<br />

58 <strong>–</strong> BrandEins, S. 41<br />

59 <strong>–</strong> Botsman S. 88<br />

62 <strong>–</strong> Vgl. Mauss, S. 19<br />

63 <strong>–</strong> Mauss, S. 21f.<br />

64 <strong>–</strong> Mauss, S. 76<br />

65 <strong>–</strong> Mauss, S. 80<br />

66 <strong>–</strong> Mauss, S. 81<br />

67 <strong>–</strong> Mauss, S. 82<br />

68 <strong>–</strong> Mauss, S. 84, S. 120<br />

69 <strong>–</strong> Mauss, S. 121<br />

70 <strong>–</strong> Botsman, S. 50<br />

71 <strong>–</strong> Botsman, S. 69<br />

72 <strong>–</strong> Botsman, S. 204<br />

73 <strong>–</strong> Botsman, S. 204f<br />

74 <strong>–</strong> Rifkin, S. 221<br />

75 <strong>–</strong> Botsman, S. 73f.<br />

76 <strong>–</strong> Papanek, S. 110<br />

77 <strong>–</strong> Botsman S.118<br />

78 <strong>–</strong> Nutzen Statt Besitzen S.38<br />

79 <strong>–</strong> Nutzen Statt Besitzen S.20<br />

80 <strong>–</strong> BrandEins S. 41/Rifkin S. 34f<br />

81 <strong>–</strong> Botsman S. 101f. und S. 149<br />

82 <strong>–</strong> Botsman S. 81<br />

83 <strong>–</strong> Bootsman S. 190<br />

26<br />

27


Neue Anforderungen in der<br />

Nachmoderne /<br />

Kontrollgesellschaft<br />

Flexibilität<br />

Leichtigkeit<br />

in ständiger Veränderung und<br />

in Wandel begriffen<br />

Mobilität<br />

Nomade sein,<br />

weniger Ballast durch<br />

Besitz<br />

Experimentelle<br />

Lebensformen<br />

Gruppenzugehörigkeit<br />

zu neuer Gruppe<br />

sichtbar<br />

fluider Konsum und<br />

kurze Nutzungszyklen<br />

kollaborative<br />

ökonomien<br />

loslassen können<br />

offen sein<br />

> Kollaborative<br />

Ökonomie als<br />

Befreiung von den<br />

Pflichten, Lasten<br />

und Hemmnissen<br />

des dauerhaften<br />

Eigentums<br />

Qualität<br />

hochwertige<br />

Materialien und<br />

Verarbeitung<br />

community<br />

<strong>Teil</strong>haben und mitgestalten<br />

können<br />

Verantwortung durch gegenseitiges<br />

Vertrauen und<br />

gegenseitige Kontrolle<br />

Ressourcen<br />

schonung<br />

grüne, saubere Alternative<br />

zur Wegwerfkultur<br />

Netzwerke knüpfen,<br />

Beziehungen stärken<br />

28<br />

29

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