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Prof. Dr. Alexander Proelß<br />

WS 2010/2011<br />

ALLGEMEINE STAATSLEHRE<br />

IV. Staatszwecke und -rechtfertigung, Regierungssysteme<br />

1. Staatszwecklehren<br />

• die Staatszwecklehren (= Staatsphilosophie) suchen Antworten auf die<br />

Frage nach der Legitimation des Staates und liefern insofern Ansätze zur<br />

Rechtfertigung des Konzepts der Staatlichkeit<br />

• das ist vor allem auch im Hinblick auf das „Gewaltmonopol des Staates“<br />

(vgl. Einheit Staatsgewalt) von großer Bedeutung<br />

a) Überblick<br />

• Arten der Staatszwecklehren:<br />

o funktionale Rechtfertigungslehren: „Ohne Staat geht es eben nicht.“<br />

o teleologische (zweckgerichtete) Rechtfertigungslehren: „Staat ist<br />

ein Mittel zur Erreichung von Gerechtigkeit und Glück.“<br />

o genetische (entstehungsgeschichtliche) Rechtfertigungslehren:<br />

„Staat existiert, weil die Menschen (irgendwann einmal) seiner Entstehung<br />

zugestimmt haben.“<br />

o absolute Rechtfertigungslehren: Staat rechtfertigt sich aus sich<br />

selbst heraus, weil er Macht ausüben kann<br />

• beachte: die verschiedenen Kategorien lassen sich nicht immer randscarf<br />

voneinander abgrenzen; bzgl. erfolgt lediglich<br />

b) Vertreter der funktionalen Rechtfertigungslehre<br />

• Marsilius von Padua (1275 – 1342), „Der Verteidiger des Friedens“ (Defensor<br />

Pacis): Friedensbewahrung als wesentlicher Zweck des Staates


• Thomas Hobbes (1588 – 1679), „Leviathan“: Schutz des Menschen vor<br />

sich selber<br />

• John Locke (1632 – 1704): Schutz des Lebens und Sicherung des Eigentums<br />

durch Überwindung des Urzustandes<br />

• Samuel Pufendorf (1632 – 1694), „Über die Pflicht des Menschen und des<br />

Bürgers nach dem Gesetz der Natur“: „Dabei genügt nicht die Feststellung,<br />

dass es den Menschen von Natur aus zu einer staatlichen Gemeinschaft<br />

hinzieht, dass er ohne sie nicht leben kann und nicht leben will. Da<br />

der Mensch vielmehr ganz offensichtlich ein Lebewesen ist, das sich<br />

selbst am meisten liebt und auf seinen Vorteil bedacht ist, ist es notwendig<br />

so, dass er irgendeinen Vorteil für sich im Auge hat, wenn er<br />

sich freiwillig für das Leben in der Gemeinschaft des Staates entscheidet.<br />

Zwar wäre die Lage des Menschen außerhalb einer Gemeinschaft<br />

mit seinesgleichen höchst elend gewesen, doch die natürlichen<br />

Wünsche und Bedürfnisse des Menschen hätten auch in den ursprünglichen<br />

Gesellschaften durch Erfüllung der allgemeinen mitmenschlichen<br />

oder der durch Vertrag übernommenen Pflichten vollauf befriedigt werden<br />

können. Daher kann nicht unmittelbar aus der nach Gesellschaft verlangenden<br />

Natur des Menschen geschlossen werden, dass sein Wesen<br />

zwingend zur Bildung von Staaten führt.<br />

[...] Deutlicher wird der Grund für die Schaffung von Staaten, wenn<br />

wir uns vor Augen halten, dass andere Mittel nicht zu Gebote gestanden<br />

hätten, um die Schlechtigkeit des Menschen im Zaume zu halten.<br />

Denn das Naturgesetz schreibt zwar vor, dass sich die Menschen von allem<br />

Unrecht gegenüber anderen fernhalten. Doch diesem Gesetz wird<br />

nicht so viel Beachtung geschenkt, dass gewährleistet ist, dass die Menschen<br />

im Stande der natürlichen Freiheit genügend sicher leben können.<br />

Denn obgleich es Menschen gibt, die so besonnenen Gemütes sind, dass<br />

sie andere auch dann nicht verletzen würden, wenn ihnen deswegen keine<br />

Strafe drohte, und weiter auch andere Menschen, die aus Furcht vor einem<br />

als Folge drohenden Übel ihre Begierden unterdrücken, so gibt es auf der<br />

anderen Seite doch eine große Anzahl von Menschen, die jedes Recht<br />

missachten, wenn eine Aussicht auf Gewinn lockt, und die im Vertrauen<br />

auf die eigene Kraft oder Geschicklichkeit hoffen, sie würden es fertig<br />

bringen, die Geschädigten zurückzuhalten oder ihnen auszuweichen. So<br />

selbstverständlich wie es niemanden, der sein Heil liebt, gibt, der sich<br />

nicht bemühen würde, sich vor solchen Menschen zu schützen, so klar<br />

ist es, dass dieser Schutz nicht besser gewährleistet werden kann als<br />

mit den Mitteln des Staates.“<br />

2


) Vertreter der teleologischen (zweckgerichteten) Rechtfertigungslehre<br />

• Platon (427 – 347 v. Chr.), „Nomoi“: „[...] nicht umsonst stehen die Gesetze<br />

der Kreter bei allen Hellenen in besonderem Ansehen; denn sie sind<br />

gut, da sie diejenigen, welche sich ihrer bedienen, glücklich machen. Verschaffen<br />

sie ihnen doch alle Güter. Die geringeren [Güter] sind diejenigen,<br />

an deren Spitze die Gesundheit steht; das zweite ist Schönheit, das<br />

dritte Kraft zum Laufe (...) , das vierte ein nicht blinder, sondern scharfsichtiger<br />

Reichtum, wenn er der Weisheit nachfolgt. Diese aber steht auch<br />

als das erste an der Spitze der Göttlichen, die Weisheit; das zweite ist die<br />

mit Vernunft verbundene besonnene Haltung der Seele; aus diesen, mit<br />

Tapferkeit vermischt, dürfte wohl die Gerechtigkeit als drittes folgen, als<br />

viertes aber die Tapferkeit. Diese sind insgesamt ihrer Natur nach jenen<br />

vorgeordnet, und auch der Gesetzgeber muss sie dementsprechend<br />

anordnen. Dringend muss er hierauf einschärfen, dass die übrigen<br />

Vorschriften für die Bürger darauf und unter diesem das<br />

Menschliche auf das Göttliche, das Göttliche insgesamt aber auf die<br />

leitende Vernunft sich beziehe.<br />

[Schließlich] hat derjenige, welcher die Gesetze gab [...] über das alles<br />

Wächter [zu] setzen, die einen durch Weisheit, die andern von richtiger<br />

Meinung geleitet, damit [...] dieses bewirke, dass Besonnenheit und Gerechtigkeit,<br />

nicht aber Bereicherungssucht und Ehrbegierde das Maßgebende<br />

sei.“<br />

• Aristoteles (348 – 322 v. Chr.): „Alle Menschen haben also von Natur den<br />

Drang zu einer solchen Gemeinschaft [gemeint ist der Staat], und wer sie<br />

als erster aufgebaut hat, ist ein Schöpfer größter Güter. Wie nämlich der<br />

Mensch, wenn er vollendet ist, das Beste der Lebewesen ist, so ist er<br />

abgetrennt von Gesetz und Recht das schlechteste von allen. Das<br />

schlimmste ist die bewaffnete Ungerechtigkeit. Der Mensch besitzt von<br />

Natur als Waffen die Klugheit und Tüchtigkeit, und gerade sie kann man<br />

am allermeisten in verkehrtem Sinne gebrauchen. Darum ist der Mensch<br />

ohne Tugend das gottloseste und wildeste aller Wesen und in Liebeslust<br />

und Essgier das schlimmste. Die Gerechtigkeit dagegen ist der staatlichen<br />

Gemeinschaft eigen.“<br />

• Augustinus (354 – 430 n. Chr.), „Über den Gottesstaat“ (De civitate dei):<br />

„Was anders sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große<br />

Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anders als kleine<br />

Reiche.“<br />

• Thomas von Aquin (1225 – 1274), „Über die Herrschaft der Fürsten“:<br />

„Nun ist es aber nach allem Anschein das Endziel der zu gemeinsamem<br />

Leben vereinigten Gesellschaft, nach der Tugend zu leben. Denn dazu be-<br />

3


gründen die Menschen eine Gemeinschaft, dass sie nun vereint gut leben,<br />

was jeder im Leben als einzelner nicht erreichen kann. Gut leben aber<br />

heißt leben, wie es die Tugend verlangt. So ist das Leben nach der Tugend<br />

das Endziel menschlicher Gemeinschaft. Ein Zeichen dafür ist es, dass nur<br />

diejenigen Glieder einer in Gemeinschaft verbundenen Gesellschaft sind,<br />

die einander wechselseitig zu dem guten Leben die Hilfe der Gemeinschaft<br />

leisten. Denn wenn sich die Menschen allein des bloßen Lebens<br />

willen zusammenschließen wollten, so wären auch Tiere und Sklaven ein<br />

Teil der staatlichen Gemeinschaft. Wenn sie sich wieder nur, um Reichtümer<br />

zu erwerben, vereinigen würden, so müssten alle, die in gleicher<br />

Weise am wirtschaftlichen Verkehr interessiert sind, zu einem Staate gehören,<br />

denn wir sehen es ja, dass immer nur die als eine staatliche Gemeinschaft<br />

angesprochen werden, die unter denselben Gesetzen und von<br />

derselben Führung zur guten Lebensführung geleitet werden. Wenn aber<br />

der Mensch durch ein Leben nach der Tugend zu einem höheren Ziel gelenkt<br />

wird, das im Anschauen Gottes beschlossen liegt, wie wir es schon<br />

dargelegt haben, so muss das Ziel der menschlichen Gesellschaft dasselbe<br />

wie das eines einzelnen sein. Nun ist es aber nicht das letzte Endziel einer<br />

in Gemeinschaft verbundenen Gesellschaft, bloß nach der Tugend<br />

zu leben, sondern vielmehr durch dieses tugendvolle Leben in<br />

den Genuss der göttlichen Verheißung zu gelangen. Wenn man nun<br />

durch die Kraft der menschlichen Natur zu diesem Ziel gelangen könnte,<br />

so wäre es notwendigerweise Aufgabe des Königs, die Menschen dahin<br />

zu führen. Denn wir nehmen an, dass als König eben der bezeichnet wird,<br />

dem die höchste Leitung in den menschlichen Dingen anvertraut wird.<br />

Umso höher ist aber eine Regierung, je höher das Ziel ist, auf das sie sich<br />

einstellt.“<br />

• Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831): „Der Staat ist die Wirklichkeit<br />

der sittlichen Idee – der sittliche Geist, als der offenbare, sich<br />

selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was<br />

er weiß und insofern er es weiß, vollführt. Der Staat ist […] das an und<br />

für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter<br />

Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt,<br />

so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren<br />

höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.<br />

Der Staat [...] hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem<br />

er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität,<br />

Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung<br />

als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung<br />

der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere<br />

besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle<br />

und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.<br />

4


Welches nun aber der historische Ursprung des Staates überhaupt oder<br />

vielmehr jedes besonderen Staates, seiner Rechte und Bestimmungen sei<br />

oder gewesen sei, ob er zuerst aus patriarchalischen Verhältnissen, aus<br />

Furcht oder Zutrauen, aus der Korporation usf. hervorgegangen und wie<br />

sich das, worauf sich solche Rechte gründen, im Bewusstsein als göttliches,<br />

positives Recht oder Vertrag, Gewohnheit und so fort gefasst und<br />

befestigt habe, geht die Idee des Staates selbst nicht an [...]“<br />

• Hermann Heller (1891 – 1933), „<strong>Staatslehre</strong>“: „[...] dass sich hinter der<br />

Frage nach dem Staatszweck nicht nur ein bedeutsames, sondern sogar –<br />

richtig gestellt – das für die <strong>Staatslehre</strong> fundamentalste Problem verbirgt.<br />

Denn wenn es auch stimmt, dass zu bewusster Zwecksetzung nur<br />

Menschen im Stande sind, so hat doch der Staat, wie alle menschlichen<br />

Einrichtungen, eine objektiv sinnvolle Funktion, die allerdings mit den<br />

subjektiven Zwecken der ihn bildenden Menschen keineswegs immer<br />

übereinstimmt. [...] Es ist der Wissenschaft [...] verwehrt, [...] die staatliche<br />

Organisation durch ein zweckrationales Handeln, z. B. durch einen<br />

Vertrag der Menschen zu erklären. Wohl aber kann die <strong>Staatslehre</strong>, ja sie<br />

muss sogar, nach dem in der gesellschaftlichen Funktion in der objektiven<br />

gesellschaftlichen Wirkung des Staates zum Ausdruck kommenden Sinn<br />

des Staates fragen. Sicherlich kann der Staat, wie alle menschlich bewirkten<br />

Kulturerscheinungen, auch einer psychologischen Deutung unterworfen<br />

werden. Eine solche fragt nach dem subjektiv gemeinten Zweck, den<br />

sich die Menschen in einem konkreten Fall gesetzt haben oder in einer<br />

Mehrzahl von Fällen durchschnittlich zu setzen pflegen. Von diesen subjektiven<br />

Zwecken führt aber kein Weg zur objektiven Wirkungseinheit<br />

des Staates. Denn mag man um der psychologischen Allgemeinheit willen<br />

den Staatszweck noch so formal und undifferenziert fassen, mag man z.B.<br />

mit Jellinek von einem Zweck „der Erhaltung der individuellen Existenz<br />

und des individuellen Wohlbefindens“ sprechen, so ist ein solcher Zweck<br />

weder [...] ein dem Staat spezifischer, also kein eigentlicher Staatszweck,<br />

noch ist er ein für alle Staatsangehörigen nachweisbarer psychologischer<br />

Tatbestand.<br />

[...] Die Rechtfertigung [des Staates] kann allein eine sittliche sein,<br />

nicht nur dort, wo menschliche Gerechtigkeitsmaßstäbe an den Staat<br />

gelegt werden, sondern auch dort, wo seine Sanktion auf den göttlichen<br />

Willen gegründet wird. Denn erst, wenn innerhalb der Totalität des<br />

Seins auf Grund eines sittlichen Urteils zwischen Recht und Unrecht geschieden<br />

wird, kann von der Rechtfertigung irgendeines Teiles dieser Totalität<br />

die Rede sein. [...] die Rückführung aller Gewalt auf Gott als den<br />

wertüberwindenden Urgrund aller Dinge rechtfertigt alles und eben deshalb<br />

nichts. Solche Argumentation wird immer der boshaften Frage<br />

Rousseaus ausgesetzt sein, ob deshalb, weil, wie alle Gewalt, auch jede<br />

Krankheit von Gott komme, es verboten sein solle, einen Arzt zu rufen?<br />

5


Ohne Scheidung von Recht und Unrecht ist keine Rechtfertigung des<br />

Staates möglich. Vollzogen kann jene Scheidung nur werden auf Grund<br />

eines Rechtsmaßstabes, der als über dem Staat und seinem positiven<br />

Recht stehend angenommen werden muss. Als überpositiver Maß- und<br />

Verteilungswert hat das Recht die Funktion, das gesellschaftliche Leben<br />

richtig zu richten, d. h. allen seinen Gliedern das ihnen im Hinblick auf<br />

ein Ganzes Zukommende an Berechtigungen und Verpflichtungen zuzumessen,<br />

die Glieder in ein richtiges Verhältnis zueinander zu bringen. [...]<br />

Das richtige Recht lässt sich weder dadurch bestimmen, dass man von einem<br />

als allein werthaft behaupteten Glied ausgeht, noch dadurch, dass<br />

man ein überindividuelles Ganzes zum allein wertvollen Ausgangspunkt<br />

nimmt. Das unser Rechtsgewissen verpflichtende Rechtsgesetz ordnet den<br />

Teil in das Ganze und das Ganze durch die Teile.“<br />

c) Vertreter der genetischen (entstehungsgeschichtlichen) Rechtfertigungslehre<br />

(Vertragstheorien)<br />

• Thomas Hobbes (1588 – 1679), „Leviathan“<br />

• John Locke (1632 – 1704), “Two Treatises of Government”<br />

• Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), „Contrat Social“: „Ich unterstelle,<br />

dass die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse,<br />

die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden [...] den Sieg davontragen<br />

über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich in diesem<br />

Zustand zu halten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht<br />

weiterbestehen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen,<br />

wenn es die Art seines Daseins nicht änderte.<br />

Da die Menschen nun keine neuen Kräfte hervorbringen, sondern nur die<br />

vorhandenen vereinen und lenken können, haben sie kein anderes Mittel,<br />

sich zu erhalten, als durch Zusammenschluss eine Summe von<br />

Kräften zu bilden, stärker als jener Widerstand, und diese aus einem<br />

einzigen Antrieb einzusetzen und gemeinsam wirken zu lassen. Diese<br />

Summe von Kräften kann nur durch das Zusammenwirken mehrerer entstehen:<br />

da aber Kraft und Freiheit jedes Menschen die ersten Werkzeuge<br />

für seine Erhaltung sind – wie kann er sie verpfänden, ohne sich zu schaden<br />

und ohne die Pflichten gegen sich selbst zu vernachlässigen?<br />

Diese Schwierigkeit lässt sich, auf meinen Gegenstand angewandt, so<br />

ausdrücken: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen<br />

gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen<br />

Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich<br />

mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie<br />

zuvor.« Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag<br />

darstellt. Die Bestimmungen dieses Vertrages sind durch<br />

6


die Natur des Aktes so vorgegeben, dass die geringste Abänderung sie<br />

null und nichtig machen würde; so dass sie, wiewohl sie vielleicht niemals<br />

förmlich ausgesprochen wurden, allenthalben die gleichen sind, allenthalben<br />

stillschweigend in Kraft und anerkannt; bis dann, wenn der Gesellschaftsvertrag<br />

verletzt wird, jeder wieder in seine ursprünglichen Rechte<br />

eintritt, seine natürliche Freiheit wiedererlangt und dadurch die auf Vertrag<br />

beruhende Freiheit verliert, für die er die seine aufgegeben hatte. Diese<br />

Bestimmungen lassen sich bei richtigem Verständnis sämtlich auf eine<br />

einzige zurückführen, nämlich die völlige Entäußerung jedes Mitglieds<br />

mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes. Denn erstens<br />

ist die Ausgangslage, da jeder sich voll und ganz gibt, für alle die gleiche,<br />

und da sie für alle gleich ist, hat keiner ein Interesse daran, sie für die anderen<br />

beschwerlich zu machen.<br />

Wenn man also beim Gesellschaftsvertrag von allem absieht, was nicht zu<br />

seinem Wesen gehört, wird man finden, dass er sich auf folgendes beschränkt:<br />

Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine<br />

ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir<br />

nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.<br />

Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der<br />

Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft,<br />

die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung<br />

Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches<br />

ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche<br />

Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug<br />

früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der<br />

staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird<br />

[...]<br />

Aus dem Vorhergehenden folgt, dass der Gemeinwille immer auf dem<br />

rechten Weg ist und auf das öffentliche Wohl abzielt: woraus allerdings<br />

nicht folgt, dass die Beschlüsse des Volkes immer gleiche Richtigkeit haben.<br />

Zwar will man immer sein Bestes, aber man sieht es nicht immer.<br />

Verdorben wird das Volk niemals, aber oft wird es irregeführt, und nur<br />

dann scheint es das Schlechte zu wollen. Es gibt oft einen beträchtlichen<br />

Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen; dieser<br />

sieht nur auf das Gemeininteresse, jener auf das Privatinteresse und ist<br />

nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen [...] dass nämlich der<br />

Gesellschaftsvertrag unter den Bürgern eine Gleichheit von der Art<br />

schafft, dass sie sich alle unter den gleichen Bedingungen verpflichten<br />

und sich der gleichen Rechte erfreuen dürfen. [...] Es ist keine Übereinkunft<br />

des Überlegenen mit dem Unterlegenen, sondern eine Übereinkunft<br />

des Körpers mit jedem seiner Glieder: eine rechtmäßige Übereinkunft,<br />

weil sie den Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat, eine billige Übereinkunft,<br />

weil sie allen gemeinsam ist, eine nützliche Übereinkunft, weil sie<br />

kein anderes Ziel haben kann als das allgemeine Wohl, eine dauerhafte<br />

7


Übereinkunft, weil sie die öffentliche Gewalt und die höchste Macht zum<br />

Bürgen hat. Insoweit die Untertanen nur derartigen Übereinkünften unterworfen<br />

sind, gehorchen sie niemandem außer ihrem eigenen Willen [...]<br />

d) Vertreter einer absoluten Rechtfertigungslehre<br />

• Niccolò Macchiavelli (1469 – 1527), „Der Fürst“ (Il principe): „Es ist eine<br />

allgemeine Regel, dass eine Republik oder ein Königreich niemals oder<br />

nur selten von Anfang an gut eingerichtet oder vollkommen neu gestaltet<br />

wird, wenn es nicht durch einen einzigen geschieht, der den Plan angibt<br />

und aus dessen Geist alle Anordnungen hervorgehen. Deshalb muss ein<br />

weiser Gesetzgeber einer Republik, der nicht sich, sondern dem Allgemeinwohl<br />

nicht seinen eigenen Nachkommen, sondern dem gemeinsamen<br />

Vaterland nützen will, nach der unumschränkten Gewalt streben. Kein<br />

vernünftiger Mensch wird ihn wegen einer außerordentlichen Handlung<br />

tadeln, die er zur Gründung eines Reiches oder zur Einrichtung einer Republik<br />

ausführt. Spricht die Tat gegen ihn, so muss der Erfolg ihn entschuldigen,<br />

und ist dieser [Erfolg] gut [...] so wird er ihn immer entschuldigen.“<br />

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