Artikel im lesefreundlichen Magazinformat als PDF ... - Greenpeace
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Kernenergie<br />
Der Herbst<br />
der<br />
Nukleokraten<br />
Frankreich scheint fest <strong>im</strong> Griff einer<br />
atombeses senen Elite. Aber <strong>Greenpeace</strong> hält dagegen<br />
und der Machtblock bekommt erste Risse – wie<br />
eine in die Jahre gekommene Reaktorhülle.<br />
Die Geschichte eines historischen Moments aus der<br />
V. Republik in fünf Kapiteln.<br />
Von Matthias Wyssmann<br />
Er ist Anfang fünfzig, von gewichtiger Statur,<br />
trägt einen Seehundschnauz, hat liebevolle<br />
Augen und strahlt eine gemütliche Jovialität aus.<br />
Man würde dem legendären Anti-Atom-Aktivisten<br />
Rousselet aus Cherbourg eher den Kapitän<br />
eines Fischkutters auf dem Ärmelkanal<br />
geben; oder vielleicht Verleihnix aus dem Dorf<br />
von Asterix: ganz und gar gutmütig – solange<br />
man ihn nicht wütend macht. Denn wenn es<br />
um die Atomkraft geht, ist es be<strong>im</strong> Normannen<br />
mit der Gemütlichkeit schnell<br />
vorbei. Da lässt er nichts anbrennen.<br />
Als er 2009 Wind bekommt von einem<br />
Transport radioaktiver Abfälle nach<br />
Russland, kettet er sich kurzerhand<br />
und <strong>im</strong> Alleingang an die Geleise.<br />
Als er anlässlich einer Aktion in der<br />
Schweiz einen freien Tag hat, besichtigt er<br />
flugs alle vier AKW – von Leibstadt bis Mühleberg.<br />
Es gibt wenig in Sachen Kernkraft, das<br />
der streitbare <strong>Greenpeace</strong>r nicht eingehend<br />
Magazin <strong>Greenpeace</strong><br />
Nr. 3 — 2013<br />
26<br />
studiert hätte – <strong>als</strong> bewegte er sich ständig<br />
in den am besten gehüteten Anlagen der Atomindustrie.<br />
Als wir von einem Ausflug zur Wiederaufbereitungsanlage<br />
La Hague zurück nach Cherbourg<br />
kommen, sieht er von weitem mit Sperberaugen<br />
etwas <strong>im</strong> Hafen, das ihn be unruhigt:<br />
«Der Kran der Areva ist in Betrieb.» Die Areva<br />
ist einer der französischen Nuklearkonzerne.<br />
«Es muss ein Schiff <strong>im</strong> Hafen sein. Warum weiss<br />
ich nichts davon!» Für Atomtransporte gibt es<br />
ein eigenes Pier, wo das Material aus- und<br />
eingeschifft wird. Rousselet vermutet, dass heute<br />
bloss leere Container für radioaktive Transporte<br />
geliefert werden: «Die ‹Pacific Grebe› muss<br />
aus Japan eingetroffen sein.» Er kennt jedes<br />
Schiff, jede Route <strong>im</strong> Atomgeschäft. Er kramt<br />
seinen Feldstecher aus dem Hand schuhfach.<br />
«Da stehen sie», sagt er befriedigt. «Nur die<br />
Japaner verstehen es noch, solche Behälter zu<br />
schmieden.»
Geharnischter Protest:«Aufhören, wir haben Schiss», verdeutlicht frei übersetzt das Schild der Demonstranten vor<br />
dem AKW Bugey bei Saint-Vulbas <strong>im</strong> Osten Frankreichs.<br />
© AFP PHOTO / SEBASTIEN BOZON<br />
© AFP PHOTO / JEAN-PHILIPPE KSIAZEK<br />
Ein Trupp von Uneinsichtigen: Am 4. Mai demonstrierten Lokalpolitiker gegen<br />
die Schliessung des AKW Fessenhe<strong>im</strong>.
Nuklearwiederaufbereitungsanlage La Hague<br />
© <strong>Greenpeace</strong> / Pierre Gleizes
— I —<br />
La Hague<br />
Um es vorwegzunehmen: Die Halbinsel La Hague<br />
ist traumhaft schön. Die berüchtigte Wiederaufbereitungsanlage<br />
und das benachbarte Lager<br />
für radioaktive Abfälle besetzen, wie versehentlich<br />
hingestellt, ein säuberliches Rechteck<br />
von vielleicht 5 mal 0,5 Kilometern: gut sichtbar<br />
aus dem Weltall <strong>als</strong> graue Narbe auf dem<br />
grünen Land. Im Umfeld aber stehen romantische,<br />
vielleicht etwas ausgestorbene Weiler.<br />
Gelber Ginster wächst auf den malerischen<br />
Klippen. Man möchte hier sofort Urlaub machen.<br />
Solange die Fabrik ausser Sicht ist. Symmetrisch<br />
ihre Silhouette, irgendwie schweigsam,<br />
nicht bedrohlich, sondern grotesk provisorisch.<br />
Das radioaktive Material, , das die Anlage <strong>im</strong> Tag<br />
durchschnittlich verwertet, hat Platz auf zwei,<br />
drei Lastern: lächerlich wenig für eine Fabrik, die<br />
so gross ist wie eine Kleinstadt.<br />
Am <strong>im</strong>posantesten ist ein blaugrauer Block,<br />
in dem die radioaktiven Abwässer behandelt<br />
werden (bevor sie einige hundert Meter vor<br />
der Küste «legal» ins Meer geleitet werden).<br />
Kernenergie<br />
Links und rechts davon UP 1 und UP 2:<br />
«Usine à plutonium» hiess das einst, Plutoniumfabriken.<br />
Heute steht die Abkürzung harmlos<br />
für «Unité de production», denn das<br />
ursprünliche Wort weckte Ängste in der<br />
hiesigen Bevölkerung.<br />
Dabei dürfte es kaum eine Gegend geben,<br />
wo der Bau einer der gefährlichsten nuklearen<br />
Anlagen aller Zeiten auf weniger Widerstand<br />
gestossen wäre. Als <strong>im</strong> deutschen Wackersdorf<br />
eine ähnliche Höllenmaschine geplant wurde,<br />
hagelte es 880 000 Einsprachen. Es wurde nie<br />
gebaut. In den Dörfern von La Hague und <strong>im</strong><br />
malerischen Hafenstädtchen Cherbourg hingegen<br />
stiess das Geschäft mit der Kernspaltung<br />
auf wohlwollende Einhe<strong>im</strong>ische.<br />
Das mag mit der militärhistorischen Lage<br />
zu tun haben. Cherbourg liegt auf dem so<br />
genan nten Cotentin, der wie ein Finger weit in<br />
den Ärmelkanal hinauszeigt: ein Vorposten.<br />
Im Hafen zeigt ein bronzener Napoleon hoch zu<br />
Ross ins Meer hinaus gegen England, den Erzfeind.<br />
Militärische Forts dominieren die grösste<br />
künstliche Hafenbucht der Welt. Im Zweiten<br />
Weltkrieg erlebte man den D-Day an den benach<br />
© AFP PHOTO / JEAN-PAUL BARBIER<br />
<strong>Greenpeace</strong>-Aktivist Yannick Rousselet hat sich in Cherbourg an die Bahnschienen gekettet,<br />
um einen Transport von aufbereitetem Uran nach Russland zu verhindern.<br />
Magazin <strong>Greenpeace</strong><br />
Nr. 3 — 2013<br />
29
arten Stränden Utah und Omaha. In Cherbourg<br />
hat jeder jemanden in der Familie, der in der<br />
Atomindustrie oder in einem Armeebetrieb<br />
arbeitet. In den Werften werden Atom-U-Boote<br />
gebaut – und abgewrackt, wenn sie ausgebrannt<br />
sind. Auch Yannick Rousselet arbeitete dort –<br />
wie schon sein Vater und sein Grossvater –, bevor<br />
er 2001 zu <strong>Greenpeace</strong> wechselte.<br />
Davor war er ein Aktivist der ersten Stunde<br />
gewesen und hatte sich ab den 70er Jahren<br />
gegen die Aufrüstung der Halbinsel zu einer Art<br />
atomarem Disneyland engagiert. In der Werft<br />
nahm man sein politisches Engagement gelassen<br />
hin. Wer gegen Atomkraft war, gehörte zu einer<br />
verschwindend kleinen Minderheit.<br />
— II —<br />
La Grande<br />
Nation<br />
Mehr <strong>als</strong> irgendwo sonst wird uns in diesem<br />
abgelegenen Winkel der Basse-Normandie<br />
bewusst, dass die Wurzeln der Kernenergie<br />
militärisch sind.<br />
Wer Atomwaffen will – eine «Force de<br />
frappe» –, braucht Plutonium. Und dafür<br />
gibt es La Hague, das aus verbrauchten<br />
Brennstäben das Supergift extrahiert.<br />
Für Yannick Rousselet geht es bei der Kernkraft<br />
denn auch nicht bloss um Strom: «Vor<br />
allem ist sie eine Frage der Macht», sagt er. «Die<br />
Atomenergie kann in einer Demokratie eigentlich<br />
gar nicht funktionieren. Sie braucht einen<br />
Typ von Gesellschaft, der auf Sicherheit und<br />
Kontrolle setzt: einen autoritären Zentr<strong>als</strong>taat.»<br />
Der Stolz der grossen Projekte, die rechte<br />
gaullistische Vision Frankreichs <strong>als</strong> Grande<br />
Nation einerseits und anderseits das linke jakobinische<br />
Erbe der Guillotinen-Revolution, aber<br />
auch die französischen Kommunisten und Stalinisten<br />
hatten in der Atomkraft die Erfüllung<br />
eines mächtigen, produktiven, zentralistischen<br />
Staats gefunden: Der dichteste AKW-Park<br />
der Welt wurde zu einer Frage nationaler<br />
Identität und gesellschaftlicher Organisation.<br />
Dadurch hat sich in Frankreich ein Machtsystem<br />
gebildet, das rund um die AKW das<br />
halbe Land kontrolliert. Die weitgehend staatlichen<br />
Energiekonzerne EDF (Electricité de<br />
Magazin <strong>Greenpeace</strong><br />
Nr. 3 — 2013<br />
Kernenergie<br />
30<br />
France) und Areva sind fest in den Händen einer<br />
Elite, von denen viele dem «Corps des mines»<br />
an gehören: Abkömmlinge einer Eliteschule, die<br />
man – nein, das ist keine TV-Serie – auch<br />
«X-Mines» nennt. Für sie hat Yannick Rousselet<br />
einen Namen: die «Nukleokraten».<br />
— III —<br />
Gefährliche<br />
Partie<br />
Das <strong>Greenpeace</strong>-Büro in Paris liegt diskret an<br />
einer Nebenstrasse <strong>im</strong> zehnten Bezirk, irgendwo<br />
zwischen Place de la République und Montmartre.<br />
Ein kleines Namensschild, keine weiteren<br />
Insignien. Der Einlass erfolgt durch eine<br />
Art Schleusensystem aus automatischen Türen.<br />
<strong>Greenpeace</strong> Frankreich ist in seiner<br />
Geschichte ausspioniert, gehackt, zum Feind<br />
erklärt worden. Der französische Gehe<strong>im</strong>dienst<br />
hat 1985 die erste «Rainbow<br />
Warrior» in der Südsee versenkt, wo sie<br />
gegen die französischen Atombombentests<br />
<strong>im</strong> Mururoa-Atoll <strong>im</strong> Einsatz war.<br />
2006 hat sich EDF ins Computersystem<br />
von <strong>Greenpeace</strong> gehackt und unzählige Dokumente<br />
gestohlen. Vorsicht ist <strong>als</strong>o angebracht.<br />
«Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie<br />
über dich, dann spionieren sie dich aus, und dann<br />
siegst du», soll Gandhi gesagt haben. Passend<br />
dazu steht <strong>im</strong> Treppenhaus breit an der Wand:<br />
«Die gros sen Veränderungen scheinen unmöglich<br />
zu Beginn – und am Ende unvermeidlich.»<br />
Das liesse sich prophetisch auch über<br />
eine sauberere Energieversorgung in Frankreich<br />
sagen. Die Ahnung, dass der Atomausstieg<br />
unvermeidlich ist, beschleicht heute selbst Leute,<br />
die sich das Gegenteil wünschen. Das Wort<br />
«Energiewende» hat es tatsächlich in die offizielle<br />
Regierungssprache geschafft.<br />
Gleichzeitig jedoch bleibt die Gewissheit,<br />
dass der Ausstieg aus der Atomenergie eine Revolution<br />
für Frankreich sein wird. Wird Präsident<br />
François Hollande den Mut und die Kraft zur<br />
Veränderung aufbringen? Will er sie überhaupt?<br />
«Die Amtszeit von Präsident Hollande ist<br />
ausschlaggebend», sagt Sophia Majnoni mit<br />
Entschiedenheit. Die neue Kam pagnen direktorin<br />
von <strong>Greenpeace</strong> Frankreich spricht schnell<br />
und messerscharf und scheint den in den Elite
<strong>Greenpeace</strong>-Aktivisten behindern den Bau der Anlage EPR <strong>im</strong> nordfranzösischen Flamanville, die von den<br />
unternehmern <strong>als</strong> sicher gepriesen wird: «Der grosse Bluff» steht auf dem Transparent.<br />
© Pierre GLEIZES / <strong>Greenpeace</strong>
schulen gestählten Machtbestien in Verwaltung<br />
und Wirtschaft durchaus gewachsen. Ihre<br />
nicht minder elegante und kluge Politbe raterin<br />
Karine Gavand bestätigt den Eindruck, dass<br />
<strong>Greenpeace</strong> Frankreich <strong>als</strong> David gegen Goliath<br />
die Steinschleuder <strong>im</strong>mer treffsicherer einzusetzen<br />
weiss. Auf die Frage, ob <strong>Greenpeace</strong><br />
denn überhaupt Zugang zu wichtigen Politikern<br />
hat, entgegnet Gavand lapidar: «Heute Nachmittag<br />
sind wir be<strong>im</strong> Premierminister.»<br />
Bis Frankreich die Energiewende wirklich<br />
in Angriff n<strong>im</strong>mt, wird das grüne Lager noch<br />
viel, sehr viel Arbeit leisten müssen. Daran<br />
ändert auch nichts, dass die Grüne Partei in der<br />
Regierung sitzt: «Es ist seither nur schl<strong>im</strong>mer<br />
geworden», sagt Majnoni: «Wir haben eine<br />
St<strong>im</strong>me verloren.» – «Immerhin», sagt ihre Kollegin,<br />
«hat sich mit Hollande zum ersten Mal<br />
überhaupt ein französischer Präsident zu<br />
einer Reduktion der Kernenergie verpflichtet.<br />
Aber wir machen uns wenig Illusionen.»<br />
Wie wendig François Hollande seine<br />
energie politischen Pirouetten dreht, zeigt auch<br />
die Art, wie er am Vorabend der Wahlen 2012<br />
mit den Grünen umgesprungen ist. Die Sozialisten<br />
hatten <strong>im</strong> Herbst 2011 in zähen Verhandlungen<br />
der Ökopartei erhebliche Zugeständnisse<br />
gemacht, um sich ihre Unterstützung zu<br />
sichern. Vereinbart wurde – <strong>im</strong> Fall eines Wahlsiegs<br />
– die Reduktion des Anteils der Kernenergie<br />
von 75 auf 50 Prozent bis 2025, was<br />
unter anderem die Schliessung von<br />
24 der 58 Reaktoren bedeuten würde.<br />
Gerade einmal drei Wochen nach der Unterzeichnung<br />
des Pakts mit den Grünen kündigte<br />
Hollande an, dass er ihn nicht respektieren werde.<br />
Die einst hoffnungsvolle Frage, ob Hollande<br />
sich gegen den nuklearen Machtblock würde<br />
behaupten können, stellt sich gar nicht mehr.<br />
Der Präsident, Abkömmling gleich dreier Elite <br />
schulen, ist selbst ein Nukleokrat. Heute tut er<br />
sich sogar schwer damit, die Zeitbombe Fessenhe<strong>im</strong><br />
zu schliessen.<br />
Hollande spielt eine gefährliche Partie.<br />
Magazin <strong>Greenpeace</strong><br />
Nr. 3 — 2013<br />
Kernenergie<br />
32<br />
— IV —<br />
Da s<br />
Unvermeidliche<br />
Der Herrscher <strong>im</strong> Élyséepalast setzt nicht nur<br />
sein Land und dessen Nachbarn den nicht kalkulierbaren<br />
Risiken der Atomenergie aus. Im<br />
Fall einer Wiederwahl 2017 würde er die nukleare<br />
Frage erst recht lösen müssen – und zwar<br />
um so dringender, nachdem er für die Energiewende<br />
so viel kostbare Zeit vertan hat. Der<br />
französischen Energiewirtschaft steht das Wasser<br />
nämlich bis zum H<strong>als</strong>.<br />
«Achtzig Prozent des Nuklearparks»,<br />
sagt Sophia Majnoni, «wurden innerhalb<br />
der zehn Jahre um 1980 gebaut. Sie<br />
erreichen demnächst alle das Ende ihrer<br />
geplanten Laufzeit. Und die Reaktoren<br />
sind alle vom selben Bautyp. Würde man bei<br />
einem einzigen einen strukturellen Fehler<br />
entdecken, müssten wir alle abstellen. Dann<br />
droht tatsächlich ein Black-out.» Fukush<strong>im</strong>a hat<br />
gezeigt, wie schnell so etwas gehen, wie gross<br />
ein solches Klumpen risiko sein kann.<br />
Seit Fukush<strong>im</strong>a hat sich das kritische Lager<br />
jedoch verstärkt. Nicht nur <strong>Greenpeace</strong> gewinnt<br />
an Einfluss. Es gibt nun auch kompetente<br />
Journa listen auf dem Gebiet. Die Informationsmauern<br />
der Nukleokraten bröckeln. Die Nuklearsicherheitsbehörde<br />
ASN (bei uns: Ensi) frisst<br />
EDF und Areva nicht mehr völlig aus der Hand.<br />
Die Kosten der Atomenergie steigen und nagen<br />
an der Geldmacht der Energiekonzerne – und<br />
an ihrer Grosszügigkeit: Die lange mitverdienenden<br />
Gewerkschaften murren, weil der Rubel<br />
nicht mehr rollt. Grüne Technologien und die<br />
Konkurrenz durch <strong>im</strong>mer günstigeren Ökostrom<br />
aus dem Ausland bedrohen die hiesige Industrie.<br />
Auf lokaler Ebene haben die Bürgermeister<br />
nach Fukush<strong>im</strong>a begriffen, dass sie bei einem<br />
Unfall völlig hilflos wären.<br />
Zwei Drittel der Franzosen leben in<br />
einem Umkreis von 75 oder weniger Kilometern<br />
von einem AKW entfernt.<br />
Bloss hat sich die Debatte in Frankreich leider<br />
<strong>im</strong>mer nur um die Risiken gedreht. Lösungen<br />
<strong>im</strong> Sinn der Energiewende sind <strong>im</strong> Hochtechnologie-<br />
und Pionierland kaum ent wickelt<br />
worden. Und nun soll bis 2014 ein neues Energiegesetz<br />
erarbeitet werden. 2015 beherbergt<br />
Frankreich die Kl<strong>im</strong>akonferenz COP und wird
© AFP PHOTO / ROSS WHITE<br />
Staatsgewalt gegen <strong>Greenpeace</strong>, 1. August 1985: Um die Aktivisten an Protesten gegen Atomtests<br />
<strong>im</strong> Mururoa-Atoll zu hindern, zog der französische Gehe<strong>im</strong>dienst <strong>im</strong> Hafen von Auckland (Neuseeland)<br />
mit einer Bombe das Flaggschiff «Rainbow Warrior» aus dem Verkehr.<br />
<strong>im</strong> ökologischen Rampenlicht stehen. Und bis<br />
2016 stellt die EU energiepolitisch ihre Weichen.<br />
Gerade bei Letzterem kann Frankreich<br />
eine entscheidende Rolle spielen zwischen dem<br />
atom- und kohlefreudigen britisch-polnischen<br />
auf der einen und dem deutsch-dänisch-progressiven<br />
Lager auf der anderen Seite. Das ist etwas<br />
viel für die Nukleokraten. In der Tat dürften<br />
Hollandes fünf Jahre bis 2017 entscheidend sein.<br />
Der Moment ist für Frankreich geradezu<br />
historisch. Hoffen wir, dass er zum positiven<br />
Momentum wird.<br />
— V —<br />
Flamanville<br />
Zurück in die Normandie zu Yannick Rousselet.<br />
Auf der Halbinsel fahren wir durch reiche,<br />
herausgeputzte Dörfer mit überd<strong>im</strong>ensionierten<br />
Sporthallen und protzigen Gemeindehäusern.<br />
«Die Atomfirmen», erzählt Rousselet,<br />
«haben eine Strategie, die lokale Bevölkerung<br />
für sich einzunehmen.» Mitarbeiter, die<br />
sich lokalpolitisch engagieren, werden<br />
mit Mitteln ausgestattet. Standortsteuern<br />
Magazin <strong>Greenpeace</strong><br />
Nr. 3 — 2013<br />
33<br />
vergolden die Gemeindekassen. Die Jobs<br />
sind gut bezahlt.<br />
Wenn aber der von fast unbeschränkten<br />
Mitteln geölten Politmaschinerie das Geld<br />
ausgeht, schwindet der Einfluss auf die Politik<br />
und auf die Gewerkschaften. La Hague arbeitet<br />
an der Grenze der Rentabilität, weil der<br />
Pluto niumfabrik die Kunden davonlaufen. Das<br />
Plutonium aus La Hague ist ökonomischer<br />
Stumpfsinn. «Die Wiederaufbereitung war eine<br />
politische Lösung, um die Leute glauben zu<br />
lassen, man hätte die radioaktiven Abfälle <strong>im</strong><br />
Griff», sagt Rousselet. Doch je ökonomischer<br />
die Energiewirtschaft zu denken anfängt, desto<br />
absurder wird das antiquierte System, das<br />
sich Frankreich aufgebaut hat. «Die Privatisierung<br />
wird die Nuklearindustrie killen», sagt<br />
Rousselet voraus.<br />
Wir fahren von La Hague der Küste ent lang<br />
nach Süden. Auch die Normandie spürt den<br />
Kl<strong>im</strong>awandel. Der Winter war schneereich. Viel<br />
kalter Wind bläst auch <strong>im</strong> Frühjahr herbstlich<br />
aus dem Osten. Ja, es wird Herbst <strong>im</strong> Land der<br />
Nukleokraten. Wir erreichen Flamanville, wo<br />
zwei Atomreaktoren schon länger laufen und
Die idylle trügt: <strong>im</strong> hintergrund die<br />
«höllenmaschine» la hague<br />
ein dritter gebaut wird: ein EPR (European<br />
Pressurized Reactor), ein trauriger ehemaliger<br />
Hoffnungs träger der französischen Nuklearindustrie.<br />
Sie hatte den EPR <strong>als</strong> neuen Exportschlager<br />
gedacht. Tatsächlich ist er ein ökonomisches<br />
Desaster.<br />
Dabei liess sich der Handel gut an. Finnland<br />
bestellte ein solches AKW für Olkiluoto<br />
zum Fixpreis von drei Milliarden Euro. Jetzt hat<br />
es Areva schon deren acht gekostet und ist<br />
noch nicht fertig. Areva will in England bauen,<br />
aber die dortige Regierung weigert sich, Strompreis<br />
garantieren für den 9MilliardenBau zu<br />
leisten. Und auch Flamanville hat bereits solche<br />
Unsummen verschlungen, dass der italienische<br />
Partner Enel ausgestiegen ist.<br />
Die Pleite hat viele Gründe. Vor allem<br />
wurde der EPR mit 1650 Megawatt Leistung viel<br />
zu gross konzipiert. Die Nukleokraten waren<br />
sich nicht bewusst, dass die Zeiten sich geändert<br />
haben. «Ein kleinerer Reaktortyp hätte sich<br />
wahrscheinlich besser verkauft», schätzt Rousselet.<br />
«Dann wären wir heute schlechter dran.»<br />
Die Arroganz von Areva, EDF und Co. ist auch<br />
eine Chance.<br />
Magazin <strong>Greenpeace</strong><br />
nr. 3 — 2013<br />
KErnEnErgiE<br />
© greeNpeaCe / pIerre gleIZeS<br />
34<br />
Man kann über Frankreich und seine<br />
atombesessene Machtelite den Kopf schütteln.<br />
Doch in den Ansätzen verhält sich die schweizerische<br />
Stromoligarchie ganz ähnlich: Da wird<br />
einer dezentralen, demokratischen Energieversorgung<br />
jeder mögliche Stein in den Weg gelegt.<br />
Im Grunde sind gewisse eidgenössische Betonköpfe<br />
um Doris Leuthard noch verantwortungsloser.<br />
Die hiesigen AKW sind nicht nur älter,<br />
<strong>im</strong> Gegensatz zum westlichen Nachbarn<br />
droht bei einem Atomausstieg auch nicht<br />
die Spur einer Stromlücke.<br />
In Cherbourg schifften sich einst Hunderttausende<br />
Emigranten in die Neue Welt ein. Von<br />
hier ist die «Titanic» ihrem Untergang entgegen<br />
in See gestochen. Vielleicht wird es dereinst<br />
heissen: Hier blühte der nukleare Wahnsinn.<br />
Wir blicken auf den Ärmelkanal, La Manche,<br />
hinaus mit seinen Winden und seinen gewaltigen<br />
Meeresströmungen.<br />
«Als die (mittlerweile entlassene; A.d.R.)<br />
Umwelt und Energieministerin Delphine<br />
Batho <strong>im</strong> Februar hier war», erzählt Rousselet<br />
und schmunzelt unter seinem normannischen<br />
Schnauzbart, «erklärte sie, dass wir hier<br />
Strömungskraftwerke bauen könnten mit dem<br />
Potenzial von mehreren EPR.»<br />
Frankreich hat lange genug mit dem<br />
Feuer gespielt. Vielleicht liegt seine Stromzukunft<br />
in diesen Wassern.
KErnEnErgiE<br />
«Wir müssen weg von der Kernenergie.<br />
Ich schlage vor, den Anteil an Atomstrom bis 2025<br />
von 75 auf 50% zu senken.»<br />
Kommentar<br />
<strong>Greenpeace</strong><br />
So vollmundig zwitscherte Präsidentschafts<br />
kandidat Hollande <strong>im</strong><br />
August 2011 seinen Wählern zu. Auch<br />
vom geplanten SuperReaktor in<br />
Penly nahm er in jenem heissen Wahljahr<br />
Abstand – und gefiel den Grünen,<br />
deren Unterstützung er brauchte.<br />
Der eingeläutete Traum vom Atomausstieg<br />
unter sozialistischer Führung<br />
war aber von kurzer Dauer…<br />
Nach der Wahl war nicht mehr die<br />
Rede davon, die notwendigen<br />
20 Reaktoren stillzulegen. Selbst mit<br />
der Schliessung des Atomwracks Fessenhe<strong>im</strong><br />
tut sich der Präsident schwer.<br />
Am Ausbau von Flamanville hält er<br />
fest. Und in der lancierten Energiedebatte<br />
werden alle Risiken der Atomenergie<br />
systematisch ausgeblendet.<br />
Ein Atomausstieg ist freilich kein<br />
Thema. Die Förderung der Erneuerbaren<br />
dümpelt knapp über der Nullgrenze<br />
Jüngste Episode: Das Budget des<br />
Ministeriums für Umwelt, nachhaltige<br />
Entwicklung und Energie wird massiv<br />
gekürzt. Die sozialistische Ministerin<br />
Delphine Batho kritisiert diesen Entscheid<br />
und musste gehen. Der Druck<br />
der Industrie und Energielobby bleibt<br />
wohl zu wuchtig für Hollande.<br />
Magazin <strong>Greenpeace</strong><br />
nr. 3 — 2013