Klassenkämpfe in der BRD - Instituts für kritische Theorie (InkriT)

354 Editorial
hat, den wirtschaftspolitischen Informationen der repräsentativen
Presseorgane zu mißtrauen. Die Dokumentation von Klassenkämpfen
wirkt zunächst wie der Bericht aus einem fremden Land,
weil es noch immer Gewohnheit ist, eine Kontinuität sozialer Auseinandersetzungen
nur im Ausland für möglich zu halten. Hier wird
augenfällig, wie wirksam die landesübliche Berichterstattung Realität
verschweigt. Westdeutsche Streiks erscheinen als zwar periodisch
wiederkehrende, gleichwohl jeweils voneinander isolierte, lokal begrenzte
Vorgänge. Der Hinweis auf sogenannte „streikfreudige"
Länder fungiert als Schreckbild im Unternehmerinteresse und Warnung
vor wirtschaftlichem Niedergang. Je härter in Krisenzeiten der
Klassenkampf von oben geführt wird, desto beschwörender fallen
die Formeln vom allgemeinen Nutzen des „sozialen Friedens" aus.
„Wir", so war z. B. jetzt in der Frankfurter Allgemeinen zu lesen,
haben wirtschaftliche Kraft wegen der vergleichsweise „außerordentlich
geringe(n) Zahl von Streiks in der Bundesrepublik". Das
lehre „ein Blick auf Italien, aber auch auf England, wo durch die
ständigen Arbeitsunterbrechungen unermeßlich viel an wirtschaftlicher
Effizienz, an Produktivität, an Vertrauen bei den ausländischen
Kunden verloren geht". Diese Länder seien „offenkundig auf
dem Wege der relativen Verarmung", während sich „die deutschen
Arbeiter nicht mehr als Proletarier, sondern als gleichberechtigte
Bürger empfinden". 6 — Solcher Legendenbildung ist am wirksamsten
zu begegnen durch eine Perspektive, die in den alltäglichen
Aktivitäten zur Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung
das Allgemeine zu fassen sucht: klarer als bisher zeigt der zusammenfassende
Bericht die Vergleichbarkeit der ökonomischen Kämpfe
der westdeutschen Arbeiterklasse mit denen in anderen westeuropäischen
Ländern.
Diese Auffassung läßt sich erhärten, wenn man auf die Analyse
der Jahre 1966 bis 1970 im Argument zurückgreift. 7 Beide Veröffentlichungen
zusammen vermitteln eine konzentrierte Orientierung
über die Aktionen der Arbeiterklasse für den Zeitraum nahezu
eines Jahrzehnts, wobei zugleich theoretische Kontroversen um die
Herausbildung von Beurteilungskriterien deutlich und überprüfbar
werden. — Auf Vergleichsmaßstäbe ist auch nach einer anderen Seite
hin zu verweisen. Gleichzeitig mit diesem Heft erscheint der Argument-Sonderband
„Gewerkschaften im Klassenkampf" mit Untersuchungen
vor allem zur Entwicklung der Gewerkschaftsbewegungen
Englands, Frankreichs und Italiens seit dem Zweiten Weltkrieg. 8
6 Vgl.: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 7.1974, S. 11.
7 Vgl.: Jung, Schuster, Steinhaus: Kampfaktionen der westdeutschen
Arbeiterklasse 1966—1970, in: Das Argument Nr. 62, Berlin/West 1970
(3. Aufl. 1974). — Zum Thema „Die Arbeiterklasse im Spätkapitalismus"
sind bisher außerdem die Hefte 61 und 68 erschienen.
8 Argument-Sonderband AS 2: Gewerkschaften im Klassenkampf. Die
Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in Westeuropa, Berlin/West
1974. Vgl. auch die Darstellung der Streikkämpfe in Großbritannien,