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ExÜ vom 15.05.2010 (Prof. Proelß)

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<strong>Prof</strong>. Dr. Alexander Proelß<br />

Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht <strong>vom</strong> 15. Mai 2010<br />

– Lösungshinweise –<br />

Teil I: Widerspruch gegen das Merkblatt<br />

A. Zulässigkeit<br />

I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO analog<br />

II. Statthaftigkeit des Widerspruchs<br />

• Anfechtungswiderspruch, § 68 I 1 VwGO<br />

• Merkblatt = VA, § 106 LVwG?<br />

(P) Regelung? Sollensanordnung, daher (+)<br />

(P) Einzelfall? Allgemeinverfügung, § 106 II LVwG<br />

III. Widerspruchsbefugnis, § 42 II VwGO analog<br />

(+) wegen möglicher Verletzung des subjektiv-öffentlichen Rechts aus § 20 StrWG<br />

[beachte: immer möglichst konkret betroffenes, rangniedriges Recht wählen]<br />

IV. formgerechte Einlegung bei der richtigen Behörde, § 70 I 1 VwGO<br />

(+), da das Ordnungsamt die Allgemeinverfügung erlassen hat; lediglich Bekanntgabe<br />

durch den Polizeivollzugsdienst<br />

V. Beteiligten- und Handlungsfähigkeit, § 76 Nr. 1, Nr. 3; § 77 I Nr. 1, Nr. 4 LVwG<br />

VI. Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde, § 73 VwGO<br />

• (P) Zwar ist die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde keine Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

für den Widerspruch, aber Sachentscheidungsvoraussetzung, daher nach h.M.<br />

im Rahmen der Zulässigkeit zu prüfen<br />

• Gemeinde als Ortspolizeibehörde, §§ 163 ff. LVwG<br />

• Unerheblich, ob falsche Ausgangsbehörde, vgl. Rechtssicherheit; es kommt nur auf<br />

die tatsächlich handelnde Behörde an<br />

1


Zwischenergebnis: Der Widerspruch ist zulässig.<br />

B. Begründetheit<br />

Der Widerspruch ist begründet, wenn die Allgemeinverfügung rechtswidrig und/oder unzweckmäßig<br />

ist und der Widerspruchsführer dadurch in seinen Rechten verletzt ist.<br />

I. Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung<br />

1. Befugnisnorm<br />

• §§ 174, 176 LVwG zur Abwehr eines Verstoßes gegen die Erlaubnispflicht aus §§ 21 I<br />

i.V.m. § 56 I Nr. 1 StrWG?<br />

• aber: § 21 VII StrWG ist lex specialis, weil diese Vorschrift auch ein Einschreiten gegen<br />

unerlaubte Sondernutzung ermöglicht.<br />

• (P) abschließende Regelung durch § 21 VII StrWG?<br />

o Rechtspr.: (–)<br />

o<br />

Teile der Lit.: differenzierte Regelung der Sondernutzung in § 21 StrWG,<br />

Sachnähe, Vermeidung von Zuständigkeitskonflikten, daher (+)<br />

2. Formelle Rechtmäßigkeit<br />

a) Zuständigkeit<br />

• Sachliche Zuständigkeit der Gemeinde gemäß §§ 3 III lit. a, 21 I, 23 StrWG: Ordnungsamt<br />

handelt als unselbstständige Verwaltungseinheit der Gemeinde<br />

• Organkompetenz beim Bürgermeister, Befugnisse aus § 21 VII StrWG als Selbstverwaltungsaufgabe<br />

der Gemeinde, Geschäft der laufenden Verwaltung (§ 55 I 2 GemO<br />

SH)<br />

b) Verfahren; Anhörung gemäß § 87 II Nr. 4 LVwG entbehrlich<br />

c) Form; Begründung (§ 109 LVwG) fehlt, aber heilbar, § 114 II LVwG<br />

3. Materielle Rechtmäßigkeit<br />

a) durch das Merkblatt verbotene Tätigkeiten = Sondernutzung?<br />

• Gemeingebrauch, § 20 I StrWG: Definition dort, Bezugnahme auf den Verkehrszweck,<br />

vgl. auch Widmung der Straße (§ 2 I StrWG)<br />

2


• Herleitung der Definition für „Verkehr“: Benutzung der Straße zum Zwecke der Fortbewegung<br />

von Menschen und Sachen – unter Einschluss des „ruhenden Verkehrs“;<br />

auch sonstige verkehrsbezogene Nutzungen wie Herumstehen; nach modernem Funktionsbild<br />

von Fußgängerzonen darüber hinaus andere Verhaltensweisen, etwa Schaufenster<br />

betrachten, anderen Passanten begegnen, plaudern (= kommunikativer Verkehr)<br />

[beachte: zunächst ist der Begriff anhand der üblichen Kriterien, nämlich Wortlaut,<br />

Systematik und Teleologie auszulegen. Ein sofortiger Rückgriff auf<br />

Grundrechte beschneidet die Auslegung.]<br />

• evtl. anderes Ergebnis: Nutzung der Straße primär zu Werbezwecken / Verkaufsaktivitäten<br />

o abzustellen ist auf objektives Verkehrsverhalten<br />

o unaufdringliches Verteilen von Werbung o.ä. eher Gemeingebrauch<br />

o geplante, regelmäßige Verkaufsaktivitäten eher Sondernutzung<br />

• straßenverkehrsrechtliche Privilegierung des Fußgängerverkehrs (Zeichen 242.1 zu §<br />

41 I StVO) reglementiert den nach Straßenrecht möglichen Gemeingebrauch lediglich<br />

aus sonderordnungsrechtlicher Sicht<br />

• zwar Satzungsermächtigung gemäß § 23 I StrWG, aber dadurch keine Veränderung<br />

der gesetzlichen Grenzen zwischen Gemeingebrauch und Sondernutzung möglich<br />

b) Möglicherweise verstößt diese Qualifikation als Sondernutzung aber gegen Grundrechte<br />

beachte: ebenso vertretbar ist es, Fragen der Grundrechte erst im Rahmen der Ermessensausübung<br />

zu diskutieren<br />

• Art. 4 I, II GG<br />

o<br />

SB umfasst nach h.M. auch Tätigkeiten, die von wirtschaftlichen Motiven mitbestimmt<br />

sind; anders: behaupteter religiöser Charakter dient lediglich der<br />

Maskierung geschäftlicher Interessen<br />

Für M: Kurse haben das Ziel, eine höhere Bewusstseinssphäre zu erreichen,<br />

daher SB eröffnet (a.A. vertretbar)<br />

o Eingriff (+)<br />

o<br />

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung über den Grundsatz der praktischen<br />

Konkordanz<br />

Genehmigungsvorbehalt bei Sondernutzung dient dazu, das Teilhaberecht anderer<br />

an der Straße (Art. 2 I i.V.m. Art. 3 I GG) zu schützen. Eine Sondernutzungserlaubnis<br />

einzuholen ist keine unzumutbare organisatorische Schwierigkeit.<br />

Grad der Störung durch missionierende Verkaufs- oder Werbeaktivitäten<br />

ist nicht nur minimal, weil Passanten nur schwer ausweichen können<br />

Art. 4 GG führt nicht dazu, die Tätigkeiten des M als Gemeingebrauch zu qualifizieren.<br />

3


• Art. 5 I 1 GG<br />

o<br />

SB umfasst Werbung, wenn diese auch der Meinungsbildung dient<br />

o Eingriff (+)<br />

o<br />

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung<br />

§§ 20, 21 StrWG = „allgemeine Gesetze“ i.S.d. Art. 5 II GG, weil sie sich weder<br />

gegen bestimmte Meinungen richten noch Sonderrecht gegen den Prozess<br />

der freien Meinungsbildung darstellen; sie dienen „dem Schutz eines schlechthin,<br />

ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts,<br />

dem Schutz eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit<br />

den Vorrang hat.“ (BVerGE 7, 198 [209 f.]).<br />

Für Regelungen zu Gemeingebrauch und Sondernutzung hinsichtlich ihrer<br />

Ausgleichs- und Verteilungsfunktion bzgl. der Sondernutzungserlaubnis (+);<br />

auch kein anderes Ergebnis hinsichtlich der Spontaneität einer kommunikativen<br />

Straßenbenutzung: gezielte Werbemaßnahmen haben einen organisatorischen<br />

Vorlauf, so dass die Erlaubniseinholung in Abwägung zum Gewinn an<br />

Rechtssicherheit nicht unzumutbar ist.<br />

Zensurverbot aus Art. 5 I 3 GG erstreckt sich lediglich auf präventive Verfahren,<br />

nicht aber auf nachträgliche Kontroll- und Repressionsmaßnahmen.<br />

Art. 5 I 1 GG führt nicht dazu, die Tätigkeiten des M als Gemeingebrauch zu<br />

qualifizieren.<br />

c) Rechtsfolge: Ermessen<br />

In Betracht kommt Ermessensfehlgebrauch, weil die Einwirkungen der GR nicht hinreichend<br />

berücksichtigt worden sein könnten. Aber: Keine Grundrechtsverletzung<br />

(s.o.). Konkrete und moderate Beschränkung der Werbetätigkeiten gemäß Merkblatt,<br />

teilweise Duldung trotz fehlender Sondernutzungserlaubnis, so dass Grundrechtskonformität<br />

(+)<br />

II. Zweckmäßigkeit:<br />

keine Anhaltspunkte für Zweckwidrigkeit erkennbar<br />

Ergebnis: Der Widerspruch ist zulässig und unbegründet.<br />

4


Teil II: Widerspruch gegen die Identitätsfeststellung<br />

A. Zulässigkeit<br />

I. Statthaftigkeit des Widerspruchs<br />

(P)<br />

o<br />

o<br />

Zu Grunde liegender VA hat sich erledigt sfeststellungswiderspruchs“?<br />

Meinung 1: (–), Zweck des Widerspruch nicht mehr erreichbar; keine Rechtsschutzlücken,<br />

da Klage möglich<br />

Meinung 2: (+), im Kern Anfechtungsbegehren, daher § 113 I 4 VwGO analog;<br />

Selbstkontrolle der Verwaltung; Entlastung der Gerichte<br />

[beachte: Eine Standardmaßnahme gegenüber Anwesenden beinhaltet eine konkludente<br />

Duldungsverfügung und ist daher ein VA.]<br />

II. Fortsetzungsfeststellungsinteresse: Wiederholungsgefahr<br />

III. Widerspruchsbefugnis, § 42 II VwGO analog<br />

(+), M ist Adressat eines belastenden VAs gemäß Art. 2 I GG<br />

IV. Zuständigkeit, § 73 I Nr. 1 VwGO<br />

Im Übrigen: vgl. Ausführungen zu Teil I.<br />

Zwischenergebnis: Der Widerspruch ist zulässig.<br />

B. Begründetheit<br />

I. Rechtmäßigkeit<br />

1. Befugnisnorm: § 181 I 1 LVwG<br />

2. Formelle Rechtmäßigkeit<br />

• Zuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes gemäß § 168 I Nr. 3 LVwG<br />

• von einer Anhörung (§ 87 I LVwG) ist auszugehen, da die Polizisten wohl mit<br />

M gesprochen haben werden, ansonsten Heilungsmöglichkeit gemäß § 114 II<br />

LVwG<br />

5


3. Materielle Rechtmäßigkeit<br />

• Gefahr für die öffentliche Sicherheit (Bezug zur öffentlichen Sicherheit aus § 162 I ableitbar):<br />

Ordnungswidrigkeit gemäß § 56 I Nr. 1 i.V.m. § 21 I StrWG<br />

[beachte: Das Schutzgut umfasst nicht nur den Schutz subjektiver Rechte und Rechtsgüter<br />

des Einzelnen und den Schutz der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates<br />

und sonstiger Träger von Hoheitsgewalt, sondern auch die Durchsetzung der in der<br />

objektiven Rechtsordnung begründeten Verhaltenspflichten; demnach stellen auch<br />

Ordnungswidrigkeiten einen Verstoß dar]<br />

• Rechtsfolge: Ermessen; insbesondere Verhältnismäßigkeit wegen Verstoß gegen Straßenrecht<br />

(+)<br />

II. Zweckmäßigkeit<br />

keine Anhaltspunkte für Zweckwidrigkeit erkennbar<br />

Ergebnis: Der Widerspruch ist zulässig und unbegründet.<br />

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