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ExÜ vom 06.03.2009 (Prof. Proelß)

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<strong>Prof</strong>. Dr. Alexander Proelß 6. März 2009<br />

Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht<br />

Sachverhalt<br />

A. Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG<br />

I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts<br />

Das Bundesverfassungsgericht ist für die Richtervorlage des R nach Art. 100 Abs. 1 GG und<br />

gemäß §§ 13 Nr. 11, 80 f. BVerfGG zuständig.<br />

II.<br />

Vorlageberechtigung<br />

Vorlageberechtigt sind nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG und gemäß § 80 Abs. 1 BVerfGG alle<br />

„Gerichte“. Bei den „Gerichten“ handelt es sich um alle „staatlichen Gerichte“ i.S.v. Art.<br />

92 GG, nach dem BVerfG also um Spruchstellen, die sachlich unabhängig sind und in einem<br />

staatlichen, gültigen und förmlichen Gesetz mit den Aufgaben eines Gerichtes betraut und als<br />

Gerichte bezeichnet sind. 1 Darunter fallen vor allem die ordentlichen Gerichte und die Verwaltungsgerichte<br />

aller Instanzen. Zweifellos ist damit das Amtsgericht Kiel ein Gericht i.S.v.<br />

Art. 100 Abs. 1 GG.<br />

III.<br />

Vorlagegegenstand<br />

Das BVerfG prüft „Bundesgesetze“ und „Landesgesetze“ auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Es<br />

muss sich dabei um Gesetze im formellen Sinn handeln. 2 Außerdem überprüft das BVerfG<br />

nur nachkonstitutionelles Recht. § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB ist formelles nachkonstitutionelles 3<br />

Bundesrecht.<br />

IV.<br />

Vorlagegrund<br />

Fraglich ist allerdings, ob ein hinreichender Vorlagegrund gegeben ist. Das ist in zweifacher<br />

Hinsicht zweifelhaft. Zum einen hat R bloße „Zweifel“ an der Verfassungswidrigkeit von §<br />

90a Abs. 1 Nr. 2 StGB geäußert, zum anderen hat R keine „verfassungskonforme“ Auslegung<br />

der Vorschrift in Erwägung gezogen.<br />

1. Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit<br />

Nach Art. 100 Abs. 1 GG muss das vorlegende Gericht die angegriffene Norm für verfassungswidrig<br />

„halten“. Daraus folgern BVerfG und herrschende Lehre, dass das vorlegende<br />

1 BVerfGE 6, 55 (63).<br />

2 BVerfGE 68, 319 (320).<br />

3 Nach st. Rspr. des BVerfG (erstmals BVerfGE 6, 55) kann sich vorkonstitutionelles in nachkonstitutionelles<br />

Verfassungsrecht wandeln, wenn der Gesetzgeber die entsprechende Norm „mit in seinen Willen aufgenommen<br />

hat“. Das ist bei § 90a StGB nicht weiter problematisch, da der Gesetzgeber durch das 8. Strafrechtsänderungsgesetz<br />

<strong>vom</strong> 25. Juni 1968 die Staatsschutzdelikte neu geordnet hat.


Gericht von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugt sein muss. Bloße Zweifel oder<br />

Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Norm reichen im Gegensatz zu Art. 93 Abs. 1<br />

Nr. 2 GG nicht aus. 4<br />

Die Strenge bei der Überzeugungsbildung wird mit dem damit einhergehenden Begründungszwang<br />

auf Seiten des vorlegenden Gerichts gerechtfertigt (mittelbar trägt sie wohl auch zur<br />

Entlastung des überlasteten BVerfG bei). Der Richter soll gezwungen werden, die Vereinbarkeitsfrage<br />

sachgerecht zu durchdenken, um unnötige oder leichtfertige Vorlagen zu vermeiden.<br />

5 Hier war R nicht von der Verfassungswidrigkeit des § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB überzeugt;<br />

er hatte vielmehr nur „Zweifel“ an der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Die Richtervorlage<br />

ist deshalb mangels Vorlagegrundes unzulässig.<br />

2. Verfassungskonforme Auslegung<br />

Art. 100 Abs. 1 GG verlangt nicht nur, dass das vorlegende Gericht die angegriffene Norm<br />

aus eigener Überzeugung für verfassungswidrig hält. Das BVerfG hat zudem das Gebot des<br />

Vorrangs der verfassungskonformen Auslegung aufgestellt. Danach ist eine ausreichende<br />

Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes dann nicht gegeben,<br />

wenn die Vorschrift in eine Richtung interpretierbar ist, die mit dem Grundgesetz in Einklang<br />

steht. In einem solchen Fall habe diese Interpretation den Vorzug vor anderen Auslegungsmöglichkeiten.<br />

Eine Richtervorlage sei dann unzulässig. 6<br />

An dieser Rspr. (sie besitzt wohl ebenfalls einen gewissen Entlastungseffekt für das BVerfG)<br />

wird teilweise kritisiert, dass sie die Anforderungen an eine Richtervorlage, insbesondere wegen<br />

der oft ohnehin problematischen verfassungskonformen Auslegung, zu sehr überspanne.<br />

Hinnehmbar sei sie allenfalls dann, wenn ein Gericht die Möglichkeit verfassungskonformer<br />

Auslegung selbst einräume. Für überzogen wird die Vorgabe des BVerfG jedenfalls dann gehalten,<br />

wenn das vorlegende Gericht eine verfassungskonforme Auslegung auch dann vornehmen<br />

müsse, wenn es selbst diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen habe. 7<br />

Dem ist freilich entgegen zu halten, dass jeder fachrichterlichen Überzeugungsbildung eine<br />

Gesetzesauslegung, unabhängig von ihrer Schwierigkeit, vorauszugehen hat. Zu den <strong>vom</strong><br />

Richter anzuwenden Auslegungsmethoden gehört auch die verfassungskonforme Auslegung.<br />

Dies gilt umso mehr, als das vorlegende Gericht ein Gesetz vorlegt, weil es dies für verfassungswidrig<br />

hält. 8<br />

Vorliegend hat der Strafrichter am Amtsgericht Kiel die Strafbarkeit K’s bejaht, nachdem er<br />

Wortlaut, Systematik, Gesetzeszweck und Entstehungsgeschichte des § 90a StGB geprüft hatte.<br />

Da R keine verfassungskonforme Auslegung erwogen hat, verstößt dieses Unterlassen –<br />

unabhängig <strong>vom</strong> theoretischen Ergebnis dieser Auslegung – gegen das Gebot des Vorrangs<br />

der verfassungskonformen Auslegung. R’s Richtervorlage ist daher auch aus diesem Grund<br />

unzulässig (a.A. gut vertretbar).<br />

4 BVerfGE 1, 184 (189); 78, 104 (117); Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 819; Dollinger, in: Umbach<br />

/ Clemens / Dollinger, BVerfGG, § 80 Rn. 53; Meyer, in: Münch / Kunig, Band 3, Art. 100 Rn. 21; Pieroth, in:<br />

Jarass / Pieroth, Art. 100 Rn. 10.<br />

5 Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, § 80 Rn. 21 u. 296.<br />

6 BVerfGE 22, 373 (377); 90, 145 (170) und h.L., s. nur Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Art. 100 Rn. 10; Sieckmann,<br />

in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner Grundgesetz, Art. 100 Rn. 34.<br />

7 Benda / Klein, VerfProzR, Rn. 825.<br />

8 Dollinger, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, § 80 Rn. 56.<br />

- 2 -


Die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens sind daher im Hilfsgutachten weiter zu<br />

prüfen.<br />

V. Entscheidungserheblichkeit<br />

Für die Zulässigkeit der Normenkontrolle muss es auf die Gültigkeit des Gesetzes bei der Entscheidung<br />

ankommen. Bei der Entscheidungserheblichkeit legt das BVerfG grundsätzlich die<br />

Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts zugrunde. Dies gilt ausnahmsweise dann nicht,<br />

wenn die Rechtsauffassung des Gerichts offensichtlich unhaltbar ist. 9 R hat hier deutlich gemacht,<br />

dass es für K’s Verurteilung auf die Verfassungskonformität von § 90a Abs. 1 Nr. 2<br />

StGB ankomme. Dabei hat er Art. 5 Abs. 3 GG als möglicherweise entgegenstehendes Verfassungsrecht<br />

herangezogen. Diese Auffassung scheint nicht von vornherein unhaltbar. Die<br />

Entscheidungserheblichkeit ist damit gegeben.<br />

VI.<br />

Vorlagebegründung<br />

Letztlich muss die Vorlage auch ausreichend begründet werden, § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.<br />

Hiervon ist – mangels anderweitiger Anhaltspunkte im Sachverhalt – auszugehen.<br />

VII. Ergebnis Zulässigkeit<br />

Die konkrete Normenkontrolle ist wegen eines nicht ausreichenden Vorlagegrundes unzulässig.<br />

Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen von Art. 100 Abs. 1 GG liegen jedoch vor.<br />

B. Begründetheit der konkreten Normenkontrolle<br />

I. Prüfungsumfang<br />

Die Vorlage ist begründet, wenn § 90a Abs. 1 Nr. 2, 4. Alt. StGB mit dem Grundgesetz unvereinbar<br />

ist. Das BVerfGE prüft die vorgelegte Regelung unter allen denkbaren Gesichtspunkten.<br />

10 Unerheblich ist demnach, welche Normen das vorlegende Gericht benannt hat. Hier ist<br />

es also nicht entscheidend, dass R seine Vorlagebegründung nur auf die Unvereinbarkeit von<br />

§ 90a StGB mit Art. 5 Abs. 3 GG stützt. 11<br />

II.<br />

Verstoß gegen Parlamentsvorbehalt?<br />

Möglicherweise verstößt § 90a StGB, wie im Sachverhalt angedeutet, gegen den Parlamentsvorbehalt.<br />

Dieser verlangt, dass alle wesentlichen Grundrechtseingriffe im Sinne der Wesentlichkeitstheorie<br />

des BVerfG nur <strong>vom</strong> Parlament (u.a. als der Volksvertretung) geregelt werden<br />

dürfen. K hat in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht vorgetragen, er könne schon<br />

deswegen nicht verurteilt werden, weil es an einem (Bundes-) Gesetz fehle, das die Nationalhymne<br />

regele. Nur der Deutsche Bundestag könne festlegen, welche Hymne für die Bundesrepublik<br />

Deutschland verbindlich sei. Die Bestimmung der Nationalhymne würde einen<br />

Grundrechtseingriff bedeuten.<br />

9 BVerfGE 44, 322 (339).<br />

10 BVerfGE 90, 226 (236).<br />

11 S. BVerfGE 3, 187 (197); 66, 214 (222); vgl. auch Sieckmann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner<br />

Grundgesetz, Art. 100 Rn. 64 m.w.N.<br />

- 3 -


Die Rechtsauffassung K’s ist in zweierlei Hinsicht unzutreffend. Zum einen hat das BVerfG<br />

vorliegend nur zu prüfen, ob § 90a StGB – und nicht das Festlegen der Hymne durch den<br />

Bundespräsidenten (mit oder ohne Mitwirken des Bundeskanzlers) – gegen den Parlamentsvorbehalt<br />

verstößt. Letzteres ist bereits deswegen nicht der Fall, weil § 90a StGB formelles<br />

Bundesrecht darstellt und damit dem Gesetzesvorbehalt genügt. Dass § 90a StGB auf einen<br />

außerstrafrechtlichen Anknüpfungspunkt verweist, nämlich auf den Briefwechsel zwischen<br />

Bundeskanzler und Bundespräsident, betrifft allein den Inhalt, nicht aber die Quelle der<br />

Norm. Die Verweisung in § 90a StGB ist demnach eine Frage der Bestimmtheit des Tatbestandes.<br />

Ein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt liegt nicht vor. 12<br />

Davon abgesehen, wird der Parlamentsvorbehalt primär durch einen wesentlichen Grundrechtseingriff<br />

ausgelöst, der hier nicht vorliegt. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs eines<br />

Grundrechts (hier des Art. 2 Abs. 1 GG) erfolgen in der Regel durch „klassische Grundrechtseingriffe“,<br />

also einem „rechtsförmigen Vorgang, der unmittelbar und gezielt durch ein <strong>vom</strong><br />

Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ,<br />

zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt“ (enger Eingriffsbegriff). 13 Das<br />

Hoffmann Haydn’sche Lied, das bei staatlichen Anlässen oder bei sportlichen (Groß-) Veranstaltungen<br />

gespielt wird, stellt keinen gezielten Eingriff in die Freiheitssphäre des Bürgers<br />

dar. Nach h.M. genügen zwar auch rein faktische Einwirkungen auf ein Grundrecht, wenn sie<br />

der unmittelbaren Einwirkung gleichstehen bzw. nahekommen (weiter Eingriffsbegriff). 14 Das<br />

ist bei der Festlegung der Nationalhymne freilich nicht der Fall. Zwar besteht etwa bei großen<br />

Sportveranstaltungen Anlass, die Nationalhymne mitzusingen. Verpflichtend ist dies jedoch<br />

nicht. Es steht jedermann frei, ob er mitsingen möchte oder nicht. Daher ist auch nichts für eine<br />

Zustimmungsbedürftigkeit unter Gesichtspunkten eines objektiven Wesentlichkeitsvorbehalts,<br />

der unabhängig <strong>vom</strong> Kriterium eines Grundrechtsingriffs zur Anwendung gelangen<br />

könnte, ersichtlich.<br />

III.<br />

Verstoß gegen Bestimmtheitsgrundsatz, Art. 103 Abs. 2 GG?<br />

1. § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB als verfassungswidriges Blankettgesetz?<br />

Dadurch dass § 90a StGB mit der Gesetzesformulierung „Hymne der Bundesrepublik<br />

Deutschland“ auf einen außerstrafrechtlichen Anknüpfungspunkt verweist, könnte der Bestimmtheitsgrundsatz<br />

verletzt sein. Der Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG erfordert,<br />

dass die Strafbarkeit so konkret umschrieben ist, dass Tragweite und Anwendungsbereich<br />

der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. 15 Ein<br />

Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot kann dann vorliegen, wenn ein Blankettstrafgesetz auf<br />

eine untergesetzliche Regelung verweist, ohne dass die Fälle der Strafbarkeit bereits auf<br />

Grund des Gesetzes vorausgesehen werden können. 16<br />

Diese Konstellation liegt hier jedoch nicht vor. Zum einen liegt bei § 90a StGB schon keine<br />

Verweisung im technischen Sinn vor. Zum anderen handelt es sich bei den beiden Briefwechseln,<br />

aus denen die Hymne hervorging, nicht um untergesetzliche Rechtsnormen. Als solche<br />

kämen hier allenfalls Rechtsverordnung und Verwaltungsakt in Betracht. Beide Handlungs-<br />

12 Dieses Ergebnis ist unzweifelhaft. Eine abw. Ansicht wäre falsch.<br />

13 BVerfGE 105, 279 (300).<br />

14 BVerfGE aaO; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 24 Rn. 8; krit. gegenüber der „Eingriffs“-<br />

Terminologie Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 123 ff.<br />

15 St. Rspr. des BVerfG, s. nur BVerfGE 75, 329 (340 f.).<br />

16 BVerfGE 14, 245 (252 f.); Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 103 Rn. 60.<br />

- 4 -


formen haben tatbestandlich die „Außenwirkung“ einer Regelung zur Voraussetzung. 17 Diese<br />

liegt hier aber nicht vor, da – entgegen K’s Ansicht – kein Eingriff in Grundrechte durch die<br />

Setzung der Nationalhymne gegeben ist. 18 Ein verfassungswidriges Blankettgesetz liegt demnach<br />

nicht vor (a.A. kaum vertretbar). 19<br />

2. Auslegungsfähigkeit von § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB?<br />

Nach der Formulierung des BVerfG müssen Straftatbestände so konkret umschrieben sein,<br />

dass sie in ihrer Tragweite und in ihrem Anwendungsbereich ermittelt werden können. 20 Die<br />

Tragweite von § 90a StGB ist ohne weiteres aus dem Strafmaß erkennbar. Aber auch der Anwendungsbereich<br />

lässt sich durch Auslegung ermitteln.<br />

2.1 Hoffmann Haydn’sches Lied als Nationalhymne<br />

Unter „Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland“ ist das Hoffmann Haydn’sche Lied<br />

(„Lied der Deutschen“) zu verstehen. Das ergibt sich eindeutig aus den Briefwechseln aus den<br />

Jahren 1952 (Heuss / Adenauer) und 1991 (Weizsäcker / Kohl). 21 Demnach ist für jedermann<br />

ersichtlich, welche Hymne die Nationalhymne Deutschlands ist. Wer sich vor Begehung einer<br />

Straftat nach § 90a StGB nicht sicher ist, welche Nationalhymne die deutsche ist, der kann<br />

sich hierüber z.B. über die Internetseiten des Innenministeriums informieren, auf denen die<br />

Briefwechsel zur Einsicht zur Verfügung stehen. Demnach hätte sich K darüber informieren<br />

können, welche Hymne im deutschen Staatsrecht als anerkannt gilt.<br />

Abgesehen davon, kommt es auf die Kenntnis der Briefwechsel bzw. die Möglichkeit der<br />

Kenntnisnahme gar nicht entscheidend an. Als „Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland“<br />

kommt für den Bürger mangels Alternativen nur das „Lied der Deutschen“ in Betracht.<br />

Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in Deutschland keine „inoffiziellen“ Nationalhymnen,<br />

die man versehentlich für die „echte“ Hymne halten könnte. Unter dem Grundgesetz<br />

wurden nur vor dem klärenden Schriftwechsel aus dem Jahre 1952 teilweise auch andere<br />

Hymnen bei staatlichen Anlässen angestimmt. Seitdem wurden weder bei sportlichen noch<br />

bei staatlichen Anlässen abweichende Lieder gespielt. 22 Dadurch dürfte sich das Hoffmann-<br />

17 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 3 rn. 4 f., § 9 Rn. 26 f., § 13 Rn. 1 f.<br />

18 S. oben B.I.<br />

19 A.A. Hümmerich / Beucher, NJW 1987, 3227 (3230), die § 90a StGB unter dem Hinweis für (wohl) verfassungswidrig<br />

halten, dass Blankettgesetze nur durch zulässig geschaffene Normen der Verwaltung ausgefüllt<br />

werden dürften. Das ist grundsätzlich richtig, jedoch liegt hier weder eine Verweisung im technischen Sinne<br />

noch ein Verweis auf eine Rechtsnorm vor. Diese Ansicht ist daher kaum vertretbar.<br />

20 S. Fn. 17.<br />

21 Aufgrund der Briefwechsel hat der Bundespräsident jeweils die Kompetenz zur Festlegung der Nationalhymne<br />

für sich in Anspruch genommen. Diese Kompetenz stand ihm nach ganz h.M. auch zu. Die Begründungen für<br />

dieses Ergebnis sind allerdings unterschiedlich: teilw. wird auf die traditionelle Stellung des Staatsoberhauptes,<br />

die Organisationsgewalt des Bundespräsidenten oder auf Gewohnheitsrecht verwiesen, s. zus. Hellenthal, NJW<br />

1988, 1294 (1301). Auf die Frage der Kompetenz des Bundespräsidenten zur Festlegung der Nationalhymne<br />

kommt es hier jedoch nicht an, da selbst bei Unzuständigkeit das „Lied der Deutschen“ de facto als Hymne existiert.<br />

Unzuständiges Organhandeln macht die Nationalhymne aus Sicht des Art. 103 Abs. 2 GG nicht „unbestimmter“.<br />

22 Bei der konstituierenden Sitzung des 1. Deutschen Bundestages sangen die Abgeordneten Hans Ferdinand<br />

Maßmanns Lied „Ich hab mich ergeben / mit Herz und mit Hand“. Auch Beethovens „Ode an die Freude“ wurde<br />

z.T. zu staatlichen Anlässen als Ersatzhymne gespielt.<br />

- 5 -


Haydn’sche Lied durch die stete Übung im Volksbewusstsein als deutsche Nationalhymne gefestigt<br />

haben. 23<br />

2.2 Nur dritte Strophe von § 90a StGB umfasst?<br />

Problematisch könnte sein, ob alle drei oder nur die 3. Strophe des Deutschlandliedes Bestandteil<br />

der „Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland“ sind. Das BVerfG hat in seiner<br />

Entscheidung <strong>vom</strong> 07.03.1990 festgehalten, dass eine Bestrafung nach § 90a StGB wegen<br />

Verunglimpfung der ersten beiden Strophen einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG bedeutet.<br />

24 Nach Ansicht des Gerichts sei dem Briefwechsel zwischen Adenauer und Heuss aus<br />

dem Jahre 1952 zwar nicht ausdrücklich zu entnehmen, dass das „Lied der Deutschen“ nur<br />

mit seiner dritten Strophe zur Hymne erklärt werden sollte. Es gehe jedoch eindeutig hervor,<br />

dass bei staatlichen Anlässen nur die dritte Strophe gesungen werden solle. Deshalb gehe für<br />

den Adressaten des § 90a StGB der erkennbare Wortsinn des Begriffs „Nationalhymne der<br />

Bundesrepublik Deutschland“ nicht über die dritte Strophe des Deutschlandliedes hinaus.<br />

Diese „Teilnichtigkeit“ von § 90a StGB hinsichtlich der ersten beiden Strophen führt aber<br />

nach BVerfG – ohne das das Gericht hierauf einginge – nicht zur „Gesamtnichtigkeit“ der<br />

Strafnorm. Vielmehr sei eine Bestrafung nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB eben nur wegen Verunglimpfung<br />

der dritten Strophe des Deutschlandliedes möglich. 25<br />

Der Beschluss des BVerfG war zum Zeitpunkt der Entscheidung im Jahre 1990 problematisch,<br />

weil durchaus davon ausgegangen werden konnte, dass auch die ersten beiden Strophen<br />

zur „Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland“ gehörten. 26 Dann aber wäre eine Bestrafung<br />

nach § 90a StGB auch wegen Verunglimpfung der ersten beiden Strophen möglich<br />

gewesen. Das Ergebnis des BVerfG ist aber spätestens seit dem Briefwechsel zwischen Helmut<br />

Kohl und Richard Weizsäcker aus dem Jahre 1991 richtig. Hierin wurde klargestellt, dass<br />

nur die dritte Strophe des Deutschlandliedes zur Nationalhymne erklärt werden sollte. Demnach<br />

ist nur die Verunglimpfung der dritten Strophen des Deutschlandliedes durch § 90a Abs.<br />

1 Nr. 2 StGB unter Strafe gestellt (a.A. kaum vertretbar). 27<br />

3. Ergebnis zur Bestimmtheit von § 90a StGB<br />

§ 90a StGB verstößt nicht gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Die Norm ist kein verfassungswidriges<br />

Blankettgesetz. Der Begriff „Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland“<br />

iSv § 90a StGB umfasst nur die dritte Strophe des „Deutschlandliedes“.<br />

23 Es ist demnach zur näheren Bestimmung des Tatbestandes von § 90a StGB nicht erforderlich, das „Lied der<br />

Deutschen“ als einfaches Gewohnheitsrecht zu behandeln (so z.B. Classen, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 22<br />

Rn. 8; Höfling / Burkiczak, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 22 Rn. 66).<br />

24 BVerfGE 81, 298.<br />

25 BVerfG aaO.<br />

26 So z.B. Spendel, JZ 1988, 744 (748).<br />

27 Ganz h.M., s. etwa Classen, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 22 Rn. 12; Höfling / Burkiczak, in: Berliner<br />

Kommentar zum Grundgesetz, Art. 22 Rn. 66; Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, § 90a Rn. 4; Laufhütte, in: LK<br />

StGB, Vierter Band, § 90a Rn. 6; Steinmetz, in: Müko StGB, Band 2/2, § 90a Rn. 9; Stree / Sternberg-Lieben, in:<br />

Schönke Schröder, § 90a Rn. 10; Tröndle / Fischer, StGB, § 90a Rn. 6.<br />

- 6 -


IV.<br />

Verstoß gegen Grundrechte<br />

Beachte: Im Folgenden wird geprüft, ob das Verhalten K´s von Art. 5 Abs. 3 GG gedeckt ist.<br />

Das ist streng genommen nicht korrekt, da im Rahmen der konkreten Normenkontrolle nur die<br />

<strong>vom</strong> Ausgangsgericht vorgelegte Norm (§ 90a StGB) auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft<br />

wird (was die Bearbeiter erkennen sollten). Sollte aber das Handeln des K durch Art. 5<br />

Abs. 1, 3 GG geschützt sein, läge die Verfassungswidrigkeit von § 90a StGB zumindest nahe,<br />

da die Norm ein verfassungsrechtlich zulässiges Verhalten unter Strafe stellte. Im Übrigen<br />

waren laut Fallfrage alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen zu erörtern. Siehe zur<br />

Konsequenz noch unten 3.4.<br />

A. Verstoß gegen die Kunstfreiheit<br />

1. Schutzbereich<br />

1.1 Kunstbegriff<br />

Der Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 GG ist eröffnet, wenn es sich bei K’s „Gedicht“ um<br />

Kunst handelt. Der Kunstbegriff ist zwischen Rechtsprechung und Literatur umstritten. Während<br />

die Rechtslehre z. T. einen formalen Kunstbegriff vertritt, hat sich in der Rspr. des<br />

BVerfG ein offener Kunstbegriff etabliert.<br />

Nach dem formalen Kunstbegriff meint Kunst nur Arbeiten, welche die Gattungsanforderungen<br />

bestimmter Werktypen (Malerei, Bildhauerei, Poesie) erfüllen. Hierbei sei auf das Urteil<br />

der Kunstschaffenden und eines künstlerisch aufgeschlossenen Publikums abzustellen. 28 Im<br />

vorliegenden Fall liegt eine Arbeit des Werktyps „Dichtung“ vor. Nach dem formalen Kunstbegriff<br />

handelt es sich bei dem „Neuen Deutschlandlied“ um Kunst iSd Art. 5 Abs. 3 GG.<br />

Nach dem materiellen Kunstbegriff ist „das Wesentliche der künstlerischen Betätigung die<br />

freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch<br />

das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarster Anschauung gebracht werden“.<br />

29 Der offene Kunstbegriff unterscheidet dabei nicht zwischen „höherer“ und „niederer“<br />

oder zwischen „guter“ und „schlechter“ Kunst. 30 Hier verwendet K die Formensprache des<br />

Gedichts, um seine Erfahrungen und Eindrücke zu bestimmten Lebensvorgängen mitzuteilen,<br />

die man unter der Überschrift „Deutsches Alltagsleben“ zusammenfassen könnte. 31 Ob man<br />

den Ausführungen inhaltlich ablehnend gegenüber stehen mag, ist für die Frage, ob ein<br />

Kunstwerk vorliegt, nicht entscheidend. Demnach bleibt hier außen vor, dass K die Bundesrepublik<br />

Deutschland in seinem „Neuen Deutschlandlied“ mit dem Makel der brutalen Gewaltausübung<br />

und der primitiven Sexualität versieht.<br />

Nach dem offenen Kunstbegriff ist Kunst geprägt durch die Möglichkeit vielfältiger Interpretationen<br />

sowie eine vielstufige Informationsvermittlung. Das von K getextete bzw. in Umlauf<br />

gebrachte „Neue Deutschlandlied“ lässt sich ohne Hinterfragung der Absicht des Urhebers<br />

nicht verstehen. Insbesondere die Vermengung von Elementen der Gewalt, Sucht, Krankheit<br />

und Sexualität zwingt den Leser vielmehr zu einer Auseinandersetzung mit den Intentionen<br />

des Künstlers. Auch ist der Text vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Unsicherheit<br />

zu sehen. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG ist damit nach allen Kunstbegriffen<br />

in sachlicher Hinsicht eröffnet.<br />

28 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 478.<br />

29 BVerfG v. 24.02.1971 (Mephisto) = NJW 1971, 1645 = DÖV 1971, 554 = JZ 1971, 544 (Herv. durch Verf.).<br />

30 BVerfG v. 03.06.1987 (Strauß-Karikatur) = NJW 1987, 2661 = DVBl 1987, 1063.<br />

31 So die Interpretation von BVerfG aaO (Hymne).<br />

- 7 -


1.2 Geschützte Verhaltensweisen<br />

Nach Art. 5 Abs. 3 GG geschützt ist nicht nur die eigentliche künstlerische Tätigkeit, d.h. die<br />

Schöpfung des Kunstwerkes („Werkbereich“), sondern auch dessen Darbietung und Verbreitung<br />

(„Wirkbereich“). Der Schutzbereich erfasst daher jede Form der Vermittlung des Kunstwerkes.<br />

32 Danach fallen sowohl die Dichtung selbst wie auch das Verbreiten des „Neuen<br />

Deutschlandliedes“ durch die Flugblätter, d.h. die „künstlerische Aktion“, in den Anwendungsbereich<br />

von Art. 5 Abs. 3 GG. 33<br />

1.3 Politischer Gehalt<br />

Trotz Betroffenheit des Werk- und Wirkbereichs der Kunstfreiheit könnte eine Eröffnung des<br />

Schutzbereichs dahinstehen, weil K mit seiner Aktion seinen Unmut über die bestehenden sozialen<br />

Missstände in Deutschland Ausdruck verleihen möchte. Insofern könnte die Meinungsfreiheit<br />

des Art. 5 Abs. 1 GG dem Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG als lex specialis vorgehen.<br />

Das Bundesverfassungsgericht sieht in ständiger Rechtsprechung indes umgekehrt in der<br />

Kunstfreiheit gegenüber der Meinungsfreiheit eine lex specialis. 34 Demgegenüber möchte eine<br />

in der Literatur vertretene Auffassung immer dann, wenn Kunst in der politischen Auseinandersetzung<br />

instrumentalisiert wird, den Schwerpunkt auf Art. 5 Abs. 1 GG legen, wohingegen<br />

der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG zurückzutreten habe. 35<br />

Gegen die Auffassung des Bundesverfassungsgericht spricht, dass im Hinblick auf die<br />

schrankenlose Gewährleistung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG derjenige, der sich der Kunst zur<br />

Verdeutlichung seiner Meinung bedient, privilegiert würde. Gegen die zweite Ansicht ist einzuwenden,<br />

dass in Fällen, die durch eine über bloße Kritik hinausgehende künstlerische Tätigkeit<br />

geprägt sind, die besonderen Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht unterlaufen<br />

werden dürfen. Insbesondere vor dem Hintergrund der verschiedenen Anforderungen<br />

an die Schrankenbestimmung (vgl. Art. 5 Abs. 2 GG: allgemeine Gesetze) erscheint es daher<br />

vorzugswürdig, jeweils beide Schutzbereiche auf ihre Betroffenheit hin zu analysieren, und<br />

erst auf Ebene der Konkurrenzen ein mögliches Zurücktreten von Art. 5 Abs. 1 GG zu untersuchen.<br />

1.4 Ergebnis<br />

Der Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 GG ist damit eröffnet.<br />

2. Eingriff<br />

Eingriffe in die Kunstfreiheit liegen vor, wenn Verhaltensweisen im Werk- oder Wirkbereich<br />

durch Verbote, Sanktionen oder bloß faktische Maßnahmen des Staates behindert oder unmöglich<br />

gemacht werden. 36 Hier wird K in seiner künstlerischen Betätigung durch die drohende<br />

Strafbarkeit des § 90a StGB beschränkt. Ein Eingriff liegt daher vor.<br />

32 Unbestritten, s. BVerfG aaO (Mephisto) Ipsen aaO Rn. 480; Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, §<br />

33 Rn. 3.<br />

33 S. die Originalentscheidung BVerfG aaO (Hymne).<br />

34 Vgl. BVerfGE 30, 173 (191 f.); 81, 298 (306).<br />

35 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 490 ff.<br />

36 S. Sodan / Ziekow aaO Rn. 7.<br />

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3. Rechtfertigung<br />

3.1 Schranken des Art. 5 Abs. 3 GG<br />

Nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 GG ist die Kunstfreiheit vorbehaltlos gewährleistet. Da<br />

aber die künstlerische Betätigung wie jeder andere Freiheitsgebrauch in Rechte anderer, etwa<br />

die Menschenwürde oder das Eigentum, eingreifen kann, stellt sich die Frage, welchen Grenzen<br />

Art. 5 Abs. 3 GG unterliegt.<br />

In Betracht käme zunächst, die Grundrechtsschranken des Art. 5 Abs. 2 GG auch auf Art. 5<br />

Abs. 3 GG anzuwenden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass schon die systematische Stellung<br />

von Art. 5 Abs. 3 GG gegen eine solche Interpretation spricht. Die Trennung der Gewährleitungsbereiche<br />

von Presse- und Meinungsfreiheit einerseits und Kunstfreiheit andererseits<br />

verbietet es, auf Art. 5 Abs. 3 GG die Schranken des Abs. 2 anzuwenden. Dies gilt auch<br />

dann, wenn das Kunstwerk eine Meinungsäußerung enthält. Es würde der Freiheitsgarantie<br />

des Art. 5 Abs. 3 GG nicht gerecht werden, einzelne Teile eines erzählenden Werkes aus dem<br />

künstlerischen Zusammenhang herauszulösen. Zudem ist die Entstehungsgeschichte der<br />

Kunstfreiheit zu beachten. Der Verfassungsgeber wollte die Eigengesetzlichkeit der Kunst vor<br />

dem Hintergrund der Beschränkungen künstlerischer Tätigkeit durch das NS-Regime besonders<br />

hervorheben. 37 Demnach sollte der Sachbereich „Kunst“ eigenständig gewährleistet<br />

werden. Die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG können daher nicht auf die Kunstfreiheitsgarantie<br />

übertragen werden (a.A. kaum vertretbar).<br />

Genauso wenig ist die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG – ein Ansatz des BVerwG aus den<br />

50er/60er Jahren – auf die Kunstfreiheit übertragbar. Art. 5 Abs. 3 GG kann nicht durch die<br />

Rechte anderer, durch die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz beschränkt werden,<br />

weil nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Lehre Art. 2 Abs. 1 von den<br />

spezielleren Grundrechten verdrängt wird. Einer Anwendung der Schrankentrias aus Art. 2<br />

Abs. 1 auf die Kunstfreiheit steht daher die Subsidiarität von Art. 2 Abs. 1 GG entgegen. 38<br />

Die Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG ist daher nach h.M. nur durch kollidierendes Verfassungsrecht<br />

einschränkbar. 39 Als kollidierende Verfassungsrechtsgüter kommen solche in Betracht,<br />

die „für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendig“ sind. 40<br />

3.2 Schutz des Staates als immanente Schranke<br />

Als verfassungsimmanente Schranke kommt hier der Schutz und Bestand der Bundesrepublik<br />

Deutschland durch Schutz seiner Selbstdarstellung in Betracht. Rechtsprechung und h.L. gehen<br />

davon aus, dass es sich bei dem Schutz der Staatssymbole um ein Verfassungsrechtsgut<br />

handele, welches geeignet sei, die Kunstfreiheit in verhältnismäßigen Grenzen einzuschränken.<br />

Dabei hat die Nationalhymne ebenso Verfassungsrang wie ihn die Flagge und die Farben<br />

der Bundesrepublik Deutschland besitzen (Art. 22 GG). 41 Wie die anderen Nationalsymbole<br />

verkörpert die Hymne die Staatsleitziele der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist ein wichti-<br />

37 BVerfG aaO (Mephisto).<br />

38 BVerfG aaO (Mephisto).<br />

39 Kritisch Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 486, der hierin eine unzulässige Umgehung von Art. 5 Abs. 2 GG erblickt.<br />

Ihm zufolge missachtet das BVerfG seine eigenen Prinzipien – Nichtanwendbarkeit von Art. 5 Abs. 2 GG –, indem<br />

es andere Verfassungsgüter zur Einschränkung der Kunstfreiheit heranzieht.<br />

40 BVerfG aaO (Mephisto).<br />

41 BVerfGE 81, 298 (308); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 29 f.; Höfling/Burkiczak, in: Berliner<br />

Kommentar zum Grundgesetz, Art. 22 Rn. 68; Laufhütte, in: LK StGB, Vierter Band, § 90a Rn. 17; Steinmetz,<br />

in: Müko StGB, Band 2/2, § 90a Rn. 7 mit Nachweisen zur Gegenmeinung.<br />

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ges Integrationsmittel; ihre Verunglimpfung kann, wie etwa der Weimarer Flaggenstreit belegt,<br />

die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen. 42 Demnach<br />

ist zum Schutz und Bestand des Staates ein Eingriff in Art. 5 Abs. 3 GG grundsätzlich zulässig<br />

(a.A. – etwa mit Hilfe eines Umkehrschlusses zu Art. 22 GG – vertretbar).<br />

3.3 Schranken-Schranken<br />

Der Eingriff in die Kunstfreiheit muss jedoch auch verhältnismäßig sein. Das bedeutet, der<br />

Eingriff muss ein legitimes Ziel verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein.<br />

a. Legitimes Ziel<br />

Der Eingriff in die Kunstfreiheit erfolgt hier durch § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB. Die Norm<br />

schützt die BRD und ihre Symbole gegen Herabwürdigungen. Damit möchte § 90a StGB als<br />

abstraktes Gefährdungsdelikt die Existenz des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates gewährleisten.<br />

43 Damit dient § 90a StGB dem Schutz und Bestand der Bundesrepublik Deutschland<br />

durch Schutz seiner Selbstdarstellung. Der Eingriff in die Kunstfreiheit dient daher dem<br />

Schutz eines legitimen Verfassungsrechtsgutes (s. soeben 3.2).<br />

b. Geeignetheit<br />

§ 90a StGB ist auch geeignet, diesen Schutz zu gewährleisten, da davon auszugehen ist, dass<br />

die Strafnorm dazu beiträgt, Herabwürdigungen der Staatssymbole zu vermeiden oder zu verringern.<br />

c. Erforderlichkeit<br />

Dieser Schutz ist auch erforderlich, weil keine milderen Mittel ersichtlich sind, die genauso<br />

effektiv wären.<br />

d. Angemessenheit<br />

Fraglich ist aber, ob der Eingriff auch angemessen ist. Dazu bedarf es einer Abwägung – im<br />

Sinne praktischer Konkordanz – zwischen der beeinträchtigten Freiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG<br />

einerseits und dem kollidierenden Verfassungsgut andererseits. 44 Hier ist die Kunstfreiheit mit<br />

dem Schutz des Staates vor Herabwürdigungen in einen angemessen Ausgleich zu bringen.<br />

Dabei ist zu beachten, dass der Kunstfreiheit im Grundgesetzgefüge ein hoher Stellenwert zuzuordnen<br />

ist, weil Art. 5 Abs. 3 die Kunstfreiheit grundsätzlich vorbehaltlos gewährleistet.<br />

Außerdem ist im vorliegenden Fall sowohl der Werk- als auch der Wirkbereich der Kunstfreiheit<br />

betroffen. Die bewirkte doppelte Betroffenheit des Grundrechts relativiert das Gewicht<br />

des kollidierenden Verfassungsguts. Weiterhin äußert K in seinem „Neuen Deutschlandlied“<br />

auch eine politische Meinung. Die damit verbundene Nähe zur Meinungsfreiheit verstärkt die<br />

Bedeutung von Art 5 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall: Nach der Rspr. des BVerfG handelt es<br />

sich bei der Meinungsfreiheit um ein „schlechthin konstituierendes Element“ der grundgesetzlichen<br />

Ordnung, dessen Schutz durch die Wechselwirkungstheorie in besonderem Maße zum<br />

42 S. hierzu Höfling/Burkiczak, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 22 Rn. 68.<br />

43 Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, § 90a Rn. 1. Steinmetz, in: Müko StGB, Band 2/2, § 90a Rn. 1.<br />

44 S. Sodan / Ziekow, Grundkurs, Rn. 12.<br />

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Ausdruck gelangt. 45 Hinzu tritt, dass gerade die Offenheit der Interpretation des „neuen<br />

Deutschlandliedes“ eine Bestrafung wegen Verunglimpfung der Nationalhymne erschwert. K<br />

will in seiner Darstellung die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit innerhalb<br />

der deutschen Lebensverhältnisse anprangern. Es ist daher zwar möglich, dass er hiermit die<br />

Autorität des Staates und seiner Symbole angreifen wollte. Andererseits wäre genauso denkbar,<br />

dass K durch sein Gedicht den durch Hymne und Verfassungsordnung vertretenen Idealen<br />

höhere Geltung verschaffen wollte. 46 Eine strafrechtliche Inanspruchnahme wäre in diesem<br />

Fall nicht sachgerecht.<br />

Demgegenüber ist § 90a StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt und schützt die freiheitlichdemokratische<br />

Grundordnung dementsprechend auch nur „abstrakt“. Diese Abstraktheit würde<br />

K’s künstlerische Freiheit nach dem soeben Ausgeführten unangemessen beeinträchtigen.<br />

Dies gilt umso mehr, als der Verfassungsrang der Hymne im Gegensatz zur Flagge und zu<br />

den Farben der BRD keinen textlichen Ausdruck im Grundgesetz gefunden hat und daher auch<br />

für den Bürger weniger erkennbar ist. Der Schutz der Staatssymbole müsste daher im vorliegenden<br />

Fall hinter dem der Kunstfreiheit zurücktreten (a.A. mit entspr. Argumentation vertretbar).<br />

3.4 Konsequenzen aus dem Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall für<br />

die Begründetheit der Normenkontrolle<br />

Die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in K’s Fall führt aber nicht zur Verfassungswidrigkeit<br />

von § 90a Abs. 2 Nr. 1 StGB. Vielmehr ist mit der Rspr. des BVerfG und der h.L. davon<br />

auszugehen, dass § 90a StGB verfassungsgemäß auszulegen ist. § 90a StGB ist dann verfassungsgemäß,<br />

wenn die Strafgerichte bei der Würdigung der Tat eine Einzelfallabwägung vornehmen,<br />

in deren Rahmen der Kunstfreiheit ausreichend Gewicht verliehen wird. So wird<br />

gewährleistet, dass der Staatssymbolschutz nach wie vor existent bleibt, andererseits die<br />

grundgesetzlich geschützte Kunstfreiheit beim Tatbestandsmerkmal der „Verunglimpfung“<br />

ausreichend berücksichtigt wird. 47 Die Abwägung setzt dabei u.a. voraus, dass die Tatgerichte<br />

die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten eines Kunstwerkes in Betracht ziehen. Das<br />

bedeutet nicht gleichzeitig, dass die Kunstfreiheit immer den Vorrang vor dem Symbolschutz<br />

erhält. Künstler, deren Kunstwerke den Bestand des Staates z.B. unmittelbar gefährden, werden<br />

nach § 90a StGB bestraft. 48<br />

4. Ergebnis<br />

Trotz des Vorrangs der Kunstfreiheit im konkreten Fall verstößt § 90a StGB nicht gegen Art.<br />

5 Abs. 3 GG, da die Norm nach BVerfG verfassungskonform ausgelegt werden kann.<br />

45 Dieses Argument trägt allerdings nur, wenn man mit dem BVerfG in der Kunstfreiheit eine lex specialis zur<br />

Meinungsfreiheit erblickt.<br />

46 So BVerfG aaO (Hymne).<br />

47 BVerfG aao (Hymne); Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, § 90a Rn. 9; Laufhütte, in: LK StGB, Vierter Band, §<br />

90a Rn. 16; Steinmetz, in: Müko StGB, Band 2/2, § 90a Rn 26 f.; krit. Stree / Sternberg-Lieben, in: Schönke /<br />

Schröder, StGB, § 90a Rn. 19.<br />

48 S. Tröndle / Fischer, StGB, § 90 a Rn. 17.<br />

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B. Verstoß gegen die Meinungsfreiheit<br />

Beachte: Die Meinungsfreiheit ist nur dann zu prüfen, soweit die Kunstfreiheit nicht mit dem<br />

BVerfG als lex specialis betrachtet wird.<br />

Einziger zusätzlicher Prüfungspunkt: Genügt § 90a StGB den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts<br />

des Art. 5 Abs. 2 GG?<br />

Art. 5 Abs. 2 GG enthält den qualifizierten Gesetzesvorbehalt der „allgemeinen Gesetze“.<br />

Demzufolge müsste es sich bei § 90a StGB um ein allgemeines Gesetz handeln. Allgemeine<br />

Gesetze umfassen sowohl formelle (Parlaments-) Gesetze als auch materielle Gesetze. Allgemein<br />

ist ein Gesetz, wenn es sich nicht gegen den Inhalt oder die Äußerung einer Meinung als<br />

solche richtet, sondern dem Schutze eines schlechthin, d.h. ohne Rücksicht auf eine bestimmte<br />

Meinung, zu schützenden Rechtsgutes zu dienen bestimmt ist. Insofern dürfte sich § 90a<br />

StGB nicht gegen die Äußerung oder den Inhalt einer Meinung als solcher richten.<br />

§ 90a StGB schützt als Vorfeldtatbestand die Existenz des freiheitlich-demokratischen<br />

Rechtsstaates der Bundesrepublik und seiner verfassungsgemäßen Ordnung. Bereits dieses<br />

allgemeine Schutzgut indiziert den allgemeinen Charakter der strafrechtlichen Norm. Sie richtet<br />

sich nicht gegen eine bestimmte Meinung, sondern stellt jeden unter Strafe, der – unabhängig<br />

von einer politischen Überzeugung – öffentlich die Bundesrepublik Deutschland oder<br />

ihre verfassungsmäßige Ordnung herabwürdigt. 49 § 90a StGB ist deshalb ein allgemeines Gesetz<br />

i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG.<br />

[…]<br />

V. Ergebnis zur Begründetheit<br />

§ 90a StGB steht mit der Verfassung in Einklang. Die konkrete Normenkontrolle ist daher<br />

unbegründet.<br />

C. Endergebnis<br />

Die konkrete Normenkontrolle ist unzulässig und unbegründet. Das BVerfG wird die Vorlage<br />

mit dem Hinweis an das AG Kiel zurückgeben, dass hier eine verfassungskonforme Auslegung<br />

des § 90a StGB in Betracht kommt, bei der der Kunstfreiheit (und ggf. Meinungsfreiheit)<br />

ausreichend Gewicht einzuräumen sein wird. Im Ergebnis wird das AG Kiel den K<br />

freisprechen müssen.<br />

49 BVerfGE 47, 198 (232); 69, 257 (269).<br />

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