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Pfarrer Manuel Neumann, Meerholz-Hailer

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Dieses Manuskript stimmt nicht unbedingt mit dem Wortlaut der Sendung überein.<br />

Es darf nur zur Presse- und Hörerinformation verwendet<br />

und nicht vervielfältigt werden,<br />

auch nicht in Auszügen.<br />

Eine Verwendung des Manuskripts für Lehrzwecke<br />

sowie seine Vervielfältigung und Weitergabe als Lehrmaterial<br />

sind nur mit Zustimmung der Autorin/des Autors zulässig.<br />

<strong>Pfarrer</strong> <strong>Manuel</strong> <strong>Neumann</strong>, <strong>Meerholz</strong>-<strong>Hailer</strong><br />

hr1 Feiertagsgedanken<br />

26. Dezember 2013<br />

„Die Insel der Seligen – Vertreibung aus dem Paradies“<br />

Mich als <strong>Pfarrer</strong> zu haben, ist für meine Gemeinde nicht immer ganz einfach. Das denke<br />

ich zumindest manchmal. Denn ich neige bisweilen zu überraschenden Aktionen, fordere<br />

heraus oder provoziere hin und wieder sogar.<br />

Gleich zum Einstieg in den Advent in diesem Jahr war es mal wieder soweit. Etwa zwanzig<br />

Christen waren frühmorgens zum Gottesdienst bei Kerzenschein gekommen. Das ist<br />

normalerweise eine recht beschauliche und gemütliche Angelegenheit: Da werden die<br />

bekannten Adventslieder gesungen, die Kerzenbeleuchtung sorgt für eine gemütliche und<br />

adventliche Atmosphäre.<br />

Und dann kam ich.<br />

Ich hatte in der Kirche eine Leinwand aufgebaut und habe den Gottesdienstbesuchern<br />

einen kurzen Ausschnitt aus einem Film vorgespielt. Der beginnt zunächst in völliger<br />

Dunkelheit und in absoluter Stille.<br />

Auf eine dunkle, stille Leinwand zu schauen – das schürt natürlich Erwartungen. Was<br />

kommt jetzt? Vielleicht der Weihnachtsstern, der in der Finsternis aufleuchtet? Oder geht<br />

es um die Schöpfungsgeschichte – und Gott spricht gleich das „Es werde Licht“?<br />

Mitten in diese gespannte Erwartung hinein erscheint auf der Leinwand ein heller<br />

Schimmer. Von irgendwo dringt Sonnenlicht durch das Schwarz und wandelt es in erdiges<br />

Braun. Und mit dem Licht kommen auch die Klänge: Erst ist es nur ein leises Rauschen,<br />

ein Gluckern und Pochen, das immer mehr anschwillt zum Dröhnen und Donnern.<br />

Plötzlich ist klar: Die Kamera befindet sich unter Wasser. Doch die Sonne durchleuchtet<br />

hier nicht das Chaos der Urflut – obwohl hier sich durchaus die Urgewalt der Natur ihre<br />

Bahn bricht. Vielmehr richtet die Kamera den Blick auf eine junge Frau. Sie kämpft sich<br />

aus den wirbelnden Fluten an die Oberfläche. Wasser und Trümmer sind überall. Hilflos<br />

klammert sie sich an eine Palme und schreit mit letzter Kraft gegen die gewaltige<br />

Katastrophe an, die da über sie hereingebrochen ist.<br />

Die Szene stammt aus dem Film „The Impossible“ – zu Deutsch: „Das Unmögliche“.<br />

Erzählt wird die wahre Geschichte einer Familie, die am Zweiten Weihnachtsfeiertag 2004<br />

von dem schweren Tsunami in Thailand getroffen wird. Das „Unmögliche“ des Filmtitels<br />

besteht darin, dass die ganze Familie gegen jede Hoffnung die Katastrophe überlebt.<br />

Die Bilder vom Tsunami sind wirklich furchteinflößend. Gerade weil die Kamera so dicht an<br />

der Hauptdarstellerin bleibt, entwickelt der Film eine emotionale Wucht, der man sich nur<br />

schwer entziehen kann.<br />

Damit werden die Kräfte der Natur, die Gewalttätigkeit des Ereignisses und auch die<br />

Torturen dieser Frau schon beim bloßen Zusehen fast körperlich spürbar.


Das ist schwer zu ertragen – erst recht am frühen Morgen und mitten im Advent.<br />

Entsprechend geplättet waren auch die Gottesdienstbesucher. Ich hatte sie überrollt –<br />

geradezu mit der Wucht eines Tsunamis.<br />

Nein – manchmal hat es meine Gemeinde wirklich nicht leicht mit mir.<br />

Denn ich konnte nach der Filmszene fast das Fragezeichen in den Gesichtern der<br />

Gläubigen sehen: „Bitte – was sollte das denn jetzt?“<br />

Beim gemeinsamen Frühstück nach dem Gottesdienst bricht es geradezu aus einer<br />

Teilnehmerin heraus: „Also – so was brauche ich ja am frühen Morgen nun wirklich nicht!“<br />

Und auch die Anderen am Tisch stehen noch ganz unter dem Eindruck des Gesehenen<br />

und fühlen sich teils in ihrer adventlichen Stimmung empfindlich gestört. Das war etwas zu<br />

viel auf nüchternen Magen.<br />

Und für einen kurzen Augenblick denke ich: Bin ich zu weit gegangen? Habe ich die<br />

Gottesdienstbesucher total überfordert?<br />

Doch dann kontere ich: Darum geht es doch gerade – ich werde als Mensch ja auch nicht<br />

gefragt, ob mir diese oder jene Katastrophe gerade in den Kram passt. Die Urlauber in<br />

Thailand vor neun Jahren sind auch nicht gefragt worden, ob sie von einem Tsunami<br />

getroffen werden wollen oder nicht. Schicksalsschläge kündigen sich selten vorher an.<br />

Das Leben schreibt genügend Geschichten, die auch schwere Kost sind. Krankheiten und<br />

Unfälle, kleine und große Katastrophen, Scheitern und Unglück – es gibt doch wirklich<br />

mehr als genug Dinge, an dem viele Menschen zu knabbern haben.<br />

Aber muss ich als <strong>Pfarrer</strong> nun auch noch hergehen und die Gemeinde damit sogar noch<br />

im Gottesdienst so schonungslos konfrontieren?<br />

Und die Antwort auf diese Frage kann letztlich nur lauten: Ja – zumindest manchmal muss<br />

das sein. Denn was wäre die Alternative? Die christliche Gemeinde würde sich<br />

zurückziehen – fort von der bösen Welt auf die sprichwörtliche Insel der Seligen. Doch<br />

diese Insel der Seligen existiert nicht. Auch ihre Strände werden von Tsunamis überrollt,<br />

ihre Hänge von Erdbeben erschüttert, und auch vor ihren Einwohnern machen<br />

Krankheiten und Unfälle nicht Halt. Die Insel der Seligen ist ein trügerisches Paradies, aus<br />

dem schon viele vertrieben wurden.<br />

Dabei ist es durchaus verständlich: Niemand setzt sich freiwillig oder gar gerne mit dem<br />

Leiden und dem Tod auseinander. Manche Menschen scheinen einfach darauf zu hoffen,<br />

dass schon irgendwie alles gutgehen wird. Wenn kleine Kinder Verstecken spielen, halten<br />

sie sich die Hände vor die Augen. Sie denken: Wenn ich den Anderen nicht mehr sehe,<br />

kann er mich auch nicht mehr sehen. Ganz ähnlich glauben auch Menschen, dass der Tod<br />

sie schon in Ruhe lassen wird, wenn sie ihn einfach ignorieren. Die Bemühungen gleichen<br />

sich – und sind gleichermaßen fruchtlos.<br />

Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb erscheint die Insel der Seligen immer<br />

wieder so verlockend. Und so gibt es auch im christlichen Glauben die Versuchung, solche<br />

Inseln der Seligen zu bilden. Das Böse, das Unbeherrschbare und das Gescheiterte sollen<br />

sich von dieser Insel dann – bitteschön – fernhalten.<br />

Damit aber verliert der Glaube den Kontakt zur Wirklichkeit. Der Gottesdienst einer<br />

solchen Glaubensgemeinschaft wird zum heiligen Schauspiel, das in mystisches Erleben<br />

oder spirituelle Begeisterung entrückt – und dabei die Bodenhaftung mutwillig aufgibt.<br />

Der christliche Gottesdienst aber findet mitten in der Welt statt – mit allen Konsequenzen.<br />

Da kann, da darf, ja da muss der Gottesdienst bisweilen auch mal zur Zumutung werden.<br />

Bleibt nur die Frage: Muss das denn unbedingt in der besinnlichen Advents- und<br />

Weihnachtszeit sein?


Gerade an einem Zweiten Weihnachtsfeiertag kam vor ein paar Jahren eine<br />

Krankenschwester nach dem Gottesdienst auf mich zu. Sie war einigermaßen frustriert:<br />

„Jetzt habe ich an Heiligabend und am ersten Feiertag Dienst gehabt. Ich habe mich so<br />

auf den Gottesdienst am zweiten Feiertag gefreut. Und dann kommt so was!“<br />

Mit „so was“ meinte sie die biblischen Lesungen des Tages. Anders als die Evangelische<br />

Kirche feiert die Katholische Kirche am 26. Dezember das Fest des heiligen Stephanus. In<br />

den Schriftlesungen ist von Betlehem, von Hirten und Engeln keine Rede mehr –<br />

stattdessen geht es um Mord und Totschlag: Stephanus gehörte zu den ersten sieben<br />

Diakonen der Kirche – ein Diener, würden wir heute sagen – für Ärmsten der Gemeinde,<br />

für die Kranken und die Schwachen. Die Diakone sorgten in der Urkirche dafür, dass die<br />

christliche Gemeinde geerdet blieb und nicht zum vergeistigten Halleluja-Verein wurde.<br />

Doch die erfolgreiche Arbeit in der Nachfolge Christi war nicht ungefährlich und brachte<br />

Stephanus vor den Hohen Rat. Sein Auftreten dort und sein Bekenntnis zu Jesus Christus<br />

ließen die Situation eskalieren. Eine wütende Menschenmenge trieb ihn schließlich aus<br />

der Stadt hinaus und steinigte ihn.<br />

Das ist schon eine unsanfte Landung: Erst die schöne und vertraute<br />

Weihnachtsgeschichte mit den Hirten, den Engeln und dem Kind in der Krippe – und dann<br />

gleich am nächsten Tag im katholischen Gottesdienst dieser Bericht über einen<br />

Menschen, der wegen seines Glaubens umgebracht wird.<br />

Ich kann einerseits die Krankenschwester gut verstehen. Sie ist mit ganz anderer<br />

Erwartung in den Gottesdienst gekommen. Sie hat sich auf ein frohes Weihnachtsfest<br />

gefreut. Sie wollte ein wenig ausruhen von ihrem anstrengenden und manchmal<br />

aufreibenden Beruf. Sie wollte die Weihnachtsbotschaft hören – und bekam etwas ganz<br />

Anderes zu hören. Und so kann ich auch meine etwas überforderte Gemeinde im ersten<br />

Adventsgottesdienst verstehen. Auch da klafften Erwartung und erlebte Wirklichkeit<br />

auseinander.<br />

Andererseits empfinde ich in die Konfrontation der Gemeinde mit der oft rauen Wirklichkeit<br />

als notwendiges Korrektiv. Was Christen feiern und was sie leben – das gehört untrennbar<br />

zusammen und darf nicht getrennt werden. Und die Feier muss auch einem Tsunami,<br />

einem Erdbeben oder jeder großen oder kleinen Tragödie standhalten. Der Tsunami 2004<br />

hat viele Menschen mitten in der besinnlichen Weihnachtszeit aufgeschreckt. Das Fest<br />

des Heiligen Stephanus erinnert mitten in der Weihnachtsfreude daran, dass das Leben<br />

des Christen so wie das jedes anderen Menschen kein Zuckerschlecken ist. Das Fest ist<br />

darum unverzichtbar. Denn das vernichtendste Urteil über einen christlichen Gottesdienst<br />

wäre wohl: „Das war schön, hatte aber mit dem Leben nichts zu tun.“<br />

Das jedenfalls kann meine Gemeinde nicht behaupten: Wir feiern unseren Glauben mitten<br />

im Leben – komme, was da wolle.

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