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Alle machen mit. Die meisten wissen's nicht - Berliner Festspiele

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Dass die Räume, in denen spioniert wird, nach Kanther, Zimmermann Lind<br />

Schily benannt sind, verweist auf Obsessionen, die über fröhlichen Voyeurismus<br />

hinausgehen: Überwachung als Systematik und Pflicht. Vom naiv vertikalen<br />

Blick des Turmspähers zum professionell horizontalen der Flächen- Lind<br />

Rasterfahndung ist es vielleicht nur ein Schritt. Lichtenberg fällt einem ein, der<br />

befand: ,,Was die Enthusiasten Beobachtung nennen, ist gemeiniglich über die<br />

Hälfte Urteil."<br />

Rimini Protokoll haben Bernd Ernst, Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel<br />

Wetzel ihre Theater-Aktions-/Kunstgruppe vor allem aus lautmalerischen<br />

Gründen genannt: dreimal I, dreimal O, das klingt gut. <strong>Die</strong> Betreiber sind um die<br />

30 und haben sich als Studenten am Institut für angewandte<br />

Theaterwissenschaft kennen gelernt, der ästhetischen Kaderschmiede der<br />

Nation an der Uni Gießen. Rimini Protokoll ist sozusagen der Dachverband, der<br />

Name, den sie für gemeinsame Arbeiten benutzen. Aber es gibt auch Hygiene<br />

heute (Ernst und Kaegi) und Haug/Wetzel sowie jeweilige Einzeltäter.<br />

Berühmt wurde Rimini durch ein Projekt, das <strong>nicht</strong> stattfand oder zumindest<br />

<strong>nicht</strong> so wie geplant. Für das Festival Theater der Welt wollten sie im Sommer<br />

eine <strong>Berliner</strong> Bundestagsdebatte im alten Bonner Bundestag live<br />

nachsprechen lassen: Das Volk sollte seine Vertreter vertreten, die politische<br />

Rede kopiert und dadurch „vergesellschaftet" werden. Bundestagspräsident<br />

Thierse sah die Würde des Hohen Hauses gefährdet und untersagte die<br />

Nutzung des Bonner Plenarsaals (der sonst durchaus vermietet wird, an<br />

Automobilverbände beispielsweise oder an Karnevalsvereine).<br />

Deshalb fand Deutschland 2 schließlich in der Bonner Schauspielhalle statt,<br />

der natürlich Authentizität und Aura des „verbotenen Bühnenbilds“ fehlten.<br />

Trotzdem war die Aktion am 27. Juni 2002 von neun Uhr morgens bis nach<br />

Mitternacht (so fleißig sind unsere Abgeordneten!) eine politische<br />

Manifestation. Bonner Bürgerinnen traten im Fünfminutentakt ans Rednerpult,<br />

<strong>mit</strong> Infrarot-Kopfhörern versehen, die ihnen den Text soufflierten. den sie<br />

möglichst simultan sprechen sollten. Der Souverän huschte geschraubten<br />

Wortgirlanden hinterher, in seinem Namen geflochten und von ihm nun<br />

zurückerobert. Fürs Publikum war die „Raubkopie der Demokratie“ ein<br />

Lehrstück in verfehlter Rhetorik, die Spiegelung der Spiegelung. Dialektik für<br />

Fortgeschrittene, für die Teilnehmer eine höllische Konzentrationsübung.<br />

Sie ließen die Fremdenworte durch den eigenen Körper fließen. oft genug <strong>mit</strong><br />

inhaltlichem Vorbehalt, aber bei diesem Tempo war es unmöglich,<br />

interpretatorisch einzugreifen. Man hatte zu funktionieren und konnte <strong>nicht</strong> mal<br />

klar<strong>machen</strong>. dass all die Ahs und Stotterer, die grammatikalischen Irrläufer und<br />

freischwebenden Satzenden <strong>nicht</strong> aufs eigene Konto gingen- sondern auf das<br />

der Kopierten. <strong>Die</strong> von den Politikern gefürchtete Kabarettisierung fand <strong>nicht</strong><br />

statt, die Würde blieb gewahrt: Deutschland 2 war eine umfassende Übung in<br />

Demokratie für 200 Bonner Bürger/innen. Und Kunst war es auch noch!

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