HRRS Ausgabe 10/2013 - hrr-strafrecht.de
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<strong>HRRS</strong><br />
<strong>Ausgabe</strong> <strong>10</strong>/<strong>2013</strong><br />
14. Jahrgang<br />
ISSN 1865-6277<br />
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht<br />
http://www.<strong>hrr</strong>-<strong>strafrecht</strong>.<strong>de</strong><br />
HERAUSGEBER<br />
RA Dr. iur. h.c. Gerhard Strate<br />
Holstenwall 7, 20355 Hamburg<br />
gerhard.strate@strate.net<br />
SCHRIFTLEITUNG<br />
Prof. Dr. iur. Karsten Gae<strong>de</strong><br />
Juniorprofessor für <strong>de</strong>utsches und<br />
europäisches Strafrecht<br />
und Strafverfahrensrecht<br />
Bucerius Law School<br />
Jungiusstraße 6<br />
20355 Hamburg<br />
karsten.gae<strong>de</strong>@strate.net<br />
REDAKTION<br />
RA Wiss. Ass. Dr. Christian Becker;<br />
RiLG Ulf Buermeyer; Prof. Dr. iur.<br />
Karsten Gae<strong>de</strong>; RiLG Dr. Holger<br />
Mann; RA Dr. iur. Stephan<br />
Schlegel.<br />
STÄNDIGE MITARBEITER<br />
Christoph Henckel (Redaktionsassistent);<br />
Prof. Dr. Jochen Bung, M.A.,<br />
Univ. Passau; Ass.-Prof. Dr. Daniela<br />
Demko, LLM, (Univ. Luzern); Wiss.<br />
Ass. Dr. Lutz Eidam, LLM (Bucerius<br />
Law School); Dr. Antje du Bois-<br />
Pedain, MJur (Oxon), (Univ.<br />
Cambridge); Prof. Dr. Diethelm Klesczewski<br />
(Univ. Leipzig); Prof. Dr. Hans<br />
Kudlich (Univ. Erlangen-Nürnberg);<br />
Prof. Dr. Frank Meyer, LLM (Yale),<br />
Univ. Zürich; RA Tilo Mühlbauer<br />
(Dres<strong>de</strong>n); RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus<br />
(Dortmund); RA Dr. Markus Rübenstahl,<br />
mag. iur. (Friedrich Graf von<br />
Westphalen, Köln); Prof. Dr. Frank<br />
Saliger (Bucerius Law School Hamburg);<br />
RA Dr. Hellen Schilling, (Frankfurt<br />
aM); Prof. Dr. Christoph Sowada<br />
(Univ. Greifswald); RA Klaus-Ulrich<br />
Ventzke (Hamburg) und Prof. Dr.<br />
Wolfgang Wohlers (Univ. Zürich)<br />
Publikationen<br />
Prof. Dr. Armin Englän<strong>de</strong>r, Universität Passau – Der Verteidigungswille bei<br />
Notwehr und Notwehrexzess (Anm. zu BGH <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 618) S. 389<br />
Prof. Dr. Petra Wittig, LMU München – Zu <strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
an die Steuerhinterziehung durch Erlangen eines unrichtigen<br />
Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s (Anm. zu BGH <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 317) S. 393<br />
Aka<strong>de</strong>m. Rat a. Z. Dr. Christoph Zehetgruber, Universität Bayreuth – Zur Unvereinbarkeit<br />
von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK S. 397<br />
Dr. Victoria Ibold, München – Beweisqualität von Daten-CDs – Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
an <strong>de</strong>n Nachweis einer Steuerhinterziehung (Anm. zu AG Nürnberg <strong>HRRS</strong><br />
<strong>2013</strong> Nr. 838) S. 406<br />
Dominik Brodowski, LL.M. (UPenn), LMU München – Zur empirischen Herleitung<br />
<strong>de</strong>s Zehn-Augen-Prinzips im Revisionsverfahren S. 409<br />
Wiss. Ass. Dr. Mohamad El-Ghazi/Wiss. Mit. Andreas Merold, Bremen – Der Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
zur rechten Zeit S. 412<br />
Entscheidungen<br />
BVerfG Überprüfung <strong>de</strong>r Unterbringung gemäß § 63 StGB (Fall<br />
Mollath)<br />
BVerfG Effektiver nachträglicher Rechtsschutz nach Akteneinsicht<br />
AG Nürnberg Beweisqualität <strong>de</strong>r Einträge einer Steuer-CD<br />
BGH Ambivalente Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Spontantat für <strong>de</strong>n Tötungsvorsatz<br />
BGH Vollen<strong>de</strong>tes Absetzen bei <strong>de</strong>r Hehlerei<br />
BGH Gesetzlicher Richter und nachträgliche Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Geschäftsverteilungsplanes<br />
BGH Angriffsrichtung bei Rüge <strong>de</strong>r Verletzung <strong>de</strong>s § 257c III 2<br />
StPO<br />
BGH Anwendung <strong>de</strong>s § 376 I AO auf Altfälle<br />
Die <strong>Ausgabe</strong> umfasst <strong>10</strong>9 Entscheidungen.
<strong>HRRS</strong><br />
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche<br />
Rechtsprechung zum Strafrecht<br />
http://www.<strong>hrr</strong>-<strong>strafrecht</strong>.<strong>de</strong><br />
HERAUSGEBER<br />
RA Dr. h.c. Gerhard Strate<br />
Holstenwall 7, 20355 Hamburg<br />
gerhard.strate@strate.net<br />
SCHRIFTLEITUNG<br />
Prof. Dr. iur. Karsten Gae<strong>de</strong><br />
Juniorprofessor für <strong>de</strong>utsches und europäisches Strafrecht<br />
und Strafverfahrensrecht<br />
Bucerius Law School<br />
Jungiusstraße 6<br />
20355 Hamburg<br />
karsten.gae<strong>de</strong>@strate.net<br />
REDAKTION<br />
RA Wiss. Ass. Dr. Christian Becker; RiLG Ulf Buermeyer; Prof. Dr. Karsten<br />
Gae<strong>de</strong>; RiLG Dr. Holger Mann; RA Dr. Stephan Schlegel<br />
Als ständige Mitarbeiter wirken mit:<br />
Christoph Henckel (Redaktionsassistent); Prof. Dr. Jochen Bung, M.A., (Univ.<br />
Passau); Ass.-Prof. Dr. Daniela Demko, LLM, (Univ. Luzern); Dr. Antje du Bois-<br />
Pedain, MJur (Oxon.), (Univ. Cambridge); RA Wiss. Ass. Dr. Lutz Eidam, LLM<br />
(Bucerius Law School); Prof. Dr. Diethelm Klesczewski (Univ. Leipzig); Prof.<br />
Dr. Hans Kudlich (Univ. Erlangen-Nürnberg); Prof. Dr. Frank Meyer, LLM<br />
(Yale), Univ. Zürich; RA Tilo Mühlbauer (Dres<strong>de</strong>n); RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus<br />
(Dortmund); RA Dr. Markus Rübenstahl, mag. iur. (Kanzlei Friedrich Graf von<br />
Westphalen, Köln); Prof. Dr. Frank Saliger (Bucerius Law School Hamburg);<br />
RA Dr. Hellen Schilling (Frankfurt a.M.); Prof. Dr. Christoph Sowada (Univ.<br />
Greifswald); RA Klaus-Ulrich Ventzke (Hamburg) und Prof. Dr. Wolfgang<br />
Wohlers (Univ. Zürich).<br />
ISSN 1865-6277<br />
14. Jahrgang, Oktober <strong>2013</strong>, <strong>Ausgabe</strong> <strong>10</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche<br />
Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />
839. BVerfG 2 BvR 371/12 (2. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. August<br />
<strong>2013</strong> (OLG Bamberg / LG Bayreuth)<br />
Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach<br />
Entlassung aus <strong>de</strong>m Maßregelvollzug; tiefgreifen<strong>de</strong>r<br />
Grundrechtseingriff); Fortdauer <strong>de</strong>r Unterbringung im<br />
psychiatrischen Krankenhaus (Fall „Mollath“; Freiheitsgrundrecht;<br />
Sicherungsbelange <strong>de</strong>r Allgemeinheit;<br />
Abwägung im Einzelfall; Tatsachengrundlage; bestmögliche<br />
Sachaufklärung; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte);<br />
Gefährlichkeitsprognose (erhebliche Gefahr<br />
künftiger rechtswidriger Taten; Sachverständigengutachten;<br />
eigene gerichtliche Prognoseentscheidung; Beziehungstaten;<br />
Erörterung entlasten<strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong>);<br />
Grundsatz <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit (mil<strong>de</strong>res Mittel;<br />
Führungsaufsicht; Auflagen und Weisungen).<br />
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB;<br />
§ 67d StGB<br />
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche)<br />
Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer<br />
einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus<br />
entfällt angesichts <strong>de</strong>s tiefgreifen<strong>de</strong>n Grundrechtseingriffs<br />
nicht <strong>de</strong>shalb, weil <strong>de</strong>r Betroffene zwischenzeitlich<br />
aus <strong>de</strong>m Maßregelvollzug entlassen wor<strong>de</strong>n ist.<br />
2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit<br />
<strong>de</strong>r Person, die unter <strong>de</strong>n Grundrechten einen hohen<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
377
Rechtsprechung<br />
Rang einnimmt, darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes<br />
und nur unter Beachtung <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Verfahrensgarantien<br />
nach Art. <strong>10</strong>4 Abs. 2 bis Abs. 4 GG eingeschränkt<br />
wer<strong>de</strong>n. Eine Einschränkung kommt außer<strong>de</strong>m<br />
nur aus beson<strong>de</strong>rs gewichtigen Grün<strong>de</strong>n in Betracht, zu<br />
<strong>de</strong>nen in erster Linie solche <strong>de</strong>s Strafrechts und <strong>de</strong>s<br />
Strafverfahrensrechts – einschließlich <strong>de</strong>r Unterbringung<br />
eines nicht o<strong>de</strong>r erheblich vermin<strong>de</strong>rt schuldfähigen<br />
Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.<br />
3. Aus <strong>de</strong>r freiheitssichern<strong>de</strong>n Funktion <strong>de</strong>s Art. 2 Abs. 2<br />
GG folgt, dass Entscheidungen, die <strong>de</strong>n Entzug <strong>de</strong>r persönlichen<br />
Freiheit betreffen, auf einer zureichen<strong>de</strong>n richterlichen<br />
Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher<br />
Hinsicht genügen<strong>de</strong> Grundlage haben müssen, die<br />
<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Freiheitsgarantie entspricht.<br />
4. Bei <strong>de</strong>r Prognose über die Gefährlichkeit eines in einem<br />
psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten ist<br />
das Gericht im Rahmen <strong>de</strong>s Gebots <strong>de</strong>r „bestmöglichen<br />
Sachaufklärung“ in <strong>de</strong>r Regel verpflichtet, einen erfahrenen<br />
Sachverständigen hinzuzuziehen. Dessen Aussagen<br />
hat es selbständig zu beurteilen hat, und es darf ihm die<br />
Prognoseentscheidung nicht überlassen.<br />
5. Bei Prüfung <strong>de</strong>r Aussetzungsreife einer <strong>de</strong>r Maßregel<br />
ist <strong>de</strong>m Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung<br />
zu tragen, dass die Sicherungsbelange <strong>de</strong>r Allgemeinheit<br />
und <strong>de</strong>r Freiheitsanspruch <strong>de</strong>s Betroffenen<br />
einan<strong>de</strong>r als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt<br />
und einzelfallbezogen gegeneinan<strong>de</strong>r abgewogen wer<strong>de</strong>n.<br />
Dabei ist die von <strong>de</strong>m Täter ausgehen<strong>de</strong> Gefahr zur<br />
Schwere <strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>r Maßregel verbun<strong>de</strong>nen Eingriffs ins<br />
Verhältnis zu setzen.<br />
6. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und<br />
welche rechtswidrigen Taten künftig von <strong>de</strong>m Untergebrachten<br />
zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr<br />
hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz ist und wie<br />
schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad <strong>de</strong>r<br />
Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist<br />
zu bestimmen. Ausreichend sind nur erhebliche rechtswidrige<br />
Taten.<br />
7. Im Rahmen <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch<br />
zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch mil<strong>de</strong>re<br />
Maßnahmen wie insbeson<strong>de</strong>re durch geeignete Auflagen<br />
im Rahmen <strong>de</strong>r Führungsaufsicht begegnet wer<strong>de</strong>n kann.<br />
8. Je länger <strong>de</strong>r Freiheitsentzug andauert, <strong>de</strong>sto strenger<br />
wer<strong>de</strong>n die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit<br />
sowie die verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen an die<br />
Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung.<br />
Zugleich wächst mit <strong>de</strong>m stärker wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Freiheitseingriff<br />
die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.<br />
9. Die von einem Untergebrachten ausgehen<strong>de</strong> Gefahr ist<br />
nicht in hinreichen<strong>de</strong>m Maße konkretisiert, wenn sich<br />
das Gericht ohne eigenständige Prognoseentscheidung<br />
lediglich darauf beruft, <strong>de</strong>r Sachverständige sei in <strong>de</strong>r<br />
Anhörung von einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit für<br />
<strong>de</strong>n Anlasstaten vergleichbare Taten ausgegangen, ohne<br />
sich damit auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, dass <strong>de</strong>rselbe Sachverständige<br />
in seinem vorbereiten<strong>de</strong>n Gutachten die Gefahr<br />
künftiger Taten nicht sicher quantifizieren konnte.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Straf- und Strafverfahrensrechtliche Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />
<strong>10</strong>. An einer hinreichen<strong>de</strong>n Konkretisierung <strong>de</strong>r Gefahr<br />
fehlt es auch dann, wenn sich das Gericht zur Begründung<br />
einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit für <strong>de</strong>n Anlasstaten<br />
vergleichbare Taten lediglich auf eine nicht<br />
näher begrün<strong>de</strong>te Stellungnahme <strong>de</strong>r Unterbringungseinrichtung<br />
und auf ein schriftliches Sachverständigengutachten<br />
beruft, aus <strong>de</strong>m sich eine solche Wahrscheinlichkeit<br />
gera<strong>de</strong> nicht ergibt.<br />
11. Eine Gefährlichkeitsprognose genügt auch dann nicht<br />
<strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen, wenn <strong>de</strong>n<br />
Untergebrachten entlasten<strong>de</strong> Umstän<strong>de</strong> keine Berücksichtigung<br />
fin<strong>de</strong>n und etwa unerwähnt bleibt, dass <strong>de</strong>r<br />
Untergebrachte sich zwischenzeitlich <strong>de</strong>utlich angepasster<br />
und unauffälliger verhält, dass er sich von Rachegedanken<br />
distanziert und dass Lockerungen ohne je<strong>de</strong> Beanstandung<br />
verlaufen sind.<br />
12. Ist die Unterbringung eines Betroffenen aus Anlass<br />
zehn Jahre zurückliegen<strong>de</strong>r Körperverletzungen zu Lasten<br />
seiner zwischenzeitlich von ihm geschie<strong>de</strong>nen Ehefrau<br />
angeordnet wor<strong>de</strong>n, so genügt eine Fortdauerentscheidung<br />
<strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
nicht, wenn das Gericht ohne Erörterung <strong>de</strong>r bereits vor<br />
vielen Jahren vollzogenen Trennung von einer fortbestehen<strong>de</strong>n<br />
Gefahr vergleichbarer Delikte zu Lasten <strong>de</strong>r<br />
früheren Ehefrau o<strong>de</strong>r Dritter ausgeht.<br />
840. BVerfG 2 BvR 533/13 (2. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Augsburg / AG Augsburg)<br />
Durchsuchungsbeschluss (mündliche Durchsuchungsanordnung;<br />
richterliche Bestätigung; Wi<strong>de</strong>rspruch);<br />
Beschränkung <strong>de</strong>r Akteneinsicht („in camera“-<br />
Verfahren; Geheimhaltungsinteresse); strafprozessuales<br />
Beschwer<strong>de</strong>verfahren (rechtliches Gehör; Rechtsstaatsgedanke;<br />
funktionaler Zusammenhang; Zurückstellung<br />
<strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>entscheidung).<br />
Art. <strong>10</strong>3 Abs. 1 GG; § 33 Abs. 4 StPO; § 33a StPO; § 94<br />
StPO; § 98 Abs. 2 StPO; § <strong>10</strong>2 StPO; § <strong>10</strong>5 StPO; § 147<br />
Abs. 2 StPO<br />
1. Das Recht auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen<br />
Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Rechtsschutzgarantie<br />
und gewährleistet <strong>de</strong>n Verfahrensbeteiligten ein Recht<br />
auf Information, Äußerung und Berücksichtigung ihres<br />
Vorbringens. So stellt es sicher, dass die Beteiligten ihr<br />
Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch<br />
gestalten können.<br />
2. Wer<strong>de</strong>n im strafprozessualen Ermittlungsverfahren<br />
Eingriffsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung <strong>de</strong>s Betroffenen<br />
gerichtlich angeordnet, ist das rechtliche Gehör<br />
spätestens im Beschwer<strong>de</strong>verfahren nachträglich zu gewähren.<br />
Denn eine <strong>de</strong>n Beschuldigten belasten<strong>de</strong> gerichtliche<br />
Entscheidung darf je<strong>de</strong>nfalls im Beschwer<strong>de</strong>verfahren<br />
nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt wer<strong>de</strong>n,<br />
die <strong>de</strong>m Beschuldigten durch Akteneinsicht <strong>de</strong>r Verteidigung<br />
bekannt sind. „In camera“-Verfahren sind insoweit<br />
nicht mit Art. <strong>10</strong>3 Abs. 1 GG vereinbar.<br />
3. Daneben gebietet es auch <strong>de</strong>r Rechtsstaatsgedanke,<br />
dass <strong>de</strong>r von einer strafprozessualen Eingriffsmaßnahme<br />
betroffene Beschuldigte zumin<strong>de</strong>st nachträglich, aber<br />
noch vor <strong>de</strong>r abschließen<strong>de</strong>n gerichtlichen Entscheidung<br />
378
Rechtsprechung<br />
über die Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>s Eingriffs, Gelegenheit erhält,<br />
sich in Kenntnis aller Entscheidungsgrundlagen<br />
gegen <strong>de</strong>n Eingriff zu verteidigen. Dies gilt auch insoweit,<br />
als nach § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO die Akteneinsicht<br />
verweigert o<strong>de</strong>r beschränkt wer<strong>de</strong>n kann, wenn an<strong>de</strong>rnfalls<br />
<strong>de</strong>r Untersuchungszweck gefähr<strong>de</strong>t wür<strong>de</strong>.<br />
4. Besteht ein öffentliches Interesse daran, <strong>de</strong>n (vollständigen)<br />
Akteninhalt vorerst geheim zu halten und im<br />
Verborgenen weiter zu ermitteln, so kann <strong>de</strong>m im Verfahren<br />
über die nachträgliche Überprüfung <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit<br />
eines bereits erledigten strafprozessualen Eingriffs –<br />
wie etwa einer bereits durchgeführten Durchsuchung –<br />
ohne Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Beschleunigungsgrundsatz<br />
dadurch Rechnung getragen<br />
wer<strong>de</strong>n, dass das Gericht seine Entscheidung solange<br />
zurückstellt, bis die zunächst verwehrte Akteneinsicht<br />
gewährt wur<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Beschuldigte sich umfassend<br />
äußern konnte.<br />
5. Das Beschwer<strong>de</strong>gericht verkennt die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
funktionalen Zusammenhangs <strong>de</strong>s Art. <strong>10</strong>3 Abs. 1 GG<br />
mit <strong>de</strong>r Rechtsschutzgarantie, wenn es die Rechtmäßigkeit<br />
einer bei <strong>de</strong>m Beschuldigten durchgeführten Durchsuchung<br />
bestätigt, obwohl <strong>de</strong>m Beschuldigten eine umfassen<strong>de</strong><br />
Akteneinsicht bislang nach § 147 Abs. 2 StPO<br />
verwehrt wird und dieser daher keine Gelegenheit hatte,<br />
Einsicht in eine bei <strong>de</strong>n Akten befindliche, für die Entscheidung<br />
maßgebliche Stellungnahme <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft<br />
zu nehmen und sich hierzu zu äußern.<br />
842. BVerfG 2 BvR 1582/13 (3. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 25. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Stendal)<br />
Strafvollzug (Resozialisierung; Lockerungen; Beschleunigungsgrundsatz;<br />
Verpflichtung zur Neubescheidung);<br />
Subsidiarität <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> (Antrag auf<br />
Vollstreckungsmaßnahmen zur Durchsetzung einer gerichtlich<br />
ausgesprochenen Verpflichtung).<br />
§ 90 Abs. 2 BVerfGG; § 120 Abs. 1 StVollzG; § 172<br />
VwGO<br />
1. Die Vollzugsbehör<strong>de</strong>n sind verpflichtet, Anträge von<br />
Strafgefangenen – insbeson<strong>de</strong>re solche, die die Gewährung<br />
von Lockerungen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re für die Resozialisierung<br />
be<strong>de</strong>utsame Aspekte betreffen – zeitnah zu beschei<strong>de</strong>n.<br />
Dies gilt namentlich dann, wenn eine getroffene<br />
Straf- und Strafverfahrensrechtliche Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />
Entscheidung bereits gerichtlich beanstan<strong>de</strong>t und die<br />
Justizvollzugsanstalt zu einer Neubescheidung verpflichtet<br />
wor<strong>de</strong>n ist.<br />
2. Gegen die zögerliche Umsetzung eines Gerichtsbeschlusses,<br />
<strong>de</strong>r die Justizvollzugsanstalt zur Neubescheidung<br />
verpflichtet, kann <strong>de</strong>r Gefangene Antrag auf Vollstreckungsmaßnahmen<br />
zur Durchsetzung <strong>de</strong>r Verpflichtung<br />
stellen. Diesen Weg muss er vor <strong>de</strong>r Erhebung einer<br />
Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> beschreiten, um <strong>de</strong>m Grundsatz<br />
<strong>de</strong>r Subsidiarität <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> zu genügen.<br />
841. BVerfG 2 BvR 1412/13 (3. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Braunschweig)<br />
Strafvollzug (Vollzugsplan; effektiver Rechtsschutz;<br />
Rechtsschutzbedürfnis; Statthaftigkeit <strong>de</strong>r Rechtsbeschwer<strong>de</strong>;<br />
Rechtswegerschöpfung vor Erhebung <strong>de</strong>r<br />
Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>; Rechtsmittelbelehrung;<br />
Rechtsbeschwer<strong>de</strong>frist; Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorigen<br />
Stand).<br />
Art. 19 Abs. 4 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § <strong>10</strong>9<br />
StVollzG; § 116 StVollzG; § 120 Abs. 1 StVollzG; § 44<br />
StPO<br />
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für <strong>de</strong>n Antrag eines Strafgefangenen<br />
auf gerichtliche Entscheidung gegen einen<br />
Vollzugsplan entfällt nicht automatisch mit <strong>de</strong>r Erstellung<br />
eines neuen Vollzugsplanes.<br />
2. Die gerichtliche Mitteilung an einen Strafgefangenen,<br />
über seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen<br />
einen Vollzugsplan wer<strong>de</strong> mangels Rechtsschutzbedürfnisses<br />
nicht entschie<strong>de</strong>n, weil zwischenzeitlich ein neuer<br />
Vollzugsplan erstellt sei, kann <strong>de</strong>r Gefangene mit <strong>de</strong>r<br />
Rechtsbeschwer<strong>de</strong> angreifen. Diesen Weg muss <strong>de</strong>r Gefangene<br />
vor Erhebung einer Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> zur<br />
Erschöpfung <strong>de</strong>s Rechtsweges beschreiten.<br />
3. Enthält die gerichtliche Mitteilung, dass über einen<br />
Antrag auf gerichtliche Entscheidung mangels Rechtsschutzbedürfnisses<br />
nicht entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>, keine<br />
Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich <strong>de</strong>r insoweit statthaften<br />
Rechtsbeschwer<strong>de</strong>, ist die Versäumung <strong>de</strong>r Rechtsbeschwer<strong>de</strong>frist<br />
als unverschul<strong>de</strong>t anzusehen, so dass <strong>de</strong>m<br />
Betroffenen Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorigen Stand zu<br />
gewähren ist.<br />
Rechtsprechung<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH<br />
I. Materielles Strafrecht – Allgemeiner Teil<br />
935. BGH 2 StR 139/13 - Urteil vom 17. Juli<br />
<strong>2013</strong> (LG Koblenz)<br />
Totschlag (Tötungsvorsatz); schwere Körperverletzung<br />
(Vorliegen einer erheblichen Entstellung); Beweiswür-<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
379
Rechtsprechung<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: I. Materielles Strafrecht – Allgemeiner Teil<br />
digung (Umgang mit ambivalenten Beweiszeichen; revisionsrechtliche<br />
Kontrolle).<br />
§ 212 Abs. 1 StGB; § 226 Abs. 1 StGB; § 261 StPO<br />
1. Zwar ist anerkannt, dass insbeson<strong>de</strong>re bei spontanen,<br />
unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen<br />
aus <strong>de</strong>m Wissen um <strong>de</strong>n möglichen Eintritt <strong>de</strong>s<br />
To<strong>de</strong>s nicht ohne Berücksichtigung <strong>de</strong>r sich aus <strong>de</strong>r Tat<br />
und <strong>de</strong>r Persönlichkeit <strong>de</strong>s Täters ergeben<strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten<br />
darauf geschlossen wer<strong>de</strong>n kann, dass das – selbständig<br />
neben <strong>de</strong>m Wissenselement stehen<strong>de</strong> – voluntative<br />
Vorsatzelement gegeben ist (vgl. BGH NStZ 2011,<br />
338 mwN). Bei einem spontanen Han<strong>de</strong>ln in affektiver<br />
Erregung han<strong>de</strong>lt es sich aber um ein ambivalentes Beweisanzeichen,<br />
das, je nach<strong>de</strong>m, wie das Tatgericht es im<br />
Einzelfall bewertet, rechtlich zulässige Schlüsse sowohl<br />
zu Gunsten als auch zu Lasten <strong>de</strong>s Angeklagten ermöglichen<br />
kann (vgl. BGH NStZ 2009, 629, 630).<br />
2. Eine rechtlich vertretbare tatrichterliche Entscheidung<br />
darüber, in welchem <strong>de</strong>r möglichen, zueinan<strong>de</strong>r in einem<br />
Gegensatz stehen<strong>de</strong>n Beweiszusammenhänge ein solcher<br />
Umstand im konkreten Fall indizielle Be<strong>de</strong>utung entfaltet,<br />
ist vom Revisionsgericht hinzunehmen. Der Tatrichter<br />
ist in<strong>de</strong>s nicht davon befreit, basierend auf konkreten<br />
Feststellungen zu <strong>de</strong>n objektiven und subjektiven Umstän<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>r Tat erkennen zu lassen, warum er einem<br />
ambivalenten Beweiszeichen überhaupt eine indizielle<br />
Be<strong>de</strong>utung in eine Richtung zumisst.<br />
3. Erheblich im Sinne <strong>de</strong>s § 226 Abs. 1 Nr. 3 ist eine<br />
Entstellung zwar nur dann, wenn sie zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>m<br />
Gewicht <strong>de</strong>r geringsten Fälle nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 und<br />
Nr. 2 StGB gleichkommt. Dies kann jedoch im Einzelfall<br />
bei beson<strong>de</strong>rs großen o<strong>de</strong>r markanten Narben <strong>de</strong>r Fall<br />
sein; insbeson<strong>de</strong>re aber auch bei verunstalten<strong>de</strong>n Narben<br />
im Gesicht eines Opfers (vgl. BGH NJW 1967, 297).<br />
939. BGH 2 StR 180/13 - Beschluss vom 13.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Frankfurt am Main)<br />
Versuchter Totschlag (Tötungsvorsatz: Beweiswürdigung<br />
bei Eventualvorsatz; Verhältnis zum mitverwirklichten<br />
[versuchten] Körperverletzungs<strong>de</strong>likt und zur<br />
schweren Körperverletzung).<br />
§ 212 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 223 Abs. 1<br />
StGB; § 226 Abs. 1 StGB; § 52 StGB; § 261 StPO<br />
1. Bedingt vorsätzliches Han<strong>de</strong>ln setzt voraus, dass <strong>de</strong>r<br />
Täter <strong>de</strong>n Eintritt <strong>de</strong>s tatbestandlichen Erfolgs als möglich<br />
und nicht ganz fernliegend erkennt und ihn billigt<br />
o<strong>de</strong>r sich um <strong>de</strong>s erstrebten Ziels willen mit ihm abfin<strong>de</strong>t.<br />
Da die Schuldformen <strong>de</strong>s bedingten Vorsatzes und<br />
<strong>de</strong>r bewussten Fahrlässigkeit im Grenzbereich eng beieinan<strong>de</strong>r<br />
liegen, müssen vor <strong>de</strong>r Annahme bedingten Vorsatzes<br />
bei<strong>de</strong> Elemente <strong>de</strong>r inneren Tatseite, also sowohl<br />
das Willens- als auch das Wissenselement, umfassend<br />
geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen<br />
belegt wer<strong>de</strong>n. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau<br />
aller objektiven und subjektiven Tatumstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Einzelfalls, in die die objektive Gefährlichkeit <strong>de</strong>r Gewalthandlung,<br />
aber auch die konkrete Angriffsweise <strong>de</strong>s<br />
Täters, seine psychische Verfassung bei <strong>de</strong>r Tatbegehung<br />
und seine Motive mit einzubeziehen sind (st. Rspr).<br />
2. Zwischen einem vollen<strong>de</strong>ten vorsätzlichen Tötungs<strong>de</strong>likt<br />
und einem vollen<strong>de</strong>ten vorsätzlichen Körperverletzungs<strong>de</strong>likt<br />
liegt keine Tateinheit vor, son<strong>de</strong>rn das Körperverletzungs<strong>de</strong>likt<br />
tritt – soweit tatbestandlich überhaupt<br />
anwendbar– als subsidiär zurück (st. Rspr.). Nichts<br />
an<strong>de</strong>res kann gelten, wenn sowohl das Tötungs<strong>de</strong>likt als<br />
auch das Körperverletzungs<strong>de</strong>likt im Versuchsstadium<br />
steckengeblieben sind. Ein eine an<strong>de</strong>re Beurteilung rechtfertigen<strong>de</strong>r<br />
selbständiger Unwertgehalt <strong>de</strong>r Körperverletzung<br />
liegt in Fällen, in <strong>de</strong>nen nach <strong>de</strong>n Feststellungen bei<br />
einer einheitlichen Verletzungshandlung alle Verletzungsfolgen<br />
– und damit auch solche im Sinne <strong>de</strong>s § 226<br />
Abs. 1 StGB – bis hin zum To<strong>de</strong> gleichermaßen billigend<br />
in Kauf genommen wer<strong>de</strong>n, nicht vor.<br />
931. BGH 1 StR 332/13 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong> (LG München II)<br />
Schwerer Ban<strong>de</strong>ndiebstahl (Einbruchsdiebstahl: Tateinheit<br />
mit Sachbeschädigung; Konsumtion).<br />
§ 244a Abs. 1 StGB; § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB;<br />
§ 303 Abs. 1 StGB<br />
1. Der schwere Ban<strong>de</strong>ndiebstahl und Sachbeschädigung<br />
stehen im Verhältnis <strong>de</strong>r Tateinheit zueinan<strong>de</strong>r. Gesetzeseinheit<br />
zwischen § 244a StGB und zwischen § 303<br />
StGB käme nur dann in Betracht, wenn wegen <strong>de</strong>r in<br />
§ 244a StGB als Tatbestandsmerkmal verlangten Voraussetzungen<br />
<strong>de</strong>r unrechtssteigern<strong>de</strong>n Merkmale aus § 243<br />
Abs. 1 Satz 2 StGB kein eigener, nicht bereits über <strong>de</strong>n<br />
schweren Ban<strong>de</strong>ndiebstahl erfasster Unrechtsgehalt <strong>de</strong>r<br />
Sachbeschädigung mehr vorhan<strong>de</strong>n wäre. Dies ist jedoch<br />
nicht <strong>de</strong>r Fall.<br />
2. Die gegen Gesetzeseinheit von Diebstahl in einem<br />
beson<strong>de</strong>rs schweren Fall und Sachbeschädigung bei Zurücktreten<br />
letzterer sprechen<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong> gelten unabhängig<br />
davon, ob die unrechtssteigern<strong>de</strong>n Merkmale<br />
gesetzestechnisch als Regelbeispiele wie in § 243 Abs. 1<br />
Satz 2 StGB o<strong>de</strong>r als Tatbestandsmerkmale wie in § 244a<br />
Abs. 1 StGB ausgestaltet sind.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
380
Rechtsprechung<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: II. Materielles Strafrecht – Beson<strong>de</strong>rer Teil<br />
Rechtsprechung<br />
II. Materielles Strafrecht – Beson<strong>de</strong>rer Teil<br />
872. BGH 2 ARs 299/13 - Beschluss vom 15.<br />
August <strong>2013</strong> (BGH)<br />
Hehlerei (Absetzen; einem Dritten Verschaffen).<br />
§ 259 StGB<br />
1. Der Senat tritt <strong>de</strong>r Ansicht <strong>de</strong>s anfragen<strong>de</strong>n 3. Strafsenats<br />
bei (vgl. schon Senat, NJW 1976, 1698, 1699). Für<br />
das vollen<strong>de</strong> Absetzen einer Sache ist ein Absatzerfolg<br />
erfor<strong>de</strong>rlich.<br />
2. Soweit die Abgrenzung zwischen einer als Erfolgs<strong>de</strong>likt<br />
verstan<strong>de</strong>nen Tatvariante <strong>de</strong>s Absetzens und <strong>de</strong>r<br />
Tatvariante <strong>de</strong>s Einem-Dritten-Verschaffens inmitten<br />
steht, wird es Aufgabe <strong>de</strong>r Rechtsprechung sein, klare<br />
Abgrenzungskriterien zu entwickeln. Es liegt nahe, die<br />
bei<strong>de</strong>n Varianten danach zu differenzieren, in wessen<br />
„Lager“ <strong>de</strong>r Täter objektiv und subjektiv steht.<br />
921. BGH 5 ARs 34/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (BGH)<br />
Erfor<strong>de</strong>rnis eines Absatzerfolges bei <strong>de</strong>r Hehlerei (Aufgabe<br />
<strong>de</strong>r bisherigen Rechtsprechung; Zustimmung zur<br />
Anfrage <strong>de</strong>s 3. Strafsenats).<br />
§ 259 StGB<br />
Eine Verurteilung wegen vollen<strong>de</strong>ter Hehlerei durch<br />
Absetzen setzt die Feststellung eines Absatzerfolges<br />
voraus (hier: Zustimmung <strong>de</strong>s 5. Strafsenats).<br />
889. BGH 3 StR 192/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Neubran<strong>de</strong>nburg)<br />
Räuberische Erpressung (keine qualifizierte Nötigung<br />
durch die Drohung, <strong>de</strong>n Hund <strong>de</strong>s Opfers zu erschießen);<br />
Voraussetzungen <strong>de</strong>r Mittäterschaft und Abgrenzung<br />
zur Beihilfe.<br />
§ 253 StGB; § 255 StGB; § 25 Abs. 2 StGB<br />
Droht <strong>de</strong>r Täter gegenüber einem potentiellen Nötigungs-/Erpressungsopfer<br />
mit <strong>de</strong>r Anwendung von Gewalt<br />
gegen nichtmenschliche Objekte (hier: mit <strong>de</strong>r Tötung<br />
<strong>de</strong>s Hun<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s Drohungsadressaten), liegt unabhängig<br />
von <strong>de</strong>r Intensität <strong>de</strong>r willensbeugen<strong>de</strong>n Wirkung<br />
keine qualifizierte Drohung mit einer Gefahr für Leib<br />
o<strong>de</strong>r Leben i.S.d. §§ 249, 255 StGB vor.<br />
929. BGH 1 StR 86/13 - Urteil vom 11. Juni<br />
<strong>2013</strong> (LG München II)<br />
Mord (Heimtücke: Ausnutzen <strong>de</strong>r Arg- und Wehrlosigkeit;<br />
Tötungsvorsatz); Raub (Zueignungsabsicht);<br />
Rücktritt (Rücktrittsvoraussetzungen bei mehreren Beteiligten:<br />
aktive Rücktrittsbemühungen, vom Zufall<br />
abhängige Rettung).<br />
§ 211 StGB; § 249 Abs. 1 StGB; § 24 Abs. 2 Satz 1<br />
StGB<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
1. Zueignung ist die Anmaßung <strong>de</strong>r Stellung eines Eigentümers<br />
an <strong>de</strong>r aus frem<strong>de</strong>m Gewahrsam genommenen<br />
Sache. Kennzeichnend für diese Eigentumsanmaßung ist<br />
die Inbesitznahme <strong>de</strong>r Sache zu einem Zweck, <strong>de</strong>r mit<br />
<strong>de</strong>r Anerkennung frem<strong>de</strong>n Eigentums nicht zu vereinbaren<br />
ist. Wie <strong>de</strong>r spätere konkrete Umgang mit <strong>de</strong>r Sache<br />
nichts mit <strong>de</strong>m Eigentumserwerb selbst zu tun hat, son<strong>de</strong>rn<br />
nur als Akt <strong>de</strong>r Ausübung <strong>de</strong>s Eigentumsrechts zu<br />
verstehen ist, so darf beim Diebstahl aber die (geplante)<br />
Sachverwendung nicht mit <strong>de</strong>r Zueignung als <strong>de</strong>m angemaßten<br />
Eigentumserwerb gleichgesetzt wer<strong>de</strong>n. We<strong>de</strong>r<br />
das Fortschaffen vom Tatort noch das bloße Verbergen<br />
eines weggenommenen Gegenstan<strong>de</strong>s sind allein geeignete<br />
Kriterien <strong>de</strong>r Abgrenzung, da sie nicht hinreichend<br />
zwischen bloßer Gewahrsams-Lockerung und <strong>de</strong>r Begründung<br />
neuen Gewahrsams unterschei<strong>de</strong>n.<br />
2. Es liegt bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen<br />
nahe, dass <strong>de</strong>r Täter mit <strong>de</strong>r Möglichkeit rechnet, das<br />
Opfer könne zu To<strong>de</strong> kommen und - weil er mit seinem<br />
Han<strong>de</strong>ln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend<br />
in Kauf nimmt (vgl. BGH NStZ 1992, 587, 588).<br />
3. Die Voraussetzungen eines Rücktritts gemäß § 24 Abs.<br />
2 Satz 1 StGB liegen grundsätzlich schon dann nicht vor,<br />
wenn <strong>de</strong>r Angeklagte keine aktiven Rücktrittsbemühungen<br />
gezeigt hat. Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB reicht es<br />
bei mehreren Tatbeteiligten grundsätzlich nicht hin,<br />
wenn einer von diesen einfach nur die weitere Tatausführung<br />
aufgibt. Dies ist unabhängig von <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten zu Rettungsbemühungen Dritter. Ein Ausnahmefall<br />
in <strong>de</strong>m bereits die Untätigkeit eines Angeklagten<br />
o<strong>de</strong>r sein Nichtweiterhan<strong>de</strong>ln die Tatvollendung<br />
verhin<strong>de</strong>rt, liegt nicht vor, wenn es aufgrund <strong>de</strong>r konkreten<br />
Situation am Tatort, gera<strong>de</strong> auch wegen <strong>de</strong>r selbst bei<br />
gezieltem Suchen nur schweren Auffindbarkeit <strong>de</strong>s Opfers<br />
im dunklen und infolge <strong>de</strong>s wegen <strong>de</strong>r zahlreichen<br />
parken<strong>de</strong>n Autos unübersichtlichen Hofbereichs, praktisch<br />
vom Zufall abhing, ob und wann <strong>de</strong>r Geschädigte<br />
gefun<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />
861. BGH 2 StR 150/13 - Beschluss vom 30.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Darmstadt)<br />
Vermögensscha<strong>de</strong>n bei Verlust <strong>de</strong>s illegal erlangten Besitzes<br />
(Erpressung; Betrug; Darlegungsgebot).<br />
§ 253 StGB; § 263 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 265 StPO<br />
1. Dass <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>s illegalen Besitzes an Betäubungsmitteln<br />
ein vom Recht anerkannter Vermögensscha<strong>de</strong>n<br />
ist, ist je<strong>de</strong>nfalls nicht unbestritten und bedarf<br />
<strong>de</strong>shalb in einem dies bejahen<strong>de</strong>n Urteil näherer Darlegung.<br />
2. Wird <strong>de</strong>m Angeklagten in <strong>de</strong>r Anklage eine mittäterschaftlich<br />
begangene Erpressung vorgehalten, muss ihm<br />
381
Rechtsprechung<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: II. Materielles Strafrecht – Beson<strong>de</strong>rer Teil<br />
gemäß § 265 Abs. 1 StPO mitgeteilt wer<strong>de</strong>n, dass ihm<br />
nunmehr <strong>de</strong>r Vorwurf einer Alleintäterschaft gemacht<br />
wird.<br />
946. BGH 4 StR 274/13 - Beschluss vom 27.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Halle)<br />
Schwere Körperverletzung (qualifizierte Begehung mit<br />
dolus directus: Anfor<strong>de</strong>rungen an <strong>de</strong>n Vorsatz); unterlassene<br />
Hilfeleistung (Konkurrenzen gegenüber <strong>de</strong>m<br />
unechten Unterlassungs<strong>de</strong>likt); Ablehnung eines Beweisantrages<br />
wegen Be<strong>de</strong>utungslosigkeit (Begründung).<br />
§ 226 Abs. 2 StGB; § 323c StGB; § 13 StGB; § 244 Abs.<br />
2 Satz 3 StPO; § 354 StPO; § 357 StPO; § 358 StPO<br />
1. Bei § 226 Abs. 2 StGB han<strong>de</strong>lt es sich nicht nur um<br />
eine Strafzumessungsregel, son<strong>de</strong>rn um eine Qualifikation<br />
gegenüber <strong>de</strong>ssen Absatz 1, die durch das „absichtliche“<br />
o<strong>de</strong>r „wissentliche“ Verursachen <strong>de</strong>r schweren Folge<br />
gekennzeichnet ist. Hierfür reicht zwar aus, dass <strong>de</strong>r<br />
Täter die schwere Körperverletzung als sichere Folge<br />
seines Han<strong>de</strong>lns voraussieht (vgl. BGH NJW 2001, 980,<br />
981). Dafür genügt es nicht, dass <strong>de</strong>r Angeklagte wusste<br />
und wollte, dass sein Opfer „erheblich verletzt“ wird.<br />
2. Der Straftatbestand <strong>de</strong>r unterlassenen Hilfeleistung<br />
tritt gegenüber einer Unterlassungstäterschaft bezüglich<br />
<strong>de</strong>s ausschlaggeben<strong>de</strong>n Geschehens lediglich als subsidiär<br />
zurück. Wird er <strong>de</strong>nnoch im Schuldspruch aufgenommen,<br />
liegt darin keine Beschwer <strong>de</strong>s Angeklagten.<br />
3. Bei <strong>de</strong>r Ablehnung <strong>de</strong>s hier nicht lediglich eine Negativtatsache<br />
enthalten<strong>de</strong>n Beweisantrags wegen Be<strong>de</strong>utungslosigkeit<br />
<strong>de</strong>r Beweisbehauptung aus tatsächlichen<br />
Grün<strong>de</strong>n darf die Beweiserheblichkeit einer Indiztatsache<br />
nicht nur mit <strong>de</strong>r Begründung, auch wenn <strong>de</strong>r Zeuge die<br />
Behauptung bestätige, müsse dies nicht richtig sein,<br />
verneint wer<strong>de</strong>n (vgl. BGH StraFo 2008, 29, 30). Zu<strong>de</strong>m<br />
ist das Ergebnis <strong>de</strong>r Prüfung - soweit es nicht für alle<br />
Beteiligten auf <strong>de</strong>r Hand liegt (vgl. BGH NJW 2011,<br />
1299) - mit <strong>de</strong>n hierfür maßgeblichen Erwägungen konkret<br />
darzulegen, um <strong>de</strong>m Antragsteller zu ermöglichen,<br />
sein weiteres Prozessverhalten hierauf einzurichten. Die<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen an die Begründung entsprechen dabei<br />
grundsätzlich <strong>de</strong>n Darlegungserfor<strong>de</strong>rnissen bei <strong>de</strong>r<br />
Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen<br />
Indiztatsachen in <strong>de</strong>n Urteilsgrün<strong>de</strong>n (vgl. BGH NStZ-<br />
RR 2012, 255).<br />
936. BGH 2 StR 163/13 - Beschluss vom 16.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Trier)<br />
Räuberische Erpressung (Rechtswidrigkeit <strong>de</strong>r Bereicherungsabsicht:<br />
Irrtum über das Vorliegen eines Anspruchs<br />
für die Bereicherung).<br />
§ 253 Abs. 1 StGB; § 255 StGB; § 16 Abs. 1 Satz 1<br />
StGB<br />
Bei <strong>de</strong>r Erpressung ist die Rechtswidrigkeit <strong>de</strong>s erstrebten<br />
Vermögensvorteils normatives Tatbestandsmerkmal,<br />
auf das sich <strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st bedingte Vorsatz <strong>de</strong>s Täters<br />
erstrecken muss. Der Täter will sich o<strong>de</strong>r einen Dritten<br />
dann zu Unrecht bereichern, wenn er einen Vermögensvorteil<br />
erstrebt, auf <strong>de</strong>n er o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Dritte keinen rechtlich<br />
begrün<strong>de</strong>ten Anspruch haben (vgl. BGH NStZ 2011,<br />
519 mwN). Stellt sich <strong>de</strong>r Täter für die erstrebte Bereicherung<br />
eine in Wirklichkeit nicht bestehen<strong>de</strong> Anspruchsgrundlage<br />
vor, so han<strong>de</strong>lt er dagegen in einem<br />
Tatbestandsirrtum im Sinne <strong>de</strong>s § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB<br />
(st. Rspr.).<br />
932. BGH 1 StR 457/12 - Urteil vom 5. Juni<br />
<strong>2013</strong> (LG Waldshut-Tiengen)<br />
Heimtücke (Arglosigkeit bei vorherigen To<strong>de</strong>sdrohungen);<br />
min<strong>de</strong>r schwerer Fall <strong>de</strong>s Totschlags (Reizung<br />
zum Zorn bei einem zur Tat Entschlossenen).<br />
§ 211 StGB; § 213 StGB<br />
1. Heimtücke im Sinne <strong>de</strong>s § 211 StGB setzt Arglosigkeit<br />
und dadurch bedingte Wehrlosigkeit <strong>de</strong>s Opfers voraus.<br />
Die Arglosigkeit entfällt, wenn das Opfer mit einem<br />
je<strong>de</strong>nfalls erheblichen körperlichen Angriff rechnet.<br />
Maßgeblich ist <strong>de</strong>r Zeitpunkt, zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Täter <strong>de</strong>n<br />
ersten Angriff mit Tötungsvorsatz führt. Jedoch entfällt<br />
die Arglosigkeit dann nicht, wenn die Spanne zwischen<br />
<strong>de</strong>m Erkennen <strong>de</strong>r Gefahr und <strong>de</strong>m Angriff zu kurz war,<br />
um <strong>de</strong>m Opfer noch zu ermöglichen, <strong>de</strong>m Angriff zu<br />
begegnen<br />
2. Strafmil<strong>de</strong>rung wegen Reizung zum Zorn (§ 213 1.<br />
Alt. StGB) kommt einem ohnehin zur Tat Entschlossenen<br />
nicht zugute. Zur Tat entschlossen ist dabei auch <strong>de</strong>rjenige,<br />
<strong>de</strong>r die Tat nur bei einer von seinem Willen unabhängigen<br />
Situation begehen will (vgl. BGHSt 21, 14).<br />
937. BGH 2 StR 38/13 - Urteil vom 31. Juli<br />
<strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Gefährliche Körperverletzung (lebensgefährliche Behandlung:<br />
abstrakte Lebensgefahr unter <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>s Einzelfalls); Bemessung <strong>de</strong>r Jugendstrafe (Einbeziehung<br />
an<strong>de</strong>rer Strafzwecke neben <strong>de</strong>m Erziehungsgedanken).<br />
§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 18 Abs. 2 JGG<br />
1. Für eine Bewertung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB<br />
erfor<strong>de</strong>rlich, aber auch ausreichend ist, dass die Art <strong>de</strong>r<br />
Behandlung durch <strong>de</strong>n Täter nach <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Einzelfalls generell dazu geeignet ist, das Leben <strong>de</strong>s Opfers<br />
zu gefähr<strong>de</strong>n. Tritte o<strong>de</strong>r heftige Schläge gegen <strong>de</strong>n<br />
Kopf <strong>de</strong>s Opfers können eine das Leben gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Behandlung darstellen. Dabei ist aber die konkrete<br />
Schädlichkeit <strong>de</strong>r Einwirkung auf <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s jeweiligen<br />
Verletzten im Einzelfall zu berücksichtigen.<br />
2. Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Jugendstrafe so zuzumessen,<br />
dass die erfor<strong>de</strong>rliche erzieherische Einwirkung<br />
möglich ist. Dies be<strong>de</strong>utet nicht, dass die Erziehungswirkung<br />
als einziger Gesichtspunkt heranzuziehen ist. Vielmehr<br />
sind daneben an<strong>de</strong>re Strafzwecke zu beachten,<br />
insbeson<strong>de</strong>re bei Gewalt<strong>de</strong>likten mit erheblichen Folgen<br />
für das Opfer auch das Erfor<strong>de</strong>rnis gerechten Schuldausgleichs.<br />
Das Gewicht <strong>de</strong>s Tatunrechts muss gegen die<br />
Folgen <strong>de</strong>r Strafe für die weitere Entwicklung <strong>de</strong>s Verurteilten<br />
abgewogen wer<strong>de</strong>n. Erziehungsgedanke und<br />
Schuldausgleich stehen dabei regelmäßig nicht im Wi<strong>de</strong>rspruch.<br />
924. BGH 1 StR 204/13 - Beschluss vom 23.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Nürnberg-Fürth)<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
382
Rechtsprechung<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: II. Materielles Strafrecht – Beson<strong>de</strong>rer Teil<br />
Schwerer sexueller Missbrauch von Kin<strong>de</strong>rn (Begriff<br />
<strong>de</strong>r sexuellen Handlung: Handlungen von einiger Erheblichkeit).<br />
§ 176 Abs. 1 StGB; § 184g Nr. 1 StGB<br />
Berührungen an<strong>de</strong>rer Körperstellen als <strong>de</strong>r Geschlechtsteile<br />
stellen nicht ohne Weiteres Handlungen „von einiger<br />
Erheblichkeit“ im Sinne <strong>de</strong>s § 184g Nr. 1 StGB dar.<br />
Rechtsprechung<br />
III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht<br />
940. BGH 2 StR 220/13 - Urteil vom 31. Juli<br />
<strong>2013</strong> (LG Limburg)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in er psychiatrischen<br />
Anstalt (Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>r schuldvermin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n<br />
Krankheit und <strong>de</strong>r Anlasstat; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).<br />
Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 21 StGB<br />
1. Der Grundsatz <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit ist mit Verfassungsrang<br />
ausgestattet. In § 62 StGB hat ihn <strong>de</strong>r Gesetzgeber<br />
ausdrücklich nochmals einfachgesetzlich geregelt,<br />
um seine Be<strong>de</strong>utung bei <strong>de</strong>r Anordnung von Maßregeln<br />
<strong>de</strong>r Besserung und Sicherung hervorzuheben. Er beherrscht<br />
auch die Anordnung und Fortdauer <strong>de</strong>r Unterbringung<br />
in einem psychiatrischen Krankenhaus und<br />
gebietet, dass die Freiheit <strong>de</strong>r Person nur beschränkt<br />
wer<strong>de</strong>n darf, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich<br />
ist.<br />
2. Die Unterbringung darf nicht angeordnet wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn die wegen ihrer unbestimmten Dauer sehr belasten<strong>de</strong><br />
Maßnahme außer Verhältnis zu <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
begangenen und zu erwarten<strong>de</strong>n Taten stehen wür<strong>de</strong><br />
(vgl. BGH NStZ-RR 2007, 300, 301). Bei <strong>de</strong>r gebotenen<br />
Abwägung zwischen <strong>de</strong>n Sicherungsbelangen <strong>de</strong>r Allgemeinheit<br />
und <strong>de</strong>m Freiheitsanspruch <strong>de</strong>s Betroffenen ist<br />
auf die Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Falles einzugehen (vgl. BVerfGE<br />
70, 297, 313). Zu erwägen sind nicht nur <strong>de</strong>r Zustand<br />
<strong>de</strong>s Beschuldigten und die von ihm ausgehen<strong>de</strong><br />
Gefahr, son<strong>de</strong>rn auch sein früheres Verhalten, seine aktuellen<br />
Lebensumstän<strong>de</strong>, die ihn konkret treffen<strong>de</strong>n Wirkungen<br />
einer Unterbringung nach § 63 StGB sowie die<br />
Möglichkeiten, ggf. durch an<strong>de</strong>re Maßnahmen auf ihn<br />
einzuwirken.<br />
857. BGH 1 StR 440/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Hof)<br />
Kronzeugenregelung (Voraussetzungen <strong>de</strong>r Versagung<br />
<strong>de</strong>r vertypten Strafmil<strong>de</strong>rung bei einer lediglich anfänglichen<br />
Aussagebereitschaft im Ermittlungsverfahren;<br />
Ermessensausübung nach einer Gesamtwürdigung).<br />
§ 46b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB<br />
Trägt ein Mitangeklagter durch eine Aussage im Ermittlungsverfahren<br />
zur Auf<strong>de</strong>ckung einer Katalogtat im Sinne<br />
von § <strong>10</strong>0a Abs. 2 Nr. 1 Buchst. n StPO bei und verweigert<br />
er als Zeuge in <strong>de</strong>r gegen einen an<strong>de</strong>ren Tatbeteiligten<br />
durchgeführten Hauptverhandlung die Aussage, kann<br />
das Tatgericht die Strafmil<strong>de</strong>rung nach § 46b Abs. 1 Nr. 1<br />
StGB verweigern. Dies setzt jedoch eine Ermessensausübung<br />
auf <strong>de</strong>r Grundlage einer notwendig umfassen<strong>de</strong>n<br />
Gesamtwürdigung <strong>de</strong>r in § 46b Abs. 2 StGB genannten<br />
und <strong>de</strong>r möglicherweise weiteren relevanten Kriterien<br />
voraus.<br />
904. BGH 5 StR 36/13 - Urteil vom 20. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Kiel)<br />
Vermin<strong>de</strong>rte Schuldfähigkeit bei Straftatbegehung aus<br />
Furcht vor Entzugserscheinungen.<br />
§ 21 StGB<br />
Der Senat lässt offen, ob die Annahme einer eingeschränkten<br />
Schuldfähigkeit in <strong>de</strong>r Fallvariante <strong>de</strong>r Furcht<br />
vor gravieren<strong>de</strong>n Entzugserscheinungen bei einer Cannabisabhängigkeit<br />
grundsätzlich in Betracht kommt (dazu<br />
zuletzt für <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>r Heroinabhängigkeit BGH<br />
<strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 619). Je<strong>de</strong>nfalls schei<strong>de</strong>t eine solche<br />
Annahme regelmäßig aus, wenn <strong>de</strong>r Täter durchgängig<br />
Zugriff auf das Suchtmittel hat und dieses sogar vor<br />
Begehung <strong>de</strong>r Taten konsumiert. Das allgemeine Bestreben,<br />
ständig einen Vorrat an Betäubungsmitteln bereit zu<br />
halten, auch um unangenehme körperliche Folgewirkungen<br />
tunlichst zu vermei<strong>de</strong>n, sowie ein „Suchtdruck“ sind<br />
generelle Merkmale zumin<strong>de</strong>st gewichtigerer Formen <strong>de</strong>r<br />
Drogenabhängigkeit, die als solche nach ständiger Rechtsprechung<br />
die Annahme vermin<strong>de</strong>rter Schuldfähigkeit<br />
nicht zu begrün<strong>de</strong>n vermag.<br />
874. BGH 4 StR 288/13 - Beschluss vom 13.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Mönchengladbach)<br />
Strafzumessung (Berücksichtigung von Tätermotiven<br />
und allgemeinen Lebensführungsumstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Täters;<br />
mangeln<strong>de</strong> Strafmil<strong>de</strong>rungsgrün<strong>de</strong>).<br />
§ 46 Abs. 1 StGB<br />
1. Umstän<strong>de</strong>, die zur allgemeinen Art <strong>de</strong>r Lebensführung<br />
<strong>de</strong>s Täters gehören, dürfen ihm bei <strong>de</strong>r Strafzumessung nur<br />
dann zur Last gelegt wer<strong>de</strong>n, wenn sie eine Beziehung zu<br />
<strong>de</strong>r abgeurteilten Tat haben und sich daraus eine höhere<br />
Tatschuld ergibt (vgl. BGH NStZ 2001, 87, 88). Zur Anwendung<br />
auf eine mangeln<strong>de</strong> schulische und berufliche<br />
Ausbildung sowie eine mangeln<strong>de</strong> regelmäßige Erwerbstätigkeit<br />
bei begangenen Vermögens- und Eigentums<strong>de</strong>likten.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
383
Rechtsprechung<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht<br />
2. Das Fehlen eines Strafmil<strong>de</strong>rungsgrun<strong>de</strong>s darf <strong>de</strong>m<br />
Angeklagten nicht zur Last gelegt wer<strong>de</strong>n (BGH NStZ-<br />
RR 20<strong>10</strong>, 24, 25; StV 1995, 584).<br />
941. BGH 2 StR 574/12 - Urteil vom 14. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Fulda)<br />
Strafzumessung (Tatmodalitäten als Strafschärfungsgrund<br />
bei gleichzeitiger gemil<strong>de</strong>rter Schuldfähigkeit).<br />
§ 49 Abs. 1 StGB; § 21 StGB<br />
Die Art <strong>de</strong>r Tatausführung darf einem Angeklagten nur<br />
dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht<br />
aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht o<strong>de</strong>r nur<br />
eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung<br />
liegt<br />
944. BGH 4 StR 179/13 - Urteil vom 15. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Bochum)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in einer psychiatrischen<br />
Klinik (Gefährlichkeitsprognose: zukünftige Begehung<br />
erhebliche Straftaten).<br />
§ 63 StGB<br />
1. Wegen <strong>de</strong>r Schwere <strong>de</strong>s Eingriffs in die persönliche<br />
Freiheit und mit Rücksicht auf <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit<br />
(§ 62 StGB) rechtfertigen nur schwere<br />
Störungen <strong>de</strong>s Rechtsfrie<strong>de</strong>ns, die zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n<br />
Bereich <strong>de</strong>r mittleren Kriminalität hineinreichen, eine<br />
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />
(vgl. BGHSt 27, 246, 248).<br />
2. Die Anlasstat selbst muss dabei nicht erheblich im<br />
Sinne <strong>de</strong>s § 63 StGB sein. Maßgeblich ist vielmehr, welche<br />
Taten künftig von <strong>de</strong>m Täter infolge seines Zustan<strong>de</strong>s<br />
zu erwarten sind und ob diese erheblich im Sinne <strong>de</strong>s<br />
§ 63 StGB sind (vgl. BGH NStZ 2008, 563). Allerdings<br />
bedarf die Gefährlichkeitsprognose einer beson<strong>de</strong>rs sorgfältigen<br />
Darlegung, wenn die Anlasstaten nach ihrem<br />
Gewicht <strong>de</strong>m unteren Bereich strafbaren Verhaltens zuzuordnen<br />
sind.<br />
863. BGH 2 StR 225/13 - Beschluss vom 15.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Kassel)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />
(symptomatischer Zusammenhang zwischen<br />
<strong>de</strong>r Tatbegehung und <strong>de</strong>r Alkoholabhängigkeit; ausreichen<strong>de</strong><br />
Mitursächlichkeit).<br />
§ 64 StGB<br />
Eine Mitursächlichkeit <strong>de</strong>s Hangs zum Alkoholkonsum<br />
im Übermaß für die Tatbegehung genügt zur Bejahung<br />
<strong>de</strong>r Maßregelvoraussetzung eines symptomatischen Zusammenhangs<br />
(vgl. BGH NStZ-RR <strong>2013</strong>, 54, 55). Die<br />
Tatsache, dass auch eine Persönlichkeitsakzentuierung<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten festgestellt wur<strong>de</strong>, die ebenfalls für die<br />
Tatbegehung von Be<strong>de</strong>utung gewesen ist, steht <strong>de</strong>r Maßregelanordnung<br />
nicht entgegen.<br />
928. BGH 1 StR 246/13 - Beschluss vom 7.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Deggendorf)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung (Übergangsvorschriften<br />
zur Anwendung <strong>de</strong>r Vorschriften über die Sicherungsverwahrung<br />
bei „Altfällen: Voraussetzungen;<br />
Anwendbarkeit auf die Anordnung <strong>de</strong>r vorbehaltenen<br />
Sicherungsverwahrung).<br />
§ 66 StGB; § 66a StGB; § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB<br />
1. Nach Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB ist die Anordnung<br />
o<strong>de</strong>r Fortdauer <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung auf<br />
Grund einer gesetzlichen Regelung, die zur Zeit <strong>de</strong>r letzten<br />
Anlasstat noch nicht in Kraft getreten war, nur zulässig,<br />
wenn bei <strong>de</strong>m Betroffenen eine psychische Störung<br />
vorliegt und aus konkreten Umstän<strong>de</strong>n in seiner Person<br />
o<strong>de</strong>r seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr abzuleiten<br />
ist, dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalto<strong>de</strong>r<br />
Sexualstraftaten begehen wird.<br />
2. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB erfasst auch die Anordnung<br />
<strong>de</strong>r vorbehaltenen Sicherungsverwahrung.<br />
867. BGH 2 StR 321/13 - Beschluss vom <strong>10</strong>.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Frankfurt am Main)<br />
Rechtfehlerhafte Ablehnung einer vermin<strong>de</strong>rten<br />
Schuldfähigkeit bei festgestellter Pädophilie (Krankheitswert;<br />
seelische Abartigkeit).<br />
§ 20 StGB; § 21 StGB<br />
1. Für die Beurteilung <strong>de</strong>r vermin<strong>de</strong>rten Schuldfähigkeit<br />
ist es auch bei <strong>de</strong>r Pädophilie unerheblich, dass es über<br />
diese hinaus keine weitere Persönlichkeitsstörung pathologischen<br />
Ausmaßes gebe. Ein solcher Ansatz ist rechtlich<br />
nicht tragfähig, weil es unerheblich ist, ob die Persönlichkeitsverän<strong>de</strong>rung<br />
„Krankheitswert“ erreicht; das<br />
Merkmal <strong>de</strong>r schweren an<strong>de</strong>ren seelischen Abartigkeit<br />
erfasst gera<strong>de</strong> solche Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Persönlichkeit,<br />
die nicht pathologisch bedingt sind, also gera<strong>de</strong><br />
keine krankhaften seelischen Störungen darstellen (BGH<br />
StGB § 21 Seelische Abartigkeit 33).<br />
2. Eine Devianz im Sexualverhalten in Form einer Pädophilie<br />
ist zwar nicht ohne weiteres mit einer schweren<br />
an<strong>de</strong>ren seelischen Abartigkeit im Sinne <strong>de</strong>r §§ 20, 21<br />
StGB gleichzusetzen. Vielmehr kann auch nur eine gestörte<br />
sexuelle Entwicklung vorliegen, die als allgemeine<br />
Störung <strong>de</strong>r Persönlichkeit, <strong>de</strong>s Sexualverhaltens o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Anpassung nicht <strong>de</strong>n Schweregrad einer an<strong>de</strong>ren seelischen<br />
Abartigkeit im Sinne <strong>de</strong>s § 21 StGB erreicht. Ob<br />
eine Persönlichkeitsstörung im sexuellen Bereich das<br />
Wesen <strong>de</strong>s Täters so nachhaltig verän<strong>de</strong>rt hat, dass er zur<br />
Bekämpfung seiner Triebe nicht die erfor<strong>de</strong>rlichen Hemmungen<br />
aufbringt, kann nur im Wege einer Gesamtbetrachtung<br />
<strong>de</strong>r Persönlichkeit <strong>de</strong>s Täters unter Einbeziehung<br />
seiner Entwicklung, seines Charakterbil<strong>de</strong>s sowie<br />
<strong>de</strong>r ihm zur Last gelegten Taten einschließlich <strong>de</strong>r ihnen<br />
zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n Motive festgestellt wer<strong>de</strong>n (BGHR<br />
StGB § 21 Seelische Abartigkeit 37).<br />
938. BGH 2 StR 174/13 - Beschluss vom 30.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Darmstadt)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />
(Hang, berauschen<strong>de</strong> Mittel im Übermaß zu<br />
sich zu nehmen; Zusammenhang zwischen Hang und<br />
Anlasstat).<br />
§ 64 StGB<br />
1. Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung<br />
ausreichend eine eingewurzelte, auf psychische Disposi-<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
384
Rechtsprechung<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht<br />
tion zurückgehen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r durch Übung erworbene Neigung,<br />
immer wie<strong>de</strong>r Rauschmittel zu konsumieren, wobei<br />
diese Neigung noch nicht <strong>de</strong>n Grad einer physischen<br />
Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger<br />
Genuss von Rauschmitteln ist je<strong>de</strong>nfalls dann gegeben,<br />
wenn <strong>de</strong>r Betroffene auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit<br />
sozial gefähr<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r gefährlich erscheint (st.<br />
Rspr.). Nicht erfor<strong>de</strong>rlich ist, dass beim Täter bereits eine<br />
Persönlichkeits<strong>de</strong>pravation eingetreten ist (vgl. BGH<br />
NStZ-RR 2008, 8). Dem Umstand, dass durch <strong>de</strong>n<br />
Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeitsund<br />
Leistungsfähigkeit <strong>de</strong>s Betroffenen beeinträchtigt<br />
sind, kommt nur eine indizielle Be<strong>de</strong>utung zu. Das Fehlen<br />
solcher Beeinträchtigungen schließt nicht notwendigerweise<br />
die Bejahung eines Hangs aus (vgl. BGH NStZ-<br />
RR 2012, 204).<br />
2. Nach ständiger Rechtsprechung ist nicht erfor<strong>de</strong>rlich,<br />
dass <strong>de</strong>r Hang die alleinige Ursache für die Anlasstat ist.<br />
Vielmehr ist ein symptomatischer Zusammenhang auch<br />
dann zu bejahen, wenn <strong>de</strong>r Hang neben an<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n<br />
mit dazu beigetragen hat, dass <strong>de</strong>r Angeklagte<br />
eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat, und dies<br />
bei unverän<strong>de</strong>rtem Suchtverhalten auch für die Zukunft<br />
zu besorgen ist.<br />
Rechtsprechung<br />
IV. Strafverfahrensrecht mit GVG<br />
838. AG Nürnberg 46 Ds 513 Js 1382/11 – Urteil<br />
vom 2. August 2012<br />
Beweiswert von Steuer-CDs für <strong>de</strong>n Nachweis einer<br />
Steuerhinterziehung (LGT-Bank; Erträge; Stiftungen;<br />
Beweiswürdigung: ungenügen<strong>de</strong> Vermutung).<br />
§ 370 AO; § 261 StPO<br />
1. Zum Beweiswert <strong>de</strong>r Informationen, die sich auf einer<br />
Steuer-CD hinsichtlich eines im Ausland bei <strong>de</strong>r LGT-<br />
Bank geführten Kontos befin<strong>de</strong>n, unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt<br />
<strong>de</strong>r Steuerhinterziehung.<br />
2. Lässt sich einer Daten-CD letztlich allenfalls ein bestimmter<br />
Kontostand zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
und die Berechtigung <strong>de</strong>r Angeklagten hieran entnehmen,<br />
genügt dies allein – unabhängig von <strong>de</strong>r Frage, ob<br />
die auf <strong>de</strong>m Datenträger vorhan<strong>de</strong>nen Unterlagen verwertbar<br />
sind –, nicht für <strong>de</strong>n Tatnachweis einer Steuerhinterziehung.<br />
Dies gilt je<strong>de</strong>nfalls dann, wenn eine Überführung<br />
<strong>de</strong>s Vermögens in an<strong>de</strong>re, nicht steuerpflichtige<br />
Werte möglich ist. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür,<br />
dass nicht benötigte Gel<strong>de</strong>r zinsträchtig angelegt<br />
wer<strong>de</strong>n, genügt für die Überzeugungsbildung nicht.<br />
Letztlich ist nur eine recht wahrscheinliche, für eine<br />
Verurteilung in<strong>de</strong>s nicht ausreichen<strong>de</strong> Vermutung <strong>de</strong>r<br />
Steuerhinterziehung begrün<strong>de</strong>t.<br />
934. BGH 2 StR 116/13 - Beschluss vom <strong>10</strong>.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Recht auf <strong>de</strong>n gesetzlichen Richter (nachträgliche Än<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>s Geschäftsverteilungsplans: Voraussetzungen,<br />
revisionsrechtliche Überprüfbarkeit; Verhältnis<br />
zum Beschleunigungsgrundsatz).<br />
Art. <strong>10</strong>1 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 21e<br />
Abs. 3 Satz 1 GVG<br />
1. Eine nachträgliche Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Geschäftsverteilung<br />
kann verfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf<br />
diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb<br />
angemessener Zeit, insbeson<strong>de</strong>re eine beschleunigte<br />
Behandlung von Strafsachen, erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Das<br />
Beschleunigungsgebot lässt in<strong>de</strong>s das Recht auf <strong>de</strong>n<br />
gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten.<br />
Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung<br />
durch diesen. Daher muss in <strong>de</strong>rartigen Fällen das Recht<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten auf <strong>de</strong>n gesetzlichen Richter mit <strong>de</strong>m<br />
rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege<br />
und <strong>de</strong>m verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz<br />
zu einem angemessenen Ausgleich gebracht<br />
wer<strong>de</strong>n (vgl. BGHSt 53, 268, 270 f.).<br />
2. § 21e Abs. 3 GVG lässt - ohne dass insoweit Art. <strong>10</strong>1<br />
Abs. 1 Satz 2 GG entgegenstün<strong>de</strong> - eine Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
Zuständigkeit auch für bereits anhängige Verfahren zu,<br />
je<strong>de</strong>nfalls dann wenn die Neuregelung generell gilt, zum<br />
Beispiel mehrere anhängige Verfahren und eine unbestimmte<br />
Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst und<br />
nicht aus sachwidrigen Grün<strong>de</strong>n geschieht. In je<strong>de</strong>m Fall<br />
ist aber erfor<strong>de</strong>rlich, dass je<strong>de</strong> Umverteilung während<br />
<strong>de</strong>s laufen<strong>de</strong>n Geschäftsjahres, die bereits anhängige<br />
Verfahren erfasst, geeignet ist, die Effizienz <strong>de</strong>s Geschäftsablaufs<br />
zu erhalten o<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rherzustellen. Än<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>r Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet<br />
sind, können vor Art. <strong>10</strong>1 Abs. 1 Satz 2 GG keinen<br />
Bestand haben (vgl. BVerfG NJW 2005, 2689, 2690<br />
mwN).<br />
3. Eine Überlastung <strong>de</strong>s Spruchkörpers im Sinne <strong>de</strong>s<br />
§ 21e Abs. 3 GVG liegt vor, wenn über einen längeren<br />
Zeitraum ein erheblicher Überhang <strong>de</strong>r Eingänge über<br />
die Erledigungen zu verzeichnen ist, sodass mit einer<br />
Bearbeitung <strong>de</strong>r Sachen innerhalb eines angemessenen<br />
Zeitraums nicht zu rechnen ist und sich die Überlastung<br />
daher als so erheblich darstellt, dass <strong>de</strong>r Ausgleich nicht<br />
bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Geschäftsjahrs zurückgestellt wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
4. Die Entscheidung <strong>de</strong>s Präsidiums nach § 21e Abs. 3<br />
GVG unterliegt nicht lediglich einer Vertretbarkeits- o<strong>de</strong>r<br />
Willkürkontrolle, sie ist vielmehr einer vollständigen<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
385
Rechtsprechung<br />
revisionsgerichtlichen Überprüfung unterworfen, insbeson<strong>de</strong>re<br />
auch daraufhin, ob eine Überlastung einer Strafkammer<br />
vorgelegen hat und die vom Präsidium getroffenen<br />
Maßnahmen erfor<strong>de</strong>rlich waren (vgl. BGHSt 53, 268,<br />
275 f.). Dabei sind vom Revisionsgericht nur solche Umstän<strong>de</strong><br />
heranzuziehen, die bis zur Entscheidung <strong>de</strong>r neu<br />
zur Entscheidung berufenen Strafkammer über einen in<br />
<strong>de</strong>r Hauptverhandlung erhobenen Besetzungseinwand<br />
bekannt gemacht sind (vgl. BGHSt 53, 268, 282 f.).<br />
901. BGH 5 StR 318/13 - Urteil vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Hamburg)<br />
Verständigung (Abgrenzung von Angabe eines für <strong>de</strong>n<br />
Fall <strong>de</strong>r Verständigung in Betracht kommen<strong>de</strong>n Strafrahmens<br />
und sog. „Sanktionsschere“); Bestimmung<br />
<strong>de</strong>s Prüfungsumfangs <strong>de</strong>s Revisionsgerichts durch die<br />
Angriffsrichtung <strong>de</strong>r Revision.<br />
§ 257c StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO<br />
1. Zwar sieht § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO die Angabe einer<br />
Unter- und einer Obergrenze <strong>de</strong>r Strafe vor. Damit ist<br />
nach <strong>de</strong>m Regelungsgehalt <strong>de</strong>r Vorschrift aber nicht die<br />
Mitteilung <strong>de</strong>r sogenannten Sanktionsschere gemeint,<br />
son<strong>de</strong>rn allein <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Fall einer erfolgreichen Verständigung<br />
– <strong>de</strong>ren Bestandteil in aller Regel ein Geständnis<br />
ist (vgl. § 257c Abs. 2 Satz 2 StPO) – konkret in<br />
Betracht kommen<strong>de</strong> Strafrahmen.<br />
2. Rügt die Revision, <strong>de</strong>m Angeklagten sei „bei einem voll<br />
umfassen<strong>de</strong>n Geständnis … im Sinne <strong>de</strong>r Anklage“ lediglich<br />
„eine Strafuntergrenze von drei Jahren und neun<br />
Monaten“ zugesichert, nicht aber eine Strafobergrenze<br />
„für <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>s Bestreitens“ genannt wor<strong>de</strong>n, damit er<br />
seinen prozessualen Vorteil erkennen könne, richtet sich<br />
<strong>de</strong>r Angriff ein<strong>de</strong>utig nur auf die seitens <strong>de</strong>s Tatgerichts<br />
unterlassene Mitteilung einer Strafobergrenze „im Bestreitensfalle“;<br />
sie erweist sich als nicht auslegungsfähig.<br />
Damit ist <strong>de</strong>m Senat eine Prüfung verwehrt, ob das Landgericht<br />
durch Nichtangabe einer Strafobergrenze im Sinne<br />
<strong>de</strong>s § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO rechtsfehlerhaft gehan<strong>de</strong>lt<br />
haben könnte. Die Angriffsrichtung bestimmt <strong>de</strong>n Prüfungsumfang<br />
seitens <strong>de</strong>s Revisionsgerichts.<br />
927. BGH 1 StR 237/13 - Beschluss vom 3.<br />
September <strong>2013</strong> (LG München)<br />
Mitteilungspflicht über die Erörterung einer Verständigung<br />
(keine Vorschrift zur Öffentlichkeit <strong>de</strong>s Verfahrens;<br />
keine Mitteilungspflicht bei Erörterung <strong>de</strong>r Sachund<br />
Rechtslage).<br />
§ 257c StPO; § 243 Abs. 4 StPO; § 169 Abs. 1 GVG<br />
Zwar dient auch die Vorschrift <strong>de</strong>s § 243 Abs. 4 StPO <strong>de</strong>r<br />
Transparenz <strong>de</strong>s Strafverfahrens, weil ihr Sinn und Zweck<br />
auch ist, die Öffentlichkeit über etwaige Vorgespräche<br />
<strong>de</strong>r Verfahrensbeteiligten zu informieren. Allerdings<br />
kann <strong>de</strong>r Verstoß gegen Mitteilungspflichten über Vorgänge<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Hauptverhandlung nicht mit einem<br />
Verstoß gegen <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>r Öffentlichkeit <strong>de</strong>r Verhandlung<br />
vor <strong>de</strong>m erkennen<strong>de</strong>n Gericht (§ 169 Satz 1<br />
GVG) gleichgesetzt wer<strong>de</strong>n. Denn die Mitteilungspflicht<br />
aus § 243 Abs. 4 StPO sichert in erster Linie <strong>de</strong>n Informationsgleichstand<br />
sämtlicher Verfahrensbeteiligter.<br />
Demgegenüber bezieht sich § 169 Satz 1 GVG auf die<br />
unmittelbare Öffentlichkeit im Sinne einer Möglichkeit<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: IV. Strafverfahrensrecht mit GVG<br />
<strong>de</strong>r Teilnahme an <strong>de</strong>r Verhandlung vor <strong>de</strong>m erkennen<strong>de</strong>n<br />
Gericht (vgl. BGHSt 36, 119, 122).<br />
943. BGH 4 StR 171/13 - Beschluss vom 18.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Dortmund)<br />
Beweiswürdigung (Anfor<strong>de</strong>rungen an die Urteilsbegründung<br />
bei gegensätzlichen Aussagen).<br />
§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO<br />
Es bestehen beson<strong>de</strong>re Anfor<strong>de</strong>rungen an die tatrichterliche<br />
Beweiswürdigung in Fällen, in <strong>de</strong>nen sich in Ermangelung<br />
objektiver Beweisanzeichen die gegensätzlichen<br />
Aussagen <strong>de</strong>s Angeklagten und <strong>de</strong>s Tatopfers gegenüberstehen<br />
o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>nen ein Zeuge, auf <strong>de</strong>ssen Aussage die<br />
Verurteilung <strong>de</strong>s Täters maßgeblich gestützt wird, bereits<br />
wegen Beteiligung an <strong>de</strong>rselben Tat verurteilt wur<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r<br />
die Angaben <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Zeugen auf eine verfahrensbeen<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Absprache in seinem eigenen Strafverfahren<br />
zurückzuführen sind (st. Rspr). Die Urteilsgrün<strong>de</strong><br />
müssen dann erkennen lassen, dass <strong>de</strong>r Tatrichter alle<br />
Umstän<strong>de</strong>, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten<br />
o<strong>de</strong>r zu Ungunsten <strong>de</strong>s Angeklagten zu beeinflussen,<br />
in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau<br />
gewürdigt hat. Bei einem Tatbeteiligten o<strong>de</strong>r Mitangeklagten<br />
ist je nach <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Falles in<br />
Betracht zu ziehen, dass dieser <strong>de</strong>n Angeklagten um<br />
eigener Vorteile willen zu Unrecht belasten könnte.<br />
923. BGH 1 StR 201/13 - Urteil vom 6. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Mosbach)<br />
Verfahrensabtrennung (Überprüfung <strong>de</strong>r Zweckmäßigkeit<br />
und <strong>de</strong>s richterlichen Ermessens; Darlegungsanfor<strong>de</strong>rungen);<br />
Rüge <strong>de</strong>r vorschriftswidrigen Besetzung<br />
(Präklusion: rechtzeitiges Vorbringen in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung);<br />
Ablehnung eines Schöffen wegen Befangenheit<br />
(Vorbefassung mit <strong>de</strong>r Tat); Beweiswürdigung.<br />
§ 2 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 1 StPO; § 25 Abs. 1 StPO;<br />
§ 261 StPO<br />
1. Auch wenn Verbindung und Trennung von Verfahren<br />
grundsätzlich <strong>de</strong>m Ermessen <strong>de</strong>s Tatrichters überlassen<br />
sind, kann ein Beschwer<strong>de</strong>führer im Revisionsverfahren<br />
mit <strong>de</strong>r Verfahrensrüge geltend machen, dass <strong>de</strong>r Tatrichter<br />
das ihm zustehen<strong>de</strong> Ermessen missbraucht hat (vgl.<br />
BVerfG StV 2002, 578). Ob die Trennung hingegen<br />
zweckmäßig war, hat das Revisionsgericht an<strong>de</strong>rs als das<br />
Beschwer<strong>de</strong>gericht nicht zu überprüfen.<br />
2. Für Schöffen gelten keine an<strong>de</strong>ren Maßgaben für die<br />
Unvoreingenommenheit als bei Berufsrichtern, auch<br />
wenn es sich um schwierige Beweissituationen han<strong>de</strong>lt<br />
(vgl. BGHSt 42, 191, 193 f.). Mithin stellt eine Vorbefassung<br />
mit <strong>de</strong>m Sachverhalt durch Verurteilung eines Mittäters<br />
für sich genommen keinen Ablehnungsgrund dar.<br />
925. BGH 1 StR 206/13 - Beschluss vom 3.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Regensburg)<br />
Beweiswürdigung (teilweise Verwertung von Zeugenaussagen;<br />
Belastungszeugen; in dubio pro reo; Wi<strong>de</strong>rsprüche).<br />
§ 261 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK<br />
1. Die Beweiswürdigung ist Sache <strong>de</strong>s Tatgerichts (§ 261<br />
StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis <strong>de</strong>r Hauptverhandlung<br />
festzustellen und zu würdigen. Seine Schluss-<br />
386
Rechtsprechung<br />
folgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt,<br />
dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung<br />
ist darauf beschränkt, ob <strong>de</strong>m Tatgericht Rechtsfehler<br />
unterlaufen sind. Dies ist dann <strong>de</strong>r Fall, wenn die Beweiswürdigung<br />
wi<strong>de</strong>rsprüchlich, unklar o<strong>de</strong>r lückenhaft<br />
ist o<strong>de</strong>r gegen die Denkgesetze o<strong>de</strong>r gesicherte Erfahrungssätze<br />
verstößt (st. Rspr.).<br />
2. Glaubt das Gericht in Teilen <strong>de</strong>r Aussage <strong>de</strong>s Belastungszeugen,<br />
obwohl es ihr in an<strong>de</strong>ren Teilen nicht folgt,<br />
bedarf dies regelmäßig einer beson<strong>de</strong>ren Begründung<br />
(vgl. BGHSt 44, 153).<br />
880. BGH 4 StR 336/13 - Beschluss vom 28.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Arnsberg)<br />
Unzulässiger Antrag auf Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorigen<br />
Stand gegen die Versäumung <strong>de</strong>r Revisionsbegründungsfrist<br />
(Nebenklage).<br />
§ 44 StPO; § 344 Abs. 1 StPO; § 85 Abs. 2 ZPO<br />
Das Verschul<strong>de</strong>n seines Prozessbevollmächtigten ist <strong>de</strong>m<br />
Nebenkläger, <strong>de</strong>r nach Versäumung <strong>de</strong>r Revisionsbegründungsfrist<br />
Wie<strong>de</strong>reinsetzung beantragt, nach <strong>de</strong>m<br />
allgemeinen Verfahrensgrundsatz <strong>de</strong>s § 85 Abs. 2 ZPO<br />
zuzurechnen (st. Rspr.). Deshalb erfor<strong>de</strong>rt die Begründung<br />
eines Antrags auf Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorigen<br />
Stand grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung<br />
aller zwischen <strong>de</strong>m Beginn und En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
versäumten Frist liegen<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>, die für die Frage<br />
be<strong>de</strong>utsam sind, wie und gegebenenfalls durch wessen<br />
Verschul<strong>de</strong>n es zur Versäumung gekommen ist; zu <strong>de</strong>m<br />
erfor<strong>de</strong>rlichen Tatsachenvortrag gehört dabei auch, dass<br />
<strong>de</strong>r Antragsteller einen Sachverhalt vorträgt, <strong>de</strong>r ein <strong>de</strong>r<br />
Wie<strong>de</strong>reinsetzung entgegenstehen<strong>de</strong>s Verschul<strong>de</strong>n ausschließt<br />
(BGH, Beschluss vom 17. März 20<strong>10</strong> - 2 StR<br />
27/<strong>10</strong> mwN).<br />
845. BGH 1 StR 189/13 - Beschluss vom 3.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Augsburg)<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: IV. Strafverfahrensrecht mit GVG<br />
Inhalt <strong>de</strong>s Grundsatzes <strong>de</strong>r Unmittelbarkeit.<br />
§ 250 StPO<br />
Der Grundsatz materieller Unmittelbarkeit ist in § 250<br />
StPO auf <strong>de</strong>n Vorrang <strong>de</strong>s Personalbeweises vor <strong>de</strong>m<br />
Urkun<strong>de</strong>nbeweis begrenzt. Eine Ausweitung auf das<br />
allgemein sachnächste Beweismittel ergibt sich aus § 250<br />
StPO nicht.<br />
930. BGH 1 StR 305/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Karlsruhe)<br />
Rücknahme <strong>de</strong>r Revision; Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n<br />
vorherigen Stand (Fristversäumnis).<br />
§ 302 Abs. 1 StPO; § 44 Satz 1 StPO<br />
Eine Frist kann nur <strong>de</strong>rjenige versäumen, <strong>de</strong>r sie einhalten<br />
wollte, aber nicht eingehalten hat. Wer von einem<br />
befristeten Rechtsbehelf bewusst keinen Gebrauch<br />
macht, war nicht im Sinne <strong>de</strong>s § 44 Satz 1 StPO verhin<strong>de</strong>rt<br />
(vgl. BGH NStZ 2001, 160).<br />
942. BGH 2 ARs 267/13 (2 AR 206/13) - Beschluss<br />
vom 27. August <strong>2013</strong><br />
Wi<strong>de</strong>rruf <strong>de</strong>r Bewährung (zuständige Strafvollstreckungskammer<br />
bei erneuter Haftstrafe in an<strong>de</strong>rem Gerichtsbezirk:<br />
Begriff <strong>de</strong>s Befasst sein).<br />
§ 14 StPO; § 462a Abs. 1 Satz 2 StPO<br />
Mit einer Sache befasst im Sinne <strong>de</strong>s § 462a Abs. 1 ist ein<br />
Gericht schon, sobald eine nachträgliche Entscheidung<br />
von Amts wegen erfor<strong>de</strong>rlich sein kann, weil Tatsachen<br />
aktenkundig sind, die einen Wi<strong>de</strong>rruf <strong>de</strong>r Strafaussetzung<br />
zur Bewährung erfor<strong>de</strong>rn können (vgl. BGHSt 30, 189).<br />
Befasst ist ein Gericht auch dann, wenn es zunächst<br />
nichts veranlasst, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Ausgang <strong>de</strong>s neuen Verfahrens<br />
abwartet, aus <strong>de</strong>m sich Wi<strong>de</strong>rrufsgrün<strong>de</strong> ergeben<br />
können.<br />
Rechtsprechung<br />
V. Wirtschafts<strong>strafrecht</strong> und Nebengebiete<br />
846. BGH 1 StR 226/13 - Beschluss vom 13.<br />
Juni <strong>2013</strong> (LG Augsburg)<br />
Steuerhinterziehung (Schenkungsteuer); Verlängerung<br />
<strong>de</strong>r Verjährungsfrist gemäß § 376 AO (Steuerverkürzung<br />
in großem Ausmaß; grober Eigennutz und Tatvorsatz);<br />
Ablehnung eines Beweisantrages als be<strong>de</strong>utungslos.<br />
§ 370 AO n.F.; § 370 Abs. 3 AO a.F. § 376 AO; § 244<br />
Abs. 3 StPO<br />
1. Die zehnjährige Verjährungsfrist gilt auch für Taten, für<br />
die bereits eine ursprünglich fünfjährige Strafverfolgungsverjährungsfrist<br />
zu laufen begann. Hierfür genügt es,<br />
wenn die Tat das Regelbeispiel <strong>de</strong>s § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
1 AO für einen beson<strong>de</strong>rs schweren Fall <strong>de</strong>r Steuerhinterziehung<br />
(Steuerverkürzung in großem Ausmaß) verwirklicht.<br />
Der Umstand, dass dieses Regelbeispiel bis zur<br />
Än<strong>de</strong>rung durch Gesetz vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I,<br />
3198, 3209) und damit zum Zeitpunkt <strong>de</strong>r Tatbeendigung<br />
enger gefasst war und das einschränken<strong>de</strong> Merkmal <strong>de</strong>s<br />
Han<strong>de</strong>lns aus grobem Eigennutz enthielt, steht <strong>de</strong>r Anwendung<br />
<strong>de</strong>r verlängerten Verjährungsfrist <strong>de</strong>s § 376 Abs.<br />
1 AO nicht entgegen. Die zehnjährige Verjährungsfrist <strong>de</strong>s<br />
§ 376 Abs. 1 AO kommt unabhängig davon zur Anwendung,<br />
ob die Tat zum Zeitpunkt <strong>de</strong>r Tatbegehung eines<br />
<strong>de</strong>r Regelbeispiele <strong>de</strong>s § 370 Abs. 3 Satz 2 AO erfüllt hat,<br />
namentlich, ob <strong>de</strong>r Angeklagte „aus grobem Eigennutz“<br />
i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO aF gehan<strong>de</strong>lt hat.<br />
387
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: V. Wirtschafts<strong>strafrecht</strong> und Nebengebiete<br />
2. Die Ablehnung eines Beweisantrags als be<strong>de</strong>utungslos<br />
erfor<strong>de</strong>rt regelmäßig eine konkretisierte Begründung.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Beweisantrag auf eine bestimmte beweiswürdigen<strong>de</strong><br />
Schlussfolgerung <strong>de</strong>r Ermittlungsbehör<strong>de</strong>n Bezug<br />
nimmt (Vorsatz ergebe sich aus <strong>de</strong>r Verschleierung)<br />
und an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>r Ablehnungsbeschluss die dieser<br />
Schlussfolgerung zu Grun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong> Tatsachenbewertung<br />
(Verschleierung) für be<strong>de</strong>utungslos erklärt, so<br />
bringt dies mit noch hinlänglicher Klarheit zum Ausdruck,<br />
dass das Gericht die Auffassung <strong>de</strong>r Ermittlungsbehör<strong>de</strong>n,<br />
die durch die Anträge wi<strong>de</strong>rlegt wer<strong>de</strong>n soll,<br />
im Ergebnis nicht teilt, letztlich also <strong>de</strong>r Sache nach <strong>de</strong>m<br />
Antrag folgt.<br />
3. Unabhängig davon kann aber nach <strong>de</strong>r Rechtsprechung<br />
<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgerichtshofs eine (möglicherweise) unzulängliche<br />
Begründung <strong>de</strong>r Ablehnung eines Beweisantrags<br />
dann unschädlich sein, wenn <strong>de</strong>n Urteilsgrün<strong>de</strong>n im<br />
Ergebnis die Beweisbehauptungen zu Grun<strong>de</strong> liegen<br />
(BGH wistra 20<strong>10</strong>, 4<strong>10</strong>, 412).<br />
4. Grob eigennützig han<strong>de</strong>lt, wer sich bei seinem Verhalten<br />
von <strong>de</strong>m Streben nach Vorteil in beson<strong>de</strong>rs anstößigem<br />
Maße leiten lässt. Dabei muss das Gewinnstreben<br />
<strong>de</strong>s Täters das bei je<strong>de</strong>m Steuerstraftäter vorhan<strong>de</strong>ne<br />
Gewinnstreben <strong>de</strong>utlich übersteigen (vgl. BGH NJW<br />
1985, 208; wistra 1991, <strong>10</strong>6). Bei <strong>de</strong>r Beurteilung, ob dies<br />
<strong>de</strong>r Fall ist, hat das Tatgericht einen vom Revisionsgericht<br />
hinzunehmen<strong>de</strong>n Beurteilungsspielraum (vgl. BGH NJW<br />
1985, 208; wistra 1987, 71). Erfor<strong>de</strong>rlich ist jedoch eine<br />
vom Tatgericht vorzunehmen<strong>de</strong> Gesamtbetrachtung sämtlicher<br />
Tatumstän<strong>de</strong>, namentlich <strong>de</strong>r vom Täter gezogenen<br />
Vorteile, <strong>de</strong>r Art, Häufigkeit und Intensität <strong>de</strong>r Tatbegehung<br />
und <strong>de</strong>s Verwendungszwecks <strong>de</strong>r erlangten Vorteile.<br />
Diese Umstän<strong>de</strong> müssen im Zusammenhang gesehen und<br />
daraufhin überprüft wer<strong>de</strong>n, ob sie <strong>de</strong>n Schluss auf groben<br />
Eigennutz <strong>de</strong>s Täters rechtfertigen (vgl. BGHR AO<br />
§ 370 Abs. 3 Nr. 1 Eigennutz 3 mwN).<br />
5. Es ist nicht zu beanstan<strong>de</strong>n, dass das Tatgericht <strong>de</strong>m<br />
sehr großen Ausmaß <strong>de</strong>r hinterzogenen Steuer indizielle<br />
Wirkung für die Annahme eines grob eigennützigen Verhaltens<br />
<strong>de</strong>s Täters beigemessen hat. Der Umfang <strong>de</strong>r<br />
verkürzten Steuern lässt je nach <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Einzelfalls Rückschlüsse auf das Maß <strong>de</strong>s Gewinnstrebens<br />
<strong>de</strong>s Täters zu (vgl. BGHR AO § 370 Abs. 3 Nr. 1 Eigennutz<br />
3; BGH wistra 1993, <strong>10</strong>9). Es darf die Annahme, <strong>de</strong>r<br />
Angeklagte habe aus grobem Eigennutz gehan<strong>de</strong>lt, letztlich<br />
aber nicht allein auf die Höhe <strong>de</strong>s <strong>de</strong>m Angeklagten<br />
nach Abzug <strong>de</strong>r geschul<strong>de</strong>ten Steuer noch verbleiben<strong>de</strong>n<br />
Rests <strong>de</strong>r Schenkungen stützen. Der Umstand, dass <strong>de</strong>r<br />
Angeklagte in <strong>de</strong>r Lage war, aus legal durch Schenkungen<br />
erworbenem Vermögen die Schenkungsteuer ohne Einbußen<br />
in seiner Lebensführung zu entrichten, belegt groben<br />
Eigennutz für sich allein in<strong>de</strong>s nicht.<br />
855. BGH 1 StR 374/13 - Beschluss vom 4.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Hamburg)<br />
Gewerbsmäßiger und ban<strong>de</strong>nmäßiger Schmuggel hinsichtlich<br />
<strong>de</strong>r Einfuhrumsatzsteuer (Steuerverkürzung<br />
bei zugleich entstehen<strong>de</strong>r Vorsteuerabzugsberechtigung;<br />
unionsrechtskonforme Auslegung; Kompensation;<br />
unionsrechtskonforme Auslegung); Beihilfe zur<br />
Umsatzsteuerhinterziehung.<br />
§ 373 AO; § 370 AO; § 27 StGB; § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr.<br />
2 UStG; Art. 168 Buchst. e, Art. 178 Buchst. e <strong>de</strong>r<br />
Richtlinie 2006/112/EG (Mehrwertsteuer-<br />
Systemrichtlinie); § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG; § 16 UStG;<br />
§ 18 Abs. 1 UStG; § 21 Abs. 2 UStG; Art. 59, 217 ff.<br />
ZK; § 264 StPO; Art. <strong>10</strong>3 Abs. 3 GG; Art. 50 GRC<br />
1. Die Möglichkeit eines späteren Vorsteuerabzugs gemäß<br />
§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG steht einer Strafbarkeit<br />
wegen Schmuggels (§ 373 AO) auch hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
Einfuhrumsatzsteuer nicht entgegen. Die Strafbarkeit<br />
wegen Schmuggels und eine solche wegen Beihilfe zur<br />
Hinterziehung von Umsatzsteuer (§ 370 Abs. 1 AO, § 27<br />
StGB) können insoweit kumulativ auftreten.<br />
2. Nach Art. 168 Buchst. e Mehrwertsteuer-<br />
Systemrichtlinie entsteht das Recht zum Abzug <strong>de</strong>r Einfuhrumsatzsteuer<br />
als Vorsteuer nicht erst dann, wenn die<br />
Einfuhrumsatzsteuer entrichtet wird, son<strong>de</strong>rn bereits<br />
dann, wenn sie für die Einfuhr geschul<strong>de</strong>t wird, also<br />
noch zu entrichten ist. Das Vorsteuerabzugsrecht ist<br />
integraler Bestandteil <strong>de</strong>s Mechanismus <strong>de</strong>r Mehrwertsteuer<br />
und muss zur Gewährleistung <strong>de</strong>r steuerlichen<br />
Neutralität <strong>de</strong>r Mehrwertsteuer für die gesamte Steuerbelastung<br />
<strong>de</strong>r vorausgehen<strong>de</strong>n Umsatzstufen sofort ausübbar<br />
sein (EuGH, Véleclair SA, Rn 27, DStR 2012,<br />
697). Unionsrechtlich ist nicht die Entrichtung <strong>de</strong>r Einfuhrumsatzsteuer<br />
Voraussetzung für die Ausübung <strong>de</strong>s<br />
Rechts auf Vorsteuerabzug.<br />
3. Das Recht, die bei <strong>de</strong>r Einfuhr entstan<strong>de</strong>ne Einfuhrumsatzsteuer<br />
auch ohne ihre vorherige Entrichtung<br />
sofort als Vorsteuer geltend zu machen, steht einer Strafbarkeit<br />
wegen Schmuggels nicht entgegen, da das Vorsteuerabzugsrecht<br />
die bei <strong>de</strong>r Einfuhr entstan<strong>de</strong>ne Einfuhrumsatzsteuer<br />
unberührt lässt. Eine Gefährdung für<br />
das Umsatzsteueraufkommen tritt bereits mit <strong>de</strong>m Verstoß<br />
gegen die steuer- und zollrechtlichen Erklärungspflichten<br />
bei <strong>de</strong>r Einfuhr von Waren in das Bun<strong>de</strong>sgebiet<br />
ein. Die Erklärungspflichten bei <strong>de</strong>r Einfuhr von Waren<br />
einerseits und bei <strong>de</strong>r Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen<br />
und Umsatzsteuerjahreserklärungen an<strong>de</strong>rerseits<br />
betreffen unterschiedliche wirtschaftliche Sachverhalte.<br />
4. Bei <strong>de</strong>m Schmuggel und <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n Hinterziehung<br />
von Umsatzsteuer han<strong>de</strong>lt es sich regelmäßig um<br />
unterschiedliche Taten im materiell-rechtlichen Sinn<br />
(§ 53 StGB), die durch unterschiedliche Tathandlungen,<br />
zu unterschiedlichen Zeitpunkten, in unterschiedlichen<br />
Besteuerungsverfahren, bezogen auf unterschiedliche<br />
Steuernormen und gegenüber unterschiedlichen Behör<strong>de</strong>n<br />
begangen wur<strong>de</strong>n. Es liegen dann keine Taten im<br />
prozessualen Sinne vor. Allein <strong>de</strong>r Umstand, dass die<br />
Beantwortung <strong>de</strong>r Frage, ob und in welcher Höhe Umsatzsteuer<br />
i.S.v. § 370 Abs. 1 AO verkürzt wor<strong>de</strong>n ist,<br />
auch von <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r Vorsteuer abhängt, führt nicht<br />
dazu, dass <strong>de</strong>r Schuldgehalt <strong>de</strong>r Umsatzsteuerhinterziehung<br />
und <strong>de</strong>rjenige <strong>de</strong>r vorangehen<strong>de</strong>n Hinterziehung<br />
von Einfuhrumsatzsteuer nur gemeinsam gewürdigt<br />
wer<strong>de</strong>n können. Es bestehen keine sich aus <strong>de</strong>m materiellen<br />
Steuerrecht ergeben<strong>de</strong>n so engen Verzahnungen wie<br />
im Verhältnis zwischen <strong>de</strong>n Umsatzsteuervoranmeldungen<br />
und <strong>de</strong>r Umsatzsteuerjahreserklärung <strong>de</strong>s nämlichen<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
388
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Hervorzuheben<strong>de</strong> Entscheidungen <strong>de</strong>s BGH: V. Wirtschafts<strong>strafrecht</strong> und Nebengebiete<br />
Jahres. Auch aus <strong>de</strong>m Umstand, dass das Institut <strong>de</strong>r<br />
Einfuhrumsatzsteuer <strong>de</strong>n Zweck verfolgt, <strong>de</strong>n endgültigen<br />
Eingang <strong>de</strong>r Umsatzsteuer sicherzustellen, ergibt<br />
sich nicht, dass die Taten <strong>de</strong>r Hinterziehung von Einfuhrumsatzsteuer<br />
(bei <strong>de</strong>r Einfuhr) und <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n<br />
Hinterziehung von Umsatzsteuer (nach Weiterveräußerung<br />
<strong>de</strong>r eingeführten Waren) in ihrem Unrechtsund<br />
Schuldgehalt nur gemeinsam zutreffend gewürdigt<br />
wer<strong>de</strong>n könnten.<br />
945. BGH 4 StR 255/13 - Beschluss vom 14.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Kaiserslautern)<br />
Untreue (Vermögensbetreuungspflicht: faktische Vermögensbetreuungspflicht<br />
nach Erlöschen <strong>de</strong>s begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
rechtlichen Verhältnisses, Vermögensbetreuungspflicht<br />
<strong>de</strong>s Gerichtsvollziehers; Missbrauch <strong>de</strong>r<br />
Stellung als Amtsträger).<br />
§ 266 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4<br />
StGB<br />
1. Zwar erlischt grundsätzlich die Vermögensbetreuungspflicht<br />
zugleich mit <strong>de</strong>m zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n<br />
Rechtsverhältnis; diese geht nicht von selbst in ein Treueverhältnis<br />
tatsächlicher Art über. An<strong>de</strong>rs verhält es sich<br />
jedoch, wenn erloschene Rechtsverhältnisse vermögensfürsorglicher<br />
Art – auch einseitig – unter Wahrnehmung<br />
<strong>de</strong>r eingeräumten Herrschaftsposition fortgesetzt wer<strong>de</strong>n<br />
und somit ein enger sachlicher Zusammenhang mit <strong>de</strong>r<br />
zunächst begrün<strong>de</strong>ten Vermögensbetreuungspflicht besteht<br />
(vgl. BGHSt 8, 149, 150).<br />
2. Den Gerichtsvollzieher trifft kraft seiner gesetzlichen<br />
Stellung als Vollstreckungsorgan im Rahmen <strong>de</strong>s ihm<br />
erteilten Vollstreckungsauftrags eine Vermögensbetreuungspflicht<br />
gegenüber <strong>de</strong>n Gläubigern (vgl. BGH NStZ<br />
2011, 281, 282) und <strong>de</strong>n Schuldnern, soweit sich diesen<br />
zustehen<strong>de</strong> Überschüsse ergeben.<br />
3. Ein Missbrauch <strong>de</strong>r Stellung als Amtsträger liegt vor,<br />
wenn <strong>de</strong>r Amtsträger vorsätzlich rechtswidrig, insbeson<strong>de</strong>re<br />
vorsätzlich ermessenswidrig han<strong>de</strong>lt. „Befugnisse“<br />
wer<strong>de</strong>n missbraucht, wenn <strong>de</strong>r Amtsträger innerhalb<br />
seiner an sich gegebenen Zuständigkeit han<strong>de</strong>lt; Missbrauch<br />
<strong>de</strong>r „Stellung“ meint Handlungen außerhalb <strong>de</strong>s<br />
Zuständigkeitsbereichs, aber unter Ausnutzung <strong>de</strong>r<br />
durch das Amt gegebenen Handlungsmöglichkeiten. In<br />
allen Fällen knüpft <strong>de</strong>r Straferschwerungsgrund somit an<br />
<strong>de</strong>n Missbrauch <strong>de</strong>s tatsächlich innegehabten Amtes an;<br />
die bloße Vorgabe einer Amtsträgereigenschaft genügt –<br />
wie bereits <strong>de</strong>r Wortlaut <strong>de</strong>r Vorschrift („als Amtsträger“)<br />
nahelegt – nicht.<br />
897. BGH 5 StR 152/13 - Urteil vom 4. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen an ein freisprechen<strong>de</strong>s Urteil (unzureichen<strong>de</strong><br />
Beweiswürdigung; erfor<strong>de</strong>rlicher Umfang<br />
<strong>de</strong>r Würdigung von Einlassungen <strong>de</strong>s Angeklagten);<br />
Schätzkosten und Kostenrahmen bei Ausschreibungen<br />
als Betriebs- o<strong>de</strong>r Geschäftsgeheimnis.<br />
§ 267 Abs. 5 S. 1 StPO; § 17 Abs. 2 UWG<br />
1. Unter <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Geschäfts- o<strong>de</strong>r Betriebsgeheimnisses<br />
(§ 17 Abs. 2 UWG) fallen solche betriebsbezogene<br />
Tatsachen, die nach <strong>de</strong>m erkennbaren Willen <strong>de</strong>s Betriebsinhabers<br />
geheim gehalten wer<strong>de</strong>n sollen, die ferner<br />
nur einem begrenzten Personenkreis bekannt und damit<br />
nicht offenkundig sind und hinsichtlich <strong>de</strong>rer <strong>de</strong>r Betriebsinhaber<br />
<strong>de</strong>shalb ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse<br />
hat, weil die Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Tatsache geeignet<br />
wäre, <strong>de</strong>m Geheimnisträger wirtschaftlichen Scha<strong>de</strong>n<br />
zuzufügen.<br />
2. Schätzkosten und Kostenrahmen bei öffentlichen Ausschreibungen<br />
sind grundsätzlich geeignet, im Falle ihres<br />
Bekanntwer<strong>de</strong>ns <strong>de</strong>n Ausschreiben<strong>de</strong>n wirtschaftlich zu<br />
schädigen, weshalb es sich hierbei regelmäßig um Geschäfts-<br />
o<strong>de</strong>r Betriebsgeheimnisse han<strong>de</strong>lt.<br />
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Der Verteidigungswille bei Notwehr und<br />
Notwehrexzess<br />
Anmerkung zu BGH 4 StR 551/12 = BGH <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 618<br />
Von Prof. Dr. Armin Englän<strong>de</strong>r, Universität Passau<br />
Aufgrund <strong>de</strong>s politischen Kontextes hat die hier zu besprechen<strong>de</strong><br />
Entscheidung <strong>de</strong>s 4. Strafsenats einige mediale<br />
Aufmerksamkeit erfahren: Zu entschei<strong>de</strong>n war über<br />
die gewaltsame Auseinan<strong>de</strong>rsetzung eines Rechtsextremisten<br />
mit mehreren Antifa-Aktivisten. Das Urteil ist<br />
jedoch auch aus rechtswissenschaftlicher Sicht interessant,<br />
befasst es sich doch mit wichtigen Aspekten <strong>de</strong>r<br />
Notwehr und <strong>de</strong>s Notwehrexzesses. Im Mittelpunkt steht<br />
dabei mit <strong>de</strong>m Verteidigungswillen ein inzwischen schon<br />
klassisches Problem <strong>de</strong>r Notwehrdogmatik.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
389
Aufsätze und Anmerkungen<br />
1. Die gefährliche Körperverletzung nach<br />
§ 224 I Nr. 2 StGB beim gezielten<br />
Anfahren <strong>de</strong>s Opfers mit einem Kfz<br />
Auch wenn <strong>de</strong>r Schwerpunkt <strong>de</strong>r Urteilsanalyse im Folgen<strong>de</strong>n<br />
auf die Probleme rund um die Notwehr gelegt<br />
wer<strong>de</strong>n soll, eingangs eine kurze Bemerkung zur Tatbestandsebene:<br />
Da <strong>de</strong>r Angeklagte zur Begehung <strong>de</strong>r vollen<strong>de</strong>ten<br />
Körperverletzung an K und <strong>de</strong>r versuchten Körperverletzung<br />
an P und S gezielt sein Auto eingesetzt hat,<br />
stellt sich die Frage, ob dadurch <strong>de</strong>r Qualifikationstatbestand<br />
<strong>de</strong>s § 224 I Nr. 2 StGB erfüllt ist. Der Senat perpetuiert<br />
hier die Rspr. <strong>de</strong>s BGH zu <strong>de</strong>n „Fahrzeug-Fällen“.<br />
Danach soll § 224 I Nr. 2 StGB ausschei<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r<br />
Körperverletzungserfolg nicht unmittelbar als Folge eines<br />
gezielten Anfahrens mit <strong>de</strong>m Fahrzeug eintritt, son<strong>de</strong>rn<br />
erst aus einem Sturz <strong>de</strong>s Opfers zu Bo<strong>de</strong>n resultiert. In<br />
einer solchen Konstellation sei die Körperverletzung<br />
nicht „mittels“ <strong>de</strong>s gefährlichen Werkzeugs begangen. 1<br />
Das erscheint in<strong>de</strong>s zumin<strong>de</strong>st in dieser Allgemeinheit<br />
zweifelhaft. Je<strong>de</strong>nfalls dann, wenn das Opfer nicht wegen<br />
einer Ausweichbewegung, son<strong>de</strong>rn aufgrund <strong>de</strong>s Zusammenpralls<br />
mit <strong>de</strong>m Fahrzeug zu Bo<strong>de</strong>n stürzt und<br />
sich verletzt, realisiert sich die spezifische Gefährlichkeit<br />
<strong>de</strong>r Einwirkung <strong>de</strong>s Fahrzeugs auf <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Opfers,<br />
so dass die besseren Grün<strong>de</strong> für eine Bejahung <strong>de</strong>s<br />
§ 224 I Nr. 2 StGB sprechen. 2<br />
2. Die Erfor<strong>de</strong>rlichkeit <strong>de</strong>r Trutzwehr<br />
trotz Fluchtmöglichkeit<br />
Nun zur Notwehr: Für eine etwaige Rechtfertigung <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten nach § 32 StGB kommt es zunächst darauf<br />
an, ob das direkte Zufahren mit <strong>de</strong>m Auto auf die Angeklagten<br />
zur Abwehr <strong>de</strong>s Angriffs erfor<strong>de</strong>rlich war. Zutreffend<br />
weist <strong>de</strong>r Senat hier darauf hin, dass sich das Fehlen<br />
<strong>de</strong>r Erfor<strong>de</strong>rlichkeit – an<strong>de</strong>rs als das LG meint – nicht mit<br />
<strong>de</strong>r Möglichkeit <strong>de</strong>s Angeklagten, in die entgegengesetzte<br />
Richtung davon zu fahren, begrün<strong>de</strong>n lässt. Den Angegriffenen<br />
trifft im Normalfall keine Pflicht auszuweichen<br />
o<strong>de</strong>r zu fliehen. Umstän<strong>de</strong>, die eine sog. sozialethische<br />
Notwehreinschränkung rechtfertigen könnten, bei <strong>de</strong>r<br />
ausnahmsweise etwas an<strong>de</strong>res gilt, 3 sieht <strong>de</strong>r Senat zu<br />
Recht nicht. 4 Nicht ganz zu überzeugen vermag aller-<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Englän<strong>de</strong>r – Der Verteidigungswille bei Notwehr und Notwehrexzess<br />
1<br />
So bereits BGH NStZ 2007, 405 = <strong>HRRS</strong> 2007 Nr. 212;<br />
NStZ 2012, 697 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 618.<br />
2<br />
Zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nz auch OLG Jena NStZ-RR 2008,<br />
74. Näher zur Kritik <strong>de</strong>r BGH-Rspr. Eckstein NStZ 2008,<br />
125, 127 ff.; Jäger JA <strong>2013</strong>, 472, 473 f. Ebenfalls kritisch<br />
Küper BT, 8. Aufl. (2012), S. 452; Rengier BT II, 14. Aufl.<br />
(<strong>2013</strong>), § 14 Rn. 42. Dagegen folgen <strong>de</strong>m BGH Eisele BT I,<br />
2. Aufl. (2012), Rn. 336; Fischer StGB, 60. Aufl. (<strong>2013</strong>),<br />
§ 224 Rn. 7a; Krüger NZV 2007, 482 f.<br />
3<br />
Vgl. dazu Matt/Renzikowski-Englän<strong>de</strong>r StGB (<strong>2013</strong>), § 32<br />
Rn. 42 ff.<br />
4<br />
Zu einer an<strong>de</strong>ren Einschätzung könnte man womöglich<br />
gelangen, wenn man auf die vorliegen<strong>de</strong> Konstellation<br />
Überlegungen aus <strong>de</strong>m jüngeren Schrifttum – Burchard<br />
<strong>HRRS</strong> 2012, 421, 451 ff.; Jäger JA 2012, 227, 230; G. Merkel<br />
FAZ v. 19.04.2012, S. 6 – aus Anlass <strong>de</strong>r „Hells-Angels-<br />
Entscheidung“ <strong>de</strong>s 2. Strafsenats – BGH NStZ 2012, 272 =<br />
<strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 153 – überträgt, bei Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />
im Rockermilieu grds. eine sozialethische Notwehreindings<br />
die Begründung <strong>de</strong>s Senats, weshalb Ausweichen<br />
und Flucht bei <strong>de</strong>r Feststellung <strong>de</strong>r Erfor<strong>de</strong>rlichkeit grds.<br />
außer Betracht bleiben. Der Senat stützt sich auf das<br />
dualistische Notwehrmo<strong>de</strong>ll 5 , gegen das in jüngerer Zeit<br />
jedoch zu Recht grundsätzliche Einwän<strong>de</strong> vorgebracht<br />
wer<strong>de</strong>n 6 . Freilich lässt sich das Nichtbestehen einer<br />
Ausweichpflicht auch ohne <strong>de</strong>n Rückgriff auf <strong>de</strong>n problematischen<br />
Topos <strong>de</strong>s Rechtsbewährungsgedankens<br />
begrün<strong>de</strong>n. Zu beachten ist nämlich, dass in je<strong>de</strong>m Angriff<br />
stets auch eine rechtswidrige Beeinträchtigung <strong>de</strong>r<br />
Freiheit <strong>de</strong>s Angegriffenen liegt. Diese Freiheitsbeeinträchtigung<br />
wür<strong>de</strong> aber durch eine Pflicht zum Ausweichen<br />
nicht beseitigt, son<strong>de</strong>rn ganz im Gegenteil verstetigt.<br />
7<br />
3. Der Verteidigungswille bei <strong>de</strong>r<br />
Notwehr<br />
Wie eingangs ange<strong>de</strong>utet, geht es in <strong>de</strong>r zu besprechen<strong>de</strong>n<br />
Entscheidung schwerpunktmäßig um die Frage, ob<br />
die Rechtfertigung nach § 32 StGB und die Entschuldigung<br />
nach § 33 StGB voraussetzen, dass <strong>de</strong>r Täter mit<br />
einem Verteidigungswillen im Sinne einer Verteidigungsabsicht<br />
han<strong>de</strong>lt. Betrachtet sei zunächst die Notwehr und<br />
damit die Rechtswidrigkeitsebene: Dass je<strong>de</strong>r Rechtfertigungsgrund<br />
auch ein subjektives Element besitzt, ist<br />
mittlerweile weitestgehend anerkannt. Denn vollständig<br />
aufgehoben wird das Unrecht <strong>de</strong>liktstatbestandlichen<br />
Han<strong>de</strong>lns nur, wenn <strong>de</strong>r Täter die objektiv bestehen<strong>de</strong><br />
Rechtfertigungslage auch subjektiv erfasst. An<strong>de</strong>renfalls<br />
bleibt sein Verhalten nach seiner Vorstellung von <strong>de</strong>r Tat<br />
auf die Verwirklichung von Unrecht gerichtet und damit<br />
strafwürdig. 8<br />
Umstritten ist allerdings <strong>de</strong>r genaue Inhalt <strong>de</strong>s subjektiven<br />
Rechtfertigungselements. Der Senat hält hier – ohne<br />
schränkung anzunehmen. Die Begründungen für eine solche<br />
Notwehreinschränkung vermögen in<strong>de</strong>s nicht zu überzeugen.<br />
Zur Kritik vgl. Englän<strong>de</strong>r, FS Wolter, <strong>2013</strong>, S. 319,<br />
S. 323 ff.; van Rienen ZIS 2012, 377, 382 ff.<br />
5<br />
Vgl. BGHSt 24, 356, 359; 48, 207, 212; AnwK-Hauck StGB<br />
(20<strong>10</strong>), § 32 Rn. 1; Kühl AT, 7. Aufl. (2012), § 7 Rn. 6 ff.;<br />
Murmann, GK Strafrecht, 2. Aufl. (<strong>2013</strong>), § 25 Rn. 71; Roxin<br />
AT I, 4. Aufl. (2006), § 15 Rn. 1 ff.; Schönke/Schrö<strong>de</strong>r-<br />
Perron StGB, 28. Aufl. (20<strong>10</strong>), § 32 Rn. 1 f.; ausf. Kaspar<br />
RW <strong>2013</strong>, 40 ff.; van Rienen, Die „sozialethischen“ Einschränkungen<br />
<strong>de</strong>s Notwe<strong>hrr</strong>echts (2009), S. 138 ff.<br />
6<br />
Näher dazu Englän<strong>de</strong>r, Grund und Grenzen <strong>de</strong>r Nothilfe<br />
(2008), S. 7 ff. Eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Kritik aus<br />
(modifiziert-)dualistischer Sicht fin<strong>de</strong>t sich bei Kaspar RW<br />
<strong>2013</strong>, 40, 46 ff. Zur vorzugswürdigen individualistischen<br />
Notwehrkonzeption s. MüKo-Erb StGB, 2. Aufl. (2011),<br />
§ 32 Rn. 18; Frister GA 1988, 291, 299 ff.; Lesch, FS Dahs,<br />
2005, S. 81, S. 88 f.; Pawlik Das Unrecht <strong>de</strong>s Bürgers<br />
(2012), S. 237 ff.; Renzikowski, Notstand und Notwehr<br />
(1994), S. 221 ff., S. 275; ausf. – auch zu <strong>de</strong>n unterschiedlichen<br />
Begründungsansätzen im Einzelnen – Englän<strong>de</strong>r a.a.O.,<br />
S. 38 ff.<br />
7<br />
So schon Berner Archiv d. CriminalR 1848, 547, 578. Ebenso<br />
u.a. Koch ZStW <strong>10</strong>4 (1992), 785, 796; Wagner, Individualistische<br />
o<strong>de</strong>r überindividualistische Notwehrbegründung<br />
(1984), S. 32.<br />
8<br />
Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. (2011), Vor § 32 Rn. 6; LK-<br />
Rönnau StGB, 12. Aufl. (2007), Vor § 32 Rn. 82; Wessels/Beulke<br />
AT, 43. Aufl. (<strong>2013</strong>), Rn. 275; aA noch Spen<strong>de</strong>l,<br />
FS Bockelmann, 1979, S. 245 ff.<br />
390
Aufsätze und Anmerkungen<br />
inhaltliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Gegenansicht –<br />
am Standpunkt <strong>de</strong>r Rspr. fest, dass die bloße Kenntnis<br />
<strong>de</strong>r notwehrbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong> nicht genügt. Die<br />
Abwehr <strong>de</strong>s Angriffs müsse darüber hinaus in voluntativer<br />
Hinsicht zu<strong>de</strong>m das maßgebliche Handlungsmotiv für<br />
<strong>de</strong>n Verteidiger bil<strong>de</strong>n. 9 Erfor<strong>de</strong>rlich ist danach also, dass<br />
dieser auch subjektiv <strong>de</strong>n Zweck verfolgt, zu <strong>de</strong>m ihm das<br />
Gesetz eine Eingriffsbefugnis einräumt. Das be<strong>de</strong>utet:<br />
Geht es <strong>de</strong>m Angegriffenen primär darum, durch sein<br />
Zurückschlagen <strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die Angreifer zu verletzen und<br />
sind somit zumin<strong>de</strong>st ganz überwiegend an<strong>de</strong>re Motive<br />
als <strong>de</strong>r Schutz seiner Rechtsgüter für sein Verhalten ausschlaggebend,<br />
fehlt ihm nach <strong>de</strong>r Auffassung <strong>de</strong>s BGH<br />
<strong>de</strong>r Verteidigungswille. Vor diesem Hintergrund ist die<br />
Zurückverweisung <strong>de</strong>r Sache an das LG folgerichtig.<br />
Angesichts <strong>de</strong>r Äußerungen <strong>de</strong>s Angeklagten im Vorfeld<br />
<strong>de</strong>r Tat durfte die Strafkammer hier nicht ohne nähere<br />
Aufklärung <strong>de</strong>s Sachverhaltes vom Vorliegen <strong>de</strong>s Verteidigungswillens<br />
ausgehen.<br />
Die For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Senats nach einer über die Kenntnis<br />
<strong>de</strong>r notwehrbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong> hinausgehen<strong>de</strong>n<br />
Verteidigungsabsicht vermag allerdings nicht zu überzeugen.<br />
Denn solange <strong>de</strong>r Täter sich mit seinem Verhalten<br />
im Rahmen <strong>de</strong>s rechtlich Erlaubten hält und dies auch<br />
weiß, sind seine Handlungsgrün<strong>de</strong> rechtlich irrelevant.<br />
Wer <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n trotz objektiver Rechtfertigungslage<br />
und subjektiver Kenntnis <strong>de</strong>r rechtfertigungsbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Umstän<strong>de</strong> bestrafen will, weil er nicht aus <strong>de</strong>m<br />
„richtigen Motiv“ gehan<strong>de</strong>lt hat, pönalisiert nicht mehr<br />
eine unrechte Tat, son<strong>de</strong>rn allein eine missbilligte innere<br />
Einstellung, betreibt also Gesinnungs<strong>strafrecht</strong> und verstößt<br />
damit gegen das Tatschuldprinzip. <strong>10</strong> Die besseren<br />
Grün<strong>de</strong> sprechen <strong>de</strong>shalb dafür, die Kenntnis <strong>de</strong>r notwehrbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Umstän<strong>de</strong> für das subjektive Rechtfertigungselement<br />
bei <strong>de</strong>r Notwehr ausreichen zu lassen.<br />
Das hat Konsequenzen für <strong>de</strong>n vorliegen<strong>de</strong>n Fall: Eine<br />
Rechtfertigung <strong>de</strong>s Angeklagten scheitert dann keinesfalls<br />
am Fehlen <strong>de</strong>s Verteidigungswillens. Entschei<strong>de</strong>nd<br />
ist allein, ob das Zufahren mit <strong>de</strong>m Auto zur Abwehr <strong>de</strong>s<br />
Angriffs erfor<strong>de</strong>rlich war o<strong>de</strong>r nicht – was das LG in<br />
neuer Verhandlung nun zu klären hat. Käme das LG bei<br />
<strong>de</strong>r Erfor<strong>de</strong>rlichkeit zu einer positiven Einschätzung,<br />
müsste es <strong>de</strong>n Angeklagten wegen Notwehr vom Vorwurf<br />
<strong>de</strong>r vollen<strong>de</strong>ten bzw. versuchten gefährlichen Körperverletzung<br />
freisprechen.<br />
9<br />
So bereits BGH NStZ 1996, 29, 30; NStZ 2005, 332, 334 =<br />
<strong>HRRS</strong> 2005 Nr. 41; NStZ 2007, 325, 326 = <strong>HRRS</strong> 2007<br />
Nr. 202; NStZ-RR 2012, 84 = <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 14. Dem<br />
BGH zustimmend Baumann/Weber/Mitsch AT, 11. Aufl.<br />
(2003), § 17 Rn. 32; Rengier AT, 5. Aufl. (<strong>2013</strong>), § 18 Rn.<br />
<strong>10</strong>8.<br />
<strong>10</strong><br />
Ebenso i.E. Kühl (Fn. 5), § 7 Rn. 128; LK-Rönnau/Hohn (Fn.<br />
8), § 32 Rn. 266 f.; Murmann (Fn. 5), § 25 Rn. <strong>10</strong>5; MüKo-<br />
Erb (Fn. 6), § 32 Rn. 241; NK-Kindhäuser StGB, 4. Aufl.<br />
(<strong>2013</strong>), § 32 Rn. 147; Puppe AT, 2. Aufl. (2011), § 13 Rn. 5;<br />
Schönke/Schrö<strong>de</strong>r-Perron (Fn. 5) § 32 Rn. 63.<br />
Englän<strong>de</strong>r – Der Verteidigungswille bei Notwehr und Notwehrexzess<br />
4. Die rechtlichen Folgen <strong>de</strong>s<br />
Nichtvorliegens <strong>de</strong>s subjektiven<br />
Rechtfertigungselements<br />
For<strong>de</strong>rt man hingegen mit <strong>de</strong>m Senat trotz <strong>de</strong>r eben<br />
dargelegten Einwän<strong>de</strong> über die Kenntnis <strong>de</strong>r notwehrbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Umstän<strong>de</strong> hinaus auch eine Verteidigungsabsicht,<br />
stellt sich die Frage nach <strong>de</strong>n rechtlichen Folgen,<br />
falls sich in <strong>de</strong>r neuen Hauptverhandlung ergeben sollte,<br />
dass <strong>de</strong>m Angeklagten ebenjene Absicht gefehlt hat. Der<br />
Senat erörtert diese Problematik allein im Hinblick auf<br />
die Entschuldigung nach § 33 StGB, d.h. auf <strong>de</strong>r Schul<strong>de</strong>bene.<br />
Be<strong>de</strong>utsam wer<strong>de</strong>n kann die Thematik aber bereits<br />
auf <strong>de</strong>r Rechtswidrigkeitsebene im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Notwehrprüfung.<br />
Dabei kommt es zunächst wie<strong>de</strong>rum darauf an, zu welchen<br />
Ergebnissen die neue Hauptverhandlung hinsichtlich<br />
<strong>de</strong>r Erfor<strong>de</strong>rlichkeit <strong>de</strong>r vom Angeklagten ergriffenen<br />
Verteidigungsmaßnahme gelangt. Gewinnt das LG die<br />
Überzeugung, dass das Zufahren mit <strong>de</strong>m PKW zur Verteidigung<br />
nicht erfor<strong>de</strong>rlich gewesen ist, sind bereits die<br />
objektiven Voraussetzungen <strong>de</strong>s § 32 StGB nicht erfüllt.<br />
Eine Rechtfertigung schei<strong>de</strong>t dann schon aus diesem<br />
Grund aus. Relevant wird das Fehlen <strong>de</strong>r Verteidigungsabsicht<br />
hier <strong>de</strong>shalb erst auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Schuld. Dazu<br />
sogleich.<br />
An<strong>de</strong>rs verhält es sich dagegen, wenn sich in <strong>de</strong>r neuen<br />
Hauptverhandlung herausstellt, dass das Zufahren mit<br />
<strong>de</strong>m Auto zur Abwehr <strong>de</strong>s Angriffs erfor<strong>de</strong>rlich war.<br />
Objektiv betrachtet liegt dann eine Rechtfertigungslage<br />
vor. Gemäß einer u.a. von <strong>de</strong>r (allerdings nicht ausnahmslosen)<br />
Rspr. vertretenen Auffassung soll das freilich<br />
für die Rechtswidrigkeit keine Rolle spielen. Die<br />
unrechtsausschließen<strong>de</strong> Wirkung eines Rechtfertigungsgrun<strong>de</strong>s<br />
entfalle nämlich vollständig, sobald auch nur<br />
eine Voraussetzung <strong>de</strong>s Rechtfertigungstatbestan<strong>de</strong>s<br />
fehle. 11 Danach wäre <strong>de</strong>r Angeklagte hier, sofern er auch<br />
schuldhaft gehan<strong>de</strong>lt hat, wegen vollen<strong>de</strong>ter gefährlicher<br />
Körperverletzung an K zu bestrafen. Das verdient in<strong>de</strong>s<br />
keine Zustimmung. Zwar weist bei Fehlen <strong>de</strong>s subjektiven<br />
Rechtfertigungselements das Verhalten <strong>de</strong>s Täters<br />
einen subjektiven Handlungsunwert auf, da es nach seiner<br />
Vorstellung von <strong>de</strong>r Tat auf die Verwirklichung von Unrecht<br />
gerichtet ist. 12 Deshalb bleibt eine Bestrafung aus<br />
versuchtem Delikt ungeachtet <strong>de</strong>s Bestehens einer objektiven<br />
Rechtfertigungslage auch ohne weiteres möglich.<br />
Durch die objektive Rechtfertigungslage mangelt es aber<br />
an <strong>de</strong>m für eine Strafbarkeit aus vollen<strong>de</strong>tem Delikt erfor<strong>de</strong>rlichen<br />
Erfolgsunwert <strong>de</strong>r Tat. Daher kann <strong>de</strong>r Täter<br />
11<br />
BGHSt 2, 111, 114 f.; BGH NStZ 2005, 332, 334 = <strong>HRRS</strong><br />
2005 Nr. 41; Krey/Esser AT, 5. Aufl. (2012), Rn. 454 ff.;<br />
NK-Paeffgen (Fn. <strong>10</strong>), Vor §§ 32 ff Rn. 128.<br />
12<br />
Strenggenommen gilt das freilich nur in <strong>de</strong>n Fällen, in<br />
<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Täter in Unkenntnis <strong>de</strong>r Rechtfertigungslage<br />
han<strong>de</strong>lt, nicht aber dann, wenn ihm wie hier lediglich das<br />
„richtige“ Motiv fehlt. Das führt in<strong>de</strong>s wie<strong>de</strong>r zurück zu <strong>de</strong>r<br />
bereits erörterten Problematik, welchen Inhalt das subjektive<br />
Rechtfertigungselement besitzt. Deshalb soll an dieser<br />
Stelle, an <strong>de</strong>r probehalber <strong>de</strong>r Standpunkt <strong>de</strong>s Senats zum<br />
Erfor<strong>de</strong>rnis eines beson<strong>de</strong>ren Verteidigungswillens eingenommen<br />
wird, von diesem Umstand abgesehen wer<strong>de</strong>n.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
391
Aufsätze und Anmerkungen<br />
in einem solchen Fall nur wegen versuchten Delikts bestraft<br />
wer<strong>de</strong>n. 13 Lei<strong>de</strong>r nimmt <strong>de</strong>r Senat zu dieser Problematik<br />
keine Stellung. Dabei hätte er dazu im vorliegen<strong>de</strong>n Fall<br />
durchaus Anlass gehabt. Denn eine Bestrafung <strong>de</strong>s Angeklagten<br />
wegen vollen<strong>de</strong>ter gefährlicher Körperverletzung<br />
an K wäre nur auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r erstgenannten<br />
Auffassung möglich (die jedoch <strong>de</strong>n dargelegten Einwän<strong>de</strong>n<br />
ausgesetzt ist). Gera<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r<br />
bislang nicht ein<strong>de</strong>utigen Judikatur zu <strong>de</strong>n rechtlichen<br />
Folgen bei Fehlen <strong>de</strong>s subjektiven Rechtfertigungselements<br />
hat <strong>de</strong>r Senat hier eine Gelegenheit verpasst, die<br />
Position <strong>de</strong>r Rspr. zu klären.<br />
5. Der Verteidigungswille beim<br />
Notwehrexzess<br />
Auch für die Entschuldigung nach § 33 StGB 14 verlangt<br />
<strong>de</strong>r Senat eine Verteidigungsabsicht. 15 Angesichts seiner<br />
Auffassung zum Erfor<strong>de</strong>rnis einer solchen bei § 32 StGB<br />
erscheint das prima facie folgerichtig. Die Begründung,<br />
die <strong>de</strong>r Senat gibt, ist in<strong>de</strong>s keineswegs zwingend. Er<br />
argumentiert, § 33 StGB setze voraus, dass <strong>de</strong>r Täter die<br />
Grenzen <strong>de</strong>r Erfor<strong>de</strong>rlichkeit bei <strong>de</strong>r Abwehr <strong>de</strong>s Angriffs<br />
überschreite; eine Angriffsabwehr liege jedoch nicht vor,<br />
wenn <strong>de</strong>r Täter nicht mit <strong>de</strong>m Willen zur Verteidigung<br />
han<strong>de</strong>le. Dem ließe sich freilich entgegenhalten, dass<br />
objektiv betrachtet <strong>de</strong>r Angriff sehr wohl auch bei fehlen<strong>de</strong>r<br />
Verteidigungsabsicht abgewen<strong>de</strong>t wird. 16<br />
Die Lösung muss <strong>de</strong>shalb bei <strong>de</strong>r Ratio <strong>de</strong>s § 33 StGB<br />
ansetzen. Nach hM beruht die Entschuldigung beim<br />
Notwehrexzess auf <strong>de</strong>m Gedanken einer doppelten Schuldmin<strong>de</strong>rung.<br />
Erstens reduzierten die asthenischen Affekte<br />
<strong>de</strong>r Verwirrung, <strong>de</strong>r Furcht o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Schreckens die Fähigkeit<br />
<strong>de</strong>s Täters zu normgemäßem Verhalten. Und<br />
zweitens wehre er, auch wenn er die Grenzen <strong>de</strong>r Notwehr<br />
überschreite, gleichwohl einen rechtswidrigen<br />
Angriff ab, so dass seine Tat einen positiven Handlungsund<br />
Erfolgswert aufweise, <strong>de</strong>r ihren Handlungs- und<br />
Erfolgsunwert zwar nicht kompensiere, ihn jedoch herabsetze.<br />
Mit <strong>de</strong>m geringeren Unrecht gehe aber zugleich<br />
eine geschmälerte Schuld einher. Im Ergebnis führe die<br />
zweifache Schuldmin<strong>de</strong>rung dann dazu, dass das Verhalten<br />
<strong>de</strong>s Täters nicht mehr strafwürdig sei. 17 Stellt man<br />
13<br />
BGHSt 38, 144, 155 f. für <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>s § 218a; AnwK-Hauck<br />
(Fn. 5) Vor §§ 32 ff. Rn. 9; LK-Rönnau (Fn. 8) Vor §§ 32<br />
Rn. 90; Murmann (Fn. 5), § 25 Rn. <strong>10</strong>; NK-Kindhäuser (Fn.<br />
<strong>10</strong>), § 32 Rn. 148; Roxin (Fn. 5), § 14 Rn. <strong>10</strong>4 f.; SSW-<br />
Rosenau StGB (2009), Vor §§ 32 ff. Rn. 16; Schönke/Schrö<strong>de</strong>r-Lenckner/Sternberg-Lieben<br />
(Fn. 5), Vorbem.<br />
§§ 32 ff. Rn. 15; Wessels/Beulke (Fn. 8), Rn. 279; krit. zur<br />
Versuchsstrafbarkeit Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement<br />
(2002), S. 253 ff.<br />
14<br />
Zum Charakter <strong>de</strong>s § 33 StGB als Entschuldigungsgrund s.<br />
Matt/Renzikowski-Englän<strong>de</strong>r (Fn. 3), § 33 Rn. 1 ff. m.w.N.<br />
15<br />
Ebenso LK-Zieschang (Fn. 8), § 33 Rn. 48.<br />
16<br />
Ähnlich Hardtung ZStW <strong>10</strong>8 (1996), 26, 50, <strong>de</strong>r anmerkt,<br />
dass in <strong>de</strong>r gesetzlichen Formulierung <strong>de</strong>s § 33 StGB <strong>de</strong>r<br />
Notwehrwille nicht als Merkmal genannt wer<strong>de</strong>.<br />
17<br />
AnwK-Hauck (Fn. 5), § 33 Rn. 1; Die<strong>de</strong>rich, Ratio und Grenzen<br />
<strong>de</strong>s straflosen Notwehrexzesses (2001), S. 55 ff.; LK-<br />
Zieschang (Fn. 8), § 33 Rn. 35 ff.; Murmann (Fn. 5), § 26 Rn.<br />
303; Rengier (Fn. 9), § 27 Rn. 1; Schönke/Schrö<strong>de</strong>r-Perron<br />
(Fn. 5), § 33 Rn. 2.<br />
Englän<strong>de</strong>r – Der Verteidigungswille bei Notwehr und Notwehrexzess<br />
die problematischen Aspekte 18 dieses Begründungsansatzes<br />
einmal zurück und akzeptiert ihn probehalber, ist<br />
allerdings zu beachten, dass sich die Schuld nur dann in<br />
ausreichen<strong>de</strong>m Maße verringert, wenn nicht die Beweggrün<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Täters entgegenstehen. Die Verteidigung <strong>de</strong>s<br />
angegriffenen Rechtsguts muss <strong>de</strong>shalb zumin<strong>de</strong>st ein<br />
nicht völlig untergeordnetes Motiv für seine Tat darstellen.<br />
An<strong>de</strong>rs als bei § 32 genügt die bloße Kenntnis <strong>de</strong>r<br />
Notwehrlage hier nicht. 19 Denn da <strong>de</strong>r Täter sich im<br />
Unterschied zur Notwehr nicht mehr im Rahmen <strong>de</strong>s<br />
Erlaubten bewegt, ist die <strong>strafrecht</strong>liche Bewertung seiner<br />
Tat auch von seinen Handlungsgrün<strong>de</strong>n abhängig zu<br />
machen (vgl. § 46 Abs. 2 StGB).<br />
Nichts an<strong>de</strong>res ergibt sich, wenn man die Entschuldigung<br />
beim Notwehrexzess, einer vorzugswürdigen a.A.<br />
folgend, ausschließlich o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st ergänzend mit<br />
Strafzweckaspekten begrün<strong>de</strong>t. 20 Danach bedarf es in <strong>de</strong>n<br />
Fällen <strong>de</strong>s § 33 StGB we<strong>de</strong>r aus spezial-, noch aus generalpräventiven<br />
Gesichtspunkten einer Bestrafung, weil<br />
<strong>de</strong>r Täter an sich „sozial integriert“ bleibt und seine aus<br />
Gefühlen <strong>de</strong>r Schwäche resultieren<strong>de</strong> Tat nieman<strong>de</strong>n zur<br />
Nachahmung verleitet. Jedoch gilt das wie<strong>de</strong>rum nur<br />
unter <strong>de</strong>r Bedingung, dass es <strong>de</strong>m Täter um die Verteidigung<br />
seiner Rechtsgüter und nicht vorrangig um die<br />
Schädigung <strong>de</strong>s Angreifers geht.<br />
Die Ratio <strong>de</strong>s § 33 StGB spricht somit dafür, eine Verteidigungsabsicht<br />
zu for<strong>de</strong>rn und bei ihrem Fehlen eine<br />
Entschuldigung nach dieser Vorschrift prinzipiell zu<br />
versagen. Aber selbst wer diesen teleologischen Überlegungen<br />
nicht folgen mag, gelangt bei fehlen<strong>de</strong>r Verteidigungsabsicht<br />
regelmäßig zum selben Ergebnis. Denn<br />
entschuldigt ist die Überschreitung <strong>de</strong>r Notwehrgrenzen<br />
nur, wenn sie aufgrund von asthenischen Affekten erfolgt,<br />
die ihren Grund wie<strong>de</strong>rum in <strong>de</strong>r Wahrnehmung<br />
<strong>de</strong>r angriffsbedingten Bedrohung fin<strong>de</strong>n müssen. Zwar<br />
braucht es sich, wie <strong>de</strong>r Senat zutreffend betont, bei <strong>de</strong>n<br />
Gemütserregungen <strong>de</strong>r Verwirrung, Furcht o<strong>de</strong>r Schrecken<br />
nicht um die alleinigen o<strong>de</strong>r wenigstens dominanten<br />
Motive für <strong>de</strong>n Notwehrexzess zu han<strong>de</strong>ln. Ein auch<br />
sthenische Affekte wie Wut, Zorn o<strong>de</strong>r Kampfeseifer<br />
beinhalten<strong>de</strong>s Motivbün<strong>de</strong>l hin<strong>de</strong>rt die Anwendbarkeit<br />
von § 33 StGB daher keineswegs. Die asthenischen Affekte<br />
müssen die Notwehrüberschreitung jedoch zumin<strong>de</strong>st<br />
mitverursacht haben. 21 Fehlt nun die Verteidigungsabsicht,<br />
bezweckt <strong>de</strong>r Täter also primär die Schädigung <strong>de</strong>s Angreifers,<br />
stellen etwaige asthenische Affekte (sofern sie<br />
überhaupt vorliegen) aber im Normalfall lediglich bloße<br />
Begleiterscheinungen einer an<strong>de</strong>rweitig motivierten<br />
18<br />
S. dazu Matt/Renzikowski-Englän<strong>de</strong>r (Fn. 3), § 33 Rn. 2.<br />
19<br />
A.A. Dölling/Duttge/Rössner-Duttge HK Ges. StrafR, 3.<br />
Aufl. (<strong>2013</strong>), § 33 Rn. 14; Kühl (Fn. 5), § 13 Rn. 149a.<br />
20<br />
Jakobs AT, 2. Aufl. 1991, 20/28; Motsch, Der straflose Notwehrexzess<br />
(2003), S. 60 ff.; Roxin (Fn. 5), § 22 Rn. 69;<br />
Seeberg, Aufgedrängte Nothilfe, Notwehr und Notwehrexzess<br />
(2005), S. 204 ff.; als Ergänzung zum Gedanken <strong>de</strong>r<br />
doppelten Schuldmin<strong>de</strong>rung MüKo-Erb (Fn. 6), § 33 Rn. 3.<br />
21<br />
BGHSt 3, 194, 198; BGH NJW 2001, 3200, 3202; BGH<br />
NStZ 1987, 20 f.; Lackner/Kühl (Fn. 8), § 33 Rn. 3; LK-<br />
Zieschang (Fn. 8), § 33 Rn. 63 f.; weitergehend for<strong>de</strong>rn eine<br />
Dominanz <strong>de</strong>r asthenischen Affekte MüKo-Erb (Fn. 6), § 33<br />
Rn. 22; Schönke/Schrö<strong>de</strong>r-Perron (Fn. 5), § 33 Rn. 5.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
392
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Exzesstat dar, so dass eine Entschuldigung dann auch aus<br />
diesem Grund ausschei<strong>de</strong>t. 22<br />
6. Die Rechtfertigung <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r<br />
Notwehrhandlung verbun<strong>de</strong>nen<br />
Verletzung von Rechtsgütern <strong>de</strong>r<br />
Allgemeinheit<br />
Abschließend noch einmal zurück zur Rechtswidrigkeitsebene:<br />
Erweist sich in <strong>de</strong>r neuen Hauptverhandlung, dass<br />
die vollen<strong>de</strong>te Körperverletzung an K sowie die versuchten<br />
Körperverletzungen an P und S durch Notwehr gerechtfertigt<br />
sind, stellt sich noch die Frage nach <strong>de</strong>r<br />
Rechtfertigung <strong>de</strong>s gefährlichen Eingriffs in <strong>de</strong>n Straßenverkehr.<br />
Denn mit <strong>de</strong>m direkten Zufahren auf K, P und S<br />
hat <strong>de</strong>r Angeklagte im Wege eines sog. verkehrsfeindlichen<br />
Inneneingriffs 23 auch <strong>de</strong>n Tatbestand <strong>de</strong>s § 315b<br />
22<br />
In diese Richtung Heinrich AT, 3. Aufl. (2012), Rn. 590.<br />
23<br />
S. dazu Wessels/Hettinger BT I, 37. Aufl. (<strong>2013</strong>), Rn. 979 f.<br />
m.w.N.<br />
Englän<strong>de</strong>r – Der Verteidigungswille bei Notwehr und Notwehrexzess<br />
Abs. 1 Nr. 3 erfüllt. Der Senat geht hier davon aus, dass<br />
die Verletzung von Rechtsgütern <strong>de</strong>r Allgemeinheit ebenfalls<br />
von § 32 StGB gerechtfertigt wird, sofern sie untrennbar<br />
mit <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen Verteidigung verbun<strong>de</strong>n<br />
ist. 24 Das verdient in<strong>de</strong>s keine Zustimmung. § 32 StGB<br />
vermag nur die Verletzung von Rechtsgütern <strong>de</strong>s Angreifers<br />
zu rechtfertigen. Allein ihm gegenüber lässt sich die<br />
weitreichen<strong>de</strong> Eingriffsbefugnis <strong>de</strong>r Notwehrvorschrift<br />
legitimieren. Die Beeinträchtigung von Rechtsgütern <strong>de</strong>r<br />
Allgemeinheit o<strong>de</strong>r Rechtsgüter Dritter zur Angriffsabwehr<br />
kann <strong>de</strong>shalb lediglich nach Notstandsregeln gerechtfertigt<br />
wer<strong>de</strong>n. 25 Rechtfertigungsgrund ist daher im<br />
vorliegen<strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>r rechtfertigen<strong>de</strong> Notstand gem. § 34<br />
StGB und nicht die Notwehr nach § 32 StGB.<br />
24<br />
So auch schon im Hinblick auf eine waffenrechtlich unzulässig<br />
geführte Pistole BGHSt 39, 305, 308; BGH NStZ<br />
2011, 82, 83 = <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong> Nr. 954; an<strong>de</strong>rs allerdings<br />
BGH NJW 1986, 2716, 2717.<br />
25<br />
Kühl (Fn. 5), § 7 Rn. 84; Matt/Renzikowski-Englän<strong>de</strong>r (Fn.<br />
3), § 32 Rn. 23; MüKo-Erb (Fn. 6), § 32 Rn. 122 f.; NK-<br />
Kindhäuser (Fn. <strong>10</strong>), § 32 Rn. 80; Rengier (Fn. 9), § 18 Rn.<br />
31.<br />
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Zu <strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen an die<br />
Steuerhinterziehung durch Erlangen eines unrichtigen<br />
Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
Anmerkung zum Beschluss <strong>de</strong>s BGH, 1 StR 537/12, Beschluss vom<br />
22.11.2012 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 317<br />
Von Prof. Dr. Petra Wittig, LMU München<br />
I. Einleitung<br />
Der 1. Strafsenat bestätigt in <strong>de</strong>r zu besprechen<strong>de</strong>n Entscheidung<br />
zunächst seine Rechtsprechung, dass bereits<br />
die Bekanntgabe eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
die Erlangung eines tatbestandsmäßigen „nicht gerechtfertigten<br />
Steuervorteils“ i.S.d. § 370 AO darstellt.<br />
Damit macht sich <strong>de</strong>rjenige <strong>de</strong>r vollen<strong>de</strong>ten (und nicht<br />
nur versuchten) Steuerhinterziehung strafbar, <strong>de</strong>r vorsätzlich<br />
mittels unrichtiger o<strong>de</strong>r unvollständiger Angaben<br />
<strong>de</strong>n Erlass eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
erwirkt, da wegen <strong>de</strong>r Bindungswirkung <strong>de</strong>s § 182 Abs. 1<br />
S. 1 AO <strong>de</strong>r Steueranspruch <strong>de</strong>s Staates bereits hinreichend<br />
konkret gefähr<strong>de</strong>t sei.<br />
Erstmalig nimmt <strong>de</strong>r BGH dazu Stellung, ob die neuere<br />
Rechtsprechung <strong>de</strong>s BVerfG 1 zu <strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen an die Auslegung <strong>de</strong>r Untreue<br />
(§ 266 StGB) und <strong>de</strong>s Betrugs (§ 263 StGB) im Hinblick<br />
auf das Bestimmtheitsgebot <strong>de</strong>s Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG Anlass<br />
dazu gibt, von <strong>de</strong>r dargelegten bisherigen Auslegung<br />
<strong>de</strong>s § 370 Abs. 1 AO abzugehen. Der BGH sieht zunächst<br />
in seiner Rechtsprechung, wonach ein „nicht gerechtfertigter<br />
Steuervorteil“ bereits bei Erwirken eines (nach<br />
§ 182 Abs. 1 AO bin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n) Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s in<br />
Bezug auf zu niedrige Gewinnfeststellungen, nicht gerechtfertigte<br />
Verlustvorträge o<strong>de</strong>r nicht verbrauchte Verlustvorträge<br />
vorliegt, keinen Verstoß gegen das vom<br />
1<br />
BVerfGE 126, 170 = <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong> Nr. 656; BVerfGE 130, 1<br />
= <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 27.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
393
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Wittig – Zur Steuerhinterziehung durch Erlangen eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
BVerfG u.a. entwickelte „Verschleifungsverbot“ (Rn. 8).<br />
Das ist zutreffend. 2 Erfor<strong>de</strong>rlich ist aber auch nach Ansicht<br />
<strong>de</strong>s BGH, dass die Strafgerichte im Urteil darlegen,<br />
welcher Vorteil zu Unrecht festgestellt wor<strong>de</strong>n ist und<br />
welche Höhe <strong>de</strong>r Steuervorteil hat (Rn. 8). Dies sei hier<br />
durch die Tatgerichte geschehen. Es sei jedoch (verfassungsrechtlich)<br />
nicht geboten, die Vollendung <strong>de</strong>r Tat<br />
davon abhängig zu machen, „auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s bezifferten<br />
Steuervorteils die (zukünftigen) Auswirkungen auf<br />
<strong>de</strong>n Steueranspruch <strong>de</strong>s Staates zu berechnen“ (Rn. 9).<br />
Auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Strafzumessung, die von <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r<br />
Auslegung <strong>de</strong>s § 370 AO zu unterschei<strong>de</strong>n ist, sieht <strong>de</strong>r<br />
BGH we<strong>de</strong>r einen Verstoß gegen <strong>de</strong>n Grundsatz schuldangemessenen<br />
Strafens noch gegen Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG<br />
für gegeben (Rn. 19 ff.).<br />
Diese Aussagen sollen anhand <strong>de</strong>r Argumentationslinie<br />
<strong>de</strong>s BGH kritisch hinterfragt wer<strong>de</strong>n. Begrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n<br />
sie vor allem mit weitgehen<strong>de</strong>n Erwägungen zur tatbestandlichen<br />
Struktur, zum Rechtsgut und zum Deliktscharakter<br />
<strong>de</strong>s Tatbestan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Steuerhinterziehung, die in<br />
sich bereits von großer Be<strong>de</strong>utung für das Verständnis<br />
und die Auslegung <strong>de</strong>s § 370 Abs. 1 AO sein dürften, an<br />
dieser Stelle aber nicht vertieft behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n können.<br />
Das Gericht hält im Ergebnis die auf die „Rechtsgutsverletzungs<strong>de</strong>likte“<br />
<strong>de</strong>r § 263 StGB und § 266 StGB<br />
bezogenen verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich<br />
<strong>de</strong>s tatbestandlichen Vermögensscha<strong>de</strong>ns bzw. Vermögensnachteils<br />
für nicht auf <strong>de</strong>n „nicht gerechtfertigten<br />
Steuervorteil“ als tatbestandsmäßigen Erfolg <strong>de</strong>s konkreten<br />
Gefährdungs<strong>de</strong>likts <strong>de</strong>s § 370 Abs. 1 AO übertragbar.<br />
II. Zur Übertragbarkeit <strong>de</strong>r<br />
verfassungsgerichtlichen Vorgaben<br />
1. Vorbemerkung<br />
Der BGH begrün<strong>de</strong>t seine Ansicht, dass die zu <strong>de</strong>n allgemeinen<br />
Vermögens<strong>de</strong>likten entwickelten verfassungsgerichtlichen<br />
Vorgaben aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG nicht auf<br />
die Steuerhinterziehung übertragbar sind, mit Unterschie<strong>de</strong>n<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>r Tatbestandsstruktur, <strong>de</strong>s<br />
Rechtsguts und <strong>de</strong>s Deliktcharakters. Vorab ist hierzu<br />
anzumerken, dass die Entscheidungen <strong>de</strong>s BVerfG zwar<br />
unmittelbar die Auslegung <strong>de</strong>r Untreue und <strong>de</strong>s Betrugs<br />
zum Gegenstand hatten, die Vorgaben, die das BVerfG<br />
jedoch aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG für die Auslegung von<br />
Strafrechtsnormen durch die Fachgerichte entwickelt,<br />
sich we<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Wortlaut <strong>de</strong>r Entscheidung noch in<br />
<strong>de</strong>r Sache auf diese Tatbestän<strong>de</strong> beschränken. Dies sind<br />
schlagwortartig das sog. „Verschleifungsverbot“, das<br />
„Rechtsunsicherheitsminimierungsgebot“ und das „Präzisierungsgebot“<br />
3 , wobei hier insbeson<strong>de</strong>re das sog.<br />
„Verbot <strong>de</strong>r Verschleifung o<strong>de</strong>r Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen“<br />
interessiert: Danach „dürfen einzelne<br />
Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres möglichen<br />
Wortsinns nicht so weit ausgelegt wer<strong>de</strong>n, dass sie voll-<br />
ständig in an<strong>de</strong>ren Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also<br />
zwangsläufig mitverwirklicht wer<strong>de</strong>n“. 4<br />
2. Zum Argument: „Unterschiedliche<br />
Tatbestandsstruktur“<br />
Das erste Argument <strong>de</strong>s BGH lässt sich wie folgt zusammenfassen:<br />
An<strong>de</strong>rs als die allgemeinen Vermögens<strong>de</strong>likte<br />
<strong>de</strong>r §§ 263, 266 StGB, <strong>de</strong>ren Taterfolg einzig <strong>de</strong>r<br />
Eintritt eines Vermögenscha<strong>de</strong>ns bzw. Vermögensnachteils<br />
ist, enthält § 370 AO zwei alternative Tatbestandserfolge,<br />
die Steuerverkürzung und das Erlangen eines ungerechtfertigten<br />
Steuervorteils (siehe auch § 370 Abs. 4<br />
Satz 1 und Satz 2), so dass schon wegen <strong>de</strong>r unterschiedlichen<br />
Tatbestandsstruktur eine Übertragbarkeit <strong>de</strong>r<br />
verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu §§ 263, 266 StGB<br />
auf die Steuerhinterziehung „nicht nahe“ (Rn. 13) liege.<br />
Allerdings <strong>de</strong>finiert <strong>de</strong>r BGH auch in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n<br />
Entscheidung we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Steuervorteils noch<br />
grenzt er ihn von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Steuerverkürzung ab. Auch<br />
wenn – so <strong>de</strong>r BGH – die Differenzierung zwischen bei<strong>de</strong>n<br />
Taterfolgen nicht abschließend geklärt sei, han<strong>de</strong>le es<br />
sich je<strong>de</strong>nfalls nicht um einen „i<strong>de</strong>ntischen Taterfolg <strong>de</strong>s<br />
§ 370 Abs. 1 AO, die Gefährdung <strong>de</strong>s staatlichen Steueranspruchs,<br />
aus unterschiedlichen Blickwinkeln“ (Rn. 13).<br />
Für die vorliegen<strong>de</strong> Konstellation be<strong>de</strong>utet dies, dass<br />
<strong>de</strong>m Taterfolg <strong>de</strong>r Steuervorteilserlangung durch das<br />
Erwirken eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s ein<br />
weiterer Taterfolg in Gestalt einer Steuerverkürzung im<br />
Festsetzungsverfahren nachfolgen kann (aber nicht<br />
muss).<br />
Dem BGH ist darin zuzustimmen, dass sich §§ 263, 266<br />
StGB und § 370 Abs. 1 AO hinsichtlich <strong>de</strong>r Tatbestandsstruktur<br />
unterschei<strong>de</strong>n, was auch be<strong>de</strong>utet, dass Vollendung<br />
bereits mit Erlangung eines ungerechtfertigten<br />
Steuervorteils eintritt, nicht erst mit einer wie auch immer<br />
gearteten endgültigen Schädigung <strong>de</strong>s Vermögens<br />
<strong>de</strong>s Fiskus. Der Umstand jedoch, dass es bei § 370 Abs. 1<br />
AO zwei Erfolgsvarianten gibt, kann nicht die verfassungsrechtlichen<br />
Maßstäbe, die das BVerfG aus Art. <strong>10</strong>3<br />
Abs. 2 GG für die Auslegung aller Strafgesetze durch die<br />
Fachgerichte entwickelt und dann lediglich auf die verfahrensgegenständlichen<br />
allgemeinen Vermögens<strong>de</strong>likte<br />
übertragen hat, unanwendbar machen. Dies gilt insbeson<strong>de</strong>re<br />
für das oben genannte Verbot <strong>de</strong>r „Verschleifung<br />
o<strong>de</strong>r Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen“. § 370<br />
Abs. 1 AO ist ein vermögensbezogenes Erfolgs<strong>de</strong>likt, das<br />
neben <strong>de</strong>m Vorliegen einer tatbestandlichen Handlung<br />
<strong>de</strong>n Eintritt eines Erfolges entwe<strong>de</strong>r in Gestalt einer<br />
Steuervorteilserlangung o<strong>de</strong>r einer Steuerverkürzung als<br />
strafbarkeitsbegrenzen<strong>de</strong> Tatbestandsvoraussetzungen<br />
verlangt, eine „Verschleifung“ zwischen tatbestandlicher<br />
Handlung und Erfolg (egal in welcher Variante) bleibt<br />
unzulässig.<br />
4<br />
BVerfGE 126, 170, 198 = <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong> Nr. 656 m.w.N.<br />
2<br />
So auch Wittig ZIS 2011, 660, 666 f.<br />
3<br />
Siehe hierzu nur Beckemper ZJS 2011, 88; Krüger NStZ 2011,<br />
369; Kudlich JA 2011, 67; Saliger NJW 20<strong>10</strong>, 3195.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
394
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Wittig – Zur Steuerhinterziehung durch Erlangen eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
3. Zum Argument: „Unterschiedlicher<br />
Deliktscharakter/unterschiedliches<br />
Rechtsgut“<br />
Ferner argumentiert <strong>de</strong>r BGH gegen eine Übertragbarkeit<br />
<strong>de</strong>r verfassungsgerichtlichen Vorgaben auf die vorliegen<strong>de</strong><br />
Konstellation, dass §§ 263, 266 StGB Rechtsgutsverletzungs<strong>de</strong>likte<br />
darstellten, während es sich bei § 370<br />
Abs. 1 AO in bei<strong>de</strong>n Taterfolgsvarianten um ein konkretes<br />
Gefährdungs<strong>de</strong>likt han<strong>de</strong>le. Die allgemeinen Vermögens<strong>de</strong>likte<br />
setzten für ihre Vollendung <strong>de</strong>n Eintritt eines<br />
Scha<strong>de</strong>ns am Rechtsgut Vermögen voraus, so dass bei<br />
diesen allgemeinen Vermögens<strong>de</strong>likten die Annahme von<br />
Tatvollendung bei einer konkreten Gefahr wegen Art. <strong>10</strong>3<br />
Abs. 2 GG „lediglich in <strong>de</strong>n vom Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht<br />
gezogenen engen Grenzen gestattet sei“ (Rn. 14).<br />
Bei § 370 Abs. 1 AO genüge für die Vollendung bereits<br />
eine Gefährdung <strong>de</strong>s tatbestandlich geschützten Rechtsguts.<br />
Das durch § 370 AO geschützte Rechtsgut ist nach<br />
ständiger Rechtsprechung die Sicherung <strong>de</strong>s staatlichen<br />
Steueranspruchs, d.h. <strong>de</strong>s rechtzeitigen und vollständigen<br />
Steueraufkommens 5 , also letztlich <strong>de</strong>s Vermögens<br />
<strong>de</strong>s Fiskus, nach <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Entscheidung „<strong>de</strong>s<br />
öffentlichen Interesses am vollständigen und rechtzeitigen<br />
Aufkommen je<strong>de</strong>r einzelnen Steuerart“ (Rn. 17). 6<br />
Diese Gefährdung liege beim Taterfolg „Steuerverkürzung“<br />
bereits in <strong>de</strong>r zu niedrigen Festsetzung <strong>de</strong>r Steuer<br />
als solcher, bei <strong>de</strong>m Taterfolg „Steuervorteilserlangung“<br />
bereits in <strong>de</strong>r unberechtigten Gewährung <strong>de</strong>s Vorteils<br />
(§ 370 Abs. 4 Satz 2 AO), etwa in <strong>de</strong>r Konstellation <strong>de</strong>s<br />
mit Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1 Satz 1 AO) versehenen<br />
Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s.<br />
In <strong>de</strong>r Tat: Das Bemühen <strong>de</strong>s BVerfG, eine „verfassungswidrige<br />
Über<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s Untreuetatbestan<strong>de</strong>s“, nämlich<br />
„in Richtung auf ein bloßes Gefährdungs<strong>de</strong>likt“ zu vermei<strong>de</strong>n,<br />
greift nicht unmittelbar bei § 370 Abs. 1 AO,<br />
wenn man diese Strafnorm verfassungsrechtlich zulässig<br />
als konkretes Gefährdungs<strong>de</strong>likt und nicht als ein Verletzungs<strong>de</strong>likt<br />
begreift. 7 Die vom BVerfG entwickelten Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG beschränken sich<br />
aber, wie bereits ausgeführt, nicht auf diese Auslegungsfrage,<br />
son<strong>de</strong>rn sind allgemeiner Natur. Das hier maßgebliche<br />
Verschleifungsverbot bezieht sich nicht auf Rechtsgutsverletzungen,<br />
son<strong>de</strong>rn auf Tatbestandsmerkmale.<br />
Auch konkrete Gefährdungs<strong>de</strong>likte sind Erfolgs<strong>de</strong>likte.<br />
Und dieser Erfolg (o<strong>de</strong>r bei § 370 AO die Taterfolge) ist –<br />
wie bei Verletzungs<strong>de</strong>likten auch – ein Tatbestandmerkmal.<br />
Deshalb ist eine Übertragbarkeit <strong>de</strong>r verfassungsrechtlichen<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen, die das BVerfG hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
5<br />
BGHSt 53, 71, 80 = <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 127 m.w.N.<br />
6<br />
Zwar umschreibt <strong>de</strong>r BGH zutreffend, dass sich das<br />
Rechtsgut <strong>de</strong>r allgemeinen Vermögens<strong>de</strong>likte und <strong>de</strong>r<br />
Steuerhinterziehung unterschei<strong>de</strong>n, warum dies aber gegen<br />
eine Übertragbarkeit <strong>de</strong>r verfassungsgerichtlichen Vorgaben<br />
sprechen soll, wird nicht klar. Letztlich argumentiert<br />
<strong>de</strong>r BGH an dieser Stelle nur mit <strong>de</strong>m unterschiedlichen<br />
Deliktscharakter.<br />
7<br />
So auch Wittig ZIS 2011, 660, 667.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Feststellung einer konkreten Vermögensgefährdung 8 bei<br />
§ 266 StGB und § 263 StGB, insbeson<strong>de</strong>re im Hinblick<br />
auf die Bezifferbarkeit aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG entwickelt<br />
hat, auf das Tatbestandsmerkmal Steuervorteilerlangung<br />
nicht per se ausgeschlossen. Wird § 370 Abs. 1 AO in<br />
bei<strong>de</strong>n Taterfolgsvarianten als konkretes Gefährdungs<strong>de</strong>likt<br />
verstan<strong>de</strong>n, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstan<strong>de</strong>n<br />
ist 9 , muss durch die Fachgerichte fallbezogen<br />
präzisiert wer<strong>de</strong>n, worin wirtschaftlich genau die konkrete<br />
(und nicht nur abstrakte) Gefährdung <strong>de</strong>s staatlichen<br />
Steueranspruchs (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s öffentlichen Interesses daran)<br />
liegt. An<strong>de</strong>rnfalls ist <strong>de</strong>r eigenständige strafbarkeitsbegrenzen<strong>de</strong><br />
Gehalt dieses Merkmals nicht mehr zu erkennen,<br />
<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG wird<br />
nicht entsprochen. Die Berufung auf die Bindungswirkung<br />
<strong>de</strong>s Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s für die späteren Festsetzungsbeschei<strong>de</strong><br />
gem. Art 182 Abs. 1 Satz 1 AO genügt<br />
dafür nicht. Die Grün<strong>de</strong> für die hier vertretene Ansicht<br />
hat die Verfasserin bereits an an<strong>de</strong>rer Stelle im Einzelnen<br />
dargelegt. <strong>10</strong><br />
III. Zur Bezifferung <strong>de</strong>s erlangten<br />
Steuervorteils als Grundlage <strong>de</strong>r<br />
Strafzumessung<br />
Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r BGH die verfassungsgerichtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
an die Tatvollendung bei §§ 263, 266 StGB für<br />
nicht auf die Auslegung <strong>de</strong>s § 370 AO übertragbar erklärt<br />
hat, führt er aus, dass „we<strong>de</strong>r das Verfassungsgebot<br />
schuldangemessenen Strafens noch Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG<br />
die Bezifferung <strong>de</strong>r sich aus <strong>de</strong>n Feststellungsbeschei<strong>de</strong>n<br />
ergeben<strong>de</strong>n Auswirkungen auf die Besteuerung <strong>de</strong>r begünstigten<br />
Steuerpflichtigen als Grundlage <strong>de</strong>r Strafzumessung“<br />
geböten (Rn. 19). Mit <strong>de</strong>m Verfassungsgebot<br />
schuldangemessenen Strafens 11 wird neben <strong>de</strong>m Bestimmtheitsgebot<br />
ein weiterer rechtlicher Gesichtspunkt<br />
allerdings nun nicht auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s<br />
Tatbestan<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Strafzumessung eingeführt.<br />
Gleichzeitig fin<strong>de</strong>n sich hier aber auch Anhaltspunkte für<br />
die Feststellung <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s Steuervorteils, die auch für<br />
<strong>de</strong>n BGH wegen <strong>de</strong>s Verschleifungsverbots von <strong>de</strong>n<br />
Strafgerichten zu ermitteln und im Urteil darzulegen sind<br />
(Rn. 8).<br />
Grundlage für die Zumessung <strong>de</strong>r Strafe ist auch bei<br />
§ 370 AO die persönliche Schuld <strong>de</strong>s Täters. 12 Zwar sei –<br />
so <strong>de</strong>r BGH – die Höhe <strong>de</strong>r hinterzogenen Steuern ein<br />
bestimmen<strong>de</strong>r Strafzumessungsfaktor, die Strafzumes-<br />
8<br />
Nach Ansicht <strong>de</strong>s BVerfG ist es nämlich grundsätzlich mit<br />
<strong>de</strong>m verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar,<br />
bereits bei <strong>de</strong>r konkreten Gefahr eines zukünftigen<br />
Verlusts einen gegenwärtigen Vermögensscha<strong>de</strong>n anzunehmen<br />
(s. BVerfGE 126, 170 [221 ff.] = <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong> Nr.<br />
656; BVerfGE 130, 1 [47] = <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 27).<br />
9<br />
Siehe auch Wittig ZIS 2011, 660, 667. Dies be<strong>de</strong>utet jedoch<br />
nicht, dass für diese Auslegung die besseren inhaltlichen<br />
Argumente sprechen, son<strong>de</strong>rn nur, dass aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2<br />
GG eine solche Auslegung durch die Fachgerichte nicht zu<br />
beanstan<strong>de</strong>n ist.<br />
<strong>10</strong><br />
Wittig ZIS 2011, 660, 667 f.<br />
11<br />
St. Rspr. vgl. nur BVerfGE 20, 323, 331; BVerfGE 25, 269,<br />
286; BVerfGE 50, 5, 12; BVerfGE 54, <strong>10</strong>0, <strong>10</strong>8.<br />
12<br />
Zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung BGHSt 53,<br />
71, 79 ff. = <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 127.<br />
395
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Wittig – Zur Steuerhinterziehung durch Erlangen eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
sung erfolge jedoch nicht „tarifmäßig“, son<strong>de</strong>rn „einzelfallbezogen<br />
nach <strong>de</strong>n in § 46 StGB genannten Kriterien“<br />
(Rn. 20). 13 Immerhin lasse sich die „Dimension <strong>de</strong>r Gefährdung<br />
<strong>de</strong>s geschützten Rechtsguts“ in <strong>de</strong>r hier zu<br />
beurteilen<strong>de</strong>n Konstellation „anhand <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s im<br />
Feststellungsbescheid ausgewiesenen Steuervorteils<br />
erkennen“, dies genüge „angesichts <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s § 370<br />
AO … ungeachtet <strong>de</strong>r noch nicht bezifferten Auswirkungen<br />
auf die Steuerlast als Grundlage für die Strafzumessung“<br />
(Rn. 21). Somit bleibe für <strong>de</strong>n Täter nicht unklar,<br />
„was für eine Art von Steuervorteil in welcher Höhe von<br />
ihm erlangt wor<strong>de</strong>n sei“ (Rn. 21). Nicht <strong>de</strong>utlich wird<br />
nach <strong>de</strong>m Beschluss dagegen, warum <strong>de</strong>r Steuervorteil<br />
von <strong>de</strong>m Täter („von ihm“) erlangt wor<strong>de</strong>n ist, wenn<br />
je<strong>de</strong>nfalls in <strong>de</strong>r Regel (zumin<strong>de</strong>st auch) die wirtschaftliche<br />
Besserstellung Dritter erfolgt (z.B. bei Abschreibungsgesellschaften<br />
<strong>de</strong>r Gesellschafter). 14 Allerdings<br />
kann nach <strong>de</strong>r Formulierung <strong>de</strong>s § 370 Abs. 1 AO <strong>de</strong>r<br />
Täter <strong>de</strong>n Steuervorteil „für sich o<strong>de</strong>r einen an<strong>de</strong>ren“<br />
erlangen. 15 Insgesamt dürfte es für die Kriterien schuldangemessen<br />
Strafens unter Zugrun<strong>de</strong>legung <strong>de</strong>r BGH-<br />
Rechtsprechung, wonach <strong>de</strong>r Steuervorteil bereits in <strong>de</strong>r<br />
Erwirkung <strong>de</strong>s Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s liegt, ausreichen,<br />
auf die Höhe <strong>de</strong>s im Feststellungsbescheid ausgewiesenen<br />
Steuervorteils abzustellen.<br />
Problematischer ist es dagegen, ob dies tatsächlich auch<br />
<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG genügt.<br />
Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG erfasst nicht nur <strong>de</strong>n Straftatbestand<br />
an sich, son<strong>de</strong>rn auch die Strafandrohung. 16 Nach Ansicht<br />
<strong>de</strong>s BGH soll auch das Regelbeispiel <strong>de</strong>s § 370 Abs.<br />
3 Satz 1 AO („großes Ausmaß“), das auch auf die Taterfolgsvariante<br />
<strong>de</strong>r Steuervorteilserlangung anwendbar sei,<br />
eine Feststellung und Bezifferung <strong>de</strong>r Auswirkungen<br />
eines Steuervorteils nicht verlangen. 17 Strafzumessungs-<br />
13<br />
S. auch BGHSt 53, 71, 80.<br />
14<br />
Denkbar sind auch Fälle, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Täter überhaupt<br />
keinen eigenen Vorteil erlangt hat. Welche Verwerfungen<br />
die Rechtsprechung zur vollen<strong>de</strong>ten Steuerhinterziehung<br />
durch Erwirkung eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
(ohne Berücksichtigung <strong>de</strong>r Auswirkungen auf das Steueraufkommen)<br />
aufwirft, zeigt sich auch, wenn bei einer<br />
Selbstanzeige im Falle <strong>de</strong>r Erwirkung eines unrichtigen<br />
Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r vom Täter gem. § 371 Abs. 3<br />
AO nachzuzahlen<strong>de</strong> Betrag ermittelt wer<strong>de</strong>n soll. Dieser<br />
richtet sich bei <strong>de</strong>r zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n wirtschaftlichen Betrachtungsweise<br />
danach, „in welchem Umfange <strong>de</strong>r Täter<br />
von <strong>de</strong>r Tat profitierte bzw. in welchem Umfange durch<br />
sein Verhalten <strong>de</strong>m Fiskus ein Scha<strong>de</strong>n entstan<strong>de</strong>n ist“<br />
(Joecks in: Franzen/Gast/Joecks, Steuer<strong>strafrecht</strong> mit Zollund<br />
Verbrauchssteuerrecht, 7. Aufl. [2009], § 371 Rn.<br />
<strong>10</strong>5). Entschei<strong>de</strong>nd ist also, welche Beträge <strong>de</strong>m Fiskus bei<br />
steuerehrlichem Verhalten zugeflossen wären, was erst<br />
nach <strong>de</strong>r Steuerfestsetzung in <strong>de</strong>n Folgebeschei<strong>de</strong>n feststeht,<br />
nicht aber aufgrund <strong>de</strong>s im Feststellungsbescheid<br />
ausgewiesenen Betrags.<br />
15<br />
Denkbar ist allerdings auch, dass <strong>de</strong>r Steuervorteilerlangung<br />
keine Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren<br />
nachfolgt, so dass bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise<br />
we<strong>de</strong>r ein Nachteil <strong>de</strong>s Fiskus noch ein Vorteil beim<br />
Täter o<strong>de</strong>r einem Dritten eintritt. Schon <strong>de</strong>shalb erscheint<br />
es nicht sachgerecht, auf <strong>de</strong>n im Feststellungsbescheid ausgewiesenen<br />
Betrag abzustellen.<br />
16<br />
BVerfG NJW 2008, 3627, 3628 = <strong>HRRS</strong> 2008 Nr. 830; s.<br />
auch BVerfGE 45, 363, 372; BVerfGE 86, 288, 311.<br />
17<br />
Zu <strong>de</strong>r Bestimmung <strong>de</strong>s Merkmals „großen Ausmaß“ bei<br />
einer Steuerverkürzung s. BGHSt 53, 71, 81 ff.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
regeln, die einen erhöhten Strafrahmen an das Vorliegen<br />
eines „beson<strong>de</strong>rs schweren Falls” knüpfen, sind aber<br />
ebenfalls am Bestimmtheitsgebot <strong>de</strong>s Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG<br />
zu messen. 18 Dies gilt auch für das Regelbeispiel <strong>de</strong>r<br />
Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“. 19 Diese Frage<br />
bedarf keiner abschließen<strong>de</strong>n Klärung; immerhin aber<br />
lässt sich argumentieren, dass auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Strafzumessung<br />
im Hinblick auf das Gebot schuldangemessenen<br />
Strafens, das in einem Spannungsverhältnis zum<br />
Bestimmtheitsgrundsatz steht 20 , das Abstellen nicht auf<br />
die endgültigen Auswirkungen <strong>de</strong>s Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
auf das Steueraufkommen, son<strong>de</strong>rn auf die Höhe <strong>de</strong>s<br />
im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Betrags noch<br />
verfassungsgemäß ist.<br />
IV. Zur Bezifferung <strong>de</strong>s Steuervorteils als<br />
Voraussetzung einer<br />
verfassungsgemäßen fallbezogenen<br />
Tatbestandsauslegung<br />
Die Ausführungen <strong>de</strong>s BGH zur Bezifferung <strong>de</strong>s Steuervorteils<br />
als Grundlage <strong>de</strong>r Strafzumessung werfen abschließend<br />
die Frage auf, ob es <strong>de</strong>n verfassungsgerichtlichen<br />
Maßstäben aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG an die fachgerichtliche<br />
Auslegung <strong>de</strong>s Straftatbestan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s § 370 AO<br />
auf Tatbestandsebene genügt, wenn lediglich die Höhe<br />
<strong>de</strong>s im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Steuervorteils<br />
<strong>de</strong>m Urteil zugrun<strong>de</strong> gelegt wird; dies unter <strong>de</strong>r<br />
Prämisse, dass die Ausführungen <strong>de</strong>s BVerfG zur Bezifferung<br />
<strong>de</strong>s Vermögensscha<strong>de</strong>ns bzw. Vermögensnachteils<br />
auch auf die Steuervorteilserlangung zu übertragen<br />
sind. 21 Hierbei ist zu be<strong>de</strong>nken, dass die Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG an die Bestimmtheit <strong>de</strong>r Strafdrohung<br />
an<strong>de</strong>re (und weniger strenge) sind als die an die<br />
Auslegung <strong>de</strong>r Straftatbestän<strong>de</strong>.<br />
Das BVerfG for<strong>de</strong>rt die Fachgerichte bei <strong>de</strong>r Auslegung<br />
<strong>de</strong>r allgemeinen Vermögens<strong>de</strong>likte auf, „die Scha<strong>de</strong>nsfeststellung<br />
auf eine sichere Grundlage zu stellen, sie<br />
rational nachvollziehbar zu machen und sich zu vergewissern,<br />
ob im Einzelfall eine hinreichend sichere Grundlage<br />
für die Feststellung eines Vermögensnachteils überhaupt<br />
existiert o<strong>de</strong>r ob man sich in einem Bereich bewegt,<br />
in <strong>de</strong>m von einem zahlenmäßig fassbaren Scha<strong>de</strong>n<br />
noch nicht die Re<strong>de</strong> sein kann“ 22 . Eine solche Bezifferung<br />
könne lediglich bei einfach gelagerten und ein<strong>de</strong>utigen<br />
Fällen (etwa bei einem greifbaren Min<strong>de</strong>stscha<strong>de</strong>n) unterbleiben,<br />
nicht aber aus <strong>de</strong>r Erwägung heraus, „daß sie<br />
mit praktischen Schwierigkeiten verbun<strong>de</strong>n ist“ 23 . Diese<br />
Grundsätze sind auf das Tatbestandsmerkmal Erlangung<br />
eines ungerechtfertigten Steuervorteils zu übertragen.<br />
Die zur Verfügung stehen<strong>de</strong> Metho<strong>de</strong>, die Höhe <strong>de</strong>s<br />
18<br />
BVerfG NJW 2008, 3627, 3628 = <strong>HRRS</strong> 2008 Nr. 830.<br />
19<br />
Übersicht bei Kuhlen, Grundfragen <strong>de</strong>r strafbaren Steuerhinterziehung<br />
(2012), S, 49 f.; s. auch zu § 370a AO a.F.<br />
BGH NStZ 2005, <strong>10</strong>5 = <strong>HRRS</strong> 2004 Nr. 714.<br />
20<br />
Wegen dieses Spannungsverhältnisses sind insoweit weniger<br />
strenge Maßstäbe anzulegen (BVerfGE <strong>10</strong>5, 135 [154<br />
f.]; Schönke/Schrö<strong>de</strong>r/Eser/Hecker, StGB, 28. Aufl. [20<strong>10</strong>],<br />
§ 46 Rn. 22 m.w.N.).<br />
21<br />
Hierzu ausführlich Wittig ZIS 2011, 660, 667 sowie oben II.<br />
22<br />
BVerfGE 126, 170, 212 = <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong> Nr. 656.<br />
23<br />
BVerfGE 126, 170, 211 = <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong> Nr. 656.<br />
396
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Wittig – Zur Steuerhinterziehung durch Erlangen eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
Steuervorteils (auf Tatbestandsebene) zu ermitteln, ist,<br />
die Auswirkungen auf die Steuerlast zu beziffern, was<br />
erst nach <strong>de</strong>r Festsetzung möglich sein wird.<br />
V. Zusammenfassung<br />
Der BGH bleibt letztlich eine Antwort schuldig, warum<br />
die verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu <strong>de</strong>r Auslegung<br />
von Strafgesetzen durch die Fachgerichte nicht auf § 370<br />
AO und die Konstellation <strong>de</strong>r Steuerhinterziehung durch<br />
Erwirkung eines unrichtigen Feststellungsbeschei<strong>de</strong>s<br />
übertragbar sein sollen. Dies gilt insbeson<strong>de</strong>re für das<br />
Verbot <strong>de</strong>r „Verschleifung“ und Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen,<br />
das nach hiesiger Ansicht fallbezogen<br />
eine Bezifferung <strong>de</strong>r Auswirkungen <strong>de</strong>s erlangten Steuervorteils<br />
auf das staatliche Steueraufkommen anhand<br />
wirtschaftlicher Kriterien erfor<strong>de</strong>rt. Der Hinweis auf die<br />
unterschiedliche Tatbestandsstruktur und <strong>de</strong>n unterschiedlichen<br />
Deliktscharakter <strong>de</strong>r allgemeinen Vermögens<strong>de</strong>likte<br />
einerseits und <strong>de</strong>r Steuerhinterziehung an<strong>de</strong>rerseits<br />
genügt nicht. Selbst wenn im Bereich <strong>de</strong>r Strafzumessung<br />
unter Berücksichtigung <strong>de</strong>s Grundsatzes<br />
schuldangemessenen Strafens kein Verstoß gegen das<br />
Bestimmtheitsgebot aus Art. <strong>10</strong>3 Abs. 2 GG vorliegen<br />
sollte, gilt dies nicht für die Tatbestandsebene, für die das<br />
BVerfG seine Vorgaben entwickelt hat.<br />
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit<br />
<strong>de</strong>r EMRK<br />
Zugleich eine Besprechung <strong>de</strong>r Entscheidung <strong>de</strong>s OLG München vom<br />
17.Januar <strong>2013</strong> – 4 StRR (A) 18/12<br />
Von Aka<strong>de</strong>m. Rat a. Z. Dr. Christoph Zehetgruber, Universität Bayreuth<br />
I. Einführung<br />
Die Beschäftigung mit und – um die Terminologie <strong>de</strong>s<br />
BVerfG in einer für die Thematik ausgesprochen be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n<br />
Entscheidung zu verwen<strong>de</strong>n 1 – „Berücksichtigung“<br />
<strong>de</strong>r EMRK bei <strong>de</strong>r Auslegung und Anwendung<br />
nationalen Straf- und Strafprozessrechts erscheint immer<br />
noch von großer Skepsis bzw. Geringschätzung gegenüber<br />
<strong>de</strong>m allein zur autonomen Auslegung <strong>de</strong>r EMRK<br />
befugten Organ, <strong>de</strong>m EGMR geprägt. Ziel <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n<br />
Beitrags ist zum einen (nochmals) 2 darzulegen, weshalb<br />
§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit zur Anwendung<br />
gebrachten Form konventionswidrig ist sowie <strong>de</strong>n<br />
Argumenten bzw. Formalismen <strong>de</strong>s OLG München und<br />
an<strong>de</strong>rer, in ähnlichen Fallkonstellationen nahezu i<strong>de</strong>nt<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r OLG entgegenzutreten und aufzuzeigen,<br />
dass eine konventionsfreundliche Auslegung <strong>de</strong>r Vorschrift<br />
<strong>de</strong>s § 329 StPO sehr wohl „im Rahmen gelten<strong>de</strong>r<br />
1<br />
BVerfG NJW 2004, 3407, 34<strong>10</strong>, 3411 (Görgülü) = <strong>HRRS</strong><br />
2004 Nr. 867.<br />
2<br />
So bereits Meyer-Mews NJW 2002, 1928, 1929; vorausschauend,<br />
wenngleich kritisch LR-StPO/Esser, 26. Aufl.<br />
(2012) EMRK Art. 6 Rn. 708 – 7<strong>10</strong>.<br />
methodischer Standards“ möglich ist, da „Auslegungsund<br />
Abwägungsspielräume“ eröffnet sind. 3<br />
II. § 329 Abs. 1 StPO und das Recht <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten auf wirksame Verteidigung<br />
nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK<br />
1. § 329 Abs.1 S. 1 StPO und <strong>de</strong>ssen<br />
Auslegung im nationalen Recht<br />
Das Regelungsziel <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist das<br />
Hintanhalten von Verfahrensverzögerungen, die durch<br />
„unentschuldigtes“ Fernbleiben <strong>de</strong>s ordnungsgemäß<br />
gela<strong>de</strong>nen, über die Folgen seines Fernbleibens informierten<br />
und <strong>de</strong>nnoch nicht zur Berufungsverhandlung<br />
erschienenen Angeklagten eintreten können. 4 Als Rechtsfolge<br />
bestimmt die genannte Norm, dass die Berufung<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten ohne jegliche Sachprüfung zu verwerfen<br />
3<br />
Vgl. BVerfG NJW 2004, 3407, 3411 (Görgülü) = <strong>HRRS</strong><br />
2004 Nr. 867.<br />
4<br />
BeckOK-StPO/Eschelbach, 15. Aufl. (2012) § 329 Rn. 1; KK-<br />
StPO/Paul 6. Aufl. (2008) § 329 Rn. 1; LR-StPO/Gössel 26.<br />
Aufl. (2012) § 329 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 55.<br />
Aufl. (2012) § 329 Rn. 2.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
397
Aufsätze und Anmerkungen<br />
ist, eine weitere Sachaufklärung somit entfällt. 5 Rechtstechnisch<br />
geschieht dies durch die Verkündung eines<br />
(reinen) Prozessurteils, 6 welches mit Revision 7 o<strong>de</strong>r<br />
Wie<strong>de</strong>reinsetzung 8 bekämpft wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Mit § 329 Abs. 1 S. 1 StPO hat sich <strong>de</strong>r Gesetzgeber<br />
entschie<strong>de</strong>n, das durchaus diffizile Verhältnis zwischen<br />
<strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>r Erforschung <strong>de</strong>r materiellen Wahrheit im<br />
Strafverfahren und <strong>de</strong>m sog. Beschleunigungsgebot,<br />
angereichert um einen nicht näher <strong>de</strong>finierten Missbrauchsabwehraspekt,<br />
9 zu Gunsten <strong>de</strong>s Letztgenannten<br />
zu entschei<strong>de</strong>n, wobei an dieser Stelle das Rangverhältnis<br />
<strong>de</strong>r genannten Prinzipien <strong>10</strong> zueinan<strong>de</strong>r in Frage zu stellen<br />
ist. Die Rechtsordnung, insbeson<strong>de</strong>re das Strafrecht bzw.<br />
Strafverfahren als „ultima ratio“ <strong>de</strong>s menschlichen<br />
Rechtsgüterschutzes gebietet eine möglichst genaue,<br />
keinesfalls allein von ökonomisch-zeitlichen Vorgaben<br />
bestimmte, tatsächliche wie rechtliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit <strong>de</strong>m zu entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Rechtsfall sowohl im<br />
Hauptverfahren wie auch in <strong>de</strong>r Berufungsinstanz. Dazu<br />
zählt neben einer exakten Aufklärung <strong>de</strong>r tatsächlichen<br />
Ereignisse (Sachaufklärung) zweifellos das Eingehen auf<br />
und die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Verantwortung <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten. Es ist aus diesem Grund wenig einsichtig,<br />
warum <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>r zeitlichen Durchführung und<br />
Beschleunigung <strong>de</strong>s Berufungsverfahrens vom Gesetzgeber<br />
<strong>de</strong>r Vorrang vor <strong>de</strong>m Grundprinzip <strong>de</strong>s Strafverfahrens,<br />
<strong>de</strong>r Erforschung <strong>de</strong>r materiellen Wahrheit, eingeräumt<br />
wor<strong>de</strong>n ist, wie dies in § 329 Abs. 1 S. 1 StPO in<br />
<strong>de</strong>r noch gelten<strong>de</strong>n Fassung zum Ausdruck gelangt,<br />
stün<strong>de</strong>n doch (vgl. nur § 329 Abs. 4 StPO) <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong><br />
nach ausreichen<strong>de</strong> Möglichkeiten zur Verfügung, <strong>de</strong>n<br />
Angeklagten vorla<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r verhaften zu lassen, ohne die<br />
Sachaufklärung gänzlich zu unterlassen und die rechtlichen<br />
Aspekte seiner Berufung zu negieren.<br />
Von Seiten <strong>de</strong>r jüngeren Rechtsprechung wer<strong>de</strong>n ferner<br />
die Prinzipien <strong>de</strong>r Unmittelbarkeit und Mündlichkeit zur<br />
Begründung <strong>de</strong>r Ablehnung <strong>de</strong>r Möglichkeit eines Abwesenheitsverfahrens<br />
für <strong>de</strong>n Beschuldigten, <strong>de</strong>r durch<br />
unentschuldigtes Fernbleiben über seine Rechte auf<br />
rechtliches Gehör und Verteidigerbeistand disponieren<br />
könnte, unter Hinweis auf die durch die gesetzliche Regelung<br />
zum Ausdruck gelangen<strong>de</strong> Verhältnismäßigkeit<br />
<strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO bemüht. 11 Auch diese von <strong>de</strong>r<br />
5<br />
BeckOK-StPO/Eschelbach § 329 Rn. 1 (Fn. 4); LR/Gössel<br />
(Fn. 4) § 329 Rn. 60, 61.<br />
6<br />
KK/Paul (Fn. 4) § 329 Rn. 14; LR/Gössel (Fn. 4) § 329 Rn.<br />
69.<br />
7<br />
Vgl. allgemein dazu nur BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 4)<br />
§ 329 Rn 55 ff.; KK/Paul (Fn. 4) § 329 Rn. 14, 22; LR/Gössel<br />
(Fn. 4) § 329 Rn. 95 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 4) § 329<br />
Rn. 48 ff.<br />
8<br />
Vgl. allgemein dazu nur KK/Paul (Fn. 4) § 329 Rn. 23, 24;<br />
LR/Gössel (Fn. 4) § 329 Rn. 111 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt<br />
(Fn. 4) § 329 Rn. 40 ff.<br />
9<br />
So etwa BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 4) § 329 Rn. 1.<br />
<strong>10</strong><br />
BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 4) § 329 Rn. 6 spricht zutreffend<br />
von einem „Spannungsverhältnis zwischen <strong>de</strong>m Verfahrenszweck<br />
und <strong>de</strong>m Interesse an Prozessökonomie“;<br />
KK/Paul (Fn. 4) § 329 Rn. 1.<br />
11<br />
BVerfG StraFo 2007, 190, 192 (Neziraj); OLG Düsseldorf<br />
Beschl. v. 27.2.2012 III-2 RVs 11/12 Rn 11 und OLG<br />
Hamm Beschl. v. 14.6.2012 III-1 RVs 41/12 Rn. 8 (wörtliche<br />
Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>r Ausführungen <strong>de</strong>s BVerfG in seinem<br />
Beschl. im Fall Neziraj), bei<strong>de</strong> zitiert nach juris.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
Rechtsprechung wie<strong>de</strong>rholt als „Strukturprinzipen <strong>de</strong>s<br />
Strafprozessordnung“ bezeichneten Rechtsinstitute 12<br />
vermögen im Rahmen einer Abwägung das höherrangige<br />
Ziel <strong>de</strong>s Strafverfahrens – i.S. <strong>de</strong>s Grundsatzes <strong>de</strong>r materiellen<br />
Wahrheitserforschung – das tatsächliche Geschehen<br />
zu eruieren, dieses unter <strong>strafrecht</strong>lichen Gesichtspunkten<br />
zu würdigen und <strong>de</strong>n Beschuldigten dabei, als<br />
wichtiger Teilaspekt, seine Rechte ausüben zu lassen,<br />
keinesfalls als geringer einzustufen. Unmittelbarkeit und<br />
Mündlichkeit rangieren i.d.S. unter <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>m Strafverfahren<br />
innewohnen<strong>de</strong>n Suche nach <strong>de</strong>m tatsächlich Geschehenen<br />
und <strong>de</strong>mzufolge rechtlich zu Folgen<strong>de</strong>n, können<br />
dieses Ziel also nicht verdrängen. Darüber hinaus ist<br />
nicht einsichtig, weswegen zwar <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r Unmittelbarkeit<br />
und Mündlichkeit <strong>de</strong>s Verfahrens ein so großer<br />
Stellenwert eingeräumt wird, bei Fernbleiben <strong>de</strong>s Angeklagten<br />
aber nicht versucht wird, diese Unmittelbarkeit<br />
und Mündlichkeit herzustellen, son<strong>de</strong>rn sogleich ein<br />
Verzicht auf jegliche mündliche und inhaltliche Verhandlung<br />
seitens <strong>de</strong>s Gesetzgebers erfolgt und <strong>de</strong>m Angeklagten<br />
damit seine Verteidigungsmöglichkeiten genommen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Als Begründung <strong>de</strong>r Rechtsfolge <strong>de</strong>s § 329 Abs.1 S. 1<br />
StPO wird vereinzelt noch mittels einer wi<strong>de</strong>rlegbaren<br />
gesetzlichen Vermutung die Ansicht vertreten, ein zur<br />
Berufungsverhandlung nicht erscheinen<strong>de</strong>r Angeklagter<br />
wolle sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgen, 13 was<br />
je<strong>de</strong>nfalls in Fällen eines anwesen<strong>de</strong>n, vertretungsbefugten<br />
und zur Verteidigung bereiten Verteidigers nicht<br />
schlüssig zu begrün<strong>de</strong>n sein wird, bringt doch <strong>de</strong>r abwesen<strong>de</strong><br />
Angeklagte durch die Entsendung seines Verteidigers<br />
<strong>de</strong>utlich zum Ausdruck, sein Rechtsmittel wahrnehmen<br />
zu wollen. Überwiegend geht die h.M. freilich in<br />
Bezug auf § 329 Abs. 1 S. 1 StPO davon aus, dass im<br />
unentschuldigten Nichterscheinen <strong>de</strong>s Angeklagten zur<br />
Berufungsverhandlung, welches einen Verstoß gegen<br />
seine persönliche Anwesenheitspflicht darstelle, ein<br />
Verwirken seines Rechts auf Berufung zu sehen sei. 14<br />
Lange Zeit blieb – ungeachtet <strong>de</strong>r im Jahre 1993 ihren<br />
Anfang nehmen<strong>de</strong>n und sich kontinuierlich weiterentwickeln<strong>de</strong>n<br />
Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3<br />
lit. c EMRK und <strong>de</strong>m darin immer exakter herausgearbeiteten<br />
Recht <strong>de</strong>s Angeklagten auf Vertretung durch einen<br />
Verteidiger (siehe näher unter II. 2. und 3.) – die Auslegung<br />
<strong>de</strong>s § 329 Abs.1 S. 1 StPO durch die <strong>de</strong>utschen<br />
Gerichte sowie durch <strong>de</strong>n Großteil <strong>de</strong>r Literatur in<br />
höchstem Maße rein formalistisch, kaum die Vorgaben<br />
<strong>de</strong>s EGMR in ähnlichen Fällen beachtend bzw. wur<strong>de</strong><br />
schlicht für konventionskonform gehalten. 15 So entschied<br />
12<br />
OLG Düsseldorf (Fn. 11) Rn. 13 (wörtliche Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>r<br />
Ausführungen <strong>de</strong>s BVerfG in seinem Beschl. im Fall Neziraj),<br />
zitiert nach juris; Lampe Anm. zu EGMR, Neziraj v.<br />
Deutschland, Urteil vom 8. November 2012, Nr.<br />
30804/07, jurisPR-StrafR 5/<strong>2013</strong> Anm. 1.<br />
13<br />
OLG Köln NStZ-RR 1999, 112; BeckOK-StPO/Eschelbach<br />
(Fn. 4) § 329 Rn. 6; KK/Paul (Fn. 4) § 329 Rn. 1 mN; Meyer-Goßner/Schmitt<br />
(Fn 4) § 329 Rn. 2 mN.<br />
14<br />
OLG Köln (Fn. 13) NStZ-RR 1999, 112; KK/Paul (Fn. 4)<br />
§ 329 Rn. 1 mN; LR/Gössel (Fn. 4) § 329 Rn. 77 mN in Fn.<br />
291; Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 4) § 329 Rn. 2.<br />
15<br />
BeckOK-StPO/Eschelbach (Fn. 4) § 329 Rn. 7; LR/Esser (Fn.<br />
2) EMRK Art. 6 Rn. 707; Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 4)<br />
398
Aufsätze und Anmerkungen<br />
etwa das OLG Ol<strong>de</strong>nburg 1998 16 im Rahmen eines Revisionsbeschlusses<br />
(sogar unter Hinweis auf die zuvor<br />
ergangenen Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR in <strong>de</strong>n Fällen<br />
Poitrimol/Frankreich und Lala/Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>), dass die dort<br />
aufgestellten Grundsätze auf die <strong>de</strong>utsche Rechtslage<br />
nicht anwendbar seien, wür<strong>de</strong> doch nach § 329 Abs. 1 S.<br />
1 StPO bei Vorliegen <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n vom EGMR<br />
behan<strong>de</strong>lten Fällen (an<strong>de</strong>rs als bei jenen) eine Verhandlung<br />
zur Sache gar nicht stattfin<strong>de</strong>n und sei <strong>de</strong>shalb eine<br />
Vergleichbarkeit mit <strong>de</strong>m gegebenen <strong>de</strong>utschen Sachverhalt<br />
nicht vorhan<strong>de</strong>n. 17 Ähnlich argumentierte das OLG<br />
Köln 18 in einer Revisionssache, in welcher sich <strong>de</strong>r Revisionsführer<br />
(neben an<strong>de</strong>ren vom EGMR entschie<strong>de</strong>nen<br />
Verfahren) auf das Urteil im Fall Poitrimol/Frankreich berief:<br />
Da diese Rechtssache ein Abwesenheitsverfahren<br />
zum Gegenstand gehabt hatte, § 329 Abs. 1 StPO aber<br />
gera<strong>de</strong> kein solches regele, das Prinzip <strong>de</strong>r Waffengleicheit<br />
nach § 329 nicht berührt sei und eine Verhandlung<br />
zur Sache durch <strong>de</strong>n allein erschienenen Verteidiger nicht<br />
verlangt wer<strong>de</strong>n könne, stelle das Vorgehen <strong>de</strong>s Landgerichts,<br />
welches die Berufung verworfen habe, keinen<br />
Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK dar. 19 Auch das<br />
BayObLG 20 erklärte im Wege eines eine Revision als<br />
unbegrün<strong>de</strong>t verwerfen<strong>de</strong>n Beschlusses, <strong>de</strong>r unter Hinweis<br />
auf die EGMR-Entscheidung van Geyseghem/Belgien<br />
gefällt wur<strong>de</strong>, es liege „die von <strong>de</strong>r Verteidigung offenbar<br />
gesehene Inkongruenz zwischen Art. 6 Abs. 3 c MRK und<br />
§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht vor“ und die Revision im<br />
<strong>de</strong>utschen Verfahren habe ja auch nicht – an<strong>de</strong>rs als im<br />
van Geyseghem-Fall – behauptet, <strong>de</strong>r zur Verteidigung<br />
betraute Rechtsanwalt sei an <strong>de</strong>r Wahrnehmung seines<br />
Mandats gehin<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n; ferner habe § 329 StPO auch<br />
nichts mit <strong>de</strong>m Recht auf Beistand eines Verteidigers zu<br />
tun. 21 Diese Ten<strong>de</strong>nz innerhalb <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Rechtsprechung,<br />
eine möglichst von <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s<br />
EGMR Abstand nehmen<strong>de</strong> Haltung zu verfolgen und sich<br />
nicht mit <strong>de</strong>m Telos <strong>de</strong>r einschlägigen Entscheidungen<br />
auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, gipfelte in <strong>de</strong>m (nunmehr inhaltlich)<br />
umstrittenen Beschluss <strong>de</strong>s BVerfG vom 27. Dezember<br />
2006 (Fall Neziraj; zur EGMR-Entscheidung dieser<br />
Rechtssache näher unter II. 2.), welcher einerseits<br />
§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO als mit <strong>de</strong>m Recht auf effektive<br />
Verteidigung i.S. <strong>de</strong>s Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3<br />
GG für vereinbar erklärte, <strong>de</strong>n Anspruch auf rechtliches<br />
Gehör (Art. <strong>10</strong>3 Abs. 1 GG) als gewahrt ansah und § 329<br />
auch als mit Art. 6 Abs. 3 lit. c <strong>de</strong>r EMRK für vereinbar<br />
erklärte, 22 und die Revision <strong>de</strong>s Antragsstellers als offen-<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
§ 329 Rn. 2, 15; Lampe Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland<br />
(Fn. 12), jurisPR-StrafR 5/<strong>2013</strong> Anm. 1.<br />
16<br />
OLG Ol<strong>de</strong>nburg NStZ 1999, 156; LR/Esser (Fn. 2) EMRK<br />
Art. 6 Rn. 705.<br />
17<br />
OLG Ol<strong>de</strong>nburg (Fn. 16) NStZ 1999, 156; Meyer-Mews NJW<br />
2002, 1928, 1929.<br />
18<br />
OLG Köln (Fn. 13) NStZ-RR 1999, 112; Meyer-Mews NJW<br />
2002, 1928, 1929.<br />
19<br />
OLG Köln (Fn. 13) NStZ-RR 1999, 112; LR/Esser (Fn. 2)<br />
EMRK Art. 6 Rn. 705; Meyer-Mews NJW 2002, 1928, 1929.<br />
20<br />
BayObLG NStZ-RR 2000, 307 f.<br />
21<br />
BayObLG NStZ-RR 2000, 308; Meyer-Mews NJW 2002,<br />
1928, 1929.<br />
22<br />
Siehe BVerfG StraFo 2007, 190, 194 (Neziraj) sowie die<br />
zusammenfassen<strong>de</strong> Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Teile dieses<br />
Beschlusses in <strong>de</strong>n Entscheidungen <strong>de</strong>s OLG Düsseldorf<br />
(Fn. 11) Rn. 6, 12 – 14, zitiert nach juris sowie OLG<br />
Hamm (Fn. 11) Rn. 6, 8 und 9, zitiert nach juris; Lampe<br />
Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 12), jurisPRsichtlich<br />
unbegrün<strong>de</strong>t verwarf. Darauf bezogen sich in<br />
weiterer Folge das OLG Düsseldorf 23 in einem eine Revision<br />
als unbegrün<strong>de</strong>t ablehnen<strong>de</strong>n Beschluss, (<strong>de</strong>r Berufungsführer<br />
hatte in <strong>de</strong>r Revision die Entscheidung <strong>de</strong>s<br />
EGMR im Fall Pietiläinen/Finnland zur Begründung herangezogen)<br />
sowie das OLG Hamm, 24 ebenfalls in einem<br />
eine Revision als erfolglos qualifizieren<strong>de</strong>n Beschluss.<br />
Selbst nach <strong>de</strong>m Urteil <strong>de</strong>s Gerichtshofs im Fall Neziraj,<br />
in welchem die Konventionswidrigkeit <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1<br />
S. 1 StPO festgestellt und Deutschland nach Art. 41<br />
EMRK zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von €<br />
1.000 wegen Verursachung eines immateriellen Scha<strong>de</strong>ns<br />
sowie zur Zahlung von € 3.500 für Kosten und Auslagen<br />
verurteilt wur<strong>de</strong>, 25 hielt das OLG München in seinem<br />
Beschluss vom 17. Januar <strong>2013</strong> 26 unter Verweis auf die<br />
Entscheidung <strong>de</strong>s BVerfG aus 2006 27 und <strong>de</strong>r Beschlüsse<br />
<strong>de</strong>s OLG Düsseldorf bzw. Hamm, die vor <strong>de</strong>m EGMR-<br />
Urteil im Fall Neziraj ergangen waren, fest, obwohl durch<br />
dieses richterliche Vorgehen eine weitere Verurteilung<br />
Deutschlands durch <strong>de</strong>n EGMR auf Grund <strong>de</strong>r Konventionswidrigkeit<br />
<strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nur noch eine<br />
Frage <strong>de</strong>r Zeit sein dürfte.<br />
2. Die einschlägige Judikatur <strong>de</strong>s EGMR zu<br />
Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r<br />
Fall Neziraj/Deutschland, sowie ihre<br />
Auswirkungen für § 329 Abs. 1 S. 1 StPO<br />
In <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR ist das Recht eines<br />
Angeklagten, einer Verhandlung sowohl in erster Instanz<br />
als auch im Rechtsmittelverfahren persönlich fern bleiben<br />
und <strong>de</strong>nnoch von einem Verteidiger wirksam vertreten<br />
wer<strong>de</strong>n zu können, bereits seit <strong>de</strong>r Leitentscheidung<br />
Poitrimol/Frankreich vom 23. November 1993 28 als Grund-<br />
StrafR 5/<strong>2013</strong> Anm. 1; LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art 6. Rn.<br />
706 mN in Fn. 1760, <strong>de</strong>r darauf hinweist, dass das BVerfG<br />
nach § 93b BVerfGG einen Nichtannahmebeschluss gefällt<br />
hatte, somit eine Entscheidung zur Sache nicht vornahm<br />
hat und daher die Entscheidung nicht Rechtsverbindlichkeit<br />
nach § 31 Abs. 1 BVerfGG beanspruchen kann; Grabenwarter<br />
JZ 20<strong>10</strong>, 857, 863 führt in diesem Zusammenhang<br />
schlüssig aus, dass die Bindungswirkung <strong>de</strong>s § 31<br />
Abs. 2 BVerfGG sich auch bei einer Entscheidung <strong>de</strong>s<br />
BVerfG nach § 31 Abs. 1 BVerfGG auf Grund <strong>de</strong>r differenten<br />
Prüfungsmaßstäbe <strong>de</strong>s BVerfG und EGMR nicht auf<br />
Fragen <strong>de</strong>r Konventionskonformität eines nationalen Gesetzes<br />
erstrecke, und damit als Folge keine Gesetzeskraft<br />
eines Beschlusses o<strong>de</strong>r Urteils <strong>de</strong>s BVerfG hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
EMRK gegeben sein könne. Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis NStZ<br />
2011, 140, 147; Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland,<br />
Urteil vom 8. November 2012, Nr. 30804/07, StraFo<br />
2012, 493, 494.<br />
23<br />
OLG Düsseldorf (Fn. 11), zitiert nach juris.<br />
24<br />
OLG Hamm (Fn. 11), zitiert nach juris.<br />
25<br />
EGMR NMLR 6/2012, 371, 372 (Neziraj/Deutschland) =<br />
<strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69 Rn. 78.<br />
26<br />
OLG München Beschl. v. 17.01.<strong>2013</strong> – 4 StRR (A) 18/12<br />
BeckRS <strong>2013</strong>, 03324; befürwortend Lampe Anm. zu EGMR,<br />
Neziraj v. Deutschland (Fn. 12), jurisPR-StrafR 5/<strong>2013</strong><br />
Anm. 1.<br />
27<br />
BVerfG StraFo 2007, 190 ff. (Neziraj); vgl. Lampe Anm. zu<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 12), jurisPR-StrafR<br />
5/<strong>2013</strong> Anm. 1.<br />
28<br />
EGMR Poitrimol v. Frankreich, Urteil vom 23. November<br />
1993, Nr. 39/1992/384/462, ÖJZ 1994, 467. Der Gerichts-<br />
399
Aufsätze und Anmerkungen<br />
satz verankert, und mit unterschiedlichen argumentativen<br />
Konturierungen auf ähnliche Sachverhalte angewen<strong>de</strong>t,<br />
zur ständigen Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR gewor<strong>de</strong>n.<br />
29 So entschied <strong>de</strong>r EGMR im Fall Lala/Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>,<br />
dass es zwar im Interesse eines fairen Strafverfahrens<br />
liege, dass <strong>de</strong>r Beschuldigte in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung wie<br />
auch im Rechtsmittelverfahren anwesend sein solle; von<br />
„entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Wichtigkeit“ sei jedoch die Tatsache<br />
anzusehen, dass <strong>de</strong>r Beschuldigte sowohl in erster Instanz<br />
als auch im Rechtsmittelverfahren angemessen<br />
verteidigt sei. 30 Im Urteil van Geyseghem/Belgien bejahte<br />
<strong>de</strong>r EGMR ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3<br />
lit. c EMRK (mit 16:1 Stimmen), da es auch hier <strong>de</strong>m<br />
Anwalt, <strong>de</strong>r in Abwesenheit <strong>de</strong>r Beschuldigten aufgetreten<br />
war, nicht erlaubt wor<strong>de</strong>n war, diese zu verteidigen. 31<br />
Explizit nahm <strong>de</strong>r Gerichtshof auf die Vorentscheidungen<br />
Poitrimol und Lala Bezug, stellte <strong>de</strong>ren Vergleichbarkeit<br />
mit <strong>de</strong>m Fall van Geyseghem fest und bekräftigte, dass <strong>de</strong>r<br />
Gesetzgeber zwar <strong>de</strong>m unentschuldigten Nichterscheinen<br />
eines Beschuldigten vor Gericht zu begegnen habe, dass<br />
dies jedoch nicht <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>s Rechts auf Beistand<br />
eines Verteidigers rechtfertige, habe das Recht auf wirksame<br />
Verteidigung doch Vorrang vor jenem auf Anwesenheit<br />
<strong>de</strong>s Beschuldigten im Verfahren. 32 Dieselbe Ten<strong>de</strong>nz<br />
verfolgte <strong>de</strong>r EGMR auch in <strong>de</strong>r sog. Krombach-<br />
Entscheidung. 33 Ganz auf <strong>de</strong>r soeben skizzierten Linie<br />
sprach <strong>de</strong>r EGMR aus, dass die Tatsache, dass es sich im<br />
Fall Krombach um ein Schwurgerichtsverfahren handle,<br />
für ihn keinen Grund bil<strong>de</strong>, vom eingeschlagenen Weg<br />
<strong>de</strong>s Vorrangs <strong>de</strong>s Verteidigungsrechts vor <strong>de</strong>r Anwesenheitspflicht<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten abzuweichen. 34 Zwar gelte<br />
das Recht <strong>de</strong>s Angeklagten, sich von seinen Verteidigern<br />
verteidigen zu lassen, nicht absolut, doch verliere es ein<br />
Angeklagter nicht allein <strong>de</strong>shalb, weil er in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung<br />
nicht erscheine. 35 Der Gesetzgeber dürfe das<br />
Ausbleiben ahn<strong>de</strong>n, jedoch nicht durch Einschränkung<br />
<strong>de</strong>s Rechts auf Beistand durch einen Verteidiger, (verstan<strong>de</strong>n<br />
als Vertretung und Verteidigung), 36 dies sei unhof<br />
hielt in dieser Rechtssache fest, dass ein freiwillig nicht<br />
zur Rechtsmittelverhandlung erschienener Angeklagter<br />
sich wirksam von seinem Verteidiger vertreten lassen könne,<br />
und damit, dass das Recht auf effektive Verteidigung<br />
auch das Recht auf Vertretung beinhalte; <strong>de</strong>r Wortlaut <strong>de</strong>s<br />
Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK stün<strong>de</strong> dieser Ansicht nicht entgegen;<br />
LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 686 Fn. 1728;<br />
Ambos ZStW 115 (2003) 583, 606; Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis<br />
NStZ 2011, 140, 147; Meyer-Mews NJW 2002, 1928; Püschel<br />
Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 22), StraFo<br />
2012, 493.<br />
29<br />
Siehe Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis NStZ 2011, 140, 147 u.V.a.<br />
die Entscheidungen Poitrimol und van Geyseghem; Gun<strong>de</strong>l<br />
NJW 2001, 2380.<br />
30<br />
EGMR Lala v. Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>, Urteil vom 22. September<br />
1994, Nr. 25/1993/420/499, ÖJZ 1995, 196, 197.<br />
31<br />
EGMR van Geyseghem v. Belgien, Urteil vom 21. Januar<br />
1999, Nr. 26<strong>10</strong>3/95, NJW 1999, 2353 .<br />
32<br />
EGMR, van Geyseghem v. Belgien (Fn. 31), NJW 1999,<br />
2353, 2354.<br />
33<br />
EGMR Krombach v. Frankreich, Urteil vom 13. Februar<br />
2001, Nr. 29731/96, NJW 2001, 2387 ff. ; Meyer-Mews<br />
NJW 2002, 1928.<br />
34<br />
EGMR, Krombach v. Frankreich (Fn. 33), NJW 2001, 2387,<br />
2391.<br />
35<br />
EGMR, Krombach v. Frankreich (Fn. 33), NJW 2001, 2387,<br />
2391; LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 682.<br />
36<br />
Vgl. LR/Esser (Fn. 2) Art. 6 EMRK Rn. 708.<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
verhältnismäßig und damit konventionswidrig. 37 In exakt<br />
dieselbe Kerbe schlug die Entscheidung Pietiläinen/Finnland,<br />
die feststellte, dass – solange die Anwesenheit<br />
<strong>de</strong>s Beschuldigten nicht zwingend erfor<strong>de</strong>rlich sei<br />
– dieser einen Anspruch darauf habe, von seinem Verteidiger<br />
(sowohl in erster Instanz wie auch im Rechtsmittelverfahren<br />
38 ) verteidigt und vertreten zu wer<strong>de</strong>n, ob er<br />
nun entschuldigt o<strong>de</strong>r unentschuldigt (arg. „even in the<br />
absence of an excuse“) abwesend sei. 39 Die Konventionsstaaten<br />
dürften zur Erzwingung <strong>de</strong>r Anwesenheit nicht<br />
so weit gehen, dass sie <strong>de</strong>m Beschuldigten alle Verteidigungsmöglichkeiten<br />
nehmen, in<strong>de</strong>m sie sein Rechtsmittel<br />
ohne Prüfung in <strong>de</strong>r Sache verwerfen. 40 Sollte die<br />
Anwesenheit <strong>de</strong>s Beschuldigten unentbehrlich für <strong>de</strong>n<br />
Verlauf <strong>de</strong>s Verfahrens sein, so müsse zu an<strong>de</strong>ren Mitteln<br />
als <strong>de</strong>r Verwerfung <strong>de</strong>s Rechtsmittels gegriffen wer<strong>de</strong>n;<br />
da dies nicht geschehen sei, liege ein Verstoß gegen die<br />
EMRK vor. 41<br />
Die soeben in gebotener Kürze dargestellte ständige<br />
Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR in Bezug auf die Frage <strong>de</strong>r<br />
Verteidigung und Vertretung eines unentschuldigt im<br />
Haupt- wie Rechtsmittelverfahren abwesen<strong>de</strong>n Angeklagten<br />
konnte und kann – wie von Meyer-Mews bereits 2002<br />
aufgezeigt – eine Art „Allgemeingültigkeit“ für alle Vertragsstaaten<br />
<strong>de</strong>r EMRK beanspruchen, war sie doch gegenüber<br />
mehreren Staaten in Bezugnahme auf <strong>de</strong>ren<br />
nationale Strafverfahrensordnungen ergangen und hatte<br />
die Sichtweise <strong>de</strong>s EGMR hinsichtlich <strong>de</strong>s Umfangs <strong>de</strong>s<br />
Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (das Recht auf [effektive] Verteidigung<br />
schließt auch ein Recht auf Vertretung <strong>de</strong>s<br />
fehlen<strong>de</strong>n Angeklagten durch <strong>de</strong>n Verteidiger mit ein)<br />
mehr als <strong>de</strong>utlich zum Ausdruck gebracht. 42 Aus diesem<br />
Grund ist es verwun<strong>de</strong>rlich, weshalb – ungeachtet <strong>de</strong>r<br />
nicht in Frage zu stellen<strong>de</strong>n inter-partes Wirkung <strong>de</strong>r<br />
Judikate <strong>de</strong>s EGMR – es Deutschland auf eine Entscheidung<br />
im Fall Neziraj (hierzu sogleich) ankommen ließ,<br />
war doch Kritik hinsichtlich <strong>de</strong>r Konventionswidrigkeit<br />
<strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO vorhan<strong>de</strong>n 43 und wäre eine<br />
konventionskonforme Auslegung o<strong>de</strong>r ein Eingriff <strong>de</strong>s<br />
Gesetzgebers durchaus möglich gewesen.<br />
37<br />
EGMR, Krombach v. Frankreich (Fn. 33), NJW 2001, 2387,<br />
2389, 2391; Meyer-Mews NJW 2002, 1928, 1929.<br />
38<br />
EGMR Pietiläinen v. Finnland, Urteil vom 22. September<br />
2009, <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 981 Rn. 27; Püschel Anm. zu EGMR,<br />
Neziraj v. Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012, 493 u.V.a.<br />
Pietiläinen v. Finnland; LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn.<br />
703.<br />
39<br />
EGMR, Pietiläinen v. Finnland (Fn. 38), <strong>HRRS</strong> 2009 Nr.<br />
981 Rn. 27; LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 702; Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis<br />
NStZ 2011, 140, 147.<br />
40<br />
EGMR, Pietiläinen v. Finnland (Fn. 38), <strong>HRRS</strong> 2009 Nr.<br />
981 Rn. 27; LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 704; SK-<br />
StPO/Paeffgen 4.Aufl. (2012) EMRK Art. 6 Rn. 138a; Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis<br />
NStZ 2011, 140, 147.<br />
41<br />
EGMR, Pietiläinen v. Finnland (Fn. 38), <strong>HRRS</strong> 2009 Nr.<br />
981 Rn. 28; LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 704; SK-<br />
StPO/Paeffgen (Fn. 40) EMRK Art. 6 Rn. 138a; Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis<br />
NStZ 2011, 140, 147.<br />
42<br />
Meyer-Mews NJW 2002, 1928.<br />
43<br />
Meyer-Mews NJW 2002, 1928, 1929; ebenso, wenngleich<br />
zeitlich gesehen „nachträglich“ Püschel Anm. zu EGMR,<br />
Neziraj v. Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012, 493, 494.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
400
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Durch die Entscheidung im Fall Neziraj/Deutschland vom<br />
8. November 2012 44 hat <strong>de</strong>r EGMR nun auch (in Fortsetzung<br />
und unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung)<br />
für das <strong>de</strong>utsche Recht ein<strong>de</strong>utig klargestellt,<br />
dass die Berufung eines Angeklagten, <strong>de</strong>r zwar nicht in<br />
personam, als sein Vertreter aber ein vertretungswilliger<br />
und –befugter Verteidiger erscheint, nicht ohne Verhandlung<br />
zur Sache i.S. <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen<br />
wer<strong>de</strong>n darf, da dies eine unverhältnismäßige Einschränkung<br />
<strong>de</strong>s Rechts auf wirksame Verteidigung darstellt. 45<br />
Zwar sei es richtig, dass das Erscheinen eines Angeklagten<br />
vor Gericht (auch in <strong>de</strong>r Berufungsinstanz, in welcher<br />
sich <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong> Fall ereignet hatte) eine große Be<strong>de</strong>utung<br />
für das Strafverfahren habe, doch könne dieses –<br />
gewissermaßen janusköpfige – Institut <strong>de</strong>r „persönlichen<br />
Anwesenheit“, welches sowohl aus einer Pflicht zur<br />
Anwesenheit als auch aus einem Recht zur solchen und<br />
zusätzlich aus <strong>de</strong>m Recht, sich wirksam verteidigen und<br />
auch vertreten zu lassen, bestehe, nicht so verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n, dass bei freiwilliger Abwesenheit die Pflicht zur<br />
Anwesenheit das Recht, sich verteidigen und vertreten zu<br />
lassen, überwiege. 46 Vielmehr gehe das letztgenannte vor,<br />
<strong>de</strong>r Angeklagte verliere dieses Recht nicht dadurch, dass<br />
er nicht zur Verhandlung erscheine und ein vollkommen<strong>de</strong>r<br />
Verlust <strong>de</strong>s Verteidigungsrechts (welchen <strong>de</strong>r EGMR<br />
bereits in Pietiläinen/Finnland 47 und nun nochmals in Z.<br />
49, 54 und 55 <strong>de</strong>r Entscheidung Neziraj/Deutschland mit<br />
„Beraubung <strong>de</strong>s Rechts auf Verteidigung“ titulierte 48 ) wie<br />
von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO vorgesehen, sei – ganz i.S.<br />
einer bei Verfahren nach Art. 6 EMRK gebotenen Gesamtbetrachtung<br />
49 – ein <strong>de</strong>rart schwerwiegen<strong>de</strong>r Verstoß<br />
gegen Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, dass er das Verfahren<br />
unfair mache. 50 Der Gesetzgeber könne Schritte gegen<br />
das ungerechtfertigte Fernbleiben von Angeklagten setzen,<br />
diese dürften jedoch nicht <strong>de</strong>n soeben aufgezeigten<br />
Schweregrad hinsichtlich <strong>de</strong>s Verteidigungsrechts erreichen<br />
(Z. 47 und 54 <strong>de</strong>r Neziraj-Entscheidung). 51 Zu<strong>de</strong>m<br />
hielt <strong>de</strong>r EGMR fest, dass die Berufungsverhandlung die<br />
letzte nationale Instanz gewesen war, in welcher <strong>de</strong>r Fall<br />
auf tatsächliche wie rechtliche Fragen vollständig untersucht<br />
wer<strong>de</strong>n konnte, und <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>r Verteidiger <strong>de</strong>s<br />
Beschwer<strong>de</strong>führers nicht berechtigt war, diesen ohne<br />
einen Entschuldigungsgrund zu vertreten. 52 Der Gerichtshof<br />
klassifizierte <strong>de</strong>n Fall Neziraj daher als vergleichbar<br />
mit <strong>de</strong>n oben genannten sowie weiteren, ähnlich<br />
gelagerten Fällen, wen<strong>de</strong>te die daraus abgeleiteten<br />
44<br />
EGMR Neziraj v. Deutschland, Urteil vom 8. November<br />
2012, Nr. 30804/07, StraFo 2012, 490 ff = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong><br />
Nr. 69.<br />
45<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
491, 492 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69 Rn. 52, 53.<br />
46<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
491 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69 Rn. 51, 57.<br />
47<br />
EGMR, Pietiläinen v. Finnland (Fn. 38), <strong>HRRS</strong> 2009 Nr.<br />
981 Rn. 27 […] „<strong>de</strong>priving him of his right un<strong>de</strong>r Art. 6 § 3<br />
of the Convention to be <strong>de</strong>fen<strong>de</strong>d by counsel” […].<br />
48<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
491, 492 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69 Rn. 58.<br />
49<br />
Vgl. statt vieler Ambos ZStW 115 (2003) 583, 611 ff.<br />
50<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
491, 492; NLMR 6/2012, 371, 372 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69<br />
Rn. 65 – 69.<br />
51<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
491; NLMR 6/2012, 371, 372 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69 Rn. 56.<br />
52<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
491; NLMR 6/2012, 371, 372 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69 Rn. 55.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
Grundsätze an und verurteilte Deutschland folgerichtig<br />
wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. 53 Somit<br />
stand (spätestens) seit <strong>de</strong>m Neziraj-Urteil die Konventionswidrigkeit<br />
<strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit<br />
gelten<strong>de</strong>n Anwendungspraxis fest. 54<br />
3. Zwischenfazit<br />
Die Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR in Bezug auf § 329 Abs. 1<br />
S. 1 StPO ist als ein<strong>de</strong>utig zu bezeichnen, die Argumentationen<br />
<strong>de</strong>r nationalen Gerichte, es sei keine Anwendbarkeit<br />
<strong>de</strong>s Art. 6 EMRK gegeben, da überhaupt keine<br />
Verhandlung stattfin<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn bei Vorliegen <strong>de</strong>r Voraussetzungen<br />
sogleich ein Verwerfungsurteil ergehe,<br />
gehen insoweit ins Leere, als dieser Umstand in keiner<br />
Weise <strong>de</strong>m vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung<br />
herausgearbeiteten Sinn <strong>de</strong>s Art. 6 EMRK entspricht und<br />
nur <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r Verteidigungsrechte <strong>de</strong>s Angeklagten<br />
– sogar ohne eine vorherige Verhandlung – als quasi<br />
„automatische“ Rechtsfolge dokumentiert. Sich insoweit<br />
auf <strong>de</strong>n rein formalistischen Standpunkt <strong>de</strong>s „Nichtvorhan<strong>de</strong>nseins“<br />
einer Verhandlung zurückzuziehen, um so<br />
zu versuchen, Art. 6 EMRK <strong>de</strong>n Bezugspunkt zu nehmen,<br />
kann – schon unter Berücksichtigung auf <strong>de</strong>n klaren<br />
Wortlaut <strong>de</strong>s Neziraj-Urteils 55 – nicht überzeugen, drückt<br />
die Skepsis <strong>de</strong>r nationalen Gerichte gegenüber <strong>de</strong>r Konvention<br />
und <strong>de</strong>m EGMR jedoch sehr <strong>de</strong>utlich aus. Auch<br />
die Rechtsprechung <strong>de</strong>s BVerfG ist in Bezug auf die<br />
EMRK und <strong>de</strong>ren Geltung im nationalen Recht nicht<br />
hinreichend klar: Zwar wird in <strong>de</strong>r Leitentscheidung<br />
Görgülü die „Berücksichtigung“ <strong>de</strong>r EMRK (wobei damit<br />
ein bloßes „Auseinan<strong>de</strong>rsetzen“ mit <strong>de</strong>r Entscheidung,<br />
nicht eine Umsetzung <strong>de</strong>rselben gemeint ist) sowie <strong>de</strong>ren<br />
völkerrechtliche Verbindlichkeit betont, jedoch zugleich<br />
mithilfe und innerhalb „<strong>de</strong>s Rahmens <strong>de</strong>r gelten<strong>de</strong>n<br />
methodischen Standards“ samt <strong>de</strong>ren „Auslegungsund<br />
Abwägungsspielräumen“ ein Vorbehalt gegen die<br />
konventionskonforme Auslegung <strong>de</strong>s nationalen Rechts<br />
eingezogen, <strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st hinsichtlich <strong>de</strong>s „einfachen“<br />
Rechts von <strong>de</strong>n Gerichten beinahe ausschließlich zu<br />
Ungunsten <strong>de</strong>r EMRK und <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s<br />
EGMR ausgelegt wird. Diese Negierung völkerrechtlicher<br />
Verbindlichkeiten, die Min<strong>de</strong>ststandards im Menschenrechtsschutz<br />
darstellen und von <strong>de</strong>n Vertragsstaaten<br />
freiwillig durch Unterwerfung unter das Regelungsregime<br />
<strong>de</strong>r EMRK angenommen wur<strong>de</strong>n, ist in ihrer Konsequenz<br />
abzulehnen, haben doch sowohl <strong>de</strong>r Gesetzgeber<br />
als auch Gerichte und Behör<strong>de</strong>n nicht sehen<strong>de</strong>n Auges<br />
gegen verbindliches Recht zu verstoßen bzw. bereits<br />
durch <strong>de</strong>n EGMR festgestellte Verstöße gleichsam zu<br />
zementieren. Die mangeln<strong>de</strong> Bereitschaft <strong>de</strong>r nationalen<br />
Gerichte, sich tatsächlich mit <strong>de</strong>n Judikaten <strong>de</strong>s EGMR<br />
53<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
491, 492; NLMR 6/2012, 371, 372 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69<br />
Rn. 69.<br />
54<br />
Ganz in diesem Sinne Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj v.<br />
Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012, 493, <strong>de</strong>r davon spricht,<br />
die „Verwerfungsregel <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO“ sei „faktisch<br />
obsolet“; a.A. Lampe Anm. zu EGMR, Neziraj v.<br />
Deutschland (Fn. 12), jurisPR-StrafR 5/<strong>2013</strong> Anm. 1 unter<br />
Billigung <strong>de</strong>r Entscheidung <strong>de</strong>s OLG München.<br />
55<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 44), StraFo 2012, 490,<br />
492, Z. 60 – 63 <strong>de</strong>r Entscheidung = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 69 Rn.<br />
62 – 64.<br />
401
Aufsätze und Anmerkungen<br />
zu beschäftigen und sich auch an einer konventionskonformen<br />
Auslegung zu versuchen, war – ausgedrückt<br />
durch <strong>de</strong>n Inhalt ihrer Beschlüsse – bereits vor <strong>de</strong>r nun<br />
zu besprechen<strong>de</strong>n Entscheidung <strong>de</strong>s OLG München offenkundig.<br />
Eine Berücksichtigung <strong>de</strong>r klaren EGMR-<br />
Judikatur i.S. <strong>de</strong>r EMRK (seitens <strong>de</strong>r Gerichte o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Gesetzgebers) hätte eine Verurteilung im Fall Neziraj<br />
je<strong>de</strong>nfalls verhin<strong>de</strong>rt; die Verurteilung Deutschlands war<br />
auf Grund <strong>de</strong>r langjährigen, gefestigten Rechtsprechung<br />
vorhersehbar. 56 Mit <strong>de</strong>m Beschluss <strong>de</strong>s OLG München<br />
hat die Diskussion um § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nun jedoch<br />
einen weiteren – als völkerrechtlicher Sicht höchst interessanten,<br />
wenngleich in mehrfacher Hinsicht zu hinterfragen<strong>de</strong>n<br />
– Höhepunkt erfahren.<br />
III. Die Entscheidung <strong>de</strong>s OLG München<br />
vom 17. Januar <strong>2013</strong> – 4 StRR (A) 18/12<br />
1. Ausgangsposition<br />
Der zu besprechen<strong>de</strong>n Entscheidung <strong>de</strong>s OLG München<br />
lag ein durch das AG Landshut entschie<strong>de</strong>ner Fall einer<br />
vorsätzlichen Körperverletzung zu Grun<strong>de</strong>, wobei <strong>de</strong>r in<br />
erster Instanz zu drei Monaten Haft Verurteilte Berufung<br />
gegen das Urteil einlegte. Trotz ordnungsgemäßer Ladung<br />
zum Termin <strong>de</strong>r Berufungsverhandlung vor <strong>de</strong>m LG<br />
Landshut erschien <strong>de</strong>r Angeklagte zu jenem nicht, jedoch<br />
seine mit einer Vollmacht zur Vertretung und Verteidigung<br />
ausgestattete Verteidigerin, die ausdrücklich ihre<br />
Bereitschaft zur Verteidigung erklärte. Das LG Landshut<br />
verwarf gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO daraufhin die Berufung<br />
und führte unter Hinweis auf die Rechtsprechung<br />
<strong>de</strong>s EGMR aus, eine konventionsfreundliche Auslegung<br />
<strong>de</strong>r Norm <strong>de</strong>s § 329 sei entgegen <strong>de</strong>m Wortlaut nicht<br />
möglich. Das OLG München als Revisionsgericht bestätigte<br />
die Entscheidung <strong>de</strong>s LG Landshut und führte darüber<br />
hinaus aus, <strong>de</strong>r EGMR verkenne in <strong>de</strong>r Entscheidung<br />
Neziraj/Deutschland, auf welche <strong>de</strong>r Revisionsführer<br />
explizit verwies, das Regelungsgefüge <strong>de</strong>r Vorschrift <strong>de</strong>s<br />
§ 329 StPO und die Stellung <strong>de</strong>s Strafverteidigers im<br />
<strong>de</strong>utschen Strafprozessrecht. Selbst bei vom OLG München<br />
(hypothetisch) angenommener Konventionswidrigkeit<br />
<strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO sei die Vorschrift auf<br />
Grund ihres ein<strong>de</strong>utigen Wortlauts von <strong>de</strong>utschen Gerichten<br />
auf Grund <strong>de</strong>r Gesetzesbindung <strong>de</strong>r Art. 20 Abs.<br />
3 und 97 Abs. 1 GG im konkreten Fall anzuwen<strong>de</strong>n; eine<br />
auf die Konventionswidrigkeit <strong>de</strong>r Vorschrift gestützte<br />
Revision sei damit nach § 349 Abs. 2 StPO offensichtlich<br />
unbegrün<strong>de</strong>t. 57<br />
2. Die Argumente <strong>de</strong>s OLG München im<br />
vorliegen<strong>de</strong>n Fall<br />
Das OLG München nahm im konkreten Fall an, eine<br />
konventionskonforme Auslegung <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 StPO<br />
sei auf Grund <strong>de</strong>s „ein<strong>de</strong>utigen“ Wortlauts <strong>de</strong>r Vorschrift<br />
nicht möglich und verwies hierbei in allgemeiner Weise<br />
56<br />
Vorausschauend LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 7<strong>10</strong>;<br />
Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis NStZ 2011, 140, 147.<br />
57<br />
Siehe zum gesamten Absatz OLG München (Fn. 26)<br />
BeckRS <strong>2013</strong>, 03324.<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
auf Urteile <strong>de</strong>s BVerfG sowie <strong>de</strong>s BGH, in welchen festgehalten<br />
wur<strong>de</strong>, dass die Grenzen <strong>de</strong>r konventionskonformen<br />
Auslegung dort erreicht seien, wo diese nach <strong>de</strong>n<br />
anerkannten Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation<br />
nicht mehr vertretbar erscheine 58<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s nationalen Gesetzgebers<br />
in <strong>de</strong>r Gestalt von bestehen<strong>de</strong>m Gesetzesrecht entgegenstün<strong>de</strong>.<br />
59 Zur Stützung dieser Argumentationslinie<br />
bemühte das OLG ferner die ständige Rechtsprechung<br />
<strong>de</strong>s BVerfG hinsichtlich <strong>de</strong>r Bindung an Richtlinien <strong>de</strong>r<br />
EU und <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s EuGH. 60 Sodann kam es<br />
zum Schluss, dass „die Anwendung dieser Grundsätze“<br />
(damit auch <strong>de</strong>r „Grundsätze“ <strong>de</strong>r Judikatur <strong>de</strong>s BVerfG<br />
zu rein europarechtlichen Fragen!) für <strong>de</strong>n vorliegen<strong>de</strong>n<br />
Fall be<strong>de</strong>ute, dass „§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht entgegen<br />
seinem ein<strong>de</strong>utigen Wortlaut ausgelegt wer<strong>de</strong>n kann“<br />
und nur im Falle <strong>de</strong>s § 411 Abs. 2 S. 1 StPO eine Vertretung<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten durch seinen Verteidiger zulässig<br />
sei. 61<br />
Gewissermaßen als „Hilfsargument“ erklärte das OLG<br />
München schließlich en passant und unter Verweis auf<br />
<strong>de</strong>n Beschluss <strong>de</strong>s OLG Hamm (oben unter II. 1.), dass<br />
selbst im Falle einer konventionsfreundlichen Auslegung<br />
die Verteidigerin, welche eine schriftliche Vertretungsvollmacht<br />
vorlegte, nicht berechtigt gewesen wäre, <strong>de</strong>n<br />
Angeklagten zu vertreten, han<strong>de</strong>lte es sich bei <strong>de</strong>r vorgelegten<br />
Vollmacht doch um eine solche, welche ihrem<br />
Wortlaut nach auf die Fälle <strong>de</strong>s § 411 Abs. 2 StPO beschränkt<br />
sei, und daher habe es im gegebenen Fall je<strong>de</strong>nfalls<br />
am Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r „beson<strong>de</strong>ren schriftlichen Vertretungsvollmacht“<br />
gefehlt. 62<br />
3. Kritische Besprechung <strong>de</strong>r Entscheidung<br />
<strong>de</strong>s OLG München<br />
Der vorliegen<strong>de</strong> Beschluss <strong>de</strong>s OLG München ist in<br />
mehrfacher Hinsicht als erstaunlich zu bezeichnen; er ist<br />
je<strong>de</strong>nfalls in <strong>de</strong>r Sache verfehlt. Zuallererst muss die vom<br />
Gericht am EGMR geübte Kritik in <strong>de</strong>n Blick genommen<br />
wer<strong>de</strong>n: Aus <strong>de</strong>r Tatsache, dass <strong>de</strong>r EGMR im Fall Neziraj<br />
eine Konventionswidrigkeit <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO<br />
festgestellt hat, <strong>de</strong>n Schluss zu ziehen, dies liege an einer<br />
„Verkennung <strong>de</strong>s Regelungsgefüges jener Vorschrift und<br />
<strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>s Verteidigers im <strong>de</strong>utschen Strafprozessrecht“<br />
zeugt von einer grundlegen<strong>de</strong>n Einstellung und<br />
Ablehnung gegenüber <strong>de</strong>m Gerichtshof, <strong>de</strong>r als einziges<br />
Organ befugt ist, die EMRK verbindlich auszulegen, 63<br />
und zusätzlich von einer recht <strong>de</strong>utlichen Negierung <strong>de</strong>s<br />
Problems <strong>de</strong>r festgestellten Konventionswidrigkeit <strong>de</strong>r<br />
58<br />
BVerfG NJW 2011, 1931, 1936 = <strong>HRRS</strong> 2011 Nr. 488 Rn.<br />
93; siehe dazu auch OLG Düsseldorf (Fn. 11) Rn. 17, zitiert<br />
nach juris.<br />
59<br />
OLG München (Fn. 26) BeckRS <strong>2013</strong>, 03324 unter Zitierung<br />
von BGH Beschl. v. 9.11.20<strong>10</strong> – 5 StR 394/<strong>10</strong> Rn. 32,<br />
zitiert nach juris; vgl. auch BVerfG (Fn. 1) NJW 2004,<br />
3407, 34<strong>10</strong>, 3411 (Görgülü) = <strong>HRRS</strong> 2004 Nr. 867.<br />
60<br />
OLG München (Fn. 26) BeckRS <strong>2013</strong>, 03324.<br />
61<br />
OLG München (Fn. 26) BeckRS <strong>2013</strong>, 03324; i.d.S. auch<br />
SK-StPO/Paeffgen (Fn. 40) EMRK Art. 6 Rn. 138a.<br />
62<br />
OLG München (Fn. 26) BeckRS <strong>2013</strong>, 03324.<br />
63<br />
Siehe nur Meyer-La<strong>de</strong>wig, EMRK, 3.Aufl. (2011), Art. 19 Rn.<br />
1.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
402
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Norm, mit welcher sich das OLG München nicht abfin<strong>de</strong>n<br />
will.<br />
Die vom OLG München zur Stützung seiner Argumentation<br />
ins Spiel gebrachte Gesetzesbindung verkehrt sich<br />
bei genauerer Betrachtung ins Gegenteil <strong>de</strong>ssen, was die<br />
Intention <strong>de</strong>s Gerichts war, ist es doch (wie vom OLG<br />
selbst explizit festgehalten) ebenso wie an § 329 Abs. 1<br />
S. 1 StPO auch an die EMRK (in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Textes<br />
sowie <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s Inhalts ihrer Normen durch <strong>de</strong>n<br />
EGMR) im Rahmen <strong>de</strong>r Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG<br />
und Art. 46 EMRK gebun<strong>de</strong>n 64 , und hätte somit – da<br />
diese bei<strong>de</strong>n Gesetze nach Meinung <strong>de</strong>s OLG anscheinend<br />
miteinan<strong>de</strong>r in Konkurrenz stehen – zu versuchen<br />
gehabt, jene „nach <strong>de</strong>n anerkannten Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gesetzesauslegung“<br />
miteinan<strong>de</strong>r in Einklang zu bringen,<br />
was jedoch nicht einmal ansatzweise geschehen ist.<br />
Der Verweis, eine konventionsfreundliche Interpretation<br />
„entgegen <strong>de</strong>m ein<strong>de</strong>utigen Wortlaut“ <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S.<br />
1 StPO sei nicht möglich, geht gleichfalls fehl. Zusätzlich<br />
zu <strong>de</strong>r – vom OLG München ausschließlich bemühten –<br />
wenngleich nicht die Gesamtheit <strong>de</strong>r Norm <strong>de</strong>s § 329<br />
StPO sowie <strong>de</strong>ren Systematik noch <strong>de</strong>n exakten Wortlaut<br />
(samt Verweis auf Ausnahmen) berücksichtigen<strong>de</strong>n –<br />
Wortlautinterpretation existieren noch an<strong>de</strong>re und keineswegs<br />
zu vernachlässigen<strong>de</strong> „anerkannte Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Gesetzesauslegung“, wie etwa die teleologische Interpretation<br />
einer o<strong>de</strong>r mehrerer im Zusammenhang stehen<strong>de</strong>r<br />
Vorschriften. Sofern die Norm <strong>de</strong>s § 329 StPO im Wi<strong>de</strong>rstreit<br />
mit <strong>de</strong>r Judikatur <strong>de</strong>s EGMR, somit <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r<br />
EMRK, steht, mithin also zwei formell gleichrangige<br />
Gesetze miteinan<strong>de</strong>r konkurrieren, stellt sich die Frage<br />
nach <strong>de</strong>r Lösung dieses Konflikts, wobei dies jedoch<br />
keinesfalls nur nach <strong>de</strong>m (bei einer dieser Normen nicht<br />
vorhan<strong>de</strong>nen) Wortlaut geschehen darf. Insofern – wie<br />
das OLG München in seinem Beschluss vorgeht – allein<br />
auf <strong>de</strong>n Wortlaut <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO abzustellen,<br />
und zusätzlich diesem mit <strong>de</strong>m Scheinargument, <strong>de</strong>r<br />
„Wille <strong>de</strong>s nationalen Gesetzgebers in <strong>de</strong>r Gestalt von<br />
bestehen<strong>de</strong>m Gesetzesrecht stün<strong>de</strong> einer konventionskonformen<br />
Auslegung entgegen“ <strong>de</strong>n Vorzug zu geben,<br />
verkennt <strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungsinhalt <strong>de</strong>r Gesetzesbindung, die<br />
keinesfalls zwingend bei zwei sich (scheinbar) wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n<br />
Normen eine zugunsten <strong>de</strong>r nationalen<br />
Norm aufzulösen<strong>de</strong> „einseitige“ ist; so verfährt aber das<br />
OLG München, wenn es <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>r Gesetzesbindung<br />
undifferenziert und unbegrün<strong>de</strong>t zu Gunsten <strong>de</strong>r<br />
nationalen Norm <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO auslegt. 65 Zu<br />
ergänzen ist darüber hinaus, dass im vorliegen<strong>de</strong>n Fall<br />
wegen <strong>de</strong>r Berührungspunkte mit verbindlichem Völkervertragsrecht<br />
im Kollisionsfall <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s nationalen<br />
Gesetzgebers nicht allein <strong>de</strong>n Ausschlag bei <strong>de</strong>r Anwendung<br />
<strong>de</strong>s maßgeblichen Rechts geben kann, ist doch<br />
offensichtlich auch <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s „Quasi-EMRK-<br />
Gesetzgebers“ (<strong>de</strong>s EGMR) 66 bei <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>r Kollisionsfrage<br />
zu berücksichtigen.<br />
64<br />
Siehe nur Meyer-La<strong>de</strong>wig (Fn. 63) Art. 1 Rn. 4 und Art. 46<br />
Rn. 30.<br />
65<br />
Ein<strong>de</strong>utig in diesem Zusammenhang Meyer-La<strong>de</strong>wig (Fn. 63)<br />
Art. 46 Rn. 30: Berücksichtigen <strong>de</strong>r Konvention be<strong>de</strong>ute,<br />
sie auf <strong>de</strong>n Fall anzuwen<strong>de</strong>n, wenn nicht Verfassungsrecht<br />
entgegenstehe.<br />
66<br />
Meyer-La<strong>de</strong>wig (Fn. 63) Art. 46 Rn. 17.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
Im Übrigen stellt die EMRK kein „einfaches Bun<strong>de</strong>srecht“<br />
wie je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re dar; dies wird auch durch die<br />
Entscheidung <strong>de</strong>s OLG München explizit nochmals bestätigt,<br />
diese <strong>de</strong>r Konvention inhaltlich jedoch keineswegs<br />
gerecht, wür<strong>de</strong> doch die so oft genannte, grundsätzliche<br />
Völkerrechtsfreundlichkeit <strong>de</strong>s Grundgesetzes hier<br />
<strong>de</strong>n Ausschlag zugunsten <strong>de</strong>r EMRK geben. Den angesprochenen<br />
Konflikt entgegen dieser Tatsächlichkeit zu<br />
Gunsten <strong>de</strong>s nationalen Rechts und ohne nähere Begründung<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Versuch einer völkerrechtsfreundlichen<br />
Auslegung aufzulösen, missversteht insofern <strong>de</strong>n hervorgehobenen<br />
Rang <strong>de</strong>r EMRK in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Rechtsordnung<br />
und auch <strong>de</strong>n Regelungsgehalt und die völkerrechtliche<br />
Verpflichtung Deutschlands hinsichtlich <strong>de</strong>r Konvention<br />
als solche. Wenn es als Hin<strong>de</strong>rnis einer konventionskonformen<br />
Auslegung und damit Anwendung <strong>de</strong>r<br />
EMRK nicht mehr bedürfte als <strong>de</strong>n durch bestehen<strong>de</strong>s<br />
(undifferenziertes) Gesetzesrecht aufgezeigten Willen<br />
<strong>de</strong>s nationalen Gesetzgebers, wäre die Konvention ein<br />
Muster ohne Wert, eine bloße unverbindliche Charta, ein<br />
in Bezug auf die Durchsetzbarkeit <strong>de</strong>r in ihr verankerten<br />
Min<strong>de</strong>strechte vom Goodwill <strong>de</strong>r Mitgliedstaaten abhängen<strong>de</strong>s,<br />
ohne über das bloße Bekenntnis zum Schutz <strong>de</strong>r<br />
Menschenrechte hinausgehen<strong>de</strong>s Stück Papier, etwas,<br />
was sie in <strong>de</strong>r Rechtswirklichkeit zweifellos nicht darstellt.<br />
Der EGMR entschei<strong>de</strong>t ja gera<strong>de</strong> Fälle, in welchen<br />
die Staaten eine Konformität ihres Gesetzesrechts o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>s staatlichen Han<strong>de</strong>lns ihrer Organe annehmen; stellt<br />
<strong>de</strong>r Gerichtshof die EMRK-Widrigkeit in einem Verfahren<br />
fest, können die Staaten danach nicht mehr behaupten,<br />
die nationale Regelung sei konventionskonform gewesen,<br />
und müssen darüber hinaus Abhilfe schaffen. Die EMRK<br />
normiert Min<strong>de</strong>stmaßstäbe im Menschenrechtsschutz,<br />
die einzelnen, freiwillig beigetretenen Mitgliedstaaten<br />
sind zur Umsetzung <strong>de</strong>r Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR<br />
verpflichtet, <strong>de</strong>r Weg ist ihnen dabei nicht vorgegeben,<br />
besteht allerdings primär in konventionskonformer Auslegung<br />
durch Gerichte und Behör<strong>de</strong>n, die die völkerrechtliche<br />
Verpflichtung haben, eine solche zumin<strong>de</strong>st zu<br />
versuchen, wollen sie <strong>de</strong>m Staat eine weitere Verurteilung<br />
durch <strong>de</strong>n EGMR ersparen. Gera<strong>de</strong> dadurch, dass<br />
sich die Staaten <strong>de</strong>r Judikatur <strong>de</strong>s EGMR in Fragen <strong>de</strong>r<br />
EMRK unterworfen haben, haben sie zum Ausdruck<br />
gebracht, dass ihr nationales Gesetzesrecht auch „von<br />
außen“ überprüft wer<strong>de</strong>n darf (vgl. nur Art. 1 EMRK);<br />
sich im Falle <strong>de</strong>r Verurteilung somit auf <strong>de</strong>n Standpunkt:<br />
„Der nationale Gesetzgeber will es aber so“ zurückzuziehen,<br />
vermag nicht zu überzeugen.<br />
Systematisch-thematisch be<strong>de</strong>nklich erscheint auch das<br />
Vorgehen <strong>de</strong>s OLG München, zur Stützung seiner<br />
Rechtsansicht auf eine Entscheidung <strong>de</strong>s BVerfG in einer<br />
europarechtlichen Angelegenheit zurückzugreifen, stellt<br />
die durch <strong>de</strong>n Europarat verabschie<strong>de</strong>te EMRK doch in<br />
keiner Weise „Europarecht“ i.S. eines Rechts <strong>de</strong>r Europäischen<br />
Union dar, und unterschei<strong>de</strong>t sich die EU, ihr<br />
Aufbau und ihre rechtlichen Grundlagen massiv von<br />
jenen <strong>de</strong>r Konvention, sodass eine zitierte „vergleichbare<br />
Problematik“ nicht gegeben, und die <strong>de</strong>rgestalten Ausführungen<br />
somit an dieser Stelle gänzlich ungeeignet<br />
sind, die vorgebrachte Argumentation zu stützen.<br />
Als Schlussbemerkung hält das OLG München in seiner<br />
Entscheidung fest, dass selbst bei „konventionsfreundlicher“<br />
Auslegung für <strong>de</strong>n Revisionsführer im vorliegen<strong>de</strong>n<br />
403
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Fall nichts gewonnen wäre, und begrün<strong>de</strong>t dies mit <strong>de</strong>m<br />
„schon nach ihrem Wortlaut für <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>r Abwesenheit<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten beschränkt auf die Fälle <strong>de</strong>s § 411<br />
Abs. 2 StPO“ vorgelegten schriftlichen Vertretungsvollmacht.<br />
Ein Fall <strong>de</strong>s § 411 StPO sei jedoch nicht gegeben<br />
gewesen, daher habe (unter Verweis auf das OLG<br />
Hamm) die „beson<strong>de</strong>re schriftliche Vertretungsvollmacht“<br />
nicht vorgelegen und die Verteidigerin sei nicht<br />
zur Vertretung <strong>de</strong>s Angeklagten berechtigt gewesen.<br />
Diese Begründung <strong>de</strong>s OLG München, welches sich jene<br />
<strong>de</strong>s OLG Hamm (siehe oben unter II. 1.) zu eigen gemacht<br />
hat, ist mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK wohl nicht in<br />
Einklang zu bringen, knüpft an die überaus formalistische<br />
und restriktive Handhabung hinsichtlich <strong>de</strong>r hinreichen<strong>de</strong>n<br />
Vertretungsvollmacht im Rahmen <strong>de</strong>s § 329<br />
StPO an und zeigt die Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r obergerichtlichen<br />
Rechtsprechung, je<strong>de</strong>nfalls an § 329 Abs. 1 S. 1 StPO in<br />
<strong>de</strong>r gegenständlichen Anwendung und Form festhalten<br />
zu wollen, <strong>de</strong>utlich auf. Bereits im Lala-Fall sprach <strong>de</strong>r<br />
EGMR aus, dass, damit das Recht durch einen Verteidiger<br />
verteidigt zu wer<strong>de</strong>n, „praktisch und wirksam ist und<br />
nicht nur theoretisch“ sei, „seine Ausübung nicht an die<br />
Erfüllung ungebührlich formalistischer Bedingungen<br />
geknüpft wer<strong>de</strong>n“ dürfe. 67 Da die Gerichte die Fairness<br />
<strong>de</strong>s Verfahrens zu gewährleisten hätten, sei von ihnen<br />
sicherzustellen, dass einem „Verteidiger, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verhandlung<br />
zu <strong>de</strong>m offensichtlichen Zweck, <strong>de</strong>n Angeklagten in<br />
seiner Abwesenheit zu verteidigen, beiwohnt, Gelegenheit<br />
gegeben wird, dies zu tun“ 68 . Damit brachte <strong>de</strong>r<br />
Gerichtshof schon 1994 zum Ausdruck, dass es für die<br />
Ausübung <strong>de</strong>s Rechts auf Verteidigung ausschließlich auf<br />
<strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>s Zugegenseins <strong>de</strong>s Verteidigers ankomme<br />
und er eng verstan<strong>de</strong>nen Formalismen, die zu einer Beschränkung<br />
o<strong>de</strong>r Verhin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Agierens eines verteidigungs-<br />
und vertretungsbereiten Verteidigers führen,<br />
unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>s Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ablehnend<br />
gegenübersteht. Im Bewusstsein dieser Rechtsprechung<br />
und unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r anhalten<strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nz<br />
<strong>de</strong>s EGMR, das Recht auf Verteidigung durchaus<br />
weit auszulegen, es sowohl als Recht auf Verteidigung als<br />
auch Recht auf Vertretung zu verstehen, und somit <strong>de</strong>r<br />
Verzicht auf Anwesenheit in <strong>de</strong>r Verhandlung nicht als<br />
Verzicht auf mittelbare Teilhabe an <strong>de</strong>r Verhandlung<br />
durch einen Verteidiger zu werten ist, 69 erscheint die<br />
einschränken<strong>de</strong> Interpretation <strong>de</strong>s OLG München (wie<br />
auch jene <strong>de</strong>s OLG Hamm) als nicht konventionskonform,<br />
wer<strong>de</strong>n hier doch extrem formalistische Ansätze<br />
bemüht, die die Anfor<strong>de</strong>rungen an die Vertretungsvollmacht<br />
im Rahmen <strong>de</strong>s § 329 StPO sehr hoch ansetzen.<br />
Zieht man darüber hinaus ins Kalkül, dass im Rahmen<br />
<strong>de</strong>s § 411 StPO sogar die von einem Verteidiger auf<br />
Grund einer durch <strong>de</strong>n Angeklagten mündlichen erteilten<br />
Vollmacht selbst unterzeichnete Vollmachtsurkun<strong>de</strong> als<br />
ausreichend für die Vertretung <strong>de</strong>sselben erachtet wird, 70<br />
erscheint es unverhältnismäßig und nicht schlüssig, in<br />
Fällen <strong>de</strong>s § 329 an die Vollmachtsurkun<strong>de</strong> <strong>de</strong>rartig<br />
strenge Maßstäbe anzulegen.<br />
67<br />
EGMR, Lala v. Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong> (Fn. 30), ÖJZ 1995, 196, 197;<br />
Meyer-Mews NJW 2002, 1928.<br />
68<br />
EGMR, Lala v. Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong> (Fn. 30), ÖJZ 1995, 196, 197.<br />
69<br />
LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 708 u.V.a. Pietiläinen v.<br />
Finnland in Fn. 1766.<br />
70<br />
BayObLG NStZ 2002, 277; Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj<br />
v. Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012, 493, 494.<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
4. Zur Möglichkeit konventionskonformer<br />
Auslegung <strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO<br />
An<strong>de</strong>rs als das OLG München ortet ein Teil <strong>de</strong>r Lehre<br />
sehr wohl Raum für eine konventionskonforme Auslegung<br />
<strong>de</strong>s § 329 Abs. 1 S. 1 StPO, sind die gelten<strong>de</strong>n nationalen<br />
Normen doch – solange methodisch vertretbar –<br />
völkerrechtsfreundlich auszulegen, um einen Konventionsverstoß<br />
Deutschlands nicht eintreten zu lassen. 71<br />
Zutreffend führt Esser in Bezug auf § 329 Abs. 1 StPO<br />
aus, dass in ihm eine Vertretung <strong>de</strong>s Angeklagten nicht<br />
ausgeschlossen, son<strong>de</strong>rn in Fällen, „in <strong>de</strong>nen dies zulässig<br />
ist“, erlaubt sei, sodass eine Berücksichtigung <strong>de</strong>r<br />
Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR keine Schwierigkeiten bereitet.<br />
72 Durch diese wird ein Fall erzeugt, in welchem eine<br />
Abwesenheitsverhandlung durchgeführt wer<strong>de</strong>n darf:<br />
Immer dann, wenn <strong>de</strong>r Beschuldigte das Gericht informiert,<br />
durch seinen Verteidiger vertreten wer<strong>de</strong>n zu<br />
wollen, sei diese Vertretung zu gewähren. 73 Es entstün<strong>de</strong>n<br />
insofern keine verfassungsrechtlichen o<strong>de</strong>r – auch<br />
von Esser zu Recht kritisch gesehenen – Be<strong>de</strong>nken einfachen<br />
Bun<strong>de</strong>srechts, die ein an<strong>de</strong>res Ergebnis for<strong>de</strong>rn<br />
wür<strong>de</strong>n. 74<br />
Nur in engsten Ausnahmefällen könnte – sofern es etwa<br />
für die Sachaufklärung unerlässlich erscheine 75 – die<br />
Anwesenheit <strong>de</strong>s Angeklagten mit mil<strong>de</strong>ren<br />
(Zwangs-)Mitteln als <strong>de</strong>r generellen Verwerfung seiner<br />
Berufung herbeigeführt wer<strong>de</strong>n, 76 ansonsten eine Konventionswidrigkeit<br />
drohe. 77 Auch ein Größenschluss a<br />
maiore ad minus streitet für eine Vereinbarkeit <strong>de</strong>r<br />
EMRK mit <strong>de</strong>m Wortlaut <strong>de</strong>s einschlägigen Bun<strong>de</strong>srechts,<br />
<strong>de</strong>nn wenn die Konvention schon auf Grund <strong>de</strong>r<br />
Verfassung in einem Maße Beachtung fin<strong>de</strong>n muss, dass<br />
sie am Vorrang <strong>de</strong>s Gesetzes teilhat und von <strong>de</strong>r Rechtsprechung<br />
zu beachten ist, so spricht umso mehr dafür,<br />
eine Berücksichtigung <strong>de</strong>r EMRK für mit <strong>de</strong>m Wortlaut<br />
<strong>de</strong>s einschlägigen Bun<strong>de</strong>srechts vereinbar zu halten,<br />
selbst wenn dieser Wortlaut ausdrücklich auf eine (abweichen<strong>de</strong>)<br />
gesetzliche Regelung verweist. 78<br />
Eine Aufspaltung <strong>de</strong>s Verteidigungs- und Vertretungsrechts<br />
i.S. <strong>de</strong>s Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK auf Ebene <strong>de</strong>s<br />
nationalen Rechts in eine „Verhandlung zur Sache“, die<br />
bei Abwesenheit <strong>de</strong>s Angeklagten nicht stattfin<strong>de</strong>n dürfe<br />
71<br />
LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 711.<br />
72<br />
LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 711.<br />
73<br />
LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 711; Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis<br />
NStZ 2011, 140, 148; Püschel Anm. zu<br />
EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012, 493,<br />
494 mN.<br />
74<br />
LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 711; i.d.S. Püschel Anm.<br />
zu EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012,<br />
493, 494.<br />
75<br />
EGMR, Pietiläinen v. Finnland (Fn. 38), <strong>HRRS</strong> 2009 Nr.<br />
981 Rn. 28; Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland<br />
(Fn. 22), StraFo 2012, 493, 494.<br />
76<br />
Grundsätzlich dafür votierend Esser/Gae<strong>de</strong>/Tsambikakis NStZ<br />
2011, 140, 148; Lampe Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland<br />
(Fn. 12), jurisPR-StrafR 5/<strong>2013</strong> Anm. 1; Püschel Anm.<br />
zu EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012,<br />
493, 494; skeptisch LR/Esser (Fn. 2) EMRK Art. 6 Rn. 711.<br />
77<br />
Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 22),<br />
StraFo 2012, 493, 494.<br />
78<br />
Grabenwarter JZ 20<strong>10</strong>, 857, 866.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
404
Aufsätze und Anmerkungen<br />
und eine Erörterung von Rechtsfragen, welche auch mit<br />
<strong>de</strong>m Verteidiger allein und ohne Vertretungsvollmacht i.<br />
S. einer konventionsfreundlichen Auslegung <strong>de</strong>s § 329<br />
Abs. 1 S. 1 StPO durchgeführt wer<strong>de</strong>n könne, (wie von<br />
Lampe propagiert) 79 entspricht in keiner Weise <strong>de</strong>m weiten<br />
Verständnis <strong>de</strong>s EGMR in Bezug auf diese Teilgewährleistung<br />
<strong>de</strong>s fairen Verfahrens 80 und ist als Versuch<br />
<strong>de</strong>r Um<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r klaren inhaltlichen Entscheidung <strong>de</strong>s<br />
Gerichtshofs im Fall Neziraj zu werten.<br />
IV. Schlussbetrachtung und Fazit<br />
§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit gelten<strong>de</strong>n Anwendungspraxis<br />
konventionswidrig. Der EGMR hat in<br />
seiner Entscheidung Neziraj/Deutschland seine bereits seit<br />
langem bestehen<strong>de</strong> Rechtsprechungslinie beibehalten,<br />
<strong>de</strong>m Angeklagten eine stärkere Verfahrensposition als im<br />
<strong>de</strong>utschen Recht zuzubilligen, sodass das Recht auf Verteidigung<br />
i.S. <strong>de</strong>s Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK als ein Recht<br />
auf Verteidigung und Vertretung verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
muss. Subtile Unterscheidungen zwischen einer in freiwilliger<br />
Abwesenheit <strong>de</strong>s Angeklagten zulässigen „Erörterung<br />
von Rechtsfragen“ im Rahmen <strong>de</strong>s § 329 Abs.1 S.<br />
1 StPO durch <strong>de</strong>n Verteidiger und einer als nicht zulässig<br />
erachteten „Verhandlung zur Sache“ in ebensolcher<br />
Abwesenheit entsprechen keineswegs <strong>de</strong>m Telos dieser<br />
Entscheidung und sind in ihr nicht intendiert. Deutschland<br />
ist an das klare Urteil <strong>de</strong>s EGMR gebun<strong>de</strong>n; an<strong>de</strong>rs<br />
als <strong>de</strong>r insofern die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Urteils Neziraj verkennen<strong>de</strong><br />
Beschluss <strong>de</strong>s OLG München wäre es (spätestens)<br />
jetzt – je<strong>de</strong>nfalls bis zu einer wohl tunlichen gesetzgeberischen<br />
Lösung – Aufgabe <strong>de</strong>r Gerichte, § 329<br />
Abs. 1 S. 1 StPO konventionskonform auszulegen. Dies<br />
wäre – entgegen <strong>de</strong>r Rechtsansicht <strong>de</strong>r genannten OLG –<br />
79<br />
Lampe Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 12),<br />
jurisPR-StrafR 5/<strong>2013</strong> Anm. 1.<br />
80<br />
So ein<strong>de</strong>utig Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland<br />
(Fn. 22), StraFo 2012, 493, 495: Reduzierung <strong>de</strong>r Verteidigung<br />
auf reine Unterstützungs- und Beistandsfunktion<br />
ist mit Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR unvereinbar.<br />
Zehetgruber – Zur Unvereinbarkeit von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit <strong>de</strong>r EMRK<br />
sehr wohl und ohne Schwierigkeiten möglich. In <strong>de</strong>r<br />
Entscheidung <strong>de</strong>s OLG München liegt somit in Verkennung<br />
<strong>de</strong>r aus mehreren Ebenen bestehen<strong>de</strong>n Rechtslage<br />
ein weiterer Verstoß gegen die EMRK, 81 <strong>de</strong>r – sofern das<br />
BVerfG eine etwaige Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> hinsichtlich<br />
dieses Beschlusses annehme wür<strong>de</strong> – von jenem noch im<br />
innerstaatlichen Rechtsweg problematisiert wer<strong>de</strong>n<br />
könnte. 82 Sollte dies nicht geschehen, wird Deutschland<br />
neuerlich vom EGMR verurteilt wer<strong>de</strong>n.<br />
Darzulegen, welche weiteren, durchaus weitreichen<strong>de</strong>n<br />
Folgen die Entscheidung Neziraj/Deutschland durch <strong>de</strong>n<br />
EGMR sowie jene <strong>de</strong>s OLG München für das <strong>de</strong>utsche<br />
Strafprozessrecht in Zukunft zeitigen könnten, wür<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Beitrags übersteigen und<br />
kann daher nicht mehr <strong>de</strong>ssen Ziel sein; zu nennen seien<br />
nur Überlegungen zur (möglicherweise weiter zu fassen<strong>de</strong>n)<br />
Abwesenheit <strong>de</strong>s Angeklagten auch in <strong>de</strong>r 1. Instanz,<br />
zur Konventionskonformität <strong>de</strong>s § 329 Abs. 2 S. 2<br />
StPO o<strong>de</strong>r zur Abwesenheit im OWi-Verfahren, die aus<br />
<strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>r Neziraj-Entscheidung <strong>de</strong>s EGMR als<br />
mögliche „Baustellen“ im Verfahrensrecht angesehen<br />
wer<strong>de</strong>n könnten. 83<br />
Aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Rechtssicherheit – sowohl für die<br />
Rechtsanwen<strong>de</strong>r als auch -unterworfenen – könnte sich<br />
<strong>de</strong>r Gesetzgeber zur Reformierung <strong>de</strong>r einschlägigen<br />
Vorschriften <strong>de</strong>r StPO durchringen. 84 Ob dies jedoch<br />
tatsächlich erfolgt, darf angesichts <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit aufgezeigten<br />
nationalen Meinung zur Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r EMRK und<br />
<strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR bezweifelt wer<strong>de</strong>n.<br />
81<br />
Vgl. zu <strong>de</strong>n daraus erwachsen<strong>de</strong>n möglichen Folgen bzw.<br />
zur Überwachung <strong>de</strong>r Umsetzung <strong>de</strong>r Urteile <strong>de</strong>s EGMR im<br />
Allgemeinen nur Meyer-La<strong>de</strong>wig (Fn. 63) Art. 46 Rn. 43 ff.<br />
82<br />
Meyer-La<strong>de</strong>wig (Fn. 63) Art. 46 Rn. 38.<br />
83<br />
Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj v. Deutschland (Fn. 22),<br />
StraFo 2012, 493, 495.<br />
84<br />
So etwa <strong>de</strong>r Wunsch von Püschel Anm. zu EGMR, Neziraj v.<br />
Deutschland (Fn. 22), StraFo 2012, 493, 495.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
405
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Ibold – Beweisqualität von Daten-CDs<br />
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Beweisqualität von Daten-CDs – Anfor<strong>de</strong>rungen an<br />
<strong>de</strong>n Nachweis einer Steuerhinterziehung<br />
Kurzanmerkung zu AG Nürnberg, 46 Ds 513 Js 1382/11 (Urteil v. 2.8. 2012)<br />
= <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 838<br />
Von Dr. Victoria Ibold, München<br />
I. Einleitung<br />
Über <strong>de</strong>n Ankauf von Daten-CDs mit Informationen über<br />
<strong>de</strong>utsche „Steuersün<strong>de</strong>r“ aus Län<strong>de</strong>rn wie <strong>de</strong>r Schweiz<br />
und Liechtenstein wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n letzten Jahren viel geschrieben.<br />
Während in <strong>de</strong>n Medien über die moralische<br />
Legitimität <strong>de</strong>s staatlichen Ankaufs unberechtigt erlangter<br />
Daten-CDs gestritten wur<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Strafrechtsdogmatik<br />
eine etwas leisere, wenngleich nicht<br />
weniger kontroverse Diskussion über die Rechtmäßigkeit<br />
einer solchen Beweiserhebung und ihrer Verwertung im<br />
Strafverfahren geführt. 1<br />
Die Rechtsprechung schien sich relativ zügig ein<strong>de</strong>utig<br />
entschie<strong>de</strong>n zu haben. 20<strong>10</strong> urteilte das BVerfG auf eine<br />
Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> 2 hin, dass <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rliche Anfangsverdacht<br />
für eine Wohnungsdurchsuchung ohne<br />
Verfassungsverstoß auf Daten gestützt wer<strong>de</strong>n kann, die<br />
ein Informant aus <strong>de</strong>m Ausland auf einem Datenträger an<br />
die Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland verkauft; ein Beweisverwertungsverbot<br />
bestehe selbst dann nicht, wenn bei<br />
<strong>de</strong>r Datenbeschaffung nach innerstaatlichem Recht<br />
rechtswidrig o<strong>de</strong>r gar strafbar gehan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n sei. 3<br />
Überraschend scheint daher – knapp zwei Jahre nach <strong>de</strong>r<br />
Entscheidung <strong>de</strong>s BVerfG – das Urteil <strong>de</strong>s AG Nürnbergs<br />
vom 2. August 2012 4 – und dies sogar in zweierlei Hinsicht,<br />
nämlich sowohl hinsichtlich seines Ergebnisses als<br />
auch seiner Begründung:<br />
1<br />
Siehe zu einer Übersicht anstatt vieler nur Heine, FS Roxin<br />
(2011), S. <strong>10</strong>87 ff. zur Rechtmäßigkeit/Rechtswidrigkeit<br />
<strong>de</strong>s Datenankaufs durch <strong>de</strong>utsche Behör<strong>de</strong>n sowie Schünemann<br />
NStZ 2008, 305, 309 zur Frage <strong>de</strong>r Beweisverwertung.<br />
2<br />
Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> richtete sich gegen einen<br />
Durchsuchungsbeschluss <strong>de</strong>s AG Bochum v. 8.4.2009 sowie<br />
die diesbezügliche Beschwer<strong>de</strong>entscheidung <strong>de</strong>s LG<br />
Bochum v. 7.8.2009 <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 1112 = NStZ 20<strong>10</strong>,<br />
351.<br />
3<br />
BVerfG <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong> Nr. 1128 = NJW 2011, 2417.<br />
4<br />
AG Nürnberg <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 838.<br />
Den Angeklagten lag zur Last, Kapitalerträge eines Kontos<br />
in Liechtenstein nicht ordnungsgemäß in Deutschland<br />
erklärt zu haben; als Tatnachweis sollten Unterlagen<br />
dienen, die auf einer angekauften Daten-CD aufgefun<strong>de</strong>n<br />
wor<strong>de</strong>n waren. Das AG Nürnberg sprach die bei<strong>de</strong>n Angeklagten<br />
aus tatsächlichen Grün<strong>de</strong>n frei – seine Entscheidung<br />
stützte das Gericht dabei nicht etwa auf die<br />
Unverwertbarkeit <strong>de</strong>r erlangten Beweise, son<strong>de</strong>rn auf<br />
<strong>de</strong>ren mangeln<strong>de</strong> Eignung, <strong>de</strong>n Tatnachweis einer Steuerhinterziehung<br />
zu führen.<br />
II. Sachverhalt<br />
Den bei<strong>de</strong>n Angeklagten wur<strong>de</strong> seitens <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft<br />
zusammengefasst folgen<strong>de</strong>r Sachverhalt zur Last<br />
gelegt:<br />
Einer <strong>de</strong>r Angeklagten soll einen Betrag von<br />
1.876.053,21 DM am 17.01.2001 einer Stiftung in Liechtenstein<br />
gewidmet und in diese überführt haben. Das<br />
Stiftungsvermögen habe <strong>de</strong>n Angeklagten als Erstbegünstigte<br />
zu ungeteilter Hand zugestan<strong>de</strong>n, für das Konto<br />
<strong>de</strong>r Stiftung bei <strong>de</strong>r LGT Bank seien sie daher letztlich<br />
wirtschaftlich Berechtigte. In <strong>de</strong>r Zeit zwischen 2002 und<br />
2006 sollen die Angeklagten aus diesem Kapitalvermögen<br />
Einkünfte erzielt haben, die sie nicht in <strong>de</strong>n für diese<br />
Jahre gemeinsam abgegebenen Steuererklärungen angegeben<br />
haben sollen. Insgesamt belaufe sich die hinterzogene<br />
Steuer auf 76.099,00 €.<br />
III. Entscheidungsgrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s AG<br />
Nürnberg<br />
Die Frage <strong>de</strong>r Verwertbarkeit <strong>de</strong>r Unterlagen auf <strong>de</strong>r<br />
Daten-CD spielte für das Gericht ebenso wenig eine<br />
Rolle wie die Frage ihrer Authentizität. Nach Ansicht <strong>de</strong>s<br />
AG Nürnbergs lässt sich im vorliegen<strong>de</strong>n Fall vielmehr<br />
<strong>de</strong>r Tatnachweis einer Steuerhinterziehung nicht mit <strong>de</strong>r<br />
notwendigen Sicherheit feststellen; <strong>de</strong>shalb waren die<br />
Angeklagten aus tatsächlichen Grün<strong>de</strong>n freizusprechen.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
406
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Es bestehe zwar eine naheliegen<strong>de</strong> und insgesamt recht<br />
wahrscheinlich Vermutung für eine Steuerhinterziehung;<br />
über diesen Anfangsverdacht hinaus hätten sich jedoch<br />
keine weiteren Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung<br />
ergeben; die verbliebenen Zweifel gingen zu Gunsten<br />
<strong>de</strong>r Angeklagten.<br />
Nach Ansicht <strong>de</strong>s Gerichts lassen sich aus <strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m<br />
Datenträger vorhan<strong>de</strong>nen Unterlagen lediglich ein bestimmter<br />
Kontostand zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
und die Berechtigung <strong>de</strong>r Angeklagten hieran sicher<br />
feststellen. Über das Anlageverhalten, insbeson<strong>de</strong>re die<br />
Anlageform, sowie die Anlagedauer sei nichts bekannt.<br />
Möglich sei beispielsweise auch eine Überführung <strong>de</strong>s<br />
Stiftungsvermögens in eine Immobilie. Es spreche zwar<br />
eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Gel<strong>de</strong>r<br />
zinsträchtig angelegt wor<strong>de</strong>n seien; ein dahin gehen<strong>de</strong>r,<br />
allgemein gültiger Grundsatz bestehe hingegen nicht. Es<br />
bestehe zu<strong>de</strong>m auch kein Anhaltspunkt dafür, dass die<br />
im Jahr 2000 gewidmeten Beträge auch im Jahr 2006<br />
angelegt gewesen seien und Zinserträge ermöglichten.<br />
IV. Bewertung<br />
Das Urteil <strong>de</strong>s AG Nürnberg beschäftigt sich mit einem<br />
Aspekt um die angekauften Daten-CDs, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r bisherigen<br />
Diskussion neben <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Beweisverwertung<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Beweisauthentizität 5 weitgehend unbeleuchtet<br />
geblieben ist: nämlich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Beweisqualität – genügen<br />
die auf <strong>de</strong>r Daten-CD vorhan<strong>de</strong>nen Unterlagen, um aus<br />
sich heraus, <strong>de</strong>n Tatnachweis einer Steuerhinterziehung<br />
zu führen? Denn: außer <strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>r Daten-CD vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Unterlagen stan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Gericht keine weiteren<br />
Beweise zur Verfügung – we<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
durchgeführten Durchsuchung Unterlagen aufgefun<strong>de</strong>n<br />
noch äußerten sich die Angeklagten zum Tatvorwurf.<br />
Diese Frage hat das Gericht zu Recht verneint. Und es<br />
setzt sich damit nicht, wie auf <strong>de</strong>n ersten Blick zu vermuten<br />
wäre, in Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>n – verfassungsgerichtlich<br />
bestätigten – untergerichtlichen Entscheidungen 6 , die<br />
sich bisher mit <strong>de</strong>r Problematik <strong>de</strong>r angekauften Daten-<br />
CDs beschäftigt haben. In diesen Entscheidungen ging es<br />
wesentlich um die Frage <strong>de</strong>r Beweisverwertbarkeit –<br />
diese Frage lässt jedoch das Amtsgericht Nürnberg mangels<br />
Entscheidungserheblichkeit offen. Auch mussten<br />
sich die bisherigen Entscheidungen lediglich mit <strong>de</strong>r<br />
Frage eines Anfangsverdachts einer Steuerhinterziehung<br />
zur Rechtfertigung eines Durchsuchungsbeschlusses<br />
beschäftigen. Hierfür ließ bspw. das LG Bochum in seiner<br />
Entscheidung v. 7.8.2009 7 Beweise genügen, wie sie auch<br />
<strong>de</strong>m AG Nürnberg vorlagen: eine Widmungserklärung<br />
bzgl. eines Geldbetrags für eine Stiftung, einen Kontoauszug<br />
zu einem bestimmten Zeitpunkt sowie einen<br />
Vermerk über die Feststellung <strong>de</strong>r wirtschaftlich berechtigten<br />
Personen. An<strong>de</strong>re Anfor<strong>de</strong>rungen gelten jedoch an<br />
5<br />
Sofern auf <strong>de</strong>n Daten-CDs nicht Originaldokumente vorhan<strong>de</strong>n<br />
sind, son<strong>de</strong>rn nur die bloßen Informationen über<br />
angebliche Auslandskonten, stellt sich die Frage nach <strong>de</strong>ren<br />
inhaltlichen Richtigkeit.<br />
6<br />
Siehe dazu LG Bochum v. 7.8.2009 a.a.O. (Fn. 2) sowie LG<br />
Bochum v. 22.4.2009 = <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 1111 = BeckRS<br />
2009, 07<strong>10</strong>4.<br />
7<br />
a.a.O. (Fn. 2).<br />
Ibold – Beweisqualität von Daten-CDs<br />
<strong>de</strong>n Nachweis für eine Steuerhinterziehung allein auf <strong>de</strong>r<br />
Basis angekaufter Bankdaten mit <strong>de</strong>nen sich nun – soweit<br />
ersichtlich erstmals – das AG Nürnberg auseinan<strong>de</strong>rsetzten<br />
musste.<br />
In Ermangelung an<strong>de</strong>rweitiger Regelungen in <strong>de</strong>n<br />
§§ 386-408 AO gelten auch für das Steuerstrafverfahren<br />
die allgemeinen Grundsätze <strong>de</strong>s Strafprozesses für die<br />
Feststellung <strong>de</strong>s Tatnachweises. 8 Voraussetzung ist daher<br />
für das Führen eines Tatnachweises insbeson<strong>de</strong>re eine<br />
objektiv hohe Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>r Tatbegehung auf<br />
Grundlage <strong>de</strong>r zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Beweise. 9 Bestehen<strong>de</strong><br />
Zweifel gehen nach <strong>de</strong>m Grundsatz in dubio pro<br />
reo zu Gunsten <strong>de</strong>s Täters. Keine Anwendung fin<strong>de</strong>t<br />
insbeson<strong>de</strong>re die im Besteuerungsverfahren gelten<strong>de</strong><br />
Beweiswürdigung, die insbeson<strong>de</strong>re dann, wenn <strong>de</strong>r<br />
Steuerpflichtige „sich nicht einlässt“ und seine Mitwirkungspflicht<br />
gem. § 90 AO verletzt, eine Begrenzung <strong>de</strong>r<br />
Sachaufklärungspflicht und Min<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Beweismaßes<br />
erlaubt. <strong>10</strong> Einzig bei <strong>de</strong>r Feststellung <strong>de</strong>s Schuldumfangs<br />
sind Lockerungen an <strong>de</strong>n Tatnachweis möglich und zwar<br />
durch die Möglichkeit, die Besteuerungsgrundlagen zu<br />
schätzen. Eine Schätzung <strong>de</strong>r Besteuerungsgrundlagen<br />
kommt aber nach <strong>de</strong>r st. Rspr. <strong>de</strong>s BGH nur dann in<br />
Betracht, wenn lediglich das Ausmaß <strong>de</strong>r verwirklichten<br />
Besteuerungsgrundlagen ungewiss ist, hingegen aber<br />
feststeht, dass ein Besteuerungstatbestand erfüllt ist. 11<br />
Genau dies konnte aber das AG Nürnberg in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n<br />
Entscheidung unter Zugrun<strong>de</strong>legung <strong>de</strong>r Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
an die richterliche Überzeugung nicht feststellen:<br />
Es lagen schon keine hinreichen<strong>de</strong>n Beweise vor,<br />
dass die Angeklagten überhaupt Kapitalerträge in Liechtenstein<br />
erzielt haben, dass also überhaupt ein Besteuerungstatbestand<br />
vorliegt. Eine Schätzung <strong>de</strong>r Besteuerungsgrundlagen<br />
kommt daher schon nicht in Betracht.<br />
Überzeugend argumentiert das Gericht, es bestehe kein<br />
allgemein gültiger Grundsatz, dass nicht benötigte Gel<strong>de</strong>r<br />
zinsträchtig angelegt wer<strong>de</strong>n. Es führt richtigerweise<br />
aus, dass nicht benötigte Gel<strong>de</strong>r, die sich zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt auf einem ausländischen Konto<br />
befin<strong>de</strong>n, we<strong>de</strong>r einen Schluss auf das Ob noch insbeson<strong>de</strong>re<br />
auf das Wie einer Anlage zulassen. Möglich<br />
erscheint etwa, wie das Gericht ausführt, eine Anlage in<br />
Immobilien o<strong>de</strong>r auch in Gold o<strong>de</strong>r einer Lebensversicherung,<br />
die nicht zwangsläufig steuerrechtlich relevante<br />
Erträge abwerfen. Daneben lässt die Beweisgrundlage<br />
auch keinen Schluss auf die Dauer einer möglichen kapitalertragssteuerrechtlich<br />
relevanten Anlage zu – selbst<br />
wenn 2001 Kapitalerträge erzielt wor<strong>de</strong>n sein mögen,<br />
muss dies nicht für die Folgejahre bis 2006 <strong>de</strong>r Fall gewesen<br />
sein.<br />
Auf einer solchen Beweisgrundlage durfte das Gericht<br />
nicht von einer objektiv hohen Wahrscheinlichkeit einer Tatbegehung<br />
ausgehen. Zwingend war daher vom AG Nürnberg<br />
die Anwendung <strong>de</strong>s Grundsatzes in dubio pro reo<br />
und <strong>de</strong>r Freispruch <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Angeklagten.<br />
8<br />
Siehe nur MüKo-StGB/Schmitz/Wulf (2006), § 370 Rn. 168.<br />
9<br />
BGH NJW 1988, 3273; NJW 1999, 1562, 1564.<br />
<strong>10</strong><br />
Siehe zu Nachweisen unten Fn. 12.<br />
11<br />
BGH NStZ-RR 2009, 343, 344 = <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 179;<br />
NStZ 2007, 589 = <strong>HRRS</strong> 2007 Nr. 630.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
407
Aufsätze und Anmerkungen<br />
So sehr sich das Urteil <strong>de</strong>s AG Nürnberg in die bestehen<strong>de</strong>n<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s BGH an die Bildung richterlicher<br />
Überzeugung einzufügen scheint und keinen Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
zu <strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>n Entscheidungen zu <strong>de</strong>n Daten-CDs<br />
erzeugt, so bleibt doch offen, ob seine Erwägungen<br />
auch auf das stets zum Steuerstrafverfahren parallel<br />
laufen<strong>de</strong> Besteuerungsverfahren übertragbar sind.<br />
Kann im Besteuerungsverfahren ein steuerbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r<br />
Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärten wer<strong>de</strong>n, weil<br />
<strong>de</strong>r Steuerpflichtige „sich nicht einlässt“, son<strong>de</strong>rn seine<br />
Mitwirkungspflicht gem. § 90 AO verletzt, geht dies nicht<br />
zwangsläufig zu Gunsten <strong>de</strong>s Steuerpflichtigen. Es führt<br />
vielmehr zu einer Begrenzung <strong>de</strong>r Sachaufklärungspflicht<br />
und zu einer Min<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Beweismaßes; insbeson<strong>de</strong>re<br />
können bei <strong>de</strong>r Verletzung <strong>de</strong>r Mitwirkungspflicht bzgl.<br />
Tatsachen und Beweismitteln, die aus <strong>de</strong>m alleinigen<br />
Verantwortungsbereich <strong>de</strong>s Steuerpflichtigen stammen,<br />
nachteilige Schlüsse aus seinem Verhalten gezogen und<br />
insbeson<strong>de</strong>re eine Schätzung gem. § 162 AO auch auf<br />
nicht bezifferbare Besteuerungsgrundlagen bezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
12 Ein Schätzen im Sinne eines Schlussfolgerns mit<br />
vermin<strong>de</strong>rtem Überzeugungsgrad bezieht sich nach dieser<br />
Rechtsprechung <strong>de</strong>s BFH dann wohl unter bestimmten<br />
Voraussetzungen – im Gegensatz zum BGH – auch<br />
auf die Feststellung, ob überhaupt ein Besteuerungstatbestand<br />
vorliegt.<br />
Vor diesem Hintergrund ist <strong>de</strong>nn auch eine Entscheidung<br />
<strong>de</strong>s FG Köln aus <strong>de</strong>m Jahr 20<strong>10</strong> 13 zu sehen, die bzgl. <strong>de</strong>r<br />
Beweiswürdigung von Unterlagen auf einer angekauften<br />
Daten-CD eine an<strong>de</strong>re Richtung einschlägt als das AG<br />
Nürnberg. Auch in diesem Fall lagen <strong>de</strong>m Gericht nur die<br />
Unterlagen einer Daten-CD vor. Das FG Köln entschied<br />
im Rahmen eines Antrags auf Aufschub <strong>de</strong>r Vollstreckung,<br />
dass keine ernsthaften Zweifel an <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit<br />
<strong>de</strong>s angefochtenen Steuerbeschei<strong>de</strong>s gegeben<br />
seien, weil <strong>de</strong>r Antragsteller seiner – durch einen Auslandssachverhalt<br />
begrün<strong>de</strong>ten – erhöhten Mitwirkungspflicht<br />
nicht nachgekommen sei. Der Steuerpflichtige<br />
könne sich nicht darauf berufen, dass er Sachverhalte<br />
nicht aufklären o<strong>de</strong>r Beweismittel nicht beschaffen könne.<br />
Denn insbeson<strong>de</strong>re hätte <strong>de</strong>r Sachverhalt durch <strong>de</strong>n<br />
Steuerpflichtigen etwa durch Vorlage von Kontounterlagen<br />
über die Geldanlagen leicht transparent gemacht<br />
wer<strong>de</strong>n können. Das FG Köln ließ damit an<strong>de</strong>rs als das<br />
AG Nürnberg wohl eine „recht wahrscheinliche“ Steuerhinterziehung<br />
genügen, in <strong>de</strong>m es die fehlen<strong>de</strong> Mitwirkung<br />
<strong>de</strong>s Steuerpflichtigen mit einer Min<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />
Beweismaßes „quittierte“. Ob das FG Köln sich dabei<br />
noch im Rahmen <strong>de</strong>s vom BFH vorgesehenen gemin<strong>de</strong>rten<br />
Beweismaßes bewegte o<strong>de</strong>r vielmehr <strong>de</strong>r Rückschluss<br />
von Kontostän<strong>de</strong>n in bestimmten Jahren auch auf Vorjahre<br />
zu weit geht 14 , mag dahin stehen. Die Entscheidung<br />
<strong>de</strong>s FG Köln ver<strong>de</strong>utlicht je<strong>de</strong>nfalls die bestehen<strong>de</strong>n<br />
grundsätzlichen Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Beweiswürdigung<br />
zwischen <strong>de</strong>m Steuerstraf- und Besteuerungsverfahren,<br />
und damit auch die möglicherweise begrenzte Aussage-<br />
12<br />
BFH NVwZ-RR 1990, 282, 283.<br />
13<br />
FG Köln DstRE 2011, <strong>10</strong>76 = BeckRS 2011, 95441.<br />
14<br />
Kritisch hierzu etwa Stepputat/Bergan DStRE 2011, <strong>10</strong>76,<br />
<strong>10</strong>78.<br />
Ibold – Beweisqualität von Daten-CDs<br />
kraft <strong>de</strong>s Urteils <strong>de</strong>s AG Nürnberg rein auf das Steuer<strong>strafrecht</strong>.<br />
V. Fazit und Ausblick<br />
Das Urteil <strong>de</strong>s AG Nürnberg scheint nur auf <strong>de</strong>n ersten<br />
Blick überraschend: Das Urteil setzt sich gera<strong>de</strong> nicht in<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>r bisherigen Rechtsprechung zu angekauften<br />
Daten-CDs, da im vorliegen<strong>de</strong>n Fall die Frage <strong>de</strong>r<br />
Beweisverwertung nicht berührt wur<strong>de</strong> und es im Übrigen<br />
nicht bloß um die Feststellung eines Anfangsverdachtes<br />
ging, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>n tatsächlichen Nachweis<br />
einer Steuerhinterziehung. Zu<strong>de</strong>m fügt sich das Urteil in<br />
die ständige Rechtsprechung <strong>de</strong>s BGH ein, wonach eine<br />
Beweiserleichterung im Steuerstrafverfahren in Form<br />
einer Schätzung <strong>de</strong>r Besteuerungsgrundlagen nur dann in<br />
Betracht kommt, wenn feststeht, dass ein Besteuerungstatbestand<br />
erfüllt ist.<br />
Abzuwarten bleibt, welche Auswirkung dieses Urteil auf<br />
die Praxis haben wird. Dem Urteil mag als untergerichtliche<br />
Entscheidung per se nicht großes Gewicht beizumessen<br />
sein. Dennoch – das Urteil ist rechtskräftig und es<br />
bereichert die Debatte um die angekauften Daten-CDs<br />
um <strong>de</strong>n bisher weitgehend unbeachtet gebliebenen, jedoch<br />
maßgeblichen Aspekt <strong>de</strong>r Beweisqualität. Zu<strong>de</strong>m ist<br />
das Urteil von bezwingen<strong>de</strong>r Logik und Klarheit und<br />
lässt wenig Raum für eine an<strong>de</strong>re Bewertung <strong>de</strong>r Beweisgrundlagen.<br />
Zu beachten bleibt, dass das vorliegen<strong>de</strong> Urteil nur auf<br />
diejenigen Fälle Anwendung fin<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>nen neben <strong>de</strong>n<br />
Unterlagen auf <strong>de</strong>n Daten-CDs keine weiteren Beweise<br />
etwa durch Hausdurchsuchungen o<strong>de</strong>r Einlassungen <strong>de</strong>r<br />
Beschuldigten vorliegen. 15 Zu<strong>de</strong>m hängt eine Übertragbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Entscheidung auch davon ab, welche Unterlagen<br />
im konkreten Fall auf einer CD vorhan<strong>de</strong>n sind. Es<br />
mag Fälle geben, die einen Schluss darauf zulassen, dass<br />
im Ausland kapitalertragssteuerrechtlich relevante Erträge<br />
erzielt wur<strong>de</strong>n, mithin ein Besteuerungstatbestand<br />
erfüllt ist.<br />
Sofern aber wie in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Entscheidung lediglich<br />
die Berechtigung an einem nicht erklärten Konto im<br />
Ausland, auf welchem sich zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
ein bestimmter Geldbetrag befin<strong>de</strong>t, feststeht und<br />
die Beschuldigten sich nicht einlassen, weist die Entscheidung<br />
<strong>de</strong>s AG Nürnberg <strong>de</strong>n Weg, <strong>de</strong>n ein solches<br />
steuer<strong>strafrecht</strong>liches Verfahren gehen muss: nämlich<br />
<strong>de</strong>n einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO bzw. eines<br />
Freispruchs mangels Tatnachweis.<br />
Offen bleibt, ob dieses Urteil Einfluss auf Entscheidungen<br />
in parallel geführten Besteuerungsverfahren haben<br />
wird. Dies vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r grundsätzlichen<br />
Möglichkeit <strong>de</strong>r Reduzierung <strong>de</strong>s Beweismaßes im Besteuerungsverfahren<br />
sowie <strong>de</strong>r entgegenstehen<strong>de</strong>n Entscheidung<br />
<strong>de</strong>s FG Köln aus <strong>de</strong>m Jahr 20<strong>10</strong>.<br />
15<br />
Solche Fälle wer<strong>de</strong>n jedoch nicht selten vorkommen, da<br />
viele <strong>de</strong>utsche Bankkun<strong>de</strong>n Vorsorge gegen etwaige Hausdurchsuchungen<br />
dadurch getroffen hatten, dass sie Bankunterlagen<br />
„banklagernd“ <strong>de</strong>ponierten.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
408
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Brodowski – Zur empirischen Herleitung <strong>de</strong>s Zehn-Augen-Prinzips im Revisionsverfahren<br />
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Zur empirischen Herleitung <strong>de</strong>s Zehn-Augen-Prinzips<br />
im Revisionsverfahren<br />
Von Dominik Brodowski, LL.M. (UPenn), München<br />
Fischer setzt mit seinem Beitrag „Der Einfluss <strong>de</strong>s Berichterstatters<br />
auf die Ergebnisse <strong>strafrecht</strong>licher Revisionsverfahren“<br />
1 sein Plädoyer fort, dass sämtliche zur<br />
Entscheidung berufenen (Revisions-)Richter am Bun<strong>de</strong>sgerichtshof<br />
unmittelbar Kenntnis zu nehmen haben von<br />
<strong>de</strong>n verfahrensgegenständlichen Akten („Zehn-Augen-<br />
Prinzip“) 2 und nicht allein mittelbar durch <strong>de</strong>n Aktenvortrag<br />
<strong>de</strong>s Berichterstatters in Kenntnis gesetzt wer<strong>de</strong>n<br />
dürfen. 3 Neben scharfsinnigen normativen Überlegungen<br />
tritt dabei eine empirische Argumentation, die auf <strong>de</strong>m<br />
Einfluss <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s Berichterstatters auf das Ergebnis<br />
<strong>de</strong>s Revisionsverfahrens basiert. Bei dieser auf beachtlichen<br />
Rohdaten 4 beruhen<strong>de</strong>n empirischen Herleitung <strong>de</strong>s<br />
Zehn-Augen-Prinzips im Revisionsverfahren lässt Fischer<br />
<strong>de</strong>n Leser in<strong>de</strong>s im Unklaren, ob und auf welche mathematisch-statistischen<br />
Metho<strong>de</strong>n 5 er seine Schlussfolgerungen<br />
stützt. 6 Diese Lücke in seiner Argumentation sei<br />
im Folgen<strong>de</strong>n geschlossen.<br />
1<br />
Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425.<br />
2<br />
Das „Senatsheft“ enthält neben <strong>de</strong>m angefochtenen Urteil<br />
„die Revisionseinlegung(en) und Revisionsbegründung(en),<br />
die Gegenerklärung(en) <strong>de</strong>s Revisionsgegners,<br />
die Stellungnahme <strong>de</strong>s GBA (ggf. mit einer in Bezug genommenen<br />
Stellungnahme <strong>de</strong>s Generalstaatsanwalts <strong>de</strong>s<br />
OLG-Bezirks) sowie ggf. weitere, nachgereichte Schriftsätze“,<br />
Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 427.<br />
3<br />
Ebenso Fischer/Eschenbach/Krehl StV <strong>2013</strong>, 395; Fischer/Krehl<br />
StV 2012, 550; a.A. Brause JR <strong>2013</strong>, 134, 136 ff.; differenzierend<br />
Becker <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong>, 264; s. nun auch die Erwi<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s 5. Strafsenats, Basdorf/ San<strong>de</strong>r/Schnei<strong>de</strong>r/Dölp/König/Berger/Bellay<br />
NStZ <strong>2013</strong>, 563 sowie<br />
die Replik von Fischer/Eschelbach/Krehl NStZ <strong>10</strong>, 564; vgl.<br />
ferner Hassemer NJW-Editorial 35/<strong>2013</strong>.<br />
4<br />
Zur Qualität dieser Rohdaten s. aber bereits Fischer NStZ<br />
<strong>2013</strong>, 425, 429 f., 432 in Fn. 31.<br />
5<br />
Exemplarisch zur statistischen Methodik Bortz/Schuster,<br />
Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler, 7. Aufl.<br />
20<strong>10</strong>; Dytham, Choosing and Using Statistics, 3. Aufl. 2011;<br />
Hatzinger/Hornik/Nagel, R – Einführung durch angewandte<br />
Statistik, 2011; Wickens, Multiway contingency table analysis<br />
for the social sciences, 1989.<br />
6<br />
Kritik hieran richten auch Basdorf/San<strong>de</strong>r/Schnei<strong>de</strong>r/<br />
Dölp/König/Berger/Bellay NStZ <strong>2013</strong>, 563, 564, die einer<br />
Überprüfung <strong>de</strong>r Ergebnisse „auf statistische Signifikanz“<br />
for<strong>de</strong>rn. Explizit, aber methodisch so nicht hinnehmbar ist<br />
die Herangehensweise Beckers, <strong>de</strong>r in einer <strong>de</strong>skriptiven Beschreibung<br />
aus <strong>de</strong>n „Unterschie<strong>de</strong>[n] von 30%“ in <strong>de</strong>n<br />
Aufhebungsquoten zwischen <strong>de</strong>n Berichterstattern auf eine<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
I. Einfluss <strong>de</strong>s Strafsenats auf das<br />
Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens<br />
Fischer referiert zunächst, mit welcher Häufigkeit welcher<br />
Strafsenat <strong>de</strong>s BGH in <strong>de</strong>n Jahren 2008 bis 2012 im Beschlussweg<br />
eine Revision als offensichtlich unbegrün<strong>de</strong>t<br />
verwarf o<strong>de</strong>r das angefochtene Urteil teilweise o<strong>de</strong>r vollständig<br />
aufhob (§§ 349 II, IV StPO). 7 Als zu wi<strong>de</strong>rlegen<strong>de</strong><br />
Nullhypothese verwen<strong>de</strong>t Fischer, dass es auf das im<br />
Beschlussweg getroffene Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens<br />
– sprich: auf die Häufigkeitsverteilung zwischen<br />
Verwerfungen, Teilaufhebungen und Komplettaufhebungen<br />
– keinen Einfluss habe, welcher Senat die Entscheidung<br />
treffe. Da es für die Revisionsentscheidung keine a<br />
priori zu erwarten<strong>de</strong> Verteilung gibt, son<strong>de</strong>rn allein zu<br />
überprüfen ist, ob das Merkmal „Strafsenat“ von <strong>de</strong>m<br />
Merkmal „Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens“ stochastisch<br />
unabhängig ist, eignen sich hierfür <strong>de</strong>r (klassischere)<br />
χ 2 -Test 8 sowie <strong>de</strong>r – hier im Folgen<strong>de</strong>n verwen<strong>de</strong>te 9 –<br />
(mo<strong>de</strong>rnere) G-Test <strong>10</strong> ; zur Auswahl <strong>de</strong>r Testmetho<strong>de</strong>n sei<br />
auf die einschlägige statistische Spezialliteratur verwiesen.<br />
11 Als Signifikanzniveau sei, wie in <strong>de</strong>n empirischen<br />
Sozialwissenschaften üblich, α=.05 gewählt; mit diesem<br />
vorab zu bestimmen<strong>de</strong>n Wert gibt man an, welches statistische<br />
„Restrisiko“ – hier also 5 % – man bei empirischen<br />
Schlussfolgerungen zu tragen bereit ist.<br />
Da keine zeitlichen Unterschie<strong>de</strong> untersucht wer<strong>de</strong>n<br />
sollen, bietet es sich hier an, <strong>de</strong>n gesamten Beobach-<br />
Signifikanz <strong>de</strong>r Unterschie<strong>de</strong> schließt; Becker <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong>,<br />
264, 266 bei und mit Fn. 26.<br />
7<br />
Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 428. Zuvor belegt Fischer noch, dass<br />
in allen Strafsenaten die Erledigung im Beschlussweg dominiert.<br />
8<br />
Pearson's Chi-squared Test for Count Data; vgl. Pearson<br />
Philosophical Magazine Series 5-50, 157, 157 ff.<br />
9<br />
Statistisch relevante Unterschie<strong>de</strong> zwischen diesen bei<strong>de</strong>n<br />
Testmetho<strong>de</strong>n ergeben sich beim vorliegen<strong>de</strong>n Datenmaterial<br />
nicht. Das Auswertungsskript ist beim Verf. verfügbar;<br />
als Auswertungssoftware wur<strong>de</strong> R 2.15.1 sowie das R-<br />
Skript von Hurd, verfügbar unter http://www.pmc.ucsc<br />
.edu/~mclapham/Rtips/G%20test.txt (Stand: 15.<strong>10</strong>.<strong>2013</strong>),<br />
verwen<strong>de</strong>t.<br />
<strong>10</strong><br />
Vgl. nur Sokal/Rohlf, Biometry, 3. Aufl. 1995, S. 729 ff.<br />
11<br />
S. hierzu insbeson<strong>de</strong>re Bortz/Schuster (o. Fn. 5), S. 137 ff.;<br />
Dytham (o. Fn. 5), S. 7 ff.; 72 ff.; Hatzinger/Hornik/Nagel (o.<br />
Fn. 5), S. 202 ff.; Wickens (o. Fn. 5), S. 26 ff.<br />
409
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Brodowski – Zur empirischen Herleitung <strong>de</strong>s Zehn-Augen-Prinzips im Revisionsverfahren<br />
tungszeitraums 2008-2012 zusammenzufassen 12 ; dabei<br />
zeigt sich eine signifikante Abhängigkeit <strong>de</strong>s Ergebnisses<br />
<strong>de</strong>s Revisionsverfahrens vom zur Entscheidung berufenen<br />
Strafsenat, G 2 (8) = 458.34, p < .001. Zur Erläuterung:<br />
Der G 2 -Wert ist eine aus <strong>de</strong>n Rohdaten berechnete<br />
statistische Prüfgröße, welche – stark vereinfacht gesprochen<br />
– die Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Häufigkeitsverteilung<br />
bemisst. Der sich aus <strong>de</strong>m G 2 -Wert und aus <strong>de</strong>r Anzahl<br />
<strong>de</strong>r Freiheitsgra<strong>de</strong> – hier 8 – ergeben<strong>de</strong> p-Wert gibt die<br />
Wahrscheinlichkeit an, mit <strong>de</strong>r man das vorliegen<strong>de</strong><br />
(o<strong>de</strong>r noch abweichen<strong>de</strong>res) Datenmaterial beobachten<br />
kann, wenn die Nullhypothese zutrifft. Ist <strong>de</strong>r p-Wert<br />
kleiner als das gewählte Signifikanzniveau α, wird die<br />
Nullhypothese verworfen; ist dieser größer, so wird die<br />
Nullhypothese beibehalten. Da hier p < .001 und damit<br />
<strong>de</strong>utlich kleiner als α=.05 ist, ist die Nullhypothese zu<br />
Gunsten <strong>de</strong>r gegenteiligen Alternativhypothese zu verwerfen:<br />
Das Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens hängt<br />
vom zur Entscheidung berufenen Strafsenat in statistisch<br />
signifikanter Weise ab. Die Abhängigkeit lässt sich auch<br />
nicht durch einen einzelnen „Ausreißer“-Senat erklären.<br />
13 All dies stützt folglich die Bewertung Fischers, dass<br />
die berichteten Häufigkeiten „durch Zufall gar nicht und<br />
in <strong>de</strong>r Sache nur schwer zu erklären“ seien. 14<br />
Gewisse Vorsicht bei <strong>de</strong>r Interpretation ist <strong>de</strong>nnoch geboten,<br />
<strong>de</strong>nn Aussagen aufgrund inferenzstatistischer<br />
Auswertungen setzen grundsätzlich voraus, dass an<strong>de</strong>re<br />
als die untersuchten Merkmale möglichst konstant gehalten<br />
wer<strong>de</strong>n und daher keinen Einfluss auf das Ergebnis<br />
haben (ceteris paribus). Diese Voraussetzung ist hier nur<br />
bedingt erfüllt, <strong>de</strong>nn die angefochtenen Urteile unterschei<strong>de</strong>n<br />
sich nach ihrer regionalen Herkunft 15 und teilweise<br />
auch nach ihrem Sachgegenstand, da <strong>de</strong>r Geschäftsverteilungsplan<br />
gewisse Zuständigkeitskonzentrationen<br />
vorsieht. 16 Weitere Unterschie<strong>de</strong> ergeben sich aus<br />
<strong>de</strong>r Besetzung <strong>de</strong>r Senate und <strong>de</strong>ren Spruchkörper zwischen<br />
und innerhalb <strong>de</strong>r einzelnen Jahre. 17 Daneben lässt<br />
die vorstehen<strong>de</strong> Analyse auch außen vor, welche Verfahren<br />
im Beschlusswege entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n und bei welchen<br />
Verfahren <strong>de</strong>r jeweilige Senat die Entscheidung<br />
durch Urteil wählt. 18<br />
12<br />
Die Rohdaten fin<strong>de</strong>n sich in Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 428,<br />
Tabelle 4, insb. Spalte „Summe“.<br />
13<br />
Lässt man <strong>de</strong>njenigen Senat mit <strong>de</strong>n größten Residuen<br />
(d.h. mit <strong>de</strong>r größten Abweichung) außen vor – das ist hier<br />
<strong>de</strong>r 1. Strafsenat –, so ergibt sich gleichwohl eine hoch signifikante<br />
Abhängigkeit, G 2 (6) = 116.21, p < 0.001; auch<br />
eine Korrektur dieser post hoc-Analyse nach Bonferroni än<strong>de</strong>rte<br />
hieran nichts.<br />
14<br />
Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 428.<br />
15<br />
Hierzu Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 428 f.<br />
16<br />
Exemplarisch waren etwa Steuer- und Zollstrafsachen im<br />
Geschäftsverteilungsplan (nicht nur) <strong>de</strong>s Jahres 2012 allein<br />
<strong>de</strong>m 1. Strafsenat zugewiesen.<br />
17<br />
Dabei han<strong>de</strong>lt es sich jeweils nur um teilweise Verän<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>r Besetzung; dies legitimiert die hier gewählte<br />
Herangehensweise, die Häufigkeiten für <strong>de</strong>n gesamten Berichtszeitraum<br />
aufzusummieren.<br />
18<br />
Summiert man die im Beschluss- und im Urteilswege<br />
ergangenen Verwerfungen einerseits sowie die Komplettbzw.<br />
Teilaufhebungen an<strong>de</strong>rerseits auf und lässt die Abän<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>s Urteils mit eigener Entscheidung in <strong>de</strong>r Sache<br />
außen vor, zeigt sich ebenfalls eine hoch signifikante<br />
Abhängigkeit <strong>de</strong>s Merkmals „Ergebnis“ vom Merkmal<br />
„Strafsenat“, G 2 (4) = 402.24, p < .001. Die Rohdaten fin-<br />
II. Einfluss <strong>de</strong>s Berichterstatters auf das<br />
Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens<br />
Sodann untersucht Fischer <strong>de</strong>n Einfluss <strong>de</strong>s Berichterstatters<br />
im 2. Strafsenat auf das Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens.<br />
Eine Auswertung seines Datenmaterials 19 ergibt,<br />
dass das Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens (Verwerfung,<br />
Teil- o<strong>de</strong>r Komplettaufhebung) signifikant davon abhängig<br />
ist, wer Berichterstatter ist, G 2 (18) = <strong>10</strong>8.65, p <<br />
.001. Eine zusätzliche post hoc-Analyse zeigt auch hier,<br />
dass dies nicht auf einem einzelnen „Abweichler“ beruht.<br />
20 Der für geringe absolute Häufigkeiten beson<strong>de</strong>rs<br />
geeignete G-Test ergibt hier markante Ergebnisse, was<br />
gegen <strong>de</strong>n Einwand spricht, es liege zu wenig Datenmaterial<br />
vor. 21 Doch auch bei diesem Datenmaterial ist ceteris<br />
paribus nur teilweise gegeben: Zwar wird <strong>de</strong>r jeweilige<br />
Berichterstatter im 2. Strafsenat streng nach abstrakten<br />
Kriterien ausgewählt. 22 Welcher Berichterstatter für wie<br />
viele Urteilsverfahren – und mit welchem Ergebnis –<br />
verantwortlich zeichnet, ist hingegen ein unbekannter<br />
Faktor. Ein weiterer, gewichtiger Einflussfaktor sind<br />
zu<strong>de</strong>m die weiteren zur (einstimmigen) Entscheidung<br />
berufenen Senatsmitglie<strong>de</strong>r, die sich je nach personeller<br />
Besetzung <strong>de</strong>s 2. Strafsenats und auch je nach Spruchgruppe<br />
unterschei<strong>de</strong>n. Trotz dieser qualitativen Einschränkungen<br />
<strong>de</strong>r Datengrundlage spricht viel für die<br />
Bewertung Fischers, die unterschiedliche Häufigkeitsverteilung<br />
und damit <strong>de</strong>r Einfluss <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s Berichter<strong>de</strong>n<br />
sich in Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 427, Tabelle 2 sowie<br />
428, Tabelle 4, insb. Spalte „Summe“.<br />
19<br />
Die von Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 430 f., Tabelle 5, nach<br />
Jahren mitgeteilten Häufigkeiten von Verwerfungen, Komplettaufhebungen<br />
und Teilaufhebungen bei Entscheidungen<br />
nach § 349 II, IV StPO lasen sich, differenziert nach Berichterstattern<br />
im 2. Strafsenat, über <strong>de</strong>n Beobachtungszeitraum<br />
aufsummieren:<br />
Verwerfung<br />
Nr. 1 173 1 21<br />
Nr. 2 167 0 15<br />
Nr. 3 232 31 67<br />
Nr. 4 212 2 30<br />
Nr. 5 361 7 51<br />
Nr. 6 337 12 54<br />
Nr. 7 229 16 51<br />
Nr. 8 179 11 46<br />
Nr. 9 167 19 26<br />
Nr. <strong>10</strong> 148 3 31<br />
Berichterstatter<br />
Komplettaufhebung<br />
Teilaufhebung<br />
20<br />
Lässt man <strong>de</strong>njenigen Berichterstatter mit <strong>de</strong>n größten<br />
außen vor – das ist hier Berichterstatter Nr. 3 –, so ergibt<br />
sich gleichwohl eine hoch signifikante Abhängigkeit,<br />
G 2 (16) = 71.30, p < 0.001; auch eine Korrektur dieser post<br />
hoc-Analyse nach Bonferroni än<strong>de</strong>rte hieran nichts.<br />
21<br />
So aber – ohne eigene inferenzstatistische Auswertung –<br />
ten<strong>de</strong>nziell Basdorf/San<strong>de</strong>r/Schnei<strong>de</strong>r/Dölp/König/ Berger/Bellay<br />
NStZ <strong>2013</strong>, 563, 564; vgl. hiergegen Fischer/Eschelbach/Krehl<br />
NStZ <strong>2013</strong>, 564, 565.<br />
22<br />
Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 427.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
4<strong>10</strong>
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Brodowski – Zur empirischen Herleitung <strong>de</strong>s Zehn-Augen-Prinzips im Revisionsverfahren<br />
statters auf das Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens sei<br />
„signifikant“. 23<br />
III. Einfluss <strong>de</strong>s Vorsitzen<strong>de</strong>n auf das<br />
Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens<br />
Betrachtet man zur Analyse <strong>de</strong>s Einflusses <strong>de</strong>s Senatsvorsitzen<strong>de</strong>n<br />
auf das Ergebnis <strong>de</strong>s Revisionsverfahrens<br />
zunächst nur die – aufsummierten – unter <strong>de</strong>n jeweiligen<br />
Vorsitzen<strong>de</strong>n getroffenen Entscheidungen, so lässt sich<br />
keine statistisch signifikante Abhängigkeit dieses Ergebnisses<br />
vom Merkmal „Vorsitzen<strong>de</strong>r“ feststellen; je nach<br />
Datenquelle 24 G 2 (6) = 7.26, p = .30 o<strong>de</strong>r G 2 (6) = 9.26, p<br />
= .16. 25 Allerdings ist in <strong>de</strong>r Tat zu hinterfragen, ob die<br />
Vorsitzen<strong>de</strong>n V2 bis V4 in <strong>de</strong>n 6 bis 11 Monaten ihrer<br />
Tätigkeit bereits eine ausreichen<strong>de</strong> Zeit hatten, „ihren“ –<br />
zu<strong>de</strong>m durch personelle Turbulenzen aufgewiegelten und<br />
zeitweise durch einen Doppelvorsitz belasteten – Senat<br />
zu prägen. 26<br />
Innerhalb <strong>de</strong>s Beobachtungszeitraums 2008-2012 kam es<br />
allerdings noch zu einem weiteren Wechsel <strong>de</strong>s Vorsitzes,<br />
<strong>de</strong>r einen statistischen Seitenblick lohnt, namentlich im<br />
4. Strafsenat. 27 Vergleicht man die Erledigungen im (letzten)<br />
vollen Amtsjahr <strong>de</strong>r vorherigen Vorsitzen<strong>de</strong>n 2009<br />
und im (ersten und letzten) vollen Amtsjahr <strong>de</strong>s neuen<br />
Vorsitzen<strong>de</strong>n 2011, 28 so zeigt sich eine signifikante Ab-<br />
23<br />
Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 430.<br />
24<br />
Summenwerte aus Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 430 f., Tabelle 5<br />
bzw. 432, Tabelle 6. Zu <strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n zwischen diesen<br />
bei<strong>de</strong>n Datenquellen vgl. Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 432<br />
in Fn. 31. Ferner ist zu beachten, dass 2011 innerhalb <strong>de</strong>s<br />
Jahres <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> wechselte.<br />
25<br />
Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man ceteris<br />
paribus-Bedingungen wenigstens annähernd herzustellen<br />
sucht, in<strong>de</strong>m man das Datenmaterial auf diejenigen Berichterstatter<br />
Nr. 5 bis Nr. 9, die unter <strong>de</strong>m Vorsitz von V1<br />
bis V4 agierten, und auf <strong>de</strong>n Beobachtungszeitraum 20<strong>10</strong><br />
bis 2012 begrenzt, <strong>de</strong>nn dann ergibt sich G 2 (6) = 2.08, p =<br />
.91.<br />
26<br />
Weniger skeptisch Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 432 in Fn. 30.<br />
27<br />
Im 3. Strafsenat wechselte <strong>de</strong>r Vorsitz bereits im Laufe <strong>de</strong>s<br />
Jahres 2008; im 4. Strafsenat erneut erst im Laufe <strong>de</strong>s Jahres<br />
2012; im 1. und 5. Strafsenat kam es im Beobachtungszeitraum<br />
zu keinem Wechsel in <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s Vorsitzen<strong>de</strong>n.<br />
28<br />
Aus <strong>de</strong>n von Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 428, Tabelle 4 mitgeteilten<br />
Rohdaten lassen sich die Häufigkeiten von Verwerfungen,<br />
Komplettaufhebungen und Teilaufhebungen bei<br />
Entscheidungen <strong>de</strong>s 4. Strafsenats nach § 349 II, IV StPO in<br />
<strong>de</strong>n Jahren 2009 (Vorsitz: V) und 2011 (Vorsitz: V*) bestimmen:<br />
2009 – Vorsitzen<strong>de</strong><br />
V<br />
2011 – Vorsitzen<strong>de</strong>r<br />
V*<br />
485 9 87<br />
467 15 129<br />
Jahr Verwerfung Komplettaufhebung<br />
Teilaufhebung<br />
hängigkeit zwischen Vorsitz und Ergebnis, G 2 (2) = 9.21,<br />
p = .01. Diese Analyse lässt in<strong>de</strong>s die umfänglichen weiteren<br />
personellen Verän<strong>de</strong>rungen im 4. Strafsenat zwischen<br />
2009 und 2011 außer Acht.<br />
Auf Grundlage dieser geringen, unsicheren und zwei<strong>de</strong>utigen<br />
Datengrundlage lässt sich somit schlicht – so auch<br />
Fischer 29 – keine fundierte Aussage darüber treffen, ob ein<br />
Vorsitzen<strong>de</strong>r einen statistisch signifikanten Einfluss auf<br />
die Ergebnisse <strong>de</strong>r im Beschlussweg erledigten Revisionen<br />
hat. Hierfür wären weitere Erhebungen erfor<strong>de</strong>rlich.<br />
30<br />
IV. Fazit<br />
Fischer bewies Treffsicherheit in seiner empirischen Argumentation:<br />
Das Ergebnis <strong>de</strong>r im Beschlussweg erledigten<br />
Revisionen ist signifikant abhängig von <strong>de</strong>m zur<br />
Entscheidung berufenen Senat sowie innerhalb <strong>de</strong>s Senats<br />
vom zur Vorbereitung <strong>de</strong>r Entscheidung berufenen<br />
Berichterstatter. Mit <strong>de</strong>n von ihm berichteten Rohdaten<br />
und <strong>de</strong>n hier angewandten inferenzstatistischen Metho<strong>de</strong>n<br />
lässt sich allerdings we<strong>de</strong>r eine kausale Wirkungskette<br />
nachweisen (so ginge es etwa fehl, aus dieser Auswertung<br />
zu schließen, je<strong>de</strong>r Berichterstatter setze sich „fast<br />
immer“ mit seinem Votum durch) noch eine Aussage für<br />
Einzelfälle o<strong>de</strong>r für einzelne Berichterstatter treffen.<br />
Auch ist anzuerkennen, dass in <strong>de</strong>r weit überwiegen<strong>de</strong>n<br />
Mehrzahl <strong>de</strong>r Revisionsverfahren das Ergebnis i<strong>de</strong>ntisch<br />
sein dürfte, wer auch immer Berichterstatter ist. Es verbleibt<br />
aber, vereinfacht gesprochen, eine statistische<br />
Auffälligkeit bei einer nicht unerheblichen Anzahl von<br />
Revisionsverfahren, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>rselbe Senat unterschiedliche<br />
Entscheidungen trifft, je nach <strong>de</strong>m welcher<br />
Richter als Berichterstatter wirkt. Die – ungeklärte –<br />
normative Kernfrage ist nun, ob eben dies verfassungsund<br />
strafprozessrechtlich hinzunehmen ist.<br />
Schließlich: Der Einsatz statistischer Metho<strong>de</strong>n hält<br />
etliche Fallstricke bereit, in <strong>de</strong>nen man sich – als Rechtswissenschaftler,<br />
aber auch als Praktiker – bei einer zu<br />
oberflächlichen Betrachtung von empirischem Datenmaterial<br />
verfangen kann. 31 Bewertungen solchen Datenmaterials<br />
sollten daher, um nachvollziehbar zu sein, stets<br />
Ausführungen zur angewen<strong>de</strong>ten statistischen Methodik<br />
enthalten.<br />
29<br />
Fischer NStZ <strong>2013</strong>, 425, 428 bezeichnet dies als „offen“.<br />
30<br />
Ein Ansatzpunkt für eine solche Auswertung wäre, sich auf<br />
diejenigen Berichterstatter zu konzentrieren, die – infolge<br />
wechseln<strong>de</strong>r Zuweisung – unter verschie<strong>de</strong>nen Vorsitzen<strong>de</strong>n<br />
agierten bzw. agieren.<br />
31<br />
Exemplarisch sei verweisen auf die sog. „prosecutor's<br />
fallacy“ – grundlegend Thompson/Schumann Law and Human<br />
Behavior 11 (1987), S. 167-187 – sowie auf die Fehlerquellen<br />
beim Umgang mit biometrischen und aus Datenbanken<br />
extrahierten Daten – zusammenfassend Brodowski,<br />
Weighting Digital Evi<strong>de</strong>nce in Criminal Proceedings, in:<br />
Jänke u.a. (Hrsg.), Current Issues in IT Security (2012), S.<br />
9, 19 ff.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
411
Aufsätze und Anmerkungen<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
Von Wiss. Ass. Dr. Mohamad El-Ghazi/Wiss. Mit. Andreas Merold *<br />
I. Einführung<br />
Das Erfor<strong>de</strong>rnis, einen Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die Verwertung<br />
eines Beweismittels zu erheben, um <strong>de</strong>ssen Verwertbarkeit<br />
im Strafverfahren auszuschließen, steht bereits<br />
von jeher in <strong>de</strong>r Diskussion. 1 Der Diskurs beschränkt<br />
sich dabei überwiegend auf die Frage nach <strong>de</strong>r<br />
dogmatischen Berechtigung und <strong>de</strong>r Reichweite <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnisses.<br />
2 Neuerdings wird <strong>de</strong>r Versuch<br />
unternommen, die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung auf ein neues<br />
dogmatisches Fundament zu stellen. Insbeson<strong>de</strong>re Mosbacher<br />
spricht sich dafür aus, in <strong>de</strong>n Fällen eines fehlen<strong>de</strong>n<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchs <strong>de</strong>m Beschwer<strong>de</strong>führer das notwendige<br />
Rechtsschutzbedürfnis abzusprechen. 3 Der Bun<strong>de</strong>sgerichtshof<br />
beruft sich bislang (noch) auf die sog. Tatbestandslösung,<br />
die <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die Verwertung<br />
<strong>de</strong>s Beweismittels zur notwendigen tatbestandlichen<br />
Voraussetzung für das Eingreifen eines Beweisverwertungsverbots<br />
erhebt. 4<br />
Ein ausdrückliches Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r<br />
Rechtsprechung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgerichtshofs erstmals im<br />
Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Verletzung <strong>de</strong>r Belehrungspflichten<br />
aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO (auch i. V. m. § 163a Abs.<br />
*<br />
Der Autor El-Ghazi ist Wissenschaftlicher Assistent am<br />
Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht von Frau Prof.<br />
Dr. Ingeborg Zerbes (Universität Bremen); <strong>de</strong>r Autor<br />
Merold ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an <strong>de</strong>r Universität<br />
Bremen.<br />
1<br />
Zur Entwicklung <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung vgl. Kudlich<br />
<strong>HRRS</strong> 2011, 114 ff.<br />
2<br />
Zur Begründung aus <strong>de</strong>m Gedanken <strong>de</strong>r Disposition siehe<br />
BGHSt 50, 272, 274 = <strong>HRRS</strong> 2006 Nr. 40 Rn. 13; kritisch<br />
hierzu Mosbacher, in: Festschrift für Widmaier (2008), S.<br />
339, 343; <strong>de</strong>m Gedanken folgend, <strong>de</strong>m erkennen<strong>de</strong>n Gericht<br />
die Möglichkeit zu geben, <strong>de</strong>m Beweisverwertungsverbot<br />
nachzugehen: BGHSt 42, 38; hierzu Mosbacher NJW<br />
2007, 3686; Mosbacher JuS 2008, 125; allgemein kritisch zur<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchslösung siehe Fezer StV 1997, 57, 58 f.; Fezer<br />
JZ 2006, 474; Roxin JZ 1997, 346; Roxin NStZ 2007, 616,<br />
618; Her<strong>de</strong>gen NStZ 2000, 1; Heinrich ZStW 112, S. 39. Weitere<br />
Nachweise bei Meyer-Goßner, 56. Aufl. (<strong>2013</strong>), § 136<br />
Rn. 15; dargestellt bei Kuhn JA 20<strong>10</strong>, 891 ff.; insbeson<strong>de</strong>re<br />
zum Begründungs<strong>de</strong>fizit siehe Fezer <strong>HRRS</strong> 20<strong>10</strong>, 281, 282<br />
f.<br />
3<br />
Mosbacher, in: Festschrift für Widmaier (2008), S. 339, 348.<br />
4<br />
Vgl. nur BGHSt 38, 214, 225; BGH StV 1987, 139, 140;<br />
BGH StV 1995, 283, 286; OLG Celle StV 1997, 68; kritisch<br />
beispielsweise Du<strong>de</strong>l, Das Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis bei Beweisverwertungsverboten,<br />
Diss. (1999), S. 88 ff.<br />
4 S. 2 StPO) formuliert. 5 Im Laufe <strong>de</strong>r Zeit wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Anwendungsbereich <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung auf immer<br />
mehr Beweisverwertungsverbote ausge<strong>de</strong>hnt. Ein Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
ist nach heutiger Rechtsprechung u. a. auch bei<br />
einer fehlerhaften Belehrung über die Rechte nach Art.<br />
36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK, 6 bei einem Verstoß gegen<br />
<strong>de</strong>n Richtervorbehalt aus § 81a Abs. 2 7 o<strong>de</strong>r § <strong>10</strong>5 Abs. 1<br />
S. 1 StPO 8 , bei <strong>de</strong>r Verwertung von Erkenntnissen aus<br />
einer Telefonüberwachung 9 o<strong>de</strong>r bei einem Verstoß gegen<br />
die Benachrichtigungspflichten aus § 168c Abs. 5 StPO <strong>10</strong><br />
erfor<strong>de</strong>rlich, um ein Beweisverwertungsverbot auszulösen.<br />
Zum Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis an sich kommen qualitative<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen hinzu. Der Wi<strong>de</strong>rspruch bedarf einer<br />
inhaltlichen Begründung, die die Stoßrichtung <strong>de</strong>s Angriffs<br />
erkennen lassen muss. 11 Er muss sich ferner auf<br />
je<strong>de</strong>s Beweismittel beziehen, das für unverwertbar gehalten<br />
wird. 12 Ein allgemeiner Wi<strong>de</strong>rspruch soll damit nicht<br />
genügen.<br />
5<br />
BGHSt 38, 214, 218; 39, 349; 42, 15, 22 ff.; 50, 272, 274 =<br />
<strong>HRRS</strong> 2006 Nr. 40 Rn. 12; 52, 38 = <strong>HRRS</strong> 2007 Nr. 900<br />
Rn. 19; BGH NJW 1997, 2893; BGH NStZ 1997, 502; BGH<br />
NStZ 2004, 389 = <strong>HRRS</strong> 2004 Nr. 324 Rn. 4; hierzu<br />
Burhoff StraFo, 2003, 267, 268; zum Begriff <strong>de</strong>r Beschuldigtenvernehmung<br />
siehe Hin<strong>de</strong>rer JA 2012, 115 ff.; Finger JA<br />
2006, 529, 534 f. Hinsichtlich <strong>de</strong>r Belehrung über das<br />
Recht, einen Verteidiger hinzuzuziehen, vgl. BGH NStZ<br />
1997, 609; Kaufmann, NStZ 1998, 474. Zur Anwendung bei<br />
§ 136a StPO offengelassen in BGH NStZ 1996, 290 und<br />
BGH NStZ 2008, 706, 707 = <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 133 Rn. 3;<br />
ange<strong>de</strong>utet in BGH NStZ 2011, 596, 598 = <strong>HRRS</strong> 2011 Nr.<br />
612 Rn. 6; kritisch Fezer StV 1997, 57 ff.<br />
6<br />
BGHSt 52, 38, 41 = <strong>HRRS</strong> 2007 Nr. 900 Rn. 18; kritisch<br />
Gae<strong>de</strong> <strong>HRRS</strong> 2007, 402, 403 ff.<br />
7<br />
OLG Frankfurt NStZ-RR 2011, 46; OLG Hamm NJW 2009,<br />
242, 243; OLG Hamburg StV 2008, 454; Prittwitz StV 2008,<br />
486, 492 f.; Heß NJW-Spezial 2008, 297, 298.<br />
8<br />
Vgl. nur OLG Hamm StV 2009, 567, 568; (wohl) BGH<br />
NStZ 2009, 648 = <strong>HRRS</strong> 2009 Nr. 663 Rn. 4.<br />
9<br />
BGH StV 2001, 545; BGH StV 2008, 63, 64 = <strong>HRRS</strong> 2006<br />
Nr. 473 Rn. 35; a. A. Wollweber wistra 2001, 182. Zum Verständnis<br />
<strong>de</strong>s § 238 Abs. 2 StPO als Wi<strong>de</strong>rspruchshandlung<br />
siehe Fezer <strong>HRRS</strong> 2006, 239, 240.<br />
<strong>10</strong><br />
Mosbacher, in: Festschrift für FS Widmaier (2008), S. 339,<br />
342.<br />
11<br />
Vgl. BGHSt 52, 38, 42 = <strong>HRRS</strong> 2007 Nr. 900 Rn. 20; BGH<br />
StV 2011, 603, 604 = <strong>HRRS</strong> 2011 Nr. 975 Rn. 13.<br />
12<br />
BGHSt 39, 349, 352 f.; Burhof StraFo, 2003, 267, 271. Es<br />
genügt jedoch, wenn aus <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>utlich wird,<br />
dass er sich auf alle ein Beweisthema betreffen<strong>de</strong>n Beweis-<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
412
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Inwieweit <strong>de</strong>r Angeklagte durch die Statuierung eines<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnisses belastet wird, hängt jedoch<br />
vor allem davon ab, wie lange ihm das Recht zur Disposition<br />
über die Verwertbarkeit <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Beweismittels<br />
zugestan<strong>de</strong>n wird. Es macht natürlich einen gravieren<strong>de</strong>n<br />
Unterschied, ob <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch unverzüglich<br />
nach Beginn <strong>de</strong>r Hauptverhandlung angebracht wer<strong>de</strong>n<br />
muss o<strong>de</strong>r ob die Verteidigung sich ihn bis zum letzten<br />
Wort <strong>de</strong>s Angeklagten vorbehalten kann. Je enger das<br />
zeitliche Fenster gespannt wird, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Verwertungswi<strong>de</strong>rspruch<br />
erhoben wer<strong>de</strong>n kann, <strong>de</strong>sto eher<br />
besteht die Gefahr, dass eine Verwertung von Beweiserkenntnissen<br />
gegen <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s Angeklagten erfolgt.<br />
Eine solche Gefahr gilt es insbeson<strong>de</strong>re dann zu vermei<strong>de</strong>n,<br />
wenn man ein Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis unter Berufung<br />
auf die Dispositionsfreiheit <strong>de</strong>s Angeklagten über<br />
das Verwertungsverbot zu rechtfertigen sucht. 13<br />
Die Rechtsprechung verlangt diesbezüglich, dass <strong>de</strong>r<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch in einem engen temporären Zusammenhang<br />
mit <strong>de</strong>r jeweiligen Beweiserhebung erfolgen muss.<br />
Zur Determination <strong>de</strong>s letztmöglichen Zeitpunktes greift<br />
<strong>de</strong>r BGH dabei auf § 257 StPO zurück. 14 Der Verwertung<br />
müsse spätestens nach Abschluss <strong>de</strong>r jeweiligen Beweiserhebung<br />
und damit noch vor Beginn <strong>de</strong>r darauffolgen<strong>de</strong>n<br />
Beweiserhebung wi<strong>de</strong>rsprochen wer<strong>de</strong>n.<br />
Ein verspäteter Wi<strong>de</strong>rspruch soll nicht, auch nicht nach<br />
Aussetzung <strong>de</strong>s Verfahrens o<strong>de</strong>r im Rahmen eines neuen<br />
Instanzenzugs nach Aufhebung <strong>de</strong>s Urteils durch das<br />
Revisionsgericht, nachgeholt wer<strong>de</strong>n können. 15 Ob <strong>de</strong>r<br />
rechtzeitig erhobene Wi<strong>de</strong>rspruch in die nächste Tatsacheninstanz<br />
fortwirkt, ist hingegen bislang nicht höchstrichterlich<br />
geklärt – dieser Frage soll hier aber nicht näher<br />
nachgegangen wer<strong>de</strong>n. 16<br />
II. Anwendung <strong>de</strong>s § 257 StPO<br />
Nach § 257 StPO haben sowohl <strong>de</strong>r Angeklagte als auch<br />
die Verteidigung und die Staatsanwaltschaft nach je<strong>de</strong>r<br />
Beweiserhebung die Gelegenheit, sich zu ihr zu erkläerhebungen<br />
beziehen soll, vgl. zuletzt BGH NJW <strong>2013</strong>,<br />
2769, 2772 f. = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 805 Rn. 27.<br />
13<br />
So BGHSt 51, 1, 3 = <strong>HRRS</strong> 2006 Nr. 313 Rn. 7, <strong>10</strong>.<br />
14<br />
BGHSt 38, 214, 225 f.; 39, 349, 352; 50, 272, 274 = <strong>HRRS</strong><br />
2006 Nr. 40 Rn. 12; kritisch Fezer JZ 1994, 686, 687.<br />
15<br />
So auch nicht nach einer Zurückverweisung durch das<br />
Revisionsgericht, vgl. BGHSt 50, 272 = <strong>HRRS</strong> 2006 Nr. 40<br />
Rn. 12; a. A. Schlothauer StV 2006, 397, 398; Burhoff StraFo,<br />
2003, 267, 271; Basdorf StV 1997, 488, 492; Hartwig JR<br />
1998, 359, 363; Her<strong>de</strong>gen NStZ 2000, 1, 4; für die Wie<strong>de</strong>raufnahme<br />
siehe OLG Stuttgart StV 2001, 388; Burhoff Stra-<br />
Fo, 2003, 267, 271.<br />
16<br />
Gegen eine Fortwirkung z. B. OLG Stuttgart StV 2001, 388.<br />
So könnte sich unter Beachtung <strong>de</strong>r Begründung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />
über das Rechtsschutzbedürfnis ergeben, dass<br />
<strong>de</strong>r Verteidiger je<strong>de</strong>s mögliche Mittel ergreifen muss, um<br />
sein Rechtsschutz zu verfolgen. Dies wur<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, dass<br />
auch im Rahmen einer nachfolgen<strong>de</strong>n Berufungsinstanz <strong>de</strong>r<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch erhoben wer<strong>de</strong>n müsste, da es sich hierbei<br />
um ein an<strong>de</strong>res Gericht han<strong>de</strong>lt, dass noch nicht über die<br />
Frage <strong>de</strong>r Beweisverwertung entschie<strong>de</strong>n hat und ferner<br />
nicht an die rechtliche Frage <strong>de</strong>s Gerichts in <strong>de</strong>r ersten Instanz<br />
gebun<strong>de</strong>n ist.<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
ren. 17 Der Angeklagte soll vom Vorsitzen<strong>de</strong>n gefragt<br />
wer<strong>de</strong>n, ob er zu <strong>de</strong>r vorausgegangenen Beweiserhebung<br />
etwas zu erklären habe (Abs. 1); Staatsanwaltschaft und<br />
Verteidigung ist die Gelegenheit dazu auf Verlangen zu<br />
gewähren (Abs. 2). Zum Umfang <strong>de</strong>s Erklärungsrechts<br />
gibt zumin<strong>de</strong>st § 257 Abs. 3 StPO Anhaltspunkte. 18 Die<br />
Erklärung darf nicht zu einem vorweggenommenen<br />
Schlussplädoyer ausufern.<br />
Prima facie mag die Heranziehung <strong>de</strong>s § 257 StPO auf<br />
Verwun<strong>de</strong>rung stoßen. Zum einen lässt sich dieser Vorschrift,<br />
die u. a. zur Verwirklichung <strong>de</strong>s Anspruchs <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten auf rechtliches Gehör beiträgt 19 , keine Erklärungspflicht,<br />
son<strong>de</strong>rn nur ein Recht auf Erklärung<br />
entnehmen. Zum an<strong>de</strong>ren bewirkt § 257 StPO keine<br />
Präklusion <strong>de</strong>s Erklärungsrechts. 20 Sowohl <strong>de</strong>r Angeklagte<br />
als auch <strong>de</strong>r Verteidiger und die Staatsanwaltschaft<br />
bleiben auch nach <strong>de</strong>m in § 257 StPO benannten Zeitpunkt<br />
weiterhin berechtigt, zu einem späteren Zeitpunkt,<br />
z. B. im Rahmen <strong>de</strong>r Schlussvorträge o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s letzten<br />
Wortes, zu <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>r Beweisaufnahme (nochmals)<br />
Stellung zu beziehen. Mithilfe einer schlichten<br />
Analogie <strong>de</strong>s § 257 StPO lässt sich die Befristung <strong>de</strong>s<br />
Verwertungswi<strong>de</strong>rspruchs damit methodisch nicht bewerkstelligen.<br />
Eine solche Analogie wird vonseiten <strong>de</strong>r<br />
Rechtsprechung wohl auch nicht verfolgt.<br />
Das Erfor<strong>de</strong>rnis, <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch bis zu <strong>de</strong>m in § 257<br />
StPO genannten Zeitpunkt zu erheben, kann daher im<br />
Ergebnis nur als immanenter Bestandteil <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
begriffen wer<strong>de</strong>n. Betrachtet man das<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal<br />
eines Beweisverwertungsverbotes, dann<br />
lässt sich die Rechtzeitigkeit <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs als eine<br />
Art Untertatbestandsmerkmal <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs ansehen.<br />
Tatbestandsvoraussetzung für das Eingreifen eines<br />
Beweisverwertungsverbotes ist damit von vorneherein,<br />
dass <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch – nicht nur überhaupt und in <strong>de</strong>r<br />
richtigen Form, son<strong>de</strong>rn – auch zur richtigen Zeit erhoben<br />
wor<strong>de</strong>n ist. Die Rechtzeitigkeit ist damit Teil <strong>de</strong>r<br />
Gesamtkonzeption <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsi<strong>de</strong>e an sich. Unterstellen<br />
wir, <strong>de</strong>r Gesetzgeber wollte die Frage, wann ein<br />
Verstoß gegen eine Beweiserhebungsvorschrift zu einem<br />
Verwertungsverbot führen soll, nicht selbst regeln, son<strong>de</strong>rn<br />
ihre Beantwortung bewusst <strong>de</strong>r Rechtsprechung<br />
überlassen, dann wäre das Erfor<strong>de</strong>rnis eines rechtzeitigen<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchs, die im Wege einer gesetzesimmanenten<br />
Rechtsfortbildung erzielte Lösung <strong>de</strong>r Rechtsprechung<br />
auf die Beweisverbotsproblematik.<br />
Nur zur Klarstellung: Die vorformulierten Erwägungen<br />
sollen keine Stellungnahme zur Legitimation <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
beinhalten. Ihre Berechtigung soll hier als<br />
unverrückbare Prämisse <strong>de</strong>n nachfolgen<strong>de</strong>n Gedankengängen,<br />
die sich mit <strong>de</strong>r Recht- und Zweckmäßigkeit einer<br />
17<br />
Ausdrücklich miteinbezogen wer<strong>de</strong>n die Vernehmung <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten selbst und die <strong>de</strong>s Mitangeklagten.<br />
18<br />
Leipold StraFo 2001, 300, 301.<br />
19<br />
LR/Stuckenberg, 26. Aufl. (<strong>2013</strong>), § 257 Rn. 2.<br />
20<br />
Maiberg, Zur Wi<strong>de</strong>rspruchsabhängigkeit von strafprozessualen<br />
Verwertungsverboten, Diss. (2003), S. 239.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
413
Aufsätze und Anmerkungen<br />
zeitlichen Anknüpfung an § 257 StPO befassen, zugrun<strong>de</strong><br />
gelegt wer<strong>de</strong>n. 21<br />
1. Notwendigkeit einer zeitlichen Fixierung<br />
<strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />
Die Anknüpfung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs an einen Zeitpunkt<br />
ist integraler Bestandteil <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung. Ohne<br />
sie wäre die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung nicht das, was sie heute<br />
faktisch ist: nämlich ein Mittel zur wirksamen Beschränkung<br />
<strong>de</strong>r materiellen Gerechtigkeit zugunsten <strong>de</strong>r<br />
Rechtssicherheit. Nur durch die Festlegung eines hinreichend<br />
statischen Zeitpunktes, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
gegen die Verwertung <strong>de</strong>s Beweismaterials spätestens zu<br />
erfolgen hat, kann die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung <strong>de</strong>r Funktion<br />
gerecht wer<strong>de</strong>n, die ihr die Rechtsprechung zugetragen<br />
hat. 22 Der von <strong>de</strong>r unstatthaften Beweiserhebung Betroffene<br />
soll zum vorgegebenen Zeitpunkt spätestens und<br />
endgültig darüber befin<strong>de</strong>n müssen, ob er die Beweisverwertung<br />
für die Urteilsfindung gestattet o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Im Nachgang an seine Entscheidung soll für das erkennen<strong>de</strong><br />
Gericht <strong>de</strong>finitiv feststehen, wie es mit <strong>de</strong>m von<br />
<strong>de</strong>m Erhebungsverbot betroffenen Beweis weiter zu<br />
verfahren hat. Auf diese Weise treten keine Unsicherheitsfaktoren<br />
mehr auf. Das Gericht weiß nun, ob es <strong>de</strong>n<br />
Beweis im weiteren Verlauf <strong>de</strong>r Hauptverhandlung heranziehen<br />
darf o<strong>de</strong>r nicht. Räumte man hingegen <strong>de</strong>m<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchsberechtigten ein zeitlich unbeschränktes<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchsrecht ein, dann bestün<strong>de</strong> eine solche Gewissheit<br />
über das verwertungsspezifische Schicksal <strong>de</strong>s<br />
Beweismittels nicht. Ließe man <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch bis<br />
zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Hauptverfahrens zu, so hätte es <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsberechtigte<br />
sogar in <strong>de</strong>r Hand, <strong>de</strong>m Urteil<br />
noch im Nachhinein seine tatsächliche Grundlage zu<br />
rauben, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Verwertungswi<strong>de</strong>rspruch erst im<br />
Revisionsverfahren erhebt. Nunmehr wird <strong>de</strong>utlich, warum<br />
die Notwendigkeit einer zeitlichen Fixierung <strong>de</strong>s<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchs als integraler Bestandteil <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
qualifiziert wer<strong>de</strong>n muss. Ohne eine temporäre<br />
Beschränkung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts wäre die<br />
von <strong>de</strong>r Rechtsprechung entwickelte Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
zum Scheitern verurteilt. Die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung löst<br />
damit notwendig die Frage nach einer zeitlichen Schranke<br />
<strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts auf.<br />
2. Die verfassungsrechtliche Dimension <strong>de</strong>r<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
Besteht <strong>de</strong>mnach also mit <strong>de</strong>r Anerkennung <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
auch die Notwendigkeit, eine zeitliche<br />
Schranke für <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch zu installieren, so darf<br />
nicht übersehen wer<strong>de</strong>n, dass die Beschränkung <strong>de</strong>s<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts in zeitlicher Hinsicht mit einer Intensivierung<br />
<strong>de</strong>s Eingriffs in die (Grund-)Rechte <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten einhergeht. Diese Eingriffsintensivierung<br />
21<br />
Auch nach Roxin/Schünemann, StrafverfahrensR, 27. Aufl.<br />
(2012), § 24 Rn. 34, ist eine Lossagung <strong>de</strong>r Rechtsprechung<br />
von <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung nicht mehr zu erwarten.<br />
22<br />
BVerfG NStZ 2012, 496, 499 = <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 27 Rn. 111<br />
ff.; BGHSt 42, 15, 23; OLG Celle NZV 1993, 42, 43 f.;<br />
Hamm NJW 1996, 2185, 2188.<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
bedarf einer speziellen Rechtfertigung in <strong>de</strong>m Sinne, dass<br />
die Grün<strong>de</strong>, die für eine zeitliche Beschränkung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts<br />
– und damit <strong>de</strong>s Verwertungsverbotes –<br />
streiten, gegenüber <strong>de</strong>m Interesse <strong>de</strong>s Angeklagten, dass<br />
seine Verurteilung nicht auf rechtswidrig gewonnene<br />
Beweismittel gestützt wird, überwiegen. Im Einzelnen:<br />
Die Erhebung und Verwertung rechtswidrig gewonnener<br />
Beweisergebnisse tangieren die Grundrechte <strong>de</strong>s Angeklagten<br />
auf vielschichtige Weise. Strafprozessuale Beweisgewinnungsmaßnahmen,<br />
wie beispielsweise die<br />
körperliche Untersuchung, die Beschlagnahme, die Telekommunikationsüberwachung<br />
o<strong>de</strong>r die Durchsuchung,<br />
die unter Verletzung von Beweiserhebungsvorschriften<br />
angeordnet o<strong>de</strong>r vollzogen wor<strong>de</strong>n sind, greifen ungerechtfertigt<br />
in die Grundrechte <strong>de</strong>r von ihnen betroffenen<br />
natürlichen (o<strong>de</strong>r juristischen) Person ein. 23 Erfolgt im<br />
Anschluss an die rechtswidrige Beweisgewinnung eine<br />
Beweisverwertung (zulasten <strong>de</strong>s Grundrechtsträgers 24 ),<br />
wird dieser Eingriff in das jeweilige Grundrecht potenziert<br />
(bzw. wie<strong>de</strong>rholt). Je<strong>de</strong> weitere Verwendung von<br />
(rechtswidrig gewonnenen) Daten be<strong>de</strong>utet einen weiteren<br />
(neuen) Grundrechtseingriff, welcher einer eigenständigen<br />
Ermächtigungsgrundlage bedarf. 25 Als gesetzliche<br />
Grundlagen für die weitere Verwendung <strong>de</strong>r Beweisergebnisse<br />
eignen sich die § 244 Abs. 2 StPO für die<br />
Einführung in die Hauptverhandlung und § 261 StPO für<br />
die Berücksichtigung <strong>de</strong>r Beweise bei <strong>de</strong>r Urteilsfindung.<br />
26 Diese Vorschriften beschränken sich von ihrem<br />
Anwendungsbereich nicht auf rechtmäßig erhobene Beweise.<br />
27 Ob aber die Potenzierung (bzw. Wie<strong>de</strong>rholung)<br />
<strong>de</strong>s Grundrechtseingriffs gestützt auf § 244 Abs. 2 und<br />
§ 261 StPO verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, muss<br />
– unter Zugrun<strong>de</strong>legung <strong>de</strong>r Abwägungslehre – davon<br />
abhängen, ob die Interessen <strong>de</strong>s Angeklagten gegenüber<br />
<strong>de</strong>m Interesse <strong>de</strong>r Allgemeinheit an <strong>de</strong>r Verfolgung und<br />
Verurteilung <strong>de</strong>r Straftat überwiegen. 28 Ist dies <strong>de</strong>r Fall,<br />
so folgt aus <strong>de</strong>n Grundrechten <strong>de</strong>s Betroffenen ein Anspruch<br />
darauf, dass die weitere Verwendung <strong>de</strong>r rechtswidrig<br />
erhobenen Beweise durch die Strafverfolgungsbehör<strong>de</strong>n<br />
unterbleibt. 29<br />
Zumin<strong>de</strong>st gedanklich bietet sich hier eine Heranziehung<br />
<strong>de</strong>r Grundsätze zum öffentlich-rechtlichen Folgenbeseiti-<br />
23<br />
Erfolgt die Beweiserhebung unter Verstoß gegen die gesetzlichen<br />
Vorgaben, kann <strong>de</strong>r Grundrechtsverstoß schon<br />
<strong>de</strong>shalb nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, weil<br />
das Gesetz <strong>de</strong>n Grundrechtseingriff, zumin<strong>de</strong>st nicht in<br />
dieser Art und Weise, gestatten.<br />
24<br />
Zum Gedanken <strong>de</strong>r Mühlenteichtheorie vgl. Roxin/Schäfer/Widmaier<br />
StV 2006, 655 ff.<br />
25<br />
Vgl. zuletzt BGH NStZ <strong>2013</strong>, 242, 243 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr.<br />
230 Rn. 33; vgl. auch Jahn Gutachten C zum 67. DJT<br />
(2008), S. C 68 ff.<br />
26<br />
BVerfG NJW 2012, 907, 912 = <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 27 Rn. 118;<br />
Rogall JZ 2008, 818, 822 f., 825.<br />
27<br />
Vgl. BGH NStZ <strong>2013</strong>, 242, 243 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 230 Rn.<br />
34.<br />
28<br />
Grundlegend zur Abwägungslehre Rogall ZStW 91 (1979),<br />
S. 1, 28 ff.; Neumann ZStW <strong>10</strong>1 (1989), S. 52, 64 ff.; zur<br />
Rechtsprechung BGHSt 24, 125, 130 f.; 38, 214, 221 f.; 38,<br />
372.<br />
29<br />
Vgl. Papier in Maunz/Düring, 69. Ergänzungs-Lfg. (<strong>2013</strong>),<br />
Art. 34 Rn. 62.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
414
Aufsätze und Anmerkungen<br />
gungs- o<strong>de</strong>r Unterlassungsanspruch an. 30 Wird aber<br />
dieser Anspruch auf Unterbleiben <strong>de</strong>r weiteren Verwendung<br />
<strong>de</strong>r rechtswidrig gewonnen Beweisergebnisse durch<br />
ein zeitgebun<strong>de</strong>nes Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis beschränkt,<br />
so bedarf auch diese, durch <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch ausgelöste<br />
Restriktion einer (erneuten) verfassungsrechtlichen<br />
Rechtfertigung in <strong>de</strong>m Sinne, dass das Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis<br />
<strong>de</strong>r Erreichung eines legitimen Zweckes dient<br />
und <strong>de</strong>r Eingriff in die Grundrechte geeignet, erfor<strong>de</strong>rlich<br />
und – mit Blick auf die Belastungen <strong>de</strong>s Grundrechtsträgers<br />
– auch angemessen ist. Denn die Notwendigkeit <strong>de</strong>r<br />
Erhebung eines Wi<strong>de</strong>rspruchs wirkt sich selbst grundrechtsbeschränkend<br />
aus, weil es <strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n Grundrechten<br />
<strong>de</strong>rivierten Anspruch <strong>de</strong>s Angeklagten darauf, dass<br />
die Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweiserhebung vollständig<br />
beseitigt wer<strong>de</strong>n, zusätzlich beschränkt. Schon aus<br />
diesem Grund bedarf die zeitliche Fixierung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />
einer eigenständigen verfassungsrechtlichen<br />
Rechtfertigung.<br />
Das zeitlich gebun<strong>de</strong>ne Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis weist<br />
aber noch eine weitere grundrechtstangieren<strong>de</strong> Dimension<br />
auf. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis<br />
auch in Konflikt mit <strong>de</strong>r Rechtsschutzgarantie<br />
treten kann. Um das Spannungspotenzial<br />
zu Art. 19 Abs. 4 GG aufzuzeigen, bedarf es jedoch einer<br />
subtileren Betrachtung:<br />
Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet je<strong>de</strong>m Grundrechtsträger,<br />
<strong>de</strong>r meint durch die öffentliche Gewalt in seinen<br />
subjektiven Rechten verletzt zu sein, einen Anspruch auf<br />
einen effektiven Rechtsschutz durch Zugang zum<br />
Rechtsweg. 31 Damit garantiert das Leistungsgrundrecht<br />
aus Art. 19 Abs. 4 GG einen Individualrechtsschutz zugunsten<br />
<strong>de</strong>s Grundrechtsträgers. 32<br />
Verletzt eine Beweiserhebungsmaßnahme durch die<br />
Strafverfolgungsbehör<strong>de</strong>n ein subjektives Recht <strong>de</strong>s von<br />
ihr betroffenen Rechtsträgers, dann stehen ihm nach <strong>de</strong>m<br />
gesamtstrafprozessualen Rechtsschutzgefüge mehrere<br />
Möglichkeiten offen, sich gegen die Rechtsbeeinträchtigung<br />
und ihre Folgen auf <strong>de</strong>m Rechtsweg zur Wehr zu<br />
setzen. Zunächst besteht für <strong>de</strong>n potenziell Rechtsbeeinträchtigten<br />
grundsätzlich die Möglichkeit, die Zwangsmaßnahme<br />
isoliert entwe<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Wege <strong>de</strong>s § 98 Abs.<br />
2 S. 2. StPO (analog) 33 o<strong>de</strong>r, für <strong>de</strong>n Fall, dass die Maßnahme<br />
auf einem ermittlungsrichterlichen Beschluss<br />
beruht, mit <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong> nach § 304 StPO anzugreifen.<br />
Ein solcher Rechtsschutz gewährleistet zwar, dass<br />
die Zwangsmaßnahme bzw. die Art und Weise, wie sie<br />
von staatlicher Seite vollzogen wor<strong>de</strong>n ist, als rechtswid-<br />
30<br />
Zur Ableitung <strong>de</strong>s Folgenbeseitigungsanspruches aus <strong>de</strong>n<br />
Freiheitsgrundrechten vgl. BVerwG NJW 1985, 817, 818 f.;<br />
BVerwGE 69, 366, 368; 82, 76, 95; 94, <strong>10</strong>0, <strong>10</strong>3; Fiedler<br />
NVwZ 1986, 969 ff. Zur Heranziehung <strong>de</strong>s Folgenbeseitigungsgedankens<br />
für die Beweisverbotslehre vgl. Südhoff,<br />
Der Folgenbeseitigungsanspruch als Grundlage verwaltungsverfahrensrechtlicher<br />
Vewertungsverbote, Diss.<br />
(1995), insbeson<strong>de</strong>re S. 175 f.<br />
31<br />
Vgl. BVerfGE 40, 272, 274; 60, 253, 269; zum Anspruch<br />
auf wirksame Kontrolle vgl. BVerfGE 84, 34, 49; 93, 1, 13;<br />
113, 273, 3<strong>10</strong> = <strong>HRRS</strong> 2005 Nr. 550 Rn. <strong>10</strong>2 ff.<br />
32<br />
Vgl. Jarass in Jarass/Pieroth, 12. Aufl. (2012), Art. 19 Rn.<br />
32.<br />
33<br />
Vgl. nur Roxin/Schünemann (Fn. 21), § 29 Rn. 14.<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
rig enttarnt wer<strong>de</strong>n kann. Damit sind die möglichen negativen<br />
Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweisgewinnung aber<br />
mitnichten vollständig abgewehrt. Zur Erreichung dieses<br />
Zieles eignen sich die Verfahren nach § 98 Abs. 2 S. 2<br />
StPO (analog) o<strong>de</strong>r § 304 StPO nicht. Zum einen entfalten<br />
die auf diesem Wege erzielten Entscheidungen keine<br />
präjudizielle Wirkung für das Hauptverfahren. 34 Zum<br />
an<strong>de</strong>ren ist mit einem Rechtswidrigkeitsverdikt noch<br />
keine Entscheidung über die Verwertbarkeit <strong>de</strong>r rechtswidrig<br />
erhobenen Beweisergebnisse in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung<br />
gefällt. We<strong>de</strong>r im Verfahren nach § 98 Abs. 2 S.<br />
2 StPO (analog) noch im Beschwer<strong>de</strong>verfahren hat das<br />
Gericht auch eine Entscheidung über die Verwertbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Beweisergebnisse zu treffen. Ein effektiver Rechtsschutz<br />
gegen die Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweiserhebung<br />
ist allein auf diesem Wege damit nicht gewährleistet.<br />
Solange die Strafgerichte das Eingreifen eines Beweisverwertungsverbotes<br />
aber von <strong>de</strong>r Erhebung eines Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />
abhängig machen und somit <strong>de</strong>n Rechtsschutz<br />
gegen die Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweiserhebung<br />
nicht von Amts wegen gewährleisten, besteht mit<br />
Blick auf die Rechtsschutzgarantie <strong>de</strong>s Art. 19 Abs. 4 GG<br />
das Bedürfnis, <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch selbst als Rechtsschutzgewährleistungsmittel<br />
im Sinne dieses Grundrechts anzuerkennen.<br />
Mithin existiert nicht nur eine Obliegenheit<br />
zur Wi<strong>de</strong>rspruchserhebung, die Verfassung garantiert<br />
auch ein Recht auf Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die Beweisverwertung,<br />
weil erst dieser Wi<strong>de</strong>rspruch einen wirksamen<br />
Rechtsschutz ermöglicht. Erst seine Erhebung gewährleistet,<br />
dass die <strong>de</strong>m Angeklagten drohen<strong>de</strong>n Beweisnachteile<br />
effektiv abgewehrt wer<strong>de</strong>n. Somit be<strong>de</strong>utet eine<br />
zeitliche Beschränkung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs zugleich auch<br />
eine Beschränkung <strong>de</strong>s (effektiven) Rechtsschutzes.<br />
Die Anerkennung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />
<strong>de</strong>r Rechtsschutzgarantie be<strong>de</strong>utet dabei aber<br />
nicht die Anerkennung eines Rechtsschutzes gegen <strong>de</strong>n Richter.<br />
35 Der Wi<strong>de</strong>rspruch garantiert weiterhin nur einen<br />
Rechtsschutz durch <strong>de</strong>n Richter, in<strong>de</strong>m erst seine Anbringung<br />
dazu führt, dass das Tatgericht überhaupt ein Beweisverwertungsverbot<br />
annehmen darf. Erst <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
garantiert, dass die Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen<br />
Beweiserhebung wirksam beseitigt wer<strong>de</strong>n können.<br />
Die Rechtsschutzgarantie wird dann beeinträchtigt, wenn<br />
<strong>de</strong>r Rechtsweg entwe<strong>de</strong>r gar nicht o<strong>de</strong>r nur in einer Weise<br />
eröffnet wird, die <strong>de</strong>m Betroffenen unzumutbar ist,<br />
weil sie aus Sachgrün<strong>de</strong>n nicht mehr gerechtfertigt wer<strong>de</strong>n<br />
kann. 36 Wird das Recht, einen Wi<strong>de</strong>rspruch gegen<br />
die Verwertung zu erheben, ganz o<strong>de</strong>r in unzumutbarer<br />
Weise beschränkt, obwohl nur seine Erhebung die Abwehr<br />
<strong>de</strong>r Folgen einer rechtswidrigen Beweisgewinnung<br />
34<br />
Die Entscheidung außerhalb <strong>de</strong>r Hauptverhandlung entfaltet<br />
keine Bindung zulasten <strong>de</strong>s erkennen<strong>de</strong>n Gerichts, vgl.<br />
Bottke, StV 1986, 120 (125); Fezer, in: Festschrift für Rieß<br />
(2002), S. 93, <strong>10</strong>6; Hilger JR 1990, 485, 488 f. A. A. Schlothauer<br />
StV 2003, 208, 2<strong>10</strong>; mit ausführlicher Begründung<br />
gegen eine Bindungswirkung H. Schmidt NStZ 2009, 243 ff.<br />
35<br />
Art. 19 Abs. 4 gewährleistet lediglich einen Rechtsschutz<br />
durch <strong>de</strong>n Richter, nicht gegen <strong>de</strong>n Richter. Die Existenz<br />
eines Instanzenzugs wird daher nicht durch Art. 19 Abs. 4<br />
GG garantiert, vgl. nur BVerfGE 4, 74, 94 f.; 11, 232, 233;<br />
28, 21, 36.<br />
36<br />
Vgl. nur BVerfGE 40, 272, 274.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
415
Aufsätze und Anmerkungen<br />
garantiert, hat dies eine Verletzung <strong>de</strong>s Art. 19 Abs. 4 GG<br />
zur Folge. Mit Blick auf die zeitlichen Schranken, die die<br />
Rechtsprechung für <strong>de</strong>n Verwertungswi<strong>de</strong>rspruch formuliert,<br />
be<strong>de</strong>utet dies, dass die Beschränkungen nicht dazu<br />
führen dürfen, dass <strong>de</strong>m Rechtsschutzsuchen<strong>de</strong>n die<br />
Herbeiführung <strong>de</strong>r Unverwertbarkeitsfolge unzumutbar<br />
erschwert wird.<br />
3. Die grundsätzliche Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>r<br />
zeitlichen Anknüpfung an § 257 StPO<br />
Erkennt man die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung – trotz einer Vielzahl<br />
von Be<strong>de</strong>nken 37 – an, dann bestehen gegen die von<br />
Rechtsprechung im Wege <strong>de</strong>r Rechtsfortbildung gewählte<br />
Anknüpfung an <strong>de</strong>n Zeitpunkt <strong>de</strong>s § 257 StPO zumin<strong>de</strong>st<br />
im Grundsatz keine verfassungsrechtlichen Einwän<strong>de</strong>. 38<br />
Soweit ersichtlich hat sich das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht<br />
bislang nicht <strong>de</strong>zidiert mit <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung befasst.<br />
Einzig in seiner Al Qaida-Entscheidung aus <strong>de</strong>m<br />
Jahre 2011 39 nimmt das Gericht im Zusammenhang mit<br />
seinen Ausführungen zur Beweisverbotslehre zu ihr wie<br />
folgt Stellung:<br />
„Es begegnet keinen Be<strong>de</strong>nken, dass<br />
ein Verwertungsverbot nach einem Rechtsverstoß bei<br />
<strong>de</strong>r Informationserhebung o<strong>de</strong>r -verwendung von einem<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung abhängig<br />
gemacht wird. Dies trägt einerseits <strong>de</strong>m Interesse <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten an einer möglichst weitreichen<strong>de</strong>n Dispositionsbefugnis<br />
Rechnung und gewährleistet an<strong>de</strong>rerseits,<br />
dass eine Beanstandung sowie die sich daraus ergeben<strong>de</strong>n<br />
Rechtsfolgen noch während <strong>de</strong>r Hauptverhandlung<br />
geprüft wer<strong>de</strong>n können, damit rechtzeitig<br />
Klarheit für <strong>de</strong>ren weiteren Verlauf geschaffen wird.“ 40<br />
Damit hat das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>s<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchs und seiner zeitlichen Fixierung zumin<strong>de</strong>st<br />
im Ansatzpunkt zutreffend umschrieben. Darüber, dass<br />
<strong>de</strong>m Interesse <strong>de</strong>s Angeklagten an einer Dispositionsbefugnis<br />
auf an<strong>de</strong>ren Wegen als durch Anwendung <strong>de</strong>r<br />
Grundsätze <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung weitreichen<strong>de</strong>r zur<br />
Verwirklichung verhelfen wer<strong>de</strong>n könnte, ließe sich zwar<br />
streiten, 41 dies soll jedoch nicht Thema <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n<br />
Beitrags sein. Auch ohne eine nähere Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit dieser Thematik lässt sich jedoch ohne weiteres<br />
konstatieren, dass die vom Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht<br />
angesprochenen Zwecke sich ebenso unter Anwendung<br />
einer Zustimmungslösung verwirklichen ließen. 42<br />
37<br />
Vgl. nur Schlothauer/Jahn RuP 2012, 222 ff.<br />
38<br />
Vgl. BVerfG NStZ 2012, 496, 499 = <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 27 Rn.<br />
122.<br />
39<br />
BVerfG NStZ 2012, 496 ff. = <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 27.<br />
40<br />
BVerfG NStZ 2012, 496, 499 = <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 27 Rn.<br />
122.<br />
41<br />
Vgl. Vorschlag <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srechtsanwaltskammer zur Einführung<br />
einer Zustimmungslösung: http://www.brak.<strong>de</strong><br />
/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-<strong>de</strong><br />
utschland/2012/april/stellungnahme-<strong>de</strong>r-brak-2012-<br />
17.pdf.<br />
42<br />
Zur Zustimmungslösung vgl. Leipold StraFo 2001, 300, 303;<br />
Kasiske NJW-Spezial 2011, 376, 377.<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
Neben <strong>de</strong>m Erhalt einer Dispositionsbefugnis kann das<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis, wie das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht<br />
zu Recht feststellt, auch dazu dienen, rechtzeitig<br />
Klarheit über das verwertungsrechtliche Schicksal <strong>de</strong>s<br />
rechtswidrig gewonnenen Beweismittels zu schaffen.<br />
Erhebt die Verteidigung einen Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die<br />
Beweiserhebung (und -verwertung), dann macht sie <strong>de</strong>m<br />
erkennen<strong>de</strong>n Gericht <strong>de</strong>utlich, dass sie <strong>de</strong>r Auffassung<br />
ist, das Beweismittel sei unter Verletzung <strong>de</strong>s Gesetzes<br />
gewonnen wor<strong>de</strong>n. Das Gericht kennt dadurch die Einwän<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsführers und es wird dadurch<br />
garantiert, dass die beweisspezifischen Schwierigkeiten<br />
vonseiten <strong>de</strong>s Tatgerichts nicht einfach übergangen wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Orientierung an § 257 StPO als <strong>de</strong>n letztmöglichen<br />
Zeitpunkt ist dabei in <strong>de</strong>r Regel zweckmäßig und führt für<br />
<strong>de</strong>n Angeklagten auch zu keinen unzumutbaren Belastungen.<br />
43 Als zweckmäßig erweist sie sich <strong>de</strong>shalb, weil<br />
§ 257 StPO zeitlich und sachlich an die Beweiserhebung<br />
in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung anknüpft. Spätestens nach <strong>de</strong>r<br />
Erhebung <strong>de</strong>s bemakelten Beweises sollte die Verteidigung<br />
eine Entscheidung darüber treffen, ob sie seine<br />
Verwertung im weiteren Verlauf zulassen möchte o<strong>de</strong>r<br />
nicht. Sie kann nunmehr beurteilen, ob die Erkenntnisse,<br />
die sich aus <strong>de</strong>m Beweismittel für <strong>de</strong>n Schuld- o<strong>de</strong>r<br />
Rechtsfolgenausspruch ableiten lassen, <strong>de</strong>n Angeklagten<br />
be- o<strong>de</strong>r entlasten und wie sie das weitere Verfahren<br />
beeinflussen können. Die Verfahrensbeteiligten stehen zu<br />
diesem Zeitpunkt noch unmittelbar unter <strong>de</strong>m Eindruck<br />
<strong>de</strong>r vorausgegangenen Beweiserhebung. Die zeitliche<br />
Nähe zur Beweiserhebung eröffnet weiterhin auch die<br />
Möglichkeit, die im Wi<strong>de</strong>rspruch aufgeworfenen Fragestellungen<br />
unter Rückgriff auf das Beweismittel selbst<br />
aufzuklären. Zeugen und Sachverständige befin<strong>de</strong>n sich<br />
eventuell noch vor Ort und können zu <strong>de</strong>n verfahrensrelevanten<br />
Fragestellungen befragt wer<strong>de</strong>n. Die Anknüpfung<br />
an § 257 StPO erweist sich insoweit als greifbar und<br />
sinnvoll. 44 Erkennt man die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung an,<br />
dann sind die grundrechtlichen Beschränkungen, die mit<br />
einer Anknüpfung an § 257 StPO verbun<strong>de</strong>n sind, grundsätzlich<br />
auch verhältnismäßig und <strong>de</strong>m Angeklagten zumutbar.<br />
Das zeitliche beschränkte Wi<strong>de</strong>rspruchsrecht<br />
eignet sich ohne weiteres dazu, Rechtssicherheit herbeizuführen.<br />
Ist <strong>de</strong>r durch § 257 StPO <strong>de</strong>terminierte Zeitpunkt<br />
erst einmal verstrichen, und hat die Verteidigung<br />
gegen die Beweiserhebung bzw. -verwertung keine Einwän<strong>de</strong><br />
erhoben, dann darf das erkennen<strong>de</strong> Gericht von<br />
nun an von einer Verwertbarkeit <strong>de</strong>r rechtswidrig erhobenen<br />
Beweisergebnisse ausgehen. Es ist <strong>de</strong>mnach auch<br />
nicht mehr verpflichtet, von Amts wegen einem möglichen<br />
Verstoß gegen Verfahrensvorschriften nachzugehen<br />
und aufzuklären. Nach <strong>de</strong>r Konzeption <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
darf es dies nicht einmal mehr. 45 Mangels<br />
(rechtzeitigen) Wi<strong>de</strong>rspruchs schei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Eintritt einer<br />
Unverwertbarkeitsfolge aus. Das Gericht kann sich jetzt<br />
darauf einstellen, dass das Beweismittel für die weitere<br />
Hauptverhandlung, insbeson<strong>de</strong>re aber für seine Urteilsfindung,<br />
nutzbar bleibt.<br />
43<br />
Hamm NJW 1996, 2185, 2188, spricht von „vertretbarer<br />
Grenze“.<br />
44<br />
Dahs StraFo 1998, 253, 256.<br />
45<br />
OLG Celle StV 1997, 68 f.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
416
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Solange man die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung nicht insgesamt<br />
infrage stellt, kann die zeitliche Anknüpfung an § 257<br />
StPO weiterhin auch als erfor<strong>de</strong>rlich angesehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Orientierung an einen späteren Zeitpunkt hätte<br />
naturgemäß zur Folge, dass Rechtsklarheit über die Verwertungsfrage<br />
auch erst zu diesem späteren Zeitpunkt<br />
eintreten wür<strong>de</strong>. Das Ziel, so früh wie möglich Klarheit<br />
über das verwertungsrechtliche Schicksal <strong>de</strong>s Beweismittels<br />
zu schaffen, wür<strong>de</strong> damit aber nicht in gleicher Weise<br />
geför<strong>de</strong>rt.<br />
Die zeitliche Anbindung ist für die Erreichung <strong>de</strong>s<br />
Zwecks <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs aber nicht nur erfor<strong>de</strong>rlich, sie<br />
ist generell auch sinnvoll. Zunächst einmal könnte eine<br />
spätere zeitliche Anknüpfung ohnehin nur dann gelingen,<br />
wenn sich ein hinreichend konstanter Zeitpunkt<br />
benennen ließe, an <strong>de</strong>n man <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch temporär<br />
anbin<strong>de</strong>n könnte. Hierfür bietet sich entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Schluss <strong>de</strong>r Beweisaufnahme o<strong>de</strong>r das letzte Wort <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten an. Letzteres wird in <strong>de</strong>r Literatur vereinzelt<br />
gefor<strong>de</strong>rt. 46 Die Unsicherheiten, die mit einer solchen<br />
Dilation verbun<strong>de</strong>n wären, erwiesen sich jedoch als beträchtlich.<br />
Der materielle Lebenssachverhalt, <strong>de</strong>r Grundlage<br />
für <strong>de</strong>n Schuld- und Rechtsfolgenausspruch wer<strong>de</strong>n<br />
soll, stün<strong>de</strong> fast bis zuletzt immer auf wackligen Beinen.<br />
Die Verfahrensbeteiligten könnten bis zum letzten Wort<br />
ein Beweisverwertungsverbot auslösen. Dies birgt die<br />
Gefahr, dass <strong>de</strong>r vom Tatgericht beschrittene Weg zur<br />
Aufklärung <strong>de</strong>r ontologischen Wahrheit nachträglich<br />
vollkommen infrage gestellt und sämtliche auf dieses Ziel<br />
ausgerichtete Bemühungen und Aufwendungen letztlich<br />
hinfällig wür<strong>de</strong>n. Fast bis zuletzt bliebe <strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>s<br />
Verfahrens ungewiss. Wird gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hauptverhandlung<br />
ein Wi<strong>de</strong>rspruch erhoben, drohte die komplette<br />
Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>r Beweisaufnahme, wenn das<br />
Tatgericht aufgrund <strong>de</strong>s Eingreifens eines Beweisverwertungsverbotes<br />
sich nicht imstan<strong>de</strong> sähe, die Sache auf<br />
Grundlage <strong>de</strong>s nunmehr limitierten Beweismaterials zu<br />
entschei<strong>de</strong>n. Dies wäre nicht nur für alle Verfahrensbeteiligten<br />
unbefriedigend; diese Konsequenz stün<strong>de</strong> auch<br />
in einem fundamentalen Wi<strong>de</strong>rspruch zum Gedanken <strong>de</strong>r<br />
Beschleunigung <strong>de</strong>s Verfahrens.<br />
Mithin gilt bis hierhin: Wer die Notwendigkeit sieht, die<br />
Verwertbarkeit von einem Wi<strong>de</strong>rspruch abhängig zu<br />
machen, <strong>de</strong>r tut gut daran, ihn zeitlich an die betroffene<br />
Beweiserhebung selbst anzuknüpfen. Solange <strong>de</strong>r Verteidigung<br />
noch ein effektives Recht verbleibt, über die Verwertung<br />
<strong>de</strong>r rechtswidrig erhobenen Beweisergebnisse<br />
frei zu disponieren, sind die durch die zeitliche Fixierung<br />
verursachten Beschränkungen auch angemessen. Die<br />
Belastungen sind in <strong>de</strong>r Regel nicht so gravierend, dass<br />
ihre Hinnahme unzumutbar wäre. Die Verteidigung wird<br />
nicht überfor<strong>de</strong>rt, wenn ihr abverlangt wird, ihre Einwän<strong>de</strong><br />
gegen die Beweisverwertung im unmittelbaren<br />
Zusammenhang zur Beweiserhebung zu formulieren.<br />
Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss <strong>de</strong>n Betroffenen<br />
klar sein, dass Verwertungsfrage von ihr nunmehr aufgeworfen<br />
wer<strong>de</strong>n muss. Schweigt die Verteidigung jedoch<br />
weiterhin, kann dies <strong>de</strong>n Eindruck erwecken, sie sei mit<br />
<strong>de</strong>r Verwertung einverstan<strong>de</strong>n. Die Entstehung eines<br />
solchen Eindrucks muss sie jedoch vermei<strong>de</strong>n.<br />
46<br />
Leipold StraFo 2001, 300, 303.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
Obwohl das zeitlich beschränkte Wi<strong>de</strong>rspruchsrecht<br />
somit einen Eingriff in die Grundrechte <strong>de</strong>s Angeklagten<br />
be<strong>de</strong>utet und auch mit Blick auf die in Art. 19 Abs. 4 GG<br />
verankerte Rechtsschutzgarantie Friktionen hervorrufen<br />
kann, lässt sich konstatieren, dass <strong>de</strong>r vonseiten <strong>de</strong>r<br />
Rechtsprechung beschrittene Weg zumin<strong>de</strong>st im Grundsatz<br />
verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.<br />
III. Notwendigkeit einer Einschränkung<br />
<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
1. Die unverschul<strong>de</strong>te Unkenntnis von einer<br />
rechtswidrigen Beweiserhebung<br />
Nicht nur <strong>de</strong>m aufmerksamen Leser wird nicht entgangen<br />
sein, dass die bisherigen Ausführungen stets von<br />
<strong>de</strong>m Bemühen getragen waren, ihren Aussagegehalt auf<br />
das Grundsätzliche zu beschränken. Es ist natürlich nicht<br />
ausgeschlossen, dass es Fälle geben kann, in <strong>de</strong>nen ein<br />
striktes Festhalten an <strong>de</strong>m in § 257 StPO bezeichneten<br />
Zeitpunkt für <strong>de</strong>n Angeklagten mit unangemessenen<br />
bzw. unzumutbaren Belastungen und damit mit einem<br />
nicht mehr gerechtfertigten Eingriff in seine Grundrechte<br />
verbun<strong>de</strong>n sein kann. Als verfassungsrechtlich problematisch<br />
müssen insbeson<strong>de</strong>re die Fälle angesehen wer<strong>de</strong>n,<br />
in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsberechtigte zum Zeitpunkt<br />
<strong>de</strong>s § 257 StPO noch keine Kenntnis von <strong>de</strong>n verwertungsrelevanten<br />
Umstän<strong>de</strong>n besitzt und unter Anwendung<br />
<strong>de</strong>r gebotenen Sorgfalt auch nicht besitzen konnte.<br />
47 Veranschaulichen lässt sich diese Fallgruppe anhand<br />
eines Beispiels.<br />
A wird mit seinem Pkw nachts auf <strong>de</strong>r Straße von <strong>de</strong>n<br />
Polizeibeamten K und L angehalten. Nach<strong>de</strong>m sie bei A<br />
Ausfallerscheinungen feststellen, wird er als Beschuldigter<br />
belehrt. Nach einigem Hin und Her ordnet K zur<br />
Bestimmung <strong>de</strong>r BAK einen körperlichen Eingriff zur<br />
Blutentnahme nach § 81a Abs. 1 StPO an. Diese wird<br />
ordnungsgemäß durch einen Arzt vollzogen. Später fertigt<br />
K einen Aktenvermerk an, in <strong>de</strong>m er angibt, dass er<br />
mehrfach versucht habe, die Staatsanwaltschaft und <strong>de</strong>n<br />
Ermittlungsrichter telefonisch zu erreichen. Er habe<br />
we<strong>de</strong>r einen Staatsanwalt noch einen Ermittlungsrichter<br />
telefonisch erreichen können. Im Anschluss hieran habe<br />
er A auf das Revier verbracht und abermals erfolglos<br />
versucht, einen Ermittlungsrichter zu erreichen. Nach<strong>de</strong>m<br />
in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung das BAK-Gutachten gemäß<br />
§ 256 Abs. 1 StPO verlesen und im Anschluss hieran<br />
K vernommen wor<strong>de</strong>n war, <strong>de</strong>r nach Vorhalt seines<br />
Vermerks das Geschehen bestätigte, wur<strong>de</strong> L vernommen.<br />
Dieser gab an, dass er sicher sei, dass er sich von<br />
seinem Kollegen K in <strong>de</strong>r Tatnacht davon habe überzeugen<br />
lassen, dass ein Versuch, eine ermittlungsrichterliche<br />
Anordnung für <strong>de</strong>n körperlichen Eingriff zu erlangen, nur<br />
unnötige Zeitverzögerung verursachen wür<strong>de</strong>. Der Vermerk<br />
<strong>de</strong>s K gäbe <strong>de</strong>n Sachverhalt seines Erachtens daher<br />
nicht wahrheitsgemäß wie<strong>de</strong>r.<br />
Erhebt <strong>de</strong>r Verteidiger <strong>de</strong>s A nunmehr nach <strong>de</strong>r Vernehmung<br />
<strong>de</strong>s L Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die Verwertung <strong>de</strong>s BAK-<br />
47<br />
Diese Fallgruppe wur<strong>de</strong> bereits von Ventzke StV 1997, 543,<br />
548, als ungelöst bezeichnet.<br />
417
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Gutachtens, dann kommt dieser Verwertungswi<strong>de</strong>rspruch<br />
nach Ansicht <strong>de</strong>r Rechtsprechung zu spät. 48 Der<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch hätte spätestens nach Erhebung <strong>de</strong>s Beweises<br />
erhoben wer<strong>de</strong>n müssen, <strong>de</strong>ssen Unverwertbarkeit<br />
selbst beanstan<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n soll. Der Inhalt <strong>de</strong>s BAK-<br />
Gutachtens bliebe damit weiterhin verwertbar, obwohl<br />
die Verteidigung nach <strong>de</strong>ssen Verlesung – aufgrund <strong>de</strong>s<br />
ein<strong>de</strong>utigen Protokollvermerks – noch keinen Anlass<br />
hatte, an <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>r Beweiserhebung zu<br />
zweifeln. An<strong>de</strong>rs sehe es nur dann aus, wenn man <strong>de</strong>n<br />
Eintritt <strong>de</strong>r Präklusion davon abhängig machen wür<strong>de</strong>,<br />
dass <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsberechtigte die tatsächlichen Umstän<strong>de</strong>,<br />
die potenziell Auslöser eines Verwertungsverbots<br />
sein können, gekannt o<strong>de</strong>r hätte kennen müssen. Ein<br />
solches Kenntnis- bzw. Verschul<strong>de</strong>nserfor<strong>de</strong>rnis ist <strong>de</strong>r<br />
bisherigen Wi<strong>de</strong>rspruchsdoktrin bislang fremd. 49<br />
2. Notwendigkeit einer<br />
verfassungskonformen Einschränkung<br />
Unser (vorläufiges) Urteil, die durch die Rechtsprechung<br />
in das Strafverfahrensrecht implementierte Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
und die zeitliche Anbindung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />
an <strong>de</strong>n § 257 StPO verbun<strong>de</strong>nen (Grundrechts-)Beschränkungen<br />
seien verfassungsgemäß, kann<br />
aber nur dann aufrechterhalten bleiben, wenn es gelingt,<br />
die rigi<strong>de</strong>n Mechanismen <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung durch<br />
die Integration eines weiteren Kriteriums für bestimmte<br />
Fälle zu dynamisieren. In gewisser Hinsicht ist die zeitliche<br />
Anknüpfung § 257 StPO bislang zu starr, wenn man<br />
berücksichtigt, dass <strong>de</strong>n zeitlichen Beschränkungen<br />
selbst ein eigenständiger verfassungsrechtlicher Eingriff<br />
innewohnt. 50 Die mit <strong>de</strong>r zeitlichen Beschränkung <strong>de</strong>s<br />
Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts verbun<strong>de</strong>nen Grundrechtseingriffe<br />
können nur solange als angemessen – bzw. mit Blick auf<br />
Art. 19 Abs. 4 GG als zumutbar – angesehen wer<strong>de</strong>n, wie<br />
<strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts nicht unverschul<strong>de</strong>t<br />
daran gehin<strong>de</strong>rt war, einen Wi<strong>de</strong>rspruch bis zu <strong>de</strong>m in<br />
§ 257 StPO genannten Zeitpunkt anzubringen. War es<br />
<strong>de</strong>r Verteidigung hingegen nicht möglich, <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
zur rechten Zeit zu erheben, darf dies nicht zur<br />
Folge haben, dass ein Verwertungsverbot nicht mehr<br />
eintreten kann. An<strong>de</strong>rnfalls wäre <strong>de</strong>r Anspruch <strong>de</strong>s Betroffenen<br />
auf Beseitigung <strong>de</strong>r Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen<br />
Beweisgewinnungsmaßnahme für diese Fälle wertlos.<br />
Die Vorteile, die mit einer Anknüpfung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />
an § 257 StPO verbun<strong>de</strong>n sind (Klarheit für <strong>de</strong>n weiteren<br />
Gang <strong>de</strong>s Verfahrens), sind nicht so gewichtig, dass es<br />
gerechtfertigt wäre, auch die Fälle einer Präklusion zu<br />
unterstellen, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Betroffene tatsächlich gar nicht<br />
die Gelegenheit hatte, einen Wi<strong>de</strong>rspruch zu erheben.<br />
Fehlt <strong>de</strong>r Verteidigung die Kenntnis von <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n,<br />
die die Verletzung <strong>de</strong>s Gesetzes bei <strong>de</strong>r Beweiserhebung<br />
und damit auch das Beweisverwertungsverbot begrün-<br />
48<br />
BGHSt 39, 349 ff.; BGH NStZ 2008, 55, 56 = <strong>HRRS</strong> 2007<br />
Nr. 900 Rn. 22 ff.<br />
49<br />
Ableitbar z. B. aus BGHSt 39, 349, 352 f. Vgl. auch BGH<br />
NStZ 2008, 55, 56 = <strong>HRRS</strong> 2007 Nr. 840 Rn. 1, in Bezug<br />
auf <strong>de</strong>n Rechtsprechungswan<strong>de</strong>l zu Art. 36 WÜK aufgrund<br />
<strong>de</strong>r Entscheidung <strong>de</strong>s BVerfG StV 2008, 1 ff. = <strong>HRRS</strong> 2006<br />
Nr. 726.<br />
50<br />
Vgl. II. 2.<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
<strong>de</strong>n, und konnte sie diese auch bei Anwendung <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen<br />
Sorgfalt auch nicht kennen, muss die verfassungsrechtliche<br />
Abwägung nunmehr zugunsten <strong>de</strong>s Angeklagten<br />
ausfallen. Ihm wäre an<strong>de</strong>rnfalls das Recht<br />
genommen, sich gegen die rechtswidrige Beweiserhebung<br />
zur Wehr zu setzen. Gelänge nur unter Heranziehung<br />
<strong>de</strong>s bemakelten Beweises seine Überführung, müsste<br />
er zugunsten <strong>de</strong>r Klarheit <strong>de</strong>s Strafverfahrens eine Verurteilung<br />
hinnehmen, obwohl ihm (o<strong>de</strong>r seinem Verteidiger)<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>r Versäumung <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsfrist<br />
kein Vorwurf gemacht wer<strong>de</strong>n kann. Wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beweis<br />
unter Verletzung <strong>de</strong>s Gesetzes (und damit rechts- und<br />
verfassungswidrig) gewonnen, muss <strong>de</strong>mjenigen, <strong>de</strong>r von<br />
<strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweiserhebungsmaßnahme betroffen<br />
ist, zumin<strong>de</strong>st dann ein Recht zur Abwendung <strong>de</strong>r<br />
rechtswidrigen Folgen auch nach Ablauf <strong>de</strong>s in § 257<br />
StPO <strong>de</strong>terminierten Zeitpunktes verbleiben, wenn er<br />
ihn unverschul<strong>de</strong>t versäumt hat.<br />
Vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r verfassungsrechtlichen Tragweite<br />
<strong>de</strong>s zeitgebun<strong>de</strong>nen Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts muss die<br />
von <strong>de</strong>r Rechtsprechung im Wege <strong>de</strong>r Rechtsfortbildung<br />
entwickelte Wi<strong>de</strong>rspruchslösung damit noch als unvollständig<br />
qualifiziert wer<strong>de</strong>n. Sieht das Gesetz für eine<br />
bestimmte Prozesshandlung einen Zeitpunkt vor, an <strong>de</strong>m<br />
sie letztmalig wirksam angebracht wer<strong>de</strong>n kann, und<br />
verbin<strong>de</strong>t es mit <strong>de</strong>r Versäumung dieses Zeitpunktes<br />
einen substanziellen Rechtsverlust, so ist dies, zumin<strong>de</strong>st<br />
soweit <strong>de</strong>r Ausschluss ein verfassungsrechtlich gewährleistetes<br />
Recht betrifft, nur dann gerechtfertigt, wenn<br />
tatbestandlich gesichert ist, dass <strong>de</strong>r Eintritt <strong>de</strong>s Rechtsverlustes<br />
für <strong>de</strong>n Betroffenen bei Einhaltung <strong>de</strong>r gebotenen<br />
Sorgfalt auch abwendbar war. Die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
bedarf somit einer verfassungskonformen Reduktion.<br />
3. Gesetzliche Vorbil<strong>de</strong>r für eine<br />
verfassungskonforme Einschränkung einer<br />
Präklusionsnorm<br />
Hierbei sind <strong>de</strong>m Rechtsinterpreten zumin<strong>de</strong>st in grammatikalischer<br />
Hinsicht methodisch keine Grenzen gesetzt,<br />
da das Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis und die zeitliche<br />
Anknüpfung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs an § 257 StPO nämlich<br />
selbst Produkte einer Rechtsfortbildung sind, und somit<br />
keine gesetzliche Bestimmung existiert, <strong>de</strong>ren Wortlaut<br />
einer verfassungskonformen Auslegung entgegenstehen<br />
könnte. Schranken bestehen lediglich insoweit, als sich<br />
das Korrektiv kohärent in das Paradigma <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
einbetten lassen muss.<br />
Erkennt man mit Blick auf das Verfassungsrecht ein Bedürfnis<br />
an, die strengen Mechanismen <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
für bestimmte Fälle zu flexibilisieren, so fin<strong>de</strong>n<br />
sich im Prozessrecht Vorbil<strong>de</strong>r dafür, auf welche Weise<br />
<strong>de</strong>r Eintritt einer Präklusionsfolge für bestimmte (Härte-)Fälle<br />
verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
So kann zwar ein erkennen<strong>de</strong>r Richter wegen <strong>de</strong>r Besorgnis<br />
<strong>de</strong>r Befangenheit nach § 25 Abs. 1 StPO zunächst<br />
nur bis zum Beginn <strong>de</strong>r Vernehmung <strong>de</strong>s ersten Angeklagten<br />
über seine persönlichen Verhältnisse abgelehnt<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
418
Aufsätze und Anmerkungen<br />
wer<strong>de</strong>n. 51 Aber auch noch nach Verstreichenlassen dieses<br />
Zeitpunktes ist das Ablehnungsrecht nicht vollständig<br />
präkludiert. Dies gilt naturgemäß dann, wenn die Umstän<strong>de</strong>,<br />
auf die die Ablehnung gestützt wird, erst danach<br />
eingetreten sind. Aber nicht nur für diesen Fall sieht § 25<br />
Abs. 2 StPO die Möglichkeit vor, die Ablehnung auch<br />
nach Ablauf <strong>de</strong>s in Abs. 1 genannten Zeitpunktes vorzubringen.<br />
Auch dann, wenn die Umstän<strong>de</strong>, die zur Ablehnung<br />
berechtigen (könnten), bereits zuvor bestan<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>m Ablehnungsberechtigten jedoch erst im Nachgang<br />
an das in Abs. 1 in Bezug genommene Ereignis bekannt<br />
gewor<strong>de</strong>n sind, besteht das Ablehnungsrecht fort. In<br />
bei<strong>de</strong>n Fällen muss die Ablehnung aber unverzüglich<br />
erfolgen. Nach <strong>de</strong>m letzten Wort <strong>de</strong>s Angeklagten ist die<br />
Ablehnung dagegen nicht mehr möglich, § 25 Abs. 2 S. 2<br />
StPO, und zwar auch dann nicht, wenn <strong>de</strong>r Ablehnungsberechtigte<br />
die ablehnungsbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong><br />
nicht kennen konnte. Obwohl damit auch im Bereich <strong>de</strong>s<br />
Befangenheitsrechts <strong>de</strong>r Inhaber <strong>de</strong>s Ablehnungsrechts<br />
durch § 25 Abs. 1 StPO dazu angehalten wer<strong>de</strong>n soll,<br />
seine Ablehnung so früh wie möglich geltend zu machen,<br />
um dadurch die Gefahr zu verringern, dass die Hauptverhandlung<br />
mehrfach wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n muss, 52 ist bereits<br />
normativ gewährleistet, dass <strong>de</strong>r Rechtsverlust – grundsätzlich<br />
– nicht verschul<strong>de</strong>nsunabhängig eintreten kann.<br />
Das Ablehnungsrecht wird <strong>de</strong>m Ablehnungsberechtigten<br />
sogar auch dann weiterhin zugestan<strong>de</strong>n, wenn er die<br />
Umstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ablehnung nicht kannte. Ein bloßes Kennenmüssen<br />
führt damit noch nicht zu einer Präklusion.<br />
Erkenntnisreich ist auch ein Blick in die Präklusionsvorschriften<br />
<strong>de</strong>r Zivilprozessordnung. U. a. regelt § 295 Abs.<br />
1 ZPO, dass die Verletzung einer das Verfahren und insbeson<strong>de</strong>re<br />
die Form einer Prozesshandlung betreffen<strong>de</strong>n<br />
Vorschrift dann nicht mehr gerügt wer<strong>de</strong>n kann, wenn<br />
die Partei auf die Befolgung <strong>de</strong>r Vorschrift entwe<strong>de</strong>r<br />
verzichtet hat, o<strong>de</strong>r wenn sie bei <strong>de</strong>r nächsten mündlichen<br />
Verhandlung, die aufgrund <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Verfahrens<br />
stattgefun<strong>de</strong>n hat o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r darauf Bezug genommen<br />
ist, <strong>de</strong>n Mangel nicht rügt, obgleich sie erschienen<br />
und ihr <strong>de</strong>r Mangel bekannt war o<strong>de</strong>r bekannt sein musste.<br />
Auch nach dieser Vorschrift, die <strong>de</strong>r zügigen Prozessbeendigung<br />
dient, 53 bleibt eine Präklusion somit dann<br />
aus, wenn die Partei <strong>de</strong>n Mangel <strong>de</strong>s Verfahrens auch bei<br />
Anwendung <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen Sorgfalt (§ 276 BGB)<br />
nicht hätte kennen müssen. 54 Solange die Partei die Versäumung<br />
<strong>de</strong>s Rügezeitpunktes nicht zu vertreten hat,<br />
bleibt ihr das Recht zur Rüge weiterhin erhalten. Auch<br />
§ 296 ZPO erlaubt in allen Konstellationen, die in dieser<br />
Vorschrift Erwähnung fin<strong>de</strong>n, eine Zurückweisung nur<br />
dann, wenn sich die Partei nicht entschuldigen kann. Im<br />
Unterschied zu § 25 Abs. 2 StPO tritt eine Präklusion<br />
bereits dann ein, wenn die Rüge verspätet erfolgt und <strong>de</strong>r<br />
Rügeberechtigte <strong>de</strong>n Mangel <strong>de</strong>s Verfahrens hätte kennen<br />
müssen.<br />
Da § 257 StPO selbst keine Präklusion kennt, sieht diese<br />
Regelung verständlicherweise auch eine Lösung für die<br />
51<br />
Für die Hauptverhandlung über die Berufung und die<br />
Revision muss die Ablehnung bis zum Beginn <strong>de</strong>s Vortrags<br />
<strong>de</strong>s Berichterstatters angebracht sein.<br />
52<br />
Rudolphi in SK-StPO, 4. Aufbau-Lfg (Mai 1990), § 25 Rn. 2.<br />
53<br />
Prütting in MK-ZPO, 4. Aufl. (<strong>2013</strong>), § 295 Rn. 1.<br />
54<br />
Vgl. nur BGHZ 8, 383, 386.<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
Konstellationen, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Berechtigte unverschul<strong>de</strong>t<br />
die Erhebung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs versäumt hat, nicht vor.<br />
Auch in <strong>de</strong>r Rechtsprechung sind vergleichbare Restriktionsten<strong>de</strong>nzen<br />
in Bezug auf die Wi<strong>de</strong>rspruchsdoktrin<br />
nicht auszumachen. 55 Die Kritik in <strong>de</strong>r Literatur richtet<br />
sich in erster Linie gegen das Wi<strong>de</strong>rspruchserfor<strong>de</strong>rnis an<br />
sich, weniger hingegen fin<strong>de</strong>t eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit <strong>de</strong>n Friktionen statt, die eine statische Anbindung<br />
<strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs an § 257 StPO zur Folge haben kann.<br />
Wenn aber die zeitliche Beschränkung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts<br />
selbst einen (zusätzlichen) verfassungsrechtlich<br />
rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Rechte <strong>de</strong>r<br />
Angeklagten be<strong>de</strong>utet, die Rechtfertigung in bestimmten<br />
Fällen jedoch versagt, weil die Belastungen <strong>de</strong>m Angeklagten<br />
nicht mehr zuzumuten sind, kann die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
nur aufrechterhalten bleiben, wenn es<br />
gelingt, Schutzkriterien zu installieren, die ihre Verfassungskonformität<br />
in je<strong>de</strong>m Einzelfall gewährleisten.<br />
Derartige Mechanismen sieht das Gesetz an an<strong>de</strong>ren<br />
Stellen für an<strong>de</strong>re Präklusionsbestimmungen bereits vor<br />
(§§ 25 Abs. 2 StPO, § 295 Abs. 1 ZPO). Bei <strong>de</strong>r Implementierung<br />
einer Schutzklausel in die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
können diese als Vorbil<strong>de</strong>r herangezogen wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Frage, ob man dabei auf Vorschriften Rückgriff nehmen<br />
sollte, die auf die tatsächliche Kenntnis abstellen (z. B.<br />
§ 25 Abs. 2 StPO), o<strong>de</strong>r ob man bereits ein Kennenmüssen<br />
für <strong>de</strong>n Eintritt einer Präklusion genügen lässt (z. B.<br />
§ 295 Abs. 1 ZPO), soll hier aber nicht näher untersucht<br />
wer<strong>de</strong>n. Es soll hier auch nicht um die Problematik gehen,<br />
dass die Wi<strong>de</strong>rspruchslösung <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> nach mit<br />
einer im Gesetz nicht vorgesehenen Zurechnung <strong>de</strong>s<br />
Verteidigerverschul<strong>de</strong>ns zulasten <strong>de</strong>s Angeklagten verbun<strong>de</strong>n<br />
ist. 56 Allein die Feststellung, dass eine strikte<br />
zeitliche Anbindung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs an § 257 StPO<br />
nicht in je<strong>de</strong>m Fall verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist,<br />
soll als Ertrag <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Beitrags genügen.<br />
IV. Zusammenfassung<br />
Der Gedanke, <strong>de</strong>r sich hinter <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchslösung<br />
verbirgt, fin<strong>de</strong>t nur dann Verwirklichung, wenn <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
auch zeitlich befristet wird.<br />
Die zeitliche Befristung, die in <strong>de</strong>r Rechtsprechung durch<br />
eine Anknüpfung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts an <strong>de</strong>n in<br />
§ 257 StPO <strong>de</strong>terminierten Zeitpunkt vollzogen wird,<br />
führt jedoch min<strong>de</strong>stens zu einer Potenzierung <strong>de</strong>s<br />
Grundrechtseingriffs, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweisgewinnung<br />
durch die Strafverfolgungsbehör<strong>de</strong>n ausgeht.<br />
Löst die rechtswidrige Beweiserhebung unter Zugrun<strong>de</strong>legung<br />
<strong>de</strong>r überkommenen Abwägungslehre ein (latentes)<br />
Beweisverwertungsverbot aus, so hat <strong>de</strong>r Grundrechtsträger<br />
bereits von Verfassungs wegen einen Anspruch<br />
darauf, dass <strong>de</strong>r rechtswidrig gewonnene Beweis<br />
nicht gegen seinen Willen zu seinen Lasten herangezogen<br />
wird. Dieser verfassungsrechtliche Anspruch, <strong>de</strong>r auf<br />
die Beseitigung <strong>de</strong>r Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweiserhebung<br />
gerichtet ist, wird durch die zeitliche Bindung<br />
<strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts beschränkt.<br />
55<br />
Vgl. BGHSt 39, 349, 352 f.<br />
56<br />
Vgl. Widmaier NStZ 1992, 519, 521; Dornach NStZ 1995,<br />
57, 62 f.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
419
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Ist <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>s Weiteren das einzige justizielle<br />
Mittel, um diese Folgen abzuwen<strong>de</strong>n, kann die zeitliche<br />
Begrenzung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs ferner in Konflikt mit <strong>de</strong>r<br />
Rechtsschutzgarantie geraten. Dem Grundrechtsträger<br />
muss ein zumutbarer Rechtsweg eröffnet wer<strong>de</strong>n, um<br />
sich gegen die Folgen <strong>de</strong>r rechtswidrigen Beweiserhebung<br />
(also gegen die Beweisverwertung) zur Wehr zu<br />
setzen.<br />
Aus verfassungsrechtlicher Perspektive bedarf die zeitliche<br />
Restriktion <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchsrechts daher einer<br />
Rechtfertigung in <strong>de</strong>m Sinne, dass mit ihr ein legitimer<br />
Zweck verfolgt wird und sich <strong>de</strong>r Eingriff in die Grundrechte<br />
<strong>de</strong>s Betroffenen noch als verhältnismäßig und mit<br />
Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG auch als zumutbar erweist.<br />
Erblickt man einen legitimen Zweck darin, dass ab einem<br />
bestimmten Zeitpunkt für das Gericht feststehen muss,<br />
El Ghazi/Merold – Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur rechten Zeit<br />
ob es das rechtswidrig gewonnene Beweismittel in die<br />
Hauptverhandlung einbringen und für ihren weiteren<br />
Verlauf nutzen darf, erweist sich <strong>de</strong>r Eingriff nur dann als<br />
verhältnismäßig und zumutbar, wenn es gelingt, die<br />
zeitliche Fixierung zumin<strong>de</strong>st für die Fälle zu dynamisieren,<br />
in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsberechtigte unverschul<strong>de</strong>t<br />
keine Kenntnis von <strong>de</strong>n verwertungsrelevanten Umstän<strong>de</strong>n<br />
haben konnte. Ohne eine Härtefallklausel, die im<br />
Gesetz an an<strong>de</strong>ren Stellen Vorbil<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>t (vgl. z. B. § 25<br />
Abs. 2 StPO und § 296 Abs. 1 ZPO), erweist sich die<br />
zeitliche Anbindung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs an § 257 StPO als<br />
zu statisch und daher in <strong>de</strong>n hier angesprochenen Fällen<br />
auch als verfassungswidrig. Solange die Rechtsprechung<br />
an <strong>de</strong>r – ohnehin streitbaren – Wi<strong>de</strong>rspruchslösung festhalten<br />
will, bedarf sie (min<strong>de</strong>stens) einer verfassungskonformen<br />
Restriktion.<br />
Dokumentation<br />
Verfahrensdokumentation<br />
In dieser <strong>Ausgabe</strong> kein Eintrag.<br />
Schrifttum<br />
Schrifttum<br />
In dieser <strong>Ausgabe</strong> kein Eintrag.<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
420
Vollständige Rechtsprechungsübersicht <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 838 – 847<br />
Rechtsprechung<br />
Vollständige Rechtsprechungsübersicht<br />
Hinweis Bei <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Leitsätzen ohne beson<strong>de</strong>re Angabe han<strong>de</strong>lt es sich wie auch oben um Leitsätze <strong>de</strong>s Bearbeiters.<br />
Die oben hervorgehoben angegebenen Entscheidungen wer<strong>de</strong>n im Folgen<strong>de</strong>n ohne die Leitsätze wie<strong>de</strong>rgegeben. Aufgenommen<br />
sind auch die oben genannten EGMR- und BVerfG-Entscheidungen sowie eventuell auch weitere BVerfG-<br />
Entscheidungen, die keine beson<strong>de</strong>rs hervorzuheben<strong>de</strong>n Leitsätze aufweisen. Die Entscheidungen können im Volltext über<br />
ihre Nummer online über die Suchfunktion unserer Startseite (http://www.<strong>hrr</strong>-<strong>strafrecht</strong>.<strong>de</strong>/<strong>hrr</strong>/) abgerufen wer<strong>de</strong>n.<br />
838. AG Nürnberg 46 Ds 513 Js 1382/11 – Urteil<br />
vom 2. August 2012<br />
Beweiswert von Steuer-CDs für <strong>de</strong>n Nachweis einer<br />
Steuerhinterziehung (LGT-Bank; Erträge; Stiftungen;<br />
Beweiswürdigung: ungenügen<strong>de</strong> Vermutung).<br />
§ 370 AO; § 261 StPO<br />
839. BVerfG 2 BvR 371/12 (2. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. August<br />
<strong>2013</strong> (OLG Bamberg / LG Bayreuth)<br />
Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung<br />
aus <strong>de</strong>m Maßregelvollzug; tiefgreifen<strong>de</strong>r Grundrechtseingriff);<br />
Fortdauer <strong>de</strong>r Unterbringung im psychiatrischen<br />
Krankenhaus (Fall „Mollath“; Freiheitsgrundrecht;<br />
Sicherungsbelange <strong>de</strong>r Allgemeinheit; Abwägung<br />
im Einzelfall; Tatsachengrundlage; bestmögliche Sachaufklärung;<br />
verfassungsgerichtliche Kontrolldichte);<br />
Gefährlichkeitsprognose (erhebliche Gefahr künftiger<br />
rechtswidriger Taten; Sachverständigengutachten; eigene<br />
gerichtliche Prognoseentscheidung; Beziehungstaten;<br />
Erörterung entlasten<strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong>); Grundsatz <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit<br />
(mil<strong>de</strong>res Mittel; Führungsaufsicht;<br />
Auflagen und Weisungen).<br />
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB;<br />
§ 67d StGB<br />
840. BVerfG 2 BvR 533/13 (2. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Augsburg / AG Augsburg)<br />
Durchsuchungsbeschluss (mündliche Durchsuchungsanordnung;<br />
richterliche Bestätigung; Wi<strong>de</strong>rspruch); Beschränkung<br />
<strong>de</strong>r Akteneinsicht („in camera“-Verfahren;<br />
Geheimhaltungsinteresse); strafprozessuales Beschwer<strong>de</strong>verfahren<br />
(rechtliches Gehör; Rechtsstaatsgedanke;<br />
funktionaler Zusammenhang; Zurückstellung <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>entscheidung).<br />
Art. <strong>10</strong>3 Abs. 1 GG; § 33 Abs. 4 StPO; § 33a StPO; § 94<br />
StPO; § 98 Abs. 2 StPO; § <strong>10</strong>2 StPO; § <strong>10</strong>5 StPO; § 147<br />
Abs. 2 StPO<br />
841. BVerfG 2 BvR 1412/13 (3. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Braunschweig)<br />
Strafvollzug (Vollzugsplan; effektiver Rechtsschutz;<br />
Rechtsschutzbedürfnis; Statthaftigkeit <strong>de</strong>r Rechtsbeschwer<strong>de</strong>;<br />
Rechtswegerschöpfung vor Erhebung <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>;<br />
Rechtsmittelbelehrung; Rechtsbeschwer<strong>de</strong>frist;<br />
Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorigen Stand).<br />
Art. 19 Abs. 4 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § <strong>10</strong>9 StVollzG;<br />
§ 116 StVollzG; § 120 Abs. 1 StVollzG; § 44 StPO<br />
842. BVerfG 2 BvR 1582/13 (3. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) - Beschluss vom 25. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Stendal)<br />
Strafvollzug (Resozialisierung; Lockerungen; Beschleunigungsgrundsatz;<br />
Verpflichtung zur Neubescheidung);<br />
Subsidiarität <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> (Antrag auf<br />
Vollstreckungsmaßnahmen zur Durchsetzung einer gerichtlich<br />
ausgesprochenen Verpflichtung).<br />
§ 90 Abs. 2 BVerfGG; § 120 Abs. 1 StVollzG; § 172<br />
VwGO<br />
843. BGH 1 StR 115/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Landshut)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
844. BGH 1 StR 115/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Landshut)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
845. BGH 1 StR 189/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Augsburg)<br />
Inhalt <strong>de</strong>s Grundsatzes <strong>de</strong>r Unmittelbarkeit.<br />
§ 250 StPO<br />
846. BGH 1 StR 226/13 - Beschluss vom 13.<br />
Juni <strong>2013</strong> (LG Augsburg)<br />
Steuerhinterziehung (Schenkungsteuer); Verlängerung<br />
<strong>de</strong>r Verjährungsfrist gemäß § 376 AO (Steuerverkürzung<br />
in großem Ausmaß; grober Eigennutz und Tatvorsatz);<br />
Ablehnung eines Beweisantrages als be<strong>de</strong>utungslos.<br />
§ 370 AO n.F.; § 370 Abs. 3 AO a.F. § 376 AO; § 244 Abs.<br />
3 StPO<br />
847. BGH 1 StR 245/13 - Beschluss vom 6. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Freiburg)<br />
Unzulässiger Antrag <strong>de</strong>s Angeklagten auf Wie<strong>de</strong>reinsetzung<br />
in <strong>de</strong>n vorigen Stand gegen die Versäumung <strong>de</strong>r<br />
Frist zur Begründung <strong>de</strong>r Revision.<br />
§ 44 StPO; § 45 StPO; § 344 StPO<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
421
Vollständige Rechtsprechungsübersicht <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 848 – 868<br />
848. BGH 1 StR 248/13 - Beschluss vom 7. August<br />
<strong>2013</strong> (LG München I)<br />
Unbegrün<strong>de</strong>te Anhörungsrüge.<br />
§ 356a StPO<br />
849. BGH 1 StR 251/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG München I)<br />
Notwendige Anwesenheit <strong>de</strong>s Verteidigers (absoluter<br />
Revisionsgrund).<br />
§ 338 Nr. 5 StPO<br />
850. BGH 1 StR 252/13 - Beschluss vom 23.<br />
August <strong>2013</strong> (BGH)<br />
Unbegrün<strong>de</strong>te Anhörungsrüge.<br />
§ 356a StPO<br />
851. BGH 1 StR 352/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Augsburg)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
852. BGH 1 StR 360/13 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Bamberg)<br />
Verletzung <strong>de</strong>r Belehrungspflicht über die Folgen einer<br />
gescheiterten Verständigung.<br />
§ 257c Abs. 5 StPO<br />
853. BGH 1 StR 364/13 - Beschluss vom 16.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Augsburg)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
854. BGH 1 StR 364/13 - Beschluss vom 16.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Augsburg)<br />
Unbegrün<strong>de</strong>ter Antrag auf Beiordnung eines weiteren<br />
Pflichtverteidigers.<br />
§ 142 StPO; § 143 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK<br />
855. BGH 1 StR 374/13 - Beschluss vom 4. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Hamburg)<br />
Gewerbsmäßiger und ban<strong>de</strong>nmäßiger Schmuggel hinsichtlich<br />
<strong>de</strong>r Einfuhrumsatzsteuer (Steuerverkürzung bei<br />
zugleich entstehen<strong>de</strong>r Vorsteuerabzugsberechtigung;<br />
unionsrechtskonforme Auslegung; Kompensation; unionsrechtskonforme<br />
Auslegung); Beihilfe zur Umsatzsteuerhinterziehung.<br />
§ 373 AO; § 370 AO; § 27 StGB; § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2<br />
UStG; Art. 168 Buchst. e, Art. 178 Buchst. e <strong>de</strong>r Richtlinie<br />
2006/112/EG (Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie); § 1<br />
Abs. 1 Nr. 4 UStG; § 16 UStG; § 18 Abs. 1 UStG; § 21<br />
Abs. 2 UStG; Art. 59, 217 ff. ZK; § 264 StPO; Art. <strong>10</strong>3<br />
Abs. 3 GG; Art. 50 GRC<br />
856. BGH 1 StR 392/13 - Beschluss vom 18.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Halle)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
857. BGH 1 StR 440/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Hof)<br />
Kronzeugenregelung (Voraussetzungen <strong>de</strong>r Versagung<br />
<strong>de</strong>r vertypten Strafmil<strong>de</strong>rung bei einer lediglich anfänglichen<br />
Aussagebereitschaft im Ermittlungsverfahren; Ermessensausübung<br />
nach einer Gesamtwürdigung).<br />
§ 46b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB<br />
858. BGH 1 StR 481/13 - Beschluss vom 17.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Mannheim)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
859. BGH 2 StR 1<strong>10</strong>/13 - Beschluss vom 1. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Strafschärfen<strong>de</strong> Berücksichtigung verjährter Straftaten<br />
(Verjährung; sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen).<br />
§ 78 StGB; § 46 StGB; § 174 StGB<br />
860. BGH 2 StR 144/13 - Beschluss vom 14.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Sperrwirkung <strong>de</strong>s § 29a Abs. 1 BtMG hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
Min<strong>de</strong>ststrafe.<br />
§ 29a BtMG<br />
861. BGH 2 StR 150/13 - Beschluss vom 30.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Darmstadt)<br />
Vermögensscha<strong>de</strong>n bei Verlust <strong>de</strong>s illegal erlangten Besitzes<br />
(Erpressung; Betrug; Darlegungsgebot).<br />
§ 253 StGB; § 263 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 265 StPO<br />
862. BGH 2 StR 152/13 - Beschluss vom 14.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Sperrwirkung <strong>de</strong>s § 29a Abs. 1 BtMG hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
Min<strong>de</strong>ststrafe.<br />
§ 29a BtMG<br />
863. BGH 2 StR 225/13 - Beschluss vom 15.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Kassel)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />
(symptomatischer Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>r<br />
Tatbegehung und <strong>de</strong>r Alkoholabhängigkeit; ausreichen<strong>de</strong><br />
Mitursächlichkeit).<br />
§ 64 StGB<br />
864. BGH 2 StR 318/13 - Beschluss vom 31.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Sexuelle Nötigung (Anfor<strong>de</strong>rungen an die Gewalt bei<br />
wi<strong>de</strong>rstandslos hergestellter Körperberührung).<br />
§ 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB<br />
865. BGH 2 StR 63/13 - Beschluss vom 1. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Gera)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
866. BGH 2 StR 87/13 - Beschluss vom 27. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Bonn)<br />
Unbegrün<strong>de</strong>te Anhörungsrüge.<br />
§ 356a StPO<br />
867. BGH 2 StR 321/13 - Beschluss vom <strong>10</strong>.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Frankfurt am Main)<br />
Rechtfehlerhafte Ablehnung einer vermin<strong>de</strong>rten Schuldfähigkeit<br />
bei festgestellter Pädophilie (Krankheitswert;<br />
seelische Abartigkeit).<br />
§ 20 StGB; § 21 StGB<br />
868. BGH 2 StR 374/13 - Beschluss vom 27.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Erfurt)<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
422
Vollständige Rechtsprechungsübersicht <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 869 – 889<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unzulässig.<br />
§ 349 Abs. 1 StPO<br />
869. BGH 2 StR 622/12 - Beschluss vom 13.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Erfurt)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
870. BGH 2 ARs 253/13 (2 AR 175/13) - Beschluss<br />
vom 17. September <strong>2013</strong> (BGH)<br />
Unbegrün<strong>de</strong>te Anhörungsrüge.<br />
§ 356a StPO<br />
871. BGH 2 ARs 281/13 (2 AR 193/13) - Beschluss<br />
vom 1. August <strong>2013</strong> (AG Frankfurt/O<strong>de</strong>r)<br />
Unzuweckmäßige Verfahrensabgabe.<br />
§ 42 Abs. 3 JGG<br />
872. BGH 2 ARs 299/13 - Beschluss vom 15.<br />
August <strong>2013</strong> (BGH)<br />
Hehlerei (Absetzen; einem Dritten Verschaffen).<br />
§ 259 StGB<br />
873. BGH 4 StR 234/13 - Beschluss vom 27.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Bielefeld)<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen an die Darstellung <strong>de</strong>r Aufklärungsrüge<br />
(hinreichend genaue Bezeichnung <strong>de</strong>r maßgeblichen<br />
Beweismittel; Negativtatsachen).<br />
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO<br />
874. BGH 4 StR 288/13 - Beschluss vom 13.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Mönchengladbach)<br />
Strafzumessung (Berücksichtigung von Tätermotiven<br />
und allgemeinen Lebensführungsumstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Täters;<br />
mangeln<strong>de</strong> Strafmil<strong>de</strong>rungsgrün<strong>de</strong>).<br />
§ 46 Abs. 1 StGB<br />
875. BGH 4 StR 241/13 - Beschluss vom 27.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Bochum)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
876. BGH 4 StR 249/13 - Beschluss vom 13.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Essen)<br />
Symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang und<br />
Anlasstat bei <strong>de</strong>r Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />
und konkrete Erfolgsaussicht (Darlegungsanfor<strong>de</strong>rungen).<br />
§ 64 StGB<br />
877. BGH 4 StR 280/13 - Beschluss vom 27.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Halle)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
878. BGH 4 StR 291/13 - Beschluss vom 28.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Dortmund)<br />
Wirksame Rücknahme <strong>de</strong>r Revision.<br />
§ 302 StPO<br />
879. BGH 4 StR 331/13 - Beschluss vom <strong>10</strong>.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Bielefeld)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
880. BGH 4 StR 336/13 - Beschluss vom 28.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Arnsberg)<br />
Unzulässiger Antrag auf Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorigen<br />
Stand gegen die Versäumung <strong>de</strong>r Revisionsbegründungsfrist<br />
(Nebenklage).<br />
§ 44 StPO; § 344 Abs. 1 StPO; § 85 Abs. 2 ZPO<br />
881. BGH 3 StR 128/13 - Beschluss vom 6. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Hannover)<br />
Verfall (rechtsfehlerhafte Ermittlung <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s aus<br />
<strong>de</strong>r Tat Erlangten).<br />
§ 73 StGB<br />
882. BGH 3 StR 128/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Hannover)<br />
Verfallsanordnung (unbillige Härte; eingeschränkte Revisibilität;<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen an die tatrichterlichen Darlegungen).<br />
§ 73c StGB<br />
883. BGH 3 StR 141/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Ol<strong>de</strong>nburg)<br />
Erneute Bildung einer Gesamtstrafe nach Aufhebung und<br />
Zurückverweisung (Maßgeblichkeit <strong>de</strong>r Vollstreckungssituation<br />
im Zeitpunkt <strong>de</strong>r ersten Entscheidung).<br />
§ 55 StGB<br />
884. BGH 3 StR 158/13 - Beschluss vom 17.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Düsseldorf)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
885. BGH 3 StR 158/13 - Beschluss vom 17.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Düsseldorf)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
886. BGH 3 StR 158/13 - Beschluss vom 17.<br />
September <strong>2013</strong> (LG Düsseldorf)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
887. BGH 3 StR 163/13 - Urteil vom 22. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Neubran<strong>de</strong>nburg)<br />
Fehlen<strong>de</strong> Vorwerfbarkeit einer Tatbegehung unter Alkoholeinfluss<br />
aufgrund von Alkoholabhängigkeit; Berücksichtigung<br />
<strong>de</strong>r Alkoholisierung bei <strong>de</strong>r Strafrahmenbestimmung<br />
sowie – neben an<strong>de</strong>ren Grün<strong>de</strong>n – bei <strong>de</strong>r<br />
Verneinung niedriger Beweggrün<strong>de</strong>.<br />
§ 21 StGB; § 49 StGB; § 211 StGB<br />
888. BGH 3 StR 179/13 - Beschluss vom 8. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Ol<strong>de</strong>nburg)<br />
Verfall (Erlangung von nicht bloß kurzfristiger Verfügungsmacht<br />
über gestohlene Gegenstän<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n<br />
Täter als Voraussetzung <strong>de</strong>s Verfalls; Anfor<strong>de</strong>rungen an<br />
die tatrichterlichen Erörterungen bei <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>r<br />
Härtefallvorschrift).<br />
§ 73 StGB; § 73c StGB<br />
889. BGH 3 StR 192/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Neubran<strong>de</strong>nburg)<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
423
Vollständige Rechtsprechungsübersicht <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 890 – 908<br />
Räuberische Erpressung (keine qualifizierte Nötigung<br />
durch die Drohung, <strong>de</strong>n Hund <strong>de</strong>s Opfers zu erschießen);<br />
Voraussetzungen <strong>de</strong>r Mittäterschaft und Abgrenzung zur<br />
Beihilfe.<br />
§ 253 StGB; § 255 StGB; § 25 Abs. 2 StGB<br />
890. BGH 3 StR 196/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Hannover)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
891. BGH 3 StR 199/13 - Beschluss vom 5. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Kleve)<br />
Zulässigkeit und Begrün<strong>de</strong>theit <strong>de</strong>r Aufklärungsrüge bei<br />
gerügter Nichtbegutachtung <strong>de</strong>s Angeklagten.<br />
§ 244 Abs. 2 StPO<br />
892. BGH 3 StR 228/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Hannover)<br />
Rechtsfehlerhafte Anordnung von Wertersatzverfall (Härtefallvorschrift;<br />
unzureichen<strong>de</strong> tatrichterliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit <strong>de</strong>n Vermögensverhältnissen <strong>de</strong>s Angeklagten).<br />
§ 73 StGB; § 73c StGB<br />
893. BGH 3 StR 232/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Düsseldorf)<br />
Regelmäßige Unzulässigkeit <strong>de</strong>r Nichtanordnung einer<br />
Unterbringung allein aufgrund fehlen<strong>de</strong>r Sprachkenntnisse<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten.<br />
§ 64 StGB<br />
894. BGH 3 StR 234/13 - Beschluss vom 6. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Mönchengladbach)<br />
Bewertungseinheit im Betäubungsmittel<strong>strafrecht</strong> (<strong>de</strong>nselben<br />
Güterumsatz betreffen<strong>de</strong> Verkaufsvorgänge);<br />
Voraussetzungen <strong>de</strong>r Berücksichtigung bisher nicht abgeurteilter<br />
Taten bei <strong>de</strong>r Strafzumessung.<br />
§ 29 BtMG; § 46 StGB<br />
895. BGH 3 StR 237/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Hannover)<br />
Unzulässigkeit <strong>de</strong>r Berücksichtigung eines als Exzess zu<br />
werten<strong>de</strong>n Verhaltens im Rahmen <strong>de</strong>r Strafzumessung<br />
(hier: bei <strong>de</strong>r Jugendstrafe) trotz <strong>de</strong>ssen nachträglicher<br />
Billigung.<br />
§ 25 StGB; § 46 StGB; § 17 JGG<br />
896. BGH 3 StR 248/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Ol<strong>de</strong>nburg)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
897. BGH 5 StR 152/13 - Urteil vom 4. September<br />
l<strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen an ein freisprechen<strong>de</strong>s Urteil (unzureichen<strong>de</strong><br />
Beweiswürdigung; erfor<strong>de</strong>rlicher Umfang <strong>de</strong>r<br />
Würdigung von Einlassungen <strong>de</strong>s Angeklagten); Schätzkosten<br />
und Kostenrahmen bei Ausschreibungen als Betriebs-<br />
o<strong>de</strong>r Geschäftsgeheimnis.<br />
§ 267 Abs. 5 S. 1 StPO; § 17 Abs. 2 UWG<br />
898. BGH 5 StR 248/13 - Urteil vom 20. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Hamburg)<br />
Rechtsfehlerhafte Strafzumessung (Rückgabe <strong>de</strong>r Asservate<br />
als bestimmen<strong>de</strong>r Mil<strong>de</strong>rungsgrund; Berücksichtigung<br />
<strong>de</strong>r Untersuchungshaft).<br />
§ 46 StGB<br />
899. BGH 5 StR 306/13 - Beschluss vom 4. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Fehlschlag <strong>de</strong>s Selbstleseverfahrens wegen fehlen<strong>de</strong>m<br />
Eintrag seines Abschlusses im Hauptverhandlungsprotokoll;<br />
Beruhen <strong>de</strong>s Urteils auf diesem Rechtsfehler.<br />
§ 249 StPO; § 261 StPO; § 337 StPO<br />
900. BGH 5 StR 3<strong>10</strong>/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Braunschweig)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
901. BGH 5 StR 318/13 - Urteil vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Hamburg)<br />
Verständigung (Abgrenzung von Angabe eines für <strong>de</strong>n<br />
Fall <strong>de</strong>r Verständigung in Betracht kommen<strong>de</strong>n Strafrahmens<br />
und sog. „Sanktionsschere“); Bestimmung <strong>de</strong>s<br />
Prüfungsumfangs <strong>de</strong>s Revisionsgerichts durch die Angriffsrichtung<br />
<strong>de</strong>r Revision.<br />
§ 257c StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO<br />
902. BGH 5 StR 323/13 (alt: 5 StR 493/12) -<br />
Beschluss vom 22. August <strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
903. BGH 5 StR 332/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
904. BGH 5 StR 36/13 - Urteil vom 20. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Kiel)<br />
Vermin<strong>de</strong>rte Schuldfähigkeit bei Straftatbegehung aus<br />
Furcht vor Entzugserscheinungen.<br />
§ 21 StGB<br />
905. BGH 5 StR 340/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Leipzig)<br />
Unzulässige Verfahrensrüge (Erfor<strong>de</strong>rlichkeit <strong>de</strong>r Mitteilung<br />
<strong>de</strong>r Länge eines Gesprächsmitschnitts, um die Anwendbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r automatischen Sprechererkennung<br />
beurteilen zu können; Negativtatsachen).<br />
§ 244 Abs. 3, Abs. 4 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO<br />
906. BGH 5 StR 348/13 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
907. BGH 5 StR 352/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Lübeck)<br />
Rechtsfehlerhafter Ausschluss <strong>de</strong>r erheblich beeinträchtigten<br />
Schuldunfähigkeit (Be<strong>de</strong>utung einer BAK von<br />
2,7‰ als Beweisanzeichen für die Stärke <strong>de</strong>r alkoholischen<br />
Beeinflussung).<br />
§ 21 StGB<br />
908. BGH 5 StR 354/13 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Itzehoe)<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
424
Vollständige Rechtsprechungsübersicht <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 909 – 928<br />
Beweiswürdigung bei verständigungsbasiertem Geständnis.<br />
§ 257c Abs. 2 StPO<br />
909. BGH 5 StR 356/13 (alt: 5 StR 394/12) -<br />
Beschluss vom 22. August <strong>2013</strong> (LG Saarbrücken)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
9<strong>10</strong>. BGH 5 StR 357/13 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
911. BGH 5 StR 360/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Braunschweig)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
912. BGH 5 StR 365/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Leipzig)<br />
Rechtsfehlerhaft unterbliebene Erörterungen zum Ausschluss<br />
schuldrelevanter pädophiler Neigungen <strong>de</strong>s Angeklagten.<br />
§ 21 StGB<br />
913. BGH 5 StR 370/13 - Beschluss vom 22.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Hamburg)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
914. BGH 5 StR 380/13 (alt: 5 StR 472/12) -<br />
Beschluss vom 22. August <strong>2013</strong> (LG Berlin)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
915. BGH 5 StR 384/13 - Beschluss vom 4. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Cottbus)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
916. BGH 5 StR 390/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Leipzig)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
917. BGH 5 StR 314/13 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Lübeck)<br />
Verwerfung <strong>de</strong>r Revision als unbegrün<strong>de</strong>t.<br />
§ 349 Abs. 2 StPO<br />
918. BGH 5 AR (VS) 41/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong><br />
Unzulässigkeit <strong>de</strong>r Rechtsbeschwer<strong>de</strong>.<br />
§ 29 Abs. 1 EGGVG<br />
919. BGH 5 AR (Vs) 43/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong><br />
Unzulässigkeit <strong>de</strong>r Rechtsbeschwer<strong>de</strong><br />
§ 29 Abs. 1 EGGVG<br />
920. BGH 5 AR (VS) 60/12 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong><br />
Nachträgliche Unzulässigkeit <strong>de</strong>r Rechtsbeschwer<strong>de</strong><br />
(Wegfall <strong>de</strong>s Verpflichtungsbedürfnisses).<br />
§ 29 EGGVG<br />
921. BGH 5 ARs 34/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (BGH)<br />
Erfor<strong>de</strong>rnis eines Absatzerfolges bei <strong>de</strong>r Hehlerei (Aufgabe<br />
<strong>de</strong>r bisherigen Rechtsprechung; Zustimmung zur<br />
Anfrage <strong>de</strong>s 3. Strafsenats).<br />
§ 259 StGB<br />
922. BGH 1 StR 166/13 - Beschluss vom 15.<br />
Mai <strong>2013</strong> (LG Mannheim)<br />
Verständigung (Einbeziehung von Vorverurteilungen in<br />
<strong>de</strong>n Strafvorschlag).<br />
§ 257c Abs. 2 StPO<br />
923. BGH 1 StR 201/13 - Urteil vom 6. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Mosbach)<br />
Verfahrensabtrennung (Überprüfung <strong>de</strong>r Zweckmäßigkeit<br />
und <strong>de</strong>s richterlichen Ermessens; Darlegungsanfor<strong>de</strong>rungen);<br />
Rüge <strong>de</strong>r vorschriftswidrigen Besetzung<br />
(Präklusion: rechtzeitiges Vorbringen in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung);<br />
Ablehnung eines Schöffen wegen Befangenheit<br />
(Vorbefassung mit <strong>de</strong>r Tat); Beweiswürdigung.<br />
§ 2 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 1 StPO; § 25 Abs. 1 StPO;<br />
§ 261 StPO<br />
924. BGH 1 StR 204/13 - Beschluss vom 23.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Nürnberg-Fürth)<br />
Schwerer sexueller Missbrauch von Kin<strong>de</strong>rn (Begriff <strong>de</strong>r<br />
sexuellen Handlung: Handlungen von einiger Erheblichkeit).<br />
§ 176 Abs. 1 StGB; § 184g Nr. 1 StGB<br />
925. BGH 1 StR 206/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG Regensburg)<br />
Beweiswürdigung (teilweise Verwertung von Zeugenaussagen;<br />
Belastungszeugen; in dubio pro reo; Wi<strong>de</strong>rsprüche).<br />
§ 261 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK<br />
926. BGH 1 StR 234/13 - Beschluss vom 24.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Konstanz)<br />
Verständigung (Belehrung <strong>de</strong>s Angeklagten über Folgen<br />
<strong>de</strong>s Abweichens <strong>de</strong>s Gerichts von <strong>de</strong>r Verständigung:<br />
Einzelfall <strong>de</strong>s ausgeschlossenen Beruhens <strong>de</strong>s Urteils auf<br />
fehlen<strong>de</strong>n Belehrung nach einer gescheiterten Verständigung).<br />
§ 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO<br />
927. BGH 1 StR 237/13 - Beschluss vom 3. September<br />
<strong>2013</strong> (LG München)<br />
Mitteilungspflicht über die Erörterung einer Verständigung<br />
(keine Vorschrift zur Öffentlichkeit <strong>de</strong>s Verfahrens;<br />
keine Mitteilungspflicht bei Erörterung <strong>de</strong>r Sach- und<br />
Rechtslage).<br />
§ 257c StPO; § 243 Abs. 4 StPO; § 169 Abs. 1 GVG<br />
928. BGH 1 StR 246/13 - Beschluss vom 7. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Deggendorf)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung (Übergangsvorschriften<br />
zur Anwendung <strong>de</strong>r Vorschriften über die Sicherungsverwahrung<br />
bei „Altfällen: Voraussetzungen;<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
425
Vollständige Rechtsprechungsübersicht <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 929 – 945<br />
Anwendbarkeit auf die Anordnung <strong>de</strong>r vorbehaltenen<br />
Sicherungsverwahrung).<br />
§ 66 StGB; § 66a StGB; § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB<br />
929. BGH 1 StR 86/13 - Urteil vom 11. Juni<br />
<strong>2013</strong> (LG München II)<br />
Mord (Heimtücke: Ausnutzen <strong>de</strong>r Arg- und Wehrlosigkeit;<br />
Tötungsvorsatz); Raub (Zueignungsabsicht); Rücktritt<br />
(Rücktrittsvoraussetzungen bei mehreren Beteiligten:<br />
aktive Rücktrittsbemühungen, vom Zufall abhängige<br />
Rettung).<br />
§ 211 StGB; § 249 Abs. 1 StGB; § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB<br />
930. BGH 1 StR 305/13 - Beschluss vom 20.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Karlsruhe)<br />
Rücknahme <strong>de</strong>r Revision; Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorherigen<br />
Stand (Fristversäumnis).<br />
§ 302 Abs. 1 StPO; § 44 Satz 1 StPO<br />
931. BGH 1 StR 332/13 - Beschluss vom 21.<br />
August <strong>2013</strong> (LG München II)<br />
Schwerer Ban<strong>de</strong>ndiebstahl (Einbruchsdiebstahl: Tateinheit<br />
mit Sachbeschädigung; Konsumtion).<br />
§ 244a Abs. 1 StGB; § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB;<br />
§ 303 Abs. 1 StGB<br />
932. BGH 1 StR 457/12 - Urteil vom 5. Juni<br />
<strong>2013</strong> (LG Waldshut-Tiengen)<br />
Heimtücke (Arglosigkeit bei vorherigen To<strong>de</strong>sdrohungen);<br />
min<strong>de</strong>r schwerer Fall <strong>de</strong>s Totschlags (Reizung zum<br />
Zorn bei einem zur Tat Entschlossenen).<br />
§ 211 StGB; § 213 StGB<br />
933. BGH 2 StR <strong>10</strong>8/13 - Beschluss vom 13.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Wiesba<strong>de</strong>n)<br />
Versuch <strong>de</strong>s schweren sexuellen Missbrauchs von Kin<strong>de</strong>rn<br />
(Rücktritt vom unbeen<strong>de</strong>ten Versuch).<br />
§ 176a Abs. 2 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 24<br />
Abs. 1 Satz 1 StGB<br />
934. BGH 2 StR 116/13 - Beschluss vom <strong>10</strong>.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Recht auf <strong>de</strong>n gesetzlichen Richter (nachträgliche Än<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>s Geschäftsverteilungsplans: Voraussetzungen,<br />
revisionsrechtliche Überprüfbarkeit; Verhältnis zum<br />
Beschleunigungsgrundsatz).<br />
Art. <strong>10</strong>1 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 21e Abs.<br />
3 Satz 1 GVG<br />
935. BGH 2 StR 139/13 - Urteil vom 17. Juli<br />
<strong>2013</strong> (LG Koblenz)<br />
Totschlag (Tötungsvorsatz); schwere Körperverletzung<br />
(Vorliegen einer erheblichen Entstellung); Beweiswürdigung<br />
(Umgang mit ambivalenten Beweiszeichen; revisionsrechtliche<br />
Kontrolle).<br />
§ 212 Abs. 1 StGB; § 226 Abs. 1 StGB; § 261 StPO<br />
936. BGH 2 StR 163/13 - Beschluss vom 16.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Trier)<br />
Räuberische Erpressung (Rechtswidrigkeit <strong>de</strong>r Bereicherungsabsicht:<br />
Irrtum über das Vorliegen eines Anspruchs<br />
für die Bereicherung).<br />
§ 253 Abs. 1 StGB; § 255 StGB; § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB<br />
937. BGH 2 StR 38/13 - Urteil vom 31. Juli<br />
<strong>2013</strong> (LG Aachen)<br />
Gefährliche Körperverletzung (lebensgefährliche Behandlung:<br />
abstrakte Lebensgefahr unter <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>s Einzelfalls); Bemessung <strong>de</strong>r Jugendstrafe (Einbeziehung<br />
an<strong>de</strong>rer Strafzwecke neben <strong>de</strong>m Erziehungsgedanken).<br />
§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 18 Abs. 2 JGG<br />
938. BGH 2 StR 174/13 - Beschluss vom 30.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Darmstadt)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />
(Hang, berauschen<strong>de</strong> Mittel im Übermaß zu sich zu<br />
nehmen; Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstat).<br />
§ 64 StGB<br />
939. BGH 2 StR 180/13 - Beschluss vom 13.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Frankfurt am Main)<br />
Versuchter Totschlag (Tötungsvorsatz: Beweiswürdigung<br />
bei Eventualvorsatz; Verhältnis zum mitverwirklichten<br />
[versuchten] Körperverletzungs<strong>de</strong>likt und zur schweren<br />
Körperverletzung).<br />
§ 212 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 223 Abs. 1<br />
StGB; § 226 Abs. 1 StGB; § 52 StGB; § 261 StPO<br />
940. BGH 2 StR 220/13 - Urteil vom 31. Juli<br />
<strong>2013</strong> (LG Limburg)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in er psychiatrischen<br />
Anstalt (Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>r schuldvermin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n<br />
Krankheit und <strong>de</strong>r Anlasstat; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).<br />
Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 21 StGB<br />
941. BGH 2 StR 574/12 - Urteil vom 14. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Fulda)<br />
Strafzumessung (Tatmodalitäten als Strafschärfungsgrund<br />
bei gleichzeitiger gemil<strong>de</strong>rter Schuldfähigkeit).<br />
§ 49 Abs. 1 StGB; § 21 StGB<br />
942. BGH 2 ARs 267/13 (2 AR 206/13) - Beschluss<br />
vom 27. August <strong>2013</strong><br />
Wi<strong>de</strong>rruf <strong>de</strong>r Bewährung (zuständige Strafvollstreckungskammer<br />
bei erneuter Haftstrafe in an<strong>de</strong>rem Gerichtsbezirk:<br />
Begriff <strong>de</strong>s Befasst sein).<br />
§ 14 StPO; § 462a Abs. 1 Satz 2 StPO<br />
943. BGH 4 StR 171/13 - Beschluss vom 18.<br />
Juli <strong>2013</strong> (LG Dortmund)<br />
Beweiswürdigung (Anfor<strong>de</strong>rungen an die Urteilsbegründung<br />
bei gegensätzlichen Aussagen).<br />
§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO<br />
944. BGH 4 StR 179/13 - Urteil vom 15. August<br />
<strong>2013</strong> (LG Bochum)<br />
Anordnung <strong>de</strong>r Unterbringung in einer psychiatrischen<br />
Klinik (Gefährlichkeitsprognose: zukünftige Begehung<br />
erhebliche Straftaten).<br />
§ 63 StGB<br />
945. BGH 4 StR 255/13 - Beschluss vom 14.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Kaiserslautern)<br />
Untreue (Vermögensbetreuungspflicht: faktische Vermögensbetreuungspflicht<br />
nach Erlöschen <strong>de</strong>s begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
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Vollständige Rechtsprechungsübersicht <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 946 – 946<br />
rechtlichen Verhältnisses, Vermögensbetreuungspflicht<br />
<strong>de</strong>s Gerichtsvollziehers; Missbrauch <strong>de</strong>r Stellung als<br />
Amtsträger).<br />
§ 266 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 StGB<br />
946. BGH 4 StR 274/13 - Beschluss vom 27.<br />
August <strong>2013</strong> (LG Halle)<br />
Schwere Körperverletzung (qualifizierte Begehung mit<br />
dolus directus: Anfor<strong>de</strong>rungen an <strong>de</strong>n Vorsatz); unterlassene<br />
Hilfeleistung (Konkurrenzen gegenüber <strong>de</strong>m unechten<br />
Unterlassungs<strong>de</strong>likt); Ablehnung eines Beweisantrages<br />
wegen Be<strong>de</strong>utungslosigkeit (Begründung).<br />
§ 226 Abs. 2 StGB; § 323c StGB; § 13 StGB; § 244 Abs. 2<br />
Satz 3 StPO; § 354 StPO; § 357 StPO; § 358 StPO<br />
<strong>HRRS</strong> Oktober <strong>2013</strong> (<strong>10</strong>/<strong>2013</strong>)<br />
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