Lesen - Golf Dornseif
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Lord Haw-Haw: Polit Clown auf Nazi-Kurzwellen<br />
von <strong>Golf</strong> <strong>Dornseif</strong><br />
Es war einmal der Sohn britisch-irischer Eltern, 1906 in New York als Auswandererkind<br />
geboren, mit Namen William Joyce, heimgekehrt nach England, akademisch gebildet<br />
aufgewachsen und dabei dem Faschismus-Leitbild des Schwarzhemden-Funktionärs<br />
Oswald Mosley verfallen.<br />
Der hochbegabte Taugenichts, stets Alkohol und weiblichen Reizen zugetan, reiste (nur<br />
mit etwas Taschengeld versehen) im Sommer 1939 nach Berlin, begleitet von seiner<br />
zweiten Ehefrau, um dort (quasi als Arbeitsloser) vielleicht bei den Nazis Karriere<br />
machen zu dürfen.<br />
William Joyce und Gattin Margaret landete mit mehr Glück als Verstand durch<br />
Empfehlung englischer sowie deutscher Nazi-Freunde beim Reichspropaganda<br />
Ministerium und Reichsrundfunk (mit Ihren letzten Groschen an Ersparnissen).<br />
William Joyce tauchte dort wie gerufen auf: er sprach fliessend Deutsch, verfügte über<br />
eine intellektuelle (englische) Mikrofonstimme und entwickelte im Handumdrehen<br />
journalistische Fähigkeiten als Kommentator und Agitator. Die erhoffte Karriere war<br />
garantiert!<br />
Bald amüsierte man sich in England über das aus Berlin gesendete Kurzwellenprogramm<br />
mit dem stets lockeren “Lord Haw-Haw“ (neuer Spitzname) bis zum bitteren Ende 1945.<br />
Jetzt hatte Lord Haw-Haw nichts mehr zu lachen, denn seine Landsleute verurteilten ihn<br />
1945 wegen Hochverrat zum Tod durch den Strang. 3. Januar 1946, Wandsworth Prison,<br />
39 Jahre, Todesursache: “Verletzungen des Hirns und Rückgrats durch Strangulation …“<br />
30 Jahre nach der Hinrichtung von William Joyce wurden seine sterblichen Überreste im<br />
Wandsworth Prison exhumiert und zur endgültigen Bestattung in die Republik Irland<br />
überführt. Eine Tochter aus der ersten Ehe von Joyce sorgte mit Verwandten und<br />
Freunden der Familie für die Beisetzung auf einem Friedhof zu Galway mit römischkatholischer<br />
Aussegnung.<br />
Margaret Joyce blieb nach dem Tod ihres Ehemanns einige Zeit in Brüssel inhaftiert und<br />
lehnte es danach ab, sich in Deutschland nieder zu lassen. Man erlaubte ihr die<br />
Rückkehr nach Grossbritannien. Sie starb 1972 mit 61 Jahren in London.<br />
1
Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge sei vorweg erläutert, dass vor dem Ausbruch des<br />
Zweiten Weltkriegs sowohl die British Broadcasting Corporation (BBC) als auch die deutsche<br />
Reichsrundfunk-Gesellschaft Kurzwellenprogramme in Fremdsprachen sendeten. Während des<br />
spanischen Bürgerkriegs, der sich bis 1939 hin zog, lieferte die BBC laufend Nachrichten in englischer<br />
Sprache über Kurzwelle gezielt auf die Schauplätze der militärischen Ereignisse. Genauer gesagt:<br />
englisch und spanisch abwechselnd.<br />
1939 gab es noch keine Television und Rundfunk-Unterhaltung stand an erster Stelle nahezu weltweit,<br />
zumindest in Europa und Amerika, Australien und Südafrika.<br />
In Deutschland versuchte man vergeblich, britische Richtstrahler-Kurzwellen-Sendungen durch<br />
Störfunk zu blockieren. Die Engländer verhielten sich weltmännisch und tolerant: jedermann durfte im<br />
Krieg nach Belieben “Feindsendern lauschen“. Auf deutscher Seite drohte solchen Zuhörern<br />
Zuchthaus und KZ-Einweisung oder noch Schlimmeres.<br />
Britische Zeitungen druckten sogar regelmässig in Übersetzungen die offiziellen Berichte der<br />
Wehrmacht ab. Niemand befürchtete in Kreisen der englischen Regierung, dass solche Lektüre zum<br />
Verrat an der Demokratie führen könnte.<br />
Spionagefurcht und Geheimniskrämerei<br />
In einer Dokumentation über die Reichsrundfunk Gesellschaft berichtet die DEUTSCHE WELLE<br />
KÖLN von geradezu grotesken Auswirkungen der Geheimniskrämerei und Spionagefurcht, die<br />
in Berlin während des Dritten Reichs dominierte (mit Auswirkungen bei den Überlebenden bis in<br />
die Gegenwart).<br />
Zitat: „Die meisten noch heute lebenden Ingenieure und Beamten, die am Aufbau oder Betrieb<br />
der Zeesener Sender beteiligt waren, wollen sich an technische Einzelheiten nicht mehr<br />
erinnern ...“<br />
„Die Archive der Lieferfirmen sind zum grössten Teil vernichtet. Eine Bereitwilligkeit zur<br />
Rekonstruktion einzelner Fakten ist kaum vorhanden. Die Akten des ehemaligen Reichspost-<br />
Ministeriums, soweit sie den Krieg überdauert haben, sind nicht mehr zugänglich ...“<br />
„Das noch existierende Amtliche Handbuch der Funksende- und Funkempfangsstellen der<br />
Deutschen Reichspost Teil III. (ohne Datumangabe) enthält auf 10 Seiten einige knappe und<br />
teilweise im Widerspruch zu zeitgenössischen Zeichnungen stehende technische Daten über<br />
den Rundfunksender Zeesen mit dem fett gedruckten Vermerk DIES IST EIN GEHEIMER<br />
GEGENSTAND. MISSBRAUCH WIRD BESTRAFT.“<br />
Ein von der Reichsrundfunk GmbH in drei Sprachen herausgegebener Erinnerungs-Bildband<br />
OLYMPIA WELTSENDER (128 Seiten) präsentierte unter der Bezeichnung EIN<br />
KURZWELLENSENDER nur das Foto des damals sieben Jahre alten, technisch überholten<br />
ersten deutschen Weltrundfunk-Kurzwellensenders und zeigt in Fotomontagen über die<br />
Tätigkeit des OLYMPIA WELTSENDERS BERLIN deutlich irreführende Aufnahmen des Berliner<br />
Mittelwellensenders ...“<br />
2
Im Juni 1892 beantragte der irische Auswanderer Michael Francis Joyce in New York die<br />
amerikanische Staatsbürgerschaft im Alter von 20 Jahren: Oktober 1894 war die Naturalisierung<br />
abgeschlossen. Es glückte ihm bald, als Bau-Unternehmer Fuss zu fassen und gut zu verdienen.<br />
Zehn Jahre später kehrte Joyce in die Heimat zurück und heiratete Gertrude Emily Brooke aus Shaw,<br />
Lancashire, 1879 geboren, Tochter eines Arztes. 1905 reiste das Paar nach Amerika. Bruder Edgar,<br />
ein Rechtsanwalt, begleitete die jungen Leute.<br />
Am 24. April 1906 wurde ein erster Sohn geboren, William Joyce. 1377 Herkimer Street, Brooklyn<br />
(N.Y.) Der spätere “Lord Haw-Haw“ tat seine frühen Schreie als echter Amerikaner laut Gesetz,<br />
römisch-katholisch getauft. William spielte im Krabbelalter meistens mit britischen, deutschen sowie<br />
dänischen Nachbarkindern und lernte dabei allerlei Sprachen kennen.<br />
1909 schiffte sich Michael Joyce mit seinem amerikanischen Reisepass in New York ein, um auf die<br />
britische Insel heimzukehren, und seine Ehefrau folgte ihm einige Wochen danach, begleitet von dem<br />
jetzt dreijährigen Knaben. Die USA waren für immer abgeschrieben (aus unbekannten Gründen,<br />
vielleicht Heimweh).<br />
Joyce orientierte sich in mehreren Orten Irlands wie Mayo und Connemara sowie Ballinrobe.<br />
Vorübergehend betrieb er eine Gastwirtschaft. 1913 zog die Familie nach Galway, wo der Vater Hausund<br />
Grundbesitz erwarb. Unter anderem kaufte Joyce eine Reihe von Kasernen der Royal Irish<br />
Constabulary, einer Polizeitruppe. Schliesslich liess sich die Familie in 1 Rutledge Terrace,<br />
Rockbarton, Salthill nieder, in einem komfortablen zweigeschossigen Komplex an der Promenade.<br />
Der Knabe William wurde in katholischen Schulen unterrichtet, danach im College Sankt Ignatius<br />
Loyola. William liebte Latein, Französisch und Deutsch mit Feuereifer. Die protestantische Mutter und<br />
der katholische Vater arrangierten sich trotz mancherlei Spannungen. Allmählich entwickelte sich bei<br />
William ein sozialkritisches und religionskritisches Bewusstsein und er ging auf Distanz zum<br />
Katholizismus.<br />
Als junger Revolutionär schloss sich William<br />
Joyce frühzeitig den britischen Faschisten<br />
unter Sir Oswald Mosley an, der mit dem<br />
Nationalsozialismus sympathisierte und seine<br />
Gefolgsleute schwarz uniformierte (wie das<br />
Foto erkennen lässt).<br />
Die Mosley Faschisten waren eine brutale<br />
Schlägertruppe, vergleichbar mit der SA in<br />
Deutschland, und verprügelten regelmässig in<br />
Saalschlachten ihre Gegner ...<br />
3
Eines Tages fragte William einen Erzieher, ob seine Mutter als Protestantin nach ihrem Tod von<br />
ewiger Verdammung bedroht sei. Die trockene Antwort lautete: “Natürlich, was denn sonst?“ - Das<br />
schlug dem Fass den Boden aus, obwohl William stets einräumte, dass die Jesuiten hervorragende<br />
Pädagogen (gewesen) seien.<br />
Abgesehen von ihrer religiösen Überzeugung waren beide Eltern treue Anhänger der britischen Krone<br />
und lehnten die irischen Revolutionäre ab. Inzwischen glaubte Vater Joyce, dass er nach mehrjähriger<br />
Abwesenheit seine amerikanische Staatsangehörigkeit längst eingebüsst habe und fühlte sich als<br />
Engländer.<br />
Umtriebe der irischen Terroristen führten zu Bomben-Attentaten und Brandstiftungen gegenüber<br />
britischem Eigentum. Weil Vater Joyce sich als (angeblicher) Brite überall zu erkennen gab, griffen die<br />
Revolutionäre auch seine Liegenschaften an, um sie zu zerstören. Bei der Polizei vor Ort bezeichnete<br />
man Familie Joyce jedoch als “echte Amerikaner“ (nach wie vor).<br />
Während des unrühmlichen Oster-Aufstands 1920 der Iren zählte William 10 Jahre und war mit Politik<br />
konfrontiert. Er bot sich den britischen Truppen als Spion an. Ab 11. Juli 1921 herrschte wieder Ruhe<br />
im Land. Im Dezember 1921 brach William kurz entschlossen nach London auf, um frische Luft zu<br />
schnuppern.<br />
William meldete sich als Freiwilliger zur britischen Armee, knapp 16 Jahre alt, und behauptete, er sei<br />
bereits 18. Eine Geburtsurkunde konnte der Nachwuchskrieger nicht vorweisen. Seine Begründung:<br />
In Irland sei Schlamperei üblich und er hätte nie ein derartiges Dokument besessen.<br />
Der Rekrut erkrankte an rheumatischem Fieber, wurde im Lazarett behandelt und als Schwindler<br />
wegen falscher Geburtsangaben entlarvt. Also blieb nur die Entlassung übrig nach vier Monaten<br />
Dienstzeit Die Familie mit einem jüngeren Bruder lebte inzwischen in Lancashire und tat nichts, um<br />
ihre Staatsbürgerschaft klären zu lassen.<br />
Während seiner Londoner Jahre<br />
posierte William Joyce mit Vorliebe in<br />
dieser Aufmachung:<br />
Schmieriger Trench Coat, dazu ein<br />
knorriger Spazierstock und eine<br />
brennende Zigarette auf lässige Art.<br />
Man sollte ihn lieben und fürchten lernen<br />
je nach Geschmack und Laune ...<br />
4
Dank seiner überzeugenden Beredsamkeit gelang es William nach vielen vergeblichen Bemühungen,<br />
von einer Universität angenommen zu werden mit dem Ziel Offizierslaufbahn. Rückfragen beim Vater<br />
wegen der korrekten Staatsbürgerschaft beantwortete der Senior aber ausweichend bzw. im<br />
(irreführenden) Brustton der Überzeugung: Meine Frau und ich sowie alle unsere Kinder sind UK<br />
Subjects und keine US Citizens!<br />
Battersea Politechnic und Birkbeck College der London University hiessen die nächsten Stationen in<br />
Williams akademischer Karriere im September 1923. Latein, Französisch, Englisch sowie Geschichte<br />
interessierten ihn am meisten: Resultat Bachelor of Arts (B. A.) im Juni 1924. Bereits zum September<br />
1923 lernte William eine Miss R.L. Linton-Orman kennen die in Battersea ihre faschistische<br />
Gruppierung unter die Fittiche nahm, den eingetragenen Verein BRITISH FASCISTI LIMITED, 1924<br />
offiziell registriert.<br />
Die männlichen Mitglieder trugen ein schwarzes Taschentuch in der rechten Brusttasche, um sich<br />
damit von den Proleten der Labour Party zu distanzieren “als waschechte Patrioten“. Es formierten<br />
sich Ortsgruppen mit Damen und Herren, weil “bolschewistische Aktivitäten“ innerhalb der<br />
Bevölkerung zu bekämpfen waren ...<br />
Vielfach handelte es sich bei den Mitgliedern um verängstige Besitzbürger, die eine Machtergreifung<br />
des Kommunismus in Grossbritannien fürchteten. Hinzu kam versteckt antisemitische Orientierung.<br />
Es fanden politische Saalschlachten zwischen den Faschisten und Unionisten im Verlauf von<br />
Wahlkundgebungen statt. William Joyce stürzte sich dabei ins Getümmel und wurde durch<br />
Messerstiche im Gesicht verletzt. Fortan trug er voller Stolz (als alter Kämpfer) seine Narbe zur<br />
Schau.<br />
Haudegen der Mosley Faschisten<br />
Die Londoner Presse veröffentlichte einen Bericht mit Foto des bandagierten Mr. Joyce und baute ihn<br />
zum Volkshelden auf. Überdies hatte man ihm das Nasenbein gebrochen. Kenner des damaligen<br />
Milieus bezweifelten, dass irgendjemand - wie Joyce behauptete - ihm die Kehle mit einer<br />
Rasiermesserklinge durchschneiden wollte. Es war allerdings üblich, politische Gegner im Verlauf von<br />
Strassenkämpfen und Saalschlachten mit Messerklingen im Gesicht “für immer zu kennzeichnen“.<br />
Sir Oswald Mosley und seine britischen Faschisten<br />
5
Inzwischen stritten die britischen Faschisten untereinander, auf welche Weise der Kampf am besten<br />
fortgesetzt werden sollte: massvoll oder brutal, intellektuell oder mit Fäusten? Ein Brigade-General im<br />
Ruhestand, der die Rechtsextremisten dirigierte, hielt seriöses Auftreten für ratsam, um die<br />
bürgerliche Ordnungsliebe an die Fahnen zu heften. Nun drohte eine Spaltung und die NATIONAL<br />
FASCISTI stimmten für Gewalt.<br />
William agierte am College als Präsident der Conservative Society und hielt schwungvolle<br />
Ansprachen zum Vergnügen der Studierenden “wie ein Kraftmeier“ (im Hyde Park auf Seifenkisten).<br />
Offenkundig war der Akademiker rassenbewusst, nationalistisch und antisemitisch geprägt. Er wollte<br />
“angelsächsische Tradition und britische Vormacht“ sichern helfen, was den Leuten durchweg<br />
zusagte.<br />
Joyce trat bevorzugt in Räuberzivil auf, uniformiert wie ein Untergrundkämpfer, bekleidet mit einem<br />
schmutzigen Trench Coat, stramm gegürtet, gelegentlich in Khaki Montur militärischer Art. Zu den<br />
Vorlesungen präsentierte sich William in OTC Uniform und klemmte ein Gewehr zwischen die Beine<br />
beim Sitzen in der ersten Reihe des Hörsaals.<br />
Die Professorin Marjorie Daunt im Fachbereich Anglistik liess sich dadurch nicht aus der Ruhe<br />
bringen. Nach ihrer Vorlesung ging sie zum “Helden des Tages“ und bat ihn freundlich, vor der<br />
nächsten akademischen Veranstaltung sein Feuerrohr an der Garderobe abzugeben. Das<br />
beeindruckte Joyce. Begeistert übernahm William Rollen in der Theatergruppe, um dort ebenfalls den<br />
Helden spielen zu können. Ausserdem plante er mit 21 Jahren Volljährigkeit die attraktive Hazel<br />
Kathleen Barr zu heiraten.<br />
Im Juni 1927 bestand Joyce das Examen im Fachbereich Anglistik mit Auszeichnung und wandte sich<br />
sprachwissenschaftlichen Recherchen zu, um die Wandlungen des Englischen im Lauf der<br />
Jahrhunderte (bezogen auf Unter- und Oberschicht sowie bestimmte Regionen) zu analysieren. Unter<br />
anderem ging es dabei um “das Londoner Englisch vor 1425“. Es reichte allerdings nicht aus für einen<br />
Titel MAGISTER OF ARTS (M.A.)<br />
Wovon lebte Joyce in jenen Jahren? Er gab Nachhilfestunden zugunsten schwacher Studenten und<br />
hielt sich damit mühsam über Wasser. In jener Zeit suchte William Erklärungen, weshalb seine<br />
akademische Laufbahn ins Stocken geraten war: Er unterstellte, von einer “jüdischen Verschwörung“<br />
heimgesucht und behindert worden zu sein. Es gab jedoch weit und breit keine jüdischen<br />
Kommilitonen oder sonstige Verdächtige seiner Fantasie!<br />
Am 30. März 1928 versuchte Joyce, keck beim Foreign Office (dem Auswärtigen Amt) eine Position zu<br />
ergattern. Anfang Mai musste er sich vorstellen und interviewen lassen. Bald danach kam eine<br />
Absage ohne Begründung, wie üblich. William Joyce spürte immer deutlicher, dass er bei allen<br />
Bewerbungen keinen ausreichend guten Eindruck hinterliess und dass seine unklare Identität<br />
(Amerikaner oder Engländer oder was sonst noch?) Misstrauen erregte.<br />
Joyce lebte - wie die meisten Antisemiten seiner Epoche - in dem tief verwurzelten Wahn, dass eine<br />
“jüdische Weltherrschaft“ sich ankündige, die man verhindern müsse. Die Religion und Abstammung<br />
der Juden, ihr Aussehen und Geschäftssinn interessierte ihn nicht weiter. Insofern war William so<br />
etwas wie ein “abstrakter Judengegner“ ...<br />
Wall Street Banker, Kommunisten, Historiker, Psycho-Analytiker sowie Fachleute der<br />
Wirtschaftswissenschaften, Komponisten, Maler und Musiker (jüdischer Herkunft) erschienen Joyce<br />
und dessen Verbündeten “lebensgefährlich“ auf eine kaum vorstellbare Weise. Der Wahnsinn rotierte<br />
immer schneller.<br />
Die Organisation BRITISH FASCISTS LIMITED (neue Schreibweise) siechte dahin, doch Oswald<br />
Mosley tauchte als neuer Komet am Himmel der Radikalen auf. Mosley hatte im Ersten Weltkrieg als<br />
Pilot und Soldat gedient und beschloss anschliessend Politiker zu werden. Mit 22 Jahren rückte er im<br />
Unterhaus ein als “Koalitions-Unionist“ - das heisst als konservativer Unterstützer von Lloyd George,<br />
dem Premier-Minister. Seine erste Ehefrau, (geborene Lady Cynthia Curzon), verfolgte sozialistische<br />
Ideen.<br />
6
Mosley wurde von der Labour Party willkommen geheissen, nachdem er sich in einen Unabhängigen<br />
der Parteien-Landschaft verwandelt hatte. Der Nazi galt als sehr wohlhabend, verwurzelt in<br />
aristokratischen Kreisen. Innerhalb der Labour Party repräsentierte nun Oswald die selbständige<br />
MOSLEY GROUP, aus der sich eine funkelnagelneue Partei entwickeln sollte bis 1931. Mosley<br />
umgab sich mit muskulösen Leibwächtern und Schlägerhorden nach dem Vorbild Adolf Hitlers im<br />
Reich.<br />
In der Ehe des William Joyce kriselte es und es Scheidung drohte. Der verkrachte Akademiker, Vater<br />
zweier Töchter, entdeckte nirgendwo eine Chance zur Festanstellung und zu einem geregelten<br />
Einkommen. Inzwischen besuchte Mosley seinen Gesinnungsfreund Mussolini in Italien (Januar<br />
1932). Die dortigen Faschisten waren bereits seit einem Jahrzehnt an der Macht und Joyce glühte vor<br />
Bewunderung. Andererseits konnte man von Adolf Hitler gewiss wesentlich mehr erhoffen in nächster<br />
Zeit.<br />
Im Oktober 1932 gründete Mosley die BRITISH UNION OF FASCISTS. Joyce verschaffte sich<br />
(endlich) mit List und Tricks einen britischen Pass und machte falsche biographische Angaben bei der<br />
AntragsteIlung. Mit Datum vom 4. Juli 1933 brachte er zu Papier:<br />
“Ich, der Unterzeichner William Joyce, zur Zeit wohnhaft 41 Farquhar Road, S.E. 19, London,<br />
versichere hiermit, dass ich ein britischer Staatsangehöriger durch Geburt bin, und zwar geboren in<br />
Rutledge Terrace, Galway, IRELAND, am 24. April 1906. Seither habe ich meine Staatsbürgerschaft<br />
unverändert beibehalten. Ich beantrage hiermit einen Reisepass, um nach Belgien, Frankreich,<br />
Deutschland, in die Schweiz, nach Italien und nach Österreich als Tourist fahren zu können.“ (Ein<br />
Reisepass hatte damals fünf Jahre Gültigkeit).<br />
Im Formular wurde nach “sichtbaren Kennzeichen“ gefragt und Joyce nannte stolz seine “lange<br />
Narbe“ im Gesicht, ebenso “hervorstehende Ohren“. Beruf: “Privatgelehrter“ (Tutor). Es mutet aus<br />
gegenwärtiger Sicht unglaublich an, dass der Antragsteller keine Geburtsurkunde vorzeigen musste.<br />
Das Formular warnte lediglich vor “falschen Angaben strafbarer Natur“. Für die Gegenzeichnung<br />
genügte (beispielsweise) ein Bankangestellter bei Konto-Inhabern in England. Die Unterschrift eines<br />
Geistlichen oder Nachbarn hätte ebenfalls ausgereicht.<br />
Mosley Faschisten demonstrieren lauthals in London 1932<br />
7
Nun besass Joyce den Reisepass Nummer 12.59.43 mit Datum vom 5. Juli 1933. Im Verlauf des<br />
Prozesses wegen Hochverrat im Jahr 1945 spielte die verworrene Staatsangehörigkeit des William<br />
Joyce eine wesentliche Rolle wegen juristisch bzw. staatsrechtlich komplizierter Auslegungen des<br />
echten und/oder mutmasslichen Status von William Joyce, der sich auch als (reichlich verspäteter)<br />
“Staatsbürger des Deutschen Reichs“ präsentieren wollte. Begründung: er habe zuletzt dem<br />
Volkssturm angehört zur Verteidigung Berlins!<br />
Deutsche Leser(innen) schütteln heutzutage oft ungläubig den Kopf, wenn sie erfahren, dass man in<br />
den USA keinen Personalausweis benötigt und sich jederzeit mit dem eigenen Führerschein als<br />
Kraftfahrer legitimieren darf. In Grossbritannien herrsch(t)en ähnliche Zustände bis in die jüngste<br />
Vergangenheit, obwohl das Computer-Zeitalter Betrügereien mit Ausweisen und Pässen erheblich<br />
erschwert.<br />
William besorgte sich vor allem deshalb einen britischen Pass, weil er mit einem echten Pass der USA<br />
als gebürtiger New Yorker in Krisenzeiten womöglich eine Ausweisung befürchtete oder andere<br />
Komplikationen. Das wäre allerdings unwahrscheinlich gewesen dank der engen Verbundenheit<br />
zwischen Grossbritannien und den USA.<br />
Die aus der Taufe gehobene “Britische Union von Faschisten“ richtete ihr Hauptquartier in Chelsea<br />
ein, paramilitärisch ausgelegt. Joyce war als schlagfertiger Propaganda Redner unter seinesgleichen<br />
gut aufgehoben und schloss rasch Freundschaften mit der Knüppelgarde.<br />
Innerhalb kurzer Zeit fanden die Mosley Gesellen soviel Gefallen an William, dass sie ihn zu ihrem<br />
“Propaganda Minister“ ernannten und einen Full Time Job offerierten. Schlagartig verlor Joyce<br />
jegliches Interesse an seiner (verunglückten) akademischen Laufbahn und tobte sich rund um die Uhr<br />
bei den Schwarzhemden aus. William triumphierte als “Volksredner“ vor 5.000 Neugierigen in<br />
Liverpool. Nun nannte man den Newcomer respektvoll WEST LONDON AREA ADMINISTRATIVE<br />
OFFICER.<br />
Zeitgenossen bestätigten ausnahmslos, dass William Joyce ein begnadeter Agitator war mit<br />
faszinierendem Redefluss, der alle Schichten des Volks erfasste. “Dieser Strahlemann erinnerte an<br />
den Marat der französischen Revolution“, notierte ein Journalist. Mittlerweile flossen immer mehr<br />
hilfreiche Geldquellen in die Kasse der Faschisten, weil sich kapitalkräftige Gönner angesprochen<br />
fühlten. Am 7. Juni 1934 feierten über 15.000 Schwarzhemden in London ihre “öffentliche<br />
Anerkennung“. Wer dabei störte oder unpassende Zwischenrufe riskierte, erhielt eine Tracht Prügel,<br />
deren Folgen oft in Kliniken versorgt werden mussten.<br />
Weil Boss Mosley kränkelte, übernahm William Joyce immer häufiger die geplanten Auftritte als<br />
Volkstribun mit Glanz und Gloria. Goebbels diente ihm als Vorbild, nicht der grossmäulige Mussolini.<br />
Der meist höhnische Ton typischer Auftritte des Reichspropaganda-Ministers imponierte Joyce, und er<br />
bemühte sich diesem Stil nachzueifern.<br />
Glückstreffer Ehefrau Nummer zwei<br />
Joyce lernte inzwischen seine spätere zweite Ehefrau kennen. Margaret Cairns White, irischer<br />
Abstammung, Tochter eines Textilien-Kaufmanns und Managers. Die junge Frau interessierte sich für<br />
Politik und besuchte oft Veranstaltungen unterschiedlicher Parteien. Sir Oswald und dessen<br />
Faschisten weckten ihr lebhaftes Mitgefühl. Prompt suchte Margaret das Londoner Hauptquartier auf,<br />
raffte jede Menge Flugblätter und Prospekte zusammen und kehrte damit nach Manchester zurück.<br />
Bei nächster Gelegenheit besuchte Margaret eine Versammlung mit Joyce als Redner. Während einer<br />
Unterbrechung der Veranstaltung versammelten sich die Funktionäre in einem Nebenraum und<br />
Margaret schlüpfte neugierig hinein, ohne aufzufallen.<br />
Plötzlich trat Joyce an sie heran und begrüsste die junge Dame freundlich. Sie nannte ihren Namen<br />
und erwähnte, dass ihr erster Versuch misslungen war, ein paar interessante Leute der Partei kennen<br />
zu lernen, weil man ihr in einem Antwortschreiben “mit Bedauern eine Absage vermittelt hatte“ ohne<br />
Angabe von Gründen.<br />
8
Jene Absage war von Joyce unterzeichnet worden, und daran erinnerte er sich plötzlich. “Du meine<br />
Güte, ich dachte damals, dass Sie mindestens 60 Jahre alt seien“, lachte er dröhnend. “Tut mir<br />
aufrichtig Leid, Miss“. Und er fuhr grinsend fort: “Ja, und ich sah vor mir in Gedanken eine alte Jungfer<br />
mit zusammen gerolltem Regenschirm und einer doofen Nickelbrille auf der Nase!“ Nun lachten beide<br />
erleichtert.<br />
Es entwickelte sich ein frisch-fröhliches Gespräch über Politik und Joyce reagierte beeindruckt durch<br />
die Klugheit Margarets und ihrer Vorstellungen zur Zeitgeschichte. Man trennte sich gut gelaunt.<br />
Anfang 1936 entschlossen sich die Mosley Gesellen zu einer weiteren Korrektur des Namens ihrer<br />
Organisation. Die “British Union of Fascists“ hiess fortant (British Union of Fascists and National<br />
Socialists“, um Adolf Hitler “näher zu kommen“. Joyce konzipierte einen neuen Werbe-Slogan: “Wer<br />
sein Vaterland liebt, der ist ein Nationalist. Wer sein Volk liebt, ist ein Sozialist. Also ist es logisch, ein<br />
Nationalsozialist zu sein!“<br />
Joyce reagierte vorsichtig gegenüber sämtlichen Wohltätern und ihren Geldspenden, um nicht auf<br />
Glatteis zu geraten. Im Sommer 1934 wollte ein jüdischer Tabakwaren-Grosshändler den Faschisten<br />
300.000 Pfund Sterling stiften und erwartete als Gegenleistung die Einstellung der antisemitischen<br />
Propaganda. Joyce lehnte schroff ab.<br />
William Joyce kannte zu jener Zeit fast keine Deutschen in England. Ab und zu begegnete er zwar<br />
Geschäftsleuten auf Parties, doch es entstand nur eine freundschaftliche Beziehung mit Christian<br />
Bauer, England-Korrespondent der Goebbels-Zeitung DER ANGRIFF. Allmählich zog Bauer seinen<br />
englischen Kumpan ins Vertrauen und räumte ein, dass er zum Geheimdienst der NSDAP gehöre und<br />
gar kein Journalist sei.<br />
Herr von Bülow schien. ein anderer nützlicher Kontakt zu sein, verheiratet mit einer Amerikanerin.<br />
Zugleich erscheint es seltsam, dass Joyce keine Bemühungen unternahm, endlich einmal nach<br />
Deutschland zu reisen und dort die NSDAP an ihrer Quelle zu studieren. Finanzielle Überlegungen<br />
könnten der Grund gewesen zu sein, denn Joyce hatte zwei Töchter aus erster Ehe wirtschaftlich zu<br />
unterhalten und war immer knapp bei Kasse. Andererseits sickerte durch, dass sich William Joyce<br />
nicht im geringsten für den praktischen Alltag der Nazis in Germany interessierte und “nur das grosse<br />
Ganze“ im Auge behielt.<br />
Nach seiner Scheidung heiratete<br />
William Joyce die Faschistin Margaret<br />
Cairns White (22) und übertrug ihr<br />
Propaganda Jobs in der Mosley Partei.<br />
9
Für Joyce war “der reine Nationalsozialismus“ eine Sache, die nur er allein richtig auffasste. Diese<br />
selbstgefällige “Privat-Ideologie“ hinderte ihn nicht, oft genug auch Nazis heftig zu kritisieren, denn<br />
Joyce war ohne Zweifel “ein Besserwisser“.<br />
Die Umsturz-Vorstellungen des William Joyce überschritten pathologische Grenzen, wie man<br />
inzwischen zu wissen glaubt. Es hiess später einmal, als Deutschland kapitulierte, dass “Mr. Joyce<br />
über eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit verfüge, was zu berücksichtigen sei“. Dokumentiert ist dies<br />
unter anderem in seinen wirrköpfigen Abschiedsbriefen in der Todeszelle vor dem Tod durch<br />
Erhängen im Januar 1946.<br />
Es darf nicht wundern, dass Joyce der britischen Monarchie stets treu ergeben war und dass zum<br />
Abschluss seiner Kundgebungen die englische Nationalhymne inbrünstig gesungen wurde. Alles das<br />
vertrug sich mühelos mit seiner Nazi-Ideologie und revolutionären Zielsetzung auf lange Sicht. Im<br />
Februar 1936 entschloss sich Margaret White, einen Job bei der. Mosley Organisation anzunehmen,<br />
Ortsgruppe Manchester. Im übrigen konnte sie zwischen mehreren Heiratsanträgen wählen (früher<br />
oder später).<br />
Es kam zu neuen Begegnungen zwischen Margaret und William in London und Manchester (nach der<br />
Scheidung von der ersten Ehefrau) und die Sympathien blühten und gediehen. Am 13. Februar 1937<br />
heirateten William und Margret in aller Stille. Sie war 30, er war 35 Jahre alt. Auf der Urkunde stand<br />
als Beruf UNlVERSITY TUTOR RETIRED (Akademischer Studienleiter im Ruhestand).<br />
Joyce war nach wie vor ein armer Schlucker, denn die Entlohnung aus der faschistischen Kasse<br />
Mosleys fiel dürftig aus je nach Spendenaufkommen. Gattin Margaret dämmerte es nach dem Gang<br />
zum Standesamt, dass sie vielleicht amerikanische Staatsbürgerin geworden war, weil ihr Ehemann<br />
bisher verschwiegen hatte Amerikaner zu sein laut eigener Geburtsurkunde, obwohl er sich überall als<br />
waschechter Brite zu Wort meldete.<br />
Mit anderen Worten: Margret büsste ihre britische Staatsangehörigkeit durch die Heirat ein, erhielt<br />
jedoch keine Dokumente zum Nachweis ihrer dubiosen amerikanischen Staatsbürgerschaft (wie sie<br />
glaubte). Tatsächlich geriet Margret in einen “juristischen Schwebezustand“. Weil Margrets Vater Ire<br />
war (zumindest nach Herkunft), dachte sie über die Möglichkeit nach, ersatzweise für sich die irische<br />
Staatsbürgerschaft zu beantragen.<br />
Margret ahnte künftige Komplikationen und hielt es für sinnvoll, zusammen mit ihrem Ehemann die<br />
irische Staatsangehörigkeit (als Schutzschild) für stürmische Zeiten anzustreben. William besass eine<br />
nicht geladene Pistole (in einer Schublade daheim) und fühlte sich stets “irgendwie bedroht“, was er<br />
aber nicht freimütig zugeben wollte.<br />
Mit der faschistischen Partei Mosleys ging es bergab. Italiens Feldzug in Abessinien, der Spanische<br />
Bürgerkrieg sowie Adolf Hitlers Auftreten und Drohungen in allen Windrichtungen schreckten die<br />
bisherigen Sympathisanten ab. Joyce erklärte Mosley öffentlich zu einem Versager. Noch schlimmer:<br />
Mosley machte Kassensturz und musste notgedrungen zahlreiche hauptamtliche Funktionäre und<br />
Bürokräfte entlassen. William Joyce stand über Nacht als Arbeitsloser da.<br />
Um den Unterhalt einigermassen zu sichern, tat sich William mit einigen Getreuen aus akademischen<br />
Kreisen zusammen und gründete eine Art “Lehranstalt zur Vorbereitung auf Immatrikulationen“ für<br />
schwache Gymnasiasten, fand aber nur wenig Zuspruch in Elternkreisen. Ausserdem bot man<br />
Sprachkurse für Ausländer an. William lehnte jedoch farbige und jüdische Teilnehmer am Unterricht<br />
strikt ab.<br />
Joyce liess alle Zügel schleifen und interessierte sich nur für Literatur, Zigaretten, Alkohol und Nazi-<br />
Saufkumpane. Margaret konnte kaum die Miete bezahlen, während William mit seinen Freunden eine<br />
neue Partei ins Leben rief: NATIONAL SOCIALIST LEAGUE. Die Parole lautete: Kampf dem jüdischinternationalen<br />
Weltkommunismus! Das Parlament sollte aufgelöst werden; die Monarchie weiter<br />
bestehen bleiben. Handwerker-Innungen und Gewerkschaften müssten das Unterhaus übernehmen.<br />
Auch im Oberhaus hätten dann die Werktätigen das Kommando usw.<br />
10
Es sei allerhöchste Zeit für ein Bündnis der britischen Regierung mit dem Dritten Reich des Adolf<br />
Hitler, um Kommunisten und Juden auszurotten, unterstützt von Mussolinis Italien. Jeder britische<br />
Jude sollte als unerwünschter Ausländer katalogisiert und diszipliniert werden, stets durch<br />
Ausweisung bedroht. Fazit: England gehört allein den Engländern! “<br />
Als im Sommer 1939 dunkle Wolken am politischen Horizont aufzogen, schmiedete William Joyce<br />
folgenden Plan: Freund MacNab sollte bei Kriegsausbruch mit Deutschland Margaret nach Dublin<br />
(Irische Republik) begleiten. Joyce wollte so lange wie möglich in England ausharren und später<br />
folgen. Man könnte gemeinsam von Irland nach Deutschland reisen und dort in die Dienste Adolf<br />
Hitlers treten, um die Sowjets zu schlagen. MacNab und Margaret könnten aber auch, wenn sie es<br />
wünschten, in Irland bleiben und das Kriegsende abwarten.<br />
Joyce liess seinen (zweifelhaften) britischen Reisepass um ein Jahr verlängern, weil das Dokument<br />
bereits seit zwei Monaten ungültig geworden war. Die Behörden bereiteten keine Schwierigkeiten.<br />
Margaret beantragte gleichfalls einen Reisepass als Ehefrau und musste nichts Unangenehmes bei<br />
den Formalitäten fürchten. Um nach Irland fahren zu können, brauchte man eigentlich gar keinen<br />
Pass, doch Margret wollte “etwas Nützliches“ für alle Fälle vorzeigen.<br />
Die geplante Reise nach Irland wurde immer wieder aufgeschoben. Einige gut situierte Freunde<br />
planten Erholungsreisen nach Ungarn und Deutschland. Sie sollten in Berlin Erkundigungen<br />
einziehen, ob William Joyce mit Ehefrau “im Fall eines Falles“ dort willkommen sei bei den Nazis.<br />
Joyce sei gern bereit, deutscher Staatsangehöriger zu werden samt Gattin.<br />
Freund MacNab suchte in der Reichshauptstadt deutsche Freunde von Joyce auf, die früher mit ihm<br />
in London Umgang pflegten und sich als Nazis gebärdeten, darunter der Journalist bzw. Abwehr-<br />
Agent Bauer aus Goebbels Umfeld. Bauer residierte im Hotel Adlon. Aus dem Propaganda<br />
Ministerium verlautete innerhalb weniger Tage, dass William Joyce, Gattin Margret und MacNab<br />
jederzeit freundlich aufgenommen würden.<br />
MacNab verliess Berlin wieder am 21. August. Kurz danach kam der überraschende Nichtangriffspakt<br />
zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion zustande. Joyce verfiel in dumpfes Brüten und<br />
verstand die Welt nicht mehr. Die Verlängerung der Pässe war bis 1. Juli 1940 möglich ohne lästige<br />
Befragungen.<br />
Modell Neubau Haus des Reichsfunks in Berlin<br />
11
Flucht in die Reichshauptstadt<br />
Joyce räumte alle Bankkonten ab, über die er verfügen konnte: sein eigenes Konto, das Konto seiner<br />
Frau und das Konto seiner Partei. Am 26. August 1939 schlug die Abschiedsstunde von Merry Old<br />
England ohne jede Geheimnistuerei. In der Victoria Station wartete ein Zug zum Kanalhafen Dover.<br />
Nach der ruhigen Überfahrt stieg das Paar in einen französischen Zug mit Kurswagen nach Berlin.<br />
Während der freundlichen Passkontrolle an der deutschen Grenzstation besorgte William am<br />
Bahnsteig zwei Flaschen Lagerbier und eine Tüte mit Salami-Brötchen. Bald tauchte ein Mann im<br />
Abteil auf, der heissen Kaffee anbot. Endstation war Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin. Ein Taxi<br />
brachte die Reisenden ins empfohlene Hotel Saarlandstrasse.<br />
Joyce besorgte eine Sonntagszeitung und konnte daraus entnehmen, dass Lebensmittelkarten<br />
abgeholt werden mussten und Hotels sowie Restaurants entsprechende Vorschriften zur Rationierung<br />
einzuhalten haben. Es handele sich jedoch “nur um einen Testlauf kurzfristiger Natur“.<br />
Nun folgte ein sonntäglicher Spaziergang durch das Regierungsviertel, in dem keinerlei Aufregung zu<br />
erkennen war. Vor der Reichskanzlei starrten Neugierige auf den Balkon, wo Hitler gelegentlich mit<br />
markigen Ansprachen posierte.<br />
Joyce reiste seinerzeit mit seiner Frau ohne jede berufliche Perspektive nach Berlin und wollte sich im<br />
Ministerium für Propaganda auf irgendeine Weise als Engländer nützlich machen, um seinen<br />
Lebensunterhalt zu bestreiten. Gedanken darüber hatte er sich vorher nicht gemacht, denn die<br />
Gewohnheit, einfach in den Tag hinein zu leben, ziellos und planlos, konnte William Joyce mit dem<br />
besten Willen nicht von heute auf morgen abstreifen.<br />
Kein Wunder, dass das erste Orientierungsgespräch mit dem Agenten Bauer in einem noblen<br />
Restaurant am Savignyplatz für alle Beteiligten unbefriedigend zu verlaufen schien. Sollte es Krieg<br />
geben, müsste das ratlose Paar mit Internierung rechnen.<br />
Allmählich begriff Joyce, dass Herr Bauer nur ein kleines Rad im Getriebe des Goebbels Ministeriums<br />
darstellte und über wenig oder gar keinen Einfluss verfügte, um Protektion zu vermitteln (wie erhofft).<br />
Bauer war noch nicht einmal befugt, Benzin-Gutscheine zugeteilt zu bekommen für einen<br />
Dienstwagen.<br />
Am folgenden Tag blieb Bauer telefonisch unerreichbar. Er sei abberufen worden ...<br />
Der Kalender zeigte den 28. August 1939 an. Was blieb anders zu tun als wieder spazieren zu<br />
geben? Unterwegs betrat das Paar eine Wechselstube und tauschte das britische Reisegeld in<br />
Deutsche Mark um. Anschliessend verschickten sie Ansichtspostkarten an ihre Freunde in London mit<br />
“Grüssen aus der Hauptstadt des Führers Adolf Hitler“.<br />
Margret wollte in verschiedenen Läden Seife kaufen, aber es gab keine Seife wegen der<br />
Rationierung. Schliesslich erbarmte sich ein mitleidiger Verkäufer, weil er wusste, dass ausländische<br />
Touristen nirgendwo Anspruch auf den Erwerb von Seife (ohne Rationierungskarten) hatten.<br />
Im Continental Hotel gelang es, Mrs. Eckersley und ihren Sohn zu entdecken, die bereits in London<br />
eine Reise nach Ungarn und Berlin angekündigt hatten Ein Glückstreffer! Ob die alten Freunde<br />
vielleicht nützliche Beziehungen zur Arbeitsvermittlung in Berlin aktivieren könnten?<br />
Erster Tip: Fräulein Dr. Schirmer, deren Bruder im Auswärtigen Amt eine führende Position<br />
verantwortete. Fräulein Schirmer lud nachmittags zum Tee ein und die Eheleute Joyce sollten<br />
mitkommen. Der Bruder im Diplomatischen Dienst versprach, sich einmal umzuschauen im Amt und<br />
wollte bald Joyce Nachricht zukommen lassen.<br />
Zurück nach London reisen vor Kriegsausbruch? Dafür war es bereits zu spät und alle Reisebüros<br />
vermochten keine Fahrtgelegenheiten mehr anzubieten. Weder die Britische Botschaft noch das<br />
Britische Konsulat wussten weiter zu helfen und befanden sich selber in Aufbruchstimmung vor<br />
Torschluss. Resigniert griff das Paar zur tröstlichen Wodkaflasche.<br />
12
Am 30. August gingen William und Margret auf die Suche nach einem billigen möblierten Zimmer, weil<br />
sie sich das Hotel nicht länger leisten konnten. Sie gerieten an verschiedene Adressen in einem<br />
ärmlichen Milieu und ergriffen nach der Besichtigung die Flucht vor Gestank und Schmutz. Zurück im<br />
Hotel wartete ein Brief auf die beiden von Dr. Schirmer mit einer Telefonverbindung, die man am Tag<br />
darauf nutzen sollte.<br />
Die empfohlene Rufnummer gehörte zu einer Dienststelle des Auswärtigen Amtes. Joyce meldete sich<br />
dort in einem Vorzimmer, wo schon anderen Herren sassen, und erhielt Vorlagen mit Texten für<br />
Probe-Übersetzungen zugeteilt. Deutsche Ansprachen mussten ins Englische übertragen werden auf<br />
Honorarbasis. Joyce schaffte als erster sein Pensum und wurde mit Bargeld ausgezahlt.<br />
Zwischendurch glückte es, ein freundliches Zimmer bei liebenswürdigen älteren Herrschaften mit<br />
Niveau zu ergattern, die nichts gegen Engländer einzuwenden hatten.<br />
Nirgendwo konnte man eine britische Zeitung kaufen, sodass Joyce auf die Nazi-Blätter zurückgreifen<br />
musste, die den Angriff gegen Polen begeistert kommentierten. Dann folgte die Kriegserklärung<br />
Englands. Kostenlose Zeitungen zirkulierten auf den Hauptstrassen im Taumel der Ereignisse.<br />
Joyce entdeckte bei weiteren Aufträgen für Übersetzungen, dass sein Fleiss schlecht belohnt wurde!<br />
Die Behörde honorierte seltsamerweise die Übersetzungen nach Zeitaufwand: wer lange daran herum<br />
bastelte, der erhielt ein höheres Entgelt als ein schneller und zuverlässiger Mitarbeiter!<br />
Nach zusätzlichen Vorstellungsgesprächen im Auswärtigen Amt auf Empfehlung des Dr. Schirmer<br />
kam zuletzt ein Kontakt mit Dr. Erich Hetzler zustande, einem Wirtschaftswissenschaftler, der einst in<br />
London sein Studium abrundete und britische Lebensart schätzte. Joyce stellte sich als britischer<br />
Nationalsozialist vor, der Arbeit suchte, freimütig und mit Selbstbewusstsein. Das gefiel Dr. Hetzler.<br />
Der Diplomat im Reich des Aussenministers Ribbentrop erkannte rasch, dass dieser Engländer wie<br />
geschaffen schien für eine erfolgreiche Tätigkeit in der Reichsrundfunk-Gesellschaft, Abteilung<br />
englischer Sprachdienst Übersee. So schlug die Geburtsstunde des späteren Lord Haw-Haw und<br />
William Joyce lernte die flotten Funkleute kennen ...<br />
William Joyce<br />
am Mikrofon im<br />
Studio Berlin als<br />
neuer Star<br />
13
In den Jahren vor und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs meldete sich der Kurzwellenfunk des<br />
Deutschen Reiches in englischer Sprache regelmässig mit den Rufworten “GERMANY CALLING -<br />
GERMANY CALLING - GERMANY CALLING, Here are the Reichssender Hamburg, Station<br />
Bremen ...“<br />
Was zunächst etwas verwirrend klingt, ist so zu erklären: Man musste aus zwingenden technischen<br />
Rücksichten unterschiedliche Standorte zur Ausstrahlung mit Richtfunk wählen, weil die einzelnen<br />
Sender nicht immer gleiche Wellen bzw. Sendezeiten zugeteilt bekommen konnten.<br />
Kenner der englischen Sprache machten sich lustig über die schlechte Aussprache der einzelnen<br />
Mikrofonstimmen. Sie betonten die erste Silbe von GERMANY unfreiwillig komisch und ähnlich<br />
TSCHÄRMÄNNI. Es fehlte in Berlin offensichtlich an gebildeten Muttersprachlern zum Einsatz für<br />
derartige Ausstrahlungen,sodass nur “Proleten-Englisch“ über den Äther quäkte.<br />
Neugierige Briten, die offizielle Bulletins der Regierung als langweilig empfanden, nutzten ihre<br />
Rundfunkempfänger, um sich zum Zeitvertreib in den Nachtstunden das englische Kauderwelsch der<br />
deutschen Sender anzuhören: eine abwechslungsreiche Lachnummer! Der Reichsrundfunk verfügte<br />
über eine Zentrale in der Charlottenburger Masuren Allee. Aktuelle Nachrichten wurden frei Schnauze<br />
ins Mikrofon gesprochen, längere Kommentare erst auf Wachsmatrizen gespeichert mit<br />
Korrekturmöglichkeiten bei Bedarf.<br />
Richtfunkstationen existierten in Zeesen (nahe Berlin), Hamburg, Bremen sowie Köln je nach<br />
technischer Verfügbarkeit. Das Sendematerial übertrug man über Postleitungen von Berlins Studios.<br />
Mit etwas Geschick war es möglich, auch innerhalb Deutschlands die für England bestimme<br />
Ausstrahlungen zu empfangen.<br />
Ausser dem Kurzwellendienst für Grossbritannien gab es Richtstrahler nach USA, Fernost und<br />
Australien in englischer Sprache. Daneben sendeten die Deutschen muttersprachlich auf<br />
Französisch, Polnisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Afrikaans (für Südafrika und<br />
Südwestafrika). Die Programme für USA und Fernost endeten stets mit dem Slogan: “Deutschland<br />
kämpft für die Beseitigung der Ungerechtigkeit weltweit! Unsere Feinde wollen die Ungerechtigkeit<br />
konservieren!“<br />
Grossfunkstelle bei Berlin in ungewöhnlicher Bauweise<br />
14
Walter Kamm leitete 1933 das fremdsprachliche Übersee-Kurzwellen-Programm sowie das<br />
fremdsprachliche Europa-Programm in Personalunion. Er verfügte über ein kleines Team im Rahmen<br />
des englischen Sprachdienstes mit Nachrichtensprechern und Kommentatoren. An erster Stelle<br />
rangierte Norman Baillie-Stewart, einst Angehöriger der Seaford Highlanders in Schottland. 1933<br />
hatte ihn ein Militärgericht zu fünf Jahren Haft verurteilt wegen Geheimnisverrat. 1937 kam der<br />
Schotte frei und übersiedelte auf das europäische Festland. In Berlin nannte sich dieser seltsame<br />
Highlander mit Decknamen Manfred von Krause. Alle Kollegen nutzten ebenfalls Falschnamen.<br />
Der Abhördienst der BBC bemerkte am 6. September 1939 zur allgemeinen Überraschung, dass die<br />
Deutschen in ihren Sendungen für England einen hoch gebildeten, tadellosen Muttersprachler<br />
beschäftigten, an dem es nichts auszusetzen gab unter Profis. Während der zweiten Kriegswoche<br />
sendete Berlin täglich neunmal englische Nachrichten und Chef Kamm benötigte dringend<br />
qualifizierten Nachwuchs wegen des Personalmangels. Dr. Hetzlers Empfehlung zugunsten von<br />
William Joyce kam wie ein Geschenk des Himmels!<br />
Lord Haw-Haw wird immer beliebter<br />
Als sich Joyce bei seinem künftigen Vorgesetzten Kamm vorstellte, um als geeigneter<br />
Nachrichtensprecher getestet zu werden, geriet er etwas in Verlegenheit wegen seiner zufälligen<br />
Erkältung mit Behinderung der klaren Aussprache. Trotzdem machte er mit. So kam eine<br />
Aufzeichnung anhand des vorgelegten Textes zustande. Die Prüfungskommission schien wenig<br />
begeistert.<br />
Urplötzlich widersprach einer der mithörenden Tontechniker, dem die Ausdrucksweise von William<br />
Joyce imponierte (trotz Schnupfen). Am 11. September durfte der Neuling nochmals sein Talent in die<br />
Waagschale werfen. Diesmal beeindruckte Joyce das Team ausserordentlich, weil sich seine<br />
Erkältung gebessert hatte. Man versprach ihm einen Vertrag nach der Probezeit.<br />
Zu den Sprechern des Berliner<br />
Propagandafunks zählte der ehemalige<br />
schottische Leutnant Normen Baillie-<br />
Stewart von den Seaford Highlanders.<br />
Angeblich wurde er 1933 wegen<br />
landesverräterischer Umtriebe einige Zeit<br />
im Londoner Tower inhaftiert und danach<br />
aus der Armee verstossen.<br />
Danach schlüpfte er beim Deutschen<br />
Auslandsfunk unter als Kommentator bis<br />
Kriegsende.<br />
Der Leutnant soll in Wahrheit ein<br />
gepflanzter Spion gewesen sein mit<br />
einstudiertem Schauprozess!<br />
15
Nun war eine Zusammenarbeit mit dem Schotten vorgesehen, aber die Gentlemen fanden einander<br />
unausstehlich auf Anhieb. Der griesgrämige Highlander raunzte: “Sie wollen wohl unsere Jobs<br />
kassieren?“ Unklar ist nach wie vor, weshalb der Kollege so giftig reagierte ohne erkennbaren Grund.<br />
William spürte Aufwind trotz aller Hindernisse, obwohl Margret knapp 20 Mark in ihrer Geldbörse übrig<br />
hatte.<br />
Während Joyce Nachtdienst-Verpflichtungen erledigen musste, tauchte bei Margret ein<br />
Polizeibeamter auf, der Mr. Joyce zu sprechen wünschte, um ihn zu verhaften. Margret ahnte nicht,<br />
dass alle im Reich lebenden Briten interniert werden sollten und dass Razzien im Gang waren. Der<br />
höfliche Polizist versprach am Tag darauf wieder zu kommen und schien beeindruckt, dass Mr. Joyce<br />
beim Rundfunk arbeitete.<br />
Der frisch gebackene Rundfunksprecher reagierte sofort zornig nach der Heimkehr vom Dienst,<br />
telefonierte mit der Polizei und seinem Gönner Dr. Hetzler. Tatsächlich liess sich kein Polizist mehr<br />
blicken und das Ehepaar stand fortan unter dem Schutz des Reichs.<br />
In England führte die neue Stimme im Kurzwellenfunk zu allerlei Mutmassungen bei Presse und BBC<br />
sowie im Parlament und Geheimdienst. Im DAILY EXPRESS vom 14. September 1939 kommentierte<br />
Jonah Barrington unter anderem:<br />
“Vom Funkmast in Zeesen tönt ziemlich oft ein Gentleman der britischen Oberschicht auf Befehl der<br />
Nazis. Er spricht Englisch im Haw-Haw-Stil voller Verachtung gegenüber den kleinen Leuten nach<br />
dem Motto: Verdammt nochmal, geht mir gefälligst aus dem Weg!“<br />
Damit war Lord Haw-Haw (Lord Hoh Hoh) aus der Taufe gehoben und alle übernahmen vergnügt den<br />
Spitznamen auf der britischen Insel bis zum Kriegsende.<br />
Das Magazin<br />
diente als ein<br />
imposanter NS<br />
Werbeträger 1940<br />
16
Die britische Presse amüsierte sich fast jeden Tag über Lord Haw-Haw und nannte ihn ein<br />
“aristokratisches Arschloch mit Monokel und Reitstiefeln“. Im Parlament forderte ein Abgeordneter, die<br />
BBC müsse endlich etwas diesem Lord Haw-Haw entgegensetzen, denn “sonst verlieren wir den<br />
Ätherkrieg“ früher oder später! “Komische Verzweiflung breitete sich aus. Im DAILY MIRROR schrieb<br />
der Leitartikler Cassandra belustigt: “Ich empfehle allen Briten, regelmässig Lord Haw-Haw<br />
zuzuhören, dann es gibt kein billigeres Volksvergnügen!“<br />
Zusätzliche Propaganda Redner machten sich bald über Kurzwellenfunk bemerkbar: Winnie the<br />
Whopper (Winnie, die Wuchtbrumme), Uncle Boo-Hoo (Onkel Buh-Huh) und Mopey (Trübsalblaser).<br />
Die Identität dieser Personen blieb unerkannt mit einer Ausnahme: Bei Winnie the Whopper soll es<br />
sich um eine in Breslau sendende Frau gehandelt haben, die in polnischer Sprache auf polnische<br />
Zuhörer zielte.<br />
In London spekulierten manche Sprachexperten, dass Lord Haw-Haw in Wirklichkeit kein anderer als<br />
William Joyce sein dürfte, doch zu 100 Prozent war sich niemand sicher.<br />
Am 4.0ktober 1939 empfing Joyce als ordentlicher Angestellter des Reichsrundfunks sein<br />
sogenanntes Arbeitsbuch (wie alle anderen Werktätigen seinerzeit). Nach diesen Eintragungen wurde<br />
Joyce in Galway, Irland, am 24. April 1906 geboren, Nationalität Engländer bzw. Great Britain.<br />
Besondere Fähigkeiten: Sprachwissenschaftler (Englisch). Neigungen: Schwimmen, Reiten, Boxen.<br />
Mit solchen Voraussetzungen konnte die Naturalisierung beantragt werden.<br />
Offiziere der Abwehr unter Admiral Canaris hielten Joyce für einen hoch qualifizierten Geheimagenten<br />
der Briten, konnten ihm aber nichts anhängen. Vor allem wollten die Abwehrleute keine Streitereien<br />
mit dem Goebbels Ministerium vom Zaun brechen und liessen Joyce in Ruhe. Vorsichtshalber<br />
korrigierte Joyce seinen Geburtsort und nannte wahrheitsgemäss New York entschuldigend. Ihm<br />
wurde verziehen. Die Gestapo fand das garnicht lustig, doch Joyce galt als “zerstreuter Professor“,<br />
mit dem man geduldig umgehen müsse.<br />
Das war 1942:<br />
Margret im sommerlichen Berlin<br />
17
Joyce gewann immer mehr Selbstvertrauen und kritisierte freimütig die ihm vorgelegten englischen<br />
Texte aus dem Ministerium als “jämmerlichen Schrott“, mit dessen Sendungen sich das Reich<br />
lächerlich mache in ganz England. Sein Vorschlag: man möge seine Ehefrau als qualifizierte Lektorin<br />
engagieren zur sorgfältigen Überarbeitung sämtlicher Texte vor der Sendung, um Blamagen<br />
auszuschliessen. Sie sei gern bereit, ehrenamtlich tätig zu werden ohne Honorar.<br />
Das Propaganda Ministerium nahm den Vorschlag gern an, lehnte jedoch eine ehrenamtliche<br />
Beschäftigung ab. Statt dessen erhielt Margret eine gut dotierte Planstelle als “Redakteurin für<br />
weibliche Zielgruppen“. Die Nazis wollten sich nichts schenken lassen ...<br />
Am 17. Oktober berichtete der DAILY MIRROR, dass Scotland Yard auf den Spuren der<br />
geheimnisvollen Nazi-Kurzwellensprecher fast am Ziel stehe, aber noch keine Namen nennen<br />
möchte. Es handele sich um einen ehemaligen hochrangigen Faschistenführer der Londoner Szene.<br />
Schlagerkomponisten produzierten Songs mit “Uncle Boo-Hoo aus Moskau“ und “Lord Haw-Haw aus<br />
Zeesen“ zum Ergötzen des Publikums. Ein Comedian der BBC verwandelte sich in Lord Haw-Haw als<br />
Cornic Figur und vertrottelter Adliger in Gesellschaft von Winnie the Whopper, dargeboten von der<br />
Humoristin Paddy Browne.<br />
Die BBC ermittelte, dass täglich ungefähr sechs Millionen Engländer regelmässig Lord Haw-Haw<br />
lauschten (statistisch Personen älter als 16 Jahre). Hinzu kamen etwa 18 Millionen “unregelmässige<br />
Zuhörer“ und 11 Millionen “Nicht-Interessierte“. Der Auftrag kam vom Informations-Ministerium.<br />
Insgesamt gab es 23 Millionen regelmässige Hörer der BBC zu jener Zeit, die Nachrichten der BBC<br />
einschalteten sowie 10 Millionen unregelmässige BBC-Nachrichtenhörer. (Hörerforschung war etwas<br />
Neuartiges).<br />
Reichweite der<br />
Berliner Sendungen<br />
während des Krieges<br />
18
Im Dezember 1939 liess sich die treue Nazi-Freundin Mrs. Eckersley, die man zuletzt im Berliner<br />
Hotel Continental getroffen hatte, überraschend beim Reichsrundfunk blicken: Sie hatte ebenfalls<br />
einen guten Job als Koordinatorin beim Kurzwellen Service mit Richtstrahler nach England ergattert.<br />
Ihr Sohn besuchte ein deutsches Internat und erstrebte nach Mutters Vorbild eine NS-Karriere.<br />
Weihnachten rückte näher und die Gefühle von Einsamkeit und Isolation breiteten sich unter den<br />
Engländern aus. Immerhin hatte Goebbels seine Getreuen nicht vergessen: Sowohl der Propaganda<br />
Minister als auch Hermann Göring schickten Joyce imposante Zigarrenkisten mit besten Grüssen zum<br />
Fest!<br />
William und Margret wechselten mehrmals ihre kleinen Wohnungen, weil es mit der Zentralheizung<br />
und Warmwasser-Versorgung nicht recht klappte und der Komfort zu wünschen übrig liess. Zuletzt<br />
fanden sie eine Behausung mit grossem Kachelofen und mussten nicht mehr frieren.<br />
Unterdessen ging das Rätselraten wegen Lord Haw-Haws Identität in der britischen Presse munter<br />
weiter und selbst ernannte Sprachforscher tippten neuerdings auf einen “anglisierten Amerikaner der<br />
Oberschicht“ mit leichtem “Yankee Akzent trotz akademischer Bildung“ usw.<br />
Geheime deutsche Kurzwellensender<br />
Das deutsche Propaganda Ministerium unterhielt unter anderem Kurzwellensender mit<br />
Fremdsprachen, die den Eindruck erwecken sollten, dass sie im Untergrund der Résistance auf<br />
französischem Territorium operierten. Die Absicht: Verwirrung stiften, Falschmeldungen verbreiten,<br />
den Widerstand schwächen (unbemerkt).<br />
Am bedeutendsten war LA VOIX DE LA PAIX (Stimme des Friedens). Anfang 1941 wollte man ein<br />
ähnliches Experiment für den englischen Dienst einfädeln und in Charlottenburg in einer Villa einen<br />
angeblichen Geheimsender ausstrahlen lassen, der “vielleicht irgendwo im schottischen Hochland<br />
versteckt“ sendete (wie die Hörer vermuten sollten). Verantwortlich war das BÜRO CONCORDIA<br />
unter Dr. Erich Hetzler und Walter Kamm.<br />
Dr. Hetzler sollte ursprünglich bei Kriegsausbruch als Flakoffizier bei der Luftwaffe einrücken, wurde<br />
aber für die Rundfunkarbeit freigestellt. Man brauchte zusätzliche und unbekannte Stimmen, aber<br />
woher nehmen? Hetzler bat Joyce um dessen Rat und William fühlte sich geschmeichelt wie nie<br />
zuvor, zumal eine Gehaltsaufbesserung winkte.<br />
Villa<br />
Concordia<br />
Short<br />
Wave<br />
Service<br />
Center<br />
Berlin Hqs.<br />
19
Bevor die USA dem Deutschen Reich den Krieg erklärten,sorgte das Goebbels Ministerium für die<br />
gedruckte Verbreitung von Programmen des Berliner Kurzwellenfunks über Konsulate und Mittelsleute<br />
in Nordamerika. Hörer in den USA konnten sogar Musiktitel bestellen oder andere Wünsche<br />
übermitteln lassen.<br />
Siehe Pfeile: THE ZEESEN WOMEN'S CLUB gestaltete Margret Joyce für die Frauenwelt, während<br />
sich LORD HAW-HAW der Politik widmete. Volksmusik und Kammermusik bereicherten das Angebot<br />
neben dem “Osterhasen“. der “Osterglocken“ einläutete.<br />
20
Das Problem der Beschaffung weiterer brauchbarer Mikrofonstimmen lies sich nur notdürftig lösen. Ab<br />
Februar 1940 sendete THE NEW BRITISH BROADCASTING STATION jeden Abend 30 Minuten auf<br />
Kurzwelle über einen Richtstrahler in Gumbinnen (Ostpreussen). Die kleine Redaktion hockte<br />
verborgen im Berliner Olympia Stadion an der Stelle, wo sich bei sportlichen Ereignissen die<br />
Pressetribüne befand.<br />
Weil man als Arbeitsmaterial frische britische Zeitungen benötigte, mussten sie mit mindestens einem<br />
Tag Verspätung aus der Schweiz und Schweden besorgt werden. THE ECONOMIST, NEW<br />
STATESMAN AND NATION sowie PUNCH bildeten das Rohmaterial.<br />
Es existierten zwar deutsche militärische Abhörstationen, die Nachrichten der BBC systematisch<br />
aufzeichneten, jedoch nur an den rein militärischen Neuigkeiten interessiert waren oder<br />
deutschfreundlichen Kommentaren. Für spezielle Abhörwünsche von Joyce blieb keine Kapazität<br />
übrig. CONCORDIA startete also ein massgeschneidertes Abhörsystem für sich. Chefin war Frau von<br />
Petersdorf, die durch den Kriegsausbruch als amerikanische Eiskunstläuferin an der Heimreise<br />
gehindert war. Joyce stürzte sich in die erweiterten Aufgaben rund um die Uhr.<br />
Neidvoll musste William Joyce einräumen, dass Goebbels und von Ribbentrop ab 22. Oktober 1941<br />
eine “interministerielle Institution“ der Spitzenklasse ins Leben riefen, deren Nutzen den Concordia<br />
Kommentatoren aber nicht zur Verfügung stand (wegen Kompetenz-Streitigkeiten).<br />
“GERMAN FOREIGN BROADCAST COMPANY INTERRADIO, Incorporated“ im ehemaligen Hotel<br />
Seehaus am Wannsee in einer malerischen Bucht des Havel Zuflusses vereinigte bereits nach der<br />
Eröffnung des “Monitoring Service“ über 500 Angestellte rund um die Uhr in Tag- und Nachtschichten.<br />
Das Dach krönte eine riesige Antenne, um Radio-Nachrichten von 33 Staaten in 37 Sprachen<br />
aufzunehmen und auszuwerten. Aus USA wurden regelmässig CBS Programme vom Columbia<br />
Broadcasting System empfangen. So konnte man im Januar 1942 8.266 Nachrichten-Sendungen<br />
sowie 646 Reden von bedeutenden Politikern aus allen Erdteilen speichern.<br />
Im August 1944 tummelten sich bereits über 700 “Lauscher“ mit exotischen Fremdsprachen-<br />
Kenntnissen in den Studios, vorwiegend Auslandsdeutsche. Der Österreicher Kurt Alexander Mair, ein<br />
Verleger von Landkarten und Reiseführern, hielt die gesamte Organisation fest im Griff.<br />
Grosser funktechnischer Sendesaal für Kurzwellen-Programme<br />
21
Minister Goebbels war vom SONDERDIENST SEEHAUS begeistert und erweiterte den Service durch<br />
“Horchposten“ in Paris, Bukarest, Marseille, Rom, Graz, Pforzheim und Meran. Sowohl Mittel- als<br />
auch Kurzwellen wurden abgehört. Ein Monitor vermochte im Durchschnitt sechs ausländische<br />
Sendungen während seiner Achtstunden-Schicht zu bewältigen als Auswerter (Diktat von<br />
Zusammenfassungen).<br />
Fernschreiber-Verbindungen versorgten laufend das Führer-Hauptquartier in Ostpreussen mit den<br />
letzten Neuigkeiten. Die dem Hotelkomplex angeschlossene Druckerei verarbeitete bis zu 1.000<br />
Seiten Nachrichtenmaterial täglich. Verteiler berücksichtigten zahlreiche Ämter der Regierung.<br />
Objekt Seehaus: Ansichtspostkarte von 1945<br />
22
Im Januar 1945 waren nur noch etwa 50 Dienststellen berechtigt, die Ergebnisse der Auswertungen<br />
zu erfahren, weil die befohlene Siegeszuversicht deutlich nachgelassen hatte und Defaitismus seine<br />
Kreise zog. Grossadmiral Dönitz, Spionage-Chef Schellenberg und die Japanische Botschaft wurden<br />
vorrangig bedient.<br />
Im Propaganda Ministerium planten ein paar Neunmalkluge mindestens drei zusätzliche<br />
Geheimsender, die so funktionieren sollten, als ob sie irgendwo auf der britischen Insel ihren Standort<br />
hätten. Sie waren dazu bestimmt, als Zielgruppen die Arbeiterklasse, religiöse Schichten und<br />
separatistische Schotten anzusprechen. Woher Nachwuchs-Sprecher nehmen? Vielleicht waren<br />
britische Kriegsgefangene in Germany zu gewinnen!<br />
William Joyce erhielt den Auftrag, ein POW CAMP in Thorn (Warthegau) aufzusuchen und sich bei<br />
den dort untergebrachten englischen Gefangenen umzuschauen. Freiwillige sollten in Berlin<br />
untergebracht werden, Zivilkleidung tragen dürfen und grosszügigen Sold empfangen als<br />
Gegenleistung für “Friedensappelle über die Ätherwellen“.<br />
Während der Interviews sprach sich rasch herum, dass Lord Haw-Haw persönlich erschienen war.<br />
Acht Männer konnte Joyce mit nach Berlin nehmen, weil sie qualifiziert wirkten und gute<br />
Mikrofonstimmen hatten. Ihm war bewusst, dass höchstens einer von ihnen als “echter Faschist“<br />
angesehen werden konnte, während die anderen nur “Mitläufer“ zu sein schienen.<br />
Schliesslich kamen in die enge Wahl: William Humphrey Griffith wegen seiner rauhen Proletenstimme,<br />
überzeugend als Vertreter der Fabrikarbeiter, der Lehrer Leonhard Banning, einst Mitglied der<br />
Gewerkschaftsbewegung, und Cyril Charles Hoskins, eine angenehme Erscheinung (aber farblos).<br />
Ausserdem Walter Purdy, erfahrener Gewerkschafter, obendrein John Lingshaw, Zivilist und einst<br />
wohnhaft auf den Kanal Inseln (jetzt von der Wehrmacht besetzt)<br />
Margret Joyce 1942:<br />
Redakteurin im<br />
unterirdischen Studio<br />
Olympia Stadion zum Schutz<br />
gegen Luftangriffe.<br />
Hier operierten redaktionell<br />
die sogenannten SECRET<br />
RADIO STATIONS, auch<br />
FAKE STATIONS genannt<br />
unter den Experten.<br />
23
Passende weibliche Stimme: die Witwe eines Südafrikaners (Buren), gerettet von einem torpedierten<br />
Frachter, als sie ihren Ehemann in Burma treffen wollte. Weitere Frauen mussten noch irgendwo<br />
aufgetrieben werden mit geringen Erfolgsaussichten.<br />
Joyce machte sich auf einmal Gedanken über seine Identität und Nationalität im Gespräch mit Gattin<br />
Margret. Am 2. Juli 1940 war der britische Reisepass, den er kurz vor der Fahrt nach Deutschland<br />
empfangen hatte, ungültig geworden. Sobald das Paar neue deutsche Pässe erhalten würde, wie<br />
beide hofften, müssten sie ihre bisherigen Pässe abgeben. Dann kritzelte er wie verrückt in seinem<br />
englischen Dokument herum, um es unlesbar zu machen, und ermunterte Margret genau so mit ihrem<br />
Pass zu verfahren. Joyce wusste,dass die Gestapo eingezogene ausländische Pässe gern<br />
“auffrischte“ und für neue Zwecke zugunsten anderer Personen (Spione) verfälschte: das gefiel Joyce<br />
ganz und gar nicht ...<br />
Im Rheinland und in den Niederlanden sendeten inzwischen mobile Kurwellensender nach England.<br />
Zielgruppe: die harten Jungens der Werktätigen in GB. Mr. Griffiths passte dazu als Sprecher wie die<br />
Faust auf das Auge. Ausserdem konnte man jetzt in Schottland RADIO CALEDONIA empfangen.<br />
Tenor: Das Dritte Reich und Schottland sollten einen Separatfrieden schliessen! Richtstrahler<br />
WORKERS CHALLENGE wiegelte die Arbeiterklasse auf (wie man in. Berlin zu hoffen wagte).<br />
24
Am 28. August erlebte Berlin den ersten Luftangriff der Briten mit 10 Toten und 29 Verletzten. Die<br />
Luftwaffe holte am 7. September zum Gegenschlag auf London aus. Es mutet zumindest originell an,<br />
wenn Joyce die Kurzwellen-Sendungen für englische Hörer neuerdings stets mit dem Abspielen der<br />
britischen Nationalhymne beenden liess! Der Zufall wollte es, dass das Wohnhaus der Eltern von<br />
William Joyce den deutschen Bombenabwürfen zum Opfer fiel. Alle überlebten jedoch.<br />
Das von Joyce verfasste Buch mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren erschien Mitte September<br />
und wurde in deutschen Lagern mit britischen Kriegsgefangenen verteilt. Über die Reaktionen der<br />
Leser ist allerdings nichts bekannt geworden. In Skandinavien kam eine schwedische Ausgabe auf<br />
den Büchermarkt mit einem lachenden Foto des Autors. Auch der in Berlin akkreditierte<br />
amerikanische Korrespondent William Shirer wurde mit einem Exemplar plus Widmung beehrt.<br />
Joyce hatte sich im Lauf der Zeit mit dem amerikanischen Journalisten angefreundet und die beiden<br />
brachen oft genug einer Flasche den Hals, um fröhlich zu bechern. Shirer notierte: “Dieser Haw-Haw<br />
ist zwar ein Verräter, aber amüsant und stets guter Laune, wenn es was zu trinken gibt. Der Bursche<br />
ist hochintelligent, Respekt!“<br />
Inzwischen erreichte Joyce die Benachrichtigung, dass er Dokumente zur Naturalisierung beim<br />
nächsten Polizeirevier abholen sollte. Shirer überraschte Joyce mit einem druckfrischen<br />
amerikanischen Roman: DER TOD VON LORD HAW-HAW, Verfasser Brett Rutledge. Joyce lachte<br />
sich halb tot über diese Fiktion in seiner Rolle “als sexueller Wüstling, der schon als Student seine<br />
Kommilitonen beim Kartenspiel übers Ohr haute“. Weiter hiess es: “Die lange Narbe im Gesicht ist<br />
typisch für amerikanische Gangster, wenn sie ihre Kumpane an Spitzel verraten haben.“<br />
Der<br />
Funkturm<br />
Königs Wusterhausen<br />
25
“Vielleicht stammt die hässliche Narbe aber nicht aus Chicagos Unterwelt, sondern kam während<br />
eines studentischen Duells in Heidelberg zustande unter Mitgliedern einer schlagenden Verbindung“,<br />
kitzelte der Autor seine Leserinnen. Sie durften in ihrer eigenen Fantasie zwischen Corps-Student und<br />
Gangster wählen. Schliesslich machte der Romanschreiber Margret zu einer “ehemaligen Striptease<br />
Tänzerin ohne nennenswertes Talent im Show Business“.<br />
Bei der Polizei lief alles glatt ab: Joyce gab die bisherigen Pässe zurück und empfing für sich und<br />
Margret Dokumente, die bestätigten, dass beide fortan “Staatsangehörige Preussens“ seien. Das war<br />
besser als nichts.<br />
Beliebte Melodien der Propaganda Sendungen<br />
Wer rettet den Lord Kurs Schweden?<br />
Joyce geriet Schritt um Schritt in eine düstere Gemütslage, weil er mit seinem Fingerspitzengefühl<br />
das dramatische Ende des Dritten Reichs und des Nationalsozialismus ahnte. Seinen Mitarbeiterstab<br />
verachtete er zunehmend “als Flaschen ohne Korken“. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP schien nicht<br />
angebracht kurz vor dem Untergang der Nazi-Herrschaft. Joyce spürte, dass er diesen Krieg nicht heil<br />
und lebend überstehen würde.<br />
Besorgt reagierten die Vorgesetzten, die ebenfalls um das Leben ihres wertvollen Agitators fürchteten.<br />
Waren Attentäter der Briten auf ihn angesetzt? Joyce durfte fortan eine Pistole mitführen, erhielt<br />
Polizeischutz vor seiner Wohnung und unterwegs. Ende Oktober verbrachte das Paar einige<br />
vergnügte Urlaubstage in Dresden. Vor der Rückreise nach Berlin sagte Joyce nachdenklich am<br />
Hoteleingang. “Hierhin werde ich nie wieder zurückkehren ...“<br />
In London stand zur gleichen Zeit Anna Wolkoff vor Gericht, eine naturalisierte Engländerin, Tochter<br />
eines ehemaligen Admirals der russischen Zarenflotte. Man schrieb November 1944 im Old Bailey<br />
Court. Die Angeklagte war aufgefallen, weil sie versucht hatte, einen chiffrierten Brief an Joyce nach<br />
Deutschland zu senden und weil sie in Spionage Handlungen verwickelt war, die Tyler Kent betrafen,<br />
einen Codierer der amerikanischen Botschaft zu London.<br />
Mrs. Wolkoff gehörte zum antisemitischen Londoner Right Club (Vereinigung der Rechtsradikalen),<br />
schätzte Joyce schon lange und klebte nachts Hetzplakate an Hauswände in der Metropole. Entdeckt<br />
wurde ihr Kontakt mit Joyce, weil sie gutgläubig einen Brief mit der Anschrift “Herrn W.B. Joyce,<br />
Rundfunkhaus in Berlin“ einer Botschaftsangestellten zugesteckt hatte, die den Umschlag zur<br />
Diplomatenpost nach Rumänien legen sollte. Die Vertrauensperson zog es vor, ihre Vorgesetzten zu<br />
informieren.<br />
26
Nun kopierte der britische Secret Service das Schreiben, dechiffrierte den Text und versiegelte den<br />
Umschlag erneut unauffällig. Danach ging die Post ab nach Bukarest, wie ursprünglich vorgesehen<br />
war. Der Brief enthielt Ratschläge für Joyce, wie er sein Kurzwellen-Programm Richtung England<br />
verbessern könnte (gemeint war die Schiene GERMANY CALLING).<br />
Text: “Kommentare ausgezeichnet, Nachrichten nicht so attraktiv, Palästina zu kompliziert, I.R.A.<br />
Themen ebenfalls. Konzentration auf Plutokratenpack ratsam. Keine Kritik am Königshaus.“<br />
Weiter schrieb die Informantin: “Hier Kriegshetze nur unter Blimps. Arbeiterschaft lustlos. Frauen noch<br />
mehr. Militär müde. Judenhass blüht überall im Volk. Jüdische Freiwillige melden sich zum<br />
Pionierdienst. Churchill unbeliebt. Lohnenswertes Ziel als Judenknecht und Kriegshetzer weltweit. Hat<br />
damals Gallipoli geopfert WW1. Empfehle Churchills Fehlschläge und militärische Opfergänge als<br />
Thema.“<br />
Der Brief endete: “Butterration verdoppelt, auch Schinkenspeck für Arme. Steigende<br />
Lebenshaltungskosten dramatisch. Ladenbesitzer verzweifelt. Margrets Sendungen unbeliebt und<br />
ungeschickt. Empfehle Unterbrechung oder andere Konzeption. Gott segne unsere Freunde im<br />
Funknetz. Bestätigung meiner Nachricht über Carlyle Referenz Radio,aber nicht Donnerstag oder<br />
Sonntag. Antworte mit gleicher Codierung im gleichen Kanal. Thema Juden und Freimaurer<br />
empfehlenswert aktuell. P.J.“<br />
(Anmerkung: Einige Passagen sind in der Übersetzung unverständlich für gegenwärtige Leser(innen):<br />
Im ersten Satz ist von Blimps die Rede, also von kleinen Luftschiffen und Kriegshetze (vielleicht<br />
codierte Begriffe). Interessant: Gattin Margrets Frauenfunk-Programm aus Berlin war offenbar ein<br />
Fiasko! P.J. bedeutete PERISH JUDA bzw. JUDA VERRECKE! Grüsse an C.B. galten dem Goebbels-<br />
Agenten Christian Bauer, einst Londoner Resident und dortiger Korrespondent des VÖLKISCHEN<br />
BEOBACHTERS.)<br />
Joyce war nicht im geringsten an den Ratschlägen von Mrs. Wolkoff interessiert, weil er stets alles<br />
besser wusste. Das Schreiben behielt der deutsche Abwehrdienst für seine Akten und leitete es nicht<br />
an Joyce weiter. Anna Wolkoff wurde am 7. November zu 10 Jahren Haft verurteilt wegen<br />
Landesverrat. Der gleiche Vorsitzende Richter, Mr. Justice Tucker, verurteilte dann Jahre später<br />
William Joyce zum Tod durch den Strang im Old Bailey Court.<br />
Die von Joyce angeheuerten Kriegsgefangenen, die Radiosprecher werden sollten, erwiesen sich fast<br />
alle als Versager wegen ihrer mangelhaften Allgemeinbildung. Schlechte Aussprache, Unfähigkeit zur<br />
flüssigen Rede am Mikrofon, verkorkstes Sprachgefühl usw. bereiteten Joyce grosses<br />
Kopfzerbrechen. Ab und zu durften die POW - begleitet von einem Aufpasser der SS - Bordelle<br />
besuchen zur Aufhellung ihrer Stimmung. Das Team von acht Freiwilligen Ansagern schrumpfte auf<br />
drei und zuletzt auf zwei Köpfe, während die Versager in ihr Lager heimkehrten nach Thorn.<br />
Am 12. Februar 1941 musste sich William Joyce als frisch gebackener preussischer (deutscher)<br />
Staatsbürger für den Militärdienst mustern lassen. Man stufte ihn bei den Reservisten ein. Nationalität:<br />
“Deutsch, ehemals britisch“. In der Spalte für Religionszugehörigkeit wählte das Paar “Gottgläubig“<br />
(wie in Deutschland damals oft üblich). Beruf des Vaters: “Architekt“. Das war gelogen, weil “Bau-<br />
Unternehmer“ der Wahrheit näher sein durfte. Williams Beruf: “Rundfunk-Journalist“.<br />
Margret versinkt im Liebeskummer<br />
Weil William sich fast nur noch um Alkohol und seine Arbeit kümmerte, konnte es nicht ausbleiben,<br />
dass Margaret den Lockungen eines gewissen Nicky erlag, eines Offiziers der SS mit Charme und<br />
sprühendem Humor. Margret hielt es für angebracht, mit offenen Karten zu spielen und ihrem<br />
Ehemann alles freimütig zu gestehen.<br />
Joyce reagierte verblüfft, aber ohne den üblichen Wutausbruch. Margret zog zu einer Freundin, um<br />
Abstand zu gewinnen. Ein Gutshof nahe Danzig bot nun Gelegenheit zum Nachdenken. Am<br />
Rundfunkgerät der Freundin konnte man Programme von Lord Haw-Haw mithören.<br />
27
Diesmal tönte der Überläufer stolz: “Ich, William Joyce, habe England verlassen, weil ich nicht für die<br />
Juden gegen Hitler kämpfen wollte und den Nationalsozialismus. Ich liess Grossbritannien hinter mir,<br />
weil England eine Niederlage verdient hat, um endlich zur Vernunft zu kommen!“<br />
Die britischen Zuhörer fanden solche Enthüllungen nicht mehr besonders aufregend. In der Presse<br />
war die Nachricht bloss wenige Zeilen wert. Nach Margrets Rückkehr hatte Joyce Nägel mit Köpfen<br />
gemacht und den verdutzten Liebhaber zur Rede gestellt, um ihn von seiner Ehefrau fern zu halten.<br />
Joyce sorgte dafür, dass Margret einer anderen Redaktion zugeteilt wurde als bisher. Journalistisch<br />
arbeitete das Paar jedoch weiter zusammen, obwohl Margret sich eine neue Unterkunft in Berlin<br />
gesucht hatte. Die Kollegen sprachen nunmehr von “Lady Haw-Haw“ und grinsten verständnisinnig.<br />
Als Knalleffekt sprang inzwischen Rudolf Hess mit dem Fallschirm über Schottland ab, sichtlich<br />
verwirrt.<br />
Im Redaktionsbüro Concordia ging es drunter und drüber. Man musste nach Indien senden, wegen<br />
der Luftangriffe wurde die Umsiedlung nach Holland erwogen. Jugoslawien sollten bedient werden,<br />
dazu Russland. Ehemalige Sowjet-Offiziere meldeten sich freiwillig als Kommentatoren und waren<br />
kaum zu zügeln in ihrer Disziplinlosigkeit. Eine gescheite Frau deutsch-russischer Herkunft bemühte<br />
sich halbwegs um Ordnung im Kontor. Als Ratgeber funktionierte ein abgedankter deutscher<br />
Kommunist. In London verkündete jetzt die britische Regierung, dass sämtliche Engländer im<br />
Rundfunkdienst der Nazis nach dem Sieg vor Gericht gestellt würden.<br />
Der beliebte<br />
Volksempfänger zum<br />
Niedrigpreis mit einem<br />
Bakelitgehäuse aus<br />
billigem Kunststoff<br />
jener Zeit.<br />
28
Joyce widmete sich seinen privaten Problemen und reichte die Scheidung von Margret ein,<br />
sozusagen nur eine Formsache. Dessen ungeachtet traf er sich regelmässig mit Margret an ihrem<br />
freien Tag zum Lunch oder Abendessen, um ihr seine unverbrüchliche Liebe zu gestehen. Eine<br />
Scheidung würde garnichts verändern, zumal die NSDAP Scheidungen ja missbilligte. Alles sollte<br />
diskret geregelt werden.<br />
Am 12. August 1941 klagte Joyce wegen Ehebruch und Margret erhob Gegenklage wegen<br />
Grausamkeit. Forderte die Ehefrau Unterhaltszahlungen? Nein danke, sie hatte ja einen Beruf mit<br />
eigenem Einkommen. Die Trennung wurde gerichtlich vollzogen und man teilte sich die Kosten.<br />
Nachdem die Anwälte und das Paar zum Ausgang gegangen waren, staunten die Juristen nicht<br />
schlecht: Mitten auf der Strasse umarmten sich die Eheleute stürmisch, vereinigt in einem endlosen<br />
Kuss unter Tränen ...<br />
William und Margret verbrachten den ganzen Tag miteinander, teils im Hotel Kaiserhof Restaurant und<br />
teils in anderen Lokalen, glücklich vereint und getrennt zugleich. Schweren Herzens trennten sie sich<br />
spät abends: Joyse pilgerte ins Appartement Kastanien Allee, Margret zur Freundin Bülowstrasse.<br />
Die Eheleute konnten weder miteinander noch ohne einander zurecht kommen, wie es schien, sodass<br />
sie sich für die “freie Liebe“ entschieden. Nicky liess nicht locker, um Margret an sich zu binden.<br />
Margret zog zu ihm in eine Villa während seines Urlaubs. William war abgemeldet und grämte sich.<br />
Nun sollte er auch noch Stationen in Luxembourg und Breslau betreuen, Amerika-Programme und<br />
anderes mehr. Ihm platzte der Kopf!<br />
Nicky reiste wieder an die Ostfront und Margret sass allein da, geplagt von Gastritis. Prompt eilte<br />
Joyce herbei, besorgte ärztliche Fürsorge, umschwärmte sie liebevoll und umsichtig. Margret konnte<br />
nicht länger widerstehen und das Paar zog erneut zusammen. Nicky erhielt einen Abschiedsbrief.<br />
Weil Ordnung sein musste, entschieden sich Margret und William, nochmals diskret zu heiraten, was<br />
auch passierte. Am 11. Februar 1942 war es in einer Amtsstube zu Charlottenburg so weit. Drei Tage<br />
später meldete sich Nicky telefonisch mit einem Wutausbruch wegen des Abschiedsbriefes, aber<br />
vergeblich.<br />
Joyce wurde zum Chef-Kommentator befördert ab Juni mit 1.200 Reichsmark (60 Pfund Sterling)<br />
Gehalt monatlich. Zusätzliche Vergünstigungen: Urlaubsreisen ins Ausland, nach Norwegen, in die<br />
Türkei oder Portugal. William wählte Norwegen, durfte nach Oslo fliegen, Margret folgte mit der Bahn<br />
und zu Schiff. Man residierte im Gauleiter Luxushotel. Nie wieder würde das Paar so glückliche<br />
Stunden gemeinsam verleben dürfen wie in Norwegen.<br />
Lord Haw-Haw lebte unverdrossen in den Tag hinein und kümmerte sich nicht um die zunehmende<br />
Lebensgefahr, in der er sich demnächst befinden würde angesichts der vorrückenden alliierten<br />
Streitkräfte. Das Ministerium für Propaganda und der Reichsrundfunk verteilten grosszügig falsche<br />
Ausweispapiere mit Decknamen an die englischen Mitarbeiter, allerdings bei näherer Betrachtung<br />
nicht allzu vertrauenswürdig.<br />
Direktor Toni Winkelkämper, der Chef des Ausland-Kurzwellen-Dienstes, wollte das BÜRO<br />
CONCORDIA nach Dresden umsiedeln, doch fand man dort keine brauchbaren Gebäude und<br />
technischen Einrichtungen. Die Berliner Redaktionsräume leerten sich auf gespenstische Weise.<br />
Am 8. März 1945 meldete das Londoner Blatt THE STAR, dass der meistgesuchte Vaterlandsverräter<br />
Lord Haw-Haw wahrscheinlich als angeblich irischer Staatsbürger dem Galgen entkommen wollte, um<br />
sich in der Republik in Sicherheit nieder zu lassen. Das Gerücht entbehrte jeder Grundlage.<br />
Reichsminister Dr. Joseph Goebbels hatte Anweisungen gegeben, dass die Eheleute Joyce unbedingt<br />
vor den Alliierten gerettet werden und nach Schweden evakuiert werden müssten mit Hilfe eines<br />
Fischerboots über Dänemark. Der Plan hörte sich gut an, versagte aber zuletzt wegen fehlerhafter<br />
Koordination der Helfershelfer und dem schnellen Vormarsch der Briten im deutsch-dänischen<br />
Grenzgebiet.<br />
29
Im März 1945 übersiedelten die englischen Rundfunksprecher mit Gefolge nach Apen, einem Ort<br />
zwischen Bremen und der niederländischen Grenze, um von dort aus weiter zu senden mit<br />
Richtstrahler Grossbritannien. In reservierten Abteilen der Reichsbahn bewegte sich der Tross<br />
Richtung Oldenburg Erster Klasse, wo man in einen Bummelzug umsteigen musste, bepackt mit<br />
Fernschreibern, persönlichem Eigentum und Stapeln von Akten.<br />
Im Bahnhofshotel hatten inzwischen Tontechniker und andere Fachleute einen provisorischen Sender<br />
aufgebaut. Die Fernschreiber wurden angeschlossen und stellten Verbindungen mit Berlin her für den<br />
Nachrichtenfluss. Am 28.März reiste Margret mit einem Techniker nochmals nach Berlin, um<br />
fehlendes Zubehör für den Sender sowie persönliche Sachen abzuholen (vor allem Zigarren für<br />
William). Am Karfreitag löste sich BÜRO CONCORDIA in Berlin restlos auf.<br />
Ein Redakteur namens Winter hatte sich ein stattliches Segelboot beschafft und wollte damit nach<br />
Schweden verschwinden. Er traf nie dort ein, nachdem sich seine Spur verloren hatte. Dr. Hetzler<br />
verteilte an jeden Mitarbeiter der englischen Sektion Bargeld: drei Monatsgehälter im voraus. Er<br />
deponierte 250.000 Reichsmark in einer Bank zu Helmstedt “für Notfälle“. Schliesslich tauchten noch<br />
die Araber vom arabischen Kurzwellen Service auf, um zu kassieren.<br />
Eine Autokolonne bewegte sich dann Kurs Helmstedt, wo zahlreiche Inder im Hotel fest sassen,<br />
Redakteure des Indian Radio Service. Diese Inder hatten bisher von Holland aus gesendet und sich<br />
jetzt auf deutsches Territorium zurück gezogen. Abends funktionierte bereits der Transmitter mit dem<br />
NBBS Programm. Margret gelang es, auf zeitraubenden Umwegen mit der Bahn wieder Apen zu<br />
erreichen mit ihrem vielseitigen Gepäck amtlicher und privater Natur.<br />
Am 7. April 1945 spuckte der Fernschreiber eine Nachricht von Goebbels aus, dass die Eheleute<br />
Joyce endlich nach Schweden abhauen müssten, weil es auf jede Minute ankomme. Ein Auto wurde<br />
mit Fahrer organisiert und Hamburg sollte zunächst angesteuert werden. Goebbels hatte die neue<br />
Idee, William und Margret mit einem deutschen Unterseeboot nach Irland in Sicherheit bringen zu<br />
lassen.<br />
Verworrene Fluchtwege kreuz und quer<br />
In Hamburg kamen William und Margret erst im Hotel Atlantik und dann im Vier Jahreszeiten unter.<br />
Der Sendebetrieb lief unverdrossen auf Hochtouren, ständig durch Luftangriffe behindert. Plötzlich<br />
hiess es, dass alle deutschen Unterseeboote “ausgebucht“ waren für geheime Zwecke und Irland fiel<br />
als Rettungsanker ins Meerwasser.<br />
30
Neue (falsche) Papiere trafen ein. Joyce hiess jetzt Wilhelm Hansen, Beruf Lehrer, geboren in Galway<br />
(Irland) am 11. März 1906, wohnhaft in Hamburg, besonderes Kennzeichen: Narbe quer über der<br />
rechten Wange! Datiert vom 3. November 1944 rückwirkend. Joyce beurteilte das Dokument als<br />
miserablen “Pfusch der Gestapo“ und behielt seinen Wehrpass als Volkssturm-Angehöriger und<br />
deutscher Staatsbürger (wie er glaubte, zur Sicherheit).<br />
Am 24. April 1945, also am Geburtstag des William Joyce, wurde von Hamburg und Bremen eifrig<br />
Richtung England gesendet mit dem Programmtitel VIEWS ON THE NEWS. Zum 30. April<br />
versammelte sich das deutsch-britische Team, um zu beraten, wie man mit heiler Haut davonkommen<br />
könnte.<br />
Joyce bereitete seine letzte Ausstrahlung vor, was auf erhebliche Probleme stiess, weil sämtliche<br />
Techniker sturzbesoffen waren und er selber sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Mit<br />
eiserner Disziplin und schwerer Zunge spulte man gemeinsam die “Farewell Botschaft“ ab.<br />
Vorsichtshalber wurde die Ansprache zunächst auf Wachsmatrize gespeichert, um die schlimmsten<br />
“Gedächtnislücken“ des Sprechers zu korrigieren, der auffallend lallte.<br />
William Joyce Mai 1945: Angeschossen und verhaftet<br />
31
Die letzten Worte für die Ohren britischer Zuhörer lauteten: “HEIL HITLER AND FAREWELL“.<br />
Apathisch wartete Joyce auf die zugesagte Rettungsaktion für sich und seine Ehefrau, aber es<br />
meldete sich niemand mehr bei ihnen. BÜRO CONCORDIA sendete noch in Braunschweig,<br />
Helmstedt und Oebisfelde bis kurz vor dem Eintreffen amerikanischer Truppen. Alle Ausländer<br />
verfügten über gefälschte deutsche Papiere und versteckten sich danach vorzugsweise in den<br />
Niederlanden in der Rolle ehemaliger Zwangsarbeiter, was Erfolg versprach.<br />
Dr. Hetzler glückte es, Ausweise für angeblich holländische Zwangserbeiter vom Landratsamt zu<br />
besorgen. Es gab genug Blanko-Dokumente in Braunschweigs Amtsstuben zur beliebigen Nutzung.<br />
Die Inder organisierten einen kleinen Omnibus und reisten damit nach Osten, um sich den Russen als<br />
“Freiheitskämpfer und Nazigegner“ zu präsentieren. Die Sowjetsoldaten nahmen überraschend den<br />
Bus weg und schickten die verdutzten Braunhäutigen lachend westwärts zurück.<br />
Als letzter sendete ein Pole namens Kowalski unverdrossen für Radio Concordia in Richtung Osten.<br />
Danach wurden alle technischen Geräte zerstört und Unterlagen verbrannt.<br />
Tatsächlich kamen nochmals Männer der SS, um Joyce ihre Hilfe anzubieten, doch änderte sich die<br />
Feindlage stündlich. Dänemark war in die Hände von Aufständischen geraten, die eifrig Nazis<br />
festzunehmen versuchten und die Wehrmacht suchte ihr Heil in der Flucht. Es gab kein Fischerboot<br />
mehr Kurs Schweden. Jetzt steckte man in Flensburg fest. Reichsführer SS und Chef der deutschen<br />
Polizei, Heinrich Himmler, geisterte mit seinem Stab umher, um von seinen Getreuen bei einem<br />
Empfang im Rathaus Abschied zu nehmen.<br />
Joyce begegnete zufällig einem SS-Offizier, den er aus Berlin kannte, und bekam mit dessen Autorität<br />
ein schönes Hotelzimmer vermittelt. Joyce wollte weder den Freitod wählen noch irgendwohin<br />
flüchten, sondern in Ruhe einfach abwarten. Im Reichsrundfunk hielt Hitlers Nachfolger, Grossadmiral<br />
Dönitz, eine Ansprache, denn einige deutsche Sender waren noch in Betrieb.<br />
Lord How-How mit britischen Bewachern<br />
32
Überall wimmelte es inzwischen von englischen Soldaten, die sich lediglich für nette deutsche<br />
Mädchen interessierten (und sonst garnichts). William Joyce beschloss, Russisches Roulette<br />
zuspielen: Er wollte so oft und so lange draussen spazieren gehen, bis ihn irgendein Brite erkennen<br />
und verhaften würde! Joyce nutzte die Gelegenheit, mit vielen Uniformierten zu plaudern und stellte<br />
sich als Deutscher vor, der Englisch studiert hatte im Ausland und sich über die Befreiung<br />
Deutschlands von den Nazis freute.<br />
Dieses wagemutige Spiel musste früher oder später schlimm enden. Während eines Spaziergangs im<br />
Wald begegnete Joyce zwei britischen Offizieren, die trockenes Brennholz für ein Lagerfeuer<br />
sammelten. Freundlich grüsste er sie in französischer Sprache und half beim Sammeln brauchbarer<br />
Äste. Captain Alexander Adrian Lickorish und Lieutenant Perry bedankten sich. Tollkühn erwähnte<br />
Joyce dann, dass “er auch Englisch Konversation machen könne“.<br />
Das wurde ihm zum Verhängnis, denn die Offiziere erkannten schnell den Tonfall des berüchtigten<br />
Lord Haw-Haw und forderten seine Ausweispapiere zu sehen. Joyce griff in seine Rocktasche, um<br />
den Wehrpass vorzuzeigen. Die irritierten Offiziere fürchteten einen Pistolenschützen in Aktion und<br />
Perry schoss drauflos. Joyce wunde mehrfach getroffen und schrie laut: “My name is Fritz Hansen!“<br />
Lieutenannt Perry (Deckname) gehörte zur British Military Intelligence, war also Offizier der Abwehr<br />
und Gegenspionage. Ironie der Weltgeschichte: Der junge Mann war jüdischer Abstammung und<br />
“erledigte“ ahnungslos den Judenhasser Joyce.<br />
Lord Haw-Haw hatte ausgespielt und Lady Haw-Haw geriet kurz danach ebenfalls in britische<br />
Gefangenschaft als Komplizin. William wurde medizinisch versorgt und das Paar sollte in<br />
Kupfermühle weiter interviewt werden. Margret konnte ihrem Mann noch zurufen “ERIN GO BRAA“ in<br />
irischer Sprache (Möge Irland allezeit gedeihen!) Sie wollte ihm damit sagen, er sollte sich darauf<br />
berufen, irischer Staatsbürger zu sein, um seinen Hals zu retten.<br />
Margret musste sich eine Woche lang mit einem Zimmer beim Hauptquartier der Second Army in<br />
Lüneburg begnügen, stets bewacht. Diese Unterkunft befand sich in der gleichen Villa, wo Himmler<br />
mit einer Zyankali Kapsel den Freitod gewählt hatte.<br />
Geburtsurkunde<br />
von William Joyce<br />
aus New York:<br />
24. April 1906<br />
33
Im Lazarett Lüneburg nutzten die Engländer die aufregende Bekanntschaft mit Lord Haw-Haw, um ihn<br />
ausgiebig zu befragen und er beantwortete die Neugier der Abwehrleute mit sichtlichem Vergnügen,<br />
weil im Mittelpunkt des Interesses stehen durfte. Das war ihm am wichtigsten ...<br />
Nach Lüneburg ging die Fahrt Richtung Brüssel, wo Joyce eine Woche blieb bis zum Flug nach<br />
England. Während der Überführung bat ein Aufpasser den Gefangenen um ein Autogramm und Joyce<br />
schrieb nachdenklich: “Gerade überfliegen wir die weissen Kalkfelsen von Dover, Englands Bollwerk.<br />
Es ist ein heiliger Augenblick meines Lebens. Was auch immer noch mit mir geschehen mag, Gott<br />
segne das Alte England dort unten!“<br />
William Joyce geriet alsbald in die Mühlen der britischen Justiz mit komplizierten Verfahrensweisen,<br />
die erst einmal die Zweifel an seiner schillernden Staatsangehörigkeit ausräumten. Er war demzufolge<br />
im juristischen Sinn weder Ire noch Amerikaner, sondern zweifellos Brite und somit schuldig des<br />
Hochverrats.<br />
Die Anklage stützte sich auf ein Gesetz von 1351, ursprünglich in normannischem Französisch<br />
abgefasst ohne Punkt und Komma. Es ging dabei um zwei Punkte: einmal Hochverrat an der Krone,<br />
ausserdem Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft. Am 7. November 1945 wurde die Berufung<br />
zurückgewiesen, sodass nur ein Gnadengesuch an das Oberhaus übrig blieb als allerletzte Hoffnung.<br />
Faksimile vom Abschiedsbrief des William Joyce an Margret<br />
34
William wechselte so oft wie möglich ausführliche Briefe mit seiner Margret, die im Frauengefängnis<br />
Holloway einsass und ihn mehrmals besuchen durfte. Der Tod durch den Henker stand Anfang Januar<br />
1946 bevor, nachdem alle Möglichkeiten der Verteidigung ausgeschöpft erschienen.<br />
Im letzten Schreiben an Margret Joyce hiess es unter anderem:<br />
“Geliebte Freya! In dieser letzten Stunde meines irdischen Daseins bestätige ich alle meine<br />
Liebesschwüre Dir gegenüber mit dem Versprechen ewiger Verbundenheit. Ich habe soeben die<br />
Heilige Kommunion empfangen und wir beteten gemeinsam für Dich. Heute morgen spüre ich den<br />
Geist des Apostels Paulus so stark in mir. Ich möchte nicht mehr zu Papier bringen ...“<br />
“Dein gestriger Brief war der allerschönste, den Du mir jemals übermittelt hast. Vor meinem letzten<br />
Gang in die Ewigkeit möchte ich Dich nochmals meine tiefe Liebe wissen lassen.“<br />
“Wir haben doch gesiegt! Ich grüsse Dich, Freya, als Dein ewig Geliebter. Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg<br />
Heil! - DEIN WILL.“<br />
“Beim letzten Appell, Volkssturm-Mann Bataillon Wilhelmplatz. Yp-Baa - 0836 Uhr - Alle meine Küsse.“<br />
Die Hinrichtung fand am 3. Januar 1946 durch den Strang statt in der Strafanstalt Wandsworth. In der<br />
Rubrik BERUF verzeichnet der Totenschein das Wort KEIN. Rubrik “Letzter Wohnsitz im Vereinigten<br />
Königreich: KEINER bzw. UNBEKANNT.<br />
Das Todesurteil blieb unter zahlreichen Juristen umstritten, weil es als Akt der Rache angesehen<br />
wurde. Viele britische Angehörige des in Berlin und anderenorts zu William Joyce gehörenden Teams<br />
der Rundfunksprecher blieben ungeschoren oder erhielten nur geringfügige Strafen (einige Monate<br />
hinter Gittern). Die englische Krone fühlte sich gedemütigt durch die Hohn-und-Spott-Kurzwellen-<br />
Mückenstiche ...<br />
Urkunde der Exekution<br />
35
Propaganda über Kurzwelle Amerika<br />
Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, beschäftigte der Berliner Reichsrundfunk 150<br />
Redakteure, Techniker, Informanten, freie Mitarbeiter usw. im Bereich der Kurzwellen-Programme<br />
Richtung Übersee. 10 Richtstrahler-Antennen bedienten sechs Zonen mit 69 Programmstunden<br />
täglich in sechs Fremdsprachen:<br />
Englisch für Nordamerika, Asien, Australien und Sektoren Afrikas. Spanisch für Mittel- und<br />
Südamerika, Portugiesisch für Brasilien und die portugiesischen Kolonien Afrikas, Niederländisch für<br />
East India (Kolonien), Arabisch für den Mittleren Osten sowie Afrikaans für die Republik Südafrika.<br />
Man brauchte muttersprachlich qualifizierte Redakteure, Kommentatoren, Nachrichtensprecher,<br />
Übersetzer, Hilfskräfte. Interessanterweise handelte es sich bei den meisten Angestellten nicht um<br />
Parteigenossen, sondern um politisch neutral orientierte Experten auf ihrem Fachgebiet. Die Herren<br />
Winkelkämper, Häuschen und Kamm (als Führungsfiguren) mussten naturgemäß linientreue NSDAP<br />
Funktionäre sein neben ihrer fachlichen Befähigung.<br />
Eduard Dietze, Chef der englischen Abteilung, erklärte nach Kriegsende unter anderem: „Weil es<br />
keine qualifizierten Nazis gab für solche Jobs, konnte konnte man auch keine vor unsere Nasen<br />
setzen. Das erleichterte die Tätigkeit beträchtlich!“<br />
1941 operierten 11 Transmitter mit zusammen 467 kW am Standort Zeesen. Etwas später kamen<br />
weitere vier Transmitter in München-Ismaning hinzu, zwei davon mit zusammen 150 kW. Schliesslich<br />
nochmals zwei mit 100 kW im Jahr 1942. Im Januar 1942 begann der Kurzwellensender in Öbisfelde<br />
an der Aller zu arbeiten, nordöstlich von Braunschweig gelegen. Er leistete 300 kW mit seinen drei<br />
Transmittern. Letzte Verstärkung: 1944 standen dort 11 Transmitter mit zusammen 825 kW Leistung.<br />
36
In Elmshorn bei Hamburg betrieb man ab Juni und November 1943 zwei Transmitter mit jeweils 50<br />
kW für den Kurzwellen Service innerhalb der besetzten Gebiete: Podiebrad (Böhmen), Huizen-<br />
Kootwijek (Niederlande), Allouis-Isoudon Pontoise (Frankreich). 1943 funktionierten 23 Transmitter im<br />
Kurzwellenbereich, genauer sogar 30 (einschliesslich kleiner Nebenstationen in Belgien, Norwegen,<br />
Griechenland, Ukraine). Das bedeutete komplett 1.500 kW.<br />
Um 1943 existierte eine NORTH AMERICA ZONE im redaktionellen Rahmen Berlins, spezialisiert auf<br />
Nachrichten in stündlicher Wiederholung mit neun Schwerpunkten (Prime Time News). Ergänzungen<br />
lieferten bis zu fünf Kommentare täglich, wobei stets die „jüdisch-kommunistische Weltverschwörung“<br />
ins rechte Licht gerückt werden musste.<br />
Am 26. Juli 1943 - also 18 Monate nach Hitlers Kriegserklärung - reagierten die USA mit einem<br />
Donnerschlag: sechs amerikanische Staatsangehörige wurden in Abwesenheit wegen Hochverrat von<br />
einer Federal Grand Jury angeklagt in Washington, D.C. Man warf ihnen dort „kriegsbedingten<br />
Landesverrat“ vor „unter erschwerten Umständen“.<br />
Alle Angeklagten zählten zu den Mitarbeitern der deutschen Reichsrundfunk Gesellschaft (RRG) in<br />
Berlin, Redaktion North American Services. Ihre Namen: Fred Kaltenbach, Edward Delaney,<br />
Constance Drexel, Douglas Chandler, Jane Anderson und Robert Best.<br />
Fast alle hatten nach dem Ersten Weltkrieg die Vereinigten Staaten von Amerika Kurs Europa<br />
verlassen, weil sie wegen der Wirtschaftskrise und damit verbundenen Arbeitslosigkeit (Bankenkrach<br />
1929 Wall Street) eine neue Existenz in Übersee suchten. In Paris, Berlin und Florenz wimmelte es<br />
damals nur so von hungrigen Künstlern und Schriftstellern aus den USA, die sich an jeden Strohhalm<br />
klammerten.<br />
1933 klopften einige an die Türen der Nationalsozialisten, um dort die Wirtschaftslage zu erkunden.<br />
Die Radaubrüder in ihren Braunhemden weckten zumindest Neugier. Die Volkszählung im Mai 1939<br />
ergab im Reich, dass 6.177 Amerikaner mehr schlecht als recht in Deutschland zu überleben<br />
versuchten. 70 Prozent hatten deutsche Vorfahren. Teilweise gab es Yankees mit doppelter<br />
Staatsbürgerschaft, weil die amerikanischen Gesetze den Kindern dieses Personenkreises (in den<br />
USA geboren) den Pass der USA gestatteten. Im Reich galten die Sprösslinge durchweg als echte<br />
Deutsche.<br />
Antennen-Wahlschalter für sechs Sender auf 20 Antennen<br />
37
Einer der ersten Deutsch-Amerikaner, die sich um einen Job beim Radio bemühten, hiess Fred<br />
Kaltenbach. William L. Shirer, Radio-Korrespondent für Columbia Broadcasting System (CBS) in<br />
Berlin, erwähnt in seinem BERLIN DIARY unter anderem:<br />
„Fred Kaltenbach ist wahrscheinlich der tüchtigste Mitarbeiter beim deutschen Kurzwellenradio, ein<br />
fanatischer Nazi vom Scheitel bis zur Sohle sowie Besserwisser. Ich habe ihn im Wald von<br />
Compiegne beobachtet während der Verhandlung zum Waffenstillstand 1940. Man wollte ihn nicht<br />
dort als Reporter auftauchen sehen, aber er schmuggelte sich mit List und Tücke bis zum Ziel und fiel<br />
unangenehm auf als St8renfried. Das hat ihn nicht entmutigt.“<br />
Wer war dieser originelle Typ Kaltenbach? - Sohn eines eingewanderten deutschen Fleischers,<br />
geboren am 25. März 1895 in Dubuque, Iowa. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wollte es der Zufall,<br />
dass Frederick Wilhelm Kaltenbach mit einem seiner Brüder gerade auf Deutschlandbesuch weilte<br />
und kurze Zeit bis zum Dezember 1914 in einem Internierungslager verbringen musste.<br />
Delaney als<br />
Vertragsredner<br />
auf Tournee<br />
Kaltenbach in<br />
der Vorschau<br />
zum Programm<br />
38
Zurück in der neuen Heimat widmete sich Kaltenbach seiner akademischen Ausbildung und studierte<br />
Erziehungswissenschaften, was ihm zu einer Anstellung als Lehrer in Iowa verhalf. 1932 machte sich<br />
der junge Mann erneut auf den Weg nach Germany, von Neugier auf die taufrischen Nazis und deren<br />
Ideologie angetrieben.<br />
Das hatte Konsequenzen, denn nach der Rückkehr in die USA kündigte man dem Nachwuchs-<br />
Nationalsozialisten die Anstellung, nachdem er eine Ortsgruppe der Hitler Jugend ins Leben gerufen<br />
hatte! Im Juni 1933 reiste Fred Kaltenbach nochmals nach Berlin, angeblich aus Gründen<br />
wissenschaftlicher Fort- und Weiterbildung, und heiratete eine junge Deutsche. 1936 krönte der<br />
Ehrgeizling sein Studium mit dem Doktortitel der Philosophie, was ihm die Türen zur Reichsrundfunk<br />
Gesellschaft öffnete für eine reizvolle Karriere in der Redaktion des Kurzwellensenders.Der Nazi-<br />
Freund erschien hochwillkommen.<br />
Es stellte sich heraus, dass Kaltenbach lebhaftes Talent im Rahmen kabarettistischer Hohn- und<br />
Spott-Programme entwickelte, um sich über Kapitalismus, Bolschewismus und Judentum in den USA<br />
und England lustig zu machen.<br />
Kaltenbach erfand „Kunstfiguren“ in einem originellen Rollenspiel vor dem Mikrofon, etwa Gespräche<br />
zwischen „Fred und Fritz“, zwei dusseligen Typen, die sich die Köpfe über Churchill und Roosevelt<br />
heiss redeten und den drohenden „Untergang der Plutokratie“.<br />
Einmal wöchentlich sendete Kaltenbach über Kurzwelle Neuigkeiten und Grüsse an seine alten<br />
Freunde in Iowa mit voller Nennung ihrer Namen und Anschriften, was diese ahnungslosen Personen<br />
in peinliche Verlegenheit gegenüber dem amerikanischen Geheimdienst FBI brachte! Ein Teil jener<br />
Programme wurde vom BBC Monitoring Service aufgezeichnet und ist bis heute erhalten geblieben in<br />
BBC Archiven.<br />
Ausfahrbarer Viertelwellen<br />
Rundstrahler mit einer<br />
automatischen Abstimmung<br />
für den Wellenbereich von<br />
58 bis 8 m in Zeesen.<br />
39
Zu den Adressaten der regelmässigen Grussbotschaften in Iowa gehörte der ehemalige Schulfreund<br />
und spätere Rechtsanwalt Harry Hagemann. Es gelang ihm nur mit unendlicher Geduld und<br />
Überzeugungskraft, den Behörden seine „totale Ahnungslosigkeit“ nachzuweisen, weil er im Verdacht<br />
der Komplizenschaft und des Landesverrats stand.<br />
Zur Abwechslung entwickelte Kaltenbach immer wieder neue Figuren, etwa „Jim, der bauernschlaue<br />
Milchmann“, eine gelungene Lachnummer. Jim plauderte mit dessen Freund Johnny und erläuterte<br />
ihm den „schon längst verloren gegangenen Krieg“. Da aber Johnny doof war und an den Sieg<br />
glauben wollte, tischte Jim dem Kumpel haarsträubende Lügengeschichten auf und jagte ihm Angst<br />
ein.<br />
Neben Kaltenbach spielte der notorische Judenhasser Leo Delaney in Berlin eine wesentliche Rolle.<br />
Der 1885 in Olney, Illinois geborene Sohn irischer Einwanderer wuchs in Chicago auf und fühlte sich<br />
zum Circus und Varieté hingezogen. Unentwegt reiste er mit Wanderbühnen durch Amerika, klebte<br />
am Schmierentheater ohne nennenswertes Talent und bemühte sich um kleine Filmrollen bei Cecil B.<br />
de Mille, genauer gesagt um Stummfilm-Verpflichtungen, was missglückte.<br />
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs und später versuchte Delaney sein Glück in Südafrika, wo der<br />
Amerikaner Isidore William Schlesinger eine Reihe kleiner Bühnen unterhielt. Wieder kein Erfolg.<br />
Neue Anbahnungen führten Richtung Paris und London zu miserablen Wanderbühnen. 1924 bot sich<br />
ein Job als Angestellter des Filmverleihs MGM.<br />
Was in der nächsten Zeit so alles mit dem Unglücksraben passierte, ist nicht weiter bekannt.<br />
Überraschend vermittelte die deutsche Botschaft zu Washington, D.C. einen Aufenthalt in<br />
Deutschland, weil Delaney inzwischen als heftiger Kritiker und Leserbriefschreiber gegen die Politik<br />
des Präsidenten Roosevelt den Nazis angenehm aufgefallen war. Im Juli 1939 kam es zu Gesprächen<br />
im Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda und einer Offerte, in den Dienst dieser<br />
Einrichtung zu treten.<br />
Delaney ergriff die rettenden Hände zur Existenzgründung und zählte ab Ende 1939 zur Redaktion<br />
des Kurzwellensenders mit dem Pseudonym E.D. WARD und Sonderaufgaben. Das bedeutete:<br />
ausgedehnte Reportagereisen in den besetzten und neutralen Staaten. Im April 1943 hielt sich der<br />
rasende Reporter in Prag auf. Dort blieb er aus unbekannten Gründen hängen.<br />
Organisation des deutschen Propagandafunks Berlin<br />
40
Der Aufenthalt in Prag und der Slowakei wurde im weiteren Verlauf des Kriegs zum Verhängnis. Als<br />
die Rote Armee Prag erobert hatte, lernte der ruhelose Delaney zwei Reporter der amerikanischen<br />
Soldatenzeitung THE STARS AND STRIPES kennen: Klaus Mann, ein Sohn von Thomas Mann,<br />
sowie Howard Byrne im Mai 1945. Vor ihnen prahlte Delaney mit seiner glorreichen Vergangenheit<br />
beim Reichsrundfunk, was zur Verhaftung durch die tschechoslowakischen Behörden und die<br />
Überstellung an den Geheimdienst der US Army führte. Dort liess man ihn nach einem Verhör wieder<br />
laufen.<br />
Im März 1946 interessierte sich das Counter Intelligence Corps (CIC) nochmals für den seltsamen<br />
Nazi-Überläufer und brachte ihn nach: Oberursel bei Frankfurt am Main in ein Camp für verdächtige<br />
Elemente. Im August durfte er gehen,allerdings ohne amerikanischen Pass. Erst im Juli 1947 erfolgte<br />
zwangsweisse die Auslieferung Kurs USA mit neuer Haft.<br />
Redegewandt versicherte Delaney vor Gericht, er habe sich in Berlin nur als „glühender Kämpfer<br />
gegen den Bolschewismus“ am Mikrofon ausgetobt zur Rettung des Abendlandes, allerdings<br />
unterstützt vom Dritten Reich. Diese Argumente überzeugten die Juristen und sie liessen den<br />
Schlaumeier in Ruhe ohne sonstige Auflagen. Im Alter von 86 Jahren am 1. Juli 1972 fiel der<br />
Weltenbummler einem Auto-Unfall zum Opfer in Glendale, California.<br />
Neben Gestalten wie Delaney machten sich aber auch eifrige Frauen aus Amerika bei den<br />
Propagandisten in Berlins Radio-Redaktionen nützlich. Constance Drexel kam am 28. November<br />
1894 in Darmstadt zur Welt. Ihr Vater war Geschäftsmann, die Mutter stammte aus der Familie eines<br />
schweizerischen Uhrenfabrikanten. 1895 liess sich Familie Drexel in Roslindale, Massachusetts<br />
nieder. Das Mädchen besuchte mehrere Internate in den USA und Europa. Zuletzt folgten<br />
Studienjahre an der Sorbonne zu Paris.<br />
(Motiv Krankenschwester Drexel)<br />
Während des Ersten Weltkriegs<br />
meldete sich Constance Drexel als<br />
Krankenschwester beim<br />
Amerikanischen Expeditionskorps<br />
(AEF) in Frankreich während ihrer<br />
Studien an der Sorbonne.<br />
41
Weil sich die Eltern getrennt hatten, lebte Constance bei ihrer Mutter in Frankreich, meldete sich bei<br />
Kriegsausbruch 1914 freiwillig als Krankenschwester und versuchte ab April 1915 erste Schritte im<br />
Journalismus, um für die NEW YORK TlMES zu berichten. Energisch setzte sich die junge Frau<br />
überall für Frauenrechte ein in politischen Kreisen einschliesslich Polens und der CSSR. Ab 1920<br />
arbeitete Constance dann in den USA bei verschiedenen Zeitungen, auch als Europa-Reporterin.<br />
1935 erwachte das Interesse an Nazi-Deutschland.<br />
Mit Argwohn und Befremden beobachteten andere amerikanische Korrespondenten in Berlin, wie ihre<br />
Kollegin sich zur übereifrigen „Nazi-Tante“ mauserte, weil Adolf Hitler - nach ihrer Meinung - vor allem<br />
die Frauenbewegung und Emanzipation förderte (was natürlich nicht der Wahrheit entsprach). Ab 11.<br />
September gehörte Constance Drexel zum akkreditierten Pressekorps des Goebbels-Ministeriums mit<br />
allerlei Privilegien der Günstlingswirtschaft.<br />
Bald darauf fand Constance Aufnahme in die Redaktionen des Kurzwellenfunks für USA und<br />
Grossbritannien. Kontakte mit Winifred Wagner und Bayreuth kamen zustande und Constance soll<br />
taktlos Frau Winifred angesprochen haben mit den Worten: „Grossartig! Sie sind also Adolf Hitlers<br />
Allerliebste?“<br />
Aus journalistischer Sicht plapperte Constance eine Menge Unsinn über den Äther. Im September<br />
1940 notierte der amerikanische Radio-Reporter und Berliner CBS Korrespondent Wlilliam Shirer in<br />
seinem Tagebuch: „Die Nazis haben Constance engagiert, weil es weit und breit keine andere<br />
Amerikanerin im Reich gibt, die man über Kurzwelle quatschen lassen könnte mit halbwegs<br />
qualifizierter Aussprache und Bildung. Diese Frau hat mich oft genug wegen eines Jobs angebaggert,<br />
aber sie verfügt leider über kein ausreichendes Profi-Niveau".<br />
(Constance Drexel mit Koffern)<br />
Erst im Oktober 1946 gelang es<br />
Constance Drexel nach vielen<br />
Verfahren wegen Hochverrat als<br />
entlastet eingestuft zu werden und<br />
in die USA heimkehren zu dürfen.<br />
Das Foto zeigt die Ankunft auf Ellis<br />
Island voller neuer Zuversicht.<br />
Constance starb 1956.<br />
42
Am 16. August 1945 wurde Constance Drexel in Österreich von Aufklärern der US Army verhaftet. In<br />
ihrer Naivität hatte sie einen Reporter von THE STARS AND STRIPES angesprochen und sich<br />
erkundigt, ob man bei der Soldatenzeitung vielleicht einen Job als Reporterin für sie übrig hätte!<br />
12 Monate in amerikanischen Internierungslagern blieben Constance nun nicht erspart. Im Dezember<br />
1946 öffneten sich die Gefängnistüren und die Journalistin kehrte nach USA zurück. Es dauerte bis<br />
zum April 1948, bis die Rechtslage geklärt werden konnte. Ein Bundesgericht stellte fest, dass<br />
„Constance Drexel nur Programme kultureller Art gesendet hatte“, sodass man ihr keinen Hochverrat<br />
vorwerfen könnte. Constance starb am 28. August 1956 bei Verwandten in Waterbury, Connecticut.<br />
Im North America Service des Berliner Kurzwellensenders war auch die Sprecherin GERTIE<br />
(Deckname) von einigem Interesse. Es handelte sich um die deutsche Schauspielerin Gertrud Hahn,<br />
geborene Seitz, geboren 1905 zu Stuttgart, mit USA Aufenthalt 1923 bis 1925. Im Nazi-Programm<br />
diskutierten zwei Amerikanerinnen namens Gertie und Nancy regelmässig und lobten die<br />
Organisation KRAFT DURCH FREUDE mit ihren KDF-Dampfern sowie familienfreundlichen<br />
Errungenschaften.<br />
Aussser der Lobeshymne auf KDF boten Gertie und ihre Kollegin ein Rollenspiel HOT OFF THE<br />
WIRE (sinngemäss „Brandaktuell aus dem Telefonnetz“). Die Handlung im Konzept: Gertie arbeitet als<br />
Telefonistin bei einer Zeitung in Pittsburgh und liest ihrer Freund in aus Briefen von ihrem Freund Joe<br />
vor, der in Berlin als Korrespondent für die US-Presse tätig ist. Joe begrüsst die Leistungen der Nazi-<br />
Herrschaft vor seinen Augen und schimpft über seine Arbeitgeber, die Verleger und Chefredakteure<br />
Rosenblum und Finkelstein, weil sie alle deutschfreundlichen Artikel nachteilig verfälschen.<br />
Zwischendurch werden Telefonanrufe aufgeregter Zeitungsleser eingespielt, die sich judenfeindlich<br />
äussern. Ausserdem erhalten die Anrufer stets den guten Rat, sich ein möglichst gutes Rundfunkgerät<br />
für den Empfang von Kurzwellen aus Germany anzuschaffen, weil man damit wichtige Neuigkeiten zu<br />
hören bekommt, die in den USA unterdrückt würden usw.<br />
Nicht zuletzt ist Jane Anderson erwähnenswert. Geboren am 6. Januar 1893 in Atlanta, Georgia traf<br />
die renommierte Journalistin im März 1941 in Berlin ein und bot ihre Qualifikationen dem deutschen<br />
Kurzwellen Radio an. Als Waise wuchs Jane bei ihren Grosseltern auf und bewährte sich nach ihrer<br />
Ausbildung im New Yorker Zeitungsmarkt sowie ab 1915 bei der LONDON DAlLY MAlL. Die mutige<br />
Kriegsberichterstatterin bewegte sich mit spannenden Reportagen an der Westfront.<br />
Montage von Antennen in Königs Wusterhausen<br />
43
In den dreissiger Jahren heiratete Jane Anderson in Spanien einen wohlhabenden Aristokraten, den<br />
Marquis Alvarez da Cienfuegos. Der Spanische Bürgerkrieg entflammte erneut ihre Begeisterung für<br />
den Journalismus und die LONDON DAlLY MAlL bediente sich erfreut. Es konnte nicht ausbleiben,<br />
dass die Reporterin zwischen alle Fronten geriet und der Spionage verdächtigt wurde. Aus der Haft<br />
brachte Jane es fertig, eine Nachricht für die amerikanische Botschaft heraus zu schmuggeln. Am 10.<br />
Oktober gewann sie ihre Freiheit zurück in die Arme des Ehemanns.<br />
In Paris entwickelte sich Jane zur zornigen „Kommunistenfresserin“ in zahlreichen Aktionen. Es<br />
folgten Vortragsreisen in den USA, um die Landsleute über das drohende Unheil aus Moskau<br />
aufzuklären. 1938 liess sich Jane mit ihrem Mann wieder in Spanien nieder an der Jahreswende zu<br />
1939.<br />
Janes Auftreten gegen den Kommunismus blieb in Berlin nicht unbemerkt und Goebbels wollte allzu<br />
gern nachhaken. Ab 14. April 1941 gehörte Jane zur Redaktion NORTH AMERlCA ZONE in Berlin.<br />
Wegen ihrer konservativ-katholischen Orientierung durfte sich Jane speziell an die frommen<br />
Amerikaner(innen) wenden und ihnen Adolf Hitler als „Hüter des Glaubens“ schmackhaft machen.<br />
Gipfel der Geschmacklosigkeit: Die Fanatikerin verglich den geliebten Führer der Deutschen mit<br />
Moses! Kurios war auch jeweils der letzte Satz Ihrer Ausstrahlungen: „Denkt immer daran, ihr lieben<br />
Amerikaner, esst Kellogs Corn Flakes und hört aufmerksam zu, was wir an Neuigkeiten aus Germany<br />
zu berichten haben!“ Der Ausspruch wurde untermalt mit den flotten Rhythmen des Benny Goodman<br />
Orchesters ...<br />
Im Programm VOICE OF EUROPE plauderten Jane und William (Lord Haw-Haw) über gemeinsame<br />
Erinnerungen und das „Grosse Abenteuer Nationalsozialismus“. In ihrem Erinnerungsbuch THE<br />
GOEBBELS EXPERIMENT schilderten Derrick Sington und Lord Weidenfeld, wie sie Jane<br />
einschätzten:<br />
Total durchgeknallt<br />
und klerikalisiert:<br />
„Nazi-Jane“<br />
44
„Diese ziemlich hysterische Amerikanerin in deutschen Diensten beim Kurzwellenfunk beteuerte<br />
ständig, dass sie eine streng-gläubige Katholikin sei und sang Loblieder auf die papstfreundliche<br />
Einstellung der NSDAP sowie die Vorzugsbehandlung der Römisch-Katholischen Kirche durch das<br />
Dritte Reich“.<br />
„Im übrigen langweilt Jane ihre Zuhörer mit Schauergeschichten über die Grausamkeiten der<br />
Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg, während die Franco Umstürzler in der Rettung des<br />
Christentums untadelig glorifiziert werden, was gewiss nicht der Wahrheit entspricht. Alle diese Horror<br />
Stories grenzen an Pornographie!"<br />
Nachdem sich die Sowjetunion mit den Westmächten verbündet hatte, um Deutschland und Japan zu<br />
Fall zu bringen, geiferte Jane immer hysterischer und beschuldigte Roosevelt, die christliche<br />
Menschheit dem Bolschewismus ausliefern zu wollen!<br />
Am 9. Februar 1942 verkündete die wild gewordene Kommentatorin, in Nord-Irland seien Einheiten<br />
der US Army auf Stalins Anweisung stationiert worden, um den katholischen, Glauben auszumerzen.<br />
Nun riss den Nazis im Funkhaus der Geduldsfaden, weil die Frau unberechenbar geworden war und<br />
wahnwitzige Geschichten ersann. Sie durfte nicht mehr ans Mikrofon.<br />
Als das Reich kapitulierte, hielt sich Jane mit ihrem Gatten in Österreich auf. Im April 1947 wurde die<br />
Journalistin verhaftet. General Franco bemühte sich erfolgreich um ihre Freilassung. Die<br />
amerikanische Regierung verzichtete auf einen Prozess wegen Hochverrat, weil Jane spanische<br />
Staatsbürgerin (geworden) war.<br />
Nach der Katastrophe von Pearl Harbor tauchte Helen Davis als Sprecherin im Berliner Kurzwellen-<br />
Programm auf und zwar jeden Sonntag unter dem Kennwort YOUR AMERICAN CORRESPONDENT.<br />
Ihre Serie präsentierte AN AMERICAN GIRL SEES WARTIME GERMANY. In diesem Rahmen<br />
sendete man ein Interview mit Margret, der Ehefrau von William Joyce (Lord Haw-Haw am Mikrofon).<br />
Helen Davis hiess ursprünglich Martha Helene Freifrau von Bothmer und stammte aus Bolivar,<br />
Missouri, geboren am 8. Dezember 1908. Sie studierte Mode Design und heiratete 1936 Heinrich<br />
Freiherr von Bothmer, einen Konsulatsbeamten und SS-Führer. 1941 begab sich das Ehepaar nach<br />
Berlin und Helen Davis fand einen Job beim Reichsrundfunk für Sendungen Richtung USA, England,<br />
Australien und Fernost.<br />
Studios für Kurzwellenfunk in Königs Westerhausen<br />
45
Eine Paraderolle der besonderen Art spielte die amerikanische Schauspielerin Mildred Elizabeth<br />
Gillars:<br />
Mildred wurde in Portland, Maine am Thanksgiving Day 1900 geboren. Als das Mädchen sieben Jahre<br />
zählte, liess sich die Mutter von Vincent Sisk scheiden und heiratete alsbald den Zahnarzt und<br />
Alkoholiker Robert Bruce Gillars. Nach dem High School Abschluss besuchte Mildred die angesehene<br />
Ohio Wesleyan University (für Mädchen besserer Kreise), weil man dort Schauspielkunst studieren<br />
konnte im Drama Department.<br />
Die nächste Station hiess New York mit dem Künstlerviertel Greenwich Village, doch der erhoffte<br />
Einstieg ins Theaterleben schlug fehl und die letzten Ersparnisse lösten sich in Luft auf. 1928<br />
erschienen Zeitungsanzeigen, in denen eine Mrs. Barbara, Elliott aus Camden, New Jersey der<br />
breiten Öffentlichkeit mitteilte, dass sie schwanger sei und die Rückkehr ihres Ehemanns ersehnte.<br />
der abgehauen war.<br />
Daraufhin informierte die werdende Mutter alle möglichen Reporter, sie sei niemals rechtmässig<br />
verheiratet gewesen und inszenierte einen Freitodversuch. Polizeibehörden stellten fest, dass die<br />
angebliche Mrs. Elliott in Wirklichkeit Mildred Gillars hiess, weder schwanger noch Ehefrau war und<br />
das Drama inszeniert hatte, um Aufmerksamkeit für einen Film zu erregen mit dem Titel<br />
UNERWÜNSCHTE KINDER.<br />
1933 reiste Mildred nach Algier und umschwirrte einen flüchtigen Bekannten, dessen Vorzüge darin<br />
bestanden im britischen Konsulat beschäftigt zu sein. Er liess sich nicht verführen und die<br />
Globetrotterin versuchte 1934 ihr Glück in Deutschland. Es kam zu einem Wiedersehen mit der Mutter<br />
in Budapest. Mom liess sich überreden, Mildreds Ausbildung zur Schauspielerin, in Dresden zu<br />
finanzieren.<br />
Mildred Gillars: genannt Axis Sally<br />
46
Als es ans Bezahlen ging, machte die Mutter eine Kehrtwende und bedauerte, sie könne die Mittel für<br />
das geplante Studium der Tochter nicht aufbringen. Mildred verkaufte alle Schmuckgegenstände in<br />
ihrem Besitz, um überleben zu können im Nazi-Imperium. Nächster Rettungsanker: ein Job an der<br />
Berliner Berlitz School als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Mädchen für alles. Zwischendurch trieb<br />
sich die verkrachte Actrice in Babelsberg herum, wo sie nützliche Kontakte in der Filmwirtschaft<br />
anzuknüpfen bemüht war.<br />
Bei Kriegsausbruch sass Mildred erneut auf dem Trocknen ohne Einkünfte. Im Mai 1940 gelang es ihr,<br />
Leute vom deutschen Rundfunk kennen zu lernen. Die amerikanische Muttersprachlerin war<br />
willkommen als Sprecherin im Kurzwellenfunk Richtstrahler USA und kassierte wöchentlich 180 Mark<br />
Honorar. Später kletterte sie auf der Karriereleiter weiter nach oben bis zur Abteilungsleiterin der<br />
Programm-Redaktion USA.<br />
Es tauchten neue Probleme auf. 1941 musste sie in Berlin dem amerikanischen Konsulat ihren Pass<br />
abgeben, als Germany und USA einander den Krieg erklärten. Die Gestapo wollte Mildred zur Spionin<br />
in den USA ausbilden, doch dieser Job erschien ihr allzu heiss. Immerhin verdiente die energische<br />
Yankee Lady zuletzt bis zu 1.200 US Dollar im Monat trotz aller Komplikationen.<br />
Ihre beliebten Sendungen HOME SWEET HOME, MEDICAL REPORTS und MILDRED AM MIKRO<br />
konnten sich hören lassen, witzig und fantasievoll produziert. In allen Ressorts glänzte MIDGE (ihr<br />
Kosename) als populäre Alleinunterhalterin. HOME SWEET HOME zielte auf die Truppen der US<br />
Army in Nordafrika. Tenor: „Während ihr braven Boys im französischen Afrika Roosevelts Interessen<br />
vertreten müsst und die Ziele der jüdischen Kapitalisten, wünsche ich Euch trotz alledem eine<br />
gesunde Heimkehr!“ (September 1943). Das begeisterte die GI Zuhörer ...<br />
Am 26. November 1943: „Ich weiss, wie Euch zumute ist. Ich weiss auch, dass ihr fürchtet, verletzt<br />
oder gar verstümmelt Amerika wieder zu sehen, weil Euch die Kriegstreiber geopfert haben. Bleibt<br />
zuversichtlich, dass ihr an einem Stück die Freiheitsstatue am Horizont auftauchen seht früher oder<br />
später! Ich wünsche Euch Unversehrtheit bis zum bitteren Ende, verdammt nochmal!“<br />
Im Januar 1949 durfte Mildred Gillars nach USA heimkehren<br />
47
In Deutschland besuchte Mildred Kriegsgefangenenlager mit amerikanischen Soldaten, liess ihre<br />
Interviews mit Tonband aufzeichnen und regelmässig nach USA ausstrahlen. Mildred vermied jede<br />
politische Propaganda und konzentrierte sich auf „human interest“. Verwandte in der Heimst sollten<br />
Päckchen schicken, um das Lagerleben zu erleichtern, oft Briefe senden usw.<br />
Schliesslich wurde die „Radio Tante“ so populär in den POW Camps, dass sie sich vor Fan Post kaum<br />
noch retten konnte. Mildred war so etwas wie die „Mutter der Kompanie“ und keine „Nazi Schlampe<br />
oder Giftspritze“. Ihr Fingerspitzengefühl, ihr Takt beim Umgang mit den Männern hinter Stacheldraht<br />
lohnte sich vieltausendfach. Das war keine Landesverräterin, vielmehr eine mitfühlende Seele und<br />
gute Freundin.<br />
Mildred hielt sich überdies in Frankreich auf und zeitweise in den Niederlanden, wo der<br />
Reichsrundfunk ebenfalls Sendestationen operieren liess, um den zunehmenden Bombenangriffen im<br />
Reichsgebiet auszuweichen. Nach der Kapitulation des Dritten Reichs fing der amerikanische<br />
Geheimdienst Mildred innerhalb kurzer Zeit ein.<br />
Gillars wurde in den USA zu 12 Jahren Haft in einem Gefängnis der Bundesbehörden (für Frauen)<br />
verurteilt und erfreute sich 1961 ihrer Begnadigung. Unverdrossen wollte sie anschliessend ihre<br />
akademische Ausbildung fortsetzen: So unterrichtete Mildred Deutsch, Französisch und Musik in einer<br />
katholischen Internatsschule in Columbus, Ohio. Mit 72 Jahren bestand die zähe Bildungsbeflissene<br />
ihr Examen an der Ohio Wesleyan University anno 1973 (Bachelor of Arte im Fach Redekunst). Am<br />
25. Juni 1988 verstarb die mutige Frau in friedlicher Umgebung.<br />
(Anmerkung: Die einschlägige Literatur verzeichnet zahlreiche männliche und weibliche<br />
Kollaborateure britischer sowie amerikanischer Nationalität im Dienst der Reichsrundfunk<br />
Gesellschaft und des Kurzwellen-Propaganda-Funkbetriebs. Der vorliegende Beitrag konnte nur eine<br />
kleine Auswahl dieser schillernden Charaktere im einzelnen vorstellen).<br />
Mächtige Antennen beherrschen den Betrieb in Zeesen<br />
48
Quellen<br />
J.A. Cole:<br />
Lord Haw-Haw and William Joyce<br />
(London 1964)<br />
H.K.J. Ridder:<br />
Der Fall William Joyce<br />
(Tübingen 1952)<br />
C.E. Bechhofer-Roberts:<br />
The Trial of William Joyce<br />
(Notable British Trials Series)<br />
B. Rutledge:<br />
The Death of Lord Haw-Haw<br />
(London 1946)<br />
John Carver Edwards<br />
American Broadcasters in Service to the Third Reich<br />
(London 1991)<br />
Deutsche Welle Köln<br />
Deutsche Kurzwellensender im Dienst der NS-Propaganda<br />
(Berlin 1970)<br />
Horst Bergmeier und Rainer Lotz<br />
The Inside Story of Nazi Radio Broadcasting and Propaganda<br />
(London 1997)<br />
Jonah Barrington<br />
Lord Haw-Haw of Zeesen<br />
(London 1940)<br />
William Joyce:<br />
National Socialism Now<br />
(London 1937)<br />
William Joyce:<br />
Twilight Over England<br />
(Berlin 1940)<br />
Oswald Mosley:<br />
The Greater Britain<br />
(London 1934)<br />
Deutsches Rundfunkarchiv DRA<br />
(Frankfurt am Main)<br />
John William Hall<br />
The Trial of William Joyce<br />
(London 1946)<br />
Heinrich Otto<br />
Germany Calling - Lord Haw-Haw's Radio War<br />
(MeIbourne 1987)<br />
Klaus Scheel<br />
Krieg über Ätherwellen - NS Rundfunk 1933 - 1945<br />
(Berlin 1970)<br />
Adrian Weale<br />
Renegades - Hitler's Englishmen<br />
(London 1994)<br />
Winfried Lerg<br />
Deutscher Auslandsrundfunk im Zweiten Weltkrieg<br />
(Hamburg 1966)<br />
49